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Full text of "Nachrichten"

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Nachrichten 


von  der 


Königlichen  Gesellschaft  der  Wissenschaften 

zu  Göttingen. 


Philologisch -historische  Klasse 

aus  dem  Jahre  1916. 


Berlin, 

Weidmannsche   Bnchhandlnng. 

1916. 


PS 


Druck  der  Dieterich.chen  Unir.-Buchdruckerei  (W.  Fr.  Kaeetner)  in  Göttingen. 


Register 

über 

die  Nachrichten  von  der  Königl.  Gesellschaft  der  Wissenschaften 

zu  Göttingen. 

Philologisch  •  historische  Klasse 

aus  dem  Jalire  1916. 

SeHe 

Andreas,  F,  C,  Vier  persische  Etymologien 1 

Becker,  C.  H.,  Das  Reich  der  Ismaeliten  im  koptischen  Danielbuch  7 

Bezold,  C,  Abbä  Gabra  Manfas  Qeddus 58 

Bousset,  W.,  Zur  sogenannten  Deprecatio  Gelasii 135 

—  Die  Geschichte  eines  Wiedererkennungsmärchens      .     .     .     .  469 

Goldziher,  I.,  Über  igmä' 81 

JoUy,  J.,  KoUektaneen  zur  Kautiliya  Arthas'ästra 348 

Krusch,    Br.,    Ursprung  und  Text   von   Marculfs  Formelsammlung  231 

—  Der  neu  entdeckte  Urtext  der  Lex  Salica 683 

Lidzbarski,  M.,  Neue  Götter 86 

Littmann,  E.,  Anredeformen  in  erweiterter  Bedeutung    ....  94 
Meyer,  "W.,    Die   Verskunst    der   Iren   in   rythmischen    lateinischen 

Gedichten 605 

—  Drei  Gothaer  Rythmen  aus  dem  Kreise  des  Alkuin     .           .  645 

—  Die  älteste  lateinische  Fassung  der  Placidas-Eustasius-Legende  745 
Oldenberg,  H.,  Zur  Geschichte  des  Worts  brdhman-  .  .  .  715 
Prietze,  R,  Haussa-Sänger  mit  Übersetzung  und  Erklärung.    L     .  163 

—  —     II 552 

Rahlfs,  A.,  Zur  Setzung  der  Lesemütter  im  Alten  Testament    .     .  315 

Eeitzenstein,  R.,  Die  Formel  „Glaube,  Liebe,  Hoffnung"  bei  Paulus  367 

—  Bemerkungen  zur  Martyrienliteratur.  I.  Die  Bezeichnung  Märtyrer  417 
Rüge,  W.,    Älteres    kartographisches  Material   in    deutschen  Biblio- 
theken.    V.  Bericht  aus  den  Jahren  1910 — 1913.      .     .     .     Beiheft. 

Set  he,.  K.,  Spuren  der  Perserherrschaft  in  der  späteren  ägyptischen 

Sprache 112 

—  Zur  Geschichte  und  Erklärung  der  Rosettana 2T.5 


I 


Vier  persische  Etymologien. 

Von 

F.  C.  Andreas. 

Vorgelegt  in  der  Sitzung  yom  26.  Febnuur  1916. 

In  knapper  Form  lege  ich  die  von  mir  seit  langem  in  meinen 
Vorlesungen  gelehrte  Etymologie  von  vier  persischen  Wortern  vor, 
indem  ich  die  darauf  bezüglichen  ausführlichen  Auseinander- 
setzungen für  ein  späteres  Heft  zurückstelle.  Meine  Wiedergabe 
der  neupersischen  Wörter  in  lateinischer  Schrift  ist  für  jeden 
wirklichen  Kenner  nicht  nur  ohne  weiteres  verständlich,  son- 
dern auch  selbstverständlich. 


^    o> 


1.   qLo-o,   bäbribäyän   (volkstümliche  Aussprache   bäbribäyün). 

Dies  ist  die  aus  dem  Schahname  wohlbekannte  Bezeichnung 
des  Gewandes,  das  Rustäm  über  seinen  Harnisch  (jausän)  anzu- 
legen pflegte,  wenn  er  ztim  Kampfe  auszog.  Daneben  findet  sich 
die  kürzere,  nur  aus  dem  ersten  Teile  des  Wortes  bestehende 
Form  häbr.  Die  Erklärung  von  bäbribäyän  bietet  gar  keine 
Schwierigkeit.  Es  ist  zusammengesetzt  aus  bahr,  dem  persischen 
Worte  für  den  Tiger  (Felis  tigris),  und  bäyän.  In  bäyän  aber 
ist   yän   genau   dasselbe    wie   in   dem   von   Lagarde   (Gesammelte 

Abhandlungen  S.  39,  23  ff.)  erklärten  qU«^,  hämyän  (volkst.  Aus- 
sprache hämyün)  „Gürtel"  ^),  das  auf  ein  altpersisches  homy^hon{om) 
{hom  +  yöhonom  von  der  Wurzel  yöh,  indogerm.  yös,  „anlegen,  an- 
ziehen, umlegen,  umtun")  zurückgeht,  während  bä  die  neupersische 

1)  Daneben  die  kürzere  Fonn  ,.,Lw«     miyan  (v.  A.  mii/ün),  die  durch  den 

Abfall   der   Anfangssilbe   genau    so   entstanden    ist  wie    die  Verbalpartikel   mi 

(älter  tue)  aus  häme.    Mit   miyan  „Mitte"    hat   dieses   miyän  ,Gürtel"   natürlich 
nichts  zu  tun. 
KgL  Gn.  d.  Wim.  Nftckrickt«.  PUL-Ufl  Klan«.   IM«.  Etli  1.  1 


2  F.  C.  Andreas, 

Präposition  hä  ist,  die  regelrecht  das  ältere  upo  fortsetzt.  Die 
Verbindung  von  upo  mit  einem  Verbum,  das  die  Bedeutung  von 
yöh  hat,  ist  durchaus  nicht  auffällig ').  Bäyän  läßt  sich  also  streng 
lautgesetzlich  auf  ein  altpersisches  upoyöhon{om)  zurückführen,  das 
„ein  umzuhängendes,  überzuwerfendes  Grewand"  bezeichnete.  Die 
Bedeutung  des  Kompositums  hähribäyän  ist  dann  „das  Tiger- 
gewand", das  wie  ein  Mantel  über  der  Rüstung  getragen  wurde. 
Noch  eins  ist  aber  ins  reine  zu  bringen.  Wie  ist  es  zu  erklären, 
daß  der  Vokal  der  zweiten  Silbe  von  hähribäyän,  obgleich  nur  als 
Käsr  (?)  bezeichnet,  an  allen  Stellen,  wo  ich  das  Wort  im  Schah- 
name aufgefunden  habe^),  lang  gemessen  wird.  Das  die  Grenitiv- 
verbindung  anzeigende  relative  i  kann  allerdings  sowohl  kurz  als 
lang  sein,  aber  von  diesem  i  kann  doch  hier  unmöglich  die  Rede  sein  % 
Meines  Erachtens  kann  dieser  lange  in  der  Kompositionsfuge  stehende 
Vokal  nur  das  e  des  mitteliranischen  Kasus  obliquus  gewesen  sein. 
Denn  es  ist  eine  nicht  zu  bestreitende  Tatsache,  daß  seit  mittel- 
iranischer Zeit  das  Vorderglied  der  Komposita  im  weitesten  Um- 
fange anstatt  in  der  Stammform  im  Kasus  obliquus  erscheint*).  Im 
Neupersischen  ist  das  e  des  Kasus  obliquus  fast  ausnahmslos  verkürzt 
worden  und  dann  oft  geschwunden,  doch  gibt  es  noch  vereinzelte 
Fälle,  wo  das  e  durch  ^^  bezeichnet,  also  als  Länge  gesprochen 
wurde,  so  z.  B.  ^^3;^*^,  äähexUn  „nächtlicher  Überfall"  neben  dem 
jüngeren  q^^^V^  säbxun,  ß^.)^ ,  käregär ,  neben  ß^  kär*gär  „einer, 
der  etwas  bewirkt,  wirksam,  Handwerker,  Künstler"  u.  a.  m. 
Hiemach  scheint  es  mir  kaum  zweifelhaft,  daß  nicht  nur  bähre- 
bäyän  gesprochen  worden,  sondern  auch  dementsprechend  ur- 
sprünglich nicht  qLu^,  sondern  qUxj^  geschrieben  worden  ist. 
Infolge  von  Nachlässigkeit  oder  auch  vielleicht  aus  Abneigung,  das 
Zeichen  j  dreimal  hintereinander  zu  setzen,  ist  das  erste  j  (j) 
weggelassen  und  der  Vokal  als  bloßes  Käsr  (I)  bezeichnet  worden, 
obgleich  er  in  Wirklichkeit  eine  Länge  war  und  von  dem  Dichter 
des  Schahname  als  solche  verwendet  wurde. 

2.    Q'y-f^  pählävän  (volkstümliche  Aussprache  pähbvün). 

Von  diesem  die  Helden  des  Schahname  bezeichnenden  Wort 
ist,    soweit   ich   weiß,    die   richtige  Etymologie   bisher  nicht  ver- 

1)  Vgl.  B.  Delbrück,  Altindische  Syntax  S.  455:  üpa  in  Verbindung  mit: 
jyffor  jemandem  etwas  überdecken,  etwas  bedecken,  umkleiden  mit;  vyä  Qm- 
nebmcn,  umhangen  (die  heilige  Schnur)". 

2)  Doch  kann  ich  nicht  dafür  einstehen,  keine  Stolle  übersehen  zu  haben. 
8)  Mohl   scheint   es   allerdings    nach    seiner   Umschreibung    „Bebr-i-beyan" 

(s.  seine  Übersetzung  III,  S.  101  u.  105)  für  ein  solches  gehalten  zu  haben. 

4)  S.  hierzu  auch  P.  Horn,  Neupersische  Schriftsprache  im  Qrundr.  d,  iran. 
Philologie  I,  2,  S.  100  f.  ((  49). 


Vier  persische  Etymologien.  ^ 

öffentlicht  worden,  obgleich  sie  auf  der  Hand  liegt*).  Pählävän 
geht  auf  ein  altiranisches  *pä&ropäno,  aus  päd-ro-  n.  „Schutz"  +  päno- 
m.  „schützend",  zurück,  das  die  Bedeutung  „Schützer,  Wächter" 
hatte.  Aus  *pdd'ropäno  wurde  im  Mitteliranischen  zunächst  *pahro- 
pän,  später  *pähräßän  und  schließlich  im  Neupersischen  mit  dem 
ganz  gewöhnlichen  Übergang  von  r  in  Z  zu  päfdävän  (Volksausspr. 
pälddvün).  Identisch  damit  ist  das  armenische  ifiii<>uiifMiYi  pahapan 
^Wächter,  Hüter",  aus  *parhapan  =  iran.  *pähropdn^).  Pdhropän- 
päliläiän  ist  aber  eine  nordiranische  Form  und  gehörte  als  solche 
ursprünglich  der  Reichssprache  der  Arsakiden  an.  Die  ihr  ent- 
sprechende Form  der  säsänidischen  Reichssprache,  deren  Heimat 
der  Südwesten  Irans,  d.  i.  die  Provinz  Pars  (Färs)  ist,  ist  qL--».j 
päsbän;  sie  zeigt  den  für  das  Südwestiranische  charakteristischen 
Lautwandel  von  uriranischem  dr  in  s  (ursprünglich  ss).  "Wenn 
wir  nun  sehen,  daß  in  dem  nordiranischen  pählävän  ebenso  wie 
in  mehreren  anderen  Wörtern')  das  ältere  -pän  durch  -van  re- 
flektiert wird,  in  dem  südwestiranischen  jnishän  aber  durch  -bän, 
so  liegt  die  Vermutung  sehr  nahe,  daß  die  Formen  mit  -van  aus 
dem  Norden,  die  mit  -hän  aber  aus  dem  Südwesten  stammen.  — 
Neben  pählävän  findet   sich   in   derselben  Bedeutung   das   kürzere 

^jJL^j  pähläv,   das   sich  jetzt  ohne  weiteres  auf  ein  älteres  pa^ropä 
zurückführen  läßt. 

Die  hier  vorgelegte  Etymologie  von  pählävän  und  pähläv  gibt 
uns  erst,  wie  ich  glaube,  die  richtige  Vorstellung  von  dem  Wesen 
der  Pählävane:  Sie  sind  die  Schützer  und  Wächter  des  Königs 
und  des  Reiches.  Der  gewaltigste  von  ihnen,  Rustäm,  führt,  wie 
sein  Vater   Z&l  und   sein  Großvater   Säm,   den  Titel  q|>^j  o*-*^ 

1)  P.  Hörn  (Grundriß  der  neupersischen  Etymologie  S.  76,  Xr.  343  u.  Neu- 
persische  Schriftsprache  im  Grundriß  d.  iran.  Phil.  I,  2  S.  57  u.  94)  hat  den  un- 
glücklichen Gedanken  gehabt,  den  vor  ihm  und  nach  ihm  wohl  auch  noch  andere 
_gehabt  haben,  pahlävan  von  Pähläv  =  altpers.  Par9ava-  „Parthien,  Parther* 
abzuleiten  und  die  Endsilbe  als  das  auf  den  alten  Genitiv  Pluralis  zurückgehende 
Adjektivsuffix  an  zu  fassen.  Danach  wäre  in  der  Quelle  des  Firdousi,  dem  unter 
4en  Säsäniden  entstandenen  z«^«"^'»äi  die  ehrenvollste  Bezeichnung  für  die 
Helden  der  Vorzeit  „der  Parther"  oder  „der  Parthische"  gewesen,  was  ich 
wenigstens  nicht  glaube. 

2)  Über  armen,  uiui'^uiuib  pcüiapan  und  die  dazugehörigen  persischen  und 
armenischen  Wörter  genügt  es  einstweilen  auf  Hübschmann,  Persische  Studien, 
S.  204  f.  und  besonders  auf  die  sorgfaltigen  Zusammenstellungen  in  seiner  Ar- 
menischen Grammatik  I,  S.  217  u.  218  (Nr.  495—499)  zu  verweisen.  Unbegreiflich 
ist,  daß  er  sich  die  Gleichung  pa(r)hapan  =  pähiätan  hat  entgehen  lassen. 

3)  Eine  Liste  neupersischer  Wörter,  in  denen  das  altiranische  -pano-  als  -vom 
erscheint,  gibt  Hom  in  seiner  Neupersischen  Schriftsprache,  Grundriß  d.  iran. 
Phil.  1,2,  S.  188;  sie  läßt  sich  noch  durch  einige  Beispiele  vermehren. 

1* 


4  F.  C.  Andreas, 

^ihän  pählävän   oder   qI^»-  o1>^  pählävän  i  gihän  „der  Schützer 
oder  Wächter  der  Welt*,  die  hier  das  iranische  Reich  bedeutet. 

3.    jüL>,  xänä,  (volkstümliche  Aussprache  xünä\  „Haus". 

Das  neupersische  Wort  für  Haus"  wl^-  %änä  (volkstüml.  Aus- 
sprache xünä),  das  in  der  Literatursprache  auch  in  der  kürzeren, 
suffixlosen  Form  qL>  xän  (v.  A.  ;gwn)  *)  vorkommt,  läßt  sich  nur  bis 
ins  jüngere  Mittelpersische  zurückverfolgen.  Wie  alt  aber  die  mittel- 
persische Form  ]'iny,  "^DZüfn^  zu  sprechen  jjöwäye,  ist,  läßt  sich  einst- 
weilen nicht  feststellen,  da  uns  das  Wort  ursprünglich  immer  in 
ideogrammatischer  Schreibung  entgegentritt,  indem  dafür  das  ara- 
mäische •*<©)  «rr^n  gesetzt  ist.  Eine  befriedigende  Etymologie  ist 
für  x«»'öi  bisher  nicht  gefunden  v^orden.  Horn^)  will  es  von  einer 
Wurzel  x«w  ableiten,  die  eine  Nebenform  von  neupersisch  kän-dän 
„graben"  gewesen  sei.  Aber  eine  solche  Nebenform,  für  deren 
Vorhandensein  er  sich  auf  das  arabisierte  /^«"^^^  jjäwt^äÄ;  „Graben, 
Festungsgraben"  beroit,  hat  es  gar  nicht  gegeben.  Denn  daraus, 
daß  die  Araber  bei  der  Herübernahme  des  mittelpersischen 
Mndäk  (älter  *lcondäk),  dessen  neupersische  Form  n^XiS  kändä  tat- 
sächlich von  Gawäll^i^)  und  den  persischen  Lexikographen  über- 
liefert wird,  aus  dem  anlautenden  k  ein  x  gemacht  haben,  folgt 
doch  nicht,  daß  die  Perser  neben  kändän  auch  ein  jräwtiäw  gehabt 
haben*).  Also  damit  ist  es  nichts.  Ich  bin  nun  zu  einer,  wie  ich 
glaube,  erwägenswerten  Erklärung  von  x«^«  gekommen,  wobei  ich 
aber  gar  nicht  von  jjawä  ausgehe,  sondern  von  dem  altpersischen 
ärahanam  (nach  meiner  Auffassung  der  Laut  Verhältnisse  ävohonom 
zu  sprechen)  „Ortschaft,  Dorf",  eigentlich  „das  Wohnen,  das  Be- 
wohnen'' (altiranisch  *ä-vah-  =  sanskr.  ä-vas-  „wohnen,  bewohnen") 
und  mir  die  Frage  vorlegte,  was  aus  diesem  Worte  nach  der  uns 
bekannten  Entwicklung  der  Laute  im  Persischen  geworden  sein 
könne  oder  müsse.  Zunächst  wurde  daraus,  durch  Kontraktion 
von  aha  {oho)  zu  ä  (ö),  ävän  (ävön),  das  tatsächlich  als  Lehnwort  in 


1)  Das  Burbän  i  Käti'  verzeichnet  das  Wort  auch  mit  der  hisher  ganz  un- 
beachtet gebliebenen  Orthographie  ^^  (j^|,  \^  ^  ^iLi»  J^ft^  J^^  ^li'  L)^ 
wodurch  als  ältere  Aussprache  xön  erwiesen  wird.   Daraus  mußte  dann  x^**  werden. 

2)  Grundriß  der  Neupersischen  Ktymologie  S.  103,  Nr.  465  u.  S.  194,  Nr.  865> 
und  Neupers.  Schriftsprache  im  Orundr.  d.  iran.  Phil.  I,  2,  S.  66. 

8)  Öaw&lfl^rs  Almu'anab  herausg.  von  Ed.  Sachau  S.  ©a. 

4)  8.  auch  Hübscbmann,  Persische  Studien  S.  88,  Nr.  869  und  Anm.  2. 
Trotzdem  vorwendet  Dartholomae,  Vorgeschichte  d.  Iran.  Sprachen  im  Orundr.  d. 
iran.  Phil.  1,  1,  S.  8,  Ü  13  ein  angeblich  neupersisches  xändäi:  als  Beweis  für  das 
Vorhandensein  einer  iranischen  Wurzel  xan. 


Vier  persische  Etymologien.  5 

armenisch  mi.iub  „Dorf,  Flecken"  (xäur},  iaavXig)  vorliegt^).  Ans 
ävän  {ävön)  wurde  dann  nach  Schwnnd  des  v  durch  eine  weitere 
Kontraktion  an  (ön)  *),  das  sich  von  x«w  (lön)  nur  durch  den  vo- 
kalischen Anlaut  unterscheidet.  Aber  an  und  ;ud«  miteinander  zu 
vermitteln,  das  eine  als  die  Vorstufe  des  anderen  wahrscheinlich 
zu  machen,  macht  keine  Schwierigkeit,  da  das  Persische  eine  Ver- 
stärkung des  Vokaleinsatzes  zur  gutturalen  Spirans  x  kennt,  die 
ursprünglich  im  Südwesten  (Färs)  zu  Hanse  gewesen  zu  sein 
scheint.  Die  Beispiele  dafür  hat  Hübschmann  in  seinen  Persischen 
Studien  S.  265  (§  162)  zusammengestellt,  aber  ein  festes  Gesetz, 
wonach  diese  Verstärkung  eingetreten  ist,  hat  sich  nicht  ausfindig 
machen  lassen.  Einen  Einfluß  scheinen  die  auf  den  anlautenden 
Vokal  folgenden  Konsonanten  gehabt  zu  haben.  Darunter  ist 
auch  m,  das  unmittelbar  auf  den  Vokal  folgte,  wie  in  j.L>  x^"* 
(v.  A.  x"^0  »roh,  unreif,  unerfahren"  aus  *ätno-  =  sanskr.  ämd- 
„roh,  ungekocht,  unreif,  armen.  ^miT  ;i;am  „unerfahren,  unkundig, 
ungewohnt",  das  aus  dem  Mittelpersischen,  der  Reichssprache  der 
Säsäniden  entlehnt  ist,  während  armen.  '^lmT  hum  »roh",  das 
Hübschmann  für  echt  armenisch  hält^j,  höchst  wahrscheinlich  aus 
der  nordiranischen  Reichssprache  der  Arsakiden  stammt,  und  in 
jji,y«Li»"  lämös  (v.  A.  xümüs)  „schweigend,  ruhig,  ausgelöscht  (vom 
Feuer  und  Licht"*),  das  sicher  in  irgend  einer  Weise  mit  altiran. 
*ämursto-  =  sanskr.  ämrsta-  „abgewischt,  weggewischt"  zusammen- 
hängt.    In  den  beiden  folgenden  Fällen  ist  m  durch  einen  anderen 


1)  Die  von  mir  herrührende  Gleichung  armen.  ^iLJub  atan  =  altpers.  äva- 
hanam  {ävohonom)  (Z.D.  M.  G.  XLVII,  1893,  S.  702)  hielt  Hübschmann  seiner  Zeit 
(Pers.  Stud.  S.  170  u.  Armen.  Gramm.  I,  S.  112,  Nr.  78)  für  unsicher,  „da  h  = 
urspr.  s  im  Persischen  zwischen  Vokalen  nicht  schwinde".  Dabei  hatte  er  aber 
ganz  die  unanfechtbare  Etymologie  von  hämyän  „Gürtel"  (s.  oben  S.  1)  übersehen. 
Heutzutage  zweifelt  aber  wohl  niemand  daran,  daß  im  Persischen  h  zwischen  zwei 
Vokalen  schwinden  und  Kontraktion  eintreten  könne ;  s.  Hörn,  Neupers.  Schriftspr, 
im  Grundr.  d.  iran.  Phil.  I,  2,  S.  9«  (§  42,  7  b)  und  Bartholomae,  Altiran.  Wörterb. 
Sp.  98  u.  aitcyävhana-  No.  6  u.  Sp.  333  u.  ä-vahana-,  wo  aber  das  dem  armenischen 
avan  entsprechende  mittelpers.  *ävän  (ävän)  auf  ein  eigens  dazu  konstruiertes  alt- 
persisches *ävähana-,  mit  langem  Vokal  der  Wurzelsilbe,  zurückgeführt  wird  an- 
statt auf  das  wirklich  vorhandene  ävahanam  (ävohonom).  Wozu  diese  Künstelei  ? 
Da  doch  ävahanam  (ävohonom),  wenn  die  beiden  mittleren  Silben  kontrahiert 
wurden,  nichts  anderes  ergeben  konnte  als  *ävan.  Bartholomae  selbst,  a.  a.  0. 
Sp.  1452,  hält  es  ja,  und  zwar  mit  vollem  Recht,  für  möglich,  daß  der  altpersische 
Eigenname  viväna-  (viväno)  aus  vivahana-  (vivohono-)  entstanden  sei. 

2)  s.  Hübschmann,  Pers.  Stud.  S.  168,  §  59.     „Kontraktion  bei  mittlerem  tj*. 

3)  s.  Armen.  Gramm.  I,  S.  468,  Nr.  254. 

4)  Fehlt  in  Hübschmanns  Zusammenstellung;  s.  aber  Hom,  Grundr.  d.  neu- 
pers. Etymologie  S.  103  (Nr.  464)  u.  Neupers.  Schriftspr..  Grundr.  d.  iran.  Phil. 
I,  2,  S.  67  (§  23,  4). 


0  F.  C.  Andreas,  Vier  persische  Etymologien. 

Konsonanten  von  dem  Vokal  getrennt :  1)  in  ,,-Ä3»  x^^'w  oder  j;ä6?wt 
„Zorn,  Wut"  =  awestisch  VccSüJt")  I^TD"'«,  sprich  *oismo;  2)  in  U^>. 
xurmä  „Dattel",  dem  ein  älteres  *urmäv  zugrunde  liegt.  Dieses 
*urmäv  läßt  sich  mit  Sicherheit  aus  dem  armenischen  lupJiuL.  armav 
„Dattel"  erschliessen,  das  die  Armenier  aus  dem  Nordiranischen 
entlehnt  haben.  —  Wenn  nun  vor  einem  Nasal,  vor  m,  der  Vokal- 
einsatz verstärkt  worden  ist,  so  ist  es  keine  zu  verwegene  An- 
nahme, daß  dies  auch  vor  einem  anderen  Nasal,  vor  n,  statt- 
gefunden habe,  daß  also  an  zu  jjdw  geworden  sei.  Damit  wäre 
wenigstens  die  Möglichkeit  erwiesen,  daß  aus  dem  altpersischen 
ävahanam  {ävohonorn)  das  neuere  ;faw  und  ;fdwä  entstanden  sei.  Und 
damit  begnüge  ich  mich. 

4.    Jüdischpersisch  '{»''S,  biyän,  „Zelt". 

In  dem  aus  Turfan  stammenden  Fragment  M.  3  ^),  das  einen 
Bericht  über  eine  Zusammenkunft  Mänis  mit  dem  Könige  S&/3ör  I. 
enthält,  kommt  auf  Zeile  13  der  Vorderseite  das  Wert  ari  (von 
F.  W.  K.  Müller  venag  gelesen)  vor,  das  bisher  unerklärt  geblieben 
ist.  Hier  die  Erklärung,  die  ich  schon  vor  mehreren  Jahren  dem 
Herausgeber  der  Turfan-Fragmente  mitgeteilt  habe.  M*n ,  zu  lesen 
viyänäy,  ist  das  jüdischpersische  1lÄ''i,  biyän,  das  in  den  von  Juden 
herrührenden  Übersetzungen  alttestamentlicher  Schriften  das  he- 
bräische bnS5  „Zelt"  wiedergibt^),  erweitert  durch  das  Suffix  k  (y). 
Die  ältere  Form  des  Wortes  lernen  wir  aus  der  mittelpersischen 
Übersetzung  der  Psalmen  kennen,  wo  Ps.  131  (hebr.  132),  5  u.  7 
'\»'Tn  steht  =  syr.  JjJuuö  „Zelt,  Wohnung".  "jÄT^".  {vidän)  ist  aber 
im  Mittelpersischen  des  Psalters  eine  historische 
Schreibung,  denn  in  der  Säsänidenzeit  sprach  man,  wie  auch  das 
M'n  von  M.  3  zeigt,  sicher  viyän.  Dagegen  muß  sich  im  Nordiranischen 
das  intervokalische  d  noch  bis  in  die  Säsänidenzeit  gehalten  haben. 
Dafür  spricht  die  Schreibung  des  Wortes  auf  dem  nordiranischen 
Blatt  des  Fragmentes  M.  2,  Spalte  1,  Z.  11—12;  hier  die  Stelle: 
'p^fr^  7^^y'b^  n«  ■'D  [l]»3bW3:«Tl ,  viöänmändn  Jcs  «d  vx^ßeh  vidänän 
»die  Zeltbewohner,  die  mit  ihren  Zelten".  Aus  dem  Nordiranischen 
stammt  auch  das  armenische  il_pw'b  vran  „Zelt",  wo  die  stimmhafte 
dentale  Spirans  des  Iranischen  durch  p  r  wiedergegeben  ist,  wie 
bei  allen  in  der  Arsakidenzeit  entlehnten  Wörtern. 


1)  8.  F.  W.  K.  Müller,  Handschriftcn-lteste  aus  Turfan  II,  S.  80  ff. 

2)  S.  Jes.  16,6;  83,  20;  40,  22;  54,  2;   Jer.  4,  20;  6,  3;  10,  20«;  49,  29   i« 
Lagarde's  Persischen  Studien. 


Das  Reich  der  Ismaeliten  im  koptischen  Danielbuch. 

Von 

C.  H.  Becker. 

Vorgelegt  von  E.  Littmann  in  der  Sitzung  am  15.  Janoar  1916. 

Im  Anschluß  an  die  Septuaginta  ist  auch  das  koptische  Daniel- 
buch in  Visionen  eingeteilt  und  der  kanonische  Text  durch  ver- 
wandte, von  unserer  Überlieferung  als  apokryph  bezeichnete  Stücke 
ergänzt.  Die  koptische  Bibelübersetzung  hat  nun  diese  Tendenz 
der  Angliederung  noch  weitergeführt,  indem  sie  zu  den  12  resp. 
13  Visionen  der  Septuaginta  —  als  13te  zählt  die  Greschiehte  von 
Bei  und  vom  Drachen  —  mit  gewissen  Umstellungen  noch  eine 
14te  Vision  hinzufügt.  Von  ihr  sagt  schon  Bonjour,  der  die  Vi- 
sion zuerst  behandelt  hat,  in  seinem  Werke :  In  monumenta  coptica 
seu  Aegyptiaca  bibliothecae  vaticanae  brevis  exercitatio  (Romae 
1699)  p.  23  ff. :  „Nihil  aliud  est  quam  aequo  liberior  paraphrasis 
\asionis  quatuor  bestiarum  quibus  quatuor  regna  designantar"  — 
d.  h.  also  des  berühmten  7ten  Kapitels  unserer  Zählung.  Die  erste 
vollständige  Edition  und  Übersetzung  bietet,  wie  mir  Crum  mit- 
teilte, C.  Gr.  Woide,  Appendix  ad  editionem  novi  testamenti  Graeci, 
cum  dissertatione  de  versione  Bibliorum  aegyptiaca  (Oxonii  1799) 
Sectio  III,  p.  141 — 148.  "Woides  Handschriften  sind  nach  Crum 
wohl  dieselben,  die  Quatremere,  Notices  et  Extraits  VIII,  auch 
beschreibt.  Eng  an  "Woide  anschließend  erfolgt  dann  H.  Tattam's 
Edition  und  Übersetzung  der  Prophetae  Majores  in  dialecto  lin- 
guae  aegyptiacae  memphitica  seu  coptica  (Oxonii  1852).  Die  Visio 
decima  quarta  steht  hier  in  Band  II,  S.  387 — 405.  Sie  ist  außer- 
dem von  Bardelli,  Daniel  copto-memphitice  (Pisis  1849)  abgedruckt 
(mir  unzugänglich).     Eine   genaue  Besprechung  der  textkritischen 


g  C.  H.  Becker, 

Stellung  des  koptischen  Daniel  gibt  A.  Schulte  in  seinem  Buche: 
Die  koptische  Übersetzung  der  vier  großen  Propheten  (Münster  i.  W. 
1892).  In  einem  Anhang  S.  84  ff.  liefert  Schulte  hier  eine  deutsche 
Übersetzung  der  14ten  Vision  aus  dem  Koptischen.  In  seiner  Ein- 
leitung S.  8  zitiert  er  folgendes  Urteil  Bardelli's  über  diese  Vision: 
„Omnes  quos  vidi  Codices  coptici  ad  calcem  Danielis  hanc  addunt 
visionem  decimam  quartam,  quae  post  irruptionem  Saracenorum, 
imo  Turcarum  nomine  iam  cognito,  exarata  fuit,  ideoque  certo 
apocrypha  est". 

ßardelli  hat  ganz  richtig  gesehen;  auch  Schulte  hat  die 
„Türken"  erkannt  (Anm.  zu  v.  65),  aber  über  diese  Allgemein- 
heiten hinaus  ist  meines  Wissens  ein  sachlicher  Erklärungsversuch 
noch  nicht  unternommen  worden.  Die  Apokalypse  will  das  Reich 
der  Ismaeliten  und  seinen  Untergang  schildern,  aber  da  sie  keine 
historischen  Namen  aus  arabischer  Zeit,  sondern  nur  dunkle  An- 
spielungen bietet,  war  nicht  ohne  weiteres  festzustellen,  wie  weit 
ihr  die  islamische  Geschichte  bekannt  war.  „Wenn  der  Zeitpunkt 
bestimmt  werden  könnte",  schreibt  Schulte  S.  8,  „wann  diese  Vi- 
sion entstanden  ist,  so  hätte  man  damit  auch  einen  Anhalt  für 
die  Entstehungszeit  der  koptischen  Übersetzung  überhaupt;  denn 
das  sprachliche  Colorit  stimmt  mit  den  übrigen  Kapiteln  Daniel's 
vollständig  überein".  Von  ähnlichen  Gresichtspunkten  ausgehend, 
wandte  sich  vor  Jahren  A.  Erman  an  mich  mit  der  Anfrage,  ob 
ich  eine  historische  Deutung  der  doch  offenbar  auf  die  Kalifenzeit 
bezüglichen  Apokalypse  zu  geben  vermöchte.  Das  veranlaßte  mich, 
den  äußerst  dunklen,  gewollt  mehrdeutigen,  aber  auch  gewiß 
sprachlich  nicht  einwandfrei  überlieferten  Text  immer  wieder  vor- 
zunehmen. Wenn  auch  noch  manche  dunkle  Stelle  bleibt  —  eine 
Apokalypse  ist  keine  Chronik  — ,  glaube  ich  doch  die  Erklärung 
für  die  Hauptfiguren  und  für  den  gesamten  historischen  Hinter- 
grund gesichert  zu  haben.  — 

Die  jüngeren  koptischen  Bibelhandschriften  haben  meist  die 
arabische  Übersetzung  in  einer  Parallelkolumne  beigefügt.  Ediert 
ist  bisher  nur  der  koptische  Text.  Da  es  sich  aber  hier  um  ara- 
bische Verhältnisse  handelt,  schien  die  Heranziehung  der  arabischen 
Version  nützlich,  auf  die  schon  Tattam  in  seinen  Anmerkungen 
gelegentlich  hinweist.  Der  Tattam'sche  Text  baut  sich  auf  einer 
Pariser,  einer  Cairoer  und  zwei  in  seinem  Privatbesitz  befindlichen 
Handschriften  auf,  von  denen  die  älteste,  die  Pariser,  a.  H.  1071 
geschrieben  ist.  Varianten  gibt  er  nicht  an;  sie  fehlen  also  wohl. 
Ich  benatzte  auf  Rat  von  Crom  die  ungefähr  gleichaltrige,  im 
Jahre  1090  H.  geschriebene  Londoner  Handschrift,   die   in   Crum, 


Das  Reich  der  Ismaeliten  im  koptischen  Danielbach.  9 

Catalogue  of  the  Coptic  Manuscripts  in  the  British  Museum  als 
No.  729  beschrieben  ist.  Die  jüngere  Berliner  Handschrift  von 
a.  H.  1227  (Ms.  Orient.  Quart  394)  enthält  leider  die  14.  Vision 
nicht,  die  wie  schon  ßardelli  sagt,  sonst  nicht  zu  fehlen  pflegt. 
Andere  Handschriften  (z.  B.  Cram,  Cat.  Copt.  Mss.  Rylands  Li- 
brary No.  419)  sind  mir  während  des  Krieges  nicht  zugänglich. 
Das  Danielbuch  beginnt  in  der  Londoner  Handschrift  Fol.  164', 
die  14.  Vision  Fol.  240'.  Zu  Beginn  des  Danielbuches  steht  unten 
auf  der  Seite  folgende  grundlegende  Bemerkung: 

Also  :  „Dieser  Text  findet  sich  in  einer  arabischen  Handschrift, 
und  er  findet  sich  nicht  im  Koptischen.  Wir  haben  ihn  aus  dem 
Arabischen  in's  Koptische  übersetzt  wie  folgt".  Diese  Bemerkung 
steht  nun  aber  nicht  nur  in  der  Londoner,  sondern  auch  in  der 
Pariser  Handschrift  von  a.  H.  1071.  Wenigstens  erwähnt  Quatre- 
mere,  Notices  et  Extraits  VIII,  229  folgende  Glosse  der  Hand- 
schrift: „Ceci  existoit  dans  l'original  Arabe  et  nous  l'avons  tra- 
duit  en  Copte".  Diese  Bemerkung  ist  um  so  wichtiger,  als  diese 
Handschrift  nicht  den  arabischen,  sondern  nur  den  koptischen  Text 
enthält.  — 

In  diesen  alten  Handschriften  gibt  sich  also  der  ganze  kop- 
tische Daniel  als  eine  Übersetzung  aus  dem  Arabischen.  Es  kann 
nicht  meine  Aufgabe  sein,  diese  Behauptung  für  den  ganzen  Daniel 
philologisch  zu  erhärten.  Jedenfalls  ist  a  priori  anzunehmen,  daß 
der  Daniel  schon  vor  dem  Aufkommen  des  Arabischen  in's  Kop- 
tische übersetzt  war,  da  nach  Leipoldt,  Geschichte  der  christ- 
lichen Litteraturen  des  Ostens,  S.  139,  die  koptische  Bibelüber- 
setzung bereits  350  abgeschlossen  war.  Ich  habe  die  Frage  nur 
für  die  14te  Vision  nachprüfen  können,  und  dabei  durfte  ich  mich 
der  eingehendsten  Beratung  von  A.  Erman  erfreuen.  Alle  seine 
Bemerkungen  sind  in  den  Anmerkungen  zu  meiner  Übersetzung 
verarbeitet.  Ich  danke  ihm  auch  hier  nochmals  aufrichtig  für  die 
große  Mühewaltung.  Eine  Entscheidung,  ob  unser  koptischer  Text 
Original  oder  Übersetzung  ist,  wird  durch  den  Umstand  erschwert, 
daß  eine  eventuelle  arabische  Vorlage  nie  und  nimmer  das  Original 
sein  kann,  sondern  ihrerseits  aus  dem  Koptischen  übersetzt  worden 
sein  müsste;  denn  die  Auflösung  der  Zahlenspekulation  bei  den 
Eigennamen,  die  unten  gegeben  wird,  hat  nicht  das  arabische, 
sondern  das  griechisch-koptische  Zahlensystem  zur  Voraussetzung. 
Auch  liegt  eine  koptische  Abfassung  der  Zeit,  in  die  wir  die  Apo- 


10  C.  H.  Becker, 

kalypse  ans  anderen  Gründen  datieren  müssen,  sowie  dem  reli- 
giösen Zweck,  dem  sie  dienen  sollte,  viel  näher  als  eine  arabische. 
Wir  müßten  also  eine  zweimalige  Übersetzung  feststellen.  Die 
koptisch  gedachte  und  abgefaßte  Vision  wäre  in's  Arabische  über- 
setzt und  aus  dem  Arabischen  wieder  in's  Koptische  übertragen 
worden.  Diese  letzte  Übersetzung  läge  der  Pariser  Handschrift 
und  damit  Woide's  und  Tattam's  Edition,  wie  der  Londoner  Hand- 
schrift, zu  Grande.  Bei  diesem  Tatbestand  fallen  die  gewöhn- 
lichen Hülfen  (mißverstandene  Übersetzungen  u.  s.  w.)  fort,  da  man 
nie  weiß,  wo  die  Fehler  begangen  worden  sind.  Erman  hält 
(ebenso  wie  Schulte)  das  Koptische  für  das  gewöhnliche  Bibel- 
koptisch und  ist  deshalb  geneigt,  den  vorliegenden  koptischen 
Text  als  Original  anzusprechen.  Dagegen  spricht  der  zweimal 
belegte  klare  Wortlaut  der  Handschriftennotiz.  Es  ist  nicht  ein- 
zusehen, aus  welchem  Grunde  sie  erfunden  sein  soll.  Das  Koptische 
war  doch  der  heilige  Text,  nicht  das  Arabische.  Der  apokryphe 
Charakter  konnte  damit  doch  nicht  angedeutet  werden  sollen,  da 
die  Vision  doch  nur  sehr  selten  fehlt,  also  als  kanonisch  gilt. 
Philologisch  unmöglich  scheint  mir  die  Übersetzung  aus  dem  Ara- 
bischen nirgends,  wenn  auch  die  Übersetzung  bestimmter  Eigen- 
namen, wie  Suban  =  Assuan  (v.  31,  50),  Maris  =  Sa'id  (v.  50) 
sehr  dafür  spricht,  den  vorliegenden  koptischen  Text  für  das 
Original  zu  halten;  in  anderen  Fällen  dagegen,  die  ich  in  den 
Anmerkungen  andeute,  scheint  das  Arabische  das  Original  zu  sein, 
zwingend  ist  die  Beziehung  nirgends.  Vereinzelt  wäre  ja  eine  so 
komplizierte  Textgeschichte  bei  apokryphen  Texten  durchaus  nicht. 
Die  Überlieferungsverhältnisse  scheinen  mir  vielmehr  daran  Schuld 
zu  sein,  daß  die  Apokalypse  in  ihrer  vorliegenden  Form  noch 
dunkler  und  verwirrter  ist,  als  sie  es  der  Natur  der  Sache  nach 
zu  sein  brauchte. 


1.    Text  nnd  Übersetzung. 

Vorbemerkung. 
An  Abkürzungen  sind  verwandt: 
D  =  Daniel-Text. 

T  =  Tattam's  Text  und  Übersetzung. 
8   «  Schulte's  deutsche  Übersetzung  des  koptischen  Textes. 
E  =  Äußerungen  A.  Erman's. 
Alle  in  eckige  Klammern  gesetzten  Worte  sind  Ergänzungen 
nach  T  und  S,  die  in  runden  von  mir  zugesetzte  Erklärungen.  — 


Das  Reich  der  Ismaeliten  im  koptischen  Danielbnch.  IX 

Grundsätze  der  Edition. 

Die  Handschrift  ist  möglichst  getreu  wiedergegeben.  Sie  gibt 
ein  stark  vulgäres  Arabisch,  die  Casus  und  die  Pronomina  werden 
durchgehend  verwechselt.  Es  fehlt  jede  Konsequenz.  Verbessert  sind 
nur  falsche  Vokale,  d.  h.  fortgelassen.  Da  s  und  i  bunt  wechseln, 
habe  ich  überall,  wo  ich  überhaupt  ergänzen  mußte,  8  geschrieben. 
Das  Gleiche  gilt  für  Schreibungen  wie  luL.  Hier  habe  ich  die 
richtigen  Punkte  ergänzt,  da  folgende  3  Schreibarten  vorkamen: 
ÄÜS,  *aJl3,  äaJLj,  Neben  ,^' j'  kommt  f^-i^  vor.  Ähnliches  häufig. 
Daniel  wird  bald  mit  »>,  bald  mit  6  geschrieben.  Hier  habe  ich 
einheitlich  das  richtige  gesetzt.  Sonst  gibt  der  Text  die  Hand- 
schrift wieder.    Nur  ein  Taschdld  ist  gelegentlich  hinzugefügt.  — 

Zahlreiche  Stellen  des  Textes  sind  im  Manuskript  zerstört  oder 
überklebt;  doch  sind  die  Ergänzungen  aus  T  und  S  meist  unschwer  zu 
entnehmen.  —  Die  Verseinteilung  stammt  von  mir  nach  T.  und  S. 


yU^   ^\J\    lijj^l 

v3l*Jt^  v3jjj  ^1  Job  J^  ÜÜL.  ^U  ^^!  ^5y*,UJI  ^^  ÄÜliJ!  iU-JI  J^  (1) 

U3.  v/Ä'  ^i  L»^  J^?^  *Uai  ^\  U^  QJj^  (^Jo-i  o-Mö  JLöb  li!  (2)  I  fol.  240«» 
^\  ^  ^^  •i\c>^\  .^  ^  00^3  lit^  1^  ^M  (3) 

f^axiiS  j;$^^\  ^j  v-^'  *U*J'  J^j  iüu.t  toJ^  ^ü^f   (4) 

ij^  Üir9>^[-.]  ^!  ^^  ^yiJLl3'(ji^[3]  ija}  O^-^aj^^   (5) 

^\  lil  iHi^y  ^  X.S^>Lp]  X^^l    *J5   H^[J]    *^^   J5>j|   ,jä^^[iy  (6) 

^jyKXä  j>  'v-«[3.]   ^Uol  v-^[l3]  j_^l3  ij;.s\>l  'vi;^iä]  jt^ 

LiL^  LÄi'3-^3  ^>^  "h^  O^i  O^'  ^^--^  I  ['^■A  ^1^1  tA^yy  (7)  fol.  241» 
ixJs  ^Ji  f^  ^J.  ^\J\  t,^\^  9^  ^  t.\-^\  iüJiS  ow-«^  ol^  JuJl  L^l3  lil  Uxs, 

1  Nicht  j^o«  zu  lesen. 

2  Nach  D.  und  T.  in  t.  7;  vielleicht  va<uJ3"  oder  vtf*jt-yö!  oder  sonst  zu  er- 
gänzen. 

•  » 

3  Nach  D.  erwartet  man  s^^. 


12  C.  H.  Becker, 

jfcj^^l  J^i*^  er  y^^  ^j^  y^i  «■^-*'^'  d^  *">-*^'  C^y  tA=*>^'5  (9) 

fol  24li>  ijo^^  Ji'lj  ^j*.L^'  «,L«i>l^  tXj«>*-  »^^.  I  X«A^'"  Hjj»^  *^3J^  (.f^'^    (10) 

Q,  v-jyüL'j^Jia  ^ax*o  qj5  Läsj.!  «>j|;5  *— |;  i5  O*^  Oiß  "^^  CyaJlj   (11) 

Q,  0<>J(«o  <^  y>^  «Jj^  cyajl^  »,Lmj  ^yi  ^;j»^  «Aä  ^^  iuu,!  vto^|;5  (12) 

JSoi  iüu*ö  ^-^1  viOx^  v.äJU;S?  ^  J^  fcx^i.^  ^Juu 

oJLfii  \j\  Ut  o^  U  |JLcl  ot^^AJS  J^^  JLJI^  i;  i,  i3yM  ^^^dV^  c>ot^^  (13) 

fol.  242a  y>!  ^Jüi^  ^  ^y<  ^p]l  ^^[1]   I   [Ju]^|  ^!  ^bÄ--l  .Jui-  *I 

^  QjjCy«  U  »i);[Ar>!]  t<)ljy«Jö  J*  s«Ääl  ^  Jl5^  ^5^15^5  <i)^'  ^^X^^lä  (15) 
^i  iüüt^  ^^Jül  (Ji^yi^  oLiOü:  Kju,?  ;?  ;fti>wt  qIjJI  ui^yi  iüu^'211  (16) 

fol.  242b  j^-^l  ^\   I   ^y^5  "Jj^  jjyOli^  äU^  täUJ 

^^  ^.^yt   (iUL«  ^  qI--^'    JU.^   iü-Äu   AJyaj!    ^^JÜt    ^^UJl    (JiJ»^'^    (17) 

XJuM  yis«  cXb>!^  ^U>*-r  y^i*^^   (J>A 

8^  Ul,<  J^.  ^5ü>  l^JLc  ^jiü.  "^  JüCU!  iU.J^  ^^   (18) 

'*^.  a^  o^"^'  «'^  ^  r^'  '-^-  ^y^^  i^^'  ^^i^'  lt^^'^  (19) 

fol.  243»  «Löiü'S»  ,_^[J!  ^Jli^]  ^  \  lOJÜLi^  ^[      ]  ^jj  QyJijj  Ki-  yjJ»  ^j'i\  Ja» 

^)ua«^t  ^^  «Uu^  Ju-'ill  ^xx^  w^  ^JJI  ^yi  jS^^Ji^   (20) 

ö^  M,[i]  tj^  iüy  ^JPJ'i\  j^  ^y^-  lO^Jüi  (21> 
^1^1  c;a^[^]  HjLm  iul  Q,  ^^1  ^J,J^  ^J^  ^^  iC^UIt  eUi"  (22) 

1  Ms.  (j0.  2  Sic;  aoDSt  lu^. 


Das  Beich  der  Ismaeliten  im  koptischen  Danielbach.  |8 

^lyu  LXL.   Ji^  iM^^  ü^"^^'^  Ti)^i  U-y^'  Cri'^  3^  ^^^--^  v$3  (23) 
f^\^\  y>\  JU-  oy^:i  o<  ^'  iVA*^'  ^"^^»  er  u-^5  «sUJ  er  u»,^»  c>* 

ajUaÜ-   >^S   ,KXc^   ^   J^  I  ^^   ^  ^^^   ^^^1  y.L*i,   ^jjjm^    p^j  f^j    243^ 
j  ^yOJl  ,jali?.3  SlyJ!  ^^.^3  ^U^l  j^  J,X«Ji  ^ji^  y^^  ^^j^j,^^  ^^^^ 

^3  u»^^'  ji'  ;>  Uü»  ^i^  ^  ^yjXj  ^_5JJ|  yi^  ^^U{  ,j)jm^  (25) 
c5y^  er  >5  '^i+J  er  '^>^>»  "^  i5^  u»;')»  J^  tjNjAJÜöl  (^Usj^  (26) 

*^  r'^^t^^  'iüy»  ^^  *xXU  ^  ^yCj  ,^1  ^  ^LJI  eUUI^  (27) 

t^  Li  vss^j  ^.^  *aXU  ^^  xiJüü?  jLv'l  o«;'^!  ^^  Ä-Li^^3  (28) 

£**^  C3^-  »ä^  05^.5  o^)^^  *j^^  vi  SjÄii'  V3j>  *J^  i  oy^i  (29) 

'u^>^'  cWi  *-s^  Vj^  jy^  >^i^  er  üJ!^  8-Ä^j  juU  juL-,  ^5^  (30) 

ü>^3  jt^   w^v>^   i^   ^    05^3    'i^^   o^^J^   ^^    0!hj^     (32) 

o'^>^^  er  isjj^'  o3^^^ 
rXÄ:il'2<^  xLil  'äT;  »^  ^  -i  fjj»  ^yjXj  ^^i  yxft  eJUül  eUUi^  (33) 

,j:^3  «-^  7j^3  »,^^  ^^^  ^  ^^  ^^j  ^  ^yj  ^mf^  (34) 

1  J^y 

2  0.  P. 

3  Mit  Genitivnunation. 

4  J^t 

6  Kleine  Lücke  von  2-3  Buchstaben;  sichtbar  2  Oberstücke  eines  |;  Er- 
gänzung ^^  ausgeschlossen. 

7  Mit  Genitivnunation. 

8  Sic;  nicht  J»f>-,  wie  nach  T.  die  Pariser  Handschrift  hat. 

9  Mit  Nominativnunation. 


J4.  C.  H.  Becker, 

fol.  245«              [2—3  Worte]  I  er  oiri*^^  t^f^^^  f^  ^  ^^J^'  't*^^  (3^) 

,»aA  ^o-»  ^A*>^  e5j«^i  05H^^  '''^^  c^V  f^  o^;'^^-  d^y^^i  (37) 

xJI  ^^  vj^l  ^^"^  y>"5<l  ^5  oL^  cUÜi  äUL.  j^j  lÄi?  Jju  ^:;,^  (38) 

tjcA>  (^yiÄÄi  xÄ^  s£>.AÄj  j^"^!  v5^  (39) 

fol.  245>>  ^_yÄ*  ^j-^L^i  (äUil^  i^^^  ö-i*«^^  tfj  I  er  t5^  r-^**^.  *^^  ^>*^i  (40) 

^sA^  ^\  »ÄA*..  j3M**.i^  Ju.vXj^!  ^  *-«^  j  Louflj  I^JwXÄ  o^^  (41) 

U*o  fc^tjL^  ü5^^  k »•*.♦?■  u»^"^'  J*  (*A^  (j«y=»  ü5^  *^^^  r~^  L?"  (^^) 

jj^  fcxjü  jjöJ^  j*|>4^3  iütoaJI^  v-^AJ!  q,  Ij1«>^5  *i  0>^'-^^'  i^-^^'s  (43) 

fol.  246"»  I  ^XsA  Jr 

•J}^  juJOj:  (.Ij»   i^  i  >ji-i   er  ^^^  "^^  ^^uLaj^  g^  ^y  »^5y-o^  (44) 

jM^t  4^  IjAÜ'  LAfj  q5^^  *XL«  jiU<  ^A4^  iUX*.  ^yo 

Uwl  ^^  »jSSj,  j  L^  Q5<j  ^  pJ^  qjXj  ^JJt  ySos  (jM^UJt  äUX«^  (45) 

JUIÜÄamIj  Iü:XU  (»^3  Lyt^ml  \jf^  liU^  (.^^^^*:)3  (46) 

iu.JL:>  4^3  lUAj  Vj^^^M  ?-^  jA^-  ksH}^\  f^  j^UJ!  t»m'[J  (47) 

fol.  246^                                                                 {J:i^i  >JJm^  mL^Jum  »^  ■ijs^  i^^^  ^<^  1 

»jSXt,  J'^^'j  ya*  ^l  ••>;^3  **^  Vj^-^j  *u*A>.  Q*  *X>"tj  ^yü  (48) 

^^t  ^U^  ^5  -iipiS  ^  Jiyo"^!  jijJoj^  »^<-**e5  *uft  ju^^a:?.  «!Läx9  (49) 

q|^<  ^\  ^y*i3f.  vX^y.  j*ö^  J^i«^  <S  '^^'^^  i5l>^'^'3  y«a^  «i<  in»g.ij  (50) 

fol.  247»        J?^"J(^  'iJb  I  jV*^^  yÄ/«  vXaJuä  ,^1^  ^  ju*JL>  ^^  cX^I^  'Jjüuä  (51) 

l^3jA  ^juv.  jüaOü:  tjüLe«  i  ;|u^  o>^  c5^'  j^  cr^'  'i'^'^  (52) 

1  o.  P. 

2  ^;— fc*l3 

3  Lesung  ansichor. 


Das  Reich  der  Ismaeliten  im  koptischen  Danielbach.  ]:5 

»j'li  ^yj>  ^\  xJLxJt  JUj^  Vj*^'  '"^P^^  er  Vr*"  *A^^y^^  (53) 
^sJJL»^  ^U3I_^  ^aJI  kij!_^  ^JJI  ^^yo  ^  p^.  I j^  Jou  ^^^  (54) 
Ifjlä  */•!  U^  J-o«^!  j^  ^^  sLI  ^^"^  cÄ:-**^  er  ^>^  ^j»^  ^  t;y^lJ^'5 

I  r5>-^'  er  fol.  247» 

**-.!  »xxc  j^vXit  eUI»  äUö^  vj^!  v5  ^5  (^  ^  ^  (^^»Ä-  o"^  (56) 
*V^  o^'  *Vfc^^  j^5  **A^  ju/^  t^3  .;**^  kS^  y^i  ^^..  *^^  (57) 

jJ»  JÜLü?  U-u^  I   ^^  "i  fc>^  iJ^    (58)  fol.  246» 
Uly^5    L^Ö    ^^^    iLy.^^    ^    Ol   jJl  ^^  O^U-wi  juut  (j^lj  /JU  \    (59) 

^5X^3  ^.^suJI  iüjol  er  oUiuo  sj^Ut  J^  juu.  ^^ii  ;?5  ?^  Jjüü^  (60) 
»5i  j*^  i  ^|jä  ,,^3  ^U«;li  yoA^  (^j^^i  ,2^äi^  b.H:.  u»^^  cLäJI  (61) 

I  gJo^lj  iU^  » j  fcÜS^  ^Lo1  ^^;  fol.  248» 

Jo  J^Xft  ^5  ^  ^  ^y^  "^  j-Ä^  £-1^5  f  j^jJI  5J^  iüÜLi  ^J5  (62) 

^i  *-s^  Vj>  ^y^i  iU*^  /L.^3  **äj^i  ,^!^  j  ^^  f^fÄj^  (63) 
er  e^  er  ^  Mdy'  c5^!^*  *3  u-J^.5  "^  e5*^'  yC*oJI  ju-j^  (64) 

*'M   I  y;1^5  «dj^'  (J^Xj  i^iji  i^l  *A^  j5^'  ««^v3  ^Xjü,    (65)  foL  249* 

^\  JTj  L^Luü?  ^f  iüuAil  i!  J3-JU3  ^Jl^  j^  JxUx»3  ^-Uä  Jc>a5 


li 

2  0.  P. 

3  ,,A*> 

16  C.  H.  Becker, 

u»^i^Aj»^U.  ^  eUll  ^^  ^^  sL<:sp.^  by>  *J  j^.  wlj  ,_/yJl  U!  (67) 

«jü^Um^  _^3  joeUl  xcyCfi^  i^UxJt)  xäjo  ^  LmJL>>  ^J„^\XJJ^Jlm,  L4JL0)  (68) 

fol.  249  b  I  j»!^'^!  ^A«^$  ^y^^  8;L^t  j(^  Ka^I^  u^JÜt  ,^A^«i{  Uiüt  tJ^ 

,»-kLc  (^  ^^  M^3  «J^  (iLÄJI  ^>c  laLwü  ^^yül  ^!  »^^^siai  (69) 

^U«  ^  MM  cX^ij  ^3  XAfi  ^y^.  v^^l?  («^'•^^  ^:**^i  aXw^  ^.*».'>} 

»y<*M«3  Jüüamu  j^ji'yiit  qIs  ya/«  i>^  "^13  Vj*  ^  '^^   (71) 

fol.  250»  I  iißiUj^l  ,j.^Jü>  er  c/y^'j  j^"^!*  r^^  v)^ 

"ifj  j^Jüü!  8^  Q^  jiv>  ^füt  l*  jtyaj  ^5C^  oy*^^  i^^^  v5  Vj^^  ü5^3  (73) 

xa/i  p1  ^i>Jl  jÄ?jII  ^;;^  i,^  oyäaf 
^[aj]  oLjj  q«  qjXj  'i[^^  aäXU  äJU  «Ä^-Ijj  (j«,3^Xjut^L«  ^yxsu  ^J^^^i  (75) 

fol.  260»»  t^u  J^  er  ^ÄÄ-*^'  (vw  I  '^^^*H5  [r^j^^]^'^  ^W^  f^M  *s)Jö  Jm^  (76) 

;2L»ljl  (j»y  ^  ^1  vy!  *J^  iki^fw^ 

uy  u»^*^!  o^fi^v^^  S>^^^  S5^  ?^'  «-^^'  ttß:^"^'  gj^'  *^'^  ^*J45  (78) 


fol.  261»  **)'   i^  Ij'^^t  sJboi^  (»lit  XSlä  Q5*xä:»3  ULI,  |  [^^y^  t;v-cyül  J*^J    (80) 

^)yt'i\  ^^  er  r^"^'  (jh>^  jJ^^^  ^^^«^  »^3  (81) 


1  «U 

2  Lesung  zweifelhaft. 

4  KJU 


Das  Reich  der  Ismaeliten  im  koptischen  Danielbach.  17 

^^UaJU  xiLLJL,  ^yL-J!  ^^i  ,>JUr  '^lt^[i\]  ^Isf  J*l  >^\^  ,^1  ö)J[J]  (82) 

ayUfcÄ  ^r>i*^i  g**—^'  '^M  t^*^  l5*^' J^  (^^) 

^U^[Jt]  ^J  ^  ur^-il  ^[i^]  ^Ji?  ^>l:\  ^[^i]  O^jJI  iä^[\,i]  (84) 

jgU^,'>3  Jlyj^l  *V  viS-A«-^^  cs-4  J^'^  li^  1-^9  (86) 

%y]9^^3  ^oh'^^  'vJ^UJI^  um  vX*-^  Jc5>i  >  v'  *iH  oJe^^  (87) 

f  julil  ^?  JäJI^  [j^I]  *I  ^JJJ  IJü>  (88) 


Die  vierzehnte  Vision. 

1.  Und  im  dritten  Jahre  des  Persers  Cyras,  welcher  Konig 
über  Babylon  wurde,  wurde  offenbart  eine  Rede  an  Daniel, 
dessen  Name  Baltscbä§ar  ist,  und  die  Hede  ist  Wahrheit: 

2.  Ich,  Daniel,  fastete  21  Tage  bis  zum  Abend,  ohne  Fleisch  zu 
essen,  ohne  Wein  zu  trinken  und  ohne  mich  mit  Ol  zu  salben. 

3.  Es  geschah  mir,  während  ich  am  Tigrisflusse  stand,  daß  mir 
eine  Sache  offenbart  wnrde. 

4.  Da  sah  ich,  und  siehe  die  4  Winde  des  Himmels  schlugen 
(resp.  wurden  geschlagen)  in  das  größte  Meer. 

5.  Und  ich  erblickte  4  Tiere,  die  vom  Meere  emporstiegen,  sehr 
furchtbar. 

6.  Das  erste  Tier  glich  einer  Löwin ;  es  hatte  Flügel  wie  Adler- 
flügel, und  während  ich  hinschaute,  da  wurden  ihm  seine 
Flügel  ge(nommen?),  und  es  wurde  ihm  ein  menschliches 
Herz  gegeben,  und  es  stand  auf  seinen  beiden  Füßen  (d.  h. 
wie  ein  Mensch). 

7.  Und  das  zweite  Tier  glich  einem  Menschenkörper  und  war 
sehr   furchtbar.    Es  stand   auf  der  Seite,   und  während  ich 


'  (5;^'» 


2  Lesung  unsicher. 

3  In  der  Lücke  ein  unverständliches  Teschdid  sichtbar. 

Kgl.  Gm.  d.  Wim.    Nachrichten.    PhU.-hüt.  KUm«.    1916.    H«ft  1. 


18  C.  H.  Becker, 

hinschaute,  da  wurden  ihm  drei  Teile  aus  seinem  Munde 
gebrochen;  der  vierte  Teil  aber  von  seinem  Munde  war  fest, 
und  ich  sah,  daß  ihm  seine  Zähne  aus  seinem  Munde  gerissen 
waren. 

8.  Und  das  zweite  Tier  glich  einem  Panther,  und  es  hatte  Flügel 
und  vier  Köpfe,  und  es  fraß  schnell  und  zerstreute  den  Rest. 

9.  Und  das  vierte  Tier  erblickte  ich  wie   einen  Löwen,   und  es 
war  noch  furchtbarer,  als  sämtliche  Tiere,  die  vor  ihm  waren. 

10.  Und  es  wurde  ihm  gegeben  Herrschaft  und  gewaltige  Kraft, 
seine  Hände  waren  aus  Eisen  und  seine  Nägel  aus  Kupfer; 
es  fraß  und  zerbrach  und  zertrat  den  Rest  unter  seinen 
Füßen. 

11.  Und  ich  erblickte  zehn  Hörner,  die  auf  seinem  Kopfe  empor- 
stiegen, und  ich  sah  weiter  ein  kleines  Hörn,  das  in  der 
Nähe  der  zehn  Homer  emporstieg,  und  es  wurde  ihm  eine 
mächtige  Herrschaft  gegeben  und  eine  gewaltige  Kraft. 

12.  Und  ich  sah  vier  andere,  die  zu  seiner  Linken  emporgestiegen 
waren,  und  ich  erblickte  vier  andere,  die  hinter  ihnen  empor- 
gekommen waren.  Alle  waren  jeder  einzelne  von  ihnen  ver- 
schieden (vom  anderen).     Ihre  Gesamtzahl  war  19. 

13.  Und  ich  hörte  eine  Stimme,  die  zu  mir  sagte:  „Daniel,  Du 
Mann  des  Begehrens,  wisse,  was  du  erschaut  hast".  Ich  aber 
sprach  zu  ihr:  „Wie  vermöchte  ich  das  [jemals  zu  verstehen] 
wenn  mich  nicht  ein  Anderer  leitete". 

14.  Da  erhob  ich  meine  Augen  und  erblickte  den  Engel  Grottes 
zu  meiner  Rechten  stehend,  und  seine  Flügel  leuchteten  sehr. 
Da  fürchtete  ich  mich  und  fiel  auf  die  Erde. 

15.  Da  faßte  mich  der  Engel  an,  richtete  mich  auf  und  sprach  zu 
mir:  „Steh  auf  Deinen  Füßen,  so  will  ich  Dir  erzählen,  was 
am  Ende  der  Zeiten  geschehen  wird. 

16.  Die  vier  Tiere,  die  Du  erblickt  hast,  sind  vier  Reiche,  und 
das  Tier,  daß  Du  einer  Löwin  ähnlich  sahst,  das  ist  der  König 
der  Perser;  er  wird  die  Erde  beherrschen  555  Jahre  lang, 
und  danach  wird  er  und  sein  Reich  zu  Grunde  gehen  und 
nicht  stark  bleiben  auf  die  Dauer. 

17.  Und  das  zweite  Tier,  welches  Du  erblickt  hast,  das  einem 
Menschenleib  glich,  das  ist  der  König  der  Römer.  Er  wird 
die  Erde  beherrschen  wie  Eisen  und  sich  über  sie  ausdehnen, 
und  er  wird  in  Kraft  sein  bis  in's  Land  der  ^abascha, 
und  er  wird  die  Erde  regieren  811  Jahre  lang. 

18.  Aber  über  die  (Haupt)stadt  des  Reiches  wird  er  nicht  Macht 
gewinnen,  bis  er  viele  Tage  vollendet  hat. 


Das  Reich  der  Ismaeliten  hn  koptischen  Danielbach.  19 

19.  Und  das  dritte  Tier,  welches  Du  erblickt  hast,  das  einem 
Panther  glich,  das  ist  der  König  der  Hellenen.  Er  wird 
über  die  Erde  herrschen  1000  Jahre  und  30  Tage;  er  und 
sein  Reich  werden  nicht  [bis]  zum  Ende  [bleiben]. 

20.  Und  das  vierte  Tier,  welches  Du  erblickt  hast,  das  einem 
Löwen  glich,  das  ist  der  König  der  Söhne  Ismä'il's. 

21.  Sein  Reich  wird  auf  der  Erde  sehr  stark  sein  viele  Tage. 

22.  Dies  Reich  wird  sein  aus  dem  Greschlecht  Abraham's  von 
der  Magd  der  Sara,  der  [Gat]tin  Abraham's. 

23.  Es  wird  alle  Städte  der  Perser,  Römer  und  Hellenen  zer- 
stören, und  19  Könige  wird  es  auf  der  Erde  aus  jenem  Ge- 
schlecht der  Söhne  Ismä'il's  geben,  bis  sich  das  Ende  ihrer 
Tage  vollendet.  — 

24.  Und  der  lOte  König,  der  von  ihnen  sein  wird,    wird  wie  ein 

Prophet  sein,  und  die  Zahl  seines  Namens  beträgt  399.  Er 
wird  Gerechtigkeit  üben,  die  Hungri^jjen  speisen  und  die 
Nackten  kleiden  und  die,  welche  in  Knechtschaft  sind,  er- 
retten. Seine  Barmherzigkeit  wird  sich  über  die  ganze  Erde 
verbreiten,  und  seine  Gerechtigkeit  wird  sich  bis  zum  Himmel 
erheben.  — 

25.  Und  der  Ute  König,  der  von  ihnen  sein  wird,  wird  Be- 
drückung üben  über  die  ganze  Erde,  und  er  wird  die  alten 
mit  der  Hand  gemachten  Werke  zerstören.  — 

26.  Er  wird  mit  Härte  behandeln,  die  auf  der  Erde  sind,  bis 
sich  niemand  mehr  findet,  der  verkauft  oder  kauft,  und  sie 
seufzen  insgesamt  42  Monate.  Wenn  Gott,  der  Gott  des 
Himmels,  ihn  gewähren  läßt,  so  dauert  seine  Herrschaft  40 
Monate.  — 

27.  Und  der  12te  König,  der  von  ihnen  sein  wird,  dessen  Herr- 
schaft wird  stark  sein,  wie  die  Gebote  seines  Mundes. 

28.  Und  er  wird  aut  der  Erde  verschiedenartige  Werke  ausführen 
während  seiner  Herrschaft,  bis  er  (oder  man)  sich  wundert 
über  das,  was  er  tut. 

29.  Und  es  werden  in  seinem  Reiche  viele  Kriege  stattfinden  am 
Ende  der  Zeiten,  und  es  wird  ein  König  sein,  der  das  ganze 
Reich  der  Söhne  Ismä'il's  beunruhigt  147  Jahre  lang. 

30.  Und  im  llOten  Jahre  seiner  Herrschaft,  da  wird  sich  Krieg 
erheben  zwischen  ihm  und  den  Hubüsch. 

31.  Und  die  Söhne  Ismä'il's  werden  über  sie  herrschen,  bis  sie 
eintreten  ....  in  die  Hauptstadt  des  Reiches,  welche  ist 
Assuan  (1.  Süba). 


20  C.  H.  Becker, 

32.  Und  sie  werden  zu  ihnen  schicken,  nm  sie  um  Frieden  zu 
bitten,  und  sie  werden  ihnen  viel  Silber  und  Gold  geben, 
und  sie  nehmen  die  Djizja  von  den  Schwarzen. 

33.  Und  der  13te  König,  der  von  ihnen  sein  wird,  der  kennt 
überhaupt  kein  Erbarmen,  und  nicht  wagt  man  sich  ihm  zu 
nähern  aus  Furcht  (?),  und  seine  Herrschaft  wird  in  Be- 
schwer (?)  (nur)  wenige  Tage  dauern. 

34.  Und  der  I4te  König,  der  von  ihnen  sein  wird,  wird  viel 
Grold  und  Süber  sammeln  und  im  Lande  mit  Gerechtigkeit 
richten. 

35.  Und  er  wird  Krieg  in  Ägypten  führen  (wörtl.  sammeln), 
und  die  Ägypter  werden  sich  ausruhen  von  [fehlen  2 — 3 
Worte]. 

36.  Und  die  Habasch  werden  ihm  überhaupt  nicht  gehorchen  und 
ihm  keine  Djizja  geben,  und  es  wird  Krieg  im  Lande  Rüm 
(der  Romäer)  sein  in  jenen  Tagen. 

37.  Und  die  Hubüsch  werden  kämpfen  mit  den  Gegenden  (Be- 
zirken) der  Qibla  (des  Südens),  und  sie  werden  die  Dörfer 
plündern  und  alle  Städte  Ägyptens,  bis  sie  die  Stadt  er- 
reichen, die  Cleopatra  in  Oberägypten  erbaut  hat,  welche  ist 
Aschmünain. 

38.  Und  danach  wird  es  der  König  von  Syrien  hören,  und  er 
wird  sich  am  Ende  fürchten;  denn  der  Krieg  hat  sich  ihm 
genähert. 

39.  Und  am  Ende  wird  er  sein  Reich  festigen,  und  es  wird  gut 
bestehen. 

40.  Und  danach  wird  auftreten  ein  Knabe  von  den  Söhnen  Is- 
mä'il's,  welcher  der  15te  König  sein  wird. 

41.  Und  er  wird  gewaltig  sein  und  schwer  in  seiner  Seele  wie 
Eisen,  und  er  wird  sein  Schwert  ausstrecken  bis  zu  den 
Gegenden  von  Rüm  (der  Romäer)  und  seine  rechte  Hand 
über  IJabasch,  und  er  wird  zwei  Gesichter  und  zwei  Zungen 
haben. 

42.  Und  in  den  Tagen  seiner  Herrschaft  wird  eine  gewaltige 
Bedrängnis  auf  der  gesamten  Erde  sein,  und  seine  Rede 
wird  schwer  sein  wie  Feuer. 

43.  Und  die  IJabascha  werden  ihm  Geschenke  bringen,  Gold, 
Silber  und  Edelsteine,  und  er  wird  seine  Beschwer  legen  auf 
jeden  Einzelnen. 

44.  Und  er  wird  in  Gefangenschaft  führen  viele  Länder  und 
wird  sie  (die  Bewohner)  hart  behandeln,  und  nicht  wird 
man  sich  an  Brot   sättigen   können  alle   Tage  seiner  Herr- 


Das  Reich  der  Israaeliten  im  koptischen  Danielbuch.  21 

Schaft,  und  es  wird  kein  Friede  sein  die  ganze  Zeit  seiner 
Regierung,  und  es  wird  viel  Plünderung  geben  in  seinen 
Tagen. 

45.  Unter  der  Herrschaft  des  16ten  Königs,  der  von  ihnen  sein 
wird,  wird  es  keinen  Krieg  geben,  und  auch  er  wird  nie- 
manden mit  Krieg  überziehen. 

46.  Und  er  (resp.  es)  wird  geben  eine  große,  islamische  (wohl 
gleich  friedliche)  Zeit,  und  seine  Herrschaft  wird  bestehen 
in  Festigkeit. 

47.  Und  zwischen  dem  17ten  König,  der  von  ihnen  sein  wird, 
und  seinem  Geschlecht  wird  Krieg  ausbrechen.  Er  ist  der, 
dess'  Namenszahl  666  beträgt. 

48.  Es  wird  sich  einer  aus  seinem  Geschlecht  erheben  und  mit 
ihm  kämpfen  und  ihn  mit  den  Schätzen  seines  Reiches  nach 
Ägypten  verfolgen. 

49.  Da  wird  er  sein  Geschlecht  und  sein  Heer  verlassen,  und  er 
wird  seine  Schätze  auf  den  Straßen  und  öfFentlichen  Wegen 
fortwerfen. 

50.  Und  er  wird  mit  seinen  Schätzen  nach  Ägypten  hinabsteigen 
und  hinaufsteigen  nach  Oberägypten,  indem  er  sich  nach 
Assuan  (1.  Süba),  der  Stadt  der  Schwarzen,  mit  dem  Rest 
seiner  Schätze  begeben  will, 

51.  Und  es  wird  ihn  einer  aus  seinem  Geschlecht  in  den  Gegenden 
von  Überägypten  töten  und  den  Rest  seiner  Schätze  erbeuten. 

52.  Und  der  18te  König,  der  von  ihnen  sein  wird,  wird  im  An- 
fang seiner  Herrschaft  gewaltiges  Böses  tun  1260  Tage  lang. 

53.  Und  es  wird  sich  gegen  ihn  ein  Krieg  aus  dem  Maghrib 
(Westen)  erheben,  und  er  wird  den  Sieg  erlangen  bis  zum 
Tage  seines  Todes. 

54.  Und  nach  diesem  wird  von  ihnen  auftreten  ein  Jüngling,  der 
Sohn  des  Vorigen,  welcher  der  19te  König  der  von  ihnen 
kommenden  sein  wird.  Und  er  wird  aus  zwei  Geschlechtem 
stammen ;  denn  sein  Vater  stammt  von  den  Söhnen  Ismä'il's, 
seine  Mutter  aber  von  den  Rom  (Romäern). 

55.  Und  es  wird  Krieg  geben  in  Ägypten  und  Syrien  21  Monate 
lang. 

56.  Denn  ihr  Schwert  wird  unter  ihnen  selber  wüten  (?),  und 
jener  König,  dessen  Namenszahl  666  ist,  wird  auch  noch  mit 
drei  anderen  Namen  genannt,  und  diese  sind  Mämädijüs  und 
ChaUalä  (=  Challä)  und  SäräbTdüs. 

57.  Denn  (sie)  er  wird  herrschen,  während  er  noch  ein  kleiner 
Klnabe   ist,    und   wird   gewaltiges   Böses   tun   und  wird  den 


22  C.  H.  Becker. 

Juden,  die  sich  überall  befinden,  befehlen,  daß  sie  nach  Jeru- 
salem zurückkehren,  und  die  ganze  Erde  wird  erschüttert 
werden  in  den  Tagen  seiner  Herrschaft,  bis  der  männliche 
Sklave  verkauft  wird  für  einen  einzigen  Dinar. 

58.  Er  hat  ein  Antlitz,  das  man  nicht  zum  Erröten  bringen 
kann  und  das  die  Furcht  Gottes  vergißt  (oder  er  vergißt 
u.  s.  w.). 

59.  Und  er  erinnert  sich  weder  des  Gesetzes  seines  Vaters  Is- 
mä'il,  noch  des  seiner  Mutter,  die  nämlich  eine  ßümijja  (Ro- 
mäerin)  war;  und  er  ist  hart  und  trunken  zu  jeder  Zeit. 

60.  Und  er  tötet  viele,  während  sie  mit  ihm  am  Tische  essen, 
durch  Getränke  aus  Zaubermitteln,  und  es  wird  viel  Ver- 
wüstung geben  in  jenen  Tagen. 

61.  Syrien  und  das  Land  Jahüdä  wird  er  freilassen  (gedeihen 
lassen);  aber  den  Maschriq  (Osten)  und  Ägypten  wird  er  be- 
drücken, und  im  Maschriq  werden  2 — 3  Generäle  (Statt- 
halter) sich  folgen  in  einem  einzigen  Jahr. 

62.  Unter  der  Herrschaft  dieses  19ten  wird  nicht  gefragt  werden 
nach  Recht  und  Gerechtigkeit,  sondern  Gold  wird  verlangt 
werden  zu  jeder  Zeit   (auch  aktivisch  mit  „er"  als  Subjekt). 

63.  Und  er  wird  Statthalter  (Stellvertreter)  in  den  Gegenden 
von  Afrika  (gemeint  ist  die  Provinz)  einsetzen  und  ge- 
waltige Heere,  und  es  wird  sich  ein  Krieg  erheben  zwischen 
ihm  und  ihnen. 

64.  Und  das  Heer,  das  mit  ihm  ist,  wird  zu  Grunde  gehen,  und 
er  wird  in  den  Gegenden  von  Afrika  mit  den  Resten  seines 
Heeres  sitzen  bleiben  viele  Jahre  lang,  ohne  darüber  Herr 
zu  werden. 

65.  Und  danach  wird  sich  wider  ihn  erheben  ein  fremdes  Volk, 
welches  Türken  heißt,  und  er  wird  mit  ihm  kämpfen. 

66.  Und  siehe,  Säräbidüs  wird  Herr  werden  über  viele  von  den 
Rom  und  Pentapolis  und  Almähijün  (kopt.  metos,  Meder) 
und  ihre  Beute  erwerben  und  über  ihre  Städte  herrschen 
und  in  die  Stadt  einziehen,  die  er  sich  erbaut  hat,  und  in 
die  Provinzen,  die  sein  Vater  zusammengebracht  hat. 

67.  Der  Türke  aber,  der  rüstet  gegen  ihn  den  Krieg  und  will 
das  Königtum  dem  Säräbidüs  fortnehmen. 

Ö8.  Und  während  nun  Säräbidüs  in  seinem  Hause  sitzt,  die 
Beute  vor  ihm  aufgehäuft,  und  diesen  gewaltigen  Reichtum, 
das  Gold  und  Silber  und  alle  die  edlen  Steine  und  alle  Ge- 
fäße betrachtet, 


Das  Beich  der  Ismaeliten  im  koptischen  Danielbuch.  23 

69.  Da  berichtet  man  ihin,  daß  der  Türke  schon  über  ganz  Sy- 
rien und  seine  Grenzen  Herr  geworden  ist.  Da  zieht  er 
aus  in  großer  Bestürzung  mit  seinem  gesamten  Heere,  und 
alle  Beute-  und  Plünderungsstücke  läßt  er  zurück  und  nimmt 
nichts  davon  mit  sich, 

70.  Sondern  mit  verstörtem  (wörtlich:  tierischem)  Herzen  sinnt 
er  darüber,  was  er  machen  soll. 

71.  Wenn  er  auf  der  Flucht  nach  Ägypten  kommt,  so  wird  ihm 
der  Türke  mit  seinem  Heere  zuvorkommen. 

72.  Sie  werden  aneinandergeraten  mit  ihren  Heeren,  und  sie 
werden  miteinander  kämpfen,  bis  das  Blut  in  Menge  fließt, 
und  der  Türke  ist  aus  dem  Geschlecht  der  Rumänin  (sie, 
wohl  Romäer). 

73.  Und  es  wird  Kampf  geben  in  der  Stadt  Aschmün,  bis  sich 
das  Wasser  des  Stromes  in  Blut  wandelt  von  der  Masse  der 
Toten  und  niemand  aus  ihm  Wasser  zu  trinken  vermag. 

74.  Und  viele  von  den  Leuten  werden  darch's  Schwert  sterben; 
ihre  Zahl  wird  nicht  gezählt  werden,  und  wer  übrig  bleibt, 
wird  zu  seiner  Provinz  zurückkehren,  zu  dem  Orte,  von  dem 
sie  ausgegangen  sind. 

75.  Der  Türke  wird  den  Säräbidüs  töten  und  die  Herrschaft  von 
ihm  nehmen,  und  die  Söhne  Ismä'll's  werden  danach  nicht 
mehr  bestehen,  sondern  ihre  Zahl  ist  damit  vollendet. 

76.  Danach  wird  sich  erheben  über  sie  der  König  von  Rüm,  und 
er  wird  sie  austilgen  mit  der  Schneide  des  Schwertes  vor 
den  Söhnen  Ismä'irs  (resp.  von  Seiten  der  Söhne  Ismä'll's) 
in  der  Wüste  Atrib,  welche  das  Land  ihrer  Väter  ist. 

77.  Und  die  Söhne  Ismä'il's  werden  den  Rüm  Untertan  sein,  und 
die  Rüm  werden  herrschen  über  Ägypten  40  Jahre  lang. 

78.  Und  danach  werden  herauskommen  zwei  Völker,  deren  Namen 
ist  Gög  und  Mägög,  und  sie  werden  die  Erde  erschüttern 
viele  Tage  lang.  — 

79.  Das  sind  die,  deren  Zahl  ist  wie  der  Sand  des  Meeres,  und 
es  wird  der  Antichrist  erscheinen,  und  er  wird  viele  ver- 
führen, bis  er,  wenn  er  vermag,  auch  die  Auserwählten 
verführt. 

80.  [Und  er  wird  die  beiden  Propheten  Henoch]  und  Elia  [töten], 
und  sie  werden  drei  und  einen  halben  Tag  tot  auf  den 
Straßen  der  größten  Stadt,  Jerusalem,  liegen. 

81.  Und  danach  wird  sie  auferwecken  von  den  Toten  der  Alte 
der  Tage. 

82.  Jener,   den  ich  gesehen  habe  auf  der  Höhe  der  Wolken  des 


24  C.  H.  Becker, 

Himmels  wie  eines  Menschen  Sohn ;  seine  Herrschaft  ist  eine 
ewige  Herrschaft,  und  sein  Reich  vergehet  nicht. 

83.  Er    wird    den   Antichrist    und    seine    gesamte    Heeresmacht 
■•/';      töten. 

84.  Dann  in  Wahrheit  wehe  den  gesamten  Lebewesen,  die  sich 
in  jener  Zeit  auf  der  Erde  befinden,  denn  es  wird  Gre walttat 
herrschen  und  gewaltiger  Zusammenbruch  und  Weinen,  und 
die  Rettung  der  Menschen  wird  die  Hand  des  Himmels-Gottes 
sein,  und  das  ist  das  Ende  der  Rede. 

85.  Da  sprach  zu  mir  der  Engel:  „Daniel,  Daniel,  verbirg  diese 
Worte  und  versiegele  sie  bis  zu  der  Zeit,  in  der  sie  sich  er- 
füllen; denn  dies  ist  das  Ende  von  allem". 

86.  Und  ich,  Daniel,  erhob  mich  und  verbarg  diese  Worte  und 
versiegelte  sie. 

87.  Und  ich  pries  Gott,  den  Vater  jedes  Einzelnen  und  den 
Herrn  der  Gesamtheit,  den  Kenner  der  Zeiten  und  der  Jahr- 
hunderte. 

88.  Ihm  gebührt  [Ruhm]  und  Majestät  bis  in  Ewigkeit.  — 


Anmerkungen  zur  Übersetzung. 

Wo  der  koptische  Text  wesentlich  abweicht,  sind  die  Übersetzungen 
von  T.,  S.,  E.  beigefügt. 

3.    Es  geschah  „mir";  ^j^  nicht  ^  zu  lesen,  da  es  Übersetzung 
des  koptischen  üaioi  „an  mir",  d.  h.  mir,  ist  (E.). 

6.  „Löwin"  T.  ursus,  S.  Bär;  E.  „gewiß  Löwin;  für  'J-AöJioi  gibt 
Glossar  t^l.  Der  Bär  beruht  auf  Apoc.  13,  2".  „genommen"; 
„Das  nach  T.  hier  stehende  Verbum  j6aiA  soll  Ps.  68,  3  'heiser 
werden'  bedeuten.  Außerdem  ist  *.cj6aiA  (3.  fem.)  in  einem 
Glossar  mit  \S:^<^.  wiedergegeben,  wofür  Peyron  y^K^.  ver- 
mutet". E.  „stand"  arabisch  möglich  auch  „wurde  gestellt* 
nach  D.  7,  4 :  kerd^ri ;  wenn  das  kopt.  nach  T.  S.  E.  aktivisch 
bildet,  so  hat  der  Autor  nicht  die  Septuaginta,  sondern  ein 
arabisches  Aktivum  wie  *^^  vor  Augen.  Letzteres  kann 
aber  sehr  wohl  auf  die  koptische  Entsprechung  von  iera^ 
zurückgehen.  Nach  E.  nicht  zwingend. 
*13.    „wissen"*   „verstehen"   nicht  kausativ   zu  lesen,    da  T.  scire 

S.  £.  wissen. 
15.   vjüH  hier  Imperativ. 


Das  Reich  der  Ismaeliten  im  koptischen  Danielbach.  25 

16.  E.  „wird  er  zu  Grunde  gehen  mit  seinem  Reiche;  er  wird 
nie  wieder  stark  sein''.     Ahnlich  T.  S. 

17.  T.  habitabit  in  exercitu  usque  ad  terram  Aethiopum ;  ähnlich 
S.;  E.  „er  wird  die  Erde  besitzen  wie  Eisen  (sie);  er  wird 
in  Kraft  werden  (d.  h.  voll  Kraft  sein)  bis  zum  Lande  der 
Äthiopen«.  —  811  Jahre;  kopt.  Text  911  Jahre  T.  S.  E. 

18.  E.  ;,bi8  viele  Tage  vollendet  sind*' ;  so  auch  T.  S. ;  man 
konnte  auch  das  Arabische  so  übersetzen,  wenn  man,  wie 
häufig,  die  Casus  verwechselt  sein  läßt. 

19.  Die  erste  Klammer  ist  keinesfalls  ^  zu  ergänzen,  da  T.  S.  E. 
nur  vom  Reiche  sprechen,  nicht  vom  König;  vermutlich 
fehlt  nichts  und  ^  ist  Dittographie. 

23.  T.  S.  perdentur;  E.  er  wird  alle  Städte  ....  verderben,  — 
E.  „bis  zur  Vollendung  ihres  Endes,  welches  (oder  welche) 
sein  wird.  sie.  Dieses  „welches  sein  wird"  steht  z,  B.  Mark. 
10,  32  für  xa.  ftekkovttt'^ . 

24.  E,  „und  Gerechtigkeit  (nicht  seine)  wird  sich  .  ,  .  ." 

25.  Es  ließe  sich  auch  die  Übersetzung  rechtfertigen:  «die  mit 
der  Hand  gemachten  Werke  der  Früheren",  duch  schließt  E. 
diese  Lesung  aus.  E.:  Handarbeiten,  der  gewöhnliche  kop- 
tische Ausdruck  für  %£t()07tot77Toc  oder  TÜäe^a. 

26.  T.  Et  persequetur  eos  qui  sunt  super  terram,  ut  non  re- 
perias  inhabitantem,  neque  resistentem.  Ahnlich  S.;  E.  „er 
wird  bedrücken,  die  auf  der  Erde  sind,  und  Du  findest  nie- 
mand, der  da  kauft  (lies  cgtun  statt  gon)  oder  verkauft, 
indem  sie  alle  seufzen  42  Monate.  Auch  im  Wortlaut  nach 
Apok,  13,  17". 

28.  verschiedenartig,  vielleicht  „verkehrt"  zu  übersetzen,  wie 
S.  E. ;  T.  opera  perversa.  E.  vergleicht  Matth.  17,17;  Luk. 
9,  41.  —  „Man"  so  T.  S.  E. 

29.  Den  arabischen  Text  kann  man  nur  so  übersetzen.  „Am 
Ende  der  Zeiten"  gehört  nach  T,  S.  zum  zweiten  Satzteil. 
E.  zweifelhaft,  da  Koptisch  zwei  unverbundene  Sätze  hat, 
aber  nach  E.  wie  nach  meinem  Gefühl  ist  das  Arabische 
hier  nicht  richtig. 

31.  T,  donec  depraedati  fuerint  urbem  regni,  quae  non  sancta 
est,  S.  „bis  sie  weichen  von  der  Stadt  des  Reiches,  welche 
'  nicht  heilig  ist.  E.  „bis  sie  herankommen  zur  Stadt  des 
Reiches,  welche  Suban  ist".  Dies  Wort  „herankommen"  be- 
gegnet nach  E.  auch  in  50,  66,  74  und  heißt  ursprünglich 
„fliegen",  wird  aber  dann  als  allgemeines  Verbum  des  Gehens 
gebraucht;    E.   vermutet   bei   T.   Anlehnung  an   Woide,  der 


26  C.  H.  Becker, 

das  volare  des  Lexikons  mit  „voler"  verwechselt  haben 
mag.  —  Assuan  ist  zweifellos  nicht  gemeint;  denn  es  war 
niemals  Hauptstadt  der  Athiopen.  Ich  vermute,  daß  das 
coffii*.«  des  koptischen  Textes  vom  Araber  hier  und  in  V.  50 
als  coyÄii  =  Uv^vT]  =  Assuan  gedeutet  wurde,  während 
Ajj^  Söba,  Süba,  die  Hauptstadt  des  südnubischen  Reiches 
Aloa  im  Sudan  gemeint  ist;  vgl.  Ja'qübi  1,  217,  wo  der 
Herausgeber  Soba  nach  Lepsius,  Nubische  Grrammatik 
p.  CXIX  vergleicht.  Neuerdings  auch  Marquart  Benin- 
Sammlung  COLI. 

32.  wörtlich:  „sie  werden  ihnen  tributgebend  werden  in  den 
Athiopen  (etwa  —  es  wird  ihnen  unter  den  Athiopen  Tribut 
gegeben  werden)",  doch  bezweifelt  E.  den  Wortlaut.  Sicher 
ist  x,^i  Tribut,  Abgabe,  xfjvöos  (Matth.  22, 17;  Mark.  12, 14). 

33.  T.  Rex  qui  erit  ex  illis  decimus  tertius,  omnino  non  habi- 
tabit  in  eo  (regno),  neque  timebunt  eum:  et  regnum  eius 
durabit  paucos  dies  in  ignorantia.  Das  ignorantia  laut  Anm. 
nach  dem  arabischen  ,)-^Ij.  S.  „wird  wenige  Tage  dauern 
in  Angst",  sonst  wie  T.  E.  „Der  IBte  König,  welcher  sein 
wird  von  ihnen,  in  dem  ist  gar  kein  Mitleid  und  nicht  (wohl 
Lücke)  Furcht  vor  ihm.  Seine  Herrschaft  wird  wenige  Tage 
dauern  Tkeoc,  In  -^eoc  mag  nach  E.  eine  Partikel  stecken, 
wie  „nur",  „kaum",  aber  nicht  belegbar.  Die  Übersetzungen 
von  T.  S.  sind  undenkbar.  Der  Text  ist  zweifellos  verderbt. 
Natürlich  ist  J^Ij  „in  Unkenntnis"  ebenso  möglich.  Vielleicht 
auch  ^^Ij.  Methodisch  richtig  ist  es  jedenfalls,  die  Lesung 
des  Manuskriptes  beizubehalten,  so  lange  nichts  entschieden 
Besseres  sich  bietet.  „Beschwer"  nach  Lane;  nach  Glossar 
Bajän  und  Dozy  sogar  „manque  de  vivres". 

35.  T.  Congregabit  bellum  in  Aegypto,  ut  Aegjrptus  commoretur 
in  molestia  et  suspirio  suo.  Ahnlich  S.  —  E.  „Er  wird  einen 
Krieg  (das  gleiche  Wort  auch  v.  67)  sammeln  (auch:  zusammen- 
bringen) und  Ägypten  wird  zur  Ruhe  gehen  (Ausdruck  auch 
vom  Entschlafen  gebraucht)  bei  ihren  (3.  Plur.  Ägypten  = 
Ägypter)  Schmerzen  und  ihrem  Seufzen". 

36.  Djizja,  kopt.  Tribut  wie  v.  32.    E.  T.  S.  Land  der  Römer. 

37.  E.  „mit  den  Gegenden  des  Südens". 

38.  T.  timebit  iinem;  desgl.  S. ;  E.  „er  wird  sich  endlich 
fürchten". 

41.  E.  „Er  wird  stark  sein  in  seiner  Seele  wie  das  Eisen.  Er 
wird  sein  Schwert  setzen  bis  zu  den  Römern,  seine  rechte 
Hand  auf  die  Athiopen". 


Das  Reich  der  Ismaeliten  im  koptischen  Danielbach.  27 

43.    Edelsteine,  T.  S.  E.  margaritas. 

46.  E.  „Man  wird  (kopt.  Passivomschreibung)  ihm  eine  große 
friedliche  Zeit  geben'-.  S.  igrivixov.  —  , Festigkeit",  T.  S.  in 
rectitudine.     Diese  Übersetzong  auch  im  Arabischen  möglich. 

49.  Geschlecht  und  Heer  können  im  Arabischen  auch  Subjekt, 
„er"  Objekt  sein,  im  Koptischen  jedoch  nicht. 

50.  E.  „Wenn  er  aber  nach  Ägypten  mit  den  Schätzen  herab- 
steigt, da  wird  er  nach  dem  Oberland  (jmewpHc)  in  Ägypten 
gehen,  indem  er  nach  Suban,  der  Stadt  der  Äthiopen,  mit 
dem  Rest  der  Schätze  gehen  will",  vgl.  Bemerkungen  zu 
V.  31.  "Wenn  der  Kopte  aus  dem  Arabischen  übersetzt  hat, 
ist  die  Wiedergabe  von  Sa'ld  durch  Maris  auffallend;  aber 
auch  sonst  belegbar;  Am^lineau,  G^ogr.  de  l'Egypte  574. 

53.  T.  in  regionibus  septentrionalibus.  T.  S.  «in  den  westlichen 
Gegenden". 

56.  T.  gladium  enim  eorum  projiciet  in  illos  ipsos  in  hello  rex 
üle,  cuius  nomen  faciet  numerum  666.  Ebenso  S. ;  E.  „denn 
ihr  (3  Plur.)  Schwert  wird  in  sie  selbst  werfen  (sie;  ob  ge- 
worfen werden?)  in  dem  Kriege.  Jener  König  (kann  nicht 
Subjekt  des  vorigen  Satzes  sein),  der,  dessen  Name  666  an 
Zahl  beträgt,  der  wird  auch  genannt  u.  s.  w"  E.  also  wie 
der  Araber,    der  sich  allerdings  sehr  umständlich  ausdrückt. 

57.  E.  wie  Araber  gegen  kleine  Abweichungen  bei  T.  S.,  die  fiir 
„ankaufen"  tradiderint  resp.  „verraten"  haben. 

61/62.  T.  et  ordinabit  epistolarios  in  Aegypto  (S.  Briefboten). 
Oriens  bis  et  ter  uno  anno  erit  erga  semetipsos  in  regno 
hocce  quod  est  decimum  nonum  (S.  ebenso).  Das  ist  natür- 
lich Unsinn.  E.  gibt  folgende  Lesung:  „er  wird  Epistolarii 
einsetzen  in  Ägypten,  dem  Osten  (entweder  streiche  Ägypten 
oder  füge  „und"  ein),  zwei  und  drei  aufeinander  in  einem 
einzigen  Jahre  in  der  Herrschaft  dieses,  der  der  19te  König 
ist".  Diese  Konstruktion  scheint  mir  sogar  besser  als  die 
arabische;  dann  wären  die  ersten  Worte  von  62  an  61  an- 
zugliedern und  das  3  zu  streichen.  Epistolarii  und  quwwäd 
entsprechen  sich  aber  nicht.  Quwwäd  ist  guter  alter  Sprach- 
gebrauch, z.  B.  Tab.  III,  49,  7.  Sollte  vielleicht  der  Kopte, 
der  ja  aus  dem  Arabi^^chen  übersetzt  haben  will,  statt  o\yi 
etwa  *>?.j  gelesen  und  darin  einen  Plural  von  juj  oder 
Kj'^.ji  =  ßegidägios  (vgl,  die  Aphroditopapyri !)  vermutet 
haben?  Dann  wären  die  unsinnigen  Epistolarii  erklärt  und 
zugleich  die  Übersetzxing  aus  dem  Arabischen  gesichert. 
Daß   der   häufige  Wechsel  der  Kalifen  und  Statthalter  den 


28  C.  H.  Becker, 

Zeitgenossen  autgefallen  ist,  sehen  wir  aus  Severus  (s.  unten). 
Der  Schluß  von  62  ist  im  Koptischen  aktivisch  gewandt,  was 
auch  im  Arabischen  möglich  und  bei  der  nach  E.  empfehlens- 
werten Textverbesserung  sogar  wohl  richtiger  ist. 
63.  T.  ordinabit  epitropos.  E.  „Und  er  wird  einen  Epitropos 
einsetzen mit  einem  großen  Heere", 

65.  „Türken";  T.  Pitourgos ;  E.  „ Ein  fremdes  Volk,  welches  man 
den  Turgos  nennt",     pi  ist  der  koptische  Artikel. 

66.  „Einziehen"  T.  depraedabitur,  vgl.  v.  31.  —  Provinzen,  im 
Kopt.  steht  x^Q^i  i°^  Arabischen  das  davon  abgeleitete  Küra. 

69.  T.  cum  omni  multitudine  sua;  desgl.  S. ;  E.  „mit  seinem 
ganzen  Heere". 

70.  Wörtlich:  Sondern  er  wird  werden  mit  tierischem  Herzen, 
indem  er  .  .  .     Genau  so  der  koptische  Text  nach  E. 

72.  E.  „Sie  werden  einander  begegnen  mit  ihrem  Heere"  (Sing. !). 
So  auch  T.;  S.  Plur. 

73.  E.  „Der  Krieg  wird   sein  in  Schmün,   der  Stadt*   (nicht  die 

übliche  Verbindung,   die  Stadt  Schmün).     E.  „ bis  sie 

nicht  Wasser  aus  ihm  trinken  können" ;  1.  nVoYsgr^cjui  statt 
nnoyig'^ejui. 

74.  E.  „eine  unzählige  Menge";  „was  von  ihnen  übrig  bleibt, 
die  werden  nach  ihrem  Lande  gehen  (S.  T.  hier  wieder  das 
unsinnige  depraedabuntur ;  vgl.  v.  31),  dahin,  von  wo  sie  ge- 
kommen sind". 

75.  T.  (ähnlich  S.)  ne  restituat  amplius  regnum  filiorum  Ismaelis. 
E.  wie  Araber,  doch  hält  er  den  Text  für  verdächtig. 

76.  T.  Postea  surget  super  eos  rex  Romanorum,  et  delebit  eos 
ore   gladii   inter   filios   Ismaelis    in   deserto   Thribon   terrae 

patrum  ipsorum.     S.  „ er  wird   aufräumen  mit   der 

Schneide  des  Schwertes  unter  den  Söhnen  Ismael's  in  der 
Wüste  d^QCßav  (arab.  Atrib),  dem  Lande  ihrer  Väter".  E. : 
„Er  wird  ihnen  (den  Türken)  Ausrottung  geben  (sie;?)  mit 
der  Schärfe  des  Schwertes  unter  den  Söhnen  Ismael's  in 
der  Wüste  von  -»pifiiuin,  dem  Lande  ihrer  Väter".  E.  denkt 
bei  -epifiiiun  nicht  ohne  weiteres  an  *.-»pifei ,  das  v_j  ji  der 
Araber,  da  es  nicht  bei  der  Wüste,  sondern  bei  dem  heutigen 
ßenha  liegt;  er  vermutet  beim  Araber  eine  falsche  Beziehung 
des  bekannten  Atrib  auf  ein  unbekanntes  Thribon,  ähnlich 
wie  oben  Suba  auf  Assnan  gedeutet  wurde. 

79.  T.  cum  vero  invaluerit,  seducet  etiam  electos.  S.  ebenso, 
nur  verfolgen.  E.  „er  wird  eine  Menge  täuschen,  sodaß, 
wenn  er  kann,  er  auch  die  Auserwählten  verführt".     E.  hält 


Das  Reich  der  Isicaeliten  im  koptischen  Danielbach.  29 

„wenn"  für  verderbt.  Das  Arabische  stimmt  wörtlich  zu  E. 
Da  der  Antichrist  die  Anserwählten  tatsächlich  verführt, 
mochte  man  das  qadara  gern  nach  dem  Sprachgebrauch  der 
islamischen  Theologie  behandeln,  doch  geht  das  wohl  nicht 
an.  Der  Antichrist  erscheint  hier  nicht  wie  im  Islam  als 
Dadjdjäl,  sondern  wortlich  als  Gegenmessias. 
80/81.  T.  S.  3  Tage,  halbtot;  E.  „und  sie  werden  3V2  Tage  ver- 
bringen,   tot  seiend,   auf  dem  Platze  .  .  .  . ,  und  danach  wird 


82.  Die  2te  Person  wäre  natürlicher  als  die  Ite,  da  der  Engel 
spricht;  im  Arabischen  natürlich  gerade  so  gut  möglich, 
aber  der  Kopte  hat  nach  T.  S.  E.  die  Ite  Person.  Sollte 
hier  nicht  beim  Kopten  eine  falsche  Übersetzung  des  Ara- 
bischen vorliegen? 

83.  T.  multitudo,  S.  Menge,  E.  Heer. 

84.  „Wahrlich,  wehe  jeder  Seele  .  .  .  .;  denn  wehe,  es  wird  Ge- 
walt und  großes  Zerbrechen  und  Weinen  sein.  Und  das 
Heil  der  Menschen  ist  in  den  Händen  Grottes  vom  Himmel". 
T.  S.  ähnlich. 

86.  E.  „ich  siegelte  die  Rede  und  ich  versiegelte"  (sie).  So  auch 
T.  S. 


2.    Erklärung  der  Apokalypse. 

Ehe  man  die  historische  Deutung  beginnen  kann,  muß  auf  das 
typisch  Apokalyptische  hingewiesen  werden.  Auf  die  Tiere  und 
Hörner,  auf  Gog  und  Magog,  den  Antichrist,  den  Alten  der  Zeiten 
(vgl.  Daniel  7,  9—12),  auf  Tod  und  Wiedererweckung  von  Henoch 
und  Elia  —  vgl.  dazu  Bousset,  Religion  des  Judentums  in  neu- 
testamentlicher  Zeit  2.  Aufl.,  S.  267;  Ders.  Antichrist  S.  134  f.  — 
gehe  ich  nicht  weiter  ein;  das  sind  typische  und  bekannte  Sachen. 
Die  Endherrschaft  des  Römerreichs  ist  nach  Bousset  ebenfalls  ein 
stehender  Zug.  Auch  manche  Zahlen  mögen  zum  apokalyptischen 
Schema  gehören.  So  gewiss  die  555  Regierangsjahre  der  Perser 
(v.  16);  auch  die  811  (resp.  911)  Jahre  der  Römer  (v.  17)  sind 
verdächtig,  doch  kenne  ich  kein  Vorbild.  Die  Dauer  des  Hellenen- 
reiches von  1000  Jahren  und  30  Tagen  ist  einfach  ein  „Tag  vor 
Gott"  imd  ein  Monat.  Es  wäre  wohl  ganz  verfehlt,  hier  histori- 
sche Berechnungen  anstellen  zu  wollen.  — 


30  C.  H.  Becker, 

Andere  Zahlen  entstammen  direkt  der  Offenbarung  Johannis. 
Für  die  42  Monate  (v.  26)  vgl.  Ap.  Joh.  13,  5,  wo  sie  ein  Reflex 
der  3V2  Zeiten  in  Dan.  7,  25;  12,  7  sind  —  1  Zeit  =  12  Monate  — : 
man  vergleiche  dazu  BoU,  Aus  der  Offenbarung  Johannis  25. 
Ebenso  sind  die  1260  Tage  (v.  52)]  apokalyptisches  Grut  (Ap.  Joh. 
11,3;  12,6).  Dan.  12,  11  heißt  die  Zahl  allerdings  1290;  da  ist 
zu  den  1260  Tagen  =  42  Monate  noch  ein  Schaltmonat  hinzu- 
gerechnet. Auch  die  21  Monate  (v.  55)  sind  wohl  nur  eine  Multi- 
plikation der  zauberischen  Grundzahlen  3  und  7,  oder  es  ist  die 
Hälfte  der  42  Monate  genommen.  Die  40  (v.  26)  ist  auch  eine 
heilige  Zahl.  Die  Zahl  147  (v.  29)  und  110  (v.  30)  sind  mir  nicht 
verständlich,  doch  siehe  darüber  unten.  Deutlich  apokalyptisch 
sind  auch  die  Zahlen  399  (v.  24)  und  666  (v.  47),  obwohl  sie  eine 
historische  Deutung  haben.  Im  Mittelpunkt  steht  der  König  666. 
Es  ist  natürlich  dabei  an  Ap.  Joh.  13,  18  gedacht,  das  berühmte, 
viel  umstrittene  Tier,  über  dessen  Deutung  (wohl  =  Nero  redi- 
vivus)  man  Bousset,  Die  Offenbarung  Johannis  6.  Aufl.,  S.  373; 
Holtzmann  -  Bauer  im  Hand  -  Kommentar  zum  neuen  Testament 
Bd.  IV,  400,  und  auch  Boll  o.  c.  S.  23  vergleiche.  Ich  vermute, 
daß  der  Ausdruck  qalb  wah§i  (v.  70).  T.  cor  animalis,  noch  ganz 
bewußt  auf  das  d^rjQLov  der  Offenbarung  anspielt.  Die  Zahl  19 
bei  den  Königen  ist  wohl  historisch,  wenn  sie  sich  auch  aus  der 
gegebenen  Hörnerzahl  von  10  -i- 1  +  4  durch  schematische  Er- 
gänzung einer  parallelen  4  ergeben  könnte.  — 

Nun  aber  zur  historischen  Deutung! 

Die  Tatsache,  die  den  Apokalyptiker  am  meisten  beschäftigt 
—  sie  wird  zweimal  erzählt  —  ist  zweifellos  der  Untergang  des 
Sarapidos,  auch  Challe,  Mametios  und  König  666  genannt,  der  bei 
AschmQnain  von  seinen  Stammesgenossen,  also  den  Ismaeliten,  die 
aber  wieder  mit  den  Türken  zusammenfließen,  erschlagen  wird. 
Wer  ist  Sarapidos?  "Was  sind  das  für  Türken?  Es  gibt  nur 
einen  Kalifen,  der  bei  Aschmünain  ermordet  wurde,  und  das  war 
Merwän  II.,  der  letzte  der  syrischen  Omajjaden.  Schreiben  wir 
Merwän  griechisch-koptisch  Magovav,  so  bekommen  wir  als  Zahlen- 
wert 40  -I-  5  -f  100  -t-  70  -f-  400  -f- 1  -f-  BO  =  666.  Die  anderen  Namen 
sind  nun  nichts  anderes  als  willkürliche  Umschreibungen  der 
gleichen  Zahl  666. 

Maiisriog  =  40  -f- 1  +  40-F  6  -|-  300  -f  10  -f  70  -H  200  =  666. 

Xane  =  QOO+l  +  SO  +  dO  +  +  b  =  666. 

Zagajtidog  =  200 -f- 1  + 100  +  1 H- 80-}- 10  +  4  +  70 -f  200  =  666. 

Was  hat  nun  aber  Merwän  mit  den  Türken  zu  tun  ?  Die  Chora- 
sanier  werden  von  der  christlichen  Überlieferung  als  Türken  gehaßt, 


Das  Reich  der  Ismaeliten  im  koptischen  Danielbuch.  31 

ja,  schon  Merwän  selber  z.  B.  von  Severus  von  Aschmünain  als 
König  der  Türken  (malik  el-Tark)  bezeichnet  (ed.  S[eybold]  ^) 
173,  20;  ed.  E[vett8]2)  118).  Da  letztere  unter  arabischer  Führung 
standen,  ist  also  kein  Widerspruch  in  der  Angabe,  daß  Sarapidos 
von  Stammesgenossen  und  doch  zugleich  von  Türken  gestürzt 
wird;  es  zeigt  vielmehr,  wie  genau  dem  Apokalyptiker  der  Tat- 
bestand bekannt  ist.  Über  Einzelheiten  vgl.  Abschnitt  4.  Der 
wesentliche  Inhalt  der  Visio  XIV  i.?t  also  der  Sturz  des  Omajjaden- 
reiches,  mit  dem  aber  ihre  historische  Kenntnis  auch  aufhört; 
denn  die  40jährige  Romäerherrschaft  und  Gog  und  Magog  sind 
rein  legendär.  Die  Vision  dürfte  also  unter  dem  un- 
mittelbaren Eindruck  des  gewaltigen  historischen 
Ereignisses  der  Katastrophe  des  Omajjadenreiches 
geschrieben  sein,  eine  Feststellang ,  die  für  die  Geschichte 
des  koptischen  Kanons  von  Wichtigkeit  ist.  — 

Damit  ist  eine  Grundlage  gelegt,  auf  der  wir  weiterbauen 
können.  Sarapidos  Merwän  erscheint  als  17ter  König,  und  doch 
schließt  die  Apokalypse  mit  seinem  Tod,  der  in  der  Reihenfolge 
beim  17ten  König  und  dann  nochmals  beim  19ten  König  erzählt 
wird.  Wie  verhält  es  sich  mit  dieser  Zahl  von  19  Königen? 
Nach  unserer  Zählung  hat  es  14  Omajjaden  gegeben ;  rechnet  man 
dazu  die  4  orthodoxen  Kalifen  und  den  Propheten  oder  Hasan  b. 
*Ali  oder  'Abdallah  b.  Zobair,  so  ist  die  Zahl  19  leicht  zu  er- 
reichen. Wie  zählt  nun  die  Apokalypse?  Wenn  Merwän  der 
17te  ist,  so  zählt  sie  vermutlich  4  orthodoxe  Kalifen  (resp.  Mu- 
hammed  und  seine  drei  ersten  Nachfolger  unter  Auslassung  'Ali's, 
da  für  diesen  ja  Mu'äwija  zählt,  wie  Stephanus  Alexandrinus,  von 
dem  sub  5  am  Ende  die  Rede  sein  wird)  und  13  Omajjaden,  indem 
sie  den  ja  so  häufig  nicht  mitgerechneten  ephemeren  Mu'äwija  IL 
fortläßt.  Diese  Zählung  wird  bestätigt  durch  die  Angabe,  der 
lOte  König  habe  die  Namenszahl  399.  Das  müßte  Sulaimän  sein. 
Nun  ergibt  die  koptisch-griechische  Schreibung  ZoXrjpLav  tatsächlich 
200  +  704-30  +  8-f-40  +  l-f-50  =  399.  Damit  steht  das  Ge- 
rippe fest;  alles  Weitere  ist  aber  völlig  zweifelhaft.  Schon 
die  Beschreibung  „wie  ein  Prophet,  der  Gerechtigkeit  übt,  die 
Hungrigen  speist  und  die  Nackten  bekleidet"  paßt  mit  Ausnahme 
des  Propheten  (wegen  des  Namens)  wenig  auf  Sulaimän.  Die 
Charakteristik  des  Uten  Königs  paßt  zur  Not  auf  'Omar  IL,  wie 
ihn  die  Christen   angesehen   haben    mögen.     Die    Zerstörung   von 


1)  Corp.  Script.  Christ,  or.,  Script.  Arab.  ser.  lU,  tom.  IX. 

2)  Patrol.  Orient.  V. 


32  C.  H.  Becker, 

Bildwerken  der  Vorzeit  wird  zwar  meist  dem  Jazid  II.  zuge- 
schrieben, ist  aber  schließlich  auch  bei  'Omar  II.  möglich.  Auch 
die  runde  Zahl  von  40  Regierungsmonaten  mag  die  kurze  Re- 
gierungszeit von  99 — 101  H.  bezeichnen.  Die  Angaben  über  den 
12ten  König,  der  Jazid  II.  sein  müßte,  sind  mir  gänzlich  unver- 
ständlich, namentlich  die  Zahlen  147  und  110.  Das  Jahr  110,  das 
den  Krieg  mit  den  ^abasch  bestimmt,  könnte  ein  Hedjrajahr  sein, 
aber  Jazid  ist  schon  105  gestorben.  Gänzlich  unmöglich  ist 
weiter  die  Parallele  bei  dem  13ten  König,  der  nur  wenige  Tage 
regiert,  während  der  ihm  nach  der  Zählung  entsprechende  Hischäm 
neben  Mu'äwija  I.  und  'Abdulmalik  der  am  längsten  regierende 
Herrscher  des  Hauses  Omajja  war.  Wenn  Nr.  12  und  13  ver- 
wechselt wären,  dann  fiele  das  Jahr  110  der  Hedjra  in  seine  Re- 
gierungszeit. Auch  bei  anderen  Königen  ist  man  versucht,  sie 
mit  Omajjaden  zu  identifizieren,  denen  sie  in  der  Reihenfolge  nicht 
entsprechen  können.  So  denkt  man  beim  19ten  König  an  Walid  III., 
der  wegen  seiner  nichtarabischen  Mutter  berühmt  war,  rühmte  er 
sich  doch  ein  Nachkomme  des  Kesrä,  des  Kaisers  und  des  Chäqän 
zu  sein.  Es  handelt  sich  aber  hierbei  wohl  nur  um  übernommene 
Züge,  die  von  einzelnen  Omajjaden  bekannt  waren. 

Auch  eine  historische  Erklärung  für  König  18  und  19  in  ihrer 
Stellung  hinter  Merwän  und  für  das  Zusammenfließen  von  Merwän 
mit  Nr.  19  ist  nicht  zu  geben.  Man  könnte  an  Saffäh  und  Mansür 
denken  und  diese  beiden  haben  auch  die  größte  Wahrscheinlichkeit 
für  sich;  denn  wenn  der  Apokalyptiker  den  Tod  Merwän's  erlebte, 
so  hat  er  auch  die  Thronbesteigung  des  Safi^äh  und  vermutlich 
auch  die  Mansür' s  noch  miterlebt.  Die  Abfassung  muß  nur  erfolgt 
sein,  ehe  die  Herrschaft  Mansür' s  sich  befestigte  und  solange  die 
Wirren  noch  anhielten,  die  einen  Zusammenbruch  des  Ismaeliten- 
reiches  einzuleiten  schienen.  Für  Safl'äh  spricht  die  Regierungs- 
zeit von  1260  Tagen;  nun  liegen  zwischen  dem  Tod  des  Merwän 
und  dem  des  Saffäh  ungefähr  4  islamische  Jahre.  Die  Zahl  seiner 
wirklichen  Tage  wäre  also  nur  unerheblich  größer.  Auch  die 
Nennung  einer  nicht  arabischen  Mutter  stimmt  bei  Man§ür,  der 
der  Sohn  der  berberischen  Umm  walad  Saläma  war  (Sojüti  ta'rich 
261,  12).  Entscheidend  ist  das  aber  nicht,  da  auch  Merwän,  auf 
den  diese  Stelle  ja  auch  bezogen  werden  kann,  ebenfalls  eine  nicht 
arabische  Mutter  hatte.  Eutychius  ed.  Cheikho  47,  8  nennt  sie 
eine  Armenierin,  Tabari  111,51,11;  Belädhori  ed.  Ablwardt26; 
Abu'l-Mabäsin  I,  357,  13  eine  Kurdin.  Vielleicht  handelt  es  sich 
aber  dabei,  wie  gesagt,  nur  um  einen  freien  Zug,  der  von  Wa- 
lid III.  bekannt  sein  mochte.     Bei  einer  Beziehung  der  Könige  18 


Das  Beich  der  Ismaeliten  im  koptischen  Danielbuch.  33 

und  19  auf  die  beiden  ersten  'Abbäsiden  darf  uns  jedenfalls  nicht 
stören,  daß  19  als  Sohn  von  18  aufgefaßt  wird.  Den  zeit- 
genössischen Christen  Ägyptens  waren  die  Kalifen  doch  unendlich 
fern,  wie  aus  Severus  von  Aschmünain  überall  deutlich  hervor- 
geht; gerade  er  macht  nun  auch  den  Mansür  zum  Sohne  des 
Safiah  (S.  207,  11;  E.  193,2;  Hamb.  198,  12).  Auch  ist  an  Abu 
Muslim  und  Saffah  zu  denken,  welch'  letzteren  die  koptische  Le- 
gende bei  Severus,  die  unten  besprochen  ist,  unbedenklich  zum 
Sohne  des  Abu  Muslim  macht.  Wenn  das  schon  am  grünen 
fiolze  der  Chronistik  —  und  zwar  einer  für  Ägypten  glänzenden 
Chronistik  —  geschieht,  was  dürfen  wir  dann  von  der  Apoka- 
lyptik  erwarten?! 

Wir  müssen  uns  mit  einem  non  liquet  bescheiden.  Es  ist  ent- 
weder durch  die  Textgeschichte  oder,  wie  mir  wahrscheinlicher 
ist,  durch  die  Unkenntnis  des  Verfassers  ein  heilloser  Wirrwarr 
entstanden.  Alle  hier  möglichen  Umsetzungen  sind  unmethodische 
Spielereien.  Es  genügt  festzustellen,  daß  die  einzelnen  Könige 
der  Apokalypse  in  ihrer  Charakterisierung  nicht  den  historischen 
Personen  entsprechen,  mit  denen  man  sie  der  einfachen  Zählung 
nach  identifizieren  müßte.  Nur  Sulaimän  und  Merwän  sind  ge- 
sichert. Es  sind  auch  die  einzigen,  deren  Namenszahlen  er  angibt. 
Der  Apokalyptiker  hat  ja  nicht  Geschichte  schreiben  wollen.  Er 
hat  den  Zusammenbruch  des  Omajjadenreiches  darstellen  wollen 
und  den  Untergang  Merwän's  greifbar  deutlich  geschildert.  Selbst 
auf  die  neue  Residenz  Merwän's,  Harrän,  wird  angespielt,  und  der 
Todesort,  Aschmünain,  direkt  genannt.  Die  diesem  Hauptereignis 
vorangehende  Charakterisierung  seiner  Vorgänger  ist  ganz  will- 
kürlich. Bekannte  Züge  einzelner  Kalifen  —  Nr.  10  klingt  wie 
die  islamischen  Verherrlichungen  Omar's  II.  —  werden  wahllos 
auf  die  Nummern  verteilt.  Hätte  der  Verfasser  alle  Na- 
men gekannt,  hätte  er  gewiß  die  Zahlenspekulation 
noch  weiter  durchgeführt.  Auch  in  den  sonstigen  histori- 
schen Angaben  liegen  wohl  nur  allgemeine  Erinnerungen  an  Er- 
eignisse der  Omajjadenzeit  vor;  so  sind  die  Kämpfe  im  Maghrib 
vielleicht  Anspielungen  auf  den  großen  Berbernaufstand  unter 
Hischäm  oder  wahrscheinlicher  auf  die  verunglückte  Expedition 
im  4:ten  Jahre  des  SaflPäh  gegen  'Abd  el-rahmän  b.  Habib,  auf 
die  Severus  von  Aschmünain  hinweist  (S.  207,  9;  E.  192;  Hamb. 
198,  8).  — 

Manche  Einzelzüge  sind  aber  wohl  garnicht  historisch  ge- 
dacht, sondern  einfach  aus  der  Rüstkammer  der  Apokalyptik 
übernommen.     Bousset  hat  in  seinem  Antichrist  überzeugend  nach- 

Kgl.  Gee.  d.  Wia.    Kschrichten.     PMl.-hist.  Klave.    1*16,    Haft  1.  '  3 


34  C.  H.  Becker, 

gewiesen,  welche  seltsamen  Schicksale  diese  apokalyptischen  Züge 
manchmal  haben  und  in  welch'  fremden  Zusammenhang  sie  ge- 
raten können.  Sollte  z.  B.  die  merkwürdige  Zurückführung  der 
Juden  nach  Jerusalem  in  unserer  Apokalypse  v.  57  nicht  mit  dem 
typischen  Zug,  den  Bousset  o.  c.  126  anführt,  „tunc  confluent  ad 
eum  in  civitatem  Hierusalem  undique  omnes"  zusammengehören? 
Dort  ist  zwar  von  allen  Völkern  die  Rede,  hier  nur  von  den 
Juden  ^).  Oder  sollte  nicht  der  Brotmangel  in  v.  44  mit  der  apo- 
kalyptischen penuria  panis  (Bousset  130),  das  Kaufen  und  Ver- 
kaufen in  V.  26  mit  dem  Kaufen  im  Zeichen  des  Antichrist  (Bousset 
132)  irgendwie  zusammenhängen  ?  Sollte  das  Blutbad  in  der  Wüste 
Thribon  (v.  76)  nicht  das  apokalyptische  „große  Blutbad  außerhalb 
der  Stadt"  (Bousset  147)  und  der  zu  Blut  gewandelte  Strom  (v.  73) 
nicht  typische  Stellen  wie  Bousset  148  „et  fluet  sanguis  more  tor- 
rentis"  wiederspiegeln?  Auch  die  Stelle  v.  56,  wo  die  Ismaeliten 
sich  gegenseitig  mit  dem  Schwert  vernichten,  erinnert  lebhaft  an 
die  Bousset  127  gegebene  Schilderung  von  der  Herrschaft  des  Anti- 
christ „et  cadent  unus  super  alterum  et  gladiis  se  invicem  de- 
struent". 

Ich  gebe  diese  Vergleiche  rein  h3^othetisch  und  übersehe 
nicht,  was  dagegen  spricht;  aber  da  wir  einen  festen  historischen 
Rahmen  haben,  die  Einzelcharakteristik  aber  unhistorisch  ist, 
liegt  die  Beziehung  auf  das  Schema  der  Apokalyptik  doch 
sehr  nahe. 


3.    Die  Erwähnnng  der  Nnbier. 

Von  speziellem  Interesse  sind  die  Angaben  über  die  IJabasch, 
?aba8cha  oder  Hubösch,  womit  die  Nubier  gemeint  sind,  die  dem 
christlichen  Ägypten  natürlich  besonders  naheliegen.  Hier  spricht 
der  Apokalyptiker  von  Verhältnissen  seiner  engeren  Heimat, 
welche  die  islamische  Reichsgeschichtsschreibung  meist  über- 
geht, die  aber  in  den  christlichen  Chroniken  eine  große  Rolle 
spielen.  — 

Die  historischen  Daten  über  die  Nubier  hat  schon  Quatremere, 
Mömoires  g^ographiques  et  historiques  sur  l'Egypte,  II,  1  ff.,  und 
neuerdings    G.    Roeder    in    Zeitschrift    für    Kirchengeschichte   33 

1)  Die  Juden  kommen  dafür  vor  in  der  armen.  Henochapokalypse  S.  819; 
Tgl.  tinten  S.  55. 


Das  Reich  der  Ismaeliten  im  koptischen  Danielhach.  35 

(1912),  364  ff.  zusammengestellt.  Die  islamische  Überliefernng 
weiß  von  Nubiereinfällen  in  Ägypten  unter  den  Omajjaden  nichts. 
Sie  kennt  den  berühmten  Vertrag  vom  Ramadan  des  Jahres  31  H., 
durch  den  der  nubische  Tribut  festgelegt  wird  (Enz.  IsL,  Artikel 
Bakt  und  dazu  ib.  II,  6  rechts  oben)  und  dann  erst  wieder  Ver- 
hältnisse aus  der  Zeit  des  Kalifen  Mu'tasim.  Die  große  Lücke  in 
der  literarischen  Überlieferung  —  urkundlich  gibt  es  einige  dürf- 
tige Angaben  —  wird  ausgefüllt  durch  einen  höchst  merkwürdigen 
Bericht,  den  Severus  von  Aschmünain  erhalten  hat,  der  von  ihm 
auch  in  andere  christliche  Quellen  (Abu  Sälih  Fol.  97  a)  über- 
gegangen, dann  von  Quatremere  o.  c.  55  und  nach  ihm  von  allen 
Späteren  behandelt  worden  ist.  Der  Nubierkönig  Kyriakos  soll 
danach  zur  Befreiung  des  von  den  Arabern  festgesetzten  Pa- 
triarchen Michael  (Chael)  einen  Gesandten  und  nach  dessen  Ge- 
fangennahme ein  Heer  nach  Ägypten  geschickt  haben.  Der  Gesandte 
und  der  Patriarch  werden  dann  sofort  freigelassen,  wodurch  der 
Nubierkönig  zu  schleuniger  Umkehr  veranlaßt  wird.  Bei  diesem 
Anlaß  wird  allerlei  auch  über  die  unmittelbar  vorangehenden 
Könige  berichtet.  Der  hierbei  genannte  König  Merkurios  ist  in- 
schriftlich, und  zwar  für  das  Jahr  710  Chr.  gesichert  (Röder  1.  c. 
382).  Also  die  Nachrichten  sind  gut.  König  Kyriakos  ist  bisher 
nicht  sicher  datierbar;  Röder  sagt  a.  D.  737  oder  752.  Und  doch 
enthält  die  Severusstelle  für  den  Zug  nach  Ägypten  ein  ganz 
präzises  Datum.  In  der  Ausgabe  von  Seybold  S.  186,  3  lesen 
wir:  ^Dies  geschah  im  Jahre  64  seit  dem  Aufkommen  der  Herr- 
schaft der  Muslime".  Dies  Datum  —  also  a.  D.  683 — 4  —  ist  aber 
falsch,  da  das  Ereignis  unter  das  Patriarchat  des  Michael  fallen 
soll,  der  a.  D.  744 — 768  den  Patriarchensitz  innehatte.  Nun  hat 
uns  Seybold  die  wertvolle  alte  Vorlage  des  Severus,  die  in  einer 
Hamburger  Handschrift  erhalten  ist,  beschert*).  In  ihr  findet  sich 
S.  178,  8  dsis  Jahr  64,  aber  ohne  die  muslimische  Ära.  Da  nun 
in  der  ganzen  Vita  nach  der  Märtyrerära  (Diokletiansära)  ge- 
rechnet wird  —  Hamb.  159,  13  kommt  das  Jahr  459,  ib.  198,  9 
das  Jahr  470  vor  —  so  ist  an  dieser  Stelle  zweifellos  464  zu 
lesen,  da  man  in  allen  Zeitrechnungen  ja  häufig  die  Hunderter 
fortläßt.  Damit  wäre  für  den  nubischen  Einfall  464  Diokl,  =  a.  D. 
748/9  anzunehmen.  Der  Patriarch  wird,  wie  weiter  unten  be- 
richtet wird,   am   12.  Bäbä,    endgültig  sogar   erst  Ende  Tübah  — 


1)  Severus  Ibn  al  Muqaffa,  Alexandrinische  Patriarchengeschichte,  ed.  Sey- 
bold, Hamburg  1912  (Veröffentlichung  aus  der  Hamburger  Stadtbibliothck),  zitiert 
Hamb. 

3* 


36  C.  H.  Becker, 

das  muß  aber  schon  a.  Diokl.  465  gewesen  sein  —  freigelassen. 
Also  fiele  der  Nubiereinfall  in  die  letzten  Monate  von  a.  Diokl. 
464,  d.  h.  in  den  Sommer  749.  Wie  lange  er  dauert,  wissen  wir 
nicht.  Am  28.  August  749  ging  a.  Diokl.  464  zu  Ende;  am  20. 
August  749  hatte  das  islamische  Jahr  132  begonnen.  Dazu  paßt 
nun  vortrefflich,  daß  als  Statthalter  Agypten's  ein  gewisser  'Ab- 
dulmalik  genannt  wird.  Gemeint  ist  'Abdulmalik  b.  Merwän  b. 
Müsä  b.  Nusair,  der  im  Jahre  132  H.  Statthalter  wurde,  nachdem 
er  bereits  vorher  Finanzpräfekt  gewesen  war.  Die  Finanz- 
präfekten  werden  aber  von  der  Chronik  des  Severus  durchweg 
als  die  eigentlichen  Herrscher  Ägyptens  bezeichnet.  Die  Statt- 
halter werden  nur  in  seltenen  Fällen  genannt;  den  Kopten  inter- 
essierte nur  der  Chef  der  Steuereinzieher,  in  dem  er  den  wahren 
Herrn  Ägyptens  erblickt.  Erst  nachdem  ich  dies  errechnet  hatte, 
sehe  ich,  daß  auch  Evetts  in  seiner  Ausgabe  an  dem  Jahre  64  H. 
Anstoß  genommen  hat,  aber  statt  den  Zusatz  Hedjra  zu  streichen, 
hat  er  falsch  a.  H.  130  korrigiert.  — 

Im  Jahre  748,  aber  nicht  viel  früher  —  denn  sein  Vorvorgänger 
korrespondiert  schon  mit  Michael  — ,  ist  also  Kyriakos  König  von 
Nubien.  Seine  Herrschaft  dauerte  länger  als  das  Patriarchat  des 
Michael;  denn  der  Biograph  sagt,  daß  er  zur  Zeit  der  Abfassung 
der  Vita  des  Michael  noch  regiert  habe  (S.  185,  10;  E.  144,  1; 
Hamb.  177,  17).  Er  regiert  also  mindestens  a.  D.  748—768;  viel- 
leicht auch  noch  früher  und  später.  Damit  ist  ein  neues  festes 
Datum  für  die  ältere  Geschichte  Nubiens  gewonnen.  — 

Der  Vulgatatext  des  Severus  stellt  nun  die  Sache  so  dar,  als 
ob  Kyriakos  mit  seinem  Heere  bis  nach  Fustät-Misr  gekommen 
sei  und  daß  die  Birket  al-öabasch,  der  Abessinierteich  in  Fustät, 
so  genannt  worden  sei,  weil  die  Abessinier-Nubier  —  man  sagt 
bald  Habasch,  bald  Nüba  —  dort  gelagert  hätten  (S.  185,  16; 
E.  144).  Das  ist  natürlich  ganz  unmöglich.  Ein  siegreiches  Nu- 
bierheer  vor  den  Toren  der  Hauptstadt  hätte  die  islamische  Chro- 
nistik  nicht  verschweigen  können.  Da  sie  aber  nichts  davon  weiß, 
hatte  ich  den  ganzen  Nubierzug  für  eine  Erfindung  des  christlichen 
Biographen  zu  Ehren  seines  Helden,  des  Patriarchen  Michael, 
gehalten.  Nun  kennt  aber  auch  die  Danielapokalyse  Nubier- 
einfälle  bis  auf  die  Höhe  von  Aschmünain  (v.  37;  über  Cleopatra 
vgl.  Abschnitt  4).  Damit  treten  die  Angaben  des  Se- 
verus aus  ihrer  Isolierung.  Und  nun  löst  der  Hamburger 
Text  auch  die  Schwierigkeit  mit  der  Birket  al-Habasch;  denn 
hier  (Hamb.  177  pu.)  fehlt  die  Beziehung  auf  Birket  al-Habasch,  die 
ganze  Etymologie  ist  also  eine  Glosse  des  späteren  Vulgatatextes. 


Das  Reich  der  Ismaeliten  im  koptischen  Danielbach.  37 

Es  ist  Misr  =  Ägypten,  nicht  =  Fustät  gemeint,  und  es  handelt 
sich  um  einen  Einfall  in  Oberägypten.  Beunmhigangen  durch 
(rrenzstämme  haben  die  ägyptischen  Chronisten  nicht  für  wichtig 
genug  gehalten,  um  darüber  zu  referieren;  das  waren  alltägliche 
Sachen.  Auch  haben  die  Muslime  eine  ganz  andere  Etymologie 
für  Birket  al-?abasch  (Maqrizl,  Chitat  II,  152,21;  B.  Duqmäq  IV, 
55,  16;  Kindi  370,  15).  Gegen  Ende  der  Omajjadenzeit  hatte  also 
wieder  einmal  ein  Nubiereinfall  in  Oberägypten  statt,  wie  sie 
auch  die  Danielapokalypse  kennt.  Ein  nubischer  Gesandter  scheint 
zurückbehalten  gewesen  zu  sein.  Gleichzeitig  war  auch  der  Pa- 
triarch gefangen  gesetzt,  und  da  hat  der  Chronist  die  Freilassung 
seines  Helden  mit  dem  Einfall  der  christlichen  Nubier  in  Verbin- 
dung gebracht.  Vielleicht  hat  es  der  Statthalter  in  dieser  Zeit 
der  Wirren  für  richtig  gehalten,  die  religiösen  Beziehungen  des 
Patriarchen  zu  den  Nubiem  politisch  auszunutzen.  Das  wird  wohl 
der  historische  Sachverhalt  gewesen  sein.  Der  Severustext  und 
•die  Daniel apokalypse  stützen  sich  gegenseitig.  Die  Nubiereinfalle 
sind  also  historisch.  — 

Viel  häufiger  als  die  Erzählungen  von  nubischen  Einfällen 
sind  in  der  ägyptischen  Literatur  die  Berichte  von  ihren  Tribut- 
karawanen. Namentlich  aus  der  von  Tag  zu  Tag  fortschreitenden 
Chronistik  der  späteren  Zeit  ist  uns  manches  darüber  bekannt 
(Abu'l-Mahäsin  I,  725 ;  Chitat  I,  202,  13).  Für  die  ältere  Zeit  vgl. 
Enz.  Isl.  Artikel  Bakt.  Daß  die  Habascha  in  v.  43  Gold,  Silber 
und  Edelsteine  bringen,  ist  wohl  übertrieben  oder  ein  typischer 
Zug.  Sie  lieferten  Sklaven  und  seltene  Tiere ;  aber  natürlich  war 
der  Södän  das  Land  des  Goldexports,  und  die  Smaragdminen 
lagen  unweit  des  Nubierlandes.  Aber  wir  dürfen  hier  keinesfalls 
«ine  genaue  Chronistik  voraussetzen.  — 

Daß  die  Muslime  bis  Söba  —  s.  Anm.  zu  v.  31  —  vorgestoßen 
seien,  ist  kaum  anzunehmen;  das  südliche  nubische  Reich,  Aloa. 
erfreute  sich  voller  Selbständigkeit.  Weiter  als  Donkola  sind  die 
Heerführer  der  Omajjaden  nicht  gekommen.  In  v.  50  spricht  der 
koptische  Text  von  Maris  und  Suban,  der  arabische  von  Sa'id  und 
Assuan  als  dem  Zufluchtsort  Merwän's.  Maris  ist  im  Koptischen  das 
Oberland,  Oberägypten  schlechthin,  bei  den  Arabern  dagegen  die 
nubische  Nordprovinz,  über  die  Marquart,  Benin  CCXLIX,  zu  ver- 
gleichen ist.  Daß  sich  Merwän  auf  seiner  Flucht  in  den  Sudan  retten 
wollte,  ist  übrigens  von  Severus  —  s.  unten  sub  4  —  bezeugt. 
Auch  das  Schicksal  seiner  Söhne  beweist  das.  Süba  war  wohl 
die  südlichste  dem  Apokalyptiker  bekannte  Stadt;  deshalb  nennt 
er  sie  hier. 


38  C.  H.  Becker, 


4.   Eine  zeitgenössische  Chronik  als  Parallele. 

Über  diesen  Einzelzug  hinaus  ist  der  Severnstext  die  beste 
Parallele,  die  wir  uns  zur  Danielapokalypse  denken  können.  Auch 
Severus  zeigt  uns,  welch'  gewaltigen  Eindruck  das  Ende  Merwän's 
auf  die  Christen  Ägyptens  gemacht  hat;  denn  Severus  bietet  uns 
die  ausführlichste  Schilderung  der  letzten  "Wochen  und  Tage  Mer- 
wän's, die  sich  überhaupt  erhalten  hat,  und  zwar  aus  der  Feder 
eines  an  den  Ereignissen  beteiligten  Klerikers.  Schon  bei  einer 
anderen  Gelegenheit  (Islam  II,  360  iF.)  habe  ich  auf  die  große  Be- 
deutung des  Severustextes  hingewiesen.  Keine  islamische,  aber 
auch  keine  christliche  Quelle  gibt  so  deutlich  die  Verhältnisse 
Agypten's  wieder,  wie  sie  aus  den  Papyri  sprechen.  Eine  bessere 
Empfehlung  gibt  es  für  einen  Historiker  nicht,  als  daß  er  mit 
den  Urkunden  übereinstimmt.  Auch  in  der  Nubierfrage  wird  Se- 
verus durch  Inschriften  bestätigt.  Es  wäre  also  Hyperkritik, 
seine  übrigen  Angaben,  namentlich  sofern  er  sie  als  Augenzeuge 
gleichsam  tagebuchartig  schildert,  zu  bezweifeln.  Natürlich  wird 
man  eine  gelegentliche  Hyperbel  abziehen  dürfen ;  aber  als  Granzes 
genommen  haben  wir  jedenfalls  hier  eine  Schilderung  vom  Ende 
der  Omajjaden  vor  uns,  wie  es  sich  in  den  Augen  gebildeter  Zeit- 
genossen spiegelte.  Die  Apokalypse  stammt  von  einem  weniger 
gebildeten  Autor,  aber  aus  der  gleichen  Zeit  und  dem  gleichen 
Milieu.  Das  möge  eine  Besprechung  der  Severusstelle  rechtfertigen, 
die  zwar  schon  dreimal  ediert  und  von  Evetts  übersetzt  ist,  aber 
noch  nirgends  eine  historische  Würdigung  erlebt  hat.  Ich  be- 
schränke mich  natürlich  auf  die  Stellen,  die  zur  Erklärung  der 
Danielapokalypse  beitragen.  — 

Nur  ein  Wort  über  den  Verfasser  als  Augenzeugen.  Ich  mag 
hier  nicht  auf  die  dunkle  Kompositionsgescbichte  des  Severus- 
textes eingehen.  Darüber  dürfen  wir  die  kompetenten  Äußerungen 
der  Herausgeber  erwarten.  Die  Vita  Michaels  ist  ein  in  sich  ge- 
schlossenes Ganzes  mit  einem  individuellen  zeitgenössischen  Ver- 
fasser, der  in  der  Einleitung  auf  seine  Vorgänger  hinweist  und 
sich  dadurch  als  Historiker  fühlt  und  in  der  Ich-Form  schreibt. 
An  einer  Stelle,  wo  er  die  Gefangenschaft  des  Patriarchen  nach 
Merwäns  Ankunft  beschreibt  (E.  179;  S.  201,  3;  Hamb.  192,8), 
nennt  er  sich  selbst  mit  Namen  als  Schammäs  (Diakon)  Johannes, 
geistiger  Sohn  des  Bischofs  Moses.  Diese  Stelle  ist  natürlich 
längst  bekannt,  und  schon  Quatremere,  S.  55,  spricht  vom  „diacre 
Jean"    als   dem  Verfasser  der  Vita  des  Michael.    Dazu  maß  nun 


Das  Keich  der  Ismaeliten  im  koptischen  Danielbuch.  39 

aber  eine  andere  Stelle  verglichen  werden.  Im  Yulgatatext  (S.  181 ; 
E.  135 ;  Hamb.  173,  14  mit  Recht  von  Seybold  ergänzt)  erzählt 
hier  der  Autor :  Als  der  Patriarch  Michael  gefangen  gesetzt  wurde, 
war  niemand  bei  ihm  außer  Moses,  Bischof  von  Waslm,  Theodoros, 
Bischof  von  Misr  und  Elias  Paulus,  der  geistliche  Sohn  des  Bi- 
schofs Moses.  Dann  erzählt  er  weiter  von  den  geistlichen  Ge- 
sprächen im  Kerker  und  sagt:  „Ich  stand  im  Dienste  dieser  drei 
unblutigen  Märtyrer  Tag  und  Nacht".  (Hamb.  174,  3;  S.  181,  24; 
E.  136).  Da  oben  mit  dem  Patriarchen  vier  genannt  waren  und 
der  Verfasser  dabei  war,  mußte  er  selbst  der  Vierte  sein.  Er 
hieße  also  Elias  Paulus,  wie  verhält  sich  nun  dieser  Elias  Paulus 
zum  Diakon  Johannes?  Beide  sind  Augenzeugen.  Beide  sind 
geistige  Söhne  des  Bischofs  Moses.  Sollten  sie  nicht  auch  die 
gleiche  Person  darstellen?  Vermutlich  aber  drückt  sich  der  Ver- 
fasser nur  ungeschickt  aus  und  war  Johannes  eben  der  Fünfte. 
Wie  er  auch  hieß,  jedenfalls  gehörte  er  mit  seinem  geistlichen 
Vater  zur  nächsten  Umgebung  des  Patriarchen.  Ein  innerer 
Grund  für  seine  Autorschaft  ist  auch  noch  sein  ständiges  Hervor- 
heben des  Bischofs  Moses,  der  fast  mehr  gefeiert  wird  als  der 
Patriarch.  Der  Autor  ist  also  ein  Augenzeuge ;  die  verschiedenen 
Ausgaben  stehen  in  ihrem  Wert  nebeneinander  und  müssen  wie 
verschiedene  Handschriften  benutzt  werden.  — 

Der  Verfasser  beginnt  seinen  Bericht  (E.  88;  S.  160;  Hamb. 
151)  mit  einer  Schilderung  der  Willkürherrschaft  des  Finanz- 
präfekten  El-Qäsim,  des  Sohnes  seines  nicht  minder  berüchtigten 
Vorgängers  'Ubaidalläh  b.  al-Habhäb.  Er  erlaubt  den  Malkiten, 
die  seit  der  Araberherrschaft  ohne  Patriarchen  gewesen  waren, 
den  ungebildeten  Kosmas  zum  Patriarchen  zu  erwählen,  während 
die  Jakobiten  ohne  Oberhaupt  bleiben.  Man  vergleiche  dazu  den 
Malkiten  Eutychius  ed.  Cheikho  45.  Erst  der  neue  Wäli  —  dieser 
Titel  wird  gebraucht  — ,  Hafs  b.  al-Walid,  gestattet  die  Wahl- 
handlung, und  Michael  wird  nach  schwierigen  Verhandlungen  zum 
Patriarchen  erkoren  (a.  Diokl.  459).  Einen  großen  Teil  seines 
Berichtes  füllen  nun  die  Streitigkeiten  zwischen  Michael  und  Kos- 
mas aus,  die  vor  der  muhanmiedanischen  Behörde  geführt  werden. 
Sie  bleiben  hier  bei  Seite.  Von  der  Reichsgescbichte  kennt  der 
Verfasser  die  Ermordung  Walid's  11.  durch  Ibrahim.  Die  Kalifen 
werden  durchweg  als  Könige  (mulük)  bezeichnet.  Ibrahim  ernennt 
den  Hassan  b.  Abi  'Atähija  zum  Statthalter  oder,  wie  alle  drei 
Texte  sagen:  „nach  einer  Handschrift  den  -ilu  ^  L»ol",  was  na- 
türlich nur  phonetische  Schreibung  für  'Isä  b.  Abi  'Atä  ist,  wie 
beide   Editoren   erkannt  haben.    Nach  Kindi  war  Hassan   Statt- 


40  C.  H.  Becker, 

halter,  *Isä  Finanzpräfekt.  Nun  reißt  ein  gewisser  Radjä  die 
Herrschaft  an  sich.  Gemeint  ist  Ibn  al-Aschjam  (vgl.  Kindi  ed. 
Gaest  87,  4;  89,  2).  Ihm  schließt  sich  der  frühere  Statthalter, 
5afs,  an,  und  sie  vertreiben  den  'Isä.  Es  handelt  sich  um  den 
bekannten  ägyptischen  Dissens  unter  Merwän,  der  meist  als 
drittes  Emirat  des  9afs  in  den  Quellen  bezeichnet  wird.  IJafs 
sucht  die  Christen  zum  Übertritt  und  damit  in  sein  Heer  zu 
zwingen  (vgl.  Islam  II,  366).  In  dieser  Zeit  prophezeit  Bischof 
Moses,  daß  noch  im  gleichen  Monat  Hafs  mitten  in  Fustät  ver- 
brannt und  Radjä  mit  dem  Schwert  getötet  werden  solle.  Und 
richtig,  das  tritt  ein,  als  Merwän  den  Hauthara  mit  5000  Mann 
—  Kindi  88,  5  sagt  7000  —  schickt  und  die  Ordnung  wieder- 
hergestellt wird.  Nach  Kindi  90,  8  wird  tatsächlich  Radjä  mit 
dem  Schwert  hingerichtet,  über  IJafs'  Hinrichtungsart  herrscht 
Dunkel,  doch  sagt  Abu  '1-Mahäsin  I,  325,  7 :  „Die  Geschichte  seiner 
Hinrichtung  (maqtal)  ist  (zu)  lange".  Da  alle  anderen  Angaben 
unseres  Autors  mit  der  besten  islamischen,  von  ihm  ganz  un- 
abhängigen Quelle  übereinstimmen  —  nur  war  Hassan  nicht  von 
Ibrahim,  sondern  schon  von  Merwän  entsandt ;  aber  das  hat  nichts 
zu  sagen,  da  ja  Ibrahim  nur  einige  Wochen  regierte  — ,  so  dürfen 
wir  unserem  Autor  auch  getrost  folgen,  wo  er  Nachrichten  bringt, 
die  wir  nicht  kontrollieren  können.  Ich  betone  das  immer  wieder, 
da  diese  Nachrichten  höchst  merkwürdig  sind.  — 

Damals  gab  es  viel  Unruhe  in  den  außerägyptischen  Provinzen 
des  Reiches,  und  die  Menschen  bekämpften  sich  untereinander, 
daß  der  jedesmalige  Herrscher  nicht  einmal  ein  Jahr  lang  an  der 
Spitze  blieb,  bis  sich  ein  Mann  erhob,  der  Merwän  (und)  ^)  König 
des  Türkenlandes  genannt  wurde.  Er  eroberte  das  Reich  mit  Ge- 
walt und  herrschte  über  es  mit  starkem  Arm  wie  Pharao.  Keiner 
vermochte  ihm  entgegenzutreten,  ohne  daß  er  ihn  mit  dem  Schwert 
vernichtete,  und  er  vergoß  viel  Blut  jedes  Jahr.  In  Ägypten  aber 
herrschte  Frieden  und  Ruhe  fünf  Jahre  lang.  Dann  wurde  der 
ägyptische  Statthalter  ersetzt  durch  'Abdulmalik  b.  Merwän,  den 
Enkel  des  Eroberers  Spanien's,  Müsä  b.  Nusair,  von  dem  oben 
schon  die  Rede  war.  Der  war  ein  großer  Christenhasser  und 
brachte  gewaltige  Beschwer  (ta'b,  wie  in  der  Apokalypse)  über 
Ägypten.  Er  konfiszierte  alle  Metalle  und  bedrückte  das  Volk. 
Unter  ihm  spielt  sich  der  Hauptstreit  der  feindlichen  Brüder  in 


1)  Das  „und«  steht  Hamb.  165, 16  ^^\  jtib  er  ^^^^  o'^J*"-  ^J*^  O*-^^ 
ß.  173,  20  eJyJI  ,4)ÜU;    E.  118  ^yJi  ,^  ^j)JU. 


Das  Beich  der  Ismaeliten  im  koptischen  Danielbuch.  41 

Christo  ab,  der  oben  erwähnt  wurde.  In  dieser  Zeit  entbrannte 
im  Osten  der  Kampf  gegen  Merwän,  und  sie  bekämpften  sich 
heftig  untereinander.  Der  Statthalter  benatzt  diesen  Anlaß  zu 
einer  allgemeinen  Gelderpressung.  Auch  der  Patriarch  wird  zu 
Erpressungszwecken  in's  Fußholz  gesetzt,  mit  einer  Eisenkette 
belastet  und  eingesperrt.  Es  begleiten  ihn  die  oben  genannten 
Personen.  Die  Gefangenen  sahen  kein  Sonnenlicht  vom  11.  Tot 
(Sept.)  bis  zum  12.  Bäbä  (Oktober  a.  D.  749).  Im  Gefängnis  führen 
sie  religiöse  Gespräche,  aus  denen  der  Verfasser  mancherlei  zitiert. 
Sie  werden  dann  freigelassen,  um  in  Oberägypten  Geld  zu  sammeln. 
Bei  dieser  Gelegenheit  wird  auch  der  Statthalter  als  Malik  be- 
zeichnet. Sie  kehren  am  21ten  Tübah  (Januar  750)  nach  Mi§r 
zurück.  In  dieser  Nacht  fand  ein  schweres  Erdbeben  statt,  und 
zwar  im  ganzen  Orient.  In  Ägypten  wurde  nur  Damiette  be- 
schädigt. (Es  ist  dies  das  Erdbeben,  über  das  Theophanes  Chrono- 
graphia  426  berichtet;  das  war  a.  D.  750).  Abdulmalik  läßt  unter 
dem  Eindruck  dieses  Ereignisses  den  Patriarchen  frei  und  begnügt 
sich  mit  dem  von  ihm  gesammelten  Gelde.  Dann  folgt  die  nu- 
bische  Episode,  fest  verankert  im  Fluß  der  Erzählung.  Man  sieht 
aus  der  doppelten  Motivierung,  daß  die  Beziehung  des  nubischen 
Einfalls  zur  Freilassung  des  Patriarchen  nur  eine  Ausschmückung 
des  Chronisten  ist.  Ägypten  aber  fand  keine  Ruhe  unter  'Abdul- 
malik; denn  keiner  von  den  „Königen  der  Ismaeliten"  war  wie 
er,  der  in  seinem  Christenhaß  tat,  was  er  wollte.  Nachdem  dem 
Patriarchen  aber  eine  wunderbare  Heilung  einer  Tochter  des  Statt- 
halters gelungen  war,  geht  es  den  Christen  besser.  Michael  kann 
Kirchen  restaurieren,  und  es  tritt  sogar  ein  Muslim  zum  Christen- 
tum über.  — 

Dann  folgt  der  uns  wichtigste  Teil  der  Vita,  die  Erzählung 
vom  Aufkommen  der  'Abbäsiden  und  dem  Ende  Merwän's.  Darin 
kommen  folgende  Daten  vor: 

Ankunft  Merwän's:  20.  Baüna  (Juni). 
Ankunft  der  Verfolger:  18.  Ablb  (Juli). 
Todesmonat  Merwän's:   Misrä  (August). 

Als  Jahr  wird  467  Diokl,  angegeben.  Das  wäre  a.  D.  751—2, 
was  unmöglich  ist.  Es  muß  465  Diokl.  heißen;  xmd  das  ergibt 
sich  auch  aus  dem  Fortschreiten  der  Erzählung  von  Monat  zu 
Monat.  Die  entsprechenden  Daten  der  islamischen  Überlieferung 
sind: 

Ankunft    Merwän's:    22.   Schawwäl    132    —    3.  Juni   750 
(Kindi  95,  3). 


42  C«  H-  Becker, 

Ankunft    der   Verfolger:    15.  Dhu  l-^idjdje  —    26.  Juli 

(Kindi  96,  11). 
Tod  Merwän's:  Ende  Dhu  '1-IJidjdje  —  Anfang  August. 

In  Bezug  auf  den  Tag  schwanken  die  Angaben  der  besten 
Quellen,  Kindi  96, 16;  Tabari  III,  50, 15;  51, 8;  B.  Athir  V,  327,12; 
Masudi  B.  G.  A.  VIII,  328,  3;  K.  Agbäni  IV,  92;  deshalb  hat  auch 
schon  Wellhausen,  Arabisches  Reich  342  sich  begnügt,  als  sicher 
nur  den  Anfang  August  750  zu  bezeichnen.  — 

Vergleicht  man  nun  die  muslimische  und  die  christliche  Über- 
lieferung bei  Severus,  so  zeigt  sich,  daß  die  Monate  überein- 
stimmen. Die  Tagesangaben  schwanken  ebenso  wie  in  der  mus- 
limischen Überlieferung.  Daß  sieh  Severus  in  der  Jahresangabe 
um  zwei  Jahre  geirrt  hat,  was  sich  aus  seiner  eigenen  Erzählung 
ergibt,  darf  uns  nicht  Wunder  nebmen.  Ganz  abgesehen  von 
gerade  bei  Zahlen  häufigen  Fehlschreibungen,  weiß  jeder  aus 
eigener  Erfahrung,  daß  man  sich  bei  einige  Jahre  zurück- 
liegenden Erlebnissen  viel  genauer  der  Jahreszeit  als  der  Jahres- 
zahl zu  erinnern  pflegt.  Irrtümer  passieren  uns  dabei  alle  Tage. 
Deshalb  dürfen  wir  sie  unserm  Chronisten  nicht  allzu  sehr  nach- 
tragen, freuen  wir  uns  lieber,  daß  die  genaue  Entsprechung  in  den 
Monatsangaben  mit  der  islamischen  Tradition  den  Wert  unseres 
Autors  als  historische  Quelle  bestätigt.  — 

Im  Folgenden  skizziere  ich  den  weiteren  Inhalt  des  Severus- 
berichtes,  und  zwar  beginnend  mit  S.  188,  7;  E.  150;  Hamb.  190,4. 

In  dieser  Zeit  war  Merwän  König  von  Persien  bis  nach 
Spanien.  Seine  Hand  lag  schwer  auf  seinem  Heer  wegen  der 
Menge  seiner  Kriege,  bis  sie  schließlich  untereinander  Krieg  be- 
kamen und  gegenseitig  ihr  Blut  vergossen.  An  einem  Tage  fielen 
20000,  ein  andermal  30000,  ja,  sogar  einmal  70000  Mann.  Sie 
hörten  nicht  auf  sich  zu  bekämpfen  während  der  ganzen  7  (resp.  9) 
Jahre  seiner  Herrschaft.  Im  siebten  Jahre  hatte  ein  Jüngling 
namens  'Abdallah  einen  Traum  und  hörte  eine  Stimme  mehrmals 
sprechen:  „Bekämpfe  den  Merwän  (mit  Gott,  so  wirst  Du  Herr 
über  ihn  werden)".  'Abdallah  wohnte  in  der  Wüste  (und  war  ein 
Beduine),  und  sein  Vater  (sie)  war  ein  Scheich  namens  Abu  Muslim. 
Der  Vater  hatte  den  gleichen  Traum,  schrieb  ihn  auf  und  schlug 
ihn  an  seinem  Zelte  an.  Er  erzählte  den  Muslimen  die  Geschichte 
des  Traumes,  und  sie  versprachen  ihm  Hülfe  und  im  Falle  des 
Erfolges  die  Herrschaft.  Es  versammelten  sich  bei  ihnen  20000 
Reiter,  die  aber  keine  Waflfen  hatten.  Da  schnitten  sie  Stiele 
Ton  Palmblättern  (djarä*id)  ab  und  setzten  Lanzenspitzen  darauf. 
So  zogen  sie  in  den  Kampf,  und  die  Kraft  Gottes  war  mit  ihnen. 


Daa  Reich  der  Ismaeliten  im  koptischen  Danielbach.  43 

Merwän  aber  zog  wider  sie  mit  100000  Streitern.  'Abdallah 
teilte  sein  Heer  in  zwei  Teile.  Als  er  sie  erblickte,  sprach  Mer- 
wän, wie  einst  Goliath  zu  David  (1.  Sam.  XVII,  43):  „Du  kommst 
zu  mir  mit  einem  Stock;  bin  ich  denn  ein  Hund?".  Und  Merwän 
stellte  40000  wohlgepanzerte  Krieger  gegen  sie  in's  Feld,  doch 
sie  wurden  vernichtet  von  'Abdalläh's  ersten  Zehntausend  nach 
dem  Bibelwort:  „Einer  wird  1000  in  die  Flucht  schlagen"  (Josua 
23,  10  und  sonst).  Abu  Muslim  erblickte  aber  den  Engel  des 
Herrn,  und  in  seiner  Hand  war  ein  goldener  Stab  (qa4ib),  an 
dessen  Spitze  sich  ein  Kreuz  befand,  und  damit  schlug  er  seine 
Feinde  in  die  Flucht.  "Wo  aber  das  Kreuz  hinkam,  da  fielen  die 
Männer  tot  hin,  und  seine  Genossen  erbeuteten  ihre  Pferde  und 
Waffen.  Dann  schickte  Merwän  wider  sie  andere  40000  in  der 
vierten  Stunde  des  Tages,  und  mit  ihnen  kämpften  4000  Anhänger 
Abu  Muslim's;  Gott  aber  überantwortete  die  40000  in  ihre  Hand 
mit  ihren  Tieren  und  Waffen.  — 

Als  das  Merwän  sah,  floh  er,  gebrauchte  aber  die  List,  seine 
Schätze  auf  dem  Wege  zu  zerstreuen  —  vgl.  unsere  Apok.  v.  49  — ; 
deren  Einsammlung  hielt  seine  Verfolger  sieben  Tage  auf,  und  so 
entkam  er  mit  20000  Mann.  Von  diesen  rettete  er  über  den  Eu- 
phrat  —  beim  Übergang  ertranken  viele,  und  die  Schiffe  ver- 
brannten —  nur  8000  Mann.  Abu  Muslim  aber  ließ  Kreuze  aller 
Art  machen  und  sie  vor  ihnen  hertragen  und  sprach:  „In  diesem 
Zeichen  gibt  uns  Gott  den  Sieg".  Von  allen  Seiten  strömten  die 
Scharen  ihm  zu,  aus  Choräsän,  Färs  und  Rüm,  und  wer  in  der 
Feme  davon  hörte.  In  allen  Städten,  die  sie  nahmen,  setzten  sie 
ihre  Leute  ein.  Merwän  aber  verbrannte  jeden  Ort,  den  er  auf 
seiner  Flucht  erreichte.  Als  seine  Verfolger  an  den  Euphrat 
kamen  und  den  Brand  in  den  Schiffen  sahen,  da  zogen  sie  schwarze 
Gewänder  an,  ließen  ihre  Haare  wachsen,  verkehrten  nicht  mehr 
mit  ihren  Frauen  und  fasteten,  bis  Gott  ihre  Feinde  in  ihre  Hände 
überlieferte.  Sie  brauchten  sechs  Monate,  bis  sie  die  Schiffe  er- 
neuert hatten.  Dann  folgten  sie  Merwän.  Wenn  sie  bei  ihrem 
Vordringen  Christen  trafen,  die  auf  Stirn  und  Kleidern  das 
Zeichen  des  Krenzes  trugen,  oder  Muslime,  die  schwarze  Kleider 
trugen,  dann  schonten  sie  sie;  alle  Anderen  wurden  getötet; 
denn  die  Genossen  Merwän's  gehörten  zu  Quraisch*).     Sie  töteten 


1)  Es  ist  hier  und  an  anderen  Stellen  textlich  stets  zweifelhaft  ob  ^jüjj» 

oder  ^^  j    ob  ^j.ajwJ  oder  ^j^j^^  zu  lesen   ist.    Ich  halte  die  Lesong  „Qurei- 

schiten"   für   richtiger;   denn   es   war  doch  eine    persische   Reaktion   gegen    die 
Araber. 


44  C.  H.  Becker, 

aber  alle  seine  Genossen,  ja,  sie  spalteten  die  Bäuche  der  schwan- 
geren Frauen,  um  ihre  Kinder  zu  töten;  denn  sie  sollten  keinen 
Samen  auf  Erden  hinterlassen.  — 

Merwän  betrat  aber  sein  Schatzhaus  (Vulg.  in  Damaskus)  und 
nahm  viele  Schätze  heraus  und  verbrannte  den  Rest  mitsamt  der 
Stadt,  und  er  machte  es  so  mit  sieben  Provinzen  (Küra's).  Als 
das  'Abdulmalik,  der  Statthalter  von  Ägypten,  hörte,  schrieb  er 
ihm  listig  einen  Brief  und  lud  ihn  ein,  nach  Ägypten  zu  kommen, 
wo  er  vor  seinen  Feinden  sicher  wäre.  Da  machte  sich  Merwän 
auf  den  Weg  nach  Ägypten.  Auf  dem  Wege  tötete  er  die  Ober- 
häupter der  Orte  und  Provinzen  und  zog  ihre  Schätze  ein.  Ebenso 
behandelte  er  die  Klöster,  so  vor  allem  ein  reiches  Kloster  in  Pa- 
lästina, „und  der  Name  jenes  Klosters  war  Mön(asterium)  und  in 
unserer  Sprache  Der  Bü  Hermänüs"  ^).  In  der  Nähe  des  Klosters 
aber  lebte  ein  Säulenheiliger,  der  schon  mehrere  Jahre  auf  seiner 
Säule  lebte,  ein  orthodoxer  Theodosianer.  Auf  Rat  seiner  Be- 
gleitung, die  ihn  auf  die  Wahrsagegabe  des  Heiligen  aufmerksam 
macht,  befragt  ihn  Merwän  über  sein  Schicksal.  Da  sprach  er  wie 
Jeremias:  „Wenn  ich  die  Wahrheit  künde,  wirst  Du  mich  töten; 
aber  ich  will  Dir  sagen,  was  mir  Gott  offenbart  hat,  und  was  mir 
Gott  gesagt  hat  über  Dich:  Mit  dem  Maß,  mit  dem  Du  gemessen 
hast,  wird  Dir  gemessen  werden.  Wie  Du  die  Mütter  kinderlos 
gemacht  hast,  so  wird  Deine  Mutter  kinderlos  werden,  und  Dein 
Weg  wird  schrecklich  sein  für  alle,  die  Dich  vor  sich  sehen,  und 
Deine  Kinder  und  Weiber  und  alle  die  Deinen  werden  sie  in  Ge- 
fangenschaft führen,  und  Dein  Königtum  wird  an  sich  reißen  der, 
welcher  Dir  jetzt  auf  den  Fersen  ist.  Und  keiner  aus  Deinem 
Geschlecht  wird  König  werden  bis  in  Ewigkeit,  und  sie  werden 
Dich  verfolgen  (sie),  bis  Du  gelangst  nach  Abu  Abis  zu  Cleo- 
patra^). Dies  alles  wird  Dir  noch  in  diesem  Jahre  passieren  im 
Monat  Misrä".  Als  das  Merwän  gehört  hatte,  ließ  er  die  Säule 
umstürzen  und  den  Heiligen  lebendig  verbrennen.  Dann  kam  er 
nach  Ägypten  am  20.  Baüna  des  Jahres  467  (lies  465)  der  Mär- 
tyrer. — 

Schon  früher  aber  hatten   sich  die  Baschmüriten '')  gegen  den 
Statthalter  'Abdulmalik  empört.     Wegen  ihrer  günstigen  Lage  im 


1)  In  Bü  Hermänüs  steckt  nach  Littmann  wohl  Romanus ;  das  „Her"  erinnert 
an  f.    Das  Oj^  für      ^  eines  Textes  ist  wohl  spät. 

2)  über  diese  Namen  siehe  unten. 

3)  Vgl.  über  sie  Kindl  96;   Maqrizi,  Chitat  I,  79,  31;  804,  9;    II,  493,  12: 
über  den  Ort  s.  Jäqüt  I,  634;  auch  sonst  gelegentlich  erwähnt. 


Das  Reich  der  Ismaeliten  im  koptischen  Danielbuch.  45 

Delta  war  ihnen  nicht  beizukommen.  Nach  Merwän's  Ankunft 
sagen  sich  die  Araber  in  Alexandria  von  ihm  los,  Merwän  schickt 
den  Emir  Hauthara,  die  Stadt  wird  genommen  und  unter  anderen 
auch  der  Patriarch  gefangen  gesetzt.  Er  soll,  da  er  nicht  zahlen 
will,  hingerichtet  werden,  wird  aber  im  letzten  Moment  frei  ge- 
lassen, da  man  durch  ihn  auf  die  Baschmüriten  wirken  will. 
Inzwischen  waren  'Abdallah  und  seine  Genossen  Herren  von 
Syrien  geworden,  und  Merwän  sammelt  seine  Soldateska  um  sich, 
der  er  jede  Ausschreitung  gestattet,  nachdem  sie  von  den  Basch- 
müriten geschlagen  worden  war.  Diese  hatten  Rosette  geplündert 
—  Kindi  96,  5  —  und  die  dortigen  Muhammedaner  erschlagen. 
Nun  wird  der  Patriarch  zu  Merwän  geschickt  und  auf  dem  Wege 
dorthin  kommt  er  an  Wasim  vorbei,  wo  sich  ihm  der  Bischof 
Moses  und  der  Verfasser  Johannes  anschließen.  Johannes  be- 
richtet dabei  in  der  Ich-Form,  daß  schon  vor  der  Ankunft  Mer- 
wän's in  Ägypten  Bischof  Moses  prophezeit  hatte:  „Dieses  Reich 
wird  zu  Grunde  gehen  mit  allen  seinen  Heeren,  und  danach  wird 
ein  neues  Reich  kommen".  Als  nun  am  Sonntag,  den  10.  Abib, 
morgens,  der  Patriarch  Michael  vorbeigeführt  wird,  erklärt  Moses, 
die  Stunde  der  Erfüllung  sei  gekommen.  Sie  nahmen  noch  das 
Abendmahl  aas  der  Hand  des  Patriarchen,  und  schon  sehen  sie 
Flammen  über  Fnstät  emporschlagen,  wo  Merwän  die  Vorratshäuser 
verbrennt,  damit  sie  nicht  in  die  Hände  seiner  Feinde  fallen. 
Jetzt  werden  die  Soldaten  unruhig  und  drängen  zum  Aufbruch. 
Johannes  und  Moses  begleiten  den  Patriarchen. 

Merwän  hatte  nämlich  den  Befehl  gegeben,  ganz  Fustät  anzu- 
stecken, und  es  brannte  vom  Süden  bis  zum  Norden,  bis  zur 
großen  Moschee  ^).  Drei  Tage  vorher  hatte  er  es  von  allem  Volke 
räumen  lassen.  Auf  der  Flucht  vor  dem  Feuer  waren  zahllose 
Leute  im  Flusse  ertrunken,  da  sie  keine  Übersetzgelegenheit  fanden. 
Das  Volk  füllte  die  Straßen  und  Plätze  in  Gizeh.  Es  fehlte  an 
Lebensmitteln,  da  Merwän  die  Vorratshäuser  verbrannt  hatte. 
Als  der  Patriarch  mit  seinem  Gefolge  ankommt,  bekommt  Merwän 
gerade  die  Nachricht,  daß  die  Chorasanier  bereits  El-Faramä  er- 
reicht haben.  Er  schickt  nun  Truppen  aus,  alle  Boote  in  dem 
zwischen  ihm  und  seinen  Feinden  liegenden  Lande  zu  verbrennen 
und  Städte  und  Dörfer  zu  zerstören^).  So  kamen  sie  bis  nach 
Atrib.    Hier   hoffte   Merwän,    dank    der   vielen    Wasserläufe    den 


1)  Die  islamische  Überlieferung  kennt  nur  die  Niederbrennung  der  Ber 
Mudhahhaba,  des  Palastes  der  Merwäniden;  vgl.  Kindi  95,  Abu'l-Mahäsin  I,  351; 
Maqrizl,  Chitat  I,  304,  8 ;  Brücke  und  Umgebung  nach  Tab.  in,  49,  9. 

2)  Ähnliche  Nachrichten  bei  Tab. 


46  C.  H.  Becker, 

Vormarsch  seiner  Feinde  zu  verhindern,  doch  später  stellte  es 
sich  heraus,  daß  er  nicht  mit  den  Furten  gerechnet  hatte.  Darauf- 
hin zog  Merwän  seine  Truppen  von  Atrib  zurück,  und  die  Stadt 
wurde  gerettet.  Am  18.  Abib  verbrennt  Merwän  die  Burg  von 
Misr,  nachdem  er  sich  mit  seinen  Truppen  auf  das  westliche  Nil- 
ufer zurückgezogen  hat^).  Am  19.  Abib  erscheinen  die  Chora- 
sanier  auf  der  gegenüberliegenden  Seite.  Sie  schlagen  ihre  Zelte 
im  Norden^)  von  Fustät  auf.  Ihr  Lager  erstreckt  sich  von  dem 
Astabal  (Stall)')  genannten  Platze  bis  an  das  Grebirge;  während 
hier  ihre  Vorhut  stand,  war  ihre  Nachhut  auf  dem  Wege  nach 
El-Faramä.  In  der  Nacht  des  20.  Abib  werden  der  Patriarch  mit 
Begleitung  zu  Merwän  befohlen.  Zitternd  und  bebend  werden  sie 
zu  dem  Zelte  Merwän's  gebracht,  worauf  sie  Merwän  fragt:  „Wer 
von  Euch  ist  der  Patriarch?"  Der  Patriarch  wird  von  ihnen  ge- 
trennt, der  Bischof  Moses  gemartert,  um  Greld  von  ihm  zu  er- 
pressen, während  der  Verfasser  im  Mönchsgewand  nicht  weiter 
belästigt  wird.  Der  Patriarch  stand  vor  Merwän,  während  dieser 
nach  der  anderen  Nilseite  blickte,  wo  seine  Feinde  sich  ver- 
sammelten. Das  ganze  Volk  von  Misr  sah,  zusammen  mit  den 
Chorasaniern ,  was  mit  dem  Patriarchen  geschah,  und  sie  be- 
schimpften Merwän.  Die  Baschmüriten  hatten  sich  in  El-Faramä 
den  Chorasaniern  angeschlossen  und  ihnen  gesagt:  „Merwän  hat 
unsern  Patriarchen  gefangen  gesetzt,  weil  wir  gegen  ihn  gekämpft 
haben  und  seine  Truppen  vor  Earer  Ankunft  in  die  Flucht  ge- 
schlagen haben".  Der  Emir  Hauthara  aber  stand  vor  Merwän 
und  sagte  ihm,  dieser  Patriarch  pflegte  zu  den  Alexandrinern  zu 
sagen:  „Gott  wird  das  Reich  von  Merwän  nehmen  und  wird  es 
seinen  Feinden  übergeben".  Als  er  dies  hörte,  sprach  der  Dol- 
metscher im  Auftrage  Merwän's  zum  Patriarchen:  „Bist  Da  der 
Patriarch  von  Alexandrien?"  Da  antwortete  der  Patriarch:  „Ja, 
ich  bin  es,  Dein  Knecht".  „Und",  sagt  der  Verfasser,  „ich  hörte 
€8,  da  ich  in  der  Nähe  war".  Da  sagte  Merwän  zu  ihm:  „Sprich, 
Du  bist  also  das  Oberhaupt  der  Feinde  der  (islamischen)  Religion?" 
Der  Patriarch  antwortete:  „Ich  bin  nicht  das  Oberhaupt  schlechter, 
sondern  guter  Menschen,  und  die  Meinigen  tun  nichts  Böses, 
sondern   die  Beschwer   hat   sie   zu  Gfunde   gerichtet,    bis  sie  ihre 


1)  Gemeint  ist   wohl    der  Brückenkopf;    denn  die  islamische  Überlieferung 
spricht  davon,  daß  er  „die  zwei  Brücken"  zerstört. 

2)  Wenn  ^^jO^.  hier  Norden  heißt. 

3)  Astabal  Qorra  ist  gemeint,  die  spätere  Birkat  al-Habasch ;  Stollensammlung 
in  Papyri  Schott-Reinhardt  I,  18  und  8.  de  Sacy,  Relation  de  TEgypte  400. 


Das  Beich  der  Ismaeliten  im  koptischen  Danielbuch.  47 

Kinder  verkaufen  mußten".  Mehr  aber  sagte  er  nicht.  Darauf 
wurden  auf  Befehl  Merwän's  dem  Patriarchen  die  Barthaare  aus- 
gerissen und  in  den  Nil  geworfen.  Der  Berichterstatter  fügt 
hinzu :  „Und  ich  sah  sie  mit  meinen  eigenen  Augen  auf  dem  Wasser 
schwimmen,  und  sein  Bart  war  groß  und  schön  gewesen  und  floß 
auf  seine  Brust  herab,  wie  bei  Jakob".  Die  Leute  auf  dem  anderen 
ITfer  sahen  dem  zu.  Und  sie  wären  gern  herübergekommen, 
Merwän  zu  töten;  aber  sie  fanden  keine  Gelegenheit  zum  Über- 
setzen, Die  wenigen  Furten  waren  den  Chorasaniem  noch  nicht 
bekannt;  Merwän  aber  ließ  sie  bewachen.  Als  die  Märtyrer  so 
in  schwerer  Bedrängnis  waren,  da  öffnete  Gott  die  Augen  des 
Bischofs  Moses,  und  er  sah  zwei  Heilige  über  den  Fluß  reiten. 
Es  sah  sie  aber  niemand  außer  Merwän  und  ihm,  und  sie  sprachen 
zu  Merwän:  „Was  sitzest  Du  hier,  wo  doch  Deine  Feinde  schon 
nach  dem  Westen  übersetzen?"  Da  gab  Merwän  den  Befehl  auf- 
zubrechen und  sie  am  folgenden  Tage  wieder  vorzuführen.  Das 
geschieht,  und,  obwohl  eigentlich  der  Patriarch  allein  vorgeführt 
werden  soU,  drängt  sich  seine  ihm  treu  ergebene  Begleitung  doch 
mit  in  das  Zelt  Merwän's.  Merwän  saß  am  Ufer  des  Flusses,  und 
der  Patriarch  stand  10  Stunden  vor  ihm,  ohne  daß  ihn  Merwän 
ansprach.  Wieder  werden  allerlei  Martern  vorbereitet,  wieder 
schaut  das  Pablikum  vom  andern  Ufer  zu,  bis  schließlich  der 
älteste  Sohn  Merwän's,  'Abdallah,  sich  in's  Älittel  legt  und  seinem 
Yater  rät,  den  Patriarchen  nicht  zu  töten,  da  sie  bei  ihrer  wei- 
teren Flucht  doch  wohl  oder  übel  mit  dem  Wohlwollen  der  Nubier 
zu  rechnen  hätten  und  der  Patriarch  auch  deren  geistiges  Ober- 
haupt sei.  Der  Patriarch  wird  also  nicht  getötet,  sondern  mit 
seiner  Begleitung  wieder  in's  Gefängnis  zurückgeführt.  Die  Für- 
sprache 'Abdalläh's  ist  zweifellos  eine  Ausschmückung  des  Chro- 
nisten, da  'Abdallah  der  einzige  der  Söhne  Merwän's  war,  der 
dem  allgemeinen  Blutbad  entrann,  und  diese  Errettung  vor  der 
Strafe  Gottes  durch  irgend  eine  besonders  gute  Tat  des  'Abdallah, 
der  überhaupt  gelobt  wird,  motiviert  sein  mußte.  So  konnte  die 
Rettung  des  'Abdallah  einem  Fürbittegebet  des  Patriarchen  zu- 
geschrieben werden.  Zunächst  aber  bleiben  der  Patriarch  und 
seine  Begleitung  unter  schweren  Qualen  10  Tage  und  10  Nächte 
im  Gefängnis ;  das  war,  wie  man  aus  dem  Text  nachrechnen  kann, 
vom  21.  Abib  bis  zum  1.  Misrä.  Der  Bischof  Moses  prophezeit 
im  Gefängnis,  diesmal  würden  sie  nicht  getötet  werden;  aber  sie 
kämen  erst  heraus,  wenn  Merwän  tot  wäre.  Nach  der  eigenen 
Erzählung  des  Chronisten  kommen  sie  am  1.  Misrä  heraus,  nachdem 
das  Heer  Merwän's  geschlagen  ist;    er  selbst  ist  aber  sicher  erst 


48  C.  H.  Becker, 

einige  Tage  später  gefallen.  Das  Gefängnis  befand  sich  auf  einer 
Insel,  deren  Name  verschieden  überliefert  worden  ist^).  Da  auf 
dieser  Insel  sich  aber  viele  Schiffe  befinden  —  ein  jüngerer  Sohn 
Merwän's  führt  hier  das  Kommando,  bis  er  bei  Ankunft  der  Gegner 
weichen  muß  — ,  so  handelt  es  sich  offenbar  um  die  Insel  E,ö(Ja, 
deren  Arsenal  berühmt  war.  Dazu  paßt  auch  vorzüglich,  daß  die 
Geistlichen  nach  ihrer  Befreiung  noch  in  der  gleichen  Nacht  nach 
der  Petruskirche  in  Gizeh  gelangen.  — 

Da  unser  Verfasser  die  entscheidenden  10  Tage  im  Gefängnis 
verlebt,  so  läßt  seine  Darlegung  im  Folgenden  leider  etwas  die 
notwendige  Klarheit  ermangeln;  außerdem  weichen  die  drei  Texte 
so  erheblich  voneinander  ab,  daß  sie  Merwän  sogar  an  verschie- 
denen Orten  sterben  lassen.  Wahrscheinlich  ist  diese  Unsicherheit 
der  Handschriften  dadurch  hervorgerufen,  daß  man  später  nicht 
genau  wußte,  ob  Merwän  in  Gizeh,  auf  der  Höhe  des  FajJQm  oder 
im  Bezirk  Aschmünain  gefallen  sei.  Als  sein  Todesort  stand  Büsir 
fest.  Nun  gab  es  ein  Büsir  in  der  Provinz  Gizeh,  eins  am  Ein- 
gang des  Fajjüm  und  endlich  ein  schon  sehr  früh  vollständig  in 
Vergessenheit  geratenes  Büsir  bei  Aschmünain.  Da  die  Rekon- 
struktion des  Textes  von  der  Fixierung  des  Todesortes  Merwän's 
abhängt,  muß  hier  erst  kurz  erwiesen  werden,  daß  er  tatsächlich 
bei  Aschmünain  gefallen  ist.  Noch,  als  ich  den  Artikel  Büsir  in 
der  Enzyklopädie  des  Islam  schrieb,  entschied  ich  mich  auf  Grund 
meist  ägyptischer  Quellen  und  der  lebendigen  Lokaltradition  für 
das  Büsir  am  Eingang  des  Fajjüm,  meist  Büsir  el-Malak,  früher 
Büsir  Kuraidis  genannt,  während  Wellhausen  in  seinem  Arabischen 
Reich  S.  342,  auf  meist  östHche  Quellen  gestützt,  sich  für  Büsir 
im  Bezirk  Aschmünain  aussprach.  Wellhausen's  Hypothese  wird 
nun  durch  alle  neuen  Quellen  bestätigt.  Unsere  Apokalypse  iden- 
tifiziert den  Ort  Cleopatra  mit  Aschmünain  (Vers  37)  und  läßt 
Merwän  bei  Aschmünain  fallen.  Dies  selbe  Cleopatra  kennt  nun 
auch  Severus  (S.  190,  24;  204,  12;  E.  156,  186;  Hamb.  182,  9; 
195,  17),  ohne  es^  aber  Aschmünain  zu  nennen^).  Es  wird  nun 
dabei  ein  Djabal  Aba  genannt,   der  aber  auch  anders  geschrieben 


1)  Die  Editionen  haben  oLPiJÜI  (E.  178);  oL^jxJI  (S.  200, 19)  und  oLP^i 

S.  203,  7;  10;   Hamb.  194,  12  ff.    Davor  steht  meist  ^^.  oder  »ji».  i^j^-. 

Röda   wird   oft   als  «JuL«   bezeichnet.    Ob   man   in  diesem  Appellativum   einen 

Fingerzeig   für  die  Lesung   oder  gerade  den  Grund  der  Falschschreibung  sehen 
soll,  wage  ich  nicht  zu  entscheiden. 

2)  Aba  Salih   in    Cburchcs    and  Monasteries   ed.  Evetts  u.  Butler  fol.  76  b 
n.  77  a  ToUzieht  aber,  gestützt  auf  Severus,  die  Identifikation. 


Das  Reich  der  Ismaeliten  im  koptischen  Danielbuch.  49 

•wird  und  der  nicht  zu  belegen  ist.  In  der  oben  zitierten  Weis- 
sagung des  syrischen  Mönches  wird  auch  Cleopatra  genannt  und 
dabei  ein  Ort  namens  Abi  Abis,  worin  wir  zweifellos  eine  Ent- 
stellung von  Abisir  resp.  Abüsir  erkennen  können.  Auch  Ja'qübi 
II,  414  und  Mas'üdi  in  B.  G.  A.  VIII,  328,  3  enthalten  Namens- 
formen für  das  Abüsir  im  Bezirk  Aschmünain,  die  unsere  Deutung 
der  Severusstelle  rechtfertigen.  Auch  diese  Autoren  fixieren  hier 
den  Tod  Merwän's.  Desgleichen  B.  9auqal  B.  Gr.  A.  II,  105,  2;  vgl. 
Quatremere  o.  c.  I,  112.  Ob  der  Ort  wirklich  Abüsir  hieß,  mag 
dahingestellt  sein ;  vielleicht  ist  es  nur  eine  lautliche  Angleichong 
an  einen  bekannten  Ort.  Jedenfalls  ist  das  merkwürdige  Cleo- 
patra nicht  unbekannt  Amölinean,  Gr^ographie  de  l'Egypte  hat 
S.  226  einen  Artikel  über  die  Stadt  Cleopatris,  wobei  er  sich  im 
Wesentlichen  auf  Quatremere,  M^m.  geogr.  p.  491  stützt.  Es  ist 
ein  Zeichen  der  bewundernswerten  Gelehrsamkeit  Quatremere's, 
daß  auch  er  schon  das  Cleopatra  der  Severusstelle  mit  dem  der 
14.  Vision  Daniel's  zusammenstellt.  Nan  kennt  Am^lineau  S.  7 
eine  von  der  Cleopatra-Frage  ganz  unabhängige  Stelle,  an  der 
von  einem  „Abüsir  im  Westen  von  Aschmünain"  berichtet  wird. 
Nach  Severus  wird  Merwän  —  nach  Hamb.  195,  17  offenbar  nur 
sein  Sohn  —  nach  dem  Westen  von  Cleopatra  verfolgt;  also  darf 
man  wohl  mit  Recht  annehmen,  daß  Abüsir  im  Westen  von 
Aschmünain  zu  suchen  ist.  Dort  liegt  heutigen  Tages  der  Gabal 
Tünah;  vermutlich  ist  das  der  heutige  Name  für  den  von  Severus 
genannten  Djabal  Aba.  Da  nun  auch  noch  Kindi  —  allerdings  im 
Gegensatz  zu  dem  sonst  zuverlässigen  Ibn  Züläq  —  auch  aus- 
drücklich von  Büsir  bei  Aschmünain  spricht,  da  ferner,  um  eine 
ganz  andersartige  Quelle  zu  nennen,  auch  der  von  Mommsen 
herausgegebene  Cont.  hisp.  (Mon.  germ.  chron.  min..  Band  U,  367,  3) 
des  Todesort  Merwän's  Azunummin  nennt,  worin  wir  zweifellos 
Aschmünain  erkennen  dürfen,  so  scheint  mir  das  Idjmä'  der  besten 
Quellen  zu  ergeben,  daß  Merwän  eben  in  dem  Bezirk  Aschmünain 
gefallen  ist.  Nach  Tab.  III,  51,  18  und  B.  Athir  V,  326  u. 
wurde  Merwän  mit  seinem  Harem  in  einer  Kirche  zu  Büsir  über- 
rascht. — 

Steht  so  der  Todesort  Merwän's  fest,  so  können  wir  eine  Re- 
konstruktion der  letzten  Ereignisse  auf  Grund  der  Severustexte 
wagen.  Ich  kann  dabei  nicht  in  jedem  Einzelfall  meine  Ent- 
scheidung motivieren,  da  das  zu  weit  führen  würde.  Ich  habe 
aber  sämtliche  Texte  genau  verglichen.  Natürlich  kann  man  die 
Dinge  auch  anders  rekonstruieren;  aber  ich  glaube,  der  historischen 
Wahrheit   ziemlich   nahe  zu  kommen,    wobei  ich  mir  natürlich  be- 

Kgl.  Ges.  d.  Wiss.    Nachrichten.    PhU.-hiat,  Kla«e.    1916.   Heft  1.    '  4 


50  0.  H.  Becker, 

woßt  bin,  daß  unser  Autor  nicht  Militär  -  Schriftstellerei  be- 
treiben, sondern  eine  erbauliche  Verherrlichung  seines  Helden 
geben  wollte.  — 

Während  der  Grefangenschaft  des  Patriarchen  schickte  Merwän 
(E.  181;  S.  202;  Hamb.  193)  den  Zabbän,  einen  Nachkommen  des 
berühmten  Statthalters  'Abd  ul-'Aziz  b.  Merwän  nach  Oberägypten, 
wie  übrigens  auch  Kindi  96,  6  berichtet.  Seine  Scharen  verwüsteten 
das  ganze  Land  von  Memphis  bis  Theodosia^)  und  töteten  viele 
Christen.  Endlich  setzte  die  Rache  Grottes  ein.  Die  Chorasanier, 
geführt  von  Sälih  und  Abu  'Ann  setzen  auf  das  Westufer  über. 
Der  Verfasser  erzählt,  daß  das  Heer  der  Abbasiden  in  vier  Teile 
geteilt  worden  sei ;  es  ist  unklar,  wo  die  einzelnen  Teile  angesetzt 
werden,  es  scheint  aber,  als  ob  Abu  'Ann  eine  große  Umfassungs- 
bewegung gemacht  und  den  Nil  bei  Schatanüf  —  der  Ort  existiert 
beute  noch  unweit  der  Barrage  von  Kaliüb  — ,  also  da,  wo  der 
Nil  sich  spaltet,  überschritten  habe.  Einer  der  Anführer  der 
Truppen  Merwän's,  ein  Mann  Namens  Jazid  — ,  vermutlich  der, 
der  eine  Zeitlang  die  Aufsicht  über  die  Gefangenen  geführt  hatte 
(S.  200,  3;  200,  19;  E.  177;  178)  und  deshalb  unsern  Verfasser  be- 
sonders interessierte,  flieht  nach  dem  Djabal  Wasim,  was  zur 
geographischen  Lage  gut  paßt,  wird  aber  unterwegs  von  seinen 
eigenen  Leuten  ermordet,  die  sich  den  Chorasaniern  ergeben. 
Versprengte  Flüchtlinge  gelangen  bis  in's  Wädi  yabib,  das  heutige 
Wädi  Natrün.  Die  dortigen  Mönche  haben  in  wunderbarer  Weise 
an  dem  Erfolg  der  Chorasanier  mitgewirkt;  denn  an  dem  gleichen 
Samstag,  dem  30.  Abib,  an  dem  sie  sich  zu  einer  besonderen  Ge- 
betsveranstaltung für  den  Patriarchen  und  für  die  Befreiung 
Ägyptens  von  den  Quälereien  Merwän's  versammelt  hatten,  gelang 
Abu  *Aun  die  Überschreitung  des  Nil.  Scheinbar  gleichzeitig  oder 
bald  danach  glückte  dem  Sälih  der  Frontalangriff  über  den  Nil 
und  die  Insel  Röda  nach  Glzeh  hinüber.  Dieser  Punkt  ist  nicht 
sicher;  die  Hauptaktion  war  jedenfalls  die  Aufrollung  der  Front 
von  Schatanüf  an.  Merwän  war  bereits  zwei  Tage  vorher,  also 
am  28.  Abib,  nach  Oberägypten  abgereist.  Sein  jüngerer,  erst 
15  Jahre  alter  Sohn  führte  das  Kommando  auf  der  genannten 
Insel  und  war  gerade  dabei,  dort  nicht  nur  die  Schiffe,  sondern 
auch  alle  Häuser  anzustecken,  wobei  er  den  Patriarchen  mit 
seiner  Begleitung  im  Gefängnis  verbrennen  lassen  wollte,  als 
plötzlich  eine  furchtbare  Stimme  ertönte,  daß  die  Feinde  da  wären. 
Merwän's  Sohn  flieht   Hals   über  Kopf  und  stößt  dann  in  Ober- 

1)  Der  Ort  ist  nicht  belegbar. 


Das  Reich  der  Ismaeliten  im  koptischen  Danielbach.  51 

ägypten  zn  seinem  Vater,  während  das  Fener  von  den  herbei- 
eilenden Rettern  gelöscht  and  die  Geistlichen  befreit  werden. 
Von  den  urspränglich  80000  Mann  —  gemeint  sind  wohl  8000  — , 
die  Merwän  noch  mit  nach  Ägypten  gebracht  hatte,  behielt  er  nur 
noch  400.  Als  Hauthara  das  sah,  snchte  er  an  Merwän  Verrat  zu 
üben  und  sich  mit  den  Chorasaniem  zu  verständigen.  Diese  ver- 
langten jedoch  die  Auslieferong  Merwän's.  Hauthara  versucht 
nun,  Merwän  zu  bewegen,  mit  ihm  und  seinem  Harem  Schiffe  zu 
besteigen,  um  nach  dem  Lande  der  Romäer  zu  fliehen;  er  wollte 
ihn  aber  nur  den  Chorasaniem  in  die  Hände  spielen.  Merwän 
durchschaut  den  Plan  und  schlägt  mit  eigener  Hand  Hauthara 
den  Kopf  ab.  Er  selbst  flieht  weiter,  bis  er  schließlich  bei  dem 
vorbesprochenen  Djabal  Aba  westlich  von  Cleopatra  von  seinen 
Feinden  eingeholt  und  erschlagen  wird.  Ein  Datum  ist  nicht  ge- 
nannt; auf  Grund  der  Prophezeiung  des  Mönches  muß  es  im  lilisrä 
gewesen  sein.  Sein  Sohn  fällt  mit  ihm.  Merwän's  Leichnam 
wird  dann  mit  dem  Kopf  nach  unten  gekreuzigt.  Das  muß  —  der 
Ort  ist  genannt,  aber  unsicher  —  in  der  Nähe  von  Fustät  gewesen 
sein ;  denn  unser  Chronist  hat  diese  Ausstellung  der  Leiche  selbst 
gesehen,  und  es  ist  kaum  anzunehmen,  daß  er  inzwischen  nach 
Oberägypten  gereist  war.  Die  schimpfliche  Ausstellung  in  der 
Hauptstadt  ist  auch  das  an  sich  wahrscheinlichere.  Damals  wird 
es  passiert  sein,  daß  eine  Katze  Merwän's  Zunge  fraß,  wovon  uns 
berichtet  wird  (vgl.  Wellhausen  1.  c).  Auf  dem  ganzen  Zuge 
hatten  die  Abbasiden  überall  die  Bevölkerung  aufgefordert,  auf 
Stirn  und  Kleidern  oder  an  den  Häusern  Kreuze  anzubringen. 
Wer  das  nicht  tat,  wurde  erschlagen.  Die  Chorasanier  machten 
selbst  Kreuze  an  die  Hälse  ihrer  Pferde  (also  nach  der  allbekannten 
Sitte  des  Amulettragens  bei  Tieren).  Bei  der  Rückkehr  von  Ober- 
ägypten zerstören  die  Chorasanier  den  alten  Omajjadensitz  I^olwän 
und  schlitzen  dort  den  schwangeren  Omajjadenweibern  die  Bäuche 
auf.  Der  Nil,  der  sich  nicht  gerührt  hatte,  ja,  dessen  Gizeh-Arm 
sogar  ganz  ausgelaufen  war,  daß  man  zu  Fuß  hinübergehen  konnte, 
begann  unmittelbar,  nachdem  die  Chorasanier  ihn  überschritten 
hatten,  zu  steigen,  und  zwar  genau  in  der  Art,  wie  es  für  die 
Landwirtschaft  am  günstigsten  ist.  Der  Patriarch  und  alle  Christen 
werden  von  den  Chorasaniem  aufs  Beste  behandelt;  es  wird  ihnen 
ein  Steuererlaß  gewährt,  und  in  wunderbarer  Weise  ist  auch  der 
Bart  des  Patriarchen  wieder  gewachsen,  daß  er  schöner  ist  als 
xnvor.  Später  aber  vergessen  dann  die  Chorasanier  wieder,  daß 
sie  eigentlich  im  Zeichen  des  Krenzes  gesiegt  haben,  und  die  alt© 
Bedrückung  beginnt  wieder  von  neuem.  — 

4* 


52  C.  H.  Becker, 

Abgesehen  von  manchen  Einzelheiten  liegt  also  die  Berührung 
dieser  Severusstelle  mit  unserer  Apokalypse  hauptsächlich  in  dem 
großen  Interresse,  das  die  Christen  dem  Sturz  der  Omajjaden- 
Dynastie  entgegenbringen.  Die  14.  Vision  zeigt  uns  die  christ- 
lichen Hoffnungen  und  die  Stellung  zu  Merwän  als  dem  Antichrist 
in  apokalyptischer  Form,  während  der  Diakon  Johannes  als  Chro- 
nist zu  uns  spricht;  aber  die  Stimmung  ist  bei  beiden  zweifellos 
verwandt.  Die  Abbasiden,  die  bei  ihrem  Aufkommen  sich  überall 
stark  auf  die  Mawäli  stützen,  haben  gewiß  auch  den  Christen  ein 
neues  goldenes  Zeitalter  versprochen.  Die  Christen  beteten  für 
die  Abbasiden  und  ersehnten  den  Zusammenbruch  des  Omajjaden- 
reiches,  ja,  sie  kämpiten  wenigstens  in  Ägypten,  wie  Severus 
durchblicken  läßt,  direkt  für  die  neue  Dynastie.  Aus  solchen 
Taten  und  Stimmungen  erklärt  sich  die  sonderbare  Geschichte 
von  der  Verwendung  des  Kreuzes  durch  die  Abbasiden.  Merwän 
ist  dafür  natürlich  ein  Hasser  des  Kreuzes  (S.  199,  25;  E.  176; 
Hamb.  191,  5).  Die  vielen  Weissagungen,  die  auch  unsere  Chronik 
enthält,  sind  echtes  zeitgeschichtliches  Kolorit.  Obwohl  der  Ver- 
fasser doch  das  Erstarken  des  Abbasidenreiches,  die  Blüte  des 
Islam,  noch  erlebt,  wirkt  der  Zusammenbruch  des  Omajjaden- 
staates  auf  ihn  so  stark,  daß  man  an  manchen  Stellen  fast  eine 
Apokalypse  zu  lesen  glaubt.  — 


5.    Apokalyptische  Parallelen  nnd  Verwandtes. 

Dieser  apokalyptische  Einschlag  bei  Severus,  wie  die  14te  Vi- 
sion überhaupt,  erklären  sich  aus  der  literarischen  Zeitstimmung. 
Seit  (t.  van  Vloten's  Recherches  sur  la  Domination  arabe,  le 
Chiitisme  et  les  Croyances  messianiques  sous  le  Khalifat  des 
Omayades,  wissen  wir,  daß  die  ganze  Zeit,  die  dem  Aufkommen 
der  Abbasiden  voranging,  von  Heilshoffnungen  aller  Art  erfüllt 
war.  Diese  stützen  sich  auf  allerlei  Weissagungen,  die  aus  christ- 
lichen und  jüdischen  Kreisen  stammten.  Van  Vloten,  S.  56,  sagt 
über  diese  prophetischen  Bücher  folgendes:  „Ces  livres  ne  furent 
pas  d'abord  entre  les  mains  des  Arabes.  Ils  n'en  avaient  connais- 
sance  que  par  l'intermödiaire  des  juifs  et  des  chr^tiens,  qui  dejä. 
de  longue  date  possödaient  leurs  proph^tes,  pseudoproph^tes,  si- 
byllines  et  une  foule  d'autres  livres  apocalyptiques.  Ce  sont  des 
meines,  des  ermites,  des  coptes,  des  juifs  etc.  qui  en  communiquent 
les  rövölations  aux  Arabes.  — 


Das  Reich  der  Ismaeliten  im  koptischen  Danielbach.  53 

Dans  les  livres  de  cette  espece  on  trouvait  la 

description  des  personnes  sans  leur  nom  et  les  noms  sans  la 
description  des  personnes  (Xabari  II,  1138).  Les  khalifes  y  ap- 
prenaient  la  duröe  de  leur  regne.  Y^zid  ibn  Abdalm^lik  apprit 
par  un  juif  qu'il  r^gnerait  pendant  quarante  ans.  Un  autre  juif 
n'y  vit  qa'un  mensonge.  'II  a  vu',  dit-il  (dans  ses  livres),  'que 
Y6zid  rögnera  quarante  qa9aba  (verge,  aune)  or  ces  qapaba  d^- 
signent  des  moia  et  non  paa  des  annees'  (ibid.  II,  1464).  — 

Ces  livres  sont  appel^s  simplement  kotob  (livres)  ou  bien  kotob 
qadimät  (livres  anciens)  (Iqd  II,  347,  Tabari  III,  25).  II  est  d^jä 
question  au  premier  siecle  de  l'Hegire  d'un  „livre  de  Daniel" 
contenant  des  propheties,  dans  lequel  le  khalife  Omar  6tait  men- 
tioun^  sous  le  nom  al-dardouq  al  achadj  l'enfant  cicatrise  (Ibn 
Qotaiba  p.  184.  Dardouq  est  un  mot  d'origine  aram^ienne).  Le 
nombre  des  livres  de  Daniel  ou  (s'il  m'est  permis  d'user  de  ce 
terme)  des  prödictions  dani^liennes  se  multiplie  par  la  suite.  Les 
bibliotheques  du  British  Museam,  de  Vienne,  de  Gotha  et  de 
l'Escurial  en  possedent  des  exemplaires,  dont  aucun  pourtant  ne 
remonte  au  premier  siecle.  — 

Zu  dem  von  van  Vloten  hier  angeführten  Material  möchte  ich 
noch  eine  gerade  Merwän  II.  betreffende,  äußerst  charakteristische 
Stelle  erwähnen.  In  der  von  Chabot  herausgegebenen  und  über- 
setzten Chronique  de  Michel  le  Syrien  findet  sich  Band  II,  S.  507 
der  Übersetzung  folgende  Nachricht:  „Or,  Cyriacus  du  Segestan 
prit  avec  lui  un  mechant  docteur,  Bar  Salta  de  Re§'ayna,  et  ils 
composerent  un  livre  de  mensonge  qu'ils  intitulerent  Apocalypse 
d'Henoch.  Ils  y  ins^rerent  des  paroles  qui  signifiaient  que  Mar- 
wan  regnerait,  et  son  fils  apres  lui.  Le  livre  ayant  ^i6  present^ 
ä  Marwan  par  un  de  ses  devins,  ü  le  lut  et  s'en  rejouit,  comme 
un  enfant.  11  ordonna  que  Cyriacus  en  fit  un  commentaire :  et 
celui-ci  l'interpreta  conformement  aux  d^sirs  du  roi''. 

Wir  hätten  hier  also  das  Gegenstück  zu  der  Prophezeiung 
des  Säulenheiligen  bei  Severus.  Für  und  gegen,  vor  den  Ereig- 
nissen und  nachher  wurde  also  mit  solchen  literarischen  Mitteln 
gearbeitet.  Es  ließe  sich  eine  ganze  Geschichte  der  durch  den 
Sturz  der  Omajjaden  ausgelösten  Apokalyptik  schreiben,  aber  das 
ginge  weit  über  den  Rahmen,  den  sich  die  vorliegende  Arbeit 
steckt.  Es  seien  hier  nur  noch  kurz  die  wichtigsten  Parallelen 
zur  14ten  Vision  zusammengestellt,  wobei  ich  entsprechend  dem 
Titel  dieser  Arbeit  unter  Parallelen  nicht  den  literarischen  Typus, 
sondern  die  zeitgeschichtliche  Beziehung  auf  das  Reich  der  Is- 
maeliten verstehe.     Zum  Verständnis    des  literarischen  Typus   ist 


1^  C.  H.  Becker, 

Bousset's  Antichrist  ein  unentbehrlicher  Führer.  Ich  bekenne 
dankbar  den  großen  Nutzen,  den  ich  von  diesem  schönen  Buche 
gehabt  habe.  Für  die  jüdische  Literatur  danke  ich  Goldziher  die 
erste  Orientierung;  auf  den  armenischen  Henoch  hat  mich  Litt- 
mann und  auf  Stephanus  hat  mich  BoU  freundlicherweise  hinge- 
wiesen. — 

Der  Sturz  der  Omajjaden  bildet  mehrfach  den  Gegenstand 
christlicher  und  jüdischer  Apokalypsen.  Die  beste  christliche  Paral- 
lele zur  14ten  Vision  ist  zweifellos  das  äthiopische  Clemensbuch^ 
über  das  Dillmann  in  Gott.  Gel.  Nachr.  1858  S.  185  ff.;  201  ff. 
handelt.  Auch  hier  ist  von  den  vier  Reichen  die  Rede,  das  zweite 
ist  das  der  Kinder  Eidejos;  es  ist  das  Omaj jadenreich.  Auf  die 
einzelnen  Herrscher  wird  ziemlich  deutlich  angespielt.  Es  werden. 
17  Könige  genannt,  aber  noch  auf  einen  in  der  Reihe  angespielt, 
sodaß  man  18  zählen  muß.  Merwän  ist  deutlich  erkennbar;  am 
Schluß  stehen  sich  der  König  des  Südens  (Merwän)  und  der  König 
des  Ostens  (Abbasiden)  gegenüber.  Es  scheint  mir  nicht  ganz 
sicher,  ob  der  Verfasser  schon  Merwän's  Tod  erlebt  hat  —  den» 
er  läßt  ihn  scheinbar  in  Persien  sterben  — ;  jedenfalls  sieht  er 
aber  den  Znsammenbruch  voraus.  Dann  aber  erwartete  er  un- 
mittelbar das  Ende  des  Islam  durch  die  Erscheinung  des  Löwen- 
sohnes —  das  Bild  ist  nach  Bousset  o.  c.  48  älteres  apokalyptisches 
Gut  — ;  in  diesem  sieht  Dillmann  Constantin  V.,  den  Sohn  Leo's  III. 
(741 — 775),  der  während  der  dynastischen  Kämpfe  im  Islam  gegen 
die  Muslime  kriegerische  Vorteile  errang,  und  von  dem  man  des- 
halb die  Wiederherstellung  der  Romäerherrschaft  über  den  Orient 
erhoffen  mochte.  Diese  äthiopische  Schrift  gehört  in  den  Schriften- 
kreis der  Petri  apostoli  apocalypsis  per  dementem,  über  den 
Bratke  in  Zeitschr.  f.  wiss.  Theol.  1893,  I,  454  ff.  und  Bousset  o.  c. 
45  ff.  gehandelt  haben.  Es  ist  zum  großen  Teil  handschriftliches 
Material,  dessen  Veröffentlichung  sehr  erwünscht  wäre.  — 

Das  jüdische  Gegenstück  bilden  „Die  Geheimnisse  des  R.  Si- 
mon b.  Jochai"  ('^m'»  p  y^SWO  'n  mnno:),  die,  schon  1743  in  Salonik 
gedruckt,  in  Jellinek's  Bet  -  ha  -  Midrasch  III,  78  ff.  wieder  abge- 
druckt, dann  von  Graetz  in  seiner  Geschichte  der  Juden  (3.  Aufl.) 
V,  158  ff. ;  406  f.  ausführlich  gewürdigt  und  auch  später  noch  oft 
behandelt  worden  sind  (z.  B.  Jewish  Encycl.  I,  683,  10;  Stein- 
schneider Z.  D.  M.  G.  XXVIII,  635  ff. ,  wo  wohl  mit  Unrecht  die 
Apokalypse  in  spätere  Zeit  gesetzt  wird;  Wünsche,  Leiden  des 
Messias,  120  nach  Bousset  o.  c.  67 ;  149).  Der  Text  ist  leider  nur 
lückenhaft  erbalten  und  auch  manche  Deutung  von  Graetz  nicht 
zweifelsfrei;  aber  über  die  Erklärung  im  Ganzen  kann  kein  Zweifel 


Das  Reich  der  Ismaeliten  im  koptischen  Danielbach.  56 

bestehen.  Nicht  nnr  die  Ismaeliten,  sondern  auch  die  einzelnen 
Herrscher,  mit  Muhammed  beginnend,  sind  zxun  Teil  ganz  sicher 
J5U  identifizieren,  so  besonders  die  späteren  Omajjaden  Sulaimän, 
Bischäm,  Walid  II.;  andere  Herrscher  werden  dagegen  ausge- 
lassen, Merwän  II.  aber  direkt  mit  Namen  genannt  und  gesagt, 
daß  mit  ihm  das  Reich  der  Ismaeliten  zusammenfallen  werde. 
Nach  ihm  kommt  dann  noch  ein  frecher  Fürst,  der  aber  nur  drei 
Monate  regieren  wird.  Hier  also  stimmt  die  Apokalypse  nicht 
mehr  mit  der  Geschichte.  Graetz  läßt  sie  deshalb  mit  Recht 
unter  dem  unmittelbaren  Eindruck  des  Endes  Merwän's  und  der 
Omajjaden  entstanden  sein  (750/751).  — 

Daß  Christen  und  Juden  sich  in  ihren  apokalyptischen  Phan- 
tasien mit  dem  Islam  beschäftigt  haben,  liegt  im  Wesen  der 
Sache.  Bousset,  der  unsere  14te  Vision  nicht  benutzt  hat,  gibt 
S.  179  einen  Überblick  übor  die  Entwicklung  der  Apokalypse,  die 
sich  mit  der  Niederwerfung  des  Islam  beschäftigt.  Sie  setzt  nach 
ihm  ein  in  der  Zeit  des  Heraklius,  der  wohl  der  Prototyp  des 
Löwensohnes  ist;  später  knüpft  sie  die  Erwartung  an  Leo  den 
Isaurier,  danach,  wie  wir  sahen,  an  Konstantin  V.  und  schließlich 
an  die  Kaiserin  Irene.  In  den  von  A.  Vassiliev  in  den  Anecdota 
Graeco-Byzantina  I  veröffentlichten  und  von  Bousset  besprochenen 
Texten  wird  auf  die  Ajaberinvasion  in  Süditalien  angespielt.  Für 
alle  diese  Fragen  sei  auf  Bousset,  auf  Krumbacher's  Geschichte  der 
byzantinischen  Literatur  und  auf  die  Zusammenstellung  im  Artikel 
Apocalyptic  Literature  der  Jew.  Encycl.  hingewiesen.  Auch  Stein- 
schneider gibt  in  Z.D.M  G.  XXVUI.  627 ff.;  XXIX,  162  ff.  ein 
reiches  Material.  Neuerdings  hat  Israel  Levi  Une  Apocalypse 
Jud^o-Arabe  in  Rev.  Et.  Juiv.  LXVII  Nr.  134  (1.  IV.  14)  behan- 
delt. Es  ist  ein  schon  1894  von  Wertheimer  herausgegebenes 
Fragment  nach  Art  der  Geheimnisse  des  Simon  b.  Jochai,  nur 
werden  die  einzelnen  Omajjaden  ganz  offen  mit  Namen  genannt. 
Der  Text  bricht  leider  mit  der  Erwähnung  Omar's  IL  ab.  — 

In  diesen  Schriftenkreis  gehört  auch  eine  armenische  Henoch- 
apokalypse.  die,  soweit  ich  sehe,  in  den  genannten  Werken  noch 
nicht  behandelt  ist.  Sie  findet  sich  in  englischer  Übersetzung  bei 
Dr.  J.  Issaverdens,  The  Uncanonical  Writings  of  the  Old  Testament, 
found  in  the  Armenian  Mss.  of  the  Library  of  St.  Lazarus,  Venice 
1901,  S.  309  ff.  - 

Der  Inhalt  ist  kurz  folgender:  Ein  Adler  mit  8  Flügeln  und 
3  Köpfen  wird  von  einem  aus  Süden  kommenden  Drachen  mit 
9  Augen  angefallen  und  flieht  nach  Norden.  Der  Drache  ver- 
schlingt alle  Völker   und  hält  die  Herrschaft   sixteen  times   six, 


56  C.  H.  Becker, 

that  is  ninety  six  years.  Dann  kehrt  der  Adler  auf  einem  von 
weißen  Pferden  gezogenen  Wagen  zurück,  besiegt  den  Drachen, 
der  aber  nicht  untergeht,  sondern  nur  nicht  mehr  seine  alte  Kraft 
besitzt.  Der  Adler  wird  als  König  der  Griechen  und  Römer,  der 
Drache  als  Kinder  Ismaels  gedeutet.  Die  9  Augen  bedeuten  9 
Könige,  die  nach  dem  ersten  Herrscher  kommen  sollen.  Nun  ist 
nach  dem  oben  festgestellten  Schema  der  lOte  König  Sulaimän; 
er  regiert  bis  717;  zählen  wir  die  96  Jahre  zu  den  622  des  Ara- 
beginns,  so  kommt  718  heraus,  also  eine  gute  Entsprechung.  Diese 
Zeit  ist  nun  deshalb  apokalyptisch  so  wichtig,  weil  von  716 — 717 
die  große  (zweite)  Belagerung  von  Constantinopel  stattfand,  die 
bekanntlich  mit  einem  großen  Mißerfolg  endete,  und  nach  der  die 
Expansionskraft  des  Islam  gebrochen  erscheint.  (Man  vgl.  Well- 
hausen, Kämpfe  der  Araber  mit  den  Romäern,  S.  27;  Geizer  bei 
Krumbacher  o.  c,  960).  Tatsächlich  deutet  nun  die  Apokalypse 
auch  diese  Verhältnisse  an  (318):  so  when  the  Romans  shall  de- 
stroy  the  Southern  people,  they  shall  smite  them  first  upon  the 
sea,  and  the  Lord  shall  cause  a  storm  to  rise  and  drown  them.  .  . . 
And  again  he  shall  smite  them  six  times  upon  the  land,  and  the 
remnant  of  them  shall  he  drive  away  to  their  own  land,  and  shall 
carry  away  captive  their  wives  and  their  children  to  Greece  and 
to  Sicily".  Sizilien  ist  also  noch  byzantinisch.  Nicht  dazu  stimmt 
die  Angabe,  daß  der  siegreiche  König  noch  12  Jahre  regiert.  Es 
werden  im  Übrigen  byzantinische  Verhältnisse  geschildert  und 
auch  Namen  angegeben;  so  Phouvive  =  Tiber,  regiert  33  Jahre; 
Hertzik  regiert  3  Jahre.  Dann  Zerfall  in  10  Reiche;  ein  Rebell 
wird  König,  erklärt  sich  für  Gott,  wird  von  dem  Herrn  mit  Feuer 
verbrannt;  Weltende.  Zahlreiche  Züge  entsprechen  dem  von  Bousset 
gegebenen  apokalyptischen  Bilde.  Die  Namen  sind  ohne  philo- 
logische Nachprüfung  des  armenischen  Textes  nicht  zu  deuten. 
Der  Zusammenhang  mit  der  zweiten  Belagerung  Constantinopels 
ist  sicher.  Die  Episode  mit  dem  Sturm  steht  sogar  bei  Theo- 
phanes.  — 

An  letzter  Stelle  sei  auf  das  von  Hermann  Usener  heraus- 
gegebene und  erklärte  Stephani  Alexandrini  quod  fertur  opusculum 
apotelesmaticum  (Bonner  Univ.-Programme  1879)  aufmerksam  ge- 
macht. Hier  ist  nicht  apokalyptisch,  sondern  aus  dem  Lauf  der 
Sterne  das  Schicksal  vorhergesagt,  und  Usener  hat  —  nach  den 
gleichen  Grundsätzen  wie  wir  oben  —  als  Abfassungsjahr  das 
Jahr  775  errechnet.  Es  werden  24  islamische  Herrscher  be- 
schrieben, ohne  genannt  zu  werden.  Usener  hat  die  historischen 
identifiziert.     Uns   interessiert   besonders,   daß  Sulaimän   als   der 


Das  Reich  der  Ismaeliten  im  koptischen  Danielbuch.  57 

lOte,   Merwän   als  der  17te   erscheint;   Saffäh  und  Man^ör  sind 
18  und  19.  - 

Es  wäre  eine  schone  Aufgabe,  auf  Grund  der  im  Vorstehenden 
gegebenen  Materialien  und  Stadien  einmal  eine  wirkliche  Geschichte 
des  Reiches  der  Ismaeliten  in  der  christlichen  und  jüdischen  Apo- 
kalyptik  zu  schreiben.  Jedenfalls  gehört  die  14te  Vision  in  einen 
großen  und  weiten  Zusammenhang,  und  sie  beleuchtet  zusammen 
mit  den  verwandten  Texten  eigenartig  die  gewaltige  weltgeschicht- 
liche Katastrophe  vom  Untergang  des  arabischen  Reiches.  — 


Abba  Gabra  Manfas  Qeddus. 

Von 

C.  Bezold. 

Vorgelegt  von  Enno  Littmann  in  der  Sitzung  vom  15.  Januar  1916. 

Im  dritten  Kapitel  von  Bach  IIT  seiner  unschätzbaren  Historia 
Aethiopica  führt  Hiob  Lüdolf  nach  einem  Berichte  des  Jesuiten 
Antonius  Fernandes  aus  dem  Anfang  des  17.  Jahrhunderts  den 
durch  besondere  (praecipua)  Heiligkeit  berühmt  gewordenen  j,Gabra 
Menfes  Ksddus,  i.  e.  Servus  Spiritus  Sancti"  und  dessen  ihm  aus 
dem  jetzt  noch  unveröffentlichten  Werke  „Lob  der  Himmlischen 
und  der  Irdischen"  ^)  bekannten  Festtag,  den  4.  März,  an  und  be- 
richtet im  Commentarius  dazu  —  nach  der  wörtlichen  Anführung 
und  Übersetzung  der  betreffenden  Stelle  aus  dem  Weddäse  — 
(p.  292):  In  hunc  sanctum  PP.  Societaüs  maximö  invehuntur,  ejus- 
que  vitam  decempedalibus  fabulis  refertam  scribunt,  quarum  ali- 
quas  vere  blasphemas  refert  Sandovallus  ^) :  quod  colloquia  cum  SS. 
Trinitate  &  Salvatore  nostro  habuerit.  Superba  responsa  hujas  Sancti, 
quae  dictus  autor  narrat,  referre  horresco,  nee  putaverim  id  apud 
Aethiopes  ipsos  ullam  fidem  invenire. 

Der  erste  Europäer,  der  das  Leben  des  Heiligen  genauer 
kennen  lernte,  war  wohl  Dillmann,  der  bei  seiner  Katalogisierung 
der  äthiopischen  Handschriften  im  Britischen  Museum  das  einzige 
damals  dort  vorhandene  Exemplar  des  Gadl  durchging  und  in  der 
bekannten  mustergiltigen  Art  für  sein  Lexicon  (vgl.  dort  col.  XI) 
verzettelte.  Seither  ist  die  Schrift  aber  offenbar  nicht  eingehend 
studiert  worden.    Dagegen   wurde  die  in  Schoa   verbreitete  Le- 


1)  S.  Ewald,  ZDMGl,37f.,   Dillmann,    Catal  ...  Oxon.  p.  36f.  und  zu- 
letzt Littmann,  Oesch.  d.  äthiop.  Lit.  S.  212. 

2)  Vgl.  Commentarius  p.  14. 


Abbä  Gabra  Manfas  Qeddns.  59 

gende  vom  Leben  imd  den  "Wundem  des  Heiligen  durch  den  fran- 
zösischen Forschungsreisenden  Paul  Soleillet  nach  mündlichen  Mit- 
teilungen aufgezeichnet  und  in  seinen  Explorations  eihiopiennes^) 
veröffentlicht,  und  sie  deckt  sich,  wie  wir  sehen  werden,  in  weitem 
Umfang  mit  dem  Inhalt  des  Gadl. 

Conti  Rossini  erhoffte  von  letzterem,  den  er  in  die  Regierungs- 
leit  Däwit's  I.  (1382—1411)  setzte*),  Aufschlüsse  über  die  Zeit 
der  Zägue-Dynastie  und  lehnte  auf  Grund  der  flüchtigen  Durch- 
nahme {un  rapido  esame)  eines  von  ihm  erworbenen  Exemplars  der 
Schrift  —  mit  Recht,  vgl.  unten,  S.  74,  N.  1  —  die  Ansicht  SoLEmLEr's 
ab,  daß  darin  eine  Quelle  der  Überlieferung  über  Lälilabä  zu 
suchen  sei^).  Güidi  weist  das  Hypokoristikon  Abbo  des  Heiligen, 
das  schon  d'Abbadie  bekannt  war*),  in  dem  Namen  J*P  l  OLJP 
in  einem  amhariscben  Text  nach^).  Endlich  findet  sich  auch  eine 
kurze  Angabe  über  den  Gadl,  „xma  delle  piü  fantastiche  storie  di 
questa  specie",  in  Rossini's  I^ote  per  la  storia  letteraria  ahissitm^ 
nebst  einer  Aufzählung  der  meisten  damals  bekannten  Hand- 
schriften^, die  sich  jetzt  vermehren  läßt*). 

Als  mir  vor  zehn  Jahren  durch  die  gütige  Vermittlung  I.  Gumi's 


1)  S.  Sociäi  normande  de  Geographie,  Bulletin  de  Vannie  1886,  t.  VUI 
(Ronen  1886),  p.  28  suiw.  Für  die  Übermittlung  dieses  Bandes  danke  ich  hier 
der  Münchner  Geographischen  Gesellschaft  und  besonders  meinem  Freund  L. 
SCHERMAN  herzlich. 

2)  Eendic.  deüa  B.  Ac.  dei  Lineei,  cl.  di  sc.  mor.  IV  (1895),  p.  444.  VgL 
auch  LiTTMAXN,  a.  a.  O.  S.  207. 

3)  Bicerche  e  studi  suiV  Eiiopia  (Roma  1900),  p.  16. 

4)  Cot.  ...  d'Ahhadie  p.  45. 

5)  Uno  squareio  di  storia  ecclesiastica  di  Ahissinia  (aus  Sessarione  V,  in), 
Borna  1900,  pp.  22  und  24^>  23. 

6)  In  den  genannten  Bend.  VIII  (1900),  p.  215  sq. 

7)  Ib.  p.  618. 

8)  leb  habe  mir  notiert:  2  Handschriften  im  Besitz  der  äthiopischen  Ge- 
meinde in  Jerusalem  (Littmaxn,  ZA  16, 119.  377),  2  Hss.  in  Berlin  (Flemming, 
Ztrlbl.  f.  Bihlioth.  23,  18),  2  Hss.  im  AsiatiscTien  Museum  zu  St.  Petersburg  (Tu- 
»AEV,  ZapisH  17,  S.  85  f.  des  Separatabdrucks)  und  1  Hs.  in  Wien  (Rhodo- 
KANAKis,  Sitzher.  Ak.  Wien,  phil.-hist.  Kl.,  Bd.  151,  4.  Abb.,  S.  74).  Auch  München 
besitzt  jetzt  eine  aus  der  Sammlung  v.  Arnhard's  erworbene  Hs.  aus  dem  18.  Jahr- 
hundert (Cod.  Aethiopicus.  Monac.  40  =  Amh.  2c).  und  meines  Wissens  jetzt 
in  Stuttgart  befindet  sich  eine  Hs.  aus  dem  Nachlaß  C.  von  Eklaxger's  (vgl. 
ZA  16, 119,  N.  1),  die  ich  für  ihn  im  November  1901  katalogisierte:  ein  Pergament- 
band mit  Lederrücken  und  einfachem  Holzdeckel,  20  x  18  cm,  78  Blätter,  2  Spalten 
mit  je  21 — 23  Zeilen,  der  wahrscheinlich  aus  der  ersten  Hälfte  des  18.  Jahrh. 
stammt.   Über  Rossixi's  Hs.  s.  oben  Anm.  3,  über  meine  eigene  unten  S.  60. 


60  C.  Beeold, 

von  den  Herausgebern  des  Corpus  scriptorum  Ghrisüanorum  Orien- 
talium  die  Bearbeitung  des  Gadl  und  der  „Wunder"  ('t'^P^C) 
des  Heiligen  übertragen  wurde,  machte  ich  mich  alsbald  mit  den 
mir  von  Herrn  Nau  in  guten  Photographien  übersandten  Texten 
vertraut,  erlebte  aber  auch  meinerseits  die  Enttäuschung,  daß  sie 
zur  Erweiterung  unserer  Kenntnis  der  Greschichte  Abessiniens 
so  gut  wie  nichts  beitragen.  Leider  hat  sich  der  Abschluß  der 
Arbeit  bis  jetzt  verzögert,  und  der  Druck  des  Textes  und  der 
Übersetzung  erscheint  unter  den  gegenwärtigen  Verhältnissen  noch 
weiter  in  die  Ferne  gerückt.  Das  große  Ansehen,  das  Grabra 
Manfas  Qeddus  in  fast  ganz  Abessinien  offenbar  stets  genossen 
hat  und  noch  genießt,  wird  es  aber  wohl  gerechtfertigt  und  auch 
den  Herausgebern  des  Corpus  billig  erscheinen  lassen,  wenn  als 
Vorläufer  der  Edition  in  den  nachfolgenden  Blättern  eine  kurze 
Inbaltsangabe  der  Schrift  mitgeteilt  wird. 

Der  dafür  zu  Gebote  stehende  handschriftliche  Apparat  ver- 
hält sich  wie  folgt.  Von  den  6  Hss.  des  Britischen  Museums 
(Wright,  Cat.  p.  346)  liegen  mir  Photographien  des  Cod.  Oriental  701 
aus  dem  18.  Jahrh.  (ib.  p.  184)  ^),  im  Folgenden  mit  „L'^  bezeichnet, 
von  den  zwei  Manuskripten  des  älteren  Bestandes  der  Bibliotheque 
Nationale  solche  des  jüngeren:  Eth.  122,  gleichfalls  aus  dem  18. 
Jahrh.  (Zotknberg,  Cat.  p.  205,  no.  137),  mit  „P"  bezeichnet,  vor, 
dagegen  von  den  vier  früher  im  Besitze  d'Abbadie's  befindlichen 
Mss.  Photographien  der  beiden  „alten"  no.  36  (in  d'Abbadie's  Cat. 
p.  44)  —  im  Folgenden  „AI"  —  und  no.  126  (ib.  p.  146)  —  „A2''. 
Endlich  hat  mich  vor  einigen  Jahren  Enno  Littmann  durch  das 
Geschenk  einer  von  ihm  aus  Aksum  gebrachten  Hs.  des  Gadl  hoch- 
erfreut, wofür  dem  um  die  äbessinischen  Studien  viel  verdienten 
Freunde  auch  an  dieser  Stelle  herzlich  gedankt  sei:  eine  nach- 
lässig geschriebene,  an  manchen  Stellen  korrigierte  Pergament- 
handschrift des  18.  Jahrh.  von  16  X  10,5  cm.  mit  einfachem  Holz- 
deckel und  50  einspaltig  beschriebenen  Blättern  zu  je  17 — 18 
Zeilen  —  im  Folgenden  „B".  Indessen  erschöpfen  die  erwähnten 
Photographien  nur  für  L  (foll.  57' — 125"^)  die  auf  Gabra  Manfas 
Qeddus  bezüglichen  Teile  der  betreffenden  Handschriften.  Von  P 
sind  mir  nur  die  Blätter  112^ — 143'  zugänglich  gemacht  worden, 
deren  letztes  im  ersten  „Wunder"  abbricht,  während  der  weitere 
10  Blätter  füllende  Rest  der  „Wunder"  fehlt.    Desgleichen  liegen 


1)  Leider  nicht   der  ron  Wriqht,   ib.  p.  189,   dem   15.  Jahrh.   (s.  jedoch 
unten,  S.  64)  zugeschriebene  Cod.  Oriental  711. 


AbbS  Gabra  Manfas  Qeddus.  61 

mir  von  den  71  Blättern  von  A 1  nur  25  vor  ^)  nnd  von  den  64 
Blättern  von  A2  nur  10  (vgl.  unten),  wodurch  zunächst  die  text- 
kritische Würdigung  zumal  der  letzten  beiden  Handschriften  er- 
schwert, ja  für  A2  fast  -unmöglich  wird. 

Immerhin  läßt  sich  Folgendes  feststellen.  Die  Texte  von  L, 
P  und  A 1  sind  im  wesentlichen  identisch  ^).  Am  vollständigsten 
erhalten  ist  —  trotz  mehrerer  Lücken  —  L,  dem  gegenüber  P 
gegen  das  Ende  des  Gadl  zu  eine  sich  über  mehr  denn  4  Blätter 
von  L  erstreckende  Lücke  aufweist  und  zudem  die  Schluß-Zu- 
sammenfassung der  „Wunder"  (unten  S.  78  ff.)  vermissen  läßt. 
Zur  Herstellung  eines  möglichst  einheitlichen  Textes  erscheint  es 
daher  ratsam,  L  zugrunde  zu  legen,  und  dies  ist  auch  —  unbe- 
schadet einzelner  besserer  Lesarten  in  P  und  dem  älteren  AI  — 
für  die  folgende  Inhaltsangabe  geschehen^). 

Einen  ganz  andern  Text  enthält  B,  der  unten  in  den  An- 
merkungen (mit  Auslassung  unwesentlicher  Momente)  zu  skizzieren 
versucht  wurde.  Aber  auch  der  Text  des  Gadl^)  in  A2  weicht 
von  B  wie  auch  von  LPA 1 ,  soweit  sich  nach  den  wenigen  ver- 
fügbaren Proben  erkennen  läßt,  bedeutend  ab:  von  den  vier 
Blättern  100,  120  (?)*),  130  und  131'  enthält  das  erste  Ermah- 
nungen an  die  Priester  (^U^*^),  die  nicht  in  LP  stehen,  und 
das  zweite  eine  langatmige  Auseinandersetzung  darüber,  daß  die 
Propheten  und  Apostel  wohlberechtigt  sind,  Gabra  Manfas  Qeddus 
;,unser  Verwandter"  (H<^r^J)  anzureden,  ein  Gedanke,  der  in 
LP  nur  ein  paar  Mal  gestreift  wird  (vgl.  unten  S.  72,  N.  1) ;  dagegen 
kommen  in  den  letzten  beiden  entschiedene  Anklänge  an  LP  und 
ein  kurzer,  damit  wörtlich  übereinstimmender  Satz  vor  (vgl.  unten, 
S.  72,  N.  4).  Endlich  entspricht  die  von  Soleillet  in  Schoa  aufge- 
zeichnete Legende^)  zwar  im  Ganzen  Großen  der  GaJ/-Erzählung  von 
LP,  weicht  aber  von  dieser  doch  in  einer  erheblichen  Anzahl  von 
Einzelheiten  ab^  und  enthält  außerdem  Züge,   die  dort  nicht  zu 

1)  AI  foU.  3»  =  L57rt;  4'  =  LST^b;  u  =  L  67'»;  24  =  L76^«;  33» 
=  L  85rt ;  34r  =  L  SB»!» ;  57—74  =  L  105"  ff.  Die  Wunder  begionen  fol.  59^» 
und  sind  vollständig. 

2)  Auch  die  Reihenfolge  der  Wander  ist  dort  —  gegenüber  der  Aufzählung 
in  A  1  und  in  der  (L  selbst  angehörigen !)  „Zusammenfassung"  —  nach  L  wieder- 
gegeben. 

3)  Der  Text  der  sieben  ersten  Wunder  auf  foll.  131t— 136»,  womit  die  Hs. 
schließt,  entspricht  dem  von  LPA  1. 

4)  Das  Fragezeichen  nach  der  Ziffer  auf  der  Photographie  rührt  von  Herrn 
Näu  her. 

5)  Im  Folgenden  kurzweg  als  Legende  bezeichnet. 

6)  Ygl.  unten  S.  67,  N.  2;  S.  68,  N.  2.  4;  S.  69,  N.  1.  4;  S.  70,  N.  1;  S.  71» 
N.  5;  S.  74,  N.  1. 


62  C.  Bezold, 

finden  sind:  die  Unterhaltang  Abbo's  mit  den  Vögeln,  Fischen, 
Pflanzen  und  Elementen  usw.,  sein  Hadern  mit  Gott  kurz  vor 
seinem  Tode  ^)   und  die  allmonatliche  Eeier  seines  G-edächtnisses  ^). 

Die  wahrscheinliche  Annahme  zugegeben,  daß  auch  die  Le- 
gende auf  schriftliche  Aufzeichnungen  zurückgeht,  haben  wir  also 
zwar  einen  einheitlichen  Text  der  „Wunder",  dagegen  eine  vierfache 
Rezension  des  Gadl  überkommen.  Ich  möchte  glauben,  daß  LPAl 
die  ursprüngliche  oder  nahezu  ursprüngliche  Form  dieses  Gadl  re- 
präsentieren, der  einen  für  solche  Aufzeichnungen  ungewöhnlich 
langen  Text  enthält^).  In  der  mündlichen  Tradition  geriet  vieles 
davon  in  Vergessenheit,  und  anderes  wurde  mehr  oder  weniger 
durchgreifend  verändert  (Legende).  Andrerseits  aber  wurden  einzelne 
Stücke  der  Schrift  aus  dem  Ganzen  herausgenommen,  in  neuer  Dar- 
stellung wesentlich  erweitert  und  um  frisch  hinzugekommene  Er- 
zählungen bereichert,  und  diese  literarischen  Produkte  gaben  sich 
gelbst  wieder  als  den  (eigentlichen)  Gadl  des  Heiligen  (gelegentlich 
aber  auch  „Wunder"  genannt)  aus,  so  B  und  vermutlich  auch  A  2. 

Um  welche  Zeit  der  Heilige  gelebt  hat  und  wann  und  wo  die 
Aufzeichnungen  über  sein  Leben  entstanden  sind,  ist  zur  Zeit  mit 
Sicherheit  schwer  zu  bestimmen.  In  der  „Epitome",  die  sich  C 
Rossini  aus  dem  kostbaren,  leider  am  5.  Juli  1902  in  Flammen  auf- 
gegangenen Codex  mit  den  Akten  des  H.  Mercurius  gemacht  und 
später  veröffentlicht  hat*),  wird  Gabra  Manfas  Qeddus  unter  einer 
Reihe  von  Mönchen  beim  Tode  Königs  Senf-Ar'ad  als  „discipulus", 
also  noch  als  jüngerer  Mann,  aufgeführt.  Da  nun  die  „Epitome" 
als  die  Nachfolger  jenes  Königs  Wedem-Ar'ad  und  'Amda-Sejon 
nennt,  so  kann  nach  der  äthiopischen  Chronik  Brit.  Mus.  Cod. 
Or.  821  (Wright,  Cat.  p.  316,  vgl.  p.  6,  note  t)  mit  Senf-Ar'ad  nur 
der  Sohn  Agbe'a-Sejon's,  des  Nachfolgers  Jekuno-Amläk's  ge- 
meint  sein^).     Damit  fiele  die   frühe   Wirkungszeit   des   Heiligen 


1)  Ein  entfernter  Anklang  daran  findet  sich  in  L  fol.  121^  (=  A  1  fol.  73«-«> 
am  Schlüsse  der  „Wunder". 

2)  Vgl.  d'Abbadie,  Cat.  p.  45. 

3)  Nach  oberflächlicher  Schätzung  wird  der  Umfang  dem  des  Kebra  Nagait 
um  weniges  nachstehen. 

4)  Gadla  Marqoretcos,  versio  (Parisiis  1904),  p.  24. 

6)  Senfa-Ar'ed,  der  Nachfolger  Agbe'a-Sejon's,  des  Nachfolgers  Mähbara- 
Wedem's  (Wright,  ib.  p.  316;  Perrüchon,  Vie  de  Lalibala,  p.  II,  note  2)  ist  aus- 
geschlossen (ebenso  natürlich  der  gleichnamige  König  um  Christi  Geburt;  vgl. 
Rossini,  Les  Lutea  des  roia  d^Afcsoum  im  Journ.  as.  sept. — oct.  1909,  269.  279). 
Damit  entfällt  auch  die  Möglichkeit,  unseren  Heiligen  noch  in  die  Zägue-Zeit  zu 
setzen,  wie  bisher  angenommen  wurde  (vgl.  Rossini  in  don  gen.  Eendic.  VIII 
(1900),  p.  618;  Littmann,  Lit.  S.  207). 


Abbä  Gabra  Manfa«  Qeddus.  63 

—  die  historische  Grlaubwürdigkeit  dieser  Notiz  vorausgesetzt  ^)  — 
in  die  letzten  Jahre  des  13,  Jahrhunderts. 

Gabra  Manfas  Qeddus  gilt,  obwohl  aus  Ägypten  gebürtig,  als 
einer  der  bedeutendsten  einheimischen  äthiopischen  Heiligen. 
Der  oder  die  Verfasser  seines  GaiU  und  seiner  ^Wunder"  waren 
also  auf  die  Gestaltung  zufälliger  Ereignisse  zu  wunderbaren  Be- 
gebenheiten und  im  übrigen  auf  ihre  religiöse  Einbildangskraft 
angewiesen,  und  es  verlohnte  sich  wohl,  an  der  Hand  von  Lucius- 
Axrich's  lehrreichem  Buche  Die  Anfänge  des  Heiligenktüts  in  der 
eknstUcJien  Kirche  (Tübingen  1904)  zu  prüfen,  wie  weit  hier  die 
Entstehungsbedingungen  der  Mönchslegende  gegeben  und  erfüllt 
sind.  Sicherlich  ging  es  aber  bei  der  Komposition  des  Gadl,  in 
dem  allerlei  Wiederholungen  und  Widersprüche  in  Einzelheiten 
vielleicht  der  Unbeholfenheit  des  Verfassers  zuzuschreiben  sind, 
nicht  ohne  Anlehnung  an  naheliegende  Vorbilder  aus  der  biblischen 
Geschichte  (vgl.  z.  B.  unten  S,  70,  N,  2)  wie  auch  aus  der  Mönchs- 
literatur selbst  ab.  So  hat  gewiß  der  Gadl  von  Basalota  Mikä'el 
in  mehreren  Wendungen  zum  Vorbild  gedient"),  und  weitere  Studien 
mögen  ähnliche  Zusammenhänge  mit  den  damals  bekannten  Heiligen- 
leben ergeben,  wie  sich  andrerseits  auch  unser  Gadl  als  Quelle 
zu  ähnlichen  späteren  Kompositionen,  wie  z.  B.  den  TiCamer  des 
Zar'a-Buruk  erweisen  dürfte,  deren  stoffliche  Abhängigkeit  neulich 
C.  Jaegeb  geprüft  hat^). 

Beachtenswert  ist  die  unten  S.  74,  N.  1  mitgeteilte  Ety- 
mologie von  4^'fl,  die,  wie  ich  glaube,  nur  auf  arabischem  Sprach- 
gebiet ihre  Erklärung  findet.  Es  ist  deshalb  wenigstens  für  unsere 
Bandschrift  B  wahrscheinlich,  daß  ihr  Text  von  einem  arabisch 
redenden  und  schreibenden  Ägypter  verfaßt  wurde,  ähnlich  wie  die 
Biographie  des  in  ihr  genannten  (vgl.  ebd.)  Abbä  Garimä  und  so 
manche  andre*).  Für  den  Gadl  in  LP  AI  bin  ich  vor  der  Hand 
nicht  im  stände,  einen  ähnlichen  Anhaltspunkt  aufzuweisen. 

Die  „Wunder"  mögen  etwas,  aber  kaum  viel  später  als  der  Gadl 
aufgezeichnet  sein.  Sie  sind,  wie  der  Inhalt  ergibt  ^j,  sämtlich 
posthume  oder  Reliquienwunder,  und  da  ja  auch  im  Gadl  selbst 
wahrlich  genug  Wunder  geschehen,   so  erhebt   sich   die  Frage,   ob 

1)  Es  Terdient  Beachtung,  daß  dort  unter  den  Mitschülern  des  Heiligen  ein 
Zar'a-Baruk  genannt  wird:  vgl.  unten  S.  72  f.  Ob  der  ebenso  genannte  Abrehäm 
mit  dem  unten  S,  68  erwähnten  gleichnamigen  Bischof  identisch  ist,  läßt  sich 
nicht  entscheiden. 

2)  Vgl.  unten  S.  68,  N.  1 ;  S.  69,  N.  5.  6. 

8)  Vgl.  ZA  25,  264  ff.  4)  S,  Kd}ra  Nägait  S.  XXXV. 

5)  Vgl.  auch  die  ausdrückliche  Bemerkung  von  Aää.  16198  in  Dillmäitn's 
Londoner  Cat.  p.  51. 


64  C-  Bezold, 

nicht  't'Kf^O  hier  (und  anderwärts?)  geradezu  als  Terminus 
technicns  für  „posthume(s)  Wunder"  gebraucht  wird.  Die  Nennung 
König  Nä'od's  (1494 — 1508)  im  8.  Wunder  zeigt  übrigens,  daß  wir 
sicher  die  „Wunder"  und  wahrscheinlich  auch  den  Gadl  ein  Jahr- 
hundert später  ansetzen  müssen,  als  dies  von  C.  Rossini  (vgl. 
oben  S.  59)  geschah,  und  daß  die  Handschrift  Brit.  Mus.  Cod, 
Or.  711  —  falls  sie,  wie  anzunehmen  ist,  dieses  Wunder  ent- 
hält —  nicht  mit  Wright  {Cat.  p.  189)  in  „the  latter  half  of  the 
XV***  Cent."  hinaufgerückt  werden  kann. 

Einzig  in  L  erhalten  ist  die  von  mir  sogenannte  „Zusammen- 
fassung" des  Inhalts  der  „Wunder".  Die  äthiopischen  Schrift- 
steller gefielen  sich  offenbar  darin,  in  ihren  „Poesien"  mit  knappen 
Worten  Anspielungen  zu  häufen,  deren  Sinn  nur  dem  Einge- 
weihten verständlich  sein  konnte,  wobei  sie  ursprünglich  gewiß  vom 
Inhalt  der  ihnen  bekannten  biblischen  Literatur^)  ausgingen. 
Als  Musterbeispiel  solcher  Dichtung  kann  das  Tahiba  tahihän  (in 
Dillmann's  Chrestomathie  p.  108  ff.)  dienen.  Diese  Art  der  Dar- 
stellung —  nach  Littmann  vielleicht  zu  liturgischen  Zwecken  — 
ist  hier  auf  die  Tä'ämer  unseres  Heiligen  übertragen:  sie  wäre 
ohne  vorausgehende  Kenntnis  ihres  Inhalts  absolut  unverständ- 
lich, während  sie  als  „Zusammenfassung"  dieses  Inhalts  keinerlei 
Schwierigkeiten  enthält  ^). 

Grammatisch  enthält  der  Text  der  Schriften  des  Grabra  Manfas 
Qeddus  mit  verschwindenden,  noch  näher  zu  untersuchenden  Aus- 
nahmen (ich  denke  besonders  an  den  Gebrauch  von  (D)  H  und 
Y\^)  keine  augenfälligen  Besonderheiten:  er  ist  in  gutem,  wenn 
auch  durchaus  nicht  immer  fließendem  Ge'ez  geschrieben^.  Auch 
der  Wortschatz  entspricht  im  Ganzen  dem  bekannten  Sprachgut. 
Von  einer  Reihe  von  Wendungen  und  Ausdrücken,  die  das  Lexikon 
bereichern,  erlaube  ich  mir  hier  eine  Auswahl  der  markanteren  zu 
geben,  mit  besonderer  Berücksichtigung  der  Wörter,  die  bisher 
nur  aus  dem  amharischen  Wörterbuche  bekannt  waren*). 

1)  Vgl.  NöLDEKE  a.  d.  unten  S.  70,  N.  2  a.  0. 

2)  Bei  meiner  ersten  Durchnahme  von  L  fielen  mir  zunächst  die  selteneren 
Worte  und  die  Satzstellung  des  Stückes  auf,  bald  nachher  auch  die  Reime,  worauf 
ich  schließlich  zum  Überfluß  die  ausdrückliche  Bezeichnung  ^^^^JB  las.  Aber 
eine  „Hymne  an  den  Heiligen",  die  Wright  (Cat.  p.  184)  in  dem  Abschnitt  sah, 
ist  er  nicht.  —  Von  einer  Übersetzung  des  Stückes,  dessen  Versabteilung  natürlich 
von  mir  herrührt,  glaubte  ich  nach  der  Inhaltsangabe  der  „Wundei"  absehen  zu  sollen. 

8)  Die  Orthographie  der  Hss.  ist  unten  in  den  Zitaten  absichtlich  durchaus 
beibehalten  worden.  Nur  die  Interpunktion  in  der  „Zusammenfassung"  habe  ich 
sinngemäß  zu  ändern  versucht. 

4)  Der  wohlgesinnte  Leser  wird  es  mir  nicht  verargen,  wenn  ich  vor  der 


Abbä  Gabra  Manfas  Qeddos.  65 

AU4^  „schwer  sein"  vom  Inhalt  der  Wagschalen,  anch  über- 
tragen, „schwerwiegen*  von  der  Sünde;  vgl.  amh.  A^  (Güidi, 
Vocab.  amariro-itul.  col.  22)  —  A^lrfl  „nachlassen"  von  der  Liebe 

—  An.I^:,^<^  „blutüberströmt«  —  AYl/l  „stechen"  von  der 
Sonne  —  ÖQAOA:^JB  „superior«  —  Ö^AÄ  „Opfermesser"  ■■ 
A4^/nfl '.  (titt'A'i  „gehalfterte,  aufgezäumte  Pferde"  i"  CT^fhA, 
„perjnra"  fem.  —  (f^C,  nachgesetzt;  s.  unten  S.  80,  Z.  4  — 
'l'f^^OH  „durchdrungen  werden"  vom  Licht  der  Gnade  — 
i^^/^'n^  „Schwelle«  (GriDi  107  s.  v.  C^J^A'H)  ■■  ^UlAfl, 
cf.  Dillmann,  col.  230  —  jft'^^C  „eingesetzf  von  Perlen  — 
AV"ifCÄ  Flügel  „wachsen  lassen"  —  lU^lU^t»  .auspicken"; 
vgl.   amh.    rtcl)f|<|>   (Ooim  165)   —   C^fl4^*5^   =  C^^f^i^^ 

—  IttiCP'?,  Var.  ArbCfD*?  „Seide"  «  {f^/,'./,'^^  (so)  „procul 
abiit"    —    ÄC<^il<^fl   „berühren"   (vgl.  Keb.  Nag.   S.  XXIV  a) 

—  Zi-flO  „Stadtviertel"  —  ^YmiOr^'l'  „losfahren  auf" 
™  flACi  den  Sinn  „verwirren''  (vgl.  Keb.  Nag.  S.  XXIV  b)  — 
ill^'f.'Ö^/hA  „den  Eid  verletzen"  —  flCdlK^^/,  „Hunig 
machen"  von  der  Biene  —  J*l^/,  c.  acc.  jumenti  —  fl*^A  „er- 
hoben" von  den  Augen  gen  Himmel  —  AtliflA  II 2  „an  Ketten 
ziehen"  —  Äfl^OA  „das  Fleisch"  eines  Apfels  ChA)  —  ÜPl/i't: 
tl^n^  „die  den  Sabbath  entweihte"  —  tl^dl  „herabreichen" 
vom  Haar  m  ^A4^  „die  Riegel,  Querbalken"  —  «t^OA  (ohne 
/<i^)  „Aschermittwoch-^  —  ^^'flTv'l'  fem.  von  ^A^X  —  A4>ö^ : 
iTZ,  „eine  Angelegenheit  ausführen"  —  ^fll^  „Gesichts- 
röte« -  A^BA:ä>4:  „er  ließ  Haar  sprießen"  —  <t>^Ä4^ 
„Gebilde"  von  dem  verklärten  Heiligen  ^  "fllif^^E  „Anachoret" 

—  n^^^'^l'  „Augenweide"  beim  Anblick  eines  Edelsteins  — 
PA  c.  A  et  inf.  „sich  zu  etwas  anschicken"  ;  PA  '.  "JÄ-rh  I /\f^^ 
„aus  etwas  rein  hervorgehen,  rein  werden"  —  't'OJ?/!  absol.  „ujn 
die  Wette  laufen",  auch  einfach:  „eilen'^  i"  A^ACD  c.  inf.  „noch 
einmal  tun«  —  't'CfX^^fl  „tribunas"  —  'VCA,  „ausbleiben" 
vom  Lohn  —  'l^l'^TlA  „sich  stützen  auf-*  i"  '}A4^  „erschüttert 
sein"  —   A'iP^   „zusammenklingen  lassen"   (Harfe  und  Psalter) 

—  't'lJ^A  einer  Sache  (acc.)  „nicht  gewachsen  sein"  ^  A'JP^I 
CKt^  c.  subj.  „sich  in  den  Kopf  setzen,   beschließen"   (etwas   zu 


Hand  hier  vom  Zitieren  der  Handschriften,  die  ja  zunächst  doch  keinem  Deatschen 
zugänglich  sind,  absehe.  —  Ganz  auflfallend  ist,  daß  eine  Menge  (in  dieser  Liste 
nicht  aufgeführter)  ungewöhnlicher  Wörter  und  Wendungen  unserer  Texte  in 
Dillmann's  Lexicon  mit  dem  Sigl  „M.  M."  d.  i.  Mas^uifa  Mestir  wiederkehren. 
Ich  halte  bei  dieser  Übereinstimmung  einen  Zufall  für  ausgeschlossen ;  aber  welcher 
Zusammenhang  mag  zugrunde  liegen? 

Kgl.  Gea.  d.  Wiw.    Nacbriehton.    PbU.-biat.  KluM.    1916.    Haft  1.  5 


0ß  C.  Bezold, 

tun)  —  'T'iYi/,  „bewundert  werden"  —  iM  „Leben  gewinnen** 
von  einem  Bild  (P-'OA)  —  'K'?'2J?  „selten,  fremdartig"  (unten 
S.  79,  Z.  1);  vgl.  GciDi,  1.  c.  474  —  'il4:^  fem.  von  '57-4:  - 
ATI  L95-  Var.  zu  i^'i  P  138'^  (in  JBf^0'H:^<^:/?2: 
Z.J^lHCDCdl'.i^'^),  vielleicht  korrumpiert  aus  Ü^T^;  cf. 
Esth.  8.9  der  amh.  Bibel  (ed.  London  1887,  p.  441)  «  -pA^P^C 
mitSing.-Bed.-  (^•n't'/^:)AZiCnL77-)-'hi^^  „Höllen- 
feuer" —  AflP  von  einem  leblosen  Gregenstand  gebraucht  — 
ÄOrArlt^'i  =  AdPA'l^  -  'Kin  „Wagschale"  -  A.i?4^ 
„Kot"  (vgl.  Keb.  Nag.  S.  XXIX b)  —  'KÄ.J^'.V^:)  „eucharistia" 
■■  YlAA  „nehmen",  den  Schmutz,  vom  Waschwasser  —  ^UJ't'I 
A»^{  „die  Zunge  lösen"  —  YY'ClfXi  (so  L  und  P)  „aula  eccle- 
siae"  —  n«fl^l^  „säubern«;  vgl.  aDiDi533  —  Yl-flC  „Selbst- 
herrlichkeit" —  TifiCi  „umzingeln"  —  'tl'll'a-fl  „Fest"  (im 
allgemeinen;  vgl.  Oriens  Christ.  1912,  S.  158)  —  Ylifl  HI 2  „sich 
scharen  um"  —  Yl^^  ^geöffnet"  von  einem  Grab;  vgl.  Güidi549 
■-  't'CDCü)  ..hinabstürzen"  in  einen  Abgrund  (A^4^)  —  OT'^fll.'t' 
(neben  (STt^fTh):!^^  „das  Innere  der  Wüste"  —  'fUh'i: 
OA:^'t'  „oftmals"  -  -far^fl  „Belobung**  —  ^T^^OXA: 
X»^^  „von  Feuer  umgeben"  —  (DÖA  „auf  die  Welt  kommen" 

—  (DidLClCDAirOr  „Kommen  und  Gehen"  —  iJ^OflA  „Ge- 
schoß" unten  S.  79,  Z.  15  -  O^T^  (für  0^(1)^)  „Bezahlung" 

—  nO/f'fl'1' :  fl^'Th  „in  der  schweren  Stunde"  (des  Gerichts) 
■■  f^AG)  („würdig"  =)  „rein  sein"  von  den  Händen  —  J^'P^ffx 
„Behälter"  des  Blutes  Christi,  vom  Wein  —  J^C^Z,:^ill\. 
^rechnen  unter"  (die  Böcke,  fllA.)  —  J^f^^Ülfl  „zermalmen", 
von  einem  Felsen  —  J^-QQ^  „Schirme"  (unten  S.  73)  —  JR/^i^l 
A.^4:  »^^^  Felsstück,  das  (jemanden)  verschüttet"  ■■  IAO 
„  Holzdeckel"  an  einem  Buch  —  'hcft/i  „Nilpferd" ;  Güidi  715  — 
l/nOr^J't'  pl.  von  -J/niin-  -  °2nC  und  ^-n/.'t'  „Ge- 
bäulichkeit,  Bau"  einer  Kirche  —  die  Schöpfungselemente  (fllQ^^I 
4^^A^)  des  Menschen  sind  Wasser  und  Erde  {<^^^),  Luft 
und  Feuer  wie  die  Al'fiC'V '. /^ CtC  „Faktoren  des  Tons"  — 
f^^OC  „Tatkraft"  —  P"?  „großes  Gefäß";  Gumi  753  —  l^A, 
„weihen"  (als  Opfer)  »  m-Arh.^,  ^A.^  (unten  S.  76,  N.  2) 
„Königsweihe";  Güidi  840  -  lüTJP'i  t.  t.  =  C^A'h'ii't': 
ÄAö^^  — niP4>  „(einen Geruch) empfinden";  III2  „erscheinen" 
von  einem  Gedächtnistag  —  '1^4:^0^  fem.  von  'P^ZfX  "  /^  AO^ 
„Felsenwohnung";  vgl.  Dillm.  col.  1262  —  >i<^(D  „den  Todeskampf 
kämpfen"  —  /f  f-Ö.'jA  „die  richtige  Sprache**  (der  Erwachsenen, 
im  Gegensatz  zum  Stammeln  der  Kinder)  —  JiJ^^  „ein  'Ge- 
rechter' werden"  —  AT*   „Bereich"   m  ^{JJ^ih.  „entzückend", 


AbbS  G&bra  Manfas  Qeddas.  67 

von  einem  Edelstem  —  fil^l^ '.  S,fJ^  c  subj.  ^er  bekam  Lust, 
zu  . .  .«  (unten  S.  78,  Text,  Z.  3). 

Die  folgende  Inhaltsübersicht  des  Gadl  und  der  Ta'ämer  ^)  will 
den  wesentlichen  Zusammenhang  der  Texte  zeigen  und  sieht  von 
allen  "Wiederholungen  und  Variationen  gleicher  oder  ähnlicher  Ge- 
danken ab.  Auch  die  zahlreichen  Gebete,  Bibelzitate  und  lang- 
atmigen Ausschmückungen  der  einzelnen  Berichte  sind  unterdrückt. 
Daß  auch  dann  noch  bei  der  Aufzählung  des  vielen  Unvernünftigen, 
was  der  schreibselige  Verfasser  zusammengetragen  hat,  der  Willkür 
und  dem  Geschmack  ein  weiter  Spielraum  eröffnet  war,  ist  unleug- 
bar; ich  darf  aber  vielleicht  hoffen,  im  Ganzen  und  Großen  einen 
der  abessinischen  Denkweise  entsprechenden  Einblick  in  eine  Welt 
religiöser  Wunder  zu  eröffnen,  deren  Glanz  noch  heute,  so  nichtig 
€r  uns  Abendländern  scheinen  will,  die  Bevölkerung  eines  großen 
afrikanischen  Kaiserreichs  entzückt. 


Das  Leben  des  Gabra  Manfas  Qeddus. 

Abbä  Gabra  Manfas  Qeddas  (AQ .' 7-il^ :  Ö^^^fl .' *J?.fl)» 

der  seelige  und  heilige,  geehrte  und  asketische  Glaubenskämpfer, 
der  Stern  der  Wüste  {'nB^<):(D^^h:"firtC:(S)^<^^J^: 
C^tl'V'P^A:i^Y\n:lJii^)  war  geboren  am  29.  Tähsäs  (De- 
zember)  2)  in  der  ägyptischen  Stadt  Nehisä  (U7/C:l/h.'^ :  <?=>'t'rh't'.' 
f^J^-ClX^^r^n-niH^-ni?)'),  wohnte  562  Jahre  in  der 
Wüste  (7J?f^),  davon  262  Jahre  in  Zequälä  v*H$A)*)  und  dort 
in  der  Nähe  im  Lande  Kabd  {Ci-inM ',  n^^^/.lTi'fi^)') 
und  starb  am  Sonntag,  den  5.  Magäbit  (13.  März  Greg.),  dem  Feste 
von  Peter  und  Paul. 

Seine  gläubigen  Eltern  aus  vornehmer  Familie,  Simeon 
(flf^^*?)  und  Aqlesejä  {K^AhJP),  die  Tochter  Benjäm's 
('fl^  J*f^)i  blieben  bis  zum  dreißigsten  Jahr  ihrer  Ehe  kinderlos. 
Dann  wurde  ihnen  auf  ihr  Gebet  von  der  Dreieinigkeit  ein  Sohn 
verheißen,    dessen    „Hörn"    (<f^Cf»)   höher   als   alles   andere   sein, 


1)  Daß  im  letzteren  der  Tazkär  (zum  Begriff  s.  Jaegek  und  Reitzensteen, 
ZA  25, 272  ff.)  eine  große  Rolle  spielt,  entspricht  den  praktischen  Bedürfnissen 
der  Kirchenvorsteher. 

2)  Legende:  le  jour  de  Noel,  ä  minuit. 

3)  Vgl.  Zotenberg,  Cot.  p.  205. 

4)  S.  C.  Rossini,  Catalogo  dei  nomi  propri  di  luogo  deü'  Etiopia  ^Genov» 
1894)  p.  54. 

5)  Rossini,  1.  c.  p.  34.  P  liest:  fl AfLV  I  (°icht  mit  Zot.  . .  fj.  •) 
Q>iW^^l,\H\'nj^-    nAfkV  wird  Schreibfehler  für  [Y^'  sein. 

5* 


68  C-  Bezold, 

dessen  Priestertum  das  von  Melchisedek  und  Abel  übersteigen  und 
der  Johannes  und  den  Propheten  Elias  überragen  sollte.  Den 
Namen  des  Neugeborenen:  Grabra  Manfas  Qeddus,  bestimmte  der 
Engel  Gabriel,  der  der  Mutter  in  Menschengestalt  erschien.  Schon 
als  Säugling  konnte  das  Kind  stehen,  wußte  die  Doxologie  zu 
sprechen^)  und  zeigte  Abneigung  gegen  jegliche  Bekleidung^). 

Nach  drei  Jahren  entführte  auf  Grottes  Befehl  Gabriel  das 
Kind  seinen  Eltern,  trug  es  auf  seinen  Flügeln  empor  zum  siebenten 
Himmel,  wo  es  von  Gott  gesegnet  wurde,  dann  zu  abermaliger 
Segnung  zu  Maria,  stellte  es  femer  Abraham,  Isaak  und  Jakob, 
allen  Aposteln,  Märtyrern,  Anachoreten,  sowie  den  nm  Gottes- 
wülen  durch  Herodes  umgekommenen  Kindern  vor  und  brachte 
es  dann  vor  die  Türe  des  Einsiedlers  Abbä  Zamada-Berhän  (AQ I 
a_C^J^'.'i\C.y'i)i  der  es  dort  fand,  aufzog,  unterrichtete  und  so- 
dann zu  einem  Bischof  namens  Abrehäm  (Aj  A.ll  l  ^j^tl  l  Ull^^^  l 
A"flCV^^^^)  führte,  von  dem  der  Knabe  zum  Diakon  ernannt 
wurde  ^).  Gott  verlieh  ihm  ein  heiliges  Mönchsgewand  wie  das  von 
Antonius  und  Makarius.  Einige  Zeit  darauf  wurde  er  zum  Pres- 
byter ernannt,  zog  dann  (wieder)  in  die  Wüste,  tat  Wunder  und 
Zeichen,  trieb  Dämonen  aus  und  heilte  Kranke.  Viele  Priester  und 
Bischöfe  kamen  zu  ihm  aus  Geb§  und  Mesr,  von  Nehisä  und  von 
Sabrisä  (Xf^fl-llA.ll-nZ'l,  P  'hi^\3lZ,:^'ntl^Q>  und 
er  liebte  die  Falascha. 

Bei  einem  abermaligen,  in  ähnlicher  Weise  wie  das  erste  Mal 
ihm  ermöglichten  Aufenthalt  im  Himmel  erhält  der  Heilige  dann 
von  Gott  die  Weisung,  Anachoret  zu  werden  und  mitten  in  der 
Wüste  zusammen  mit  60  Löwen  und  60  Leoparden  (A^f^^C^) 
zu  wohnen.  Sein  Haar  war  mittlerweile  täglich  um  über  7  Ellen, 
sein  Bart  täglich  um  über  3  Ellen  gewachsen,  und  er  hatte  50000 
Heilungen  vollbracht.  Nun  wohnte  er  viele  Jahre  in  der  Wüste, 
bei  Hitze  und  Kälte  nackt,  nur  mit  einem  härenen  Lendentuch*) 
bekleidet;   irdische  Nahrung   fand   und   begehrte  er  nicht,   wurde 

1)  Vgl.  den  Gadl  von  Basalota  Mikä'el,  ed.  Rossini  (Romae  1905),  p.  6, 
17  ff.  —  Ähnlich  die  Legende. 

2)  In  B  ist  die  Kindheitsgescbichte  weit  ausgesponnen.  —  Dort  wird  auch 
mitgeteilt,  daß  der  Vater,  Simeon,  ein  hoher  Beamter  vom  Stamme  Rome  (OjyjfJ^Jß  l 
^^Yl*''?^  ',  /^^'^H^J?  I  C^^)  "°^  ^^®  Mutter  aus  priesterlichem  Ge- 
schlecht war  (if^^^H^r'?  'm  'OU^'^)-  ^^^^^  der  Legende  waren  seine 
Eltern  angehörig  aux  plus  grandes  familles  du  pays  des  Francs. 

3)  In  B  wird  umgekehrt  der  Knabe  von  dem  Erzbischof  {j\j^  ',  ^  ^•*1'1') 
Abrehäm  erzogen  und  kehrt  dann  auf  Gottes  Befehl  nach  Nehisä  zurück,  wo  ihn 
Zamada-Berhän  aufnimmt. 

4)  Legende:  une  ceintare  falte  en  poil  de  crini^re  da  lion. 


Abbä  Gabra  Manfas  Qeddas.  69 

aber  mit  Himmelsbrot  gespeist  und  mit  Paradieseswasser  getränkt*). 
Da  ward  sein  Körper  trocken,  seine  Hant  klebte  an  den  Knochen, 
und  da  er  keine  Gewandnng  wünschte,  ließ  ihm  Gott  am  ganzen 
Körper  wie  bei  einem  Schaf  rabenschwarze  Haare  wachsen;  so 
ward  seine  Erscheinung  wie  die  eines  Löwen,  seine  Statur  wie 
die  eines  Palmstammes,  und  sein  Wohlgeruch,  wie  von  köstlicher 
Salbe,  erfüllte  die  ganze  Wüste.  Die  wilden  Tiere  aber,  Bären 
(,]?^)2),  Löwen,  Wölfe,  Schlangen  und  Drachen  ('t'<^'i)  konnten 
ihm  ebensowenig  etwas  anhaben  wie  Daniel;  sie  legten  sich  zu 
seinen  Füßen  nieder,  streckten  ihm  die  Tatzen  entgegen,  beugten 
die  Knie  und  huldigten  ihm. 

Tag  und  Nacht  betete  und  psalmierte  er  ohne  Unterlaß  (rezi- 
tierte z.  B.  an  einem  Tage  den  Psalter  David's  45040  Mal),  bis 
endlich  die  Engel  kamen  und  nach  seinem  Begehr  fragten.  Auf 
diese  Weise  ward  schließlich  sein  Wunsch  erfüllt,  Gott  ebenso  zu 
schauen,  wie  ihn  die  Propheten  und  Apostel  erschauten.  Und  vor 
dem  Throne  Gottes,  der  ihm  den  Zehnten  aller  Verdammten  zu- 
sprach, befreite  er  durch  seine  Fürsprache  30000  Seelen  aus  der 
Verdammnis,  die  dann  nach  Äthiopien  zurückkehren  durften'). 
Übrigens  hatte  sich  der  Heilige,  damit  sich  Gott  der  Sünde 
Äthiopiens  erbarme,  kopfüber  ins  Meer  gestürzt  ('l^l'^AI 
nCXrt'.'nami'iarhC)*)  and  Wieb  dort  in  dieser  Stellung 
ein  Jahr  lang;  sein  Blut  ergoß  sich  in's  Meer,  sein  Kopf  trennte 
sich  ab,  das  Wasser  floß  herum  und  war  wie  Blut,  und  seine 
Knochen  erschienen  wie  Schnee. 

Nunmehr  verlieh  ihm  Gott  einen  Windwagen  (Ai^7A. .'  J^fl)  ^) 
auf  dem  er  samt  seinen  Löwen  und  Leoparden  nach  Äthiopien,  nach 
Kabd  und  nach  Zequäl  (vgl.  oben)  im  Hochlande  fuhr.  In  Kabd, 
wo   er   sieben   Monate   lang,   wie   eine   Säule   aufgerichtet^),   mit 

1)  In  den  mehrfachen  Wiederholungen  und  mannigfachen  Variationen  dieser 
Gedanken  wird  der  Heilige  gelegentlich  wieder  ohne  jegliche  Kleidung  und  Nahrung 
beschrieben;  so  auch  in  der  Legende. 

2)  E.  LiTTMANX  teilt  mir  mit,  daß  der  Bär  in  Abessinien  nicht  vorkommt 
und  daß  die  Abessinier  vom  J^'jfl  (Tigrina-Tigre :  J^fT )  die  merkwürdigsten 
Vorstellungen  haben:  vgl.  Princeton-Exped.  to  Abyssinia,  Vol.  LI,  S.  77. 

3)  Hier  folgt  in  L  eine  Lücke,  in  P  ein  Einschub  (?)  mit  einer  gedrängten 
Erzählung  der  Geschichte  Christi. 

4)  Vgl.  die  Legende:  „Abo  se  mit  en  priere  la  tete  en  bas  et  les  pieds  en  baut". 

5)  Der  Windwagen  ist  aus  dem  Kebra  Nagast  (62'»  5)  genügend'  bekannt  und 
könnte  von  dort  ebenso  in  unsere  Erzählung  wie  in  den  Gadl  von  Basalota 
Mikä'el  (20,  26)  gekommen  sein. 

6)  cI>^Cp;"^Ylt'A.'*QÖ^:'3iP^^;  vgl.  den  Gadl  von  Basalota 
Mika  el  4, 2    Jß^Opf^  '.  Yl^  '.  ^^J^ 


70  C.  Bezold, 

offenen  Augen  gebetet  hatte,  wurden  ihm  diese  vom  Satan,  in 
Gestalt  eines  Raben  (^0)^),  ausgepickt,  aber  von  Michael  und  Gra- 
briel  durch  Anblasen  wieder  geheilt.  Auch  verschafften  ihm  drei 
Greise,  die  er  wegen  ihrer  Müdigkeit  getragen  hatte,  indem  sie 
sich  in  die  Dreieinigkeit  verwandelten^),  abermals  Zutritt  in  den 
Himmel. 

Es  folgt  der  Besuch  dreier  Heiliger  bei  Gabra  Manfas  Qeddus, 
nämlich  AbbäSämu'el  (AOI^^Ö^AA)  von  Wäldebbä  (HTA^Q)  % 
Abbä  Anbas  (ÄQ .'  Älnfl)  vom  Lande  Zähelo  {U^J^Z. '.  HU A») 
und  Abbä  Benjämi  (AO.  ä  "fl"? JP^)  von  Nieder  -  Magäbemedr 
(H7\^:^rh:^JB:cP;7n>:f^J^C),  jeder  mit  zwei  Löwen,  die 
von  den  Löwen  unseres  Heiligen  zuerst  gefressen,  dann  aber  auf 
sein  Geheiß  wieder  ausgespieen  und  von  ihm  wiederbelebt  werden. 
Gabra  Manfas  Qeddus  erhält  für  diese  Heiligen  im  Himmel  je  drei  Brote 
und  dreiKelche,  die  ihnen  derEngelJonänä'el(P'^5"AA)herabbringt. 

Ganz  Äthiopien  wird  nun  die  Begnadigung  zuteil,  versinn- 
bildlicht durch  eine  Wage,  deren  eine  Schale  mit  Unrat,  Unkraut 
und  Disteln  —  den  Sünden  Äthiopiens  —  hochschwebt,  während 
die  andere  mit  Honig  und  Weizen  —  Fasten  und  Gebet,  Läute- 
rung und  Anbetung  —  niedergeht.  Darüber  trauern  die  von  dem 
Heiligen  vertriebenen  70  Millionen  Dämonen,  die  er  dann  durch 
einen  Segensspruch  zu  Asche  verbrennt. 

Nach  vierjährigem  vollkommenem  Fasten  führte  ihn  Gott 
abermals  in  den  Himmel,  in  den  Garten  Eden:  ein  Zelt  mit  Gold 
und  Süber  und  anderthalb  Millionen  Säulen,  darinnen  Milch  und 
Honig  fleußt;  und  stellte  ihn  ferner  auf  die  ^große  Straße",  da 
Richter    und    Würdenträger    einherschreiten    (A*I^^ '» dP^'t'  l 

ua^  14,^^ :  iiw^ :  (Dcr^TK'i'i^ :  -ici :  ^yi^ä),  wo 

seiner  ein  Martyrium  doppelt  so  groß  als  das  aller  Märtyrer  und 
Gerechten  wartete.  Der  ungläubige  König  von  Persien  (^C^) 
wollte  nämlich  den  Heiligen  als  Knecht  Jesu  verbrennen,  aber  das 
Feuer  ward  zu  Flußwasser;  und  als  der  König  hineinsprang,  um 
ihn  zu  köpfen,  da  wurden  er  und  seine  40000  (Var.  40  Millionen) 
Krieger  vom  Blitz  erschlagen;  letztere  aber  30  Jahre  später  im 
Lande  Arabien  {^J^Z,',ö/,'f\)  auf  die  Fürbitte  des  Heiligen 
hin  wieder  auferweckt  und  zum  Christentum  bekehrt. 


1)  Legende:  un  vautour. 

2)  Vgl.  die  in  Nölüeke's  Übersicht  über  die  äthiopische  Literatur  (Die 
Kultur  der  Oegeritoart  f,  YII,  S.  127)  erwähnte  Legende  des  heiligen  Filpos.  Nach 
£.  Littmann  wird  in  der  äthiopischen  Malerei  die  Trinität  durch  drei  Qreisen- 
köpfe  dargestellt. 

8)  Rossini  1.  c.  p.  51. 


Abbä  Gabra  Manfas  Qeddas.  71 

Nach  mehrjährigem  Aufenthalt  in  Äthiopien  besuchte  Gabra 
Manfas  Qeddus  nochmals  Arabien  —  diesmal  zusammen  mit  Abbä 
Benjämi  und  Abbä  Fere-Qeddus  (ÄO:4^ii:^J?.fl)  — ,  wo  mittler- 
weile aus  seinen  in  einem  Abgrund,  auf  einem  Stein  zurückge- 
lassenen Zähnen  —  er  war  Jahre  lang  auf  diesem  Stein  Kopf  ge- 
standen ^)  —  Moschus  und  Weihrauch  und  aus  den  mit  seinem  Blut 
verschütteten  Eingeweiden  seines  Leibes  ein  großer  Weinberg  ent- 
standen war.  Abbä  Benjämi  zog  dann  nach  dem  Lande  Bagemedr 
{^^Al  fili^^J^O*),  Gabra  Manfas  Qeddus  aber  zurück  nach 
Äthiopien,  nach  Kabd,  wo  er  das  Land  mit  seinem  Gebet  „be- 
wässerte" und  Dornen  und  Unkraut,  d.  i.  Satan  und  Sünde,  aus- 
jätete, mehrere  Einsiedler  traf,  darunter  Johannes  von  Dabra  Wifät 
(Än'J:P'rfl^fi:HJ?'n^:^4,^i')  und  Krankenheilungen  so- 
wie andere  Wunder  wirkte.  Dreimal  jährlich  —  am  Weihnachts- 
fest, am  Tag  der  Taufe  Christi  und  an  Ostern  —  ging  er  nach 
Jerusalem  und  tat  auf  Golgatha  am  Heiligen  Grab  Fürbitte  für 
die  Bewohner  Äthiopiens,  worauf  ihm  aus  geöjffnetem  Himmel  die  Drei- 
einigkeit 600000  Gnadengeschenke  in  Form  des  Zehnten  ,A\^Zn'T'l 
f^^ttiZ,^)  spendete.  Und  in  Bethlehem  feierte  er  ein  Fest  mit 
allen  heilsgeschichtlichen  Personen:  Adam  und  Eva;  Mose  und 
Samuel;  David,  Salomo  und  den  anderen  Königen;  Ezechiel,  Daniel, 
Peter  und  Paul;  ferner  mit  Maria;  den  Kindlein  von  Galiläa,  die 
ihre  Gewänder  mit  dem  Blut  des  Gotteslammes  wuschen;  Surafel 
und  Kirubel;  Michael  und  Gabriel;  Rufä'el,  Urä'el,  Säque'el  und  Rä- 
guel  (4u^/bA,  A-Z^iCfeA,  '14>^^A*),  /^7./\.A);  dazu  den  99 
Engelordnungen  und  Zehntausenden  und  Millionen  von  Engeln,  den 
Propheten  und  Aposteln,   den   Frommen   und  Märtyrern^).      Mit 


1)  Offenbar  eine  Dublette  der  oben,  S.  69  und  N.  4  wiedergegebenen  Er- 
zäblang. 

2)  Vgl.  Rossini,  1.  c.  p,  18  sab  Mgamder. 

3)  Nur  in  P  genannt. 

4)  Vgl.  Henoch  20,6  (ed.  Flemmisg,  p.  25);  Synctr.  5.  Hamle  (ed.  Gmoi, 
p.  254);  Dillmann  col.  1412. 

5)  Nach  der  Legende  begiebt  sich  der  Heüige  unmittelbar  von  seinem  Vater- 
haose  aus  nach  Jerusalem  und  erst  von  dort  nach  Äthiopien,  Zequäla  und  Kabd. 
—  In  6  wird  diese  Reise  ins  heilige  Land  zu  einem  förmlichen  Itinerarium  aus- 
gesponnen :  der  Heilige  kommt  zunächst  nach  Bethlehem,  das  er  mit  einem  ScUäm 
besingt ;  dann  nach  Golgatha  (meist  abgekürzt  "J^  genannt),  das  ebenso  besungen 
wird,  wie  auch  die  Stätte  des  Kindermordes ;  dann  nach  Nazareth  (mit  Sa  am), 
nach  Galiläa,  nach  Quesquäm  (Rossrxj,  1.  c.  p.  42;  mit  der  kurzen  Begrüßung 
AAf^ :  AYX  :  ^Ih?/: :  «t>-h^f^  :  DIZ,  :  AÖ-A)  ^^^  allen  Gauen 
{AJ^^f^)  Ägj-ptens;  femer  zum  Jordan  (mit  Saläm),  wo  er  sich  taufen 
läßt;  zum  Ölberg  (mit  Saiäm);  zum  Berge  Tabor  (mit  Saläm),  der  als  Mysterien- 


72  C.  Bezold, 

diesen  unterhielt  er  sich  —  denn  er  war  ihr  Verwandter^)  —  in 
der  hebräischen  Sprache,  die  ihn  der  Engel  des  Antlitzes  (^AAYl! 
VÄ")^)  gelehrt  hatte,  ebenso  wie  früher  den  Abraham,  als  die 
Sprache  der  Länder,  die  an  der  Mauer  von  Sinear  zerstreut  wurde, 
den  Heiden  überlassen  ward^). 

Nachdem  Gabra  Manfas  Qeddus  nun  lange  Zeit  Mühsale  und 
Leiden  erduldet  hatte,-  mit  ausgebreiteten  Händen  im  G-ebet  stehend 
wie  eine  Steinsäule,  die  in  der  Sonnenhitze  nicht  verwittert  oder 
zerbricht  (vgl.  oben),  machte  ihm  Grott  eine  Art  Zelt,  und  die 
Engel  liefen  wie  Diener  mit  einer  Art  Schirm  neben  ihm  her.  Ent- 
fernte er  sich  unter  diesem  Zelt  von  einem  Ort,  wo  Regen  fiel,  so 
fuhr  es  dort  zu  regnen  fort. 

Endlich  befahl  ihm  Gott,  am  7.  (L  27.)  Magäbit  nach  dem 
Vorbilde  unseres  Herrn  einen  Tazhär,  eine  Feier  seines  Todes  zu 
seinem  eigenen  Gedächtnis  zu  veranstalten,  wozu  der  Heilige  den 
Priester  Fere-Qeddus  und  den  Diakon  Zar'a-Buruk  (HC  A ',  Hr^^ft) 
mit  sich  nimmt.  Ein  Einsiedler  geleitet  sie  in  die  Kirche  der 
Residenz,  und  dort  vollzieht  sich  das  Wunder,  daß  an  Stelle  der 
irdischen  Kirche  eine  himmlische,  ein  Bau  ohne  seinesgleichen  auf 
Erden  erscheint,  in  dem  die  ganze  zum  Opfer  nötige  Einrichtung 
vorhanden  ist.  Christus  wird  zum  Opferlamm,  das  der  Heilige 
zerstückt,  um  nach  Beendigung  der  Opferhandlung  seinen  heiligen 
Leib  und  sein  verherrlichtes  Blut  zu  genießen,  worauf  unter  Donner 
und  Blitz  die  Kirche  wieder  ihre  frühere  Gestalt  annimmt*). 

Das  Scheiden  aus  dieser  Welt  ins  Land  der  Lebendigen,  wo 
die  reinen  Geretteten  um  Henoch  und  Elias  wohnen,  war  für 
Gabra  Manfas  Qeddus  nichts  ungewohntes ;  war  er  doch  schon  oft- 


und  Wunderberg,  als  Gotteshaus  und  Himmelspforte  (ri,'l'l7\°?H-A''flffl»C' 

(DAlf^t*/^  IIjI^^)  beschrieben  wird;  endlich  nach  Jerusalem  (mit  Saläm), 
wiederum  nach  Golgatha  und  zum  Grabe  Christi,  wo  ihm  der  Herr  erscheint  und 
einen  Bund  mit  ibm  schließt. 

1)  Die  übrigens  auch  in  LP  öfter  erwähnte  Angabe,  wonach  die  Propheten 
und  Apostel  von  dem  Heiligen  als  „unser  Verwandter"  (H^^J^J)  sprechen, 
wird  in  A2  fol.  120  (V,  vgl.  oben  S.  61)  weiter  ausgesponnen. 

2)  E|)ipbanius  (bei  Charles,  Book  of  Jubilees,  p.  5) :  7:po  TzpoüioTroy. 

3)  (DUZ. :  nfharCt-fi :  hi-hCcd  :  n^^öo :  ^^ac  : 

't'ij^l :  AAfhH-n ;  «ur  in  p. 

4)  Einzelne  Züge  dieser  Erzählung,  wie  die  Anwesenheit  Zar'a-Buruk's  bei 
der  heiligen  Handlung,  das  Niederschweben  des  Heiligen  Geistes  in  Gestalt  eines 
weißen  Vogels  (tM^^'Ä^»?)'  *^*^  unverzagte  Handanlegen  an  das  Opfer  mit 
Fingern  wie  die  Zange  der  Seraphim  ('T^fll't'Il^^i^ A  5  ^ß'-  *^®^-  ^»  ^ '  ^^^^^ 
Nag.  47»,  IG  ff.)  und  die  Rückverwandlung  der  Kirche  finden  sich  in  A2  fol.  130, 
zum  Teil  wörtlich,  wieder;  vgl.  oben,  ä.  61. 


Abbä  Gabra  Manfas  Qeddas.  73 

mals  auf  seinem  Wagen  dorthin  gezogen  und  hatte  von  Ascher- 
mittwoch bis  Ostern  mit  ihnen  das  Fest  begangen.  Noch  vor 
seinem  Tode  aber  ward  ihm  die  Verheißung  zuteil,  daß  der  Name 
eines  jeden,  der  seinen  Tcuskär  begehen,  seinen  Namen  anrufen  und 
an  sein  Gebet  glauben,  die  Schrift  seines  Gadl  schreiben  lassen 
oder  sie  vertrauensvoll  zu  Herzen  nehmen  werde,  ins  Buch  des 
Lebens  eingeschrieben  werden  solle,  und  daß,  wer  immer  Gaben 
wie  Teig  oder  Salböl,  Wachs,  Weihrauch  oder  Wein  an  seinem 
Gedächtnistag  zur  Kirche  bringen  oder  ein  Opfer  darbringen 
werde,  tausend  Jahre  mit  ihm  zu  Tische  liegen  solle.  Nun  er- 
krankte der  Heilige  am  Freitag,  den  3.  Magäbit,  in  der  Wüste 
Kabd.  Die  „verborgenen"  Einsiedler^),  deren  Haupt  er  war, 
Fere-Qeddus,  Zar'a-Buruk,  Jä'qob  !'jPO<!>-n},  Benjäm  l-fl^J*^^ 
und  Joseph  iP'l'b^^ '  riefen,  als  am  folgenden  Abend  Schweiß  und  zu- 
nehmende Schwäche  eintraten,  Gabra Enderjäs  "l'TiZ^VWi^C^tl! 
herbei,  der  am  Sterbebett  bitterlich  weinte,  sich  aber  dann  wieder 
entfernte.  In  der  Nacht  von  Samstag  auf  Sonntag,  in  der  siebenten 
Nachtstunde,  verschied  der  Heilige  unter  donnerartigem  Geräusch, 
während  vom  Himmel,  wie  wenn  Hagel  oder  Schleudersteine 
(iK'flJ  \  <^^/^}  niederprasselten ,  Leuchten ,  heller  als  Sonne, 
Mond  und  Sterne,  herabkamen,  die  Erde  erbebte  und  die  Berge 
wankten.  Der  Entschlafene  wird  ins  Jenseits  aufgenommen,  in  die 
Häuser  des  Lichts,  das  zwölf  mal  heller  als  die  Sonne  leuchtet, 
zum  Empfang  der  „Talente''  P^^A/V)  —  12  von  Michael,  3  von 
Gabriel  und  3  von  Kirubel  — :  der  viermal  100000  Leuchten 
(^'i'f'T)  —  vor  und  hinter  ihm,  rechts  und  links  — ;  der  vier- 
mal 12  Edelsteine  des  Lichts  '^05*4^ .' 'flCV^  >  jeder  doppelt 
so  stark  leuchtend  wie  der  Morgenstern,  und  der  viermal  100000 
Schirme  ,^QQT;5  ferner  von  einem  blitzfarbenen  Gewand  aus 
1062  Tuchlagen  und  von  Pferden  mit  Adlerfliigeln,  die  im  Augen- 
blick zum  Himmel  fliegen  können. 

Abermalige  Fürbitten  des  Heiligen  gelten  der  Erlösung  der 
Bewohner  von  Wasanä  ((DAS",-),  Gejon  (^P"*?  und  Godjam 
('2^'H'f^'^y  3j  letzteres  berüchtigt  durch  seine  vielen  Zauberer.  End- 
lich bewundem  noch  die  „geistigen"  Könige*):  David,  Salomo  und 
Honorius  h^^fbtl,  die  Ägypter  (^  A» :  "J-fl^OJ' JP*}  ,  sowie 
Käleb  ',Vl/\,.n)  und  LäUbalä  (AA.n^;,  die  Äthiopier  A'^P' 
ÄJ'QX'JP  2))  den  Körper  des  Heiligen,   dessen  Finger  und  Zehen 

1)  1^  J'QX'J'^  ." 'ifl'^i^  :  auch  f^CtKi  aUein  wird  in  diesem 
Sinne  gebraucht. 

2)  Rossini,  1.  cp.  52.  3)  Rossini,  1.  c.  p.  29. 

*)  ilV^h:^'.<^'^Afl(SrJP*i,  ▼obl  im  Sinne  Ton  „abgeschieden". 


74  C.  Bezold, 

wie  eine  Leuchte  in  Gestalt  eines  Kreuzes  funkelten  und  aus  20 
zu  60  wurden,  dessen  Haar  von  Milch  träufelte  und  aus  dessen 
Mund  eine  schneeweiße  Biene  herauskam  und  dann  dorthin  zurück- 
kehrte, —  um  in  den  Häusern  des  Lichts  Honig  zu  bereiten,  so- 
daß  die,  so  den  Tazkär  des  Heiligen  begehen,  essen,  sich  freuen 
und  satt  werden.  Dabei  erhält  Lälibalä,  der  sich  über  die  un- 
vergleichlichen Gnadenbeweise  gegen  Gabra  Manfas  Qeddus  ver- 
wundert, besonders  über  den  „Zehnten  der  Barmherzigkeit"  für  die 
Sünder,  von  Gott  den  Bescheid,  daß  eben  jener  in  Niedrigkeit  ge- 
wirkt und  in  Fasten,  Beten  und  Glaubenskampf  unzählige  „Häuser 
des  Lichts"  (Ä'ilJP't'r'nCV^)  erbaut  habe,  er  selbst  aber, 
Lälibalä,  ja  auf  seinen  eigenen  Wunsch  im  E-eiche  der  Welt  ver- 
blieben sei,  die  „Kleidung  der  Herrschaft"  getragen  und  in  seinem 
Reiche    die    Residenz    Asron    (?)    gegründet    habe    ((DrflJÄYlI 


1)  Von  der  Wiedereinsetzung  des  durch  seinen  Bruder  des  Thrones  be- 
raubten Lälibalä  seitens  des  Heiligen,  wovon  die  Legende  zu  berichten  weiß,  ist 
sonst  nirgends  die  Rede.  Dagegen  findet  sich  eine  von  der  obi^^en  abweichende 
Erzählung  in  B,  die  hier  im  Zusammenbang  mit  dem  übrigen  Inhalt  der  Hand- 
schrift kurz  skizziert  werden  soll.  Nach  der  oben,  S.  71,  N.  5  erwähnten  Reise 
begiebt  sich  der  Heilige  auf  Gottes  Befehl  nach  Gabä'on  (*70^^)  «Qter  die 
„Wölfe"  ('t'YY'A.'^)  *)'  "™  *^^®  Schlechtigkeit  seiner  Bewohner  kennen  zu 
lernen.  Nicht  nur  wilde  Tiere  verfolgen  ihn,  wie  Schlangen,  Hyänen  ('HO"fl) 
und  ein  Stachelschwein  (^3f4^'H)j  ^®™  *^^^  Heilige  durch  sein  Gebet  die  stacheln 
(l^^^)  abfallen  läßt,  aber  später  —  wie  der  Herr  des  Malchus  Ohr  —  wieder 
anheftet ;  auch  der  Satan  bedroht  ihn  in  Gestalt  einer  schrecklichen  Schlange,  die 
dann  zu  Stein  verwandelt  wird,  und  die  Einwohner  halten  ihn  für  einen  Zauberer 
(^^UJCE)  ^^^  bedrängen  ihn,  da  er  sich  als  Christ  bekennt,  hart,  bis  endlich 
Gott  durch  seine  Fürbitte  sich  auch  ihrer  erbarmt.  In  Gabä'on  empfängt  Gabra 
Manfas  Qeddus  auch  eine  Anzahl  Leute,  die  seine  Eltern  ausgesandt  hatten,  um 
ihren  verlorenen  Sohn  zu  suchen:  er  gibt  sich  ihnen  nicht  zu  erkennen,  bestellt 
aber  an  die  Eltern  die  —  nachmals  eintretende  —  Prophezeiung,  sie  würden  an- 
statt des  nie  mehr  —  weder  lebendig  noch  tot  —  wiederzufindenden  Sohnes  einen 
anderen  bekommen,  den  sie  Nöb  (^^"jQ)»  ^*  ^-  »Sohn  der  Unfruchtbaren* 
((DAf^  I  ^Tl^)  nennen  sollten.  (Diese  Etymologie  vermag  ich  nur  aus  dem 
Arabischen  zu  deuten:  ^^  pl.  von  s— ^li  =  jJlX«  [^  "^^ )  —  Von  Gabä'on 
gelangt  der  Heilige  dann  ins  Land  der  Seeligen  (-üftbi^  I  •fll5^•0|^^  wo  e"" 
drei  Jahre  bleibt  und  ihm  Christus,  wie  früher  seiner  Mutter  Maria,  den  „Zehnten* 
der  sündigen  Seelen  verheißt.  Und  dort  erhält  er  die  Weisung:  Sage  Lälibalä, 
meinem  geliebten  Erben  (^^Y(^il^,  sing.,  vgl.  Kehra  Nag.  S.  XXX  b)  meines 
Reiches:  „willst  du  das  Reich  der  Welt  oder  das  Himmelreich  empfangen? 
Wähle,  welches  Reich  besser  istic     Er  trifft  nun  Lälibalä  im  Begriff,  nach  Jeru- 


»)  E.  LiTTMAMN  weist  darauf  hin,  daß  'J'Ylf'A  "» Wirklichkeit  der  HyÄnen- 
hund  (Cania  pictns,  Lycaon  pictas)  ist. 


Abbä  Gabra  Manfas  Qeddus.  7^ 

Vierzig  „Verborgene"  und  vierzig  Wüstenbewohner,  nicht  von 
Äthiopien,  sondern  von  Ägypten,  aus  der  Wüste  Asqetes  \']J^C^l 
Äfl*I"5^il)?  nahmen  den  Leichnam  des  Heiligen  mit  einem  Wagen 
in  Empfang  und  bestatteten  ihn  auf  Gottes  Befehl  in  Jerusalem 
—  rechts  vom  Altar. 


Die  Wunder  des  Gabra  Manfas  Qeddus 

werden  am  5.  Sane  (30.  Mai)  verlesen. 

[1.]  ^)  Ein  sündiger  Mönch,  der  Zaubereien  ausführte  und  mit 
Hunden,  lebendigen  oder  aus  Erde  geformten,  Unzucht  trieb,  wurde, 
nachdem  er  am  5.  Magäbit  den  Gadl  des  Heiligen  angehört  hatte, 
von  Räubern  erschlagen ;  seine  Seele  wird  aber  durch  die  Fürbitte 
von  jenem  aus  der  Verdammnis  erlöst. 

[2.]  Ein  von  einem  Mittagsdämon  iPÜI*f*^C^  besessenes 
"Weib  überredet  auf  den  ßat  eines  Priesters  seinen  Vater,  durch 
Weihung  eines  Joches  Ackerochsen  den  TasJcär  des  Heiligen  zu 
begehen,  worauf  dieser  erscheint  und  den  Dämon  mit  einem  Blitz 
erschlägt,  sodaß  er,  hundert  ^  Ellen  und  eine  Spanne  lang,  schwarz 
wie  ein  Baumstamm  und  mit  einem  Affengesicht,  vor  der  Haustüre 
niedergestreckt  liegt.  Ihn  fortzuschaffen  und  in  einen  Abgrund  zu 
werfen,  sind  alle  Stadtbewohner  zusammen  nicht  imstande,  wohl 
aber  das  geheilte  Weib  allein. 

[3.]  Eine  Nonne  v'fl/^lX't" .' ^HA*'!';,  die  zweimal  jährlich 
den  Tazhär  des  Heiligen  beging,  sonst  aber  kein  gutes  Werk  tat, 
wurde,  als  sie  Früchte  für  einen  solchen  TazTcär  gesammelt  hatte, 
von  einem  Wegelagerer  dieser  beraubt  und  von  einem  anderen  in 
die   Wüste   geschleppt.      Dort   befreite    sie   ein  mit  menschlicher 


salem  zu  fahren,  und  entledigt  sich  seines  Auftrags,  worauf  der  König  das  Himmel- 
reich dem  vergänglichen  Reich  auf  Erden  vorzieht.  Nach  einer  Schilderung  des 
Landes  der  Seeligen  (mit  Monogamie  usw.)  durch  den  Heiligen  und  seiner  Weige- 
rung, zum  König  zu  ziehen,  begeben  sich  beide  auf  den  Berg  Zaquälä  ("H'^/V)? 
gen  Westen  (CP^7A:f^6Zi'n,  ^o  sie  Abbä  Garimä  (AQlVZc^) 
und  Abbä  Gubä  (/^Q  '  *?*0.)  *refFen.  Letztere  beiden  müssen  aber  den  heiligen 
Berg  mit  Lälibalä  wieder  verlassen,  da  diesem  der  Tod  naht,  der  ihn  in  seinem 
Palast  {[^C,it\)  ereilt.  —  Der  Bericht  vom  Ableben  und  der  Bestattung  des 
Heiligen  selbst  entspricht  im  wesentlichen  dem  oben  angedeuteten. 

1)  Die  Nummerierung  der  Wunder  fehlt  in  L,   dessen  Text  ich  auch   hier 
folge ;  die  Zahlen  sind  aus  A  1  und  A  2  zugesetzt. 

2)  Vgl.  WoKREL,  ZA  29, 133. 

3)  Unten,  S.  73,  Text,  Z.  10:  neun. 


76  C.  Bezold, 

Sprache  begabter  Löwe,   und  bei  ihrer  Heimkehr   fanden   sich  die 
Früchte  wieder. 

[4.]  Eine  unzüchtige  Frau  erkrankte  zur  Strafe  an  einer  in 
ihren  Leib  gekrochenen  und  dort  lebenden  großen  Schlange^),  die 
alles  fraß  und  soff,  was  sie  aß  und  trank,  und,  wenn  sie  nichts 
genoß,  von  ihren  Eingeweiden  und  ihrem  Blut  lebte,  sodaß  sie 
wie  Holzrinde  und  Rohr  wurde,  ja  die,  bei  Gelegenheit  einer  Be- 
gattung, auch  ihren  Mann  tötete.  Nach  fünf  Jahren  beging  sie 
auf  den  Rat  eines  frommen  Mannes  aus  fernem  Lande  den  Taslzär 
des  Heiligen  durch  Weihung  von  Speise,  Weihrauch  und  Lichtern; 
da  fuhr  die  Schlange  aus  und  sättigte  sich  von  nun  an  wieder 
von  Erdstaub. 

[5.]  Eine  Nonne  (ö^OA^)?  die  sich  vergangen  hatte  und 
schwanger  geworden  war,  weihte  dem  Heiligen  ein  wenig  Weih- 
rauch und  Rosenblüten;  ebenso  nahm  eine  unfruchtbare  Ehefrau 
ihre  Zuflucht  zu  ihm.  Da  befahl  auf  die  Weisung  Gottes  Gabra 
Manfas  Qeddus  beiden  Frauen,  am  Holzeinband  der  Schrift  seines 
Gadl  zu  lecken,  wodurch  die  Leibesfrucht  der  Nonne  in  die  Ehe- 
frau überging. 

[6.J  Einem  Mann  aus  fernem  Lande  hatte  am  5.  Magäbit  eine 
Königsweihe  ^)  seine  neue  Halsschnur  (^0"t^"fl)  ^)  vom  Kopfe  ge- 
zogen und  fortgetragen,  worauf  er  seine  Zuflacht  zu  dem  Heiligen 
nahm  und  in  der  Kirche  ein  Opfer  darbrachte.  Bei  der  Rückkehr 
fand  er  die  Königsweihe  tot,  mit  seiner  Schnur  um  den  Hals. 

[7.]  Von  einer  Anzahl  Kinder,  die  am  3.  Magäbit  beim 
Spielen  am  Fuße  eines  Felsens  durch  ein  losgelöstes  Felsstück 
zermalmt  worden  waren,  kehrte  auf  die  Fürbitte  des  Heiligen  ein 
Knabe,  dessen  Mutter  seinen  Tazkär  begangen  hatte,  ins  Leben 
zurück.  Daraufhin  begingen  in  der  Nacht  des  dritten  Tages  alle 
Stadtbewohner  mit  Weihrauch  und  Lichtern  in  der  Kirche  gleich- 
falls den  Tashar  und  gewannen  dadurch  die  sämtlichen  ver- 
schütteten Kinder  lebend  zurück*). 

[9.J^)  Ein  sehr  reicher  Mann  aus  fernem  Lande  erhält  den 
Besuch  eines  fremden  Gottesmannes,  der  ihm,  um  Rat  über  eine 
zu   begehende   fromme   Handlung    befragt,    rät,    den  Tazkär   von 

1)  Yl^l*l,i  vß'-  Littmann  bei  Worrel,  a.  a.  0.  S.  135. 

2)  AI  fll-Afh.^,  I^  ^A^,  A2  (zweimal)  7H,  offenbar  =  7.^, 
7^1^  {Kebra  Nag.  p.  XXXa).  Daß  derartige  Vögel  frech  sind,  erz&hlt  C.  von 
Erlanger  im  Journ.  f.  Ornith.  1904,  S.  207  f. 

8)  Nach  Littmann  ist  diese  blaue  Schnur,   die    jeder  Christ  am   den  Hals 
tr&gt,  ein  Erkennungszeichen  der  Christen. 
4)  Ende  von  A  2.  5)  A  1  fol.  67Tb. 


Abbä  Gabra  Manfas  Qeddas.  77 

vier  Märtyrern:  Fäsiladas  (4.fl.AJ^l\h  Tewoderos  dem  Orien- 
talen 'i{DJ^Ch:^\"/nf'^,  Galädewos  i7A;epfi;,  Gijorgis 
i2P^C2h)  nnd  von  vier^)  Heiligen:  Abbä  Sinodä  (AOIlX^".?). 
Abbä  Latsun  'AO.'A^Ä-TS  Abbä  Kiros  (AOlYXCi^'  «nd 
Abbä  Gabra  Manfas  Qeddas  zu  begehen.  Nach  der  Befolgung 
dieses  Rats  erscheinen  nach  einander  dem  Manne  jene  Frommen 
—  mit  Ausnahme  von  Gabra  Manfas  Qeddus  —  und  jeder  von 
ihnen  verspricht  ihm  die  Erlösung  von  seinen  Sünden,  wenn  er 
ihm  allein  und  nicht  den  anderen  angehören  wolle.  Dies  schwört 
der  törichte  Mann  jedem  von  ihnen  zu.  So  stritten  sich  nach 
seinem  Tode  jene  Heiligen  und  Märtyrer  um  seine  Seele,  bis  Gabra 
Manfas  Qeddus,  von  Gott  entsandt,  mit  viermal  30  Blitzen  da- 
zwischenfährt  und  die  Seele  zum  Himmel  hinaufbringt. 

[10.]  Einen  Mann  trieb  Verarmung  zum  Satan,  der  ihm  einen 
wie  Gold  aussehenden  ellenlangen  Stein  anbot,  worauf  jener  drei- 
mal alles  abschwor:  die  Dreieinigkeit;  Maria;  die  Propheten  und 
Apostel ;  die  Frommen,  die  Märtyrer  und  die  Heiligen  Kinder ;  die 
vier  Tiere,  die  den  Thron  der  Dreieinigkeit  tragen ;  die  24  Priester 
des  Himmels;  alle  Kirchen,  Opfer  und  Sabbathe;  den  Himmel, 
Seinen  Thron,  und  die  Erde,  den  Schemel  Seines  Fußes.  Als  aber 
der  Satan  ihn  aufforderte,  auch  den  heiligen  Gabra  Manfas  Qeddas 
abzuschwören,  erwiderte  er:  „der  sei  mir  Weg  und  Stab,  alle 
(anderen)  habe  ich  abgeschworen,  aber  mit  ihm  will  ich  sterben". 
Nachdem  ihn  daraufhin  der  Satan  mit  dem  Stein  erschlagen  hatte 
und  seine  Seele  auf  den  Befehl  Gottes  in  die  große  Hölle  ge- 
schleppt werden  sollte,  deren  Tiefe  bis  in  hundert  Jahren  nicht 
erfunden  wird,  führte  dessentwegen  Gabra  Manfas  Qeddus  bei 
Gott  Beschwerde  und  erreichte  nach  längerem  Hin-  und  Wider- 
reden, daß  der  Seele  erlaubt  wurde,  in  ihren  Körper  zurückzu- 
kehren und  später,  nach  dem  zweiten  Ableben  des  dem  Heiligen 
ergebenen  Mannes,  ins  Himmelreich  einzugehn. 

[11.]  Da  einst  der  5.  Magäbit  in  die  Fasten  fiel,  beschloß  ein 
frommer  Mann,  der  zum  Taskär  des  Heiligen  einen  Ochsen  und 
ein  Schaf  weihen  wollte,  damit  bis  zu  seinem  folgenden  Geburtstag, 
den  29.  Tähsäs,  zu  warten.  Da  raubten  ein  Löwe  und  ein  Leopard 
Ochsen  und  Schaf  und  entführten  sie  in  die  Wüste.  Der  Heilige 
aber  befahl  den  Raabtieren,  ihre  Beute  bis  zu  seinem  Geburtstage 
zu  hüten  und  an  diesem  in  die  Kirche  zu  treiben.  Dies  geschah 
und  veranlaßte  alle  Stadtbewohner,  die  das  Wunder  sahen,  zeit- 
lebens den  Tazliär  des  Heiligen  zu  begehen. 


1)  Unten  S.  79,  Z.  25 :  drei. 


78  C.  Beeold, 

[12.]  Einem  armen  Mann,  der  sein  einziges  Besitztum,  einen 
Hahn,  dem  Heiligen  weihen  wollte,  stahl  ein  Dieb  diesen  Hahn 
und  aß  ihn  auf.  Der  Hahn  aber  krähte  um  Mitternacht  in  seinem 
Leibe  und  flog  am  Morgen,  nachdem  der  Dieb  gestorben  und  be- 
graben war,  aus  dem  geöffneten  Grab,  das  einen  zerfleischten 
Leichnam  sehen  ließ,  auf  die  Kirche  und  blieb  dort  drei  Jahre  lang. 

(Die  hier  folgende  Beschreibung  der  wunderbaren  Trauer  aller 
Kreatur  beim  Tode  des  Heiligen  und  die  Erzählung  seiner  Himmel- 
fahrt —  zum  Teil  eine  Wiederholung  des  im  Gadl  Berichteten  — 
wird  in  AI  fol.  72^*  als  13.  "Wunder  gerechnet.) 

[8.] ')  Unter  der  Regierung  des  Königs  Nä'od  (^iPJ?')  brachte 
eine  Frau  den  Körper  ihres  gestorbenen  Söhnchens  in  ein  großes 
Gefäß,  das  sie  in  der  Kirche  dem  Heiligen  weihte,  worauf  das 
Kind  wieder  lebendig  wurde. 

Zusammenfassung. 

7-n^ :  cr^^zxi :  *^^l :  ao-p  i  -t-Af^zYi :  Tüi.^  :: 

•fi'KiX :  (^i'c^fi :  H-^m.  A-t :  4-^i^  : 

viA'ni. :  nsyl^'n :  jBiaC :  nKi^ :  Hn/tr^ :  A,f^  l 

a-^jBA :  YXJ?^  Yi :  QAiti'o :  (DA^  :  n4^C^  :: 

Adi-t.-nxix^: 

i-nz, :  (^ü/ifi :  ^^h :  -^jpa  :  onuA :  ^fxjs :  ^^arh^ : 

7\f^Pi^ :  ^(Dfin :  H  W-A  "5  j^ü- :  /^a^^  : 

a)  J.-^ :  *ö^ :  -ths^-ip :  n^Kö^l- :: 

uiüh :  -i-A^zYi ::  •ii'KjX^  :  Arht : 

f^"2a4:uj^j2:7\^'r:AAa't: 

5\1f  fiA :  .i?'hö^ :  7a4 :  t-Vn/. :  nqiAYi :  X^H :  ai: : 

r»n :  -i^-^pa  :  nariw/a :  7^f^ :  a-t : 

7-n4:ö^^Xfi:*J^fi:A.^"5n:'Kf^-nxa:<^iirht:: 

Zi-no :  1-A^zYi ::  7-n4 :  c^i/j:fi :  *j^fi :  rfiset^  l 
A-fi/^iX-t- :  Afhi: :  •nH'i'i' :  7;]^ :  (Dhn^ : 
nhj'P :  rhf^H- :  <^/iC :  n  A^»^  a  :  ö^ :  ^»i/: :  A^ri'i  : 
tlti'riz^n :  ^7nc :  'KiH^y^ :  i^n :  A^n^^ :  Ch^ : 
Yij2rt, :  Aor^X'a :  hu  a»  :  n  Yicw :: 

1)  A  l  fol.  67»». 


Abbä  Gabra  Manfas  Qeddas.  79 

^^hAiAfvt'ii'P^fJicR^Hi:  V  fiÄ^iC  :0^"5:  (Dä2:  4.? : 
i^n :  Afhfi :  a»^^  :  H^/<-rh4:^ :  aaj?  : 
•$n:YiCUj:^n^:'r^^m:Aö^h^:a)AJ?:: 

i^^^-fi :  'i^Äf^z'a :  ArhA,^p :  oho  : ') 

i-n/.:  (^'i/iti:  4>^fi:  An-p :  f^  a- A :  fi  ap^:  (D-r^-nn :: 

ö-n7\ix :  4:*^ :  H  ati  :  A-t-o  : 

r»n :  jB^ö^P'P :  c^^^j^C :  nnuA  n :  ^^n  : 

n^»^^ :  A"?^  .v:Yin :  rh^ii ;  ^:a'^p  :: 

7-n^  i^^/lh:  ^;?,fi:  A  op :  <:^f^UiC :  A  AP^:  (D-r-^C^ : 
A^.OA'i^.o-noicD't'rhar'o: 

Afi-n>i :  1-Af^/^Yi :  hcd  a^  :  <^c\a^  :  irin'o : 
:?H. :  7\<^0n  A> :  Aoj?'^^ : 'i^op :  AlwX'o  :: 

i^^l : ')  -r  Af^z  Yi :  c^fi-r^^i^ft^ :  A  AQ-n :  (Drh  a.^  : 

7-ni^  :^^.4;fi  :*;e,fi  .An-p  :p^yv  A  .i^a^'?  :a)p^A5i51 

HP  A^ :  -n^MX^ :  a-r :  t-n^c^ :  i-A^^ : 

(Dö  A^ :  i^av :  4:  v^rh'^ :  ir:  :  Yise^  : 

"K^H :  ^^LW  A,!^ :  ^A-n^i :  Af^arl- :  rh^f  :: 

i-nz. :  c^^l^fi :  ^;?,fi :  An-p :  -r  Af^zYi :  t-riq?*  ;: 
AQOA :  ö7a^ :  -Minc^ :  a^  jecd*  : 

Tk<^ :  ^fi^p :  J^'iz, :  -i-np.^p :  A>-fc  : 
fi^O:r^ :  ^-t :  (D^^$>li :  lu  Afi-t  :: 

^^C :  -TAf^zYi ::  -n^iix :  0  : 

'K'jn  jBj :  ^^-fe :  H^irh^ :  AA-n :  (dcda^  : 

-in :  aiti4 :  'K^'t- :  <^4:,CiJ :  h^/IAAi  :  q^7Ä :: 


1)  S.  Dillmann,  col.  160. 

2)  Etwas  verwischt. 
3  Text  i^-nO- 


gO  G.  Bezold,  Abbä  Gabra  Manfas  Qeddas. 

Ht'7-niC :  (D^i :  n  aöa  :  Aln»^ :  (Djf^c : 

7-04 :  <^"?/lfi :  ^^h :  rifb/h :  n  a'5<i>ä  :  yy-tV  :  57C  • 

Ht-A^zih :  ■OH-'i :  ')'h^'^^ :  HQihC :: 

i-A^zYi :  AWC :  (D^A  A :  AJ?f^ :  ^4> :  (DIü5"jb  : 
n  AO  A :  uuz,^ :  iVoi :  cd  aöa  :  ^ecir :  i-o^^irjB  :: 
7-fl>c :  <^^4fi :  *.^fi :  um :  om-t- :  •H'5-t :  i^-jA^  :: 
Yx  J^Yi :  H-rcD  Yi  A :  jb^^  A. :  j?-ar^  i 
(D'Kc^/^^ :  ^^iiJ/7\ : ')  {^^  :: 

:Kf^ii-nfh'tYi :  H5"f^ :  5^11- :  h.4"^  :  ^4:^4 : 
n^^c^^Yi :  p-f^ :  yi*E4"  :  arft-z.  : 
7-n^ :  <^^/;^fi :  ^j^ti :  n  a^  :  Ymit- Yi :  A4 1 
^4ü/üi :  c\A.c\ :  f^^^-C :  (Dr-iiujß :  hazI  i 

T^riö^:  flA^JB  .Tif^Yl :  l-Ärh^  :." 

1)  Text  5\f?^^. 

2)  Text  -flH-^. 

3)  Text  ß^Z.^'K 


über  igmä'. 

Von 

Ignaz  Goldzlher. 

Yorgel^  Ton  £.  Littmann  in  der  Sitzung  vom  15.  Jantuir  1916. 

Es  wird  im  allgemeinen  angenommen,  daß  im  Sinne  der  un- 
bestrittenen islamischen  Auffassung  die  Verleugnung  einer  im 
igmä'  begründeten  religiösen  Lehre  oder  Gepflogenheit  die  Quali- 
fikation als  käfir  nach  sich  ziehe. 

Auf  Leute,  die  sich  dessen  schuldig  machen  (J^a**»  -aä  ^^3 

{jJ^^^)  werden  ja  die  Höllendrohungen  in  Sure  4,  V.  116^)  und, 
mit  leichter  Begriffsverschiebung,  das  Urteil  in  einem  Qadit-Spruch 
bezogen,  wonach  „wer  sich  von  der  G-esamtheit  auch  nur  auf 
eine  Spanne  weit  trennt,  die  Halfter  des  Islams  von  seinem  Nacken 
geworfen  habe" : 

''  -•*-,  •      ^      ,      ..    ^,      ^ 

ma£  q,  f^"^'  *Äj,  jl3.  Jifiä  (Var.  ^j^)  jxjS»  J^  jUUjt  ^3^13  er» 

Der  Begriff  der  gamä'a,  als  der  durch  die  zur  Anerkennung 
gelangte  Obrigkeit  vergegenwärtigten  politischen  und  kirchlichen 
Gemeinschaft^)  wird,  unterstützt  durch  die  etymologische  Zu- 


1)  Vgl.  Snouck-Hurgronje,   Nieu'we   Bijdragen   tot   de   kennis   van 
den  Islam  (Bijdr.  tot  de  TLV  van  Ned,  Indie  1882,  45). 

2)  In  diesem  Sinne  wird  der  ^.  die   fit  na  entgegengesetzt  bei  Schol.  Na- 
kä'id   ed.  Bevan  366,18;    Farazdak  gebraucht  für  Auflehnung  gegen  die  g.  das 

Bild  k-gl,^il  J,a3^  tf)^^  er*  ^si^'^^s  (ibid.  51,  6).    Das  Hadit,   in  welchem  es 

dem  Muslim  zur  Pflicht  gemacht  wird,  selbst  gegen  die  in  religiöser  Beziehung 
bedenkliche  Staatsobrigkeit  im  Interesse  der  Einigkeit  der  Islamgemeinschaft  sich 
nicht  aufzulehnen   (vgl.  Buchäri,   Fit  an  nr.  11)  führt    den   besonderen  Namen 

hadit  al-^amä'a  (Ihn  Sa'd  VII,  i  38,  18).     Vgl  die  Antithese  "->.  L^  und 

Kgl.  Gm.  d.  Wim.    Nachriehtra.    Phil.-hüt  Klane.    1»I6.   1.  Heft.  6 


g2  IgnazGoldziher, 

sammengeliörigkeit ,  in  der  Anwendung  dieser  sowie  anderer  ver- 
wandter Sentenzen  auf  den  terminus  igmä''  übertragen^). 

Diese  Auffassung  kommt  in  den  meisten  darüber  handelnden 
Lehrbüchern  zum  Ausdruck^).  Wir  führen  nur  zwei  maßgebende 
Autoritäten,  eine  hanefitische  und  eine  ^äfi'itische,  an: 

'Ubejdalläh  b.  Massud,  bekannt  als  Sadr  al-sari'a  (st. 
747/1346)  in  seinem  Tau^il?  (ed.  Kazan  1883):  ^15  ^^  t^-^^^^ 

Ibn  5agar  al-Hejtami  (st.  973/1565)  in  al-Sawä'ik 
al-muhrika  fi-1-radd  'alä  ahl  al-bida'  wal-zandaka 
(Kairo,  raatb.  Mejmenijje  1312)  155, 15,  wo  die  Zurückweisung  der 
Chalifatsberechtigung  des  Abu  Bekr  als  kufr  gekennzeichnet  wird, 

mit  der  Motivierung:    cUj  eU:>-^  jüiÄiLs^  xÄ^Uf  yCJL«  jj^lÜH  «-aa«»  q^ 

Dieser  Standpunkt  in  bezug  auf  die  Beurteilung  der  igmä'- 
Negation  wir  d  jedoch  in  dieser  absoluten  Fassung  bei  weitem  nicht 
von  allen  Theologen  des  Islams  eingenommen.  Wir  werden  ferner 
sehen,  daß  auch  die  Formulierung  des  Ibn  Hagar  bereits  eine  Ein- 
schränkung der  durch  Sadr  al-äari*'a  vertretenen  darstellt. 

Ganz  abgesehen  von  rationalistischen  Einwendungen 
gegen  die  h(jhe  Bewertung  des  igmä',  ist  es,  wie  ich  anderwärts^) 
zu  betonen  Gelegenheit  hatte,  gerade  der  rigoroseste  Flügel  der 
Orthodoxie,    die  hanbalitische  Schulrichtung,   in   welcher,    mit 


(J^'t'y-  bei  öahiz  (Dahabi  Tadkirat  al-huffä?.  I  341,  2).  —  Eine  jüdische 
Parallele  ist  "llSSn  •\)2  tjns  (Misnah,  Äböth  2,5)  n^aSt  "^Syi'ü  ünißH  (Se- 
mächöth  2,10;  vgl.  Maimüni,  Misneh  Törah,  H.  Tesübah  3,6). 

1)  Z.B.  bei  Gazäli,  Minhäg  al-'äbidln  (Kairo,  matb.  Chejrijja  1306) 
18,  4 ;  bei  Gelegenheit  des  Spruches  yr\  f^\r  aXaIc  werden  drei  Erklärungsmög- 
lichkeiten angeführt,  die  eine :  »J^  ^^^  ^   i|  ^JÜI^  ^^^jjj{  j   ^  jju  ^jl 

6.JJi^\^  )U^\  ^5^^  xJLe  u  o^Ls?  ^«jC^3  ^U>^J  ^^  iüXto  J^  iU^il 
JXto^  JJali  LjJLä-  Die  Autorschaft  des  Gazäli  an  dieser  Schrift,  die  gewöhnlich 
als  sein  letztes  literarisches  Produkt  gilt,  wird  von  Muhji  al-din  ibn  al-'Arabi 
bestritten  (vgl.  Murtadä,  Ithäf  al-sädat  [ed.  Kairo]  II  381  unten;  Völlers 
Leipziger  Katalog  zu  nr.  162). 

2)  Vgl.  auch  'Abdalk&hir  al-Bagdadi,  al-Fark  387,  7 ff.  O^^ü'?,),  wo 
jedoch  nur  igmä'  al-salaf  oder  i.  al-sahäba  betont  wird. 

3)  Katholische  Tendenz  und  Partikularismus  im  Islam  (Bei- 
träge zur  Religionswissenschaft,  Stockholm,  I  140;  vgl.  zu  ^U>.^;  Ljd^  Zä- 
hiriten  33  Anm.  1.  C     * 


über  i^ft'.  83 

Berafong  auf  Ahmed  b.  5aiibal  selbst,  die  Skepsis  am  igmä*  als 
theologischem  Kriterium,  laut  geworden  ist.  Anders  wäre  es  ja 
kaum  begreiflich,  daß  eben  die  strengsten  Repräsentanten  der  han- 
balitischen  Orthodoxie,  die  Wahhäbiten  den  Kampf  gegen  Lehren 
and  ÜbuDgen  aufnahmen,  die  ihre  Begründung  im  historischen 
igmä'  gefunden  hatten;  daß  sie  die  Bedeatung  des  letzteren  im 
allgemeinen  prinzipiell  in  Frage  stellen  ^). 

Jedoch  auch  außerhalb  der  rationalistischen  und  hanbalitischen 
Kreise  ist  an  der  strengen  Bewertung  dieses  Prinzipes,  wonach 
die  Negation  eines  in  demselben  begründeten  religiösen  Momentes 
die  Qualifikation  als  käfir  bewirke,  gerüttelt  worden.    . 

Zunächst  ist  es  eine  vielfach  verbreitete  Lehre,  daß  die  käfir- 
Brandmarkung  eines  Lengners  der  nur  im  igmä*  festgelegten  Lehren 
auf  das  dogmatische  Grebiet  keine  Anwendung  finden  könne. 
Ibn  Rusd  erwähnt  im  Namen  des  Guwejnl  und  des  Graz  all 
den  Grandsatz,  daß  die  Abweichung  vom  igmä*  in  der  Erklärung 
der  Anthropomorphismen  der  heiligen  Texte  keinen  kufr  be- 
gründe 2).    ßtki  ^IiSj  "i  J    Jai^\  iüji  ^J^  ^:f^i  >i^'  yiS  Jü»L>^1  JÄ 

Ju^üJI  j  p''*^?"^'  (3/^  er  (Fasl  al-ma^äl  [Kairo,  matb.  'ilmijja. 
1313]  8,  15).  Wie  nachsichtig  und  zurückhaltend  Grazäli  in  der 
Beurteilung  dogmatischer  Abweichungen  war,  ist  ja  aus  seinen 
Schriften  genügend  bekannt.  Die  Ablehnung  der  kufr-Qualifikation 
auf  Grund  der  Abweichung  von  der  igmä'-Orthodoxie  in  dogmati- 
schen Fragen  wird  auch  von  al-Igi  (st.  756/1355)  deutlich  aus- 
gesprochen: jS^  ^J^  p'-k^'i'  .•if>  nnd  ijstf  «iui?  ^^  gf-^^'  t*^ 
(Mawäkif  ed.  Soerensen  293,  7.  16). 

GazälT  beschränkt  jedoch  diese  Nachsicht  nicht  auf  das  dog- 
matische Gebiet.  Ohne  die  Geltung  des  igmä*  als  „Wurzel"  und 
religiöse  Erkenntnisquelle  (hugga)  anzutasten  (Ihjä  [Büläk  1289] 
115,  al-Mustasfä  min 'ilm  al-usül  [Büläk  1322— 24]  1 173ff.), 
dehnte  er  seine  Nachsicht  gegenüber  der  , Zerreißung  des  igmä'" 
auch  auf  nicbtdogmatische  Fragen  aus. 

Davon  gibt  er  bereits  in  einem  der  Werke  seiner  ersten  bag- 
däder  Periode  deutliches  Zeugnis.  Er  bespricht  die  Frage :  ob 
Leute,  die  die  Berechtigung  der  Chalifatsnach folge  des  Abu  Bekr 
leugnen  und  dieselbe  dem  'Ali  zusprechen,  als  dem  kufr  verfal- 
lene Ketzer  zu  beurteilen  seien,  insofern  sie  sich  dem  igmä'  wider- 


1)  Juynboll,  Handbuch  des  islamischen  Gesetzes  43  Anm.  L 

2)  Vgl.  Senüsl,  Prol^gomenes  th^ologiques  ed.  Laciani  (Alger  1908) 
103. 

6* 


84  Ignaz  Goldziher, 

setzen.  Grazäli  kommt  dabei  zu  dem  Resultat,  daß  dies  nicht  zu- 
lässig sei,  da  der  ^lUgga-Wert  des  bloßen  igmä'  eine  umstrittene 
Frage  ist  (er  nennt  die  Na?zäm-Schule  als  Vertreter  der  Op- 
position). Man  müsse  sich  daher  beschränken ,  die  Ablehnung  des- 
selben  als   Irrtum   oder  als  Verfehlung,    keinesfalls   als  Akt 

des  Unglaubens  zu  beurteilen:  ^^  f'«-«^"^^  (b^  o'  ^  O^  ^ 

äLJLäJ}  iaüai?  ^^  liyaÄä?^  iu.^^  «^i^o  ^  y«"iH  !^  (Fa^ä'ih  al-Bä- 
tinijja,  Hdschr.  des  Brit.  Mus.  Or.  7782  fol.  72^0). 

Den  Standpunkt,  den  er  in  seiner  älteren  Periode  einnahm,, 
hat  er  in  seinem  späteren  Entwicklungsgange,  auf  dem  er  seine 
Neigung  zur  Toleranz  in  fortschreitender  Klarheit  entfaltete,  na- 
türlich nicht  verlassen.  ImFejsal-al-tafrika  (Kairo,  ed.  Kab- 
bänl  1901)  65  entscheidet  er  sich,  nach  der  Auseinandersetzung 
der  Schwierigkeiten,  den  igmä*  in  einer  Frage  festzustellen  (til^Oi 

iUÄ'iii  jja*xl  Q,  dU3  für  dies  Urteil :  ^a^^.  ^*,  g|-*^^'  s^\js>  q^  I jlä 
«jAftXj  Q^4ij  ^3  v-jÄK^j  jj<*t^^  L^^^  ^^ y^  »J^  BvXJL«.  Auch  m  sei- 
nem letzten  Filch- Werke,  dem  Musta^fä  beurteilt  er  den  Muslim, 
der  sich  dem  igmä*  widersetzt,  als  \io  oder  cJüCa^  (1 176  ult.),  als 

\;jiXj'^\  i)>-^A*»  jt^  äUU»  (ibid.  189,  8  mit  Bezug  auf  den  Koranvers 

4, 115)  und  noch  deutlicher:  ^Laüil  ^  fs^^  t''*^^'  '^^^^'yff  o* 

Ijiä  X\  \^  ^U^aiyoiJI  (Mu8ta§fä  II  358,4  vgl.  ibid.  Z.  11). 

Überall  wird  hier  der  käfir- Charakter  des  igmä'-Leugners  ab- 
gelehnt. 

Imll^tisäd  f  i-l-i *  tikäd  (Kairo  o.J.  ed.  Kabbäni)')  114,13, 
in  dessen  Scblußkapitel  er  auf  die  Frage  des  takf  Ir  zurückkommt, 
macht  Graz,  sogar  das  unverhohlene  Geständnis,  daß  es  in  der  An- 
erkennung des  igmä'  als  hag^a  viele  Zweifel  und  Bedenklichkeiten 

gebe :  iüJaS  'iJf^s»^  ^Uj>^?  q/  j  8^  *1äJI  '^ ,  weiter :  o^UCä^I  öS 
gJt^/ j8^«). 

1)  Er  beruft  sich  darauf  im  Ihjä  I  40,7;  97,8  (am  Schluß  der  Jcfity» 
JuLJükil;  n  130,18  und  zitiert  es  auch  in  alKistäs  al>mustah.Im  (Kairo 
1900,  ed.  Kabbäni)  94  ult. 

2)  Vgl.  Fej9al  al-tafrika  68,  penult.   i]^  ^U>"JI    ^y/   iüyw.  ^ 


über  i^ä'.  85 

Man  kann  nicht  übersehen,  daß  er  hier,  wie  auch  anderwärts, 
den  Dissens  des  Mu'taziliten  Nazzäm  ernstlich  in  Betracht  zieht. 
Freilich  verhehlt  er  sich  im  Laufe  dieser  Feststellangen  auch  die 
bösen  Folgen  nicht,  die  durch  die  Ausschaltung  des  igmä'  aus  der 
Reihe  der  verbindlichen  Lehrquellen  entstehen  könnten. 

Es  ist  wohl  dem  Einfluß  der  durch  die  Skepsis  des  GrazälT 
angeregten  Erwägungen  mit  zuzuschreiben ,  daß  die  späteren  Ge- 
setzesgelehrten, namentlich  die  der  ääfi'itischen  Richtung,  das 
igmä*-Thema  einer  eingehenden  Revision  unterziehen  und  sich  viel 
Mühe  geben,  scharfsinnige  Distinktionen  in  der  Abgrenzung  der 
die  käfir-Erklärung  herbeiführenden  igmä'-Leugnung  zu  ergründen. 

Zunächst  wird  z.B.  die  Frage  erwogen,  inwiefern  zur  Fest- 
stellung eines  dies  strenge  Urteil  verursachenden  i^mä'  die  Mit- 
wirkung des  t  a  w  ä  t  u  r  -  Charakters  desselben  erforderlich  sei ; 
ferner  eine  scharfe  Grenzlinie  gezogen  zwischen  theoretischer  Ab- 

lehnung  des  igmä'-Prinzips  (cU>^i  *X»  ^'j)  und  der  Zurück- 
weisung einer  konkreten  Gesetzeslehre,  die  den  Grand  ihrer 
Verbindlichkeit  im  igmä'  findet  (äJLc  «^».^OI  Jo-L»)  n.  a.  m. 

Die  Verhandlungen  über  diese,  für  die  islamische  Theologie 
sicherlich  einschneidenden,  durch  zahlreiche  Einzelbeobachtungen 
komplizierten  Fragen  sind  durch  den  hier  bereits  genannten  mek- 
kanischen  Gelehrten,  Ibn  IJagar  al-Hejtami,  der  im  säfi'iti- 
schen  madhab  als  eine  der  abschließenden  Autoritäten  anerkannt 
ist,  in  seiner  Schrift  al-I'l am  bi-kawäti'  al-isläm^),  die 
sich  speziell  mit  der  Aufzählung  von  Fällen  beschäftigt,  durch 
welche  sich  der  MusUm  die  Qualität  des  käfir  mit  allen  ihren 
schweren  Folgen  zuzieht,  mit  Berücksichtigung  der  Meinungsäuße- 
rungen der  kompetentesten  Autoritäten,  eingehend  dargestellt 
worden. 


1)  Bro  ekel  mann  II  388  nr.  3,  wo  die  an  den  Rand  des  II.  Bandes  des 
unter  nr.  5  aufgeführten  al-Zawägir  'an  iktiräf  al-kabä'ir  (Kairo,  matb. 
Mejmenijja  1310)  gesetzte  Druckaasgabe  dieser  Schrift  nachzutragen  ist;  am 
Rande  des  I.  Bandes  ist  die  bei  Brockelmann  als  nr.  24  (im  Titel  lies :  m  u  h  a  r  - 
ramät)  verzeichnete  Schrift  gedruckt.  —  Die  hier  bezogene  Stelle  ist  II  43 — 49. 


JSTeue  Götter. 

Von 

Mark  Lldzbarski. 

Vorgelegt  von  E.  Littmann  in  der  Sitzung  vom  15.  Januar  1916. 

Der  Magier  Simon,  wie  er  in  der  Apostelgeschichte  nnd  bei 
den  älteren  Kirchenvätern  geschildert  wird,  ist  wahrscheinlich 
eine  historische  Persönlichkeit.  Aber  unverkennbar  haben  sich 
mythische  Züge  an  seine  Person  geknüpft.  Der  Märtyrer  Justin^ 
selber  samaritischer  Herkunft,  sagt:  Kai  exsdbv  nävtsg  [isv  2Ja^a- 
gstgy  ökiyoi  ds  xul  iv  äXXoig  i^veOiv,  ag  rbv  ng&tov  ^sbv  ixetvov 
öiioXoyovvreg,  ixslvov  xal  7iQ06xvvov6i'  xal  'EXevi^v  xivd,  xi}y  vcbqlvo- 
öx'^6tt6av  avTip  xät'  ixelvo  xov  xulqov,  jiqoxsqov  btcI  xiyovg  öxad^stöav, 
xi^v  vji^  ttvzov  evvotav  JtQthxTjv  ysvoiiivriv  Xsyoväi  (Apologie  I,  26 
ed.  V.  Otto  ^).  Von  besonderem  Interesse  ist  was  Hippoly t  von  der 
Verehrung  des  Paares  seitens  der  Samariter  sagt:  sixova  xs  xov 
£i(ic}vog  ^%ov6iv  eig  /liog  ^OQ(priv  xal  rijg  'EXivrjg  iv  iiOQ(pri  lA&r}vagj 
xal  xavxag  jcqo6xvvov6l,  xhv  ^hv  xaXovvxsg  xvqiov,  xrjv  dh  xvQiav 
(Refutatio,  ed.  Duncker  und  Schneidewin,  VI,  20,  vgl.  auch  Ire- 
naens  I,  23,  4).  Diese  Angabe  macht  einen  durchaus  glaubwürdigen 
Eindruck,  um  so  mehr  als  man  bei  einer  Helena  die  Darstellung 
als  Athena  nicht  erwartet.  Daß  es  sich  hier  um  ein  im  Bereiche 
Samariens  verehrtes  Götterpaar  handelt,  wird  allgemein  ange- 
nommen, aber  eine  Identifikation,  die  in  authentischer  Über- 
liefernng  eine  Stütze  hätte,  ist  bis  jezt  nicht  gelungen.  Funde 
und  Beobachtungen  der  letzten  Jahre  lassen  uns  jetzt  weiter 
schauen. 

Unter  den  Göttern  der  Völkerschaften,  die  von  den  Assyrern 
in  Samarien  angesiedelt  wurden,  wird  11.  Kön.  17,  30  auch  »tt"»«?» 


Neue  Götter.  87 

genannt,  nnd  diese  Gottheit  findet  sich  wahrscheinlich  auch  Arnos 
8,  14  in  Verbindung  mit  Samaria.  In  dem  vielerörterten  ara- 
mäischen Papyrus  aus  Elephantine,  der  die  Abgaben  der  jüdischen 
Mitglieder  der  Kolonie  an  den  Tempel  des  Jahn  verzeichnet, 
werden  neben  Jahn  auch  die  Gottheiten  Ctrs  und  r:y  genannt, 
die  dort  in  Verbindung  mit  einem  ;i{r'»3  stehen.  Mit  Recht  wurde 
die  Ansicht  ausgesprochen,  daß  diese  Gottheiten  von  Juden  sa- 
maritischer  Herkunft  nach  Ägypten  gebracht  worden.  In  Er- 
örterungen über  diese  Götter  Ephemeris  III,  p.  247  ff.,  260ff. 
suchte  ich  den  Zusammenhang  des  2CS  mit  Gottheiten  ähnlicher 
Benennung  nach2niweisen,  die  besonders  in  griechischen  Inschriften 
aus  Syrien  nnd  Phönizien  genannt  werden.  Sie  sind  bald  männ- 
lich, bald  weiblich.  In  diesen  Namensformen  erscheint  der  Vor- 
satzvokal vor  dem  s-Laut  nicht.  Man  kennt  die  Formen  Zeiynoq^ 
ZCfiiog,  21C[ia,  Zr/^iea,  Usiisa  und  andere.  Ferner  suchte  ich  zu 
zeigen,  daß  zu  dieser  Gruppe,  auch  der  pbönizische  Gott  "paCÄ 
gehört,  und  daß  allen  diesen  Benennungen  DB  „Name"  zu  Grunde 
liege.  Dieses  habe  in  ■jT2t;x  eine  Endung  erhalten,  die  im  Phönizi- 
schen  ün,  im  Hebräischen  ön  gesprochen  wurde,  und  die  sich  auch 
sonst  nachweisen  läßt.  Diese  Untersuchungen,  bei  denen  ich  an 
einen  Zusammenhang  mit  Simon  Magus  nicht  dachte,  führten  da- 
nach zur  Annahme  einer  Namensform  seni-^ön,  die  lautlich  IJCuav 
sehr  nahe  steht.  Trotzdem  könnte  es  sich  hier  um  einen  Zufall 
handeln.  Ist  es  ja  unserem  Hauptgewährsmann  über  Simon  passiert, 
daß  er  eine  fremde  Gottheit,  die  mit  Simon  sicherlich  nichts  zu 
tun  hatte,  den  sabinischen  Semo  Sancus,  auf  die  Lautähnlichkeit 
hin  mit  Simon  identifizierte.  Aber  Uttiü  wird  in  dem  Papyrus 
nicht  allein,  sondern  zusammen  mit  rzy  genannt.  Von  dieser 
wissen  wir  aber  mit  Bestimmtheit,  daß  sie  mit  Athena  identifiziert 
wurde.  In  der  Bilinguis  CIS  I  95  aus  Lapethos  in  Cypern,  Ende 
des  4.  Jahrhunderts  v.  Chr. ,  steht  phönizisches  r::?  griechischem 
^A^vä  gegenüber.  Die  Gleichsetzung  geschah  daraufhin,  daß  r:y 
von  Alters  her  eine  Kriegsgöttin  war.  Wir  finden  also  hier  tat- 
sächlich die  mit  Simon  als  Athena  verehrte  Partnerin  wieder. 

Baudissin  suchte  einen  Zusammenhang  zwischen  TCCS  und 
Adonis  nachzuweisen.  Nach  Hippol^t  wurde  Simon  ytvQiog,  seine 
Gefährtin  xvgCa  genannt.  Ich  möchte  hierin  keine  Stütze  suchen. 
Denn  die  Bezeichnung  göttlicher  Wesen  männlichen  und  weiblichen 
Geschlechts  mit  Herr  bezw.  Herrin  ist  bei  den  Semiten  ganz  all- 
gemein. Von  Benennungen  menschlicher  Wesen,  die  in  besonderer 
Verehrung   standen,    sei   hier  nur   auf  Mag^ovg  und  MuQ^dva  als 


gg  Mark  Lidzbarski, 

Namen  zweier  Frauen  aus  der  Nachkommenschaft  des  Elxai  hin- 
gewiesen (Epiphanius,  Haer.  LIII,  1). 

Die  Bemerkung  AGr  8,  10  über  die  Benennung  Simons  seitens 
seiner  Anhänger  leyovreg '  oiSrdg  iönv  t]  dvva^ig  tov  d^sov  tj  (xaXov- 
(livrj)  [isyccKrj  bietet  keinen  Anlaß,  sie  anders  zu  nehmen,  als  der 
griechische  Wortlaut  besagt  ^).  Der  Versuch,  [isyccXrj  als  n^S'Q  zu 
deuten,  ist  verkehrt.  Man  könnte  allenfalls  in  Erwägung  ziehen, 
ob  d'övKfiig  hier  im  gewöhnlichen  Sinne  stehe.  Die  Pgittä  hat 
{otiSs;  JLai  o»:5»->jL»,  und  im  Munde  der  Samariter  wird  der  Ausdruck 
nicht  viel  anders  gelautet  haben;  jedenfalls  haben  sie  das  Wort 
ifh^n  gebraucht.  Aber  i^^Tl  bedeutet  nicht  nur  „Kraft",  sondern 
auch  „Wundertat",  wie  auch  Swafiig  im  NT.  Da  ist  es  nun 
interessant,  daß  in  der  angeführten  Bilinguis  'Anat  als  „Kraff 
bezeichnet  wird.  Im  phönizischen  Teile  hat  ri:3>  das  Epitheton 
D'^n  ty,  im  griechischen  wird  'Ad-rjvä  als  UatsCga  NCxri  bezeichnet. 
Die  Beiwörter  berühren  sich,  entsprechen  sich  aber  nicht  ganz. 
DTi  hatte  wohl  auch  schon  bei  den  Phöniziern  den  Sinn  von  öa- 
xriQitt,  Dagegen  ist  T^  „Kraft",  dvvufiLg  in  diesem  Sinne,  und  die 
beiden  Wörter  entsprechen  sich  auch  im  AT.  Leider  ist  es  un- 
sicher, ob  die  Wörter  DTI  73?  koordiniert  sind  oder  im  st.  constr. 
stehen.  D'^n  T3?  kann  dvvcc^Lg  ^(orjg  bezw.  öatrjgiag  und  dvvufiigy 
^cDT]  bezw.  6G)xriQCa  bedeuten.  Doch  ist  ersteres  wahrscheinlicher. 
Der  gnostische  Charakter  des  Ausdruckes  wird  niemandem  ent- 
gehen. Nicht  minder  interessant  ist,  daß  hier,  zu  Beginn  der 
hellenistischen  Zeit,  der  griechische  Text  diesen  Ausdruck  nicht 
hat,  sondern  Beiwörter  für  die  Göttin  gebraucht,  die  in  älteren 
griechischen  Anschauungen,  nicht  in  den  aus  der  Fremde  einge- 
drungenen Spekulationen  fußen. 

Näheres  über  den  Grott,  der  in  die  Figur  des  Simon  hinein- 
ragt, ist  aus  den  alten  Urkunden  nicht  zu  gewinnen.  Mit  Zeus 
wurde  er  als  ngätog  d^sög  identifiziert.  In  der  Inschrift  von  Kefr 
Nebo  steht  2si(iiog  an  der  Spitze  der  d-sol  naxQfpoi.  Bei  seiner 
Genossin  zeigte  es  sich,  daß  sie  als  Athena  ursprünglicher  ist, 
denn  als  Helena,  daß  es  sich  also  umgekehrt  verhält,  als  Waitz 
PRE  XVIII^  p.  361,  23  ff.  annimmt.  Man  versteht  ja  auch  eher 
Athena,  die  dem  Haupte  des  Zeus  entsprungene  Göttin,  als  ^vvoia 
ngcÖTr]  denn  Helena.  Die  Vorstellung  der  ivvoia  jcgcatrj  ist  viel- 
leicht auch  auf  semitischem  Boden  entstanden.  Der  entsprechende 
Ausdruck  «n-'ÄTansp  «naxüsn,  «n'»»iD-<n  »na««Kn  findet  sich  einige- 
mal in  der  mandäischen  Literatur.    Zu  Johannesbuch  10,  6  vgl.  II, 


1)  Vgl.  auch  Deißmann,  Bibelstudicn,  p.  19,  n.  6. 


Neue  Götter.  89 

p.  17,  n.  1.  Im  Cod.  Sab.  Paris.  25,  f.  34  b  wird  in  einer  Ansprache 
an  das  große  Leben  der  Ausdruck  srr^SfaTi^  pD^^sraSTCSn  „dein  erster 
Gedanke"  gebraucht,  in  Parallele  zu  Vin-'Xnp  vr«:»"!  «"onn  ,,der 
Erstgeborene,  den  du  geschaffen  hast".  Im  Pariser  Diwan  Z.  466f. 
wird  der  Genius  §i§lam  vom  „Herrn  der  Größe"  als  •jSrmrxn 
Stn'<WD'<n  „unser  erster  Gedanke"  angesprochen. 

Daß  die  Einführung  der  Helena  bei  den  Samaritern  auf  phöni- 
zischen,  speziell  tyrischen  Einfluß  zurückgeht,  wird  mit  Recht  an- 
genommen; von  dorther  ist  ja  auch  der  Kult  des  Herakles  zu 
ihnen  gedrungen^).  Aber  welche  Figur  aus  dem  M;j'i;hus  der 
Phönizier  von  diesen  mit  Helena  identifiziert  wurde  und  auf 
Grund  welcher  Übereinstimmungen  die  Identifikation  stattgefunden 
hat,  muß  ich  als  unsicher  bezeichnen.  Vielfach  findet  sich  die 
Ansicht,  daß  Helena  als  27fXtjVi^  bei  ihnen  Eingang  gefunden  habe  *). 
Mir  ist  es  trotz  des  Auftauchens  der  Lana  in  den  clementinischen 
Recognitionen  nicht  wahrscheinlich,  daß  die  gelehrte  Ausdeutung 
auf  die  Identifikation  von  Einfluß  war.  Es  waren  eher  populäre 
Züge  aus  dem  Mythus.  Vielleicht  war  es  die  Sage  von  der  Geburt 
aus  einem  Ei,  an  die  angeknüpft  wurde,  doch  eher  noch  die  Vor- 
stellung von  ihr  als  entführter.  Die  Einrührung  in  Herodots 
Geschichtswerk  zeigt,  wie  verbreitet  das  Motiv  der  entführten 
oder  geraubten  Frau  im  östlichen  Mittelmeer  war.  Auch  daß 
griechischerseits  schon  früh  die  Entführung  der  Helena  mit  Phöni- 
zien  in  Verbindung  gebracht  wurde  (Ilias  VI,  290  f.),  läßt  ver- 
muten, daß  hier  Anknüpfungspunkte  bestanden.  Aber  auch  laut- 
liche Berührungen  können  mitgewirkt  haben.  Der  Einfluß  dieses 
Momentes  bei  der  Identifikation  östlicher  Götter  mit  westlichen 
ist  nicht  zu  unterschätzen.  Bei  der  Gleichsetzung  der  'Anat  mit 
Athena  hat  sicherlich  auch  die  lautliche  Ähnlichkeit,  bei  Henoch 
mit  Hermes,  bei  Esmun  mit  Asklepios  die  Berührung  im  Anlaut 
mitgewirkt.  Die  Leute  waren  im  Leben  beim  Umtausch  der 
Namen  daran  gewöhnt,  sich  mit  geringfügigen  Anklängen  zu  be- 
gnügen. Doch  ist  der  Name  einer  phönizischen  Göttin,  der  an 
"Ekivri  anklingt,  bis  jetzt  nicht  bekannt.  Ich  würde  Dbx  heran- 
ziehen, das  sich  als  Bezeichnung  für  Astarte,  auch  für  Isis  findet 
(Ephem.  I,  p.  158),  wenn  nicht  damit  jede  beliebige  Gottheit  be- 
zeichnet werden  könnte. 

Anscheinend   in   alexandrinischen  Kreisen   wurde    dem  Simon 


1)  Vgl.  J.  Freudenthal,  Hellenistische  Stadien,  p.  133  fF. 

2)  Vgl.  besonders  Lipsins  in  Schenkel's  Bibel-Lexikon  V,  p.  318  and  Boasset, 
Hauptprobleme  der  Gnosis,  p.  77  ff. 


90  Mark  Lidzbarski, 

von  seinen  Verehrern  das  Beiwort  iörag  gegeben  ^).  Waitz  zeigt, 
daß  Philo  das  Wort  von  Gott  gebraucht;  dem  Simon  sei  das  Bei- 
wort aus  göttlicher  Verehrung  verliehen  worden.  Da  sei  nun 
darauf  hingewiesen,  daß  der  Ausdruck  sich  auch  auf  semitischem 
Gebiete  mehrfach  in  Anwendung  auf  Götter  findet.  In  Daniel 
(6,  27)  und  später  bei  den  Juden  wird  D^J?  „feststehend,  dauernd" 

von  Gott  gebraucht.  Danach  nennt  auch  Muhammed  Gott  j,yJüP). 
Die  Namen  D)?'^ns|:  (hebr.)  „mein  Bruder  steht",  DpnN  (phön.)  „mein 
Vater  steht"  sind  ebenso  theophorisch  aufzufassen,  wie  die  son- 
stigen entsprechenden  Bildungen,  und  so  kann  denn  Dpi''  (Nord- 
sem.  Epigr.,  p.  287  b)  ebensogut  Dpi"'  wie  Dpi"i  sein.  Die  Namen 
Dipnny  und  nipTT   in   sinaitischen  Inschriften   weisen   auf  Dip   als 

Gottesnamen   hin.     Dip  ist  wohl  j»|y>   in   demselben  Sinne  wie  D^p, 

0j^:  daß  es  etwa  eine  Abkürzung  von  Dipbs:?'-t3  sei,  ist  unwahr- 
scheinlich. 

* 
In  Weihinschriften  aus  Cirta  an  Baal-Hammon  allein  oder  an 
ihn  und  Tanit  findet  sich  mehrmals  die  Wendung  ms  l>'o').  In 
einigen  Inschriften  kann  man  die  Worte  auf  die  Gottheit,  in 
anderen  auf  die  weihende  Person  beziehn.  Der  Ausdruck  muß 
aber  in  allen  Texten  in  einheitlichem  Sinne  gebraucht  sein,  zumal 
sie  aus  demselben  Orte  stammen  oder  in  Beziehung  zu  diesem 
Orte  stehen.  Dies  ist  jedoch  weder  bei  der  Beziehung  auf  die 
Gottheiten,  noch  auf  den  Weihenden  möglich.  Ich  habe  Ephem. 
I,  p.  42  in  Betracht  gezogen,  ob  D*li<  ^btt  nicht  im  Sinne  von 
D"TÄ  ib'a  3S2  stehe  und  die .  geweihte  Stele  bezeichne ,  habe  aber 
diese  Deutung  aufgegeben.  Sie  scheint  mir  jetzt  die  richtige  zu 
sein.  Diese  Auffassung  allein  paßt  für  alle  Stellen.  In  CIS  I, 
123  a,  147,  194,  380  wird  die  Stele  als  b:?n  "(bu  nsa,  in  123  b  als 
"ID»  ^bl^  nS5  bezeichnet,  obwohl  sie  Baal-Hammon  oder  ihm  und 
Tanit  geweiht  ist.  Wie  nun  mit  b:?3  'f^^  und  "IDS  ibtt  zweifellos 
eine  Gottheit  gemeint  ist,  so  ist  es  auch  mit  ms5  'f^'ü  der  Fall. 
DlK  als  Gott  ist  uns  ja  schon  durch  den  Namen  D1S133^  in  den 
Inschriften  CIS  I,  295,  4,  Altib.  II  (Ephem.  I,  p.  42  nnt.),  die 
beide    Beziehungen    zur    genannten   Gruppe  haben,    nahegelegt*). 

1)  Vgl.  H.  Waitz,  ZNTW  V  (1904),  p.  138 ff.;  PRE  XVIII»,  p.  360. 

2)  Unter   den   verschiedenen   Erklärungen   des  Wortes  bei  Tabari,   Tafsir 
(1321),  III,  p.  4  f.  steht  die  richtige  (^tjJ5  -jLftJl)  am  Ende. 

3)  Vgl.  CIS  I,  p.  366f.;  Ephem.  1,  p.  41  f. 

4)  Hingegen  erwies  sich  die  Lesung  und  Ergänzung  f'jnl'^tt^K  »n  l>er.  19, 
▼gl.  Nordsem.  Epigr.,  p.  208,  als  unrichtig,   vgl.  Epheui.  111,  p.  101  X. 


Neue  Götter.  91 

Wer  ist  nun  dieser  C^«?  In  OHK  "tnj?  11  Sam.  6;  I  Chron.  13  ff. 
kann  allenfalls  das  Volk  Edom  oder  sein  Gott  enthalten  sein  ^), 
daß  auf  panischem  Gebiete  D"X  irgend  etwas  mit  den  Edomitem 
zu  tun  habe,  ist  ausgeschlossen. 

In  dem  angeführten  Ausdrucke  5^3  "Tbtj  ist  die  Funktion  des 
bys  unsicher,  aber  in  "CK  1*12  ist  1C8  sicher  ein  Unterweltsgott. 
"10»  hat  das  Beiwort  ibtt,  und  auch  beim  ^btt  des  AT's  hat  man 
es  wohl  mit  einer  chthonischen  Gottheit  zu  tun'').  Den  Mdkxav- 
ÖQog  in  Plutarchs  Osirisfabel  suchte  Isid.  Levy  als  TIS  ^b^3  und 
Unterweltsgütt  nachzuweisen ').  Das  weibliche  Beiwort  PDbtt  findet 
sich  in  phönizischen  Texten  nur  an  einer  Stelle  in  sicherer  Be- 
ziehung zu  einer  Göttin,  und  da  ist  es  die  ünterweltsgöttin  rnn^V 
Wie  nun  diese  punische  mn  mit  der  n^n  der  biblischen  Urge- 
schichte identisch  ist,  so  identifiziere  ich  den  punischen  mx  mit 
dem  biblischem  0*1»  und  fasse  ihn  als  chthonische  Gottheit  auf. 

Der  Zusammenhang  von  0*:»  mit  nr"]»  (Gen.  2,  7)  wird  ver- 
worfen^),   rnvt  xmd  ^Ijt   mögen   zusammengehören,   aber   dann  ist 

f!6\  das  Sekundäre,  denn  auch  das  Südarabische  hat  D^X.  Bei  der 
Verbreitung  der  Vorstellung  vom  Zusammenhange  des  Menschen 
mit  der  Erde,  wo  auch  homo  zu  humus  gehört^),  scheint  mir  die 
Herleitung  von  D"S  aus  T^iQ'ia  wohl  zulässig.  Aus  den  angeführten 
Momenten  schließe  ich  nun,  daß  aus  nr"t»  zunächst  ein  Erdgott, 
ein  König  Erd,  wurde.  Er  und  die  Erdschlange  wurden  zum 
ersten  Menschenpaar. 

In  den  sinaitischen  Inschriften  findet  sich  öfter  der  Name 
•^Tisna?^.  An  zwei  Stellen  sieht  es  aus,  als  ob  l-^nx  dastände"), 
aber  an  der  Mehrzahl  der  Stellen  ist  das  He  sicher,  und  dort 
dürfte  eine  Ungenauigkeit  der  Zeichnung  vorliegen.  Nach  der 
Zusammensetzung  mit  nar  ist  T'n»  am  ehesten  ein  Gottesname. 
Eine   befriedigende  Erklärung   ist   bis  jetzt  dafür  nicht  gefunden. 

1)  JßsdSaQCi,  Aßsödagafi  LXX  ist  freilich  keine  besondere  Stütze  dafür. 

2)  Vgl.  Lagrange,  Religions  semitiques-,  p.  109,  doch  auch  Baadissin  ZDMG 
LVn  (1903),  p.  819  f. 

3)  Revue  archeologique  1904  II,  p.  385  ff.,  dazu  Ephera.  II,  p.  164  f. 

4)  Hingegen  ist  in  dem  Ausdruck  Q-^rcn  nD^TS  123  in  CIS  I,  198  die  Be- 
deutung von  0^5733   robtt  noch  immer  unsicher. 

5)  Vgl.  Xöldeke,   Archiv  für  Religionswissensch.  VIII  (1905),  p.  161. 

6)  Siehe  Dieterich,  Mutter  Erde»,  p.  76. 

7)  Siehe  das  Verzeichnis  CIS  II,  2,  p.  241. 

8)  1039,  3211.    In  2167  ist  der  Buchstabe  ein  r\ 


92  Mark  Lidzbarski, 

In  Ephem.  III,  p.  270,  n.  1  wies  ich  darauf  hin,  daß  ^^-^^.,  das 
hebräischem  TyilV^  entspricht,  nabatäisch  ITli  geschrieben  wird,  daß 
danach  T^nit  hebräischem  T\y]Vi  gleicht,  was  ein  auffallendes  Zu- 
sammentreffen mit  ninx  nos  n-ri«  Exod.  3,  14  bietet.  In  Wirk- 
lichkeit kann  ITIX  nicht  n;;ns<  sein.  Hin  ist  nicht  arabisch.  Sollte 
lins*  jüdischen  Kreisen  entlehnt  sein,  was  an  sich  möglich  ist,  so 
wäre  namentlich  bei  einem  zum  Grottesnamen  gewordenen  Worte  die 
ursprüngliche  Schreibung  beibehalten.  Littmann  leitet  T^n»  vom 
ägyptischen  Ehi  ab^),  aber  dann  ist  das  Waw  unerklärlich.  Aus 
Ägypten  scheint  auch  mir  der  Gottesname  zu  den  Arabern  ge- 
kommen zu  sein,  aber  nicht  aus  der  einheimischen  Religion.  Ich 
sehe  in  TTlit  eine  Wiedergabe  der  Vokalreihe  asriiovco. 

Es  ist  bekannt,  wie  verbreitet  im  ausgehenden  Altertum  die 
Spekulation  mit  den  sTttä  cpcavT^svta  war,  wie  in  der  Mystik  und 
in  der  Astrologie  mit  ihnen  gespielt  wurde,  wie  sie  zu  verschie- 
denen göttlichen  und  kosmischen  Wesen,  namentlich  zu  den  Pla- 
neten, .in  Beziehung  gesetzt  wurden.  Es  genügt  auf  Baudissin, 
Studien  zur  semit.  Religionsgeschichte  I,  p.  243  ff. ;  Röscher,  Phi- 
lologus  LX  (1901),  p.  369 ff.;  Lexikon  III,  2,  col.  2530 f.;  Diete- 
rich, Mithrasliturgie,  p.  33  f.  zu  verweisen.  Daß  die  sieben  Vo- 
kale einheitlich  zu  einem  Grottesnamen  zusammengefaßt  werden 
konnten,  zeigt  was  Hippolyi:  von  der  Lehre  des  Gnostikers  Marcus 
berichtet.  Nach  ihm  töne  ein  jeder  der  sieben  Himmel  in  einem 
besonderen  Vokale.  Ai  ts  dwcifisig  ^läöat,  slg  sv  (jv^tcIccxsIökl  ri^ovöi, 
ncd  8oi,oit,ov6iv  ixetvov,  vcp^  ov  nQOsßlrld^rjßav,  rj  öe  öö^a  ri}?  rjx^öEoas 
&ve7tsfig}&ri  XQog  tbv  TtQondroQa.  Tavtrig  nsvtoi  Tfjg  do^oloyiag  rbv 
^%ov^  slg  trjv  yrjv  (pEQO^svov,  q)ri6l  JcXd6rriv  yCrsöd-ai  xal  ysvvTqxoga 
tcbv  inl  rrjg  yfjg  (Refutatiö,  p.  320,  78  ff.).  Das  Spiel  mit  den 
Buchstaben  war  auch  in  Ägypten  sehr  beliebt,  vgl.  Reitzenstein, 
Poimandres,  p.  256  ff. ;  A.  Wiedemann,  Archiv  für  Religionswissen- 
schaft VIII  (1905),  p.  552  ff.  Von  dorther  ist  asrjiovG)  als  Gottes- 
name nach  der  Sinaihalbinsel  gedrungen.  Ich  habe  verschiedentlich 
zu  zeigen  gesucht,  wie  weitreichend  der  Einfluß  war,  der  von 
Ägypten  aus  auf  die  Religion  der  nördlichen  Araber  ausgeübt 
wurde.  Man  wird  diese  Einwirkung  namentlich  auf  der  Sinai- 
hai binsel  begreifen. 

IT!«  ist  eine  passende  Wiedergabe  von  asr^Lovco.  Wir  finden 
n  im  Westen  und  im  Osten  für  den  e-Laut  verwandt  (Nordsem. 
Epigr.,  p.  393  f.),  außerdem  konnte  es  hier  noch  den  Hiatus  zur 
Darstellung  bringen.     Der  Name  war  erstarrt,   an   die  Siebenheit 


1)  Nabatasan  Inscriptions  19U,  p.  XYIII. 


Neue  Götter.  93 

wurde  nicht  mehr  gedacht,  sie  konnte  auch  in  der  semitischen 
Schrift  nicht  wiedergegeben  werden.  Ich  habe  auch  die  Möglich- 
keit erwogen,  daß  vn«  keine  bloße  Wiedergabe  der  griechischen 
Vokalreihe  sei.  Wie  im  Hebräischen,  so  werden  auch  im  Naba- 
täischen  "nn«  als  Vokalbuchstaben  verwandt.  Wollte  ein  Nabatäer 
aus  seiner  Schrift  die  Vokale  darstellen,  so  konnte  er  "nx,  aber 
auch  ■'in«  nehmen.  Zu  diesen  Buchstaben  mußte  er  greifen,  wenn 
mit  ihnen  etwa  die  Vorstellung  einer  kosmischen  Vierheit,  z.  B. 
der  vier  Himmelsrichtungen,  verknüpft  war.  Aber  eine  bloße 
Wiedergabe  der  vier  Vokalbucbstaben  ohne  die  griechische  Vokal- 
reihe als  Basis  liegt  hier  jedenfalls  nicht  vor,  sonst  wäre  die 
Reihenfolge  eine  andere. 


Anredeformen  in  erweiterter  Bedeutung. 

Von 
Enno  Littmann. 

Vorgelegt  in  der  Sitzung  am  15.  Januar  1916. 

Es  ist  allgemein  bekannt,  daß  es  in  unseren  europäischen 
Sprachen  eine  Anzahl  von  Substantiven  gibt,  die  ursprünglich 
Anredeformen  oder  Vokative  waren,  dann  aber  verallgemeinert 
und  auf  die  anderen  Kasus  übertragen  wurden.  Da  haben  wir 
zunächst  Worte  wie  monsieur,  monsignore,  mijnheer  (meist  memr 
gesprochen);  letzteres  wird  im  Englischen  als  mynheer  sogar  für 
den  Holländer  überhaupt  gebraucht.  Die  weiblichen  Gegenstücke 
dazu  sind  madame,  mademoiselle,  mevrouw,  mf^jnffrouw  (bezw.  mejuffer, 
mejonkvrouw,  wovon  das  zweite  nur  für  adelige  Frauen  gebraucht 
wird),  ferner  madonna,  Notre  Dame,  Nossa  Senhora,  Unsere  Liehe 
Frau  u.  s.  w.  Die  Übertragung  dieser  Formen,  die  alle  ursprüng- 
lich der  Anrede  entstammen,'  auf  andere  syntaktische  Zusammen- 
hänge hat  sich  aber  in  verschiedenem  Grrade  vollzogen.  Während 
man  im  Französischen  ruhig  ce  monsieur  sagen  kann,  muß  man  im 
Holländischen  de  heer  sagen.  Im  Italienischen  ist  es  durchaus 
sprachrichtig  la  madonna  zu  sagen,  aber  im  Französischen  sagt 
man  nur  la  (cette)  dame  und  la  (cette)  demoiselle.  Wo  solche  For- 
men in  anderen  Sprachen  entlehnt  werden,  wird  die  Grundbedeutung 
natürlich  viel  leichter  vergessen,  und  so  konnte  und  kann  man  im 
Deutschen  die  Mamsell  sagen;  in  Nord  Westdeutschland  ist  die  Mam- 
sell auf  größeren  Bauernhöfen  die  Vorsteherin  des  Gesindes.  Wenn 
im  Englischen  Mylord  und  Mylady  außerhalb  der  Anrede  gebraucht 
wird,  so  empfindet  man  es  doch  als  Mißbrauch. 

Auch  die  Worte  Papa  und  Mama  gehen  ursprünglich  auf  An- 
rufe zurück,  aber  das  Kind,  das  diese  Worte  im  Anruf  und  in  der 
dritten  Person  gebraucht,   empfindet  freilich  den  Kasusunterschied 


E.  Littmann,  Anredeformen  in  erweiterter  Bedeutung.  95 

noch  nicht.  Wenn  nun  die  Erwachsenen  der  Papa,  des  Papas  sagen, 
sü  haben  sie  eine  mehr  oder  minder  bewußte  Kasusübertragung 
vollzogen. 

Das  lateinische  Wort  domine  ist  schon  früh  außerhalb  der 
Anrede  gebraucht  worden.  In  Grimmelöhausens  Simplicior  Simpli- 
cissimus  heißt  es  im  IV.  Buch,  zu  Anfang  des  20.  Kapitels:  „loh 
war  kein  ehrbarer  Domine  geworden".  Und  in  England  und  Ame- 
rika sagt  man  domine,  daminie,  dominee  ziemlich  allgemein  vom 
Geistlichen;  in  Schottland  wird  der  Schulmeister  so  bezeichnet. 
Auch  in  Holland  gebraucht  man  domine  in  der  Bedeutung  „Pfarrer", 
worauf  mich  J,  Wellhausen  aufmerksam  machte.  Im  Französi-chen 
hat  die  Bedeutungsentwicklung  dieses  Wortes  eine  andere  Wendung 
genommen:  da  viele  Kirchengebete  mit  domine  beginnen,  bedeutet 
iin  domine  ein  liturgisches  Gebet.  Damit  ist  das  deutsche  Wort 
„Vaterunser"  zu  vergleichen. 

Man  könnte  versucht  sein,  auch  Namensformen  wie  Peter, 
Paul  u.  s.  w.  auf  die  Vokative  Petre,  Paule  zurückzuführen,  zumal, 
wie  wir  unten  sehen  werden,  im  Orient  diese  griechischen  Eigen- 
namen ziemlich  allgemein  im  Vokativ  übernommen  wurden.  Aber 
Edw.  Schröder  belehrt  mich,  daß  im  Deutschen  Peter  und  Paul 
auf  die  Genitive  Petri  und  Pauli  zurückgehen,  wie  ülierhaupt  bei 
Tagen,  Kindern  und  Orten,  die  nach  Heiligen  oder  anderen  Per- 
sonen benannt  wurden,  der  Genitiv  angewandt  wurde.  Den  Namen 
des  Heilands  gebrauchen  wir  im  Deutschen  jetzt  meist  in  der 
Nominativform  Christus,  während  früher  auch  „Chrisf^  gesagt 
wurde ;  im  Französischen  und  Englischen  ist  letzteres  die  Normal- 
form geworden. 

Andererseits  aber  machte  mich  Edw.  Schröder,  in  Briefen  aus 
dem  Felde,  noch  auf  einige  andere  schlagende  Parallelen  aus  dem 
Germanischen  aufmerksam,  wofür  ich  ihm  auch  hier  herzliehst 
danken  möchte.  Er  schrieb  mir  am  17.  12.  15:  „Herr  und  Fürst, 
ahd.  herro  und  furisto,  sind  ursprünglich  schwache  Adjektiva.  Die 
schwache  Form  des  Adjektivs,  die  deiktische,  ist  aber  die  Form 
der  Anrede  (letzter  Rest:  „lieben  Freunde!"*).  Ich  bin  längst 
überzeugt,  daß  diese  Substantiva  sich  aus  der  Anrede  entwickelt 
haben:  „o  du  Älterer!"  „o  du  Erster".  Später  wies  er  mich  auf 
Folgendes  hin:  „Polzin  hat  in  seiner  Schrift  über  das  Diminitivum, 
die  von  Roethe  angeregt  und  1901  in  den  Straßburger  Quellen 
und  Forschungen  erschienen  ist,  den  Nachweis  erbracht,  daß  sich 
die  wenigen  Diminutiva  des  Gothischen  bei  Ulfila  ausschließlich  in 
der  Anrede  finden:  (sa)  magus  ^ der  Knabe",  (so)  matci  „das  Mäd- 
chen", ßata  harn   ^das  Kind",   aber  tnagula  „o  Knabe",   tnawilo  „o 


96  ^'  Littmann, 

Mädchen",  harnilo  „o  Kind!"  Daraus  ergibt  sich  mit  ziemlicher 
Sicherheit,  daß  das  Diminutivum,  das  von  Haus  aus  nur  Personen 
(Menschen,  dann  auch  Tieren)  zukommt,  bei  uns  aus  der  Anrede 
stammt". 

Die  Schwierigkeit  der  Kongruenz  in  den  Satzteilen,  wenn  eine 
Anrede  innerhalb  eines  Satzes  als  Nominativ,  Dativ  oder  Akkusativ 
verwendet  wird,  hat  Paul  in  seinen  Prinzipien  der  Sprachgeschichte  ', 
S.  281,  unter  Anführung  mehrerer  Beispiele  besprochen.  Auch 
Brugmann  weist  in  seiner  Vergleichenden  Grammatik  der  Indo- 
germanischen Sprachen  auf  die  Verwendung  der  Vokative  als  Sub- 
jekt hin  und  führt  als  Beispiele  böot.  Msvvst  und  latein.  Jupiter 
an  (Kurze  vgl.  Gramm.,  S.  445,  §  567).  Auf  Jupiter  hatte  mich 
auch  J.  Wackemagel  verwiesen. 

Im  folgenden  nun  möchte  ich  eine  Anzahl  von  Beispielen  zu 
dieser  Erscheinung  aus  orientalischen  Sprachen  geben;  diese  Bei- 
spiele wurden  nur  bei  Gelegenheit  gesammelt  und  machen  durch- 
aus nicht  den  Anspruch  das  Material  erschöpfen  zu  wollen. 

Beginnen  wir  mit  der  ältesten  semitischen  Sprache,  der  assy- 
rischen so  finden  wir,  daß  bei  Götternamen,  die  eben  meist  im 
Anruf  verwandt  wurden,  die  Anredeform,  die  aus  dem  reinen 
Stamm  besteht,  zur  Normalform  geworden  ist.  So  werden  Bei, 
Warnas,  Marduk,  Istar  als  Götternamen  gebraucht;  man  unter- 
scheidet sie  dann  aber  von  den  Fällen,  in  denen  einzelne  dieser 
Wörter  noch  ihre  appellative  Bedeutung  beibehalten  haben.  So 
heißt  der  Gott  Bei,  aber  helu  ist  „Herr";  neben  Warnas  „Sonnen- 
gott" steht  samsu  „Sonne".  Zu  diesen  Fällen  vgl.  man  Meißner^ 
Kurzgefaßte  Assyrische  Grammatik,  S.  27,  §  40  d ;  Ungnad,  Baby- 
lonisch-assyrische Grammatik, .  S.  19,  §  20  b ;  Brockelmann,  Grundriß 
der  vergleichenden  Grammatik  der  semitischen  Sprachen,  II,  S.  35, 
§  19g.  In  dem  babylonischen  Götternamen  Belti  „meine  Herrin", 
Belitm  „unsere  Herrin",  der  ins  Aramäische  als  Belti,  Beltln  über- 
gangen ist  und  griechisch  durch  Bfjktig  wiedergegeben  wird,  haben 
wir  bereits  ein  uraltes  Vorbild  zu  der  oben  genannten  Madonna, 
Notre  -  Dame  n.  s.  w. ;  vgl.  Zimmern,  Akkadische  Fremdwörter  als 
Beweis  für  babylonischen  Kultureinfluß,  Leipzig  1915,  S.  68/69. 

Im  Hebräischen  sind  es  zwei  Ausdrücke  für  „mein  Herr",  die 
aus  der  Anrede  in  allgemeinere  Verwendung  übergingen.  Im 
Alten  Testament  wird  *adönäi  „mein  Herr*  sowohl  in  der  Anrede 
an  Gott  wie  auch  in  der  Rede  von  Gott  gebraucht.  Später  ist 
es  fast  mm  Eigennamen  geworden.  Dagegen  wird  im  späteren 
Hebräisch  rabhi  „mein  Herr"  von  Menschen  gesagt,  die  man  so 
anredete.    Der  Rabbi,   auch   verkürzt  und  mit  Umlaut   Rebb  ge- 


ADredefonnen  in  erweiterter  Bedeatong.  97 

«prochen,  ist  das  genaue  Gegenstück  zu  dem  domine  bei  Grimmels- 
hausen,  im  Englischen  und  im  Holländischen.  Man  kann  natürlich 
im  Deutschen  unter  völliger  Nichtachtung  des  -i  sagen  ^mein 
Rabbi^,  „unser  Rabbi'^  u.  s.w. ;  vgl.  unten  S.  102,  107. 

Im  Syrisehen,  Armenischen  ^  Georgischen  und  Koptischen 
bietet  die  Übernahme  der  griechischen  Eigennamen  eine  große  An- 
zahl von  Parallelen.  Man  hörte  diese  Namen  eben  hauptsächlich  im 
Anruf,  im  Vokativ,  und  übertrug  diesen  dann  auch  auf  die  anderen 
Kasus.  Das  geschah  nicht  nur  in  heimischer  Sprache  und  Schrift, 
sondern  auch  griechisch  geschriebene  Namen  erscheinen  im  Orient 
gelegentlich  im  Vokativ,  wo  man  einen  anderen  Kasus  erwarten 
würde.  So  heißt  ein  Graffito  auf  einer  Felswand  bei  el-'Öla 
MNHC0H  KACCIAP0M6;  vgl.  den  von  mir  herausgegebenen  2.  Teil 
von  Euting's  Tagbuch  einer  Reise  in  Innerarabien,  S.  250. 

Für  das  Syrische  haben  wir  den  besten  Führer  in  Nöldeke's 
Syrischer  Grammatik.  Seine  Bemerkungen  auf  S.  84/85  der  2.  Auf- 
lage gebe  ich  hier  wieder,  indem  ich  die  syrischen  Worte  um- 
schreibe und  eine  Anmerkung  über  ostsyrische  Orthographie  fort- 
lasse. rJyie  griechischen  Eigennamen  auf  og  und  ag  werden  ent- 
weder in  der  Nominativ-  oder  in  der  Vocativform  gebraucht : 
Faulös,  Petras,  Aleksamlrös,  Teudas  u.  s.  w.,  oder,  und  zwar  auch 
als  Subjekt  u.  s.  w.  Patde,  Pefre,  Aleksandre,  Teödöre,  Teuda^  Ar- 
fema  u.  s.  w. 

Die  Endung  log,  eiog  fällt  sehr  gern  ganz  ab;  zuweilen  bleibt 
davon  noch  ein  y :  MWBYK  neben  M  WBYKYS  MavQ^xios;  'YGNT 
'lyvärtos;  BSYL,  B'SYL,  B'SYLY  BaöCXsiog-,  ZYNWB,  Z'NWB, 
ZYNB  Zrivoßiog  (auch  Z'NWBYWS)]  UWNT,  VWNTY  Mövxiog 
U.S.W.  Viel  seltner  geschieht  dies  mit  dem  einfachen  og;  z.B. 
Bas(s),  neben  BS  WS,  Basse  Bä00og;  "NTWNYN  'Avxanflvog^ 

Der  Wegfall  der  Endung  tog  beruht  natürlich  auch  auf  dem 
Gebrauch  der  Vokativformen.  Wir  können  etwa  annehmen,  daß 
u  zu  i  wurde  und  daß  dies  innerhalb  des  Syrischen  schwand  wie 
jedes  auslautende  -f.  Der  Auslaut  e  konnte  sich  eher  halten,  da 
er  in  der  syrischen  Verbal-  und  Nominalflexion  häufiger  vor- 
kommt. 

Vokativ-  und  Nominativform  pflegen  auch  wohl  friedlich  neben 
einander  zu  stehen.  In  der  Stoa-Inschrift  von  Bäbiskä  vom  Jahre 
547  n.  Chr.,  die  ich  1899  fand,  stehen  neben  einander  SRO  WN, 
TYDWR\  und  BKWS,  also  „Sargon,  Theodore  und  Bacchus«. 
Vgl.  Semitic  Inscriptions,  New  York  1904,  S.  34,  36;  die  Lesungen 
TYDWR'  und  BKWS  habe  ich  im  Jahre  1905  von  neuem  in  Bä- 
feiskä  festgestellt   und  deutlicher  kopiert  als  1899.     Vielleicht  ist 

Kjl.  Gm.  d.  Wta.    N»chTicht«n.    Pkü..hu*.  Kluae.    )•!«.    Haft  1.  7 


9g  £.  Littmann, 

auch  der  in  derselben  Inschrift  vorkommende  Name  YHN*  eher 
Yöhanne  zu  lesen  denn  Yöhannä,  wie  ich  damals  annahm. 

Die  Formen  auf  -e  waren  die  volkstümlicheren,  da  sie  aus  der 
gesprochenen  Sprache  übernommen  wurden.  Die  Formen  auf  -ös 
sind  im  allgemeinen  eher  als  literarisch  zu  bezeichnen.  Als  daher 
das  Grriechische  in  Syrien  nicht  mehr  gesprochen  wurde  und  auch 
das  Syrische  aufhörte  eine  lebendige  Volkssprache  zu  sein,  wurden 
die  Namen  auf  -og  wieder  häufiger,  aber  natürlich  nur  in  der 
syrischen  Literatursprache,  die  künstlich  weiter  gepflegt  wurde. 
In  der  Zeitschrift  für  Assyriologie,  Bd.  XXIX,  S.  308,  habe  ich 
darauf  hingewiesen,  daß  in  späterer  Zeit  selbst  bei  semitischen 
Namen  die  griechischen  Formen  als  feiner  empfunden  wurden. 

Auch  die  syrischen  Formen  für  „mein  Herr'',  „unser  Herr" 
sind  aus  der  Anrede  auf  andere  syntaktische  Verbindungen  in 
ausgedehntem  Maße  übertragen.  Das  Wort  *märe  „Herr''  lautete 
mit  dem  Suffix  der  1.  Pers.  Sing.  *märi  „mein  Herr";  dies  wurde 
zu  märi  und  dann  mit  Abfall  des  auslautenden  -i  zu  mär.  Letz- 
teres ist  die  gewöhnliche  Form  im  Syrischen,  aber  in  der  christlich- 
arabischen Literatur  der  Syrer  und  Kopten  kommt  gelegentlich 
die  Form  märi  vor;  diese  mag  auf  gelehrter  Repristination  be- 
ruhen. Dies  Mär  ist  die  ganz  allgemeine  Bezeichnung  für  Heilige 
und  Kirchenfürsten  geworden  und  entspricht  einerseits  dem  abend- 
ländischen „St."  =  Sanct,  andererseits  aber  auch  genau  dem  Mon- 
signore.  Neben  einander  kommt  mär  als  Subjekt  und  als  Anrede 
z.  B.  in  folgender  Stelle  vor  ''ämar  leh  Mär  Afrem  la  mär  „sprach 
zu  ihm  der  heilige  (monsignore)  Ephraim:  Nein,  mein  Herr";  vgl. 
Brockelmann,  Sjrrische  Grammatik  ^,  Chrestomathie,  S.  29,  Z.  7. 

Mit  dem  Suffix  der  1.  Pers.  Plur.  lautet  dies  Wort  märan 
„unser  Herr".  Dies  ist  im  Syrischen  die  gewöhnliche  Bezeichnung 
für  Jesus;  man  schreibt  auch  gern  in  einem  Worte  niäranyesiC 
oder  märanyesum^sihä  „unser  Herr  Jesus  Christus".  Natürlich 
hat  hier  das  neutestamentliche  6  xvptog  i^iäv  'Itjöovg  Xpiörög  ein- 
gewirkt; aber  dieses  wiederum  wird  von  semitischer  Redeweise 
beeinflußt  sein.  Über  die  Bedeutung  und  den  Ursprung  des  Kyrios- 
Titels  für  Jesus  hat  W.  Bousset  in  seinem  Werk  „Kyrios  Christos, 
Geschichte  des  Christusglaubens  von  den  Anfängen  des  Christen- 
tums bis  Irenaeus"  (Göttingen  1913)  ausführlich  gehandelt.  Er 
weist  nach,  da£  der  Titel  6  xvgiog  erst  in  den  paulinischen  Briefen 
zur  Geltung  kommt,  daß  6  xvgiog  iniav  'Irjaovg  Xgtörög  eine  ste- 
hende Formel  ist  und  daß  der  Zusatz  ^/iöv  eben  fast  nur  in  dieser 
Formel  vorkommt.  Über  das  Verhältnis  von  xvgiog  zum  aramäi- 
schen märä,  soweit  es  für  Jesus  in  Betracht  kommt,  spricht  Bousset 


Anredeformen  in  erweiterter  Bedeutung.  99 

auf  S.  99,  femer  in  seiner  zweiten  Schrift  „Jesus  der  Herr''  (Got- 
tingen 1916),  S.  13  ff.  Auf  diese  Fragen  kann  hier  nicht  näher 
eingegangen  werden.  Es  genügt  hier  festzustellen,  daß  die  Form 
mit  dem  Zusatz  „unser"  wahrscheinlich  auf  semitische  Vorbilder 
zurückgeht  und  dort  aus  der  Anredeform  entstanden  ist.  Natür- 
lich ist  dann  der  Ausdruck  auch  in  alle  morgenländischen  und 
abendländischen  Übersetzungen  übergegangen ;  man  vgl.  unser  Herr, 
2\otre  Seigneur,  our  Lord  u,  a.  m.  Während  nun  bei  Paulus  6  xvgiog 
sowohl  wie  6  xvQiog  ij^äv  Jesum  bezeichnet,  macht  das  Syrische 
den  Unterschied  niäryä  „der  Herr"  =  Gott,  und  märan  „unser 
Herr"  =  Jesus.  Derselbe  Unterschied  findet  sich  wohl  in  den 
meisten  Sprachen  christlicher  Völker.  In  diesem  Unterschiede  sind 
wahrscheinlich  Altes  und  Neues  Testament  eine  Verbindung  ein- 
gegangen, und  zwar  ersteres  in  seiner  griechischen  Übersetzung, 
in  der  6  xvqlos  für  ^adönäi  (s.  oben  S.  96)  steht.  Die  Hinzusetzung 
des  Suffixes  ist  eben  semitisch,  die  Weglassung  ist  hellenistisch- 
griechisch;  das  haben  Bousset  und  Dahnan  nachgewiesen.  So 
würde  märyä  als  Bezeichnung  Gottes  im  Syrischen  auf  das  Grie- 
chische zurückgehen.  Aber  die  ganze  Frage  verdiente  noch  eine 
eingehendere  Untersuchung. 

Andererseits  bezeichnet  „unser  Herr"  im  Orient  seit  alter 
Zeit  und  bis  auf  den  heutigen  Tag  vielfach  den  Landesfürsten. 
So  heißt  es  in  der  Lehre  des  Apostels  Addai  märan  Tlherls  qesar 
„unser  Herr  Tiberius  Caesar",  vgl.  Brockelmaoin,  1.  c,  S.  12,  II, 
Z.  2;  märan  qesar  Tlherls,  ib.,  S.  16,  Z.  22.  Ebenso  heißt  auch  in 
einer  alten  Chronik  der  König  Abgar  von  Edessa  „unser  Herr 
König";  vgl.  märan  Ahgar  malM,  ib.,  S.  21,  Z.  11;  S.  23,  Z.  2—3; 
und  nur  märan  malkä,  ib.,  S.  22,  Z.  4.  Gemeint  ist  Abgar  IX.,  der 
Große,  der  von  179 — 216  regierte.  Diese  Bezeichnung  hängt  natürlich 
zusammen  mit  dem  griechischen  und  lateinischen  Titel  der  römischen 
Kaiser  6  xvqlos  riuäv  und  D"N  (=  dominus  noster).  Wahrschein- 
lich hat  der  Übergang  der  Anredeform  in  die  Normalform  bei 
dieser  Bezeichnung  im  Orient  stattgefunden,  da  dort  Vokativ  und 
Nominativ  der  Form  nach  nicht  verschieden  waren.  Dann  wären 
der  griechische  xmd  der  lateinische  Titel  aus  dem  Orient  gekommen. 

Entsprechend  seinen  beiden  Bedeutungen  kann  märan  auch 
kurz  nach  einander  einmal  den  Landesfürsten  und  einmal  Christus 
bedeuten ;  gleich  hinter  der  soeben  angeführten  Stelle  aus  Brockel- 
mann's  Chrestomathie,  S.  16,  Z.  22,  heißt  in  Z.  23  märan  „Christus". 

Das  Femininum  ist  niärta  „Herrin",  mit  Suffix  der  1.  Pers. 
Sing,  märt  (ursprünglich  *märti).  Diese  Form  wird  auch  außerhalb 
der  Anrede  gebraucht,  und  zwar  naturgemäß  besonders  für  Maria. 


100  E.  Littmann, 

Ein  anderes  syrisches  Wort  für  „Herr"  ist  rahbä.  Dies  wird 
eher  mit  dem  Suffix  der  1.  Pers.  Plur.,  als  mit  dem  des  Sing, 
verbunden,  und  rabhan  „unser  Herr"  bezeichnet  den  „Abt  eines 
Klosters"  oder  den  „Patriarchen",  kommt  im  Neuen  Testament 
aber  auch  für  Christus  vor;  so  z.  B.  Mark.  14,14,  wo  im  Griechi- 
schen 6  diödexakog  steht. 

In  einem  nur  durch  Inschriften  überlieferten  aramäischen  Dia- 
lekt, dem  Nabatäischen,  kommen  die  lateinisch  -  griechischen 
Namen  fast  immer  in  der  Nominativ-Form  vor;  nur  einmal  findet 
sich  ''LKSY  =  Alexios.  Diese  Namen  sind  in  meinen  Nabataean 
Inscriptions,  Leiden  1914,  S.  XVII,  aufgezählt.  Vielleicht  deutet 
dies  darauf  hin,  daß  im  Nabatäischen  solche  Namen  nicht  recht 
volkstümlich  waren  und  auch  nicht  im  lebendigen  mündlichen  Aus- 
tausch übernommen  wurden. 

Auch  bei  den  Nabatäern  wurde  der  Landesfürst  „unser  Herr" 
genannt.  In  Nab.  Inscriptions,  Nr.  28,  Z.  2  ist  MKN"  der  Naba- 
täer- König  Mälik  II.,  der  von  40 — 75  n.  Chr.  regierte;  ebendort 
in  Nr.  101,  Z.  1,  in  einer  Inschrift,  die  aus  dem  Jahre  29/30 
n.  Chr.  stammt,  und  zwar  aus  einem  Orte,  der  damals  nicht  zum 
Nabatä erreiche  gehörte,  ist  MRN''  der  Tetrarch  Philippos.  "Wahr- 
scheinlich ist  in  der  Inschrift  Nr.  72  mit  MKN  der  König  der 
Nabatäer  gemeint.  Die  kurze  Inschrift  lautet:  „Dies  ist  der  're- 
servierte Platz  unseres  Herrn'  Mälik".  Über  die  Einzelerklärung 
vergleiche  man  meinen  Kommentar  zu  der  Inschrift  und  Lidzbarski,. 
Ephemeris,  III,  S.  293. 

Andererseits  wird  der  Vertreter  des  Landesfürsten,  also  der 
Mann,  mit  dem  die  Untertanen  zunächst  in  Berührung  kommen^ 
„unser  Herr"  angeredet.  So  heißt  heute,  wie  wir  unten  S.  103 
sehen  werden,  der  türkische  Statthalter  des  Qigäz  efendma.  So 
hießen  aber  auch  schon  im  5.  Jahrh.  v.  Chr.  die  persischen  Statt- 
halter in  Ägypten  und  in  Jerusalem  MKN;  mit  diesem  Titel 
werden  sie  in  den  Überschriften  der  Papyrusurkunden  von  Ele- 
pbantine  bezeichnet. 

Im  Anschluß  an  die  nabatäischen  Namensformen  sei  erwähnt, 
daß  die  in  Schürer's  Verzeichnis  der  Personennamen  in  der  Mischna 
sich  findenden  griechischen  und  lateinischen  Namen  ausnahmslos 
im  Nominativ  stehen  und  auf  -ös  oder  -äs  enden. 

Ein  Beispiel  aus  dem  Neusyrischen  von  Ma'lölä  teilte  mir 
Prof.  Th.  Nöldeke  noch  ganz  vor  Kurzem  mit.  In  jenem  Dialekt 
liegt  den  Formen  fiir  Vater  durchweg  öh  zugrunde;  so  heißt  öbu 
„sein,  bezw.  ihr  Vater",  öhu}^  „dein  Vater"  u.  s.  w.  Dies  lange  ö 
entspricht   eben   altsyrischem   d,    und   altsyrisch   sagt   man   ^{Ü)(i) 


Anredeformen  in  erweiterter  Bedeatong.  101 

^mein  Vater" ;  diese  Form,  mit  langem  a,  war  ursprünglich  Vokativ- 
form, wurde  dann  aber  zur  Normalform,  mit  dem  Suffix  der  1.  Pers. 
Sing.  Ebenso  gehen  im  Syrischen  auch  die  Formen  (lh(ij  „mein 
Bruder**,  häm(i)  „mein  Schwiegervater",  bär(i)  „mein  Sohn"  auf 
die  Anrede  zurück. 

Im  Armenischen  sind  die  Vokativformen  der  griechischen 
Eigennamen  bei  weitem  nicht  so  gebräuchlich  wie  bei  den  Syrern; 
meist  enden  die  übernommenen  griechischen  Eigennamen  auf -o.«?.  Zwar 
führt  Aucher  in  dem  Eigennamenverzeichnis  zu  seinem  Dictionnaire 
Armenien  -  fran9ais  eine  Anzahl  von  griechischen  Namen  ohne  En- 
dung an,  wie  z.  B.  Alek'sandr  (neben  AhU sandros)  für  Alexander, 
Prohl  (neben  Prokios)  für  Proclus;  aber  er  hat  auch  viele  moderne 
nnd  europäische  Namensformen  und  kommt  daher  für  uns  hier 
weniger  in  Betracht.  Die  alten  Formen,  aus  dem  4.  und  5.  Jahr- 
hundert, sind  in  Hübschmann' s  Armenischer  Grammatik  S.  333  ff. 
zusammengestellt.  Daraus  ergibt  sich,  daß  die  auf  -tog  endigenden 
Namen  gerade  so  wie  im  Syrischen  häufig  ihre  Endung  verlieren; 
vgl.  Basil  =  Baöiksiog,  Levond  =  Asovxiog  u.  a.  m.  Einmal  hinter- 
läßt die  Endung  ein  »',  in  Etdali  =  Evkahog,  einmal  ein  e,  in  Me- 
Ute  =  Mskexios;  beide  stammen  aus  der  Moskauer  Ausgabe  des 
Elisaeus.  Bei  Namen  auf  -og  ist  die  Endung  in  alter  Zeit  immer 
«rhalten;  aus  späterer  Zeit  führt  Hübschmann  noch  an  Kostandin 
=  KojvGxavTlvog^  K'ristap'or  =  XQiGtotpögog  u.  a.  m.  Von  Namen 
auf  -as  gibt  er  T'öma  =  Bcafiäg;  aber  hier  könnte  die  semitische 
Endung,  ohne  -s,  vorliegen.  Eine  Vokativform  auf  e  gibt  er  nicht, 
man  müßte  denn  Melite  (für  *Meletie)  als  eine  solche  ansehen. 

Anders  liegt  die  Sache  im  Georgischen.  C.  F.  Andreas  machte 
mich  darauf  aufmerksam,  daß  in  der  georgischen  Übersetzung  des 
Physiologus  alle  Eigennamen  im  Vokativ  vorkommen;  in  Th,  Kluge*s 
Übersetzung  (Wiener  Zeitschr.  f.  d.  Kunde  d.  Morgenl ,  XXVlIi, 
S.  119  ff.)  findet  sich  sehr  häufig  iv  k'e  =  „Jesu  Christe"  im  Nomi- 
nativ, femer  iowane  (=  Johannes),  paicle  (=  Paulus),  petre  (=  Pe- 
trus) u.  a.  m.  Th.  Kluge  nimmt  an,  der  georgische  Physiologus 
sei  nicht  aus  dem  Armenischen,  sondern  aus  dem  Griechischen 
übersetzt.  Die  Formen  der  Eigennamen  scheinen  dafür  zu  sprechen. 
Aber  Andreas  verwies  mich  auf  die  Stelle,  an  der  gesagt  wird, 
der  Phönix  komme  "in  die  stadt  areg"  (Kluge,  1.  c,  S.  130),  und 
erkannte  scharfsinnig,  daß  hiermit  nur  die  armenische  Übersetzung 
von  Heliopolis  „Sonnenstadt"  gemeint  sein  kann.  Die  Formen  der 
Eigennamen  haben  die  Georgier  jedoch  von  anderswoher  bezogen; 
ob  von  den  Griechen  oder  von  den  Syrern,  kann  ich  nicht  fest- 
stellen. 


102  E.  Littmann, 

Im  Koptischen  sind  die  Vokativformen  der  Namen  auf  -os 
und  -log  sehr  gewöhnlich.  Stern  führt  in  seiner  Koptischen  Gram- 
matik, S.  78,  §  170  aus  dem  Sahidischen  an  George,  Theodore,  Ma- 
Jcare,  Maximine,  Petröne,  aus  dem  Boheirischen  Makari.  Das  Bo- 
heirische  behält  also  bei  Namen  auf  -log  den  i-Laut  bei,  während 
er  im  Sahidischen  dem  e  der  Vokative  von  Namen  auf  -og  ange- 
glichen ward;  das  wurde  natürlich  durch  die  sahidische  Endung 
-e,  die  boheirischem  -i  entspricht,  begünstigt.  Die  griechischen 
Eigennamen  im  Koptischen  bieten  also  ein  neues  Beispiel  dafür, 
wie  lebhaft  der  mündliche  Austausch  zwischen  Griechen  und  Ägyp- 
tern gewesen  ist.  Aber  die  Formen  auf  -os  kommen  auch  im 
Koptischen  vor,  und  zwar  in  höherer,  literarischer  Sprache.  Die 
Namen  der  Apostel  Paulos  und  Petros  stehen  im  Neuen  Testament 
durchaus  in  dieser  Form;  darauf  wies  mich  K.  Sethe  hin. 

Im  Arabischen  sind  es  wiederum  die  Worte  für  „Herr",  die 
mit  dem  Suffixe  der  1.  Pers.  Sing,  und  der  1.  Pers.  Plur.  ver- 
bunden aus  der  Anrede  auf  andere  Kasus  übertragen  und  für 
Gott,  Heilige,  Landesfürsten  und  Männer  in  hervorragender  Stel- 
lung gebraucht  werden.  Es  handelt  sich  um  die  Worte  salyid 
(später  sid),  maulä,  ralb  und  das  griechisch  -  türkische  effendi  (aus 
av^Evrrjg,  neugriech.  afpendl).  Der  Muslim  spricht  vom  sidi  (auch 
abgekürzt  zu  s?),  wörtlich  „mein  Herr",  bei  seinen  Heiligen,  wie 
der  Syrer  vom  mär;  der  christliche  Araber  vom  saiyidna  (sidna), 
„unser  Herr",  d.i.  Christus,  und  von  der  sittl,  „meine  Herrin",  d.  i. 
Maria,  wie  der  Syrer  von  märan  und  märt.  In  dem  von  Nöldeke 
herausgegebenen  und  übersetzten  hübschen  Märchen  vom  Doctor 
und  Garkoch  (Abh.  d.  Berl.  Akad.  1891),  S.  48,  Z.  6  erscheint  "der 
Maghribi  Mauläja  Muhammed  aus  Fes" ;  der  ist  natürlich  wie  alle 
Maghrebiner  ein  großer  Zauberer  und  hat  daher  Anspruch,  ;,mein 
Herr"  angeredet  und  genannt  zu  werden.  Dasselbe  Wort  mit  dem 
Suffix  der  1.  Pers.  Plur.,  maulänä  „unser  Herr",  bezeichnete  zur 
Zeit  der  Mamlukensultane  den  Landesfürsten;  der  Titel  kommt 
öfters  in  Inschriften  vor,  vgl.  z.  B.  meine  Semitic  Inscriptions, 
Arabic  Inscriptions  26,  27,  31,  34  a  u.  a.  m.  Andererseits  bezeichnet 
aber  dasselbe  Wort  auch  den  Gelehrten  und  den  Derwischheiligen. 
Bei  den  muhammedanischen  Indern  ist  jeder  Gelehrte  ein  Maulänä; 
ja,  man  kann  dort  auch  von  „unserem  Maulänä"  sprechen.  Und 
der  Derwischheilige  Mewlänä  Öeläl  ed-Din  Rümi  ist  allgemein 
bekannt ;  er  wird  sogar  oft  als  Mewlänä  schlechthin  bezeichnet.  — 
Die  neuarabische  Bezeichnung  der  Großeltern  als  sid(i)  und  siit(l) 
geht  ebenfalls  auf  die  Anrede  zurück;  dazu  vgl.  auch  das  amha- 
rische  ahiitöy  unten  S.  106  f. 


Anredeformen  in  erweiterter  Bedentong.  103 

Unter  den  heutigen  ägyptischen  Arabern  ist  rabhtina,  „unser 
Herr"  eine  Bezeichnung  für  „Gott".  Mit  dem  Suffix  der  1.  Pers. 
Sing,  ist  rabbi  im  eigentlichen  Arabisch  wohl  stets  Anredeform 
geblieben;  aber  in  einigen  afrikanischen  Sprachen  hat  dies  Wort 
die  Bedeutung  -Gott"  erhalten,  wie  unten  auszuführen  ist.  Eben- 
falls in  Ägypten  wird  das  Wort  äfänd'mä  „unser  Herr""  allgemein 
für  den  Chediven  gebraucht ;  in  Spiro's  Arabic-English  Vocabulary 
wird  S.  14  afandyna  durch  „His  Highness  the  Khedive"  übersetzt. 
In  Mekka  dagegen  nennt  man  den  türkischen  Wäli  (Statthalter) 
efendinä;  vgl.  Snouck  Hurgronje,  Mekkanische  Sprichwörter  und 
Redensarten,  S.  71,  Anm.  2;  S.  72,  Z.  1—2;  S.  108,  Anm.  4. 

Recht  bezeichnend  ist  im  heutigen  Ägypten  auch  der  Unter- 
schied zwischen  den  Formen  ihtä  (bezw.  tistä,  ustä)  und  ustäs. 
Beide  gehen  auf  das  persische  Wort  ustää  „magister,  doctor"  zu- 
rück. Erstere  ist  die  volkstümliche  und  bezeichnet  hauptsächlich 
den  „Handwerksmeister" ;  der  „Kutscher^  wird  auch  so  genannt, 
aber  gewöhnlich  nur  in  der  Anrede  (yä-ustü  oder  yä-stä),  während 
man  sonst  von  ihm  als  'ar(a)bdgl  spricht.  Letztere,  ustäz,  ist 
die  literarische  und  bezeichnet  den  „Gelehrten "^  oder  „Professor"; 
vielleicht  ist  sie  sogar  erst  künstlich  wieder  ins  Leben  gerufen. 
Im  Arabischen  wird  beim  Anruf  der  Ton  weit  zurückgezogen,  und 
das  Ende  des  Wortes  wird  dann  häufig  verkürzt.  Somit  ist  auch 
üsta  eine  Anrufeform.  Dann  würden  sich  listä  und  ustds  zu  ein- 
ander verhalten  wie  die  <?-Formen  der  Eigennamen  zu  den  os-For- 
men  im  Syrischen,  Koptischen  und  Äthiopischen. 

In  anderer  Weise  ist  im  Arabischen  ein  Anruf  zu  einem  Eigen- 
namen geworden,  der  dann  für  alle  Kasus  stehen  kann.  Das  ist 
der  Name  Babbah,  ein  Beiname  des  'Abdallah  ihn  al-HäriJ);  vgl. 
Wüstenfeld,  Register  zu  den  genealogischen  Tabellen  der  Arabi- 
schen Stämme  und  Familien,  S.  15,  vorletzter  Absatz,  und  Ibn 
Doreid's  genealogisch-etymologisches  Handbuch,  hrsgg.  v.  Wüsten- 
feld, S,  44,  Z.  7  ff.  Der  Name  stammt  aus  der  Kinderstube ;  der 
kleine  Knabe  wurde  Babbah  genannt,  weil  er  viel  nach  seinem 
„Babba"  rief.  Ein  Kindervers,  den  Babbahs  Mutter  dem  Kleinen 
vorsang,  ist  bei  Ibn  Doreid  überliefert.  —  Dieser  Abschnitt  könnte 
noch  durch  viele  Parallelen  vermehrt  werden,  aus  den  semitischen 
sowohl  wie  aus  anderen  Sprachen.  Es  genügt  aber,  auf  Xöldeke's 
Beiträge  zur  Semitischen  Sprachwissenschaft,  S.  90  ff.,  besonders 
S.  93—94,  zu  verweisen  ;  ferner  auf  Kretschmer's  Einleitung  in  die 
Geschichte  der  griechischen  Sprache,  S.  334  ff.,  sowie  auf  die  von 
Nöldeke  und  Kretschmer  in  den  Anmerkungen  angeführte  Literatur. 
Daß  alle  LaUnamen  auf  Anrufe  zurückgehen,   will  ich  durchaus 


204  E.  Littmann, 

nicht  behaupten;  in  vielen  Fällen  können  es  natürlich  auch  Aus- 
rufe sein.  Allein  es  ist  unmöglich,  in  der  Kindersprache  zwischen 
Anruf  und  Ausruf  reinlich  zu  scheiden.  Ebenso  ist  es  schwer  fest- 
zustellen, ob  Eigennamen,  die  mit  einem  Suffix  der  1.  Pers.  Sing, 
gebildet  sind,  ursprünglich  als  Vokativformen  oder  als  Nominativ- 
formen gedacht  sind.  Solche  Namen  wie  „mein  Sohn",  „mein  Söhn- 
chen",  „meine  Tochter",  „mein  Junge",  „meine  Rose"  u.  s.  w.  sind 
von  Nöldeke,  1.  c,  S.  91  in  großer  Zahl  angeführt.  Natürlich  kann 
der  Vater  beim  Anblick  des  Neugeborenen  sagen  „das  ist  mein 
Sohn",  und  hier  kann  der  Name  „mein  Sohn"  auf  einen  Aussage- 
satz zurückgehen  und  von  jeher  im  Nominativ  gestanden  haben. 
Die  allermeisten  dieser  Namen  jedoch  werden  auf  Anredeformen 
zurückgehen.  Andererseits  ist  es  bezeichnend,  wenn  im  heutigen 
Ägypten  die  Europäer  arabische  Anredeformen  nicht  in  ihrer  eigent- 
lichen Bedeutung  erkennen  und  anders  verwenden.  Im  Arabischen 
heißt  abüyä  ,,mein  Vater"  und  dhüyä  ,,mein  Bruder".  Von  Deut- 
schen in  Ägypten  habe  ich  gehört:  „Das  Kind  ruft  immer  nach 
seinem  abüyä*^  oder:  „Wie  der  Kerl  in  Not  ist,  kommt  sein  ahuyä 
und  hilft  ihm".  Die  Europäer  haben  gehört,  wie  die  arabischen 
Kinder  immer  abüyä  rufen  und  wie  Erwachsene  einander  mit  a^üyä 
anreden.  Das  ist  eine  genaue  Parallele  zur  Übernahme  der  grie- 
chischen Namen  im  Vokativ. 

Über  das  arabische  abüna  als  Bezeichnung  der  Greistlichen  s. 
unten  S.  105. 

Im  Äthiopischen  haben  die  griechischen  Eigennamen  im  allge- 
meinen immer  die  Endung  -ös.  Das  war  auch  zu  erwarten,  da 
eine  lebendige  Berührung  zwischen  Grriechen  und  Abessiniern  nur 
wenig  stattgefunden  hat,  obgleich  ein  König  von  Aksum  der  grie- 
chischen Sprache  mächtig  war  und  obgleich  einige  griechische  In- 
schriften auf  altaksumitischem  Boden  gefunden  sind ;  vgl.  die  Adu- 
litana  und  meine  Ausgabe  der  anderen  Inschriften  in  Bd.  IV  der 
Deutschen  Aksum -Expedition.  Die  meisten  griechischen  Namen 
wurden  eben  schriftlich  aus  dem  griechischen  Alten  und  Neuen 
Testament  oder  aus  Apokryphen,  Pseudepigraphen  und  theologi- 
schen Werken  herübergenommen.  Das  hindert  freilich  nicht,  daß 
bereits  in  alter  Zeit  solche  griechische  Namen  aus  der  heiligen 
Literatur  auch  in  das  Volksleben  eindrangen;  in  der  Tat  finden 
sich  unter  den  Graffiti  von  Cohaito  auch  griechische  Namen  aus 
alter  Zeit,  vgl.  Aksum-Expedition,  Bd.  IV,  Nr.  40 — 100.  Dabei  zeigt 
sich  hin  und  wieder  auch  der  Unterschied  zwischen  geschriebener 
und  gesprochener  Form ;  so  wurde  der  Name  Koöfiag  vielfach  Koa- 
mas  gesprochen,   und  daher  kommt  im  Griechischen  wie  im  Syri- 


Änredeformen  in  erweiterter  Bedeatang.  105 

sehen  und  Äthiopischen  neben  der  Schreibung  mit  s  auch  die  mit 
s  vor. 

Nun  bietet  aber  die  äthiopische  Literatur  auch  eine  Anzaiil 
von  griechischen  Namen  in  der  Vokativform  und  zwar  in  merk- 
würdig wechselnder  Schreibweise.  So  Antönä  und  Andöm  neben 
Antonios;  Bäula,  Bülä,  Pauli  neben  dem  gewöhnlichen  Paulos; 
Tädrä  neben  Tiödörös;  Qüsmä,  Qasmä  neben  Qösmös  {Ko6(ucg);  Ki- 
rynk  neben  Keryäkös  (KvQiaxos)  u.  a.  m.  Diese  Namen  verdienten 
einmal  eine  genauere  Untersuchung;  dabei  wird  sich  wahrschein- 
lich herausstellen,  daß  sie  sämtlich  auf  koptisch  -  arabische  und 
allenfalls  gelegentlich  auf  syrische  Vorbilder  zurückgehen. 

Eine  äthiopische  Anredeform  ist  ahüna  „unser  Vater".  Dies 
ist  die  Bezeichnung  für  den  Metropoliten  der  abessinischen  Kirche 
geworden.  Man  redet  allgemein  vom  Ahüna  oder,  in  verkürzter 
Form  Ahün.  In  Nordabessinien  werden  auch  die  Abte  der  Klöster 
so  genannt ;  vgl.  Guidi,  Vocabolario  Amarico-Italiano,  Sp.  455.  Frei- 
lich nennen  ebenfalls  die  koptischen  Christen  in  arabischer  Sprache 
ihren  Patriarchen  ahünä,  und  gebrauchen  diesen  Titel  auch  ziemlich 
allgemein  für  Geistliche,  so  daß  Spiro  in  seinem  ägyptisch  -  arabi- 
schen Vocabulary  das  Wort  abüna  ohne  Weiteres  mit  „Reverend" 
übersetzt^).  Man  könnte  daher  annehmen,  daß  der  abessinische 
Sprachgebrauch  von  Ägypten  her  beeinflußt  wäre,  zumal  in  Hin- 
sicht auf  die  engen  kirchlichen  Beziehungen  zwischen  beiden  Län- 
dern. Aber  das  ist  nicht  nötig.  Solche  Anreden  entwickeln  sich 
selbständig  an  verschiedenen  Orten.  Neben  abüna  kommt  abüya 
„mein  Vater"  als  Anrede  an  Geistliche  und  Heilige  vor;  so  z.  B. 
häufig  in  dem  oben  S.  78  ff.  von  C.  Bezold  veröff'entlichten  Lob- 
gesang auf  den  heiligen  Gabra  Manfas  Qeddüs.  Und  andererseits 
ist  abba  ,.0  Vater",  der  Ehrentitel  der  Patriarchen,  Bischöfe,  Abte, 
Gelehrten,  Mönche  und  Einsiedler*),  ein  echt  äthiopischer  Vokativ. 
Neben  abbä  kommt  ferner  auch  die  Form  abbö  vor,  die  noch  die 
nachgesetzte  Vokativpartikel  ö  enthält.  Und  gerade  dies  Wort, 
das  man  etwa  durch  ,, Väterchen"  wiedergeben  könnte,  ist  zum 
volkstümlichen  Beinamen  des  in  Abessinien  viel  gefeierten  Gabra 
Manfas  Qeddüs  geworden;  s.  Bezold,  oben  S.  59.  Sogar  in  neu- 
gebildeten Eigennamen  kommt  diese  Form  vor;  so  hat,  woraxif 
auch  Bezold  hinweist,  Guidi  den  amharischen  Namen  Yäbbö-bäryä 
(d.  i.  „Kiiecht  des  Abbö")  nachgewiesen. 


1)  Dort  gibt  er  auch  an  abäna  ellazy  „the  Lord's  Prayer".    Die  Worte  be- 
deuten wörtlich  „unser  Vater,  der" ;  vgl.  oben  S.  95  «u  „Vaterunser". 

2)  Vgl.  Dillmann,  Lexicon,  col.  755. 


106  E.  Littmann, 

Die  Bezeichnung  des  Vaternnsers  ist  im  Äthiopischen  abüna 
sa-la-samäyät  „unser  Vater,  der  [du  bist]  im  Bimmel" ;  dieser  Aus- 
druck wird  wie  Paternoster,  Vaterunser  u.  s.  w.  als  eine  Art  Sub- 
stantiv gebraucht. 

Aus  dem  Amharischen,  der  Sprache  von  Mittel-  und  Süd- 
abessinien,  läßt  sich  zunächst  wieder  die  Anrede  an  den  Landes- 
fürsten hier  anführen.  Sie  lautet  allerdings  ganz  anders  als  in  dem 
Kulturkreise  des  Mittelmeers.  Während  wir  oben  eine  Anzahl 
verschiedener  Ausdrücke  für  „unser  Herr"  hatten,  haben  wir  im 
Amharischen  zänhöi  oder  gänhöi  „o  Elefant!".  Es  wird  zunächst 
in  der  Anrede  an  den  Kaiser  gebraucht,  wie  unser  „Majestät", 
dann  aber  auch  in  den  anderen  Kasus;  vgl.  u.  a.  Gruidi's  Vocabo- 
lario,  Sp.  637.  Neben  dieser  Form  mit  nachgesetzter  Vokativ- 
partikel scheint  auch  eine  andere  mit  vorgesetztem  ö  existiert  zu 
haben,  also  ögän  oder  öMn,  und  hierauf  geht  wahrscheinlich  der 
im  Westen  Afrikas  berühmte  Ogane  zurück;  vgl.  meine  Aus- 
führungen im  Internationalen  Archiv  für  Ethnographie,  Bd.  XXII, 
1915,  S.  263.  Über  die  Etymologie  dieses  Namens  ist  man  sich 
nicht  einig.  Die  Abessinier  selbst  wollen  darin  nur  das  Wort  für 
„Elefant"  sehen;  vgl.  Mittwoch  in  Zeitschr.  f.  Assyriologie,  XXV, 
S.  281  ff.  Ich  halte  dies  für  das  Richtige.  Nicht  nur  wird  der 
abessinische  Kaiser  offiziell  als  „Löwe"  bezeichnet,  sondern  in  ganz 
Afrika  gilt  „Elefant"  als  Bezeichnung  starker,  bedeutender  Men- 
schen, Helden  und  Herrscher.  So  kommt  das  Wort  oft  in  den 
von  mir  veröffentlichten  Tigre-Liedern  vor ;  in  dem  Dictionnaire  de 
la  langue  Tigrai'  von  Coulbeaux  und  Schreiber,  Wien  1915,  S.  21 
wird  als  Bedeutung  des  Wortes  harmäz  angegeben  „öl^phant ;  au 
fig.  homme  robuste,  tres  fort".  Und  ebenso  wenig  europäisch  wie 
die  Bezeichnung  des  Kaisers  als  Elefant  mutet  es  uns  an,  wenn 
der  Haussa-Sänger  seine  liebe  Frau  oder  seine  Geliebte  als  „Ele- 
fant" bezeichnet.  In  den  „Haussa-Sängem"  von  R.  Prietze  (Nach- 
richten der  Gott.  Ges.  d.  Wiss.,  Sitzung  vom  18.  Dez.  1916)  finden 
wir  I  14  folgenden  Vers : 

„Mich  liebte  niemand  auf  der  Welt 
Als  Rämatu,  der  Elefant". 
Rämatu  ist  die  Lieblingsfrau  des  Sängers.   Ebendort  1 169  heißt  es 
„Gruß  dir,  Tochter  des  Biri,  Nichte  des  Meisters  Magaii, 
Elefant,  Nichte  des  Maizägo". 

Im  Amharischen  wie  in  anderen  neuabessinischen  Sprachen  ist 
das  Wort  abet  (bezw.  ab^töY)  ein  Anruf  und  Ausruf,   der  oft  mit 


1)  Echt  ainharisch  wäre  at^U  zu  sprechen. 


Aoredeformen  in  erweiterter  Bedeutung.  107 

„Herr!"  zn  übersetzen  ist.  In  Schoa  wird  er  auch  statt  ganJiöi 
gebraucht.  Überall  ist  der  Ausdruck  auch  in  andere  Kasus  über- 
gegangen und  abetö  oder  die  verkürzte  Form  atö  wird  namentlich 
in  Südabessinien  für  „Herr"  im  allgemeinen  gebraucht;  vgl.  Guidi's 
Vocabulario,  Sp.  454  u.  457.  Vielleicht  ist  dies  atö  auch  in  dem 
Tigre- Namen  "atö  enthalten,  da  ja  „Meister,  Herr,  Master,  Lemaitre, 
Lord"  u.  a.  auch  in  Europa  als  Familiennamen  vorkommen;  vgl. 
Publ.  of  the  Princeton  Exped.  to  Abyssinia,  Vol.  11,  S.  181,  Nr.  771. 
Die  Etymologie  von  abet(ö)  bietet  Schwierigkeiten;  auch  die  von 
mir  in  Zeitschr.  f.  Assyr.,  XXV,  S.  '622t,  vermutete  Ableitung 
ist  doch  recht  unsicher.  Hier  kommt  es  aber  nur  darauf  an,  daß 
das  Wort  aus  der  Anrede  auch  in  die  anderen  Kasus  übergegangen 
ist.  In  einem  altamharischen  Kaiserlied,  Guidi,  Le  Canzoni  Geez- 
Amarina,  Rom,  Rendiconti  Acc.  dei  Lincei,  1889,  Nr.  VII,  V.  2, 
habe  ich  alstäöö  übersetzt  „sein  Ahne";  vgl.  Die  altamharischen 
Kaiserlieder,  Straßburg  1914,  S.  24.  Hier  scheint  ahet(ö)  ,,Herr" 
von  dem  Großvater  gebraucht  zu  sein,  genau  wie  in  neuarabischen 
Dialekten  std  „Herr",  sitt  „Herrin"  für  „Großvater"  und  „Groß- 
mutter"; dazu  vgl.  auch  Snouck-Hurgronje,  Mekkanische  Sprich- 
wörter, S.  81,  Anm.  2. 

Im  Tigre  sowie  in  den  nördlichen  Dialekten  des  Tigrina 
heißt  ,,Gott"  rähhl,  arabisch  wörtlich  „mein  Herr" ;  das  einheimi- 
sche Wort  für  „Gott"  ist  dort  fast  ganz  unbekannt.  Da  die  Suffix- 
bedeutung des  -~i  im  Tigre  ganz  verloren  gegangen  ist,  kann  man 
z.  B.  auch  sagen  räbbihii  ,,sein  Gott",  u.  a. ;  das  wäre  im  Arabischen 
undenkbar.  Dieser  arabische  Anruf  scheint  weit  in  Afrika  ver- 
breitet zu  sein.  Montandon,  Au  Pays  Ghimirra,  S.  339,  sagt  von 
einem  Erntefest  der  heidnischen  Galla:  „La  fete  se  nomme  en 
galla  Yarabbi,  mot  qui  n'a  pas  de  signification  en  amharique". 
Wenn  kein  Mißverständnis  seitens  des  Verfassers  vorliegt,  so  wird 
das  Fest  nach  dem  Anrufe  an  Gott  (yä  rdbhi  „o  mein  Herr")  be- 
nannt. Aus  Zentral  -  Afrika  möge  noch  das  Haussa  angeführt 
werden.  In  R.  Prietze's  oben  S.  106  erwähnten  Haussa  -  Sängern 
kommt  128  räbbi  und  130  rabba-na  als  Bezeichnung  Gottes  vor. 
Man  könnte  zunächst  schwanken,  ob  rabbi  wirklich  das  Suffix  der 
1.  Pers.  Sing,  enthalte,  da  arabische  Worte  mehrfach  mit  der  En- 
dung u(o),  t  oder  a  ins  Haussa  übernommen  werden.  Aber  jene 
arabischen  Worte  haben  meist  den  Artikel ,  und  so  glaube  ich  aus 
dem  Fehlen  des  Artikels  sowie  aus  der  Analogie  des  Tigre  u.  a. 
schließen  zu  müssen,  daß  hier  rabbi  wirklich  „mein  Herr"  bedeutet 
und  Anredeform  ist.  Bei  rabba-na  haben  wir  die  Wahl  zwischen 
dem  Haussa-Suffix  -na  „mein"  und  dem  arabischen  Suffix  -na  „unser". 


108  £•  Littmann, 

Somit  könnte  rabba-na  im  Haussa  gleichbedeutend  mit  rähbi  sein 
oder  dem  oben  erwähnten  ägyptisch-arabischen  rabbüna  entsprechen. 
Das  arabische  Suffix  -na  kommt  hie  und  da  im  Haassa  vor. 

Im  Ncupersischen  werden  die  Formen  amu  „Onkel  väterlicher- 
seits" und  ]iälu  „Onkel  mütterlicherseits"  nach  Andreas  für  alle 
Kasus  gebraucht.  Beide  sind  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  hypo- 
koristische  Anredeformen;  ersteres  würde  im  Syrisch- Arabischen 
"ammö  lauten.  Die  hypokoristische  Endung  -o  ist  im  Kurdischen, 
Neusyrischen,  Syrisch-Arabischen  sehr  verbreitet;  woher  sie  ur- 
sprünglich stammt,  bleibe  dahingestellt. 

Die  beiden  genannten  Wörter  sind,  wie  mir  Herr  A,  Siddiqi 
mitteilte,  auch  nach  Indien  gedrungen.  Im  Hindustani  wird  amu 
n  u  r  in  der  Anrede  gebraucht ;  in  den  anderen  Kasus  wendet  man 
ein  einheimisches  Wort  an.  Man  hat  aber  von  dieser  Form  ein 
Beziehungsadjektiv  gebildet,  das  man  gern  in  Adressen  anwendet, 
wo  die  Titel  gehäuft  werden,  so  z.  B.  genäb-i  ämvi.  Anders  steht 
es  mit  dem  Onkel  mütterlicherseits;  hier  hat  man  beide  Formen, 
mit  und  ohne  u,  und  man  unterscheidet  fiäl  ^,Bruder  der  Mutter", 
}iälu  „Mann  der  Schwester  der  Mutter". 

Aus  dem  Türkischen  sind  wiederum  eine  Anzahl  von  Wörtern, 
die  „Meister,  Herr,  Herrscher"  bedeuten,  in  der  erweiterten  An- 
redeform belegt.  So  weist  z.  B.  von  Le  Coq  in  seinen  Sprichwörtern 
und  Liedern  aus  Turfan  (Baeßler- Archiv  1910)  mehrfach  auf  solche 
Erscheinungen  hin.  Er  sagt  S.  1,  Anm.  3,  daß  in  Turfan  xögam 
(d.  i.  „mein  Herr")  in  gewöhnlichem  Sprachgebrauche  immer  für 
Xöga  (d.  i.  „Herr")  stehe.  Ahnlich  wird  äpändim  (=  osmanisch 
efendim  „mein  Herr")  dort  auf  S.  69  ff.  mehrfach  gebraucht.  Und 
S.  17  in  Nr.  68  sagt  von  Le  Coq:  „Man  spricht  vom  Fürsten  als 
"bägim  (d.  i.  „mein  Bey"),  yögatn,  x^am^  nicht  nur  in  der  Anrede". 
Endlich  vergleiche  man  noch  aus  von  Le  Coq's  Werk  räbbhn  AUä, 
S.  63,  Z.  2  V.  u.  und  S.  65,  V.  29,  als  Parallele  zu  dem  oben  S.  107 
genannten  räbbi. 

Diese  Formen  sind  ein  deutlicher  Hinweis  darauf,  daß  auch 
die  Wörter  beyum  und  Jianiim  (jetzt  meist  hanym)  das  Suffix  der 
1.  Person  enthalten  und  ursprünglich  Anredeformen  sind.  Das 
Wort  begiim  bedeutet  in  Zentral-Asien  und  in  Indien,  wohin  es 
durch  die  Mongolen  gelangt  ist,  „Prinzessin",  in  Persien  etwa 
„Dame''.  Die  (Grundbedeutung  wird  sein  „mein  Herr"  oder  „meine 
Herrin".  Freilich  wird  beg  (bey)  im  Osmanisch-Türkischen  nur  als 
Masculiniim  gebraucht,  aber  bei  dem  Mangel  des  grammatischen 
Geschlechts  im  Türkischen  kommen  manche  Vertauschungen  vor. 
So  wird  ja  gerade  auch  das  Wort  suJßn  als  Titel  der  türkischen 


Anredefonnen  in  erweiterter  Bedeutung.  109 

Prinzessinnen  gebraucht,  allerdings  wohl  immer  mit  vorhergehen- 
dem Eigennamen.  Andererseits  werden  auch  Frauen  mit  efendim 
angeredet;  vgl.  z.  B.  H.  Paulus,  Hadschi  Vesvese,  Erlangen  1905, 
S.  28,  letzte  Zeile.  Wenn  dieser  Gebrauch  von  efendim  auch  eine 
gewisse  Ähnlichkeit  hat  mit  der  französischen  Anrede  nwn  cheri  an 
weibliche  Personen  ^),  so  liegt  die  Sache  im  Türkischen,  eben  wegen 
des  Mangels  des  grammatischen  Geschlechts,  doch  wesentlich  anders. 
So  wird  in  Hadschi  Vesvese,  S.  38,  letzte  Zeile  z.  B.  eine  Araberin 
hadschi,  d.  i.  „Pilger**,  tituliert.  Wie  mit  beginn  so  steht  die  Sache 
auch  mit  iMtium.  Heute  wird  in  der  Türkei  jede  anständig  ge- 
kleidete Frau  hanym  genannt.  Bianchi-Kieffer  sagen  jedoch  in  ihrem 
Lexikon  I,  S.  737f. :  ^khänum.  Madame,  titre  que  Ton  donne  aux 
saltanes  et  aux  öpouses  du  grand  vizir,  et,  par  extension,  aux 
femmes  des  personnes  de  distinction".  Ich  glaube,  daß  hannm  in 
Jä«-Mw  zu  zerlegen  ist  und  daß  wir  hier  dasselbe  Wort  wie  J^n 
„Herrscher,  Fürst"  u.  s.  w.  haben.  Dies  Wort  mag  ursprünglich 
mongolisch  sein  (vgl.  Schmidt,  Mongolisch-deutsch-russisches  Wörter- 
buch, S.  126,  c),  und  auch  heg  mag  dorther  stammen.  Auf  die 
Etymologie  der  beiden  Stammwörter  kommt  es  hier  nicht  an,  son- 
dern darauf,  daß  beide  mit  dem  Suffix  der  ersten  Person  ver- 
bunden sind.  Vullers  gibt  in  seinem  persischen  Lexikon  die  Worte 
^näm,  begäm,  begä  für  „regis  nxor,  domina,  matrona".  Man  könnte 
sogar  versucht  sein  begäm  als  eine  Verkürzung  von  begä-äm  und 
b?gä  als  Femininum  von  beg  anzusehen.  Aber  das  ist  unmöglich. 
Ebenso  sei  hier  gleich  die  Möglichkeit  ausgeschaltet,  daß  hanäm 
etwa  ursprünglich  „mein  Haus"  bedeuten  könnte.  Zwar  nennt  der 
Orientale  seine  Frau  oft  „sein  Haus"  oder  „seine  Familie" ;  vgl. 
z.  ß.  türkisch  ehlim,  neuarabisch  el-'äyla.  Aber  hän  ist  hier  eben 
kein  persisches  Wort,  sondern  gehört  dem  Türkisch-Mongolischen 
an.  Wenn  die  Worte  hänäm  und  begäm  bei  Vullers  richtig  vokali- 
siert  sind,  so  können  sie  nur  persische  Nachbildungen  von  hanum 
und  beginn  sein.  Nach  Andreas  spricht  man  freilich  heute  auch  in 
Persien  nur  ]w,num  und  begutn;  die  Form  bSgä  ist  ihm  ganz  un- 
bekannt. Andererseits  aber  sind  im  Hindustani,  wie  mir  A.  Siddiqi 
mitteilt,  die  Formen  hänam  und  begam  gebräuchlich.  Diese  sind 
wahrscheinlich  durch  das  persische  Suffix  -am  beeinflußt;  dazu 
kommt  hinzu,  daß  man  in  Lidien  eine  besondere  Vorliebe  für  den 
a-Vokal  hat  und  ihn  gern  in  zweifelhaften  Fällen  einsetzt. 

Eine  schöne  Bestätigung  meiner  Aufi'assung  der  Form  hänwn 
wurde  mir  von  Andreas  freundlichst  mitgeteilt.    Er  verwies  mich 


1)  Vgl.  Tobler  in  Site.-Ber.  d.  Berl.  Akad.,  1908,  S.  1026  ff. 


110  E.  Littmann, 

zunächst  auf  R.  B.  Shaw,  A  Sketch  of  the  Turki  Language  as 
spoken  in  Eastem  Turkistan,  S.  107,  wo  über  das  Wort  fiän  ge- 
sagt wird  „king,  prince;  also  used  in  Käshgar  as  an  ending  for 
the  names  of  women  (not  of  men  as  in  India)  as :  Ai"  Khan  „moon- 
princess",  Mairam  Khan  „lady  Mary".  Und  femer  stellte  er  mir 
folgende  Bemerkungen,  die  er  sich  selbst  nach  Angaben  von  Ave- 
taranian  über  das  Osttürkische  gemacht  hatte,  zur  Verfügung: 
„Xänim,  Anrede  an  die  Frau  eines  vornehmen  Mannes  (nur  als 
Anrede  gebraucht).  —  Beglm  wird  in  KaSgar  nicht  als  Appellati vum 
gebraucht,  sondern  nur  als  Frauenname.  —  äyäca  ehrerbietige  Be- 
zeichnung der  Frau  eines  anderen,  wenn  man  zu  ihm  von  ihr 
spricht,  etwa  ""Frau  Gremahlin'".  Grerade  auch  der  weibliche  Ge- 
brauch von  a'yä{cä),  das  im  Osmanisch-Türkischen  und  im  Tatari- 
schen, soweit  mir  bekannt  ist,  nur  männlich  gebraucht  wird,  be- 
weist, daß  alle  diese  Titel  sowohl  männliche  wie  weibliche  Per- 
sonen bezeichnen  können,  daß  also  auch  Jiänum  und  bsgum  auf  ^än 
und  heg  zurückzuführen  sind. 

Die  alte  orientalische  Bezeichnung  des  Landesfürsten  als 
^unser  Herr",  die  uns  schon  in  verschiedenen  Sprachen  begegnet 
ist,  kehrt  auch  im  Osmanisch-Türkischen  wieder.  Der  offizielle 
Titel  des  Sultans ,  sowohl  in  der  Anrede  wie  aueli  sonst ,  ist 
efendimiz.  Statt  dessen  wird  aber  auch  vielfach  pädüähymyz  „unser 
Kaiser"  gesagt.  Diese  Form  ist  natürlich  ebenso  zu  beurteilen.  — 
Sodann  sei  noch  ermähnt,  daß  die  türkische  Ehefrau  von  ihrem 
Mann  mit  demselben  Worte  spricht,  mit  dem  sie  ihn  anredet, 
nämlich  efendim  „mein  Herr";  vgl.  Hadschi  Vesvese  36,  Z.  1.  13;  38, 
Z.H. 

Diese  Sammlung  könnte  noch  sehr  vermehrt  werden ;  doch  das 
Gebotene  mag  hier  genügen.  Fast  durchgängig  handelt  es  sich 
um  Eigennamen  oder  um  Worte  wie  „Herr,  Meister"  u.  ä.,  die 
ihren  Grebrauch  von  der  Anredeform  aus  verallgemeinert  haben. 
Nahe  verwandt  mit  dem  Vokativ  der  Substantiva  ist  der  Imperativ 
der  Verba.  Auf  die  erweiterte  Bedeutung  des  Imperativs  sei  hier 
nur  kurz  hingewiesen.  In  germanischen  sowohl  wie  romanischen 
Eigennamen  und  besonders  in  Beinamen  werden  häufig  Imperative 
mit  Substantiven  zu  einer  Einheit  verbunden.  Dasselbe  ist,  wie 
R.  Prietze  berichtet,  im  Haussa  der  Fall.  Im  Koptischen  werden 
bekanntlich  die  griechischen  Verba  stets  im  Imperativ  gebraucht; 
das  deutet  natürlich  wieder  auf  lebendige  Herübernahme,  da  die 
Kopten  von  den  Griechen  den  Imperativ  am  meisten  gehört  haben 
werden.  Zwei  bezeichnende  Parallelen  aus  dem  Neupersischen,  die 
ich,  wie  so  vieles  andere,  C.  F.  Andreas  verdanke,  seien  hier  an- 


Anredefonnen  in  erweiterter  Bedeutung.  111 

geführt.  Man  sagt  in  der  Umgangssprache  bidih  däräd  „er  hat 
Schulden"  und  veles  hin  „laß  ihn  los!".  Ersteres  bedeutet  wört- 
lich „er  hat:  gieb!",  d.h.  er  muß  das  Wort  „gieb"  oft  hören. 
Letzteres  heißt  wörtlich  „mache  sein  'laß-los'!*;  denn  vel  steht  für 
hiJiil.  In  beiden  Fällen  ist  ein  Imperativ  zum  Substantiv  geworden. 

Noch  anderer  Art  ist  der  Ausdruck  Jiätricin,  den  ich  in  Syrien 
für  „Bestechung"  mehrfach  hörte.  "Wenn  man  dem  Beamten  oder 
irgend  einem  hochgestellten  Herrn  eine  Gabe  bringt,  die  sein  Wohl- 
wollen herbeiführen  soll,  so  sagt  man  auf  Türkisch  ^ätyr  icün  „um 
der  Gesundheit  (des  Wohlbefindens)  willen!"  Daraus  haben  die 
Araber  mit  etwas  veränderter  Aussprache  des  türkischen  Wortes 
icün  „wegen"  das  Substantiv  Jyitricm  gebildet!  —  Im  Türkischen 
selbst  ist  aus  einem  Ausruf  ein  neues  Substantivum  entstanden; 
aus  }y)s  imdi  „gut,  warte  nur  ab!"  ist  Äo^j4n<7u  geworden,  und  dies 
wird  als  Substantiv  für  „Rache,  Racheplan"  gebraucht;  vgl.  Jacob, 
Türk.  Bibliothek  I,  S.  111 ;  Paulus,  Hadschi  Vesvese,  S.  18,  Anm.  3. 

Die  Frage  nach  der  Erweiterung  des  Imperativs  und  des  Aus- 
rufs sowie  die  Sammlung  von  weiterem  Material  zu  den  Anrede- 
formen sei  der  Mitarbeit  der  Fachgenossen  empfohlen! 


Spuren  der  Perserherrschaft 
in  der  späteren  ägyptischen  Sprache. 

Von 

Kurt  Sethe. 

Vorgelegt  in  der  Sitzung  vom  29.  Januar  1916. 

Die  Herrschaft  der  Perser  über  Ägypten,  die  von  525  bis 
404  V.  Chr.  gedauert  hat  und  dann  nach  etwa  60 jähriger  Unter- 
brechung noch  einmal  für  ein  kurzes  Jahrzehnt  (343 — 332)  erneuert 
wurde,  bis  ihr  Alexander  der  Große  für  immer  ein  Ende  bereitete, 
hat  in  der  langen  Geschichte  des  ägyptischen  Volkes  nur  eine 
kurze  Episode  gebildet,  die  für  das  Empfinden  der  Ägypter  in 
ihrer  Gesamtheit  niemals  den  Charakter  der  vorübergehenden 
lästigen  Fremdherrschaft  verloren  hat. 

Es  kann  daher  nicht  verwundern,  daß  diese  Episode  in  der 
Sprache  des  Landes  so  wenig  Spuren  hinterlassen  hat.  Was  als 
solche  angesehen  werden  kann,  ist  bezeichnenderweise  aramäischen 
Ursprungs  resp.  durch  das  Aramäische  vermittelt  und  bildet  so 
ein  neues  Zeugnis  für  die  altbekannte,  durch  die  Papyrusfunde 
von  der  Insel  Elephantine  so  glänzend  bestätigte  Tatsache,  daß 
das  Aramäische  die  offizielle  Staatssprache  des  persischen  Reiches, 
zum  mindesten  in  den  westlichen  Provinzen,  gewesen  ist. 

Sieht  man  von  Pflanzennamen  und  ähnlichen  Bezeichnungen 
ab,  die  jederzeit  und  überallhin  mit  dem  von  ihnen  bezeichneten 
Dinge   wandern  können^),   so   beherbergt  die  ägyptische  Sprache 


1)  Z.  B.  ofp-r   „Rose",  ilgm  (demotisch),   „Raps",  s.   Sethe-Partsch, 
Demot  Bürgschaftsurkunden  Nr.  9. 


Spuren  der  Perserherrschaft  in  der  späteren  ägyptischen  Sprache.       113 

der  griechisch-römischen  Zeit  (in  christlicher  Zeit  koptisch  ge- 
nannt), soviel  wir  sehen  können,  nur  ein  Wort,  das  persischer  Ab- 
kunft sein  und  zugleich  als  Zeuge  der  persischen  Herrschaft  über 
Ägypten  angesehen  werden  könnte:  p-rofe  sahid. :  ep-rofe  bohair., 
mit  zahlreichen  Varianten,  die  teils  dialektische  Nebenformen, 
teils  unortbographische  Schreibungen  darstellen  *),  die  Bezeichnung 
für  das  Kommaß  der  Ägypter,  den  ägyptischen  Scheffel,  die-  noch 
heute  in  Ägypten   in   der   arabischen  Form   *irdabbun  v^^',   heute 

gesprochen  ardeh^  (Pluralis  arädib),  fortlebt  und  der  in  den  grie- 
chisch-ägyptischen Urkunden,  von  den  Zeiten  der  Ptolemäer  an, 
das  von  Herodot  1 192  u.  a.  als  persisches  Maß  bezeugte  aQtäßrj 
entspricht. 

Dieses  Wort  agtußr]  wird  deshalb  seit  Lagarde  allgemein 
für  ein  persisches  Wort  angesehen,  wozu  sein  Klang  ja  auch  gut 
stimmen  würde;  gleichwohl  ist  dieser  Schloß  keineswegs  sicher. 
Ein  persisches  Maß  könnte  sehr  wohl  einen  aramäischen  Namen 
gehabt  haben. 

Aus  dem  Persischen  soll,  so  nimmt  man  an,  das  Wort  in  das 
Aramäische  als  'arrfaft'),  status  emphaticus  ^ardebä  oder  ^ardäbä 
(Pluralis  ^ardebin,  also  mask.)*),  sowie  in  das  Spät- Akkadische  (wie 
man  das  Assyrisch-Babylonische  neuerdings  nennt)  als  ardabi  über- 
gegangen sein*^).  Im  Armenischen  findet  es  sich  als  afdov^.  Auch 
im  syrischen  Arabisch  ist  es  als  ardib  oder  ardeb  heute  noch 
ebenso  zu  Hause  wie  im  ägyptischen  Arabisch. 

Es  fragt  sich  nun,  wann  und  wie  das  Wort  in  das  Ägyptische 


1)  Z.  B.  "pTd^fii  (achmimisch  beeinflußt),  &.pTo&  (griechisch  beeinfluBt), 
cp-xon  (bohairiscb)  usw.  Zahlreiche  Belege  bei  Crum,  Coptic  Ostraca,  Index. 
—  Zu  der  Schreibung  ep-xon  (Zoega  131  neben  ep-xofe  belegt)  vgl.  oTfOn  „rein 
werden"  für  *w'öh,  cain  „Rebell"  für  söb  (aus  *söb{et)),  g^in  ^Ibis"  für  Mb  (aus 
*hibeK)  usw.,  s.  mein  Verbum  I  §  210,  2. 

2)  Spiro,  Arabic-English  Vocabulary  gibt  ardabb  an. 

3)  So  3'TnS  im  jüdischen  Aramäisch  nach  Mitteilung  von  Zimmern. 

4)  Diese  Formen  verzeichnet,  wie  mir  Littmann  mitteilt,  Payne-Smith. 
Der  Singularis  STlS  und  der  Pluralis  pns  kommen  auch  in  den  von  Sa c hau 
herausgegebenen  aramäischen  Papyri  von  Elephantine  mehrfach  vor.  Zu  der  Form 
'art*bä  mit  t  statt  d  s.  u. 

5)  Zimmern,  Akkadische  Fremdwörter  als  Beweis  für  babylonischen  Kultur- 
einfluß (Leipzig  1915),  S.  22.  —  Das  Wort  ardabi  kommt,  wie  mir  Zimmern 
brieflich  mitteilt,  mehrfach  bei  Straßmaier,  Inschriften  des  Cambyses  Nr.  316 
(vgl.  Jensen,  Ztschr.  f.  Assyr.  13,  335flF.  Meißner,  Supplement  zu  den  assyr. 
Wörterbüchern  S.  16)  vor.    Statt  ardabi  könne  auch  artabi  gelesen  werden. 

6)  Lagarde,  Ges.  Abhandl.  17. 

Kgl.  Gm.  d.  Wi<%    Nacbriditen.    PUl.-Uft.  KImm.    1»1«.    Haft  I.  8 


114  Kurt  Sethe, 

gekommen  ist,  wenn  es  nicht  etwa  wider  Vermuten  ägyptischen 
Ursprungs  gewesen  ist  und  sich  von  Ägypten  ausgehend  in  um- 
gekehrtem Laufe  die  Welt  erobert  hat,  als  es  angenommen  wird. 
In  der  Ptolemäerzeit  ist  es  in  den  demotischen  Texten  nur  in- 
direkt und  nicht  völlig  unzweifelhaft  bezeugt.  Der  Umstand,  daß 
das  mit  dem  Ideogramm  des  Kornmaßes  ^  geschriebene  Wort  für 
„Scheffel",  dem  in  den  zugehörigen  oder  gleichzeitigen  griechischen 
Urkunden  der  Ausdruck  ij  aQvdßrj  (Femininum!)  entspricht^),  stets 
als  Maskulinum  behandelt  erscheint,  wie  das  kopt.  pvofc  und  die 
semitischen  Formen,  während  das  altägyptische  Äquivalent  dafür 
hJci.t  ein  Femininum  war,  laßt  die  von  den  Ägyptologen  allgemein 
angenommene  Lesung  rdh  oder  irdh  (s,  u.)  sehr  wahrscheinlich  er- 
scheinen. Die  im  Demotischen  so  häufige  Verbindung  pi  "f  n  sw^ 
„die  Artabe  Weizen"  ^),  die  in  dem  griech  Texte  der  Inschrift  von 
Rosette  einfach  durch  r^g  ccgrdßrjg  wieder^jegeben  ist^)  und  in  den 
demotischen  Urkunden  oft  zu  pi  sw  „der  Weizen"  abgekürzt  wird, 
zeigt  in  der  Tat  die  vollkommenste  Übereinstimmung  mit  dem 
irepToA  Tt-cofo  (z.  B.  Zoega  131),  das  ebenso  regelmäßig  als  feste 
Verbindung  in  den  koptischen  Texten  auftritt. 

Die  Verschiedenheit  des  (Tcschlechtes,  die  zwischen  dem  äg. 
rdb  (pxo£i)  und  dem  griech.  äQvdßr]  besteht,  macht  es  wahrschein- 
lich, daß  beide  Bezeichnungen  unabhängig  voneinander  waren,  daß 
beide  aus  einem  Stamme  entsprossene  Verwandte  waren,  nicht 
eine  die  Tochter  der  anderen.  Daiür  spricht  auch  das,  daß  sonst 
im  allgemeinen  die  ägyptischen  und  griechischen  Bezeichnungen 
für  ein  und  dasselbe  in  Ägypten  gebrauchte  Maß  nicht  identisch 
zu  sein  pflegen,  sondern  daß  in  der  Regel  die  Ägypter  eine  ägyp- 
tische, die  Griechen  eine  griechische  Bezeichnung  dafür  anwenden, 
z.B.  äg.  mh  («*.£e)  ::=  griech.  nrixvq  „Elle",  äg.  sti...lh  (ce^-oi^c) 
=  griech.  uQovga  „Morgen",  äg.  jtr  (*cioop)  =  griech.  öxoivog 
„Meile",  äg.  TpdJ  d  Kupfer-Kne)  =  griech.  ößolög  „Kupferobole", 
äg.  kd.t  2.t  (2  Silber-Riif)  =  griech.  atarrlQ  „4  Silberdrachmen"*), 
äg.  krkr  («'in<*'uipj*)  =  griech.  Ta>lavrov  „Talent"  usw. 


1)  Z.  B.  in.  der  unten  zitierten  Stelle  der  Inschrift  von  Rosette. 

2)  Die  Festigkeit  der  Verbindung  zeigt  sich  z.  B.  darin,  daß  man  für  „die 
6  Artaben  Weizen"  nie  pi  rdb  5  n  sw,  sondern  stets  pl  rdb  n  sw  5  sagt. 

3)  Demot.  17  =  griech.  3Ü  (Urk.  il  184). 

4)  Z.  B.  in  der  Formel,  die  den  Kurs  des  Kupfergeldes  angibt:  ftm<  kd4  24 
r  kd.t  2.t  „24  Kupfer-Kite  auf  2  Silber-Kite"  =  Xr]t^6(t,t&a  dßoXovs  xd'  slg  zbv 
azat^Qa.  Bei  der  Umrechnung  ägyptischer  Silherlinge  (hd  „Silber"  =  20 
Drachmen  =  1  dapetxöff)  in  Statere  {avatriQ  =  V^  SagsiiiSe)  wird  dagegen  stets 
daa  Wort  sür  (fem.!)  gebraucht,   das  auch   im  Kopt.  als  ce^Teepe  erhalten  ist 


Spuren  der  Perserherrschaft  in  der  späteren  ägyptischen  Sprache.       115 

Es  wird  also  voraussichtlich  die  ägtdßrj,  deren  griech.  Form 
uns  ja  in  der  Tat  schon  bei  Herodot  begegnet,  als  griechische 
Maßbezeichnung  mit  der  bereits  vorliegenden  ägyptischen  Bezeich- 
nung erdöh  auf  dem  Boden  Ägyptens  bei  der  makedonischen  Be- 
setzung des  Landes  zusammengetroffen  sein*).  Daß  das  Neben- 
einanderbestehen beider  Bezeichnungen  in  der  Ausdehnung  des 
persischen  Reiches,  das  einerseits  die  griechischen  Teile  Klein- 
asiens, andererseits  das  Niltal  einbegriff,  seine  Ursache  gehabt 
haben  wird,  wird  niemand  in  Zweifel  ziehen.  Dann  ist  aber  zu 
erwarten,  daß  das  Aramäische  die  Vermittlerrolle  bei  dem  Über- 
gang des  Wortes  in  das  Ägyptische  gespielt  habe,  und  wir  wer- 
den nach  etwaigen  Anzeichen  dafür  Ausschau  zu  halten  haben. 

Das  ägj'ptische  Wort  zeigt  die  Vokalisation  eines  echtägyp- 
tischen endungslosen  maskulinen  Nomens,    sei   es   nun   eines  drei- 


Es  ist  schwerlich  aus  dem  Griechischen  direkt  entlelmt,  sondern  gewiß  erst  durch 
Vermittlung  einer  andern  Sprache.  Als  Si^rO  findet  es  sich,  wie  mir  Littmann 
zeigte,  auf  dem  aramäischen  Gewicht  in  Löwengestalt  aus  Abydos  (de  Vogü6, 
Melanges  d'arch^ologie  Orientale  183),  als  "'imO  häufig  in  den  aramäischen  Pa- 
pyri von  Elephantine  (E<1.  Meyer,  Sitz.-Ber.  Berl.  Akad.,  Phil.-hist.  Kl.  1911, 
1034).    Die  kopt.  Form  sieht  aus,  als  ob  sie  aus  *staterje{t)  entstanden  wäre. 

5)  Das  semit.  1S3,  vermutlich  gleichfalls  ein  in  der  Perserzeit  in  das  Ägyp- 
tische übergegangener  Ausdruck.  Die  demotische  Schreibung  krkr  wird  eine  ety- 
mologisierende Wiedergabe  von  kikkör  sein,  wie  die  spätere  hieroglyphische 
Schreibung  smsm  für  das  alte  ssm  „Pferd"  (eig.  Pferdegespann,  STOIO,  gesprochen 
etwa  *süsem).  Da  das  Äg.  von  Haus  aus  Wörter  mit  identischem  ersten  und 
zweiten  Konsonanten  nicht  kennt  und  derartige  äg.  Wörter,  wo  sie  später  vor- 
liegen, meist  aus  Reduplikationen  durch  Ausfall  oder  Veränderung  eines  Konso- 
nanten hervorgegangen  sind  (z.  B.  s.va's.  »Kopf«  aus  *döidei,  RoyKTx  „Tjrmpanum'* 
aus  kemkem,  wie  das  Wort  im  Bohair.  noch  heißt),  glaubte  man  es  auch  bei  *ktkkör 
und  *süsem  mit  solchen  verunstalteten  Reduplikationen  zu  tun  zu  haben.  Die  kopt. 
Form  (^ina'oip  sabid.  (im  Bohairischen  zu  '&in(3'inp  geworden)  beruht  ihrerseits 
dann  wieder  auf  Dissimilation  von  *kikkör  (wie  syr.  ganbär,  aus  gabbär,  hebr.  "1133), 
wobei  eine  falsche  Etymologie  (vgl.  die  von  Infinitiven  gebildete  Nomina  actionis, 
wie  z.  B.  sahid.  -r-cs'in-canli.  „das  Hören"  =  bohair.  n-xm-caiTCju)  entweder 
mit  im  Spiele  oder  aber  die  Folge  gewesen  zu  sein  scheint.  Aus  ihr  würde  sich 
auch  der  lange  Vokal  ö  statt  des  zu  erwartenden  o  erklären;  er  ist  den  mask. 
Infinitiven  eigen.  Rätselhaft  ist,  daß  diese  Form  mit  Dissimilation  schon  in 
den  aramäischen  Elephantine-Papj-ri  aus  dem  Ende  des  5.  Jahrhunderts  vor  Chr. 
bezeugt  ist  ("{"«ISSD  „Talente"  in  dem  Schreiben  an  Bagoas,  Z.  28),  also  älter  als 
die  demotischen  Schreibungen  mit  krkr,  die  wiederum  zeitlich  zwischen  diesem 
knkr  und  dem  ihm  genau  entsprechenden  kopt  ö'ma'inp  stehen. 

1)  Im  Syrischen  kommt,  wie  mir  Litt  mann  sagt,  neben  der  oben  ange- 
führten mask.  Form  'ard*bä  auch  eine  fem.  Form  'art'bä  (Plur.  'art*bas)  mit  t 
vor,  die  nach  L.  auf  das  griech.  igtcißri  ztirückgehen  dürfte. 

8* 


116  Kurt  Sethe, 

konsonantigen  Stammes  rdh  mit  dem  vor  der  anlautenden  Doppel- 
konsonanz erforderlichen  Vorschlagsvokal  mit  Aleph  prostheticnm 
(wie  das  kopt.  ncgo-r :  enogo-x  „hart  werden"  vom  Stamme  'n'^t\  sei 
es  eines  vierkonsonantigen  Stammes  irdh  mit  dem  ersten  Radikale 
Aleph  (wie  das  kopt.  q-roo-v  „vier"  vom  Stamme  ifd,  mit  der 
Pluralendung  w).  In  der  letzteren  Form  liegt  das  Wort  in  der 
Tat  in  den  semitischen  Sprachen  vor. 

Im  Koptischen  haben  alle  echtägj^tischen  Wörter  nur  noch 
einen  vollen  Vokal  in  der  letzten  oder  vorletzten  Silbe,  auf  der 
der  Ton  ruht.  In  den  Nebensilben  ist  der  ursprünglich  vorhandene 
Vokal  stets  zu  einem  Hülfsvokal  e  (vor  gewissen  Konsonanten  zu 
ä  geworden)  verflüchtigt.  Dasselbe  ist  nun  auch  bei  unserem  Worte 
■p'xotrep'rot  der  Fall,  dessen  erste  unbetonte  Silbe  statt  des  ur- 
sprünglichen a  (griech.  ccQtäßrjj  aram.  ""ardebä,  assyr.  ardabi)  eben 
diesen  Hülfsvokal  e,  in  üblicher  Weise  im  sahidischen  Dialekt 
durch  den  Strich  über  dem  p,  im  bohairischen  durch  e  bezeichnet,^ 
zeigt.  Dem  Worte  wird  vielleicht  auch  deshalb  ein  gewisses  Alter  in 
der  ägyptischen  Sprache  zuzuerkennen  sein.  Denn  nicht  alle  Lehn- 
wörter, die  das  Koptische  in  ägyptisierter  Form  enthält^),  haben 
diese  Verflüchtigung  des  a  in  den  Vortonsilben  erfahren,  vgL 
^«.^«.gT  „Kessel"  (nn^p),  ö'd.juoyA :  •xe.As.oT A  „Kamel"  (hebr.  btta), 
ciwcepe :  c»>-»epi  „Denar"  fem.  (griech.  örarr^p)^),  bereits  im  Demo- 
tischen der  Ptolemäerzeit  als  Lehnwort  vorkommend  (s.  ob.  S.  114), 
«-«.AiA  : -xö^AA  „Rad"  (hebr.  b-^ba). 

Andere,  die  sie  gleich  unserem  Worte  erfahren  haben,  werden 
eben  vermutlich  einer  älteren  Schicht  angehört  haben,  z.  B.  gfimp 
„Genosse"  (hebr.  nnn),  ö^iA  „ßrandopfer"  (hebr.  b-'bs),  xxe<^To7s.: 
xxi'2srro'\  „Burg"  (hebr.  b'^Oiti,  entstanden  aus  mägdäl),  noch  im  ägyp- 
tischen Griechisch  iiuydaXov^),  nvQyo^dydoaXov. 

Daß  diese  Reduktion  des  unbetonten  ä  zu  «  z.  T.  aber  auch 
noch  verhältnismäßig  recht  spät  bei  Lehnwörtern  eingetreten  ist,, 
scheint  das  unten  zu  besprechende  oTfecienm  zu  lehren,  das  gleich- 
falls in  der  Perserzeit  nach  Ägypten  gekommen  sein  muß. 

Als  Vokal  zeigt  p"xofli  einen  o-Laut,  wo  die  griech.  Form 
icQxdßri  wie  die  semitischen  Formen  übereinstimmend  einen  a-Laut 


1)  Von  den  Fremdwörtern,  die  ihre  fremdsprachliche  Form  im  wesentlichen 
behalten  haben,  wie  z.  B.  ^r&.A&.inuipoc,  «^pi^juoc,  &n«^rimuiCKe  usw.,  ist 
natürlich  nicht  die  Rede. 

2)  Rätselhaft  sind  das  weibliche  Geschlecht  und  die  weibliche  Form  des 
Wortes,  sowie  der  kurze,  im  Sahid.  gebrochene  e-Vokal. 

3)  Preisigke,  Fachwörter  des  öffentlichen  Verwaltungsdienstes  Ägypten» 
S.  120. 


Spuren  der  Perserherrschaft  in  der  späteren  ägyptischen  Sprache.       117 

zeigen  *).  Dieser  Übergang  von  a  zu  o  (resp.  ö  nach  m  und  n)  scheint 
eine  Eigentümlichkeit  des  Ägyptischen  zu  sein,  die  wir  nicht  nur 
bei  zahlreichen  Lehnwörtern  (vgl.  die  oben  angeführten  ö'mtf'aip, 
^iKxxoy\  xx\<^'ro\  und  unten  g^^op,  jua.-voi)  *),  sondern  auch  bei 
solchen  Wörtern  finden,  die  dem  Ägyptischen  mit  den  semitischen 
Sprachen  als  urverwandtes  Sprachgut  gemeinsam  waren  (z.  B. 
«gjuoTn  „acht"  =  arab.  tamänin,  der  Infinitiv  cta-vli.  =  arab. 
falun). 

"Was  den  Konsonantismus  anlangt,  so  verdient  der  <-Laut  nä- 
here Beachtung.  Im  bohairischen  (d.  h.  unterägyptischen)  Dialekte 
pflegt  nämlich  jedes  t,  das  auf  ein  altägyptisches  o  t  (semitisch 
n)  zurückgeht,  vor  dem  Vokal  der  Tonsilbe  aspiriert  zu  werden, 
dagegen  unterbleibt  in  der  gleichen  Stellung  die  Aspiration,  wenn 
das  T  aus  einem  alten  «-"-^  d  (semitisch  l)  hervorgegangen  ist.  In 
dieser  Verschiedenheit  hat  sich  allein  noch  eine  Spur  des  alten 
Unterschiedes  zwischen  i  und  d  erhalten.  Im  übrigen  scheinen  t 
und  d  seit  dem  mittleren  Reich  zusammengefallen  zu  sein,  indem 
die  stimmhaften  Laute  d,  g,  z  nunmehr  stimmlos  wie  /,  k,  s  ge- 
sprochen werden').  Das  d  nichtägyptischer  Worte  wird  daher  von 
dem  Agj'pter  im  allgemeinen  je  nachdem  durch  t  oder  d  wieder- 
gegeben. In  der  Perserzeit  und  in  christlicher  Zeit  wird  dann 
auch  vorübergehend  der  Versuch  einer  genaueren  Bezeichnung  des 
d  gemacht.  In  Fremdwörtern  (z.  B.  Dareios)  und  da,  wo  im  Ag. 
aus  besonderen  Umständen  das  -r  die  Aussprache  d  angenommen 
hatte  (achm.  nofn-ye  =  nude  für  altes  nute)  deutet  man  das  d 
durch  die  Konsonantenfolge  nt  oder  nd  (kopt.  ht,  n-^)  an  wie  im 
Neugriechischen*),  während  man  im  Kopt.  in  griechischen  Lehn- 
wörtern und  über  das  Griechische  aufgenommenen  Namen  (wie 
•^e^yei-Ä.)  einfach  das  -2^  beibehielt. 

Das  oben  erwähnte  Aspirationsgesetz  zeigt  nun  aber,  daß  die 
Angleichung  des  d  an  das  t  in  den  alten  äg.  Wörtern  trotzdem 
keine  ganz  vollständige  gewesen  ist,  sondern  daß  sich  ein  gewisser 
Unterschied  zwischen  beiden  Lauten  noch  immer  in  der  Aussprache 
bemerkbar  machte,  gerade  wie  das  bei  den  A-Lauten  der  Fall  ge- 


1)  Die  armenische  Form  ardov  zeigt  dagegen  ein  o. 

2)  Dieser  spezifisch  ägyptische  Übergang  zeigt  sich  bemerkenswerter  Weise 
-»ach  in  der  masoretischen  Punktation  des  Wortes  migdal  „Burg",  die  es  da  er- 
hält, wo  es  als  Name  der  ägyptischen  Grenzfestung  gegen  Palästina  (neuäg.  MgcU) 
erscheint :  ^lyü  oder  5'i"n3Ta  während  es  als  hebräisches  Appellativum  bl^ü  vo- 
kalisiert  wird. 

3)  S  e  t  h  e,  Äg.  Ztschr.  50,  96  ff. 

4)  Rahlfs,  Sitz.-Ber.  d.  Berl.  Akad.  1912,  1036 ff. 


118  Kurt  Sethe, 

wesen  sein  muß,  die  im  sahidischen  Dialekte  des  Koptischen  zwar 
alle  gleich  durch  g  bezeichnet  erscheinen,  aber  nach  Ausweis  des 
achmimischen  und  bohairischen  Dialektes  doch  noch  inuner  gewisse 
Unterschiede  bewahrt  haben  müssen. 

Daß  jenes  Aspirationsgesetz  auch  auf  die  im  Koptischen  vor- 
handenen Lehnwörter  ebenso  Anwendung  fand,  wie  auf  die  autoch- 
thonen  ägyptischen  Wörter,  lehrt  das  oben  S.  116  zitierte  c«.-»cpi, 
das  das  vor  dem  Vokal  stehende  griechische  t  regelrecht  aspiriert 
zeigt.  Dagegen  ist  die  Aspiration  bemerkenswerter  Weise  nicht 
eingetreten  in  juh-stto^  (plVQ)  und  in  dem  unten  zu  besprechenden 
juÄ.'voi  ("»Ta),  wo  es  beide  Male  semit.  1  wiedergiebt.  Hier  stellt 
sich  das  semitische  1  ganz  an  die  Seite  des  altäg.  d,  obgleich 
dieses  längst  stimmlos  geworden  war.  Man  gibt,  wie  diese  Formen 
zeigen,  das  semitische  T  im  Kopt.  nicht  durch  -ä.  (Delta)  wieder, 
das  in  den  griechischen  Lehnwörtern  regelmäßig  das  S  bezeichnet, 
sondern  durch  ein  nicht  aspirationsfähiges  t  genau  wie  das  mit 
dem  aus  altäg.  d  hervorgegangenen  t  geschieht  \). 

Da  nun  auch  in  p'To&iep'xofi  die  Aspiration  des  -x  in  gleicher 
Weise  im  bohair.  Dialekt  unterbleibt,  so  wird  man  es  hier  gleich- 
falls notwendig  auf  ein  nichtägyptisches  bezw.  semitisches  d  zu- 
rückführen müssen.  Und  in  der  Tat  hat  ja,  wie  wir  oben  sahen, 
das  Wort  für  „Artabe"  im  Aramäischen,  ebenso  wie  im  Spät- 
akkadischen  und  Arabischen,  ein  d,  wo  das  Griechische  aQXKßrj  ein 
T  hat. 

2.     g*k.<3'op. 

Ein  zweites  Wort  persischer  Abkunft,  das  gleichfalls  dem 
öffentlichen  Leben  angehörte,  glaubte  Bruno  Keil  in  einer  Stelle 
des  demotischen  Papyrus  Spiegelberg  (Anfang  der  röm.  Kaiser- 
zeit) zu  finden  ^) ;  dort  heißt  es  von  einem  Schreiben,  das  der  Fürst 
des  Gaues  Arabia  (im  Osten  des  Delta)  vom  königlichen  Hofe  zu 
Theben  in  seine  Heimat  absandte:  „man  verschloß  den  Brief,  man 
siegelte  ihn  mit  dem  Siegel  des  Fürsten  . . .,  man  gab  ihn  in  die 
Hand  eines  hgr^),  um  ihn  zu  tragen  nach  Norden  (Unterägypten) 
in  der  Nacht  wie  am  Mittag"  Pap.  Spieg.  13, 7  ff. 

• 

1)  Daß  das  griech.  '^  nicht  etwa  von  den  Ägyptern  auch  wie  t  gesprochen 
wurde,  zeigt  der  Gebrauch  dieses  Zeichens  ik  für  ^  nach  n  in  äg.  Wörtern  und 
die  gelegentliche  Schreibung  n-^  für  d  in  griech.  Wörtern;  s.  Rahlfs,  Sitz.-Ber. 
d.  Berl.  Akad.  1912,  1044. 

2)  Bei  Spiegelberg,  Der  Sagenkreis  des  Königs  Petubastis  (Demot. 
Studien  III),  Glossar  Nr.  568. 

8)  Vor  hgr  steht  der  unbestimmte  Artikel  tc'  „ein",  den  Spiegel  her  g  in 


Spuren  der  Perserherrschaft  in  der  späteren  ägyptischen  Sprache.       119 

In  dem  mit  dem  Fremdendeterminativ  versehenen  Worte  hgr, 
das  hier  den  Briefboten  bezeichnet  und  sich  auch  sonst  im  Demo- 
tischen in  den  gleichwertigen  Schreibungen  hgr  und  hkr  mehrfach 
als  Titel  oder  Berufsbezeichnung  nachweisen  läßt^),  wollte  Keil 
dieselbe  persische  Bezeichnung  für  den  reitenden  Boten  des  persi- 
schen StaflPettenpostdienstes  (ayyapjjlov  Herod.  ¥11198  2)  erkennen, 
die  im  griechischen  Postwesen  als  ayyagos  weiterlebte^)  und  nach 
Andreas*)  im  Persischen  hnngär,  alt  honhära,  gelautet  haben  könnte. 

Keil's  bestechender  Erklärung  stehen  indeß  Bedenken  gegen- 
über. Zunächst  die  Schreibung  mit  dem  Fremdendeterminativ.  Sie 
findet  sich  in  der  Tat  nicht  nur  bei  Volkernamen  und  fremd- 
sprachigen Eigennamen,  sondern  auch  bei  fremdsprachigen  Be- 
rnfsbezeichnungen, wie  z.  B.  pi  hgmn  „der  Hegemon"  Ag.  Ztschr. 
42,50^);  ipjstts  „Epistates"  Straßb.  Wiss.  Ges.  18.6fF.^;  pj  luTcnwms 
„der  Oikonomos"  Dem.  Bürgscbaftsurk.  Nr.  Iff.;  pi  srtkus  „der 
Strategos"  Corp.  pap.  II 3,  aber  das  Maßgebende  dabei  scheint  duch 
immer  nicht  die  fremdländische  Form  des  Wortes  zu  sein,  sondern 
die  fremdländische  Herkunft  der  Person,  die  das  betr.  Wort  be- 
zeichnet. So  sind  die  griechischen  Titel  Epistates,  der  Hegemon, 
der  Oikonomos,  der  Strategos  augenscheinlich  nur  deshalb  mit  dem 
Fremdendeterminativ  geschrieben,  weil  ihre  Träger  in  der  Regel 
wirklich  Fremde,  d.  h.  Makedonier  waren.  Fremdländische  Wörter, 
die  Gegenstände  bezeichnen,  werden  niemals  mit  dem  betr.  Deter- 
minativ versehen. 


seiner  Umschrift  des  Textes  (a.  a.  0.  S.  28)  übersehen  hat  und  der  bei  der  Deu- 
tung „Eilbote"  nicht  fehlen  darf,  deutlich  da,  von  S  p.  im  Glossar  unter  w'  Nr.  73 
richtig  aufgeführt,  aber  versehentlich  mit  der  Angabe  8, 13  statt  13,  8.  Damit  ist 
die  Deutung  des  hgr  als  Eigenname  (Hakoris),  die  Sp.  anfangs  in  seiner  Über- 
setzung (S.  29)  angenommen  hatte,  ausgeschlossen. 

1)  Pap.  Ryl.  12  (hkr,  vor  dem  Namen  stehend  und  daher,  wie  üblich,  ohne 
Artikel).  Ostrakon  Straßb.  D.  109  Verso  (hgr,  hinter  dem  Namen  und  daher  mit 
dem  bestimmten  Artikel;  Mitteilung  von  Spiegelberg). 

2)  Vgl.  La  gar  de,  Ges.  Abb.  184,22. 

3)  Vgl.  dazu  Wilcken,  Grundzüge  der  Papyruskunde  S.  372.  Seeck  in 
Pauly-Wissowa's  Realenzyklop.  1  2184/5.  Nach  Hesychios  (s.v.  ayyagog)  und 
Suidas  (s.  v.  tiyyapcvo))  bezeichnet  ayyuQOs  und  seine  Derivate  im  Griechischen 
schließlich  nicht  nur  speziell  den  Brief  boten,  sondern  auch  den  Lastträger,  Dienst- 
mann im  allgemeinen.  Bei  Aischylos  bezeichnet  andererseits  hvq  ayyuQov  das  von 
Ort  zu  Ort  weitergegebene  Feuersignal,  sodaß  hier  nur  der  Begriff  der  weiter- 
gegebenen Botschaft,  nicht  die  schriftliche  Form  derselben  dem  Worte  zu  in- 
härieren  scheint. 

4)  Bei  Spiegelberg  a.  a.  0.  S.  76. 

5)  Ebenda  orguTiäytris  ohne  Fremdzeichen. 

6)  Ebenda  dixacrrij;,  sCaayayBvß  ohne  Fremdzeichen. 


120  Kurt  Sethe, 

Man  wird  daher  notwendig  annehmen  müssen,  daß  der  Titel 
hgr,  wie  er  uns  im  Pap.  Spiegelberg  und  an  den  andern  oben 
zitierten  Stellen  begegnet,  einen  Ausländer  oder  einen  vorzugs- 
weise von  Ausländern  ausgeübten  Beruf  bezeichnen  muß,  Grriffith 
war  daher  geneigt,  in  dem  Worte  vielmehr  einen  Angehörigen 
des  nordarabischen  Stammes  der  ^AygttZoi^  hebr.  Di"i5n*)  zu  sehen, 
deren  Heros   Eponymos   augenscheinlich   Hägar  (nan,  "AyaQ^  arab. 

j>-\J>)  „die  ägyptische  Magd^,  die  Mutter  Ismaels,  ist  -).  Und  dieser 
Ansicht  schließt  sich  jetzt  auch  Spiegelberg,  wie  er  mir  schreibt, 
an,  nachdem  er  das  Wort  an  zwei  Stellen  als  geographische  Be- 
zeichnung gefunden  hat.  In  dem,  von  ihm  demnächst  neu  heraus- 
zugebenden Leidener  demotischen  Pap.  384,  der  unter  dem  Namen 
Kufi  bekannt  ist,  heißt  es  (3, 32)  von  der  Sonne,  ihr  Leben  sei 
„unter  (=  zwischen)  den  Ä/i;>(-Leuten)"  ^)  und  in  dem  demot.  Pap. 
Kairo  30799  Rs.  findet  sich  Min,  der  Gott  von  Koptos  und  berufs- 
mäßige Grebieter  der  Wüsten  zwischen  Nil  und  Rotem  Meer,  als 
„Herr  von  Hgr"'  betitelt.  Der  Zusammenhang  scheint  an  beiden 
Stellen  in  der  Tat  nicht  übel  zu  Grriffith's  Identifikation  zu 
passen. 

Andererseits  kann  es  nach  dem  ganzen  Zusammenhang  der 
Stelle  im  Pap.  Spiegelberg  aber  auch  nicht  zweifelhaft  sein,  daß 
dort  wirklich  mit  hgr  ein  Briefbote  gemeint  ist,  und  man  wird 
nun  durch  jene  Stelle  geradezu  zu  dem  Schlüsse  gedrängt,  daß 
das  Volk  der  Hgr  die  Tätigkeit  des  Eilbriefboten  berufsmäßig 
ausgeübt  haben  wird  und  daher  dem  Berufe  den  Namen  gegeben 
haben  könnte,  wie  wir  das  unten  bei  den  A**.'roi  finden  werden. 
Das  Türkische  bietet,  wie  mir  E.  Littmann  zeigte,  in  der  Be- 
zeichnung tätär^  d.  i.  eig.  „Tärtare",  für  den  Kurier  eine  hübsche 
Parallele  dazu*). 

Damit  gewinnt  dann  aber  auch  die  Frage  nach  dem  Zusammen- 
hange zwischen  dem  persischen  Prototyp  von  äyyuQog  und  unserem 
ägyptischen  Ausdruck  hgr  ein  ganz  neues  Gesicht.  Sie  kehrt  sich 
jetzt  dahin  um:  geht  der  persische  Ausdruck  nicht  vielmehr  eben 
auf  diesen  Namen  des  Volkes  der  hgr  Idygaloi  zurück,   die  an  der 


1)  Vgl.  Nöldeke  in  der  Encyclopedia  biblica  s.  v.  Hagar. 

2)  Daher  die  Benennung  ^AyagrivoC  bei  Planudes. 

8)  Iw.ir  (cpe-)  T^j-f  'nb  Itct  (ofre-)  ni  Hkr.xo.  Zu  der  Schreibung  Hkr 
mit  h  statt  g  s.u. 

4)  Bianchi-Kieffer,  Dictionnaire  Turc-fran^ais  I  S.  443:  „^titf  Tartare, 
courrier.  Le  nom  ethnique  est  devenu,  en  Turquie,  le  nom  appellatif,  parce  que 
c'ätait  ordinairement  les  Tartaros  qu'on  employait  au  service  de  courriers*. 


Spuren  der  Perserherrschaft  in  der  späteren  ägyptischen  Sprache.        121 

von  Babylon  nach  Ägypten  führenden  Straße  wohnend  ^),  etwa  als 
Kamelreiter  in  der  Tat  die  gegebenen  Übermittler  für  die  Post 
zwischen  beiden  Ländern  schon  in  vorpersischer  Zeit  gewesen  sein 
mußten?  So  könnte  die  Bezeichnung  hgr  dann  über  die  Babylonier 
zu  den  Persern,  von  diesen  zu  den  Grriechen  gekommen  sein^). 

Assyriologischerseits  ist  man  übrigens  längst  dafür  eingetreten, 
daß  das  persische  Institut  des  Postverkehrs  ein  babylonisches  Vor- 
bild gehabt  hat  ^).  Ja,  man  hat  das  Wort  ayyagog  resp.  sein  persi- 
sches Prototyp  geradezu  aus  dem  babyl.  agäru  oder  aggaru  her- 
leiten wollen^).  Doch  scheint  dieses  Wort  nicht  in  der  speziellen 
Bedeutung  „Bote"  o.  ä.  belegt  zu  sein,  sondern  allgemeiner  „Lohn- 
arbeiter", „Mietling'^  zu  bedeuten;  man  leitet  es,  vielleicht  zu  Un- 

recht,  vom  gemeinsemitischen  Stamme  y>l  „mieten"  ab  % 

Besteht  aber  wirklich  ein  Zusammenhang  der  oben  vermuteten 
Art  zwischen  dem  Volksnamen  hgr  und  dem  persisch-griechischen 
ayyuQog,  so  wird  man  sich  das  darin  vor  dem  g  erscheinende  n  als 
eine  Zutat  zu  denken  haben,  die  das  Wort  auf  seinem  Wege  von 
Ägypten  nach  Persien  resp.  Griechenland  aufgenommen  hat.  Man 
könnte  darin  eine  Parallele  zu  dem  äg.  «s'ma'tup  „Talent"  (aus 
*kil-kör),  und  dem  aram.  ganhär  „Held"  (aus  *gabbar),  s.  ob.  S.  115, 
erkennen.  Auf  dem  Wege  über  das  Aramäische  oder  eine  andere 
semitische  Sprache  könnte  ein  *hagyar  wohl  zu  *)iangar  geworden 
sein^).  Der  Wegfall  des  h  würde,  wenn  der  Weg  des  Wortes  bei 
seiner  Wanderung  nach  Persien  wirklich  über  Babylonien  gegangen 

1)  Vgl.  D.  H.  Müller  in  Paully-Wissowa's  Realenzyklop.  1 889. 

2)  Man  hat  ayyapog  indessen  auch  mit  &yytXos  und  sanskr.  angiras  „Götter- 
bote" zusammenstellen  wollen,  s.  dazu  unten. 

3)  Fries,  Klio  II1169  ff. 

4)  Jensen  bei  Hörn,  Grundriß  der  neupersischen  Etymologie  S.  29  Anm. 
Zimmern,  Klio  IV  117  ff.  —  Muß-Arnolt  1 15  verzeichnet  ag-ga-ru  als  „hired 
labourer",  „messenger". 

5)  So  sicher  unrichtig  auch  das  unten  zu  erwähnende  egirtu  „Brief,  wogegen 
schon  Nöldeke  ZDMG.  40,  733  Einspruch  erhoben  hat. 

6)  Es  wäre  vielleicht  auch  denkbar,  daß  die  Nasalierung  erst  im  Griechischen 
eingetreten  sei,  d.  h.  daß  die  Griechen  das  Wort  als  aggar  übernommen,  aber, 
gemäß  ihrer  Aussprache  des  yy  als  tig  (resp.  ihrer  Schreibung  yy  für  ng),  früher 
oder  später  angar  gesprochen  hätten.  H.  Lommel  macht  mich  hierzu  auf  die 
Schreibung  fyyovog  für  fxyoro?  aufmerksam,  die  man  meist  irrig  als  engonos  auf- 
faßt, die  aber  ein  eggonos  mit  Assimilation  des  x  an  das  y  darstellt.  Lommel 
bezweifelt  aber,  daß  die  Griechen  ein  fremdes  gg  anders  als  durch  einfaches  y 
wiedergegeben  haben  würden.  —  Das  talmndische  «"»"O:«  „Frohn-  und  Spann- 
dienst", auf  das  Lagarde,  Ges.  Abh.  184,22  hinweist,  geht  auf  das  griechische 
icYyagüa  oder  das  lat.  angaria  zurück,  s.  Krauß,  Griech.  und  lat  Lehnwörter 
im  Talmud  II  63. 


122  Kurt  Sethe, 

sein  sollte,  schon  im  Babylonischen  erfolgt  sein,  das  ja  durch- 
gehend das  h  verloren  hat  (vgl.  das  oben  als  eventuelles  babyloni- 
sches Äquivalent  dazu  erwähnte  agani  oder  aggaru),  andernfalls 
vielleicht  erst  im  Persischen  oder  gar  erst  bei  der  Entlehnung 
durch  die  Griechen. 

Wie  weit  das  in  den  biblischen  Schriften  der  Perserzeit  vor- 
kommende hebr.  rriiiS^  aram.  »"^as  (stat.  emphat.  snnSS)  für  „Brief 
und  das  von  Delitzsch  dazu  gestellte  babylon.  egirtu  (vgl.  dazu 
Nöldeke  ZDMGr.  40,733)  damit  zusammenhängen,  muß  ebenso 
dahingestellt  bleiben  wie  die  Frage,  ob  das  persische  angird,  avest. 
hankuru-tis,  neupers.  angara  „Erzählung",  „Bericht"  ^)  einerseits, 
das  griechische  schon  sehr  früh  belegte,  aber  anscheinend  völlig 
isoliert  dastehende  äyyslos^)  andererseits  mit  jenem  ayyaQog  zu- 
sammenhängen. 

Obwohl  das  oben  besprochene  äg.  Wort  hgr  weder  als  Berufs- 
bezeichnung noch  als  Volksname  im  Kopt.  erhalten  ist,  können 
wir  seine  Vokalisation  doch  noch  ermitteln.  Einer  der  einheimi- 
schen Könige  Ägyptens,  der  in  den  Jahren  392 — 380  das  von  der 
Perserherrschaft  befreite  Land  regierte,  führte  unser  Wort  als 
Namen:  Hagor,  griechisch  wiedergegeben  durch  "AxoQiq  (Diodor), 
"AxtoQcg  (Theopomp),  "Axcagig  (Manethos) ;  hieroglyphisch  Higr,  Hgir^ 
Hkr '),  in  seiner  Schreibung  deutlich  als  Fremdwort  mit  dem  Kon- 
sonantenbestande  Hgr  oder  Hkr  charakterisiert;  demotisch  Hgr, 
nicht  selten  mit  dem  Fremdendeterminativ  geschrieben  wie  unser 
Wort*).  In  der  Schreibung  Axcagig  findet  sich  der  Name  auch  in 
griechischen  Inschriften  und  Papyri  Ägyptens  bis  in  die  Kaiser- 
zeit als  Name  von  Privatpersonen  in  Gebrauch^).  Wie  Stern 
gesehen  hat,  hat  er  sich  auch  im  Kopt.  noch  in  entsprechender 
Gestalt  als  £*.<3'op  erhalten^). 


1)  Andreas  bei  Marti,  Gramm,  des  Bibl.  Aramäisch ' S.  57*. 

2)  Man  stellt  ayysXog  wie  ayyagos  meist  mit  dem  altind.  awgrtros,  das 
Götterbote  bedeuten  soll,  zusammen.  Wie  mich  Oldenberg  freundlichst  belehrt, 
ist  dieses  bereits  in  den  ältesten  Texten,  den  Hymnen  des  Rgveda,  vorkommende 
Wort  der  Name  gewisser  mythischer  Vorfahren  der  für  die  Zeit  des  Rgveda 
gegenwärtigen  Priestergeschlechter.  „Auch  der  priesterliche  Gott  Agni  (d.  i.  Feuer, 
insbesondere  Opferfeuer)  wird  oft  als  Ahyiras  bezeichnet,  indem  er  jenen  Priestern 
aus  der  Anfangszeit  des  Wehlebens  assimiliert  wird".  —  Hiernach  erscheint  es 
recht  fraglich,  ob  dem  Worte  wirklich  die  Bedeutung  des  Boten  inhäriert. 

3)  Lepsius,  Königsbuch  Nr.  670. 

4)  Spiegelberg,  Demotische  Chronik  S.  93. 

5)  Lepsius,  Denkm.  VI  75  =  Text  H  52.    BGU.  526,  89  (86  nach  Chr.). 

6)  Äg.  Ztschr.  23, 151.  —  Stern  bezeichnet  den  Namen  dort  als  libysch 
ohne  ersichtlichen  Grund. 


Spuren  der  Perserherrschaft  in  der  späteren  ägyptischen  Sprache       123 

Wie  man  sieht,  hat  sich  in  diesem  Falle  das  a  der  ersten,  im 
Äg.  nicht  betonten  Silbe,  anders  als  in  pTrofc  „Artabe",  ebenso  er- 
halten, wie  in  «'djao-j-'A  und  Genossen  (s.  ob.  S.  116).  Das  a,  das 
nach  üyyagog  in  der  zweiten,  im  Ag.  betonten  Silbe  zu  erwarten 
wäre,  ist  wieder  wie  in  "p-rofi  durch  o  vertreten.  Dieses  o  war 
nach  der  kopt.  Form  ^«.«"op  kurz.  Das  o,  das  die  griechischen 
Formen  z.  T.  dafür  haben,  ist  eine  Ungenauigkeit,  wie  wir  sie  bei 
griechischen  Wiedergaben  ägyptischer  Wörter  oft  beobachten  können. 
Speziell  findet  sich  gerade  o  fast  regelmäßig  statt  des  äg.  ö,  z.  B. 
in  'Ori/oqpptg  (kopt.  oTcnoqpc),  Zfötaerptg  (äg.  *Se-tcösre),  'Egfiäv^is 
(kopt.  ncpjuon-x)  ^),  '^^/KDötg,  ^egas  oder  ^agaa  (kopt.  "ppo),  W^f- 
vad^rjg  (äg.  Atneii-hÖfp),  Za^ig  (äg.  *Söte  aus  *Söpdet),  Uaäcpt  (kopt. 
HÄwOTie)  usw.  Der  lange  äg.  o- Vokal,  den  die  kopt.  Wörter  zeigen, 
wird,  wenigstens  in  den  älteren  griechischen  Umschreibungen,  in 
der  Regel  durch  v  wiedergegeben,  vermutlich  weil  er  damals  noch 
M  gesprochen  wurde*). 

Was  den  /i-Laut  im  Innern  unseres  Wortes  anbelangt,  so  ist 
«*,  das  die  kopt.  Form  ^«>(*'op  zeigt,  der  Buchstabe,  der  in  äg. 
Wörtern  regelmäßig  dem  altäg.  ö  g  entspricht.  Dieser  alte  Laut 
war  allem  Anschein  nach,  wie  das  alte  c^:?  d,  seit  dem  mittleren 
Reich  stimmlos  geworden,  und  das  <f  wurde,  wie  Rahlfs  gezeigt 
hat,  als  palatales  k'  gesprochen,  ehe  es  zu  ö  und  dann  zu  ä  wurde, 
wie  es  heute  gesprochen  wird^).  Daher  wird  denn  auch  griech.  y 
im  Kopt.  nie  durch  dieses  Zeichen,  sondern  durch  ^'  wiedergegeben, 
das  sich  in  äg.  Wörtern  nur  nach  n  statt  des  k  findet.  In  selt- 
samem Gegensatz  hierzu  gibt  das  <^  aber  in  semitischen  Lehn- 
wörtern regelmäßig  das  Di  wieder,  vgl.  die  oben  zitierten  Formen 
juc«'-xoÄ,  «"äaiotA,  (3'*w".\iA  (S.  116),  «.ö'oA'ire  „Wagen",  daneben  aber 
auch  das  p  (ö'e.Ai.g^'x)  und  das  3  (a^A  S.  116;  «'mcs'uip  S.  114  Anm.  5; 
icpeö'ojoT'x  „Wagen")  und  griechisches  x  vor  i  («'m-^ynoc,  <s'iAiö'i*>)*), 
wie  es  vereinzelt  auch  altägyptischem  h  oder  k  entspricht^),  die 
sonst  im  Kopt.  regelmäßig  durch  k  bezw.  x  vertreten  sind.  Man 
sieht  aus  der  konsequenten  Wiedergabe  des  semitischen  g  durch  <^, 
das  Äquivalent  des  alten  äg.  g,  und  das  Nebeneinander  von  ö*  und 
R  im  Kopt.,  daß  sich  auch  hier  wie  beim  d  ein  geringer  Unter- 
schied zwischen  der  ursprünglichen  Tennis  {t,  k)  und  der  stimmlos 
gewordenen  alten  Media  (d,  g)  noch  immer   erhalten   haben  muß. 

1)  Vgl.   meine  Unters,  z.  Gesch.   n.  Altertumskunde  Äg3rpten8  II 8,   Anm.  3. 

2)  Sethe,  Verbum  I  §  44.    Äg.  Ztschr.  50,82. 

3)  Rahlfs,  Sitz.-Ber.  d.  Berl.  Akad.  1912,  1038. 

4)  Rahlfs,  Sitz.-Ber.  Berl.  Akad.  1912,  1036 ff. 

5)  Sethe,  Verbum  I  §282.  284. 


124  Kurt  Sethe, 

Bemerkenswert  ist,  daß  auch  hier  das  Kopt.  ebensowenig  daran 
denkt,  das  semitische  d  gleich  dem  griechischen  g  durch  f  wieder- 
zugeben^), wie  das  semitische  d  gleich  dem  griech.  d  durch  ':i.. 

Daß  einige  hieroglyphische  Varianten  des  Königsnamen  Hgr 
(Hakoris),  wie  auch  einzelne  demotische  Schreibungen  des  Völker- 
namens Hgr  (z.  B.  Leid.  384,  3,  32.  Pap.  mag.  19,  33)  und  der  Be- 
ruf sbezeichnung  hgr  (Ryl.  12  h)  k  statt  g  setzen,  hat  nichts  zu 
sagen.  Dieser  Wechsel  findet  sich  auch  sonst  und  beruht  auf  der 
dem  k  nahestehenden  Aussprache  des  g  (kop.  «s*);  man  vergleiche 
dazu  nur  die  hieroglyphischen  und  demotischen  Schreibungen  der 
Namen  Berenike,  Kleopatra,  Kaisaros,  Autokrator,  die  bald  mit 
g,  bald  mit  h  oder  k  geschrieben  werden*).  Der  koptische  Buch- 
stabe ö*,  der  etymologisch  dem  alten  g  zu  entsprechen  pflegt,  ist 
überdies  selbst  seiner  Form  nach  aus  dem  alten  Zeichen  für  k 
entstanden,  so  daß  man  die  Schreibungen  von  Hgr  mit  k  geradezu 
als  jüngere,  der  koptischen  Schreibung  ^«.«"op  entsprechende  Ortho- 
graphie ansehen  könnte. 

Die  griechische  Wiedergabe  des  g  (kopt.  <^)  von  Hgr  durch  x 
{"AxoQLg,  "dzdQis)  ist  nach  dem  Gesagten  nur  natürlich.  Das  %  in 
der  manethonischen  Form  "A%G3Qig  ist  ein  Grräzismus.  Die  Aspiration 
von  Lauten,  die  im  Ag.  selbst  nicht  aspiriert  waren,  ist  in  den 
griechischen  Wiedergaben  ägyptischer  Namen  eine  alltägliche  Er- 
scheinung. Von  den  unzähligen  Beispielen,  wo  sie  wie  gesetzmäßig 
unmittelbar  nach  dem  Tonvokal  des  Wortes  eintritt^),  abgesehen, 
seien  hier  nur  genannt  Msyx^grjg  (Herodot's  MvxsQtvog,  äg.  Mn-ki .  w-r') 
Wccfifir]Tixog  (äg.  Psmtk),  Es^svrig  (äg.  Sndj),  ^SQcag  =  0aQaa)  (kopt. 
nppo),  l4cp(o<pLg  (äg.  Ippj),  2Je&(o6ig  (äg.  Stij\  Nbxocg)  (Herodot  iVfxög), 
'A&69rjg  (äg.  litj),  HsGäyiig  (äg.  ÄsnÄ  pTC'^TÖ  mit  k,  das  im  Kopt. 
bei  einer  Vokalisation  wie  Sesonk  nie  aspiriert   werden  könnte). 

3.     JUL&.'XOI. 

Wie  das  Wort  fiir  „Artabe"  ist  offenbar  auch  der  Name,  den 
die  Ägypter  in  den  auf  die  Perserzeit  folgenden  Zeiten  für  das 
Volk  der  Perser  selbst  gebrauchten,  über  das  Aramäische  zu  ihnen 
gelangt. 

1)  Hängt  es  damit  etwa  auch  zusammen,  daß  das  Oriecbische  den  Namen 
des  Kamels  als  yiäfnilos  mit  x  rezipiert  hat  und  nicht  mit  g'^ 

2)  Kleopatra  hierogl.  mit  k,  demotisch  meist  mit  g;  Berenike  hierogl.  mit  g 
oder  k,  demotisch  mit  g. 

3)  Z.  H.  2i)Q;  '/fiovdrjc,  MoDÖ-,  N^X9,  ^agfiold^i,  'Afitvmd-ris,  BivoaO'Qigj  Ssf- 
liov&ig,  ^Afieviotpig ,  nuwcpi ,  ^Eaticpi ,  T(fi(pis ,  Oiä<pQi.s  (äg.  Wib-lb-r'  mit  h !), 
Zo^%os  usw. 


Spuren  der  Perserherrschaft  in  der  späteren  ägyptischen  Sprache.       125 

Es  ist  bekannt,  daß  die  meisten  Völker  des  alten  Orients  die 
Perser  mit  dem  Namen  des  iranischen  Volksstammes  benannt  haben, 
der  ihnen  zuerst  bekannt  geworden  war,  der  Meder,  gerade  wie 
uns  die  Franzosen  als  Alemannen,  die  Serben  und  andere  Slaven- 
völker  als  Schwaben  und  Sachsen  bezeichnen.  Meder  werden  die 
Herren  des  Perserreiches  nicht  nur  von  den  Hebräern  und  Ara- 
mäem  (Mädaf),  Arabern  (Safaiten  und  Minäem,  "'TTa)^),  sondern 
auch  von  den  Griechen  der  älteren  Zeit  (MT,doi)  genannt  ^).  Ebenso 
nennen  die  Ägypter  der  Ptolemäerzeit  die  Perser,  wenn  sie  sie 
nicht  nach  ihrer  Heimat  Prs  „Persien"  als  ai  rnit.w  Prs  „die  Leute 
von  Pars  (Dekret  von  Kanopus  demot.,  Tanis  12  =  Eom  el  Hisn  3) 
oder  als  hs.tv  ntc  Prs  „die  Elenden  von  Pars"  (ibid.  hierogl.)  be- 
zeichnen '). 

Diese  ägyptische  Form  des  Namens  „Meder"  ist  in  ihrer  demo- 
tischen Schreibung  3Jdj  mit  dem  Pluraldeterminativ  und  dem  be- 
stimmten Artikel  ni  (ni  Mdj  „die  Meder")  zuerst  von  Revillout 
in  der  „demotischen  Chronik",  die  der  älteren  Ptolemäerzeit  an- 
gehört, gefunden  und  richtig  erkannt  worden*).  Spiegelberg 
fand  ihn  dann  in  einer  demotischen  Steinbruchinschrift  derselben 
Zeit  wieder*),  in  der  Jemand  sagt,  er  habe  „dem  Könige  Necht- 
har-ehbet"  (Nektanebos,  der  letzte  einheimische  König  Ägyptens, 
bis  343  V.  Chr.),  „den  Medern"'  {ni  Mdj,  d.  i.  die  Perser,  343—332 
V.  Chr.)  und  „den  Joniern"  {ni  Wjnn,  d.  i.  die  Griechen,  vom  J.  332 
an)  gedient. 

An  dieser  letzteren  Stelle  wie  auch  an  anderen  Stellen,  wo 
das  Wort  Mdj  vorkam,  hatte  man  es  bisher  in  der  Bedeutung 
, Soldaten"  nehmen  wollen®),  weil  man  es  (wie  wir  sehen  werden, 
vermutlich  mit  Recht)  dem  kopt.  ui«».'xoi  „Soldat"  gleichsetzte.  Dieses 
jut-ewToi  leitete  man  indes  aus  dem  Namen  eines  nubischen  Volkes 
her,  der  Mdi,  die  uns  in  den  Inschriften  des  alten  Reiches  unter 
den  nubischen  Hülfsvölkem  des  ägyptischen  Heeres,  in  denen  des 
neuen  Reiches  als  Jäger  in  der  Wüste  bei  Koptos  und  Gendarmen 
der  Nekropole  von  Theben  begegnen.  H.  Schäfer  hat  in  diesem 
Namen  Mdi  gewiß  mit  Recht  den  Namen  wiedererkannt,  mit  dem 


1)  Littmann,   Ztschr.  f.  Assyriol.  17,  379flF.  —  Hartmann,  ibid.  10,  32  ff. 

2)  Vgl.  Ed.  Meyer,  Sitz.-Ber.  Berl.  Akad.  1915,  298. 

3)  Als  Ländername  kehrt  dieses  Prs  auch  in  dem  Titel  srs  n  Prs  „D^'IO  Ton 
Pars"  in  den  Inschriften  der  persischen  Statthalter  von  Koptos  in  den  Stein- 
brüchen des  Wadi  Hammamät  wieder  (Leps.,  Denkm.  III  283). 

4)  Siehe  jetzt  Spiegelberg  in   seiner  neuen  Ausgabe  dieses  Textes  S.  94. 

5)  Leps.,  Denkm.  VI  69,  demot.  162. 

6)  "W.  Max  Müller,  Asien  und  Europa  S.  24,  Anm.  3  und  S.  370  Anm.  3. 


126  Kurt  Sethe, 

sich  heute  die  die  oberägyptische  und  nubische  Wüste  im  Osten 
des  Niltals,  das  Edbai,  bewohnenden  Nomadenvölker  der  'Ababde, 
Bischärm  und  Hadendoa  als  Gesamtvolk  bezeichnen:  Bega  {Bovya- 
sttai)^);  ihre  Sprache  to  hedamje.  Die  neuäg.  Schreibung  des  Namens 
mit  dem  Zeichen  d\  scheint  nun  aber  zu  bezeugen,  daß  das  in  dem 
Namen  enthaltene  °^  d  (kopt.  -s)  den  Übergang  in  c^-^  d  (kopt. 

-x)  nicht  mitgemacht  hat,  der  in  so  vielen  altäg.  Wörtern  im  mitt- 
leren Reiche  eingetreten  ist.  Schon  dies  machte  die  Identifikation 
jenes  Md}  mit  dem  kopt.  juckt-oi  „Soldat"   recht  unwahrscheinlich. 

Griffith^)  hat  dann  als  erster  das  kopt.  iaä.-voi  nicht  mehr 
auf  das  alte  Mdi,  sondern  auf  jene  von  Revillout  nachgewiesene 
demotische  Bezeichnung  der  Perser  Mdj  „Meder"  zurückgeführt, 
die  man,  wie  gesagt,  schon  früher  richtig  damit  identifiziert,  aber 
unrichtig  eben  deswegen  mit  „Soldat"  übersetzt  hatte  ^). 

Die  Zwischenstufe  für  den  ßedeutungsübergang  von  „Meder** 
zum  ,, Soldaten"  erblickte  er  in  dem  häufigen  IliQörjg  rfis  iTtiyov^s 
der  griechischen  Papyrusurkunden  ans  Ägypten.  Nach  der  sehr 
wahrscheinlichen,  jetzt  fast  allgemein  durchgedrungenen  Annahme 
bezeichnen  die  Nationalitätsangaben  mit  diesem  Zusätze  xrjg  hm- 
yoi/ijg  die  durch  Geburt  erlangte  Zugehörigkeit  zu  der  militärischen 
Ansiedlerschaft*).  Ein  nigerig  tijg  ijtLyovrjs  wäre  demnach  der 
militärpflichtige  Abkömmling  und  Erbe  eines  als  Katök  (xdtoLxog) 
angesiedelten  persischen  Soldaten.  Die  Häufigkeit,  mit  der  nun 
aber  neben  den  verschiedenen  Stämmen  des  griechischen  Volkes, 
wie  Kretern,  Rhodiern,  Karern  usw.,  gerade  von  Persern  Nationa- 
lität oder  Personenstand  in  dieser  Weise  angegeben  wird,  ist  nur 
verständlich,  wenn  es  sich  dabei  um  Nachkommen  der  alten  persi- 
schen Besatzung  des  Landes  aus  der  Zeit  der  persischen  Herrschaft 
handelte. 


1)  Vgl.  C.  Ritter,  Afrika  S.  666;  Littmann,  Deutsche  Aksum-Exped.  I,  S.  44. 

2)  Catalogue  of  the  Demotic  Papyri  in  the  John  Rylands  Library  Manchester 
III 319. 

3)  Brugsch,  Ägyptologie  487  Anm.  1:  „In  der  demotischen  Chronik  ... 
bezeichnet  das  Wort  M-d-i  oder  M-t-i  [irrige  Transskription  der  neuäg.  Schreibung 
von  M^],  aus  älterem  M'-di-y  hervorgegangen,  regelmäßig  die  Perser.  Man  er- 
kennt daraus,  welch'  eine  Umwandlung  seiner  ursprünglichen  Bedeutung  im  Laufe 
der  Zeiten  stattgefunden  hatte.  Im  Koptischen  dient  dasselbe  Wort  in  der  Gestalt 
ju«.'roi  ganz  allgemein  zum  Ausdruck  für  Soldat  und  Söldner".  —  Er  hat  also 
die  Identität  von  kopt.  aa&toi  und  demot.  Mdj  erkannt,  leitet  letzteres  aber, 
trotzdem  es  die  Perser  bezeichnet,  ersterem  zuliebe  von  dem  Nubiervolk  Mdi  ab. 

4)  Vgl.  Wilcken,  Grundzüge  der  Papyruskunde  1884.  Lesquier,  Les 
institutions  militaires  de  T^gypte. 


Spnren  der  Perserherrschaft  in  der  späteren  ägyptischen  Sprache.       127 

Griff ith  fa.  a.  0.  III 150)  hat  nun  weiter  auch  das  ägyp- 
tische Äquivalent  des  xrjg  iTCiyovijg  gefunden  in  dem  Zusätze  ms  n 
Kmj  „geboren  in  Ägypten",  der  in  den  demotischen  Urkunden 
den  gleich  einem  Titel  gebrauchten  Nationalitätsangaben  der  kon- 
trahierenden Parteien  zugefügt  wird,  z.  B.  Wjnn  ms  n  Kmj  N.  N.  ^) 
„der  in  Ägypten  geborene  Grieche  X.  N.~  passim*).  BIhmw  ms  n 
Kmj  N.  N.  „der  in  Ägypten  geborene  Blemmyer  N.  N."  Haus- 
waldt  6. 15. 

Das  viel  umstrittene  rrjg  iniyovrjg  enthält  also  gewissermaßen 
eine  Einschränkung  der  Nationalitätsangabe  dahin,  daß  die  betr. 
Person  die  Nationalität  nur  als  Nachkomme  eines  echten  Griechen, 
echten  Persers  usw.  habe,  selbst  aber  im  Lande  geboren  sei. 

Dem  nigeiig  xf^g  imyovrjg  entsprechend  begegnet  uns  nun  auch 
in  einem  von  Sottas  im  Journ.  asiat.  1914,  145 ff.  veröffentlichten, 
danach  auch  von  mir  in  den  mit  Parts ch  zusammen  herausgege- 
benen Demotischen  Bürgschaftsurkunden  (Abh.  Sachs.  Ges  d.  Wiss.) 
unter  Nr.  22  behandelten  Papyrus  von  Lille  vom  J.  243  v.  Chr., 
aus  dem  Faijum,  ein  Mdj  (ms)^)  n  Kmj  ...-shJc  si  Nht-dhutj  ntj  Iw- 
w  dd  n-f  Pgtt  „der  in  Ägypten  geborene  Meder  . . .  -subek,  Sohn 
des  Necht-dhowt,  der  genannt  wird  Pgtt^. 

Der  Mann  hat  also  wie  schon  sein  Vater  einen  ägyptischen 
Namen  (in  seinem  Falle  mit  dem  Namen  des  im  Faijum  heimischen 
Lokalgottes  Suchos  gebildet)  ganz  wie  die  IJagöai  rf,g  s:iLyoinijg 
der  griech.  Urkunden;  daneben  trägt  er  aber  noch  einen  persischen 
Namen,  der  im  Demotischen  durch  Pgft  mit  dem  Fremdendeter- 
minativ wiedergegeben  ist.  Andreas  hat  darin  ein  Baghodhata 
vermutet. 

Eben  diese  von  alten  persischen  Soldaten  abstammenden  Militär- 


1)  In  den  Worten  hntc  tö  Jurd.w  n  Srtjts  „von  den  Kindern  des  Stratides 
(o.  ä.)",  die  Ryl.  21, 7  uud  sonst  nirgends  diesem  Ausdrucke  folgen,  hat  man 
einen  besondem,  individuellen  partitiven  Zusatz  zu  sehen,  nicht  mit  Griffith, 
der  sie  amongst  the  descendants  of  the  argaxi&vat  übersetzt,  ein  notwendiges 
überall  zu  ergänzendes  Komplement,  das  das  tfjg  iniyov^s  erst  vollständig  machte. 

2)  Das  griechische  Äquivalent  dieses  sehr  häufigen  Ausdrucks  wird  wohl 
nicht  nur  MaxfÄcb»  t^s  iitiyov^g,  sondern  auch  Kgiig  zf^g  iitiyovf/g,  '  Pödiog  t^s 
imyovijg  usw.  sein.  —  Auch  dem  ^Als^avdQSvg  r^g  iniyoviig  „Alexandriner  von 
Abkunft"  (Schubart,  Arch.  f.  Pap.-Forschung  Y 106)  wird  ägyptisch  ein  „in 
Ägypten  geborener  Grieche"  entsprechen.  Das  Land  Ägypten  (i^  za>pa)  steht 
ja  immer  im  Gegensatz  zu  der  griechischen  Hauptstadt,  die  nicht  dazu  gerechnet 
zu  werden  pflegt. 

3)  Das  Zeichen,  mit  dem  der  Schreiber  in  dieser  Verbindung  das  Wort  ms 
„geboren"  schreibt  (z.  B.  in  dem  2.  demot.  Papyrus  von  Lille),  hat  er  hier  hinter 
dem  ähnlich  aussehenden  Fremdendeterminativ  von  Mdj  versehentlich  ausgelassen. 


128  Kurt  Sethe, 

kolonisten  sind  offenbar  auch  gemeint,  wenn  der  General  Cha*- 
hape,  der  im  J.  203  vor  Chr.  zu  Memphis  starb,  auf  seinem  Grab- 
stein sich  und  seinen  Vater  als  „Oberst  (hrf)  des  Fußvolkes  (pl 
ms')  der  Mdj'^  betitelt  ^).  Dabei  ist  das  Wort  Mdj  im  demotischen 
Texte  genau  so  wie  in  den  oben  angeführten  Fällen  geschrieben 
und  mit  dem  bestimmten  Artikel  versehen  {ni  Mdj)-,  im  hierogly- 
phischen Texte  aber,  wo  es  naturgemäß  ohne  Artikel  steht,  ist  es 

^v    |]T|  cy:i£l'l^j  geschrieben  mit        |   d,   das  infolge  des  häufigen 

Überganges  von  d  in  d  in  späterer  Zeit  ja  auch  sonst  vielfach  un- 
richtig, gleichsam  als  irrige  Archaisierung,  für  d  geschrieben  wird. 
Determiniert  ist  das  Wort  hier  mit  den  Zeichen  für  frepide  Länder 

(C^O^)  und  Völker  Cnu  ^^^  dem  Pluralzeichen  (drei  Striche). 

Cha'-hape  ist  nach  seinem  Aussehen,  wie  es  uns  sein  Porträt- 
bild auf  dem  Grabstein  zeigt,  ein  Semit  gewesen.  Schäfer  hat 
<a.  a.  0.)  in  ihm  einen  der  OoCvike?  Tvqiol  vermutet,  die  nach  H  e  - 
rodot  II 112  in  Memphis  angesiedelt  waren  und  das  nach  ihnen 
benannte  TvqCov  örgaröjisdov  daselbst  bewohnten.  Josephus  be- 
zeugt ebenfalls  in  der  Nähe  von  Memphis,  oberhalb  des  Delta, 
einen  Ort  'lovöaCav  ötQUTÖJcsdov^),  das  möglicherweise  auch  in 
der  Grabinschrift  des  Cha'-hape  genannt  war.  Dieser  nennt  sich 
nämlich  einmal  (unmittelbar  vor  seinem  Haupttitel  „Oberst  des 
Fußvolks  der  Meder") :  „Oberwerkmeister  (äg.  wr-irp-hn-t,  hier 
mit  dem  Stadtdeterminativ  geschrieben,  sonst  der  alte  Titel  der 
memphitischen  Hohenpriester)  von  P-U-JJit"- ').  Dieses  P-Ü-Jht  „das 
«/"Ä^-Land",  das  mit  dem  Determinativ  der  Städte  und  Dörfer  ge- 
schrieben ist  und  einen  Ort  im  Gebiete  von  Memphis  bezeichnen 
muß,  dürfte  in  der  Tat  nichts  anderes  bedeuten  als  „das  Juden- 
Land".  Jht^  das  in  seiner  reinen  Buchstabenschreibung  und  mit 
der  Hieroglyphe  „Doppelschilfblatt"  für  anlautendes  /  ganz  wie 
ein  Fremdwort  aussieht,  würde  die  gegebene  hieroglyphische  Schrei- 
bung für  Jehüd  sein,  da  die  Wiedergabe  des  semitischen  d  durch 
hierogl.  t  nicht  nur  durch  die  oben  (S.  117)  dargelegten  Verbält- 
nisse hinreichend  begründet  wäre,  sondern  auch  tatsächlich  ganz 
gewöhnlich  ist*).     J^hüd  ist   die   aramäische  Form   des  Stammes- 


1)  Schäfer,  Äg.  Ztschr.  40,  31  ff.;  b.  jetzt  auch  meine  Ausgabe  des  Textes 
ürk.  n  164  ff. 

2)  Antiqu.  XIV  8, 2.    Bell.  Jud.  1 9, 4. 

3)  Das  t  könnte  indeß  auch  zu  dem  Stadtdeterminativ  gehören  und  nicht  zu 
lesen  sein.  Deshalb  ist  die  Deutung  des  Namens,  die  im  Folgenden  gegeben  wird« 
nicht  ganz  sicher.  4)  Rahlfs,  Sitz.-Ber.  Berl.  Akad.  1912.  10,  42/8. 


Spuren  der  Perserherrschaft  in  der  späteren  ägyptischen  Sprache.       129 

namens,  der  hebr.  JeJiüda  lautet,  und  entspricht  dem  arab.  Jahüd, 
das  als  Kollektivum  „Juden"  in  ihrer  Gesamtheit  bezeichnet. 

Schäfer  faßte  seinerzeit  den  Ausdruck  3/<7;  in  dem  Titel  des 
Cha'-bape  und  seines  Vaters  noch  im  Sinne  des  kopt.  aia^ttoi  als 
appellativische  Bezeichnung  für  „Soldaten"  auf,  obwohl  das  eigent- 
lich schon  die  Verbindung  ;>}  ms'  n  m  Mdj  „das  Fußvolk  (Xaög) 
der  Mäj"^  verbot.  Wenn  das  Wort  Mdj  nun  aber,  wie  wir  jetzt 
wissen,  „Meder"  bedeutete  und  wenn  darunter  im  vorliegenden 
Falle  wahrscheinlich  Nachkommen  der  alten  persischen  Besatzung 
Ägyptens  zu  verstehen  sind,  so  erinnert  uns  das  in  Verbindung 
mit  der  Nationalität  des  Cha'-hape  an  die  durch  die  aramäischen 
Papyri  von  Elephantine  so  grell  beleuchtete  Tatsache,  daß  die 
persische  Landesbesatzung  zu  einem  großen  Teile  aus  Semiten  be- 
stand. Dazu  werden  auch  die  Tyrier  und  Juden  gehört  haben, 
nach  denen  jene  „Lager"  bei  Memphis  bezw.  „das  Judenland"  der 
Inschrift  des  Cha'-hape,  benannt  waren.  Und  es  ist  nun  aller- 
dings wohl  denkbar,  daß  in  dem  Ausdruck  7ii  Mdj  _die  Meder"^  in 
dem  Titel  des  Cha'-hape  nicht  bloß  Leute  des  persischen  Militär- 
standes von  echt  persischer,  sondern  auch  solche  semitischer  Ab- 
kunft, wie  der  Greneral  Cha'-hape  selbst,  einbegriffen  gewesen 
seien.  Damit  wäre  dann  in  der  Tat  ein  wesentlicher  Schritt  in 
der  Bedeutungsentwicklung  des  Wortes  vom  Meder  im  speziellen 
zum  Soldaten  im  allgemeinen  getan  gewesen. 

Ob  auch  das  in  der  Inschrift  des  äthiopischen  Königs  Nastesen, 
des   Gregners   des   Kambyses,   genannte   feindliche   Volk   der  Mdj, 

geschrieben  ^^^V'fl!)  o|  |  (auch  mit  Pluraldeterminativ),  das  Weih- 
geschenke aus  gewissen  Tempeln  Xubiens  am  3.  und  4.  Nükatarakt 
geraubt  haben  soll^),  „die  Meder",  d.i.  die  Perser,  das  Heer  des 
Kambyses,  darstellt,  ist  ungewiß,  aber  keineswegs  unmöglich. 
Jedenfalls  hat  aber  das  in  der  Siegesinschrift  des  Königs  Sar-si- 
jotef,  des  Vorgängers  des  Nastesen,  genannte  feindliche  Volk  Mdd 
\7i.  81 — 89)  nichts  damit  noch  mit  den  Medem  zu  tun. 

Sicher   in   seiner   eigentlichen  Bedeutung  erscheint  das  Wort 

Mdj,  in  der  gleichwertigen  Schreibung  ^^MofXn'i  Mtj,   in  dem 

bekannten  Texte  von  Edfu,  der  die  einzelnen  Namen  der  uralten 
„Neun Völkertafel"  der  Ägypter,  der  9  Völker,  über  die  der  äg. 
König  gebieten  sollte,  der  „9  Bogen",  wie  die  Ägypter  sie  nannten, 


1)  Schäfer,  Die  äthiopische  Königsinschrift  des  Berliner  Museums  S.  41. 
—  Er  sah  in  dem  Volk  damals  noch  die  nubischen  Bega. 

Kgl.  Ges.  d.  Wiss.    Kacliriclit«i>.    Phil.-liist.  Ela«8e.     1916.    1.  Heft.    -  9 


130  Kurt  Sethe, 

erklärt  *).  Dort  wird  das  7.  Volk  der  Pd-tj-wSw  (usw.  „die  Bogen- 
schützen der  Leere"  d.  i.  der  Wüste)  erklärt  als  das  Bogenvolk 
der  Schös-Beduinen,  d.  i.  die  Semiten  Palästinas  und  Syriens,  und 
„das  Land  der  Meder"  (p  ü  ni  Mtj),  „welche  leben  vom  Wasser 
von  Nil  (d.  i.  Fluß)  und  Bach"  ^).  Wenn  auch  auf  die  vielfach  ge- 
radezu unsinnigen  Ausdeutungen,  die  dieser  der  Ptolemäerzeit  ent- 
stammende Text  den  uralten,  z.  T.  längst  nicht  mehr  verstandenen 
oder  falsch  bezogenen  Völkemamen  gibt,  nichts  zu  geben  ist,  so 
ist  doch  völlig  klar,  daß  an  unserer  Stelle  mit  den  Mtj  ein  in 
Asien  an  größeren  Strömen  wohnendes  Volk  gemeint  sein  muß. 

Ln  Kopt.  bedeutet  Axa.Toi,  wie  gesagt,  nur  noch  „Soldat".  Der 
Volksname  ist  also,  wie  das  oben  bei  g^Ä.ts'op  vermutlich  der  Fall 
war,  zur  Berufsbezeichnung  geworden.  Dafür  gibt  es  ja  genug 
Analogien.  Außer  der  schon  oben  zu  ^*.(?'op  angezogenen  Parallele 
aus  dem  Türkischen  sei  hier  nur  auf  die  „Schweizer"  verwiesen, 
die  dem  Papst  als  Leibwache  dienen  und  bei  uns  die  Milchwirt- 
schaft leiten.  Oft  sind  es  wirklich  noch  Leute  aus  der  Schweiz, 
keineswegs  aber  immer.  Eine  gerade  mit  Bezug  auf  den  speziellen 
Beruf  der-Aiö^Toi  passende  Parallele  weist  mir  E.  Littmann  aus 
dem  Syrischen  nach,  wo  der  römäjä,  d.  i.  Römer,  den  „Soldaten" 
bezeichnet.  Das  Kopt.  selbst  hat  zwei  Parallelen  in  den  Worten 
für  „Hirt",  *^AAe  und  uguic,  die  beide  auf  ältere  äg.  Benennungen 
der  Semiten  zurückgehen,  ersteres  auf  das  uralte  'jm  (d.  i.  uy 
„Volk"),  letzteres  auf  das  im  neuen  Reich  übliche  Sisw,  das  viel- 
leicht seinerseits  ursprünglich  eine  appellativische  Bezeichnung  („die 
Wandernden")  gewesen  sein  mag.  Weil  die  Semiten  im  Unterschied 
zu  den  seßhaften,  Ackerbau  treibenden  Ägyptern  zum  nomadisie- 
renden Hirtenleben  neigten,  wurde  ihr  Name  zur  Bezeichnung  des 
Hirtenberufes. 

In  seiner  ursprünglichen  Bedeutung  als  Name  eines  Volkes 
scheint  sich  jui*.toi  jedoch  auch  im  Kopt.  noch  in  Eigennamen  er- 
halten zu  haben.  Wenn  eine  Frau  den  Namen  -x **.&'»  oi  führt  ^),  so 
kann  das  doch  wohl  nur  „die  Mederin",  d.  i.  Perserin  (vgl.  griech. 
JIsQöig  als  Frauenname)  bedeuten,  ein  Name,  der  sich  dem  häufigen 
männlichen  Personennamen  nea'iuig  „der  Nubier"  (vgl.  unseren  Namen 
„Mohr**)  an  die  Seite  stellt.   Vgl.  dazu  auch  die  dem  neuen  Reiche 


1)  Roug<5,  Inscr.  d'Edfou  pl.  113  =  Brugsch,  Äg.  Ztschr.  3, 26 ff. 

2)  In  dem  Text  wird  bei  jedem  Volke  festgestellt,  woher  es  sein  Wasser 
bezieht,  ob  aus  Regen  („Wasser  des  Himmels"),  aus  Brunnen,  aus  Flüssen  („Nil", 
so  z.  B.  die  Assyrer),  aus  Bächen  (s7^,  mAep  so  z.  B.  die  Inseln  des  ägäischen 
Meeres). 

8)  Gram,  Kopt.  Rechtsurkunden  119. 


Spuren  der  Perserherrschaft  in  der  späteren  ägyptischen  Sprache.       131 

entstammenden  Eigennamen  Pij-nhsj  ^dieser  Neger"  (hebr.  cnrB) 
und  Pij-filric  „dieser  Syrer*^' 

Was  die  Form  des  Wortes  a«.*.toi,  gesprochen  Matöt,  betrifft, 
so  ist  sie  in  mehrfacher  Hinsicht  von  Interesse.  Das  t  verhalt 
sich  wie  bei  p'^ok,  d.  h.  es  wird  im  bohairischen  Dialekt  nicht 
aspiriert,  also  ganz  so  bebandelt  wie  das  aus  altem  äg.  d  hervor- 
gegangene T,  im  Unterschied  zu  dem  aus  altäg.  t  hervorgegangenen 
T.  Der  Vokal  a  der  unbetonten  ersten  Silbe  hat  sich  dagegen, 
ebenso  wie  in  ^^^.(S'op,  erhalten  und  ist  noch  nicht  wie  in  p"Tofe  zn 
e  verflüchtigt  worden.  Der  betonte  Vokal  o  (o)  aber  steht  offenbar 
wieder  für  a. 

Die  Grundform  des  Wortes  dürfte  das  aramäische  Mädäj 
(•'Ta)  gewesen  sein.  Der  Name  der  Perser  würde  demnach  in  die 
äg.  Sprache  in  der  Form  eingedrungen  sein,  in  der  ihn  die  Ägyp- 
ter von  der  persischen  Verwaltung  und  dem  persischen  Heer,  die 
sieh  eben  der  aramäischen  Sprache  bedienten,  gehört  hatten,  und 
das  ist  durchaus  glaubhaft. 


4.    «yfcciciun. 

Auf  demselben  Wege,  über  das  Aramäische,  ist  nun  aber  auch 
der  Name  des  Volkes,  das  die  Perser  als  Herren  Ägyptens  abloste, 
der  Griechen,  zu  den  Ägyptern  gelangt.  Die  hieroglyphischen  In- 
schriften nennen  die  Griechen  seit  den  Zeiten  der  26.  Dyn.,  in 
denen  die  ersten  Niederlassungen  von  Griechen  im  Nildelta  statt- 
fanden und  die  ersten  Anwerbungen  griechischer  Soldtruppen  durch 
die  ägyptischen  Herrscher  erfolgten,  mit  dem  uralten  Namen  Hi .  w- 
nh.ict,  der  seit  den  ältesten  Zeiten  der  äg.  Geschichte  die  Be- 
wohner der  Inselwelt  des  ägäischen  Meeres  bezeichnete. 

Erst  in  den  demotischen  Texten  der  älteren  Ptolemäerzeit, 
—  vermutlich  nur  zufällig  nicht  früher,  weil  es  an  älteren  demoti- 
schen Texten,  die  die  Griechen  erwähnen,  fehlt  —  tritt  dann  dafür 
der  Name  auf,  der  noch  im  Koptiachen  die  Griechen  bezeichnet 
und  der,  wie  das  sogleich  schon  von  den  ältesten  Agyptologen  er- 
kannt wurde,  ebenso  auf  das  griech.  'Jcaveg  zurückgeht,  wie  die 
Benennung  der  Griechen  bei  den  semitischen  Völkern,  insbesondere 
den  Hebräern  xmd  Aramäern.  Es  liegt  hier  ganz  etwas  Ahnliches 
vor,  wie  bei  der  Benennung  der  Perser  als  Meder  durch  dieselben 
Völker.  Der  Stamm  des  Volkes,  den  man  zuerst  kennen  lernte, 
gab  den  Namen  für  das  ganze  Volk  her. 

Der  auf  den  Namen  der  Jonier  zurückgehende  äg.  Name  für 
die  Griechen,   der,   wie  gesagt,   zuerst  in  der  Ptolemäerzeit  nach- 


132  Kurt  Sethe, 

weisbar  ist,  wird  in  den  demotischen  Texten  dieser  Periode  stets 
rein  konsonantisch  Wjnn  (auch  als  Singularis)  geschrieben^).  Im 
Kopt.  lautet  er:  sahidisch  oyeeif  mti  oder  oTfeiemn,  d.i.  gesprochen 
üeiemn,  bohairisch  oYeini«,  gesprochen  Ueimn,  in  seinem  Kon- 
sonantengerippe Wjnn  also  durchaus  jener  demotischen  Schreibung 
entsprechend. 

Der  dem  3.  nachchristlichen  Jahrhundert  angehörende  demo- 
tische magische  Papyrus  von  Leiden  und  London,  das  jüngste  de- 
motische Schriftdenkmal,  das  wir  besitzen,  gebraucht  vielfach 
Schreibungen,  die  die  Vokale  durch  Konsonantenzeichen  („Matres 
lectionis")  anzudeuten  suchen.  So  auch  bei  unserem  Worte,  das 
in  dem  Papyrus  einmal  (27,  85)  in  dem  Ausdruck  nid .  t  Wj'nj  = 
kopt.  juiii'r-oyeeiemii  sah. :  juie-x-oTfeinm  boh.  „griechische  Rede", 
d.  i.  „griechische  Sprache",  vorkommt.  Da  der  Text  das  Zeichen 
für  '  sonst  überall  bei  Vokal andeutungen  für  den  Vokal  a  gebraucht 
und  das  e  durch  das  alte  Zeichen  für  das  Hülfszeitwort  iw  (kopt. 
e)  andeutet,  so  wird  man  hier  Wajani  (resp.  emendiert  WajanmT) 
zu  lesen  und  darin  vielleicht  eine  ältere  Form  der  Vokalisation 
zu  erkennen  haben,  bei  der  das  a  der  Nebensilben  noch  nicht  zu  e 
verflüchtigt  war,  wie  bei  den  äg.  Wörtern. 

Daneben  findet  sich  ib.  12,  25  für  das  Femininum  „Griechin" 
eine  Form,  die  WfnjnCw.t  geschrieben  ist  und  nach  dem  eben 
Gesagten  Wajanäine  zu  lesen  wäre.  Dies  ist  eine  gute  Femininal- 
bildung  zu  dem  Maskulinum  Wajantn,  die  im  Kopt.  ihre  Analoga 
hat,  sowohl  in: 

ÄeA-ugipi  boh.  „Jüngling"  —  fem.  ^eA-ogöwipi  „Jungfrau*, 
das  ebenfalls  die  Entsprechung  von  «  —  ai  aufweist,  als  in: 

(^i).xxoy\  „Kamel"  —   fem.  «^«.Aid^TfAe 

^oyip  „taub"  —  fem.  Kd^ypi  boh. 

Novv  Elementargott  —  fem.  Navvi 

Hiiovv  Elementargott  —  fem.  ^Jfiavvi, 
wo  ganz  entsprechend  ü  und  au  einander  gegenüberstehen^).  In 
beiden  Fällen  ist  ein  langer  Vokal  i  oder  ü  bei  der  Ableitung  der 
Femininalformen  so  behandelt,  als  ob  er  diphthongischen  Ursprungs 
sei  {ej,  ew)^),  was  bei  ö'äjuotA,  'J(iovv  und  ujipi  völlig  ausge- 
schlossen ist. 

Was  nun  die  kopt.  Form  oyceiemn :  oTemm  und  ihre  demo- 
tischen Prototype,  die  wir  eben  betrachtet  haben,  anlangt,  so  hat 

1)  So  z.  B.  schon  in  der  oben  S.  125  zitierten  Inschrift  Leps.,  Denkm.  VI  69, 
demot.  162. 

2)  Vgl.  Sethe,  Verbum  I  §  45.   Äg.  Ztschr.  47,24. 

3)  Vgl.  dazu  die  boh.  Formen:   ugniiu  „Nachricht"  neben  sah.  igme,  Ver- 


Spuren  der  Perserherrschaft  in  der  späteren  ägyptischen  Sprache.       133 

bereits  W.  Max  Müller,  Asien  und  Europa  370  Anm.  3  in  dem 
Element  v«,  auf  das  sie  ausgeht,  die  aramäische  Pluralendung  er- 
kannt und  deshalb  aramäischen  Ursprung  für  die  äg.  Namensform 
postuliert.  Im  übrigen  konnte  er  die  seltsam  gestaltete  Form  aber 
nicht  erklären. 

Die  Erklärung  ergibt  sich  aber  von  selbst,  wenn  man  sich 
vergegenwärtigt,  wie  leicht  im  Ägyptischen  Metathesis  tritt.  WS- 
jenin  resp.  sein  Prototyp  Wajantn  sind  aus  *Waj janin  zu  erklären, 
das  seinerseits  aus  *Jawnajin  durch  doppelte  Umsetzung  von  jau) 
zu  waj  und  von  naj  zu  jan  hervorgegangen  sein  dürfte. 

Für  die  Metathesis  der  Konsonantenfolge  jw  zu  wj^)  bietet 
das  Kopt.  vielleicht  gewissermaßen  eine  Parallele  in  der  Form 
of i-^ei,  die  der  fajjumische  Dialekt  für  lovdatoi  bietet  (Ag.  Ztschr. 
47,  22  Anm.  1).  Wie  weit  bei  dem  in  den  Pyr.-Texten  zu  beob- 
achtenden Übergang  des  alten  gemeinsemitischen  Wortes  für 
„rechts"  jnm  zu  dem  wnmj  der  historischen  Zeit  (kopt.  ofni^Ju. 
sah. :  «yfin*.*!  boh. :  iinn*juL  fajj.)  etwa  auch  eine  solche  Metathesis 
im  Spiele  gewesen  sein  mag,  entzieht  sich  vorläufig  unserer 
Kenntnis. 


bum  I  §  24,  3,  und  cgd^ncY^  „ernährt  sein"  neben  sah.  ce^noTig,  Verbum  I  §  46, 
wo  beide  Male  rein  vokalisches  i  und  ü  in  die  Diphthonge  ei  (mit  sekundärer 
Dehnung  des  e  vor  dem  t)  und  eu  zerlegt  ist. 

1)  Vgl.  auch  den  Übergang  von  jw  zu  wj  bei  dem  Pronom.  absolutum  1.  sg. 
im  Altägyptischen. 


Zur  sogenannten  Deprecatio  Gelasii^). 

Von 

W.  Boosset. 

Vorgelegt  in  der  Sitzung  vom  20.  NoTCmber  1915. 

Wilhelm  Meyer  hat  im  Anhang  II  zu  seinem  Aufsatz  Gildae 
oratio  r;>i:hmica^)  unsere  Aufmerksamkeit  auf  eine  Deprecatio  Papae 
Grelasii  gerichtet,  welche  die  Pariser  Handschr.  1153  enthält. 

Die  Deprecatio  ist  eine  Fürbittenreihe  von  14  Bitten  (nebst 
Einleitung  und  Schluß),  die  sämtlich  mit  pro  beginnen:  pro  imna- 
culata  dei  vivi  ecclesia  .  .  .  divinae  bonitatis  opulentiam  deprecamur 
(domine  miserere).  —  W.  Meyer  zählt  eine  Reihe  eng  mit  der  de- 
precatio verwandte  Stücke  auf.  1)  Das  entsprechende  Gebet  des 
Stowe-Missals ').  2)  und  3)  Zwei  Gebetsstücke ,  die  sich  in  einer 
Handschr.  des  gregorianischen  Antiphonars  in  der  Bibl.  Angelica  in 
Rom  finden  (Angelicus  a.  b.)  *).  4)  und  5)  Zwei  Mailänder  Texte 
(Mailand  a.  b.)  %  5)  Ein  Text  der  Handschr.  Wien  lat.  1888  fol. 
110*«). 

Außerdem  hat  W.  Meyer  uns  auf  verwandte  Gebete  in  den 
altgallischen  Sacramentarien ,  dem  Missale  Gothicum,  dem  Missale 
Gallicum  vetus,  dem  Sacramentariom  Gallicanum")  sowie  auf  ent- 
sprechende  der   altspanischen   Liturgie   im  Missale   mixtum  *)  und 


1)  Der  kleine  Aufsatz  war  als  Anbang  zn  der  üntersachong  im  3.  Heft  (1915) 
gedacht  und  erscheint  nunmehr  unter  besonderem  Titel. 

2)  Nachr.  d.  Gesellsch.  d.  Wissensch.  Göttingen  1912.    S.  87. 

3)  F.  Probst,  d.  abendl.  Messe.  1896.    S.  47. 

4)  Jos.  Maria  Thomasius  opera  V  241  und  U  570. 

5)  Thomasius  opera  II  572. 

6)  Gerbert,  Monumenta  veteris  liturgiae  Alemanniae  II  89. 

7)  Muratori,  Liturgia  romana  vetus  II  585—589;  736—738;  843 — 845. 

8)  Migne,  Patr.  Lat.  Bd.  85.  448—470. 

KsL  Oes.  d.  Wiss.  Nachrichten.    Phfl.-hist  Klasse.    1916.    Heft  2.  10 


136  W.  Bousset, 

im  Liber  ordinum  ^)  hingewiesen.  —  Endlich  liefert  uns  das  Gre- 
gorianum  (Muratori  II  57)  eine  Parallele  (dasselbe  Grebet  auch  im 
sogenannten  Gelasianum;  Wilson  1894  p.  75). 

Diese  Gebete  haben  nach  den  einzelnen  Zeugen  einen  ver- 
schiedenen Platz.  Nur  das  Stowe-Missale  enthält  das  Gebet  als 
festen  Bestandteil  der  regulären  Tagesmesse.  Angelicus  a  ist  für 
die  Dominica  secunda  in  Quadragesima  bestimmt,  Angelicus  b  für 
die  Dominica  prima  in  Quadragesima  (Thomasius  V  241) ;  ebenso 
Mailand  a  und  b  für  die  1.  und  2.  (oder  2.  und  3.)  Sonntage  der 
Fastenzeit  '^). 

Während  so  in  den  Zeugen  der  alten  Mailänder  Liturgie  (auch 
Angel,  a  und  b  gehören  wohl  dorthin)  das  Gebet  als  Bestand  eines 
Sonntags  der  Fastenzeit  erscheint,  steht  es  in  den  alten  gallikani- 
schen  und  spanischen  Liturgien  als  ein  Teil  der  Ostervigil '). 

Das  Sacramentarum  Gregorianum  ordnet  endlich  die  Litanei 
für  den  Karfreitag  an. 

In  einem  besonders  engen  Verhältnisse  stehen  von  allen  diesen 
Zeugen  die  Deprecatio  Gelasii  und  das  (irische)  Stowe-Missale. 
Das  zeigt  sich  besonders  deutlich  am  Anfang  und  am  Schluß. 

Gelas.  beginnt:  Dicamus  omnes:  Domine  exaudi  et  miserere. 
Das  Stowe-Missale :  Dicamus  omnes  ex  toto  corde  et  ex  tota  mente : 
domine  exaudi  et  miserere,  domine  miserere*). 

Am  Schluß  hat  Gelas.  noch  eine  Reihe  von  Bitten,  die  sich 
von  der  Pru-Reihe  durch  ihre  andere  Form  scharf  abheben  und 
die  mit  dem  Refrain  praesta,  domine,  praesta  schließen.  Auch 
einige  der  anderen  Zeugen  (Stowe-Missale,  Mail.  a.  b.  Angel  a.  b.) 
haben  Schlüsse.  Sie  stimmen  aber  alle  nicht  mit  Gelas.  überein. 
Doch  in  dem  Schluß  des  Stowe-Missale  kehrt  die  charakteristische 


1)  Monumenta  ecclesiae  liturgica  hrsg.  v.  Cabrol  und  Leclerq.  V.  1904. 
M.  F^rotin,  Le  liber  ordinum,  en  usage  dans  l'dglise  Wisigothique  et  Mozarabe 
d'Espagne  du  5  au  11  sifecle  p.  217—223. 

2)  W.  Meyer  S.  89.  Vgl.  auch  für  Mailand  a  Pamelius  Rituale  S.  Patrum 
I  328  und  für  Mailand  b  ib.  I  331.  —  Der  Text  des  Mailändischen  Rituals  bei 
Pamelius  ist  deshalb  wichtig,  weil  er  uns  die  Stelle,  welche  dies  Gebet  in  der 
Messe  einnahm,  deutlich  macht. 

3)  Vgl.  die  Überschrift  im  Gothicum :  Orationes  paschales  duodecim ,  im 
Gallicanum  vetus  und  Sacram.  Gallicanum:   Orationes  in  vigilia  Paschae. 

4)  Von  den  übrigen  Zeugen  kommt  Wien  f.  1888  110  am  nächsten:  dica- 
mus omnes,  domine  miserere.  ex  toto  corde  et  ex  tota  mente  oramus.  te.  Dana 
Mailand  a:  divinae  pacis  et  indulgentiae  munere(?)  supplicantes  ex  toto  corde  et 
ex  tota  mente  precamur  te  D.  mis.  u.  s.  f.  Vgl.  W.  Meyer  102  ,  der  vorschlägt 
nach  dem  Stowe-Missale  am  Schluß  vom  Gel.  noch  eventuell  domine  misbrere 
hinsuzufügen. 


zur  sogenannten  Deprecatio  Gelasii.  137 

Formel  praesta  domine  praesta  (wie  auch   das  dicamus   omnes  des 
Anfangs)  wieder. 

Das  Stowe-Missale  enthält  (von  zweiter  Hand)  die  Aufschrift 
Canon  papae  Gelasi').  Demgemäß  wollte  Bäamer  in  diesem  Mis- 
sale den  Text  der  gelasianischen  Messe  finden^).  Probst  will 
freilich  mit  dem  Ansatz  für  die  Entstehung  des  Stowe-Missale 
noch  über  die  Zeit  des  Gelasius  hinübergehen,  die  Grundlage  des 
Stowe-Missale  auf  die  alte  durch  Patrick  eingeführte  irische  Messe 
zurückführen  und  in  ihr  die  unter  Papst  Coelestin  (422 — 432)  ge- 
lesene römische  Tagesmesse  erkennen  (vgl.  S.  42  a,  a.  0.  und  den 
Beweis  56  ff.).  Ob  Probst  seine  These  wirklich  bewiesen  hat,  steht 
dahin.  Aber  für  die  Abstammung  des  Stowe-Missale  aus  römischer 
Messe  hat  er  gewichtige  Gründe  beigebracht.  Und  die  enge  Ver- 
wandtschaft, in  der  das  von  uns  zu  untersuchende  Gebet  mit  der 
Deprecatio  Gelasii  steht,  ist  geeignet,  diese  These  von  dem  rö- 
mischen Charakter  des  Stowe-Missale  von  neuem  zu  bestätigen. 

Sehen  wir  uns  nunmehr  den  parallelen  Text  in  der  Deprecatio 
und  im  Stowe-Missale  auf  seinen  Inhalt  an ,  so  ist  der  größere 
Bestand  desselben  ja ,  wie  auf  den  ersten  Blick  ersichtlich ,  gar 
nichts  anderes,  als  das  allgemeine  Fürbittengebet,  das  wir  aus 
der  griechischen  Liturgie  als  ständigen  Bestandteil  der  Messe  so 
gut  kennen,  das  aber  aus  der  späteren  abendländischen  Liturgie 
nahezu  verschwunden  ist.  Damit  hängt  es  denn  auch  zusammen, 
daß  es,  wie  wir  sahen,  in  seinem  Gebrauch  nach  fast  allen  unseren 
Zeugen  (mit  Ausnahme  des  Stowe  -  Missale)  auf  einen  Tag  des 
Jahres  beschränkt  erscheint').  Nur  Stowe-Missale  gibt  das  Gebet 
als  einen  Bestand  der  gewöhnlichen  Messe;  es  geht  also  auf  eine 
Zeit  zurück,  in  der  man  in  Rom  das  Fürbittengebet  als  einen 
festen  Bestandteil  des  Gottesdienstes  noch  kannte.  Wenn  es  als 
Deprecatio  Gelasii  in  dem  verwandten  Text  bereits  für  sich  über- 
liefert ist,  so  weist  das  wohl  darauf  hin,  daß  zur  Zeit  der  Ent- 
stehung dieses  Zeugen  das  Gebet  sich  bereits  aus  der  Tagesliturgie 
losgelöst  hatte  und  sein  Sonderdasein  führte.,  Ob  Gelasius  (492 — • 
496),  unter  dessen  Namen  das  Sonderstück  nunmehr  erscheint,  mit 
dieser  liturgischen  Änderung  ursächlich  zusammenhängt? 


1)  F.  Probst,  die  abendländische  Messe.     S.  47. 

2)  S.  Bäumer,  das  Stowe-Missale,  Ztschr.  f.  kath.  Theol.  Innsbruck  1892. 
S.  446  ff. 

3)  Nach  P.  Drews  (Stud.  z.  Gesch.  d.  Gottesdienste  2—3,  1906),  Untersu- 
chungen ü.  d.  klementinische  Liturgie  S.  128  kannte  noch  Felix  III.  (483—492) 
das  Gebet.  —  Leider  wissen  wir  nicht  genau,  wann  es  gefallen  ist.  Wir  hätten 
sonst  einen  terminus  ad  quem  der  Entstehung  des  Stowe-Missale. 

10* 


138  W.  Bousset, 

Aber  das  Gebet  hat  noch  (in  Gelas.  und  Stowe-Miss.)  eine 
zweite  Hälfte  resp.  einen  charakteristischen  Schloß,  und  dieser 
Schluß  soll  uns  dienen,  seine  Beziehungen  zur  griechischen  Liturgie 
aufzuhellen.  Denn  das  allgemeine  Fürbittengebet  ist  ja  so  weit 
verbreitet  und  in  so  viel  Nuancen  und  Varianten  vorhanden,  daß 
eine  Untersuchung  nach  besonderen  Verwandtschaftsverhältnissen 
hier  außerordentlich  schwierig  ist. 

Die  Herkunft  des  Schlusses  aber  können  wir  noch  mit  aller 
"wünschenswerten  Deutlichkeit  bestimmen.  Die  älteste  griechische 
Parallele  liegt  nämlich  in  den  apostol.  Konstit.  VIII 36  u,  38  vor.  Was 
wir  hier  haben,  ist  das  Diakongebet,  das  nach  den  Konstitutionen 
in  dem  täglichen  Abend-  und  Morgengottesdienst  gesprochen  wurde  ^). 
Wir  haben  auf  dieses  Gebet  bereits  oben  S.  483  hingewiesen  und 
ausgeführt,  daß  die  Diakon-Bitten,  um  die  es  sich  hier  handelt,  in 
der  Tat  auch  dort  an  das  allgemeine  Fürbittengebet  im 
täglichen  Gottesdienst  des  Morgens  und  des  Abends 
anschlössen. 

Der  Beweis  für  die  Verwandtschaft  des  Schlusses  der  Depre- 
catio  mit  ihnen  ist,  wenn  sich  auch  nicht  alle  Sätze  desselben  dort 
belegen  lassen,  leicht  zu  erbringen.  Ich  stelle  die  in  Betracht 
kommenden  Bitten  (nebst  einer  Parallele  aus  dem  Stowe-Missale) 
gegenüber,  wobei  ich  den  Konstitutionentext,  der  nur  die  Anfänge 
der  Gebete  gibt  (s.  o.),  aus  der  Jakobus-Liturgie  (Brightman  39) 
ergänze. 

Deprecatio  Gelasii.  apost.  Konst.  VIII  36.  38. 

e.  gratum  vitae  ordinem  et  pro-  ta   xaXot  xal   ta  oo|icpspovTa   [taic 
babilem  exitum   praesta  domine,  <{>o)^ai<;  fjjtwv  xal  elpifjvTjv  ttp  xdo(j.(j> 
praesta!  Tcapa  toö  xop[oo  aiTTf]otö(i,eda]. 
{Stowe-Miss. :  Christianum  et  pa-  Xptouava  ta  ziXf]  [t/^c  C<«)'^<;  i^itöv 
cificum  nobis  finem  concedi  a  do-  avwSova  .  .  .  alt7]ocb|tedaJ. 

mino    deprecemur.     praesta,  do- 
mine, praesta! 

f.  angelum  pacis  et  solacia  sanc-     (töv)  ÄYfeXov  (zbv  hzl   f^?)  slpi^v/j«: 
torum  praesta,   domine,  praesta!     [iciotöv 687J7ÖV, ^oXaxa twv tj^o^^wv xal 

g.  nosmet  ipsos  et  omnia  nostra,     altTjOwjisda].  iaotoix;  xal  aXXT^Xoo? 
quae  orta,  quae  aucta  per  domi- 


1)  Chrysostomus  bestätigt  die  Sitte  eines  täglichen  Abendgottesdienstes  für 
Antiochia  in  seinem  Kommentar  zu  Ps.  140  c.  1.  Vgl.  Funk  zu  Konst.  VIII  36, 
in  seiner  Ausgabe,  Didascalia  et  Constit.  apost  1906. 


zur  sogenannten  Deprecatio  GeltsiL  139 

num  ipso  auctore  suscipimus  . . ., 

ipsius    misericordiae   et   arbitrio  t(p  Cwvtt  ^e^ 

providentiae  commendamus.  Sux  toö  Xpiotoö  aotoü  xapadwpLs^a. 

Der  Beweis  ist  durch  diese  Zusammenstellang  geliefert.  Der 
Schluß  der  Deprecatio  Gelasii  ist  das  alte  Abend- (Morgeii-)Gebet  des 
täglichen  Gottesdienstes  in  den  Konstitutionen  ^),  von  dem  uns  an- 
dererseits das  Stowe  -  Missale  noch  eine  Reliquie  im  Wortlaut 
(Xptouavdt  ta  t^Xtq)  aufbewahrt  hat^).  Ja  noch  mehr,  die  ganze 
Deprecatio  Gelasii  ist  gar  nichts  anderes,  als  die  Zusammenstellung 
von  allgemeinem  Fürbittengebet  und  Abend-(Morgen-)Bitte,  wie  sie 
die  Konstitutionen  für  den  täglichen  Gottesdienst  vorschreiben. 
Ja  man  kann  vielleicht  noch  einen  Schritt  weitergehen.  Die  abend- 
ländische Überlieferung  stimmt,  wie  wir  durch  den  Vergleich  sahen, 
nur  mit  den  Anfangsformeln  der  einzelnen  Bitten  überein.  Es  ist 
sehr  wohl  möglich,  daß  die  Gebetsvorschriften  in  der  abgekürzten 
Form  der  Konstitutionen  ins  Abendland  wanderten  und  dort  ihre 
eigene  Ergänzung  erhielten. 

Auf  welchem  Wege  ist  diese  Wanderung  erfolgt?  Kaum  wird 
man  einen  Einfluß  des  Konstitutionentextes  im  Abendland  an- 
nehmen dürfen.  Dafür  femer,  daß  hier  das  Gebet  Bestand  eines 
täglichen  Abend-  oder  Morgengebetes  gewesen  sei ,  ist  kein  An- 
zeichen vorhanden.  Unser  bester  Zeuge  in  dieser  Hinsicht,  das 
Stowe-Missale,  bringt  das  Gebet  als  einen  Bestand  des  eucharisti- 
schen  Gottesdienstes.  Wir  werden  also  die  Frage  zu  erheben 
haben,  ob  diese  Gebets  Formation  sich  innerhalb  der  griechischen 
Liturgie  als  Bestand  des  eucharistischen  Gottesdienstes  erweisen 
läßt.  Der  Nachweis  läßt  sich  erbringen.  Die  Jakobusliturgie 
(Brightman  38  f.)  bietet  nach  der  Evangelienverlesung  am  Beginn 
der  Gläubigenmesse  dieselbe  charakteristische  Erscheinung:  Ver- 
bindung der  Fürbittengebets  mit  dem  Abend-(Morgen-)Gebet.  Man 
würde  also  von  hier  aus  zu  der  These  einer  Abhängigkeit  der 
römischen  Messe  von  der  Jakobusliturgie  kommen,  die  ja  für  viele 
andere  Punkte  bereits  Drews  in  seiner  Schrift  über  die  Entstehungs- 


1)  Dieses  erscheint  übrigens  auch  als  Schluß  des  Gebets  für  die  Eatechu- 
menen,  das  der  Diakon  bei  deren  Entlassung  aus  dem  Gottesdienst  spricht  Konst. 
VIII  6,  und  diese  Kombination  setzt  bereits  Cbrysostomus  de  incomprehens.  Dei 
natura  III  7  (vgl.  Brightman  471)  voraus.  Sie  ist  dann  (Br.  p.  374)  in  die  by- 
zantinische Liturgie  weitergewandert. 

2)  Die  ersten  beiden  Bitten  der  Deprecatio  (bei  W.  Meyer  c.  und  d.)  lassen 
sich  im  griechischen  Text  nicht  nachweisen.  Sie  werden  vielleicht  Erweiterung 
der  Deprecatio  sein. 


140  ^-  Bousset, 

geschichte  des  Kanons  i.  d.  römischen  Messe  behauptet  hat'  ^). 
Allerdings,  in  der  uns  vorliegenden  Form  kann  auch  die  Jakobus- 
liturgie kaum  die  Quelle  für  die  Deprecatio  Gelasii  gewesen  sein. 
Denn  gerade  an  dieser  Stelle  bringt  sie  das  Fürbittengebet  in  einer 
außerordentlichen  Verkürzung.  Man  müßte  schon  annehmen,  daß 
der  Redaktor,  der  jene  Gebetsformation  in  die  abendländische 
Messe  einführte,  daneben  die  viel  umfangreicheren  Fürbittengebete 
der  Jakobusliturgie  unmittelbar  vor  der  Anaphora  (Brightman  44  ff.) 
und  das  Intercessionsgebet  (Br.  54  ff.)  benutzt  hätte,  oder  daß  er 
die  Jakobusliturgie  in  einer  älteren  Form  kannte,  oder  endlich 
daß  er  daneben  ein  älteres  römisches  (ebenfalls  aus  der  griechischen 
Liturgie  übernommenes)  Fürbittengebet  —  ein  solches  existierte 
sicher  —  benutzt  habe. 

Auch  sind  mit  der  Parallele  der  Jakobusliturgie  nicht  alle 
Parallelen  der  morgenländischen  Liturgie  erschöpft.  Wir  finden 
drei  weitere  in  der  byzantinischen  Liturgie  (Chrysostomus-  und 
Basilius-Liturgie). 

Für  die  Chrysostomusliturgie ''')  in  ihrer  gegenwärtigen  Form 
kommen  zum  Vergleich  vier  Stellen  in  Betracht:  a)  ein  umfang- 
reiches allgemeines  Fürbittengebet  steht  bereits  in  der  Enarxis 
(Brightman  362),  b)  ein  zweites  derartiges,  verbunden  mit  dem 
Entlassungsgebet  für  die  Katechumenen  und  der  Evangelienver- 
lesung (Br.  373),  c)  ein  stark  verkürztes  Fürbittengebet  (Gebet 
der  Gläubigen)  verbunden  mit  dem  Ab  en  d  -  (Morgen-) 
Gebet  unmittelbar  vor  Glaubensbekenntnis  und  Prosphora  (Br.  380), 
d)  eine  ähnliche  Kombination  wie  die  letztere  nach  dem  Vaterunser 
(Br.  390)3). 

Diese  liturgischen  Stücke  zeigen  nun  in  mehrfacher  Hinsicht 
auffällige  Berührungspunkte  mit  der  Deprecatio  Gelasii  und  dem 
Stowe-Missale. 

1)  Es  wird  aus  den  weiter  unten  zu  gebenden  Zusammenstellung 
hervorgehen,  daß  eine  der  14  Fürbitten  der  Deprecatio  nirgends  in 
sonstigen  lateinischen  oder  griechischen  Zeugen  ihre  wörtliche  Par- 


1)  Studien  z.  Geschichte  des  Gottesdienstes,  Heft  1,  1902. 

2)  "Wir  können  den  ältesten  Zeugen   der  Chrysostomus-Basiliusliturgie   den 
Codex  Barberini  (VIII.  Jahrh.)   nicht  benutzen,  weil  dieser  überhaupt  keine   Dia- 
kongebete enthält ;  müssen  also  hier  mit  der  endgültigen-späteren  Form  der  ('hrj- 
sostomusliturgie  arbeiten. 

3)  In  der  von  Probst  (Liturgie  des  vierten  Jahrhunderts,  Münster  1893)  in 
Übersetzung  mitgeteilten  „Liturgia  basiliana  juxta  M.  S.  Isidori  Fyromali"  linden 
sich  sämtliche  Stücke  (in  allerdings  abweichendem  Text)  als  erste,  zweite,  dritte, 
vierte  Litanei  bezeichnet  wieder :  S.  892.  894.  396.  405. 


zur  sogenannten  Deprecatio  Gelasii.  141 

allele  findet.  Das  ist  die  Bitte  Nr.  12:  pro  omnibTis  intrantibos 
in  haec  sanctae  donrns  domini  atria,  (qui)  religioso  corde  et  supplici 
devotione  convenerunt,  dominum  gloriae  deprecamur.  Die  Parallele 
findet  sich  in  der  Chrysostomuslitnrgie  Stück  a  Br.  363  (hier  Nr.  3) : 
oitfep  Toö  aYioo  01X00  toötoo  xai  tojv  fteta  zioxsax;  söXaßeta?  xal 
^ößou  ö-eoö  eloiövTMv  Iv  aötij)  toö  xopioo  SsTjd'wjxsv  und  ebenso  in 
c.  Br.  380  (d.  h.  innerhalb  der  eigentlichen  Parallele  znr  Depre- 
catio). 

2)  Wir  notierten  oben  den  übereinstimmenden  Eingang  der 
Deprecatio  und  des  Stowe- Missale: 

Dicamus  ^)  omnes  (+  ex  toto  corde  et  ex  tota  mente  St.-M.) 
domine  exaudi  et  miserere  (+ domine  miserere  St.-M.). 

In  der  Chrysostomusliturgie  lesen  wir  im  Anfang  von  b :  si- 
:rö)|t6v  ^)  ^ravTsc  H  oXi]?  t^c  «{»ox'^C  xal  ki  SXij?  t^c  Siavoia?  Ei7ccü|iev  — 
xöp'.e  IXsirjoov. 

Auch  im  folgenden  gehen  Deprecatio  und  Chrysostomusliturgie 
zusammen : 

Patrem  nnigeniti  et   dei    filium  xopis  TtavtoxpdTOp  6  ^sö?  twv   Tca- 

genitoris  ingeniti  et  sanctum  de-  tspcüv  -^ji-wv ") 

um  spiritum  fidelibus  animis  in-  ösöjxe^a^)  ooo 

Yocamus  [respice  domine,  exaudi  eiraxoooov  xal 

et  miserere].  IXstjoov. 

3)  Endlich  aber  scheint  von  hier  aus  auch  der  Schluß,  in  wel- 
chem das  Stuwe-Missale  alleinsteht,  seine  überraschende  Aufhellung 
zu  erhalten.  Ich  stelle  die  in  Betracht  kommenden  Parallelen 
gegenüber. 

Stowe-Missale  Chrysost.  Lit.  d.  (Br.  391  f.) 

et  divinum  in  nobis  permanere  (391  le  Schluß  von  d.) :  ttjv  hö- 
vinculum  caritatis  sanctum  do-  nrjta  t^c  «tiotswc  xal  ttjv  xoivcoviav 
minum  deprecemur.     praesta!         toö  a^loo  TWcOjjLatoc  alTYjod{i.svoi  i- 

aoTou?   xal    aXXijXooc  ...    zip   ^e^ 

«apa^düfteda. 
sacrificium  tibi,  domine,  celebran-     (390  21  =  380  32  Stück  c)  ÖTrsp  täv 
dum  placatus  intende  ^)  Äpooxojtia^svtwv    xal    aiftaoO-svtwv 

1)  Beachte  den  Parallelismus  dicamus — eineuiAev,  invocamus — oeofxe&a  bis  in 
die  Geringfügigkeiten  der  Modi. 

2)  Chrjsostomus-Lit.  hat  eine  gani  archaistische  Formel  gegenüber  der 
trinitarischen  der  Deprecatio.  —  Angelicus  a.  bietet  die  trinitarische  Formel  ein- 
facher. Stowe-M.  ganz  abweichend:  qui  respicis  super  terram  et  facis  eam  tre- 
mere  (ähDlich  wieder  Angel,  b.  und  Mail.  b.). 

3)  Das  Gebet,  daß  Gott  die  dargebrachten  Gaben  gnädig  annehmen  wolle, 
findet  sich  bereits  als  Nr.  1  der  Diakonprosphonesen  Konstit.  VIII  13, 3. 


142  W-  Bousset, 

(oTTox;  6  (ptXdvö-pcöTroc   dsö?  i^jtwv  6 
TrpooSeSdjisvo?  aora  .  .  .) 
quod  et  nos  a  vitiis  nostrae  con-    (381 3)  oTcsp  toö  poodTjvat  i^jjiä«;  äzb 
ditionis  emundet  et   tuo    nomini    TrdoTjc  -ö-Xitjjsüx;  ipY^?  [xtvSovoo  xai 
reddat  acceptos.  (iva^XY]?  toö  xoptoo  SsyjO'witEv]. 

Nimmt  man  noch  hinzu,  daß  von  den  in  der  Mitte  zwischen 
390  21  und  39 1  le  stehenden  Gebeten  sich  wenigstens  noch  das  eine 
Griied  (Christianum  et  pacificum  nobis  finem  Xpiouava  zä  xkXri) 
hüben  und  drüben  nachweisen  läßt,  so  ist  der  Parallelismus  ein 
außerordentlich  starker,  wie  denn  überhaupt  nach  dem  obigen  Nach- 
weis über  das  „dicamus  omnes",  das  sich  im  Stowe- Missale  nicht 
nur  am  Anfang,  sondern  auch  am  Ende  findet,  alle  Grlieder  seines 
Schlusses  nunmehr  in  der  griechischen  Liturgie  nachgewiesen  sind. 
Nur  eines  bleibt  freilich  rätselhaft.  Die  Stellang  des  Gebets  im 
Stowe-Missale.  Dieses  steht  hier  nämlich  nach  der  Verlesung  der 
Epistel  und  des  Graduale  und  vor  der  des  Evangeliums ').  Das 
entspricht  keinem  der  Orte,  an  dem  sich  die  Parallelen  in  der 
Chrysostomusliturgie  finden. 

Nun  erhebt  sich  freilich  die  Frage,  ob  diese  Stücke  der  by- 
zantinischen Liturgie,  die  wir  nur  in  ihrer  späteren  ausgebildeten 
Form  nachweisen  können,  so  alt  sind,  daß  von  einem  Einfluß  von 
hier  aus  auf  die  römische  Liturgie  die  Rede  sein  kann.  Aber  wir 
wiesen  bereits  darauf  hin,  daß  die  vier  in  Betracht  kommenden 
Stücke  —  wenn  auch  im  Wortlaut  abweichend  —  sich  auch  in  der 
späteren  Basiliusliturgie  finden. 

Vor  allem  begegnen  uns  zu  den  Stücken  der  Chrysostomus- 
liturgie  charakteristische  Parallelen  in  der  armenischen  Liturgie : 
zu  b  ein  Fürbittengebet  Br.  423 f.,  allerdings  vor  der  Verlesung 
der  Lektionen^),  zu  c  eine  Kombination  von  Fürbittengebet  und 
Abendgebet  zu  Beginn  der  Messe  der  Gläubigen  Br.  428  f . ,  zu  d 
eine  ähnliche  Kombination  vor  dem  Vaterunser  Br.  444 f.  —  Auch 
einige  spezielle  Formeln  finden  sich  hier  wieder;  d  schließt: 
„Laßt  uns  alle  einmütig  sprechen,  Herr  erbarme  Dich"  (44536),  die 
Bitte  um  die  Einigkeit  findet  sich  in  der  Form:  "Wiederum  in 
Einigkeit  für  unsern  wahren  und  heiligen  Glauben  laßt  uns  den 
Herrn  bitten,  Herr  erbarme  Dich  (44021.  429 1;    vgl.  den  Engel  des 


1)  Darüber  bat  Probst,  abendländische  Messe  60  f.  68  eine  umfangreiche  Er- 
örterung angestellt.  Er  vermutet  eine  nachträgliche  Verschiebung  im  Stowe- 
Missale. 

2)  Das  erinnert  an  die  Stellung  des  Fürbittengebets  im  Stowe-Missale,  s.  0. 


ZOT  sogenannten  Deprecatio  Gelasii.  143 

Friedens  4288«).  —  Übereinstimmungen  zwischen  byzantinischer 
und  armenischer  Messe  können  aber  als  ein  Zeugnis  für  höheres 
Alter  der  betreffenden  Stücke  genommen  werden. 

Es  wird  vielleicht  nach  alledem  nicht  mehr  möglich  sein,  die 
Kanäle  ganz  bestimmt  nachzuweisen,  durch  welche  die  morgenlän- 
dische  Liturgie  das  Abendland  beeinflußt  hat.  Unsere  großen  grie- 
chischen Liturgien  sind  uns  sicher  nicht  genau  in  der  Form  er- 
halten, die  sie  damals  hatten,  als  ihr  Einfluß  nach  Westen  wanderte. 
Aber  daß  dieser  vorliegt,  ist  unbestreitbar.  Umkehren  wird  man 
das  Verhältnis  nicht  können ,  ein  lateinischer  Einfluß  auf  das 
Morgenland  ist  kaum  denkbar.  Die  charakteristische  Gebetsfor- 
mation, der  wir  nachgingen,  ist  für  das  Morgenland  bereits  durch 
die  Konstitutionen  (und  Chrysostomus)  bezeugt,  der  Schreiber  der 
Konstitutionen  ist  wiederum  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  nur 
Redaktor  nicht  Schöpfer  der  klementinischen  Liturgie.  Die  Ge- 
bete werden  im  Morgenland  zum  mindesten  in  der  Mitte  des 
vierten  Jahrhunderts  existiert  haben.  Andererseits  ist  es  nicht 
gut  möglich,  daß  das  Abendland  auf  spätere  Ausgestaltung  der 
Liturgien  des  Morgenlandes  mit  einer  Gebetsformation  Einfluß  ge- 
habt haben  sollte,  die  —  wie  überhaupt  das  allgemeine  f üibitten- 
gebet  —  vielleicht  schon  um  500  aus  dem  regulären  Gottesdienst 
verschwand,  die  eine  selten  gebrauchte  Reliquie  wurde  und  sich 
in  der  allsonntäglichen  Messe  nur  in  der  irischen  Kirche  länger 
erhalten  hat. 

Nachdem  so  der  Versuch  gelungen  ist,  den  Ursprung  der  De- 
precatio Gelasii  und  des  Gebets  des  Stowe-Missale  aufzuhellen,  gehe 
ich  (nunmehr  unter  Heranziehung  aller  übrigen  Zeugen,  besonders 
der  enger  verwandten  Angelicus  a.  b.,  Mailand  a.  b.,  Wien)  noch 
etwas  näher  auf  den  ersten  Teil  jener  Gebetsformation,  das  allge- 
meine Fürbittengebet  ein. 

Auch  hier  wird  uns  die  morgenländische  Liturgie  allerlei  Auf- 
schluß liefern  können.  Was  zunächst  die  Form  in  der  Deprecatio 
und  den  ihr  verwandten  Gebeten  betrifft,  so  beginnen  (nach  der 
Einleitung)  die  einzelnen  Bitten  alle  mit  pro  und  schließen,  wenn 
sie  im  vollständigen  Text  überliefert  sind,  mit  dem  Indicativ  oder 
auch  mit  dem  Konjunctiv  der  ersten  Person  Pluralis:  pro  . .  .  ec- 
clesia  .  .  .  deprecamur^)  oder  deprecemur ').    Darauf  folgt  noch  das 

1)  So  Gelas.,  Stowe-Missale,  (doch  vgl.  bei  beiden  die  Einleitung  dicamus 
omnes),  Mail.  a. 

2;  So  z.  B.  Angelicus  a :  deprecemur,  Angelicus  a  in  der  einleitenden  Bitte 
invocemus.  Thomasius  hat  [vgl.  W.Meyer  100,  II.  Band  seiner  Opera  1747  p.  571] 
auch  in  der  Deprecatio  überall  den  Conjunctiv  deprecemur  gesetzt. 


144  W.  Bousset, 

domine  miserere  (Wiener  Handschr. ;  Deprecatio?  s.  "W.  Meyer 
S.  102 ;  Mail,  a) ;  domine  exaudi  et  miserere  (Stowe-Missale);  Kyrie 
eleison  (Angelicus  a.  b.,  Rest  des  griechischen  Einflusses).  Treffend 
hat  außerdem  "W.  Meyer  hervorgehoben,  daß  allein  die  Deprecatio 
in  dem  Pro-Satz  keine  direkte  Anrufung  Gottes  enthält,  sondern 
nur  die  Aufforderung  an  die  Gemeinde  (deprecamur),  während  in 
allen  übrigen  ein  an  Gott  gerichtetes  Gebet  erscheint,  z.  B.  Stowe- 
Missale  :  pro  piissimis  imperatoribus  .  .  .  oramus  te. 

Diese  Form  ist  uns  aus  der  morgenländischen  Liturgie  als  die 
des  Prosphonesengebets  des  Diakon  bekannt.  Auch  über  die  Ent- 
stehung des  Prosphonesengebets  des  Diakon  sind  wir  im  allge- 
meinen unterrichtet,  wenn  wir  hier  freilich  auch  nur  mit  Rück- 
schlüssen aus  den  morgenländischen  Liturgien  operieren  können. 

Anfänglich  ist  das  große  Fürbittengebet  nämlich  vom  Bischof 
gesprochen*).  Dann  kam  wohl  infolge  der  Länge  desselben  die 
Sitte  auf,  daß  der  Priester  das  lange  Gebet,  das  später  auch  durch 
andere  ersetzt  wurde,  still  betete  und  der  Diakon  der  Gemeinde 
nebenher  dessen  einzelne  Hauptpunkte  laut  mitteilte,  wobei  dann 
eben  jene  kettenartige  Aneinanderreihung  (griechischer  Name  des 
Gebets:  Synapte!)  der  einzelnen  Bitten  entstand,  die  im  Abend- 
land als  Litanei  bekannt  ist. 

Dabei  können  zwei  Formen  des  Diakongebets  entstehen:  ein- 
mal die  einfachen  Pro  (67r^p)-rormen.  Der  Diakon  spricht  OÄsp  x-^? 
aflac,  IxxXTjota?  .  .  .  Ss'/j'ö-wji.ev  '■'),  oder  auch  direkt  im  Imperativ  jrpoo- 
sö^ao^s   oTcsp^),    die   Gemeinde  (der  Chor)  antwortet  xopts   IXdirjaov. 


1)  Vgl.  Justin  Apol.  1 65.  67.  Justin  redet  freilich  von  xoival  tbyal . . .  xotvQ 
rdtTvec  tuyai  7:^(i.::op£v.  Aber  schwerlich  setzt  er  mit  diesen  Ausdrücken  die  Sitte 
voraus,  daß  die  betreffenden  Gebete  von  der  ganzen  Gemeinde  gesprochen  seien. 
Nach  dem  Zeugnis  der  aquitanischen  Pilgerin  im  itinerarium  wurde  noch  am 
Ende  des  vierten  Jahrhunderts  in  Jerusalem  bei  der  Matutin  und  den  Hören  das 
allgemeine  Kirchengebet  durch  den  Bischof  allein  gebetet.  Umfangreiche  Gebete, 
die  etwa  dem  allgemeinen  Fürbittengebete  entsprechen,  stehen  in  der  Liturgie  des 
Serapion  (vgl.  etwa  Funk.  Didasc.  et  Const.  apost.  II.  159  ff.),  die,  wie  es  scheint, 
nur  Gebete  für  den  Bischof  enthält.  Viele  Intercessionsgebete  der  Messe,  so 
das  in  den  Konstitutionen,  dasjenige  der  griechischen  Jakobusliturgie  (Brightnian 
p.  54),  das  der  äthiopischen  Messe  sind  dem  Bischof  resp.  dem  Zelebranten  allein 
bewahrt  geblieben.  Vgl.  hierzu  A.  Baumstark,  die  Messe  im  Morgenland  inoc 
8.  12—14.  100  f. 

2)  Beispiele:  Konstit.  VIIUO,  VIII13,  Jakobusliturgie  Br.  34.  36.  39  und 
besonders  das  groBe  Gebet  zum  Beginn  der  Messe  p.  44 — 49.  Der  Indicativ  ot6- 
[leöa  ist,  wie  es  scheint,  selten.     Doch  vgl.   Chrysostomusliturgie :   ttTrujfxev  Tra'vTcc 

.  .  x6p((  Scjfxt&d  aou. 

8)  Griechische  Markusliturgie  Br.  114  (die  t)>xai  Y)  119  ff.,  Liturgie  der  kop- 
tischen Jakobiten  Br.  160  (159)  160. 


zur  sogenannten  Deprecatio  Gelasii.  145 

Oder  —  das  ist  die  seltenere  Form  —  der  Diakon  referiert  knrz 
den  Inhalt  der  Gebete.  Beispiele  liefert  etwa  die  syrische  Ja- 
kobusliturgie (Brightman  89 ff.):  „Laßt  uns  unsem  Herrn  und 
Gott  bitten  und  anflehen  für  unsere  Väter  und  Herrscher,  die 
heute  über  uns  in  diesem  gegenwärtigen  Leben  regieren  und  die 
heiligen  Kirchen  Gottes  leiten"  .  .  .  j, Wiederum  gedenken  wir  aller 
unserer  gläubigen  Briider,  der  treuen  Christen,  welche  .  .  .'^  Oder 
äthiopische  Liturgie  (Brightmann  206):  -Für  unsere  Kirche  bitten 
wir,  daß  der  Herr  uns  bis  zu  Ende  in  der  Gemeinschaft  des 
heiligen  Geistes  bewahre"  (vgl.  nestorian.  Liturgie  Br.  263).  Dazu 
verrichtet  dann  der  Priester  (Bischof)  das  ausführiichere  Stillgebet, 
der  Terminus  dafür  lautet  kizBb-^&xai. 

Den  Sinn  dieser  ganzen  Einrichtung  lassen  die  nichtgriechischen 
morgenländi&chen  Liturgien  noch  am  besten  erkennen.  In  der  sy- 
rischen Jakobnsliturgie  (Br.  89  ff.)  ist  wirklich  jede  einzelne  Bitte 
des  viel  längeren  (stillen)  Priestergebets  von  einem  kürzeren  (lauten) 
Diakongebet  begleitet.  Zum  Schluß  spricht  dann  der  Priester  die 
letzten  überschlagenden  Sätze  seines  Gebets  noch  laut,  und  dann 
antwortet  das  Volk  mit  Amen.  In  der  Liturgie  der  koptischen 
Jakobiten  (vorangestelltes  Intercessionsgebet  der  Anaphora  Br.  165ff.) 
spricht  der  Diakon  die  Aufforderung  an  den  Priester  (Bitte  für 
den  Frieden  der  einen  heiligen  katholischen  Kirche  u.  s.  w.)  und 
gibt  jedesmal  laut  das  Thema  des  Gebets  an.  Dann  betet  der 
Priester  sein  ausführliches  Stillgebet,  durch  ein  Zeichen  verständigt 
er  den  Diakon  (s.  die  Bemerkungen  Brightmans  165)  über  die  ein- 
zelnen Abschnitte  des  Gebets,  so  daß  dann  am  Schluß  der  einzelnen 
Fürbitte  das  Volk  mit  Kyrie  eleison  einfallen  kann ,  worauf  der 
Diakon  mit  der  neuen  Aufforderung  fortfährt. 

Etwas  entstellt  ist  der  Sinn  der  -Synapte"  in  der  uns  er- 
haltenen Form  des  großen  Fürbittengebets  am  Beginn  der  Messe 
der  griechischen  Jakobusliturgie  (Br.  45ff.\  Denn  hier  stellt,  wie 
es  nach  den  Angaben  erscheint,  das  die  Synapte  begleitende  Priester- 
gebet einen  ganz  andern  Text  dar,  und  ist  nicht  mehr  die  längere 
Ausführung  der  Synapte.  Diese  Umänderung  scheint  aber  bereits 
in  der  (klementinischen)  Liturgie  des  achten  Buches  der  Konsti- 
tutionen vorliegen.  Hier  haben  wir  VIII  10  ein  sehr  langes  Pro- 
sphonesengebet  des  Diakon  nebst  einem  (VIII  11)  kürzeren  Begleit- 
gebet (Stillgebet)  des  Bischofs  (essoxeo^w  ohv  6  ap/ispsu?  xai 
XeifEiw). 

Endlich  kommt  es  auch  schon  in  der  griechischen  Liturgie 
vor,  daß  das  Stillgebet  des  Bischofs  ganz  versehwindet  und  nur 
das  Diakongebet  stehen  bleibt.    So  finden  wir  ein  Gebet  der  Pro- 


146  W.  Bousset, 

(67:ep)-Form  *)  des  Diakonen  alleinstehend  in  der  Liturgie  der  kop- 
tischen Jakob iten  Br.  159^),  ein  Diakongebet  der  zweiten  Form 
(kurze  Inhaltsangabe  des  Gebets)  in  der  äthiopischen  Liturgie 
Br.  206  f. ;  beide  Formen  als  Parallelexemplare  neben  einander  in 
der  nestorianischen  Liturgie  Br.  262.  263. 

Dabei  ist  streng  auf  den  Unterschied  geachtet,  daß  der 
Diakon  nur  zum  Gebet  auffordert,  oder  den  Inhalt 
des  Gebets  angibt;  während  nur  die  Gebete  des 
Priesters  direkt  an  Gott  gerichtet  sind.  Dieser  Unter- 
schied bleibt  durch  alle  Liturgien  hindurch,  soweit  ich  sehe,  fast 
ohne  Ausnahme')  in  Geltung. 

Für  das  Alter  dieser  Umwandelungen  besitzen  wir  endlich 
einen  terminus  a  quo  in  den  apostolischen  Konstitutionen.  Wenn 
unsere  Deutung  oben  richtig  war,  so  haben  wir  hier  in  VIII  10 
die  Synapte  des  Diakonen  und  in  VIII 11  das  dazu  gehörige  Still- 
gebet des  Bischofs.  Doch  werden  wir  wohl  mit  der  ganzen  For- 
mation dieser  Gebete  noch  etwas  weiter  hinaufgehen  müssen. 
Baumstark  (die  Messe  im  Morgenland  S.  102)  urteilt:  „Die  Gestalt 
der  vom  Diakon  vorgebeteten  Litanei  hatte .  .  .  das  allgemeine 
Kirchengebet  schon  am  Ende  des  vierten  Jahrhunderts  in  der  an- 
tiochenischen  Messe  gewonnen". 

Wenden  wir  die  gewonnenen  Erkenntnisse  auf  unsere  latei- 
nische Gebetsliturgie  an,  so  ergibt  sich,  daß  wir  hier  ein  altes 
Prosphonesengebet  des  Diakon  vor  uns  haben.  Hat  sich  dieser 
Charakter  des  Gebets  auch  im  Abendlande  erhalten?  Im  allge- 
meinen enthalten  ja  unsere  Zeugen  keine  Vermerkung  über  Stellung 
und  Gebrauch  des  Gebets  im  Gang  des  Gottesdienstes.  Aber  wir 
stoßen  sofort  wenigstens  auf  eine  unsere  Erwartung  glänzend  be- 
stätigende Ausnahme.  In  der  von  Pamelius  veröffentlichten  mai- 
ländischen  Liturgie  finden  wir  I  328  den  Gebetstext,  den  W.  Meyer 
mit  Mailand  a  bezeichnet,  wieder*),  mit  der  Überschrift:   finita^} 


1)  Daß  wir  hier  eine  Reliquie  haben,  zeigt  der  griechische  Text  des  Ge- 
bets. —  Die  Formation  des  Gebets  ist  interessant.  Der  Diakon  spricht :  in\  upoa- 
euj(V  otaö^Ts  —  TTpooeü^aade  bnip  —  xX(v(U|xev  xd  ■j6waxa,  dvaatüjfxev  (dreimal),  6 
Äodf  xupie  ^/.^Tjaov. 

2)  Vgl.  noch  byzantinische  (Chrysostomus-Liturgie)  Br.  362  f. 

8)  Ich  finde  im  ersten  Diakongebet  der  nestorianischen  Liturgie  Br.  262  ein 
direktes:  Wir  bitten  Dich,  auch  in  der  Chrysostomusliturgie  Br. 373  heißt  es  Uo- 
(leOa  aou. 

4)  In  der  Messe  zur  Dominica  quadrag.  dicta  „de  samaritana", 

5)  liier  steht  das  Gebet  noch  zu  Beginn  der  eigentlichen  Gläubigenmesse 
Dach  dem  introitus,  vor  den  orationes  super  populum,  super  sindonem,  super  obla 


zur  sogenannten  Deprecatio  Gelasii.  147 

ingressa  preces  per  diaconum  pronnnciatae  respondente 
ch  oro. 

Schwieriger  ist  es,  sich  über  die  Anordnung  im  Stowe-Missale 
klar  zu  werden.  Wie  es  scheint,  ist  das  was  hier  geboten  wird, 
als  Bischofsgebet  gedacht.  Aber  Probst  (S.  67)  hat  mit  Recht 
vermutet,  daß  das  Gebet,  das  wir^hier  haben,  eigentlich  die  Pros- 
phonese  des  Diakons  gewesen  sei.  Die  ursprünglich  dazu  gehörige 
direkt  an  Gott  gerichtete  Epiklese  (Stillgebet)  des  altirischen 
Rituals  finde  sich  tatsächlich  noch  in  dem  Gebet,  das  in  der 
Redaktion  Moels  auf  die  Prosphonese  folge  (S.  47):  Ante  oculos 
tuos,  Domine,  reus  conscientiae  testis  assisto.  Hier  bete  tatsächlich 
ein  einzelner,  während  der  Beter  vorher  im  Namen  der  Gesamt- 
heit spreche.  Propst  urteilt:  „Die  Oratio  pro  fidelibus  ließ  die 
erste  Hand  bei  der  Reform  des  alten  irischen  Mis^ale  stehen,  um 
dasselbe  durch  Auslassung  nicht  zu  sehr  zu  alterieren.  Dagegen 
machte  sie  die  Prosphonese  des  Diakon  zur  bischöf- 
lichen Epiklese  unddadurch  dies  e  überflüssig,  sodaß 
sie  ohne  Störung  ausfallen  konnte". 

So  wird  denn  auch  von  der  Deprecatio  Gelasii  dasselbe  zu 
gelten  haben.  Sie  repräsentiert  wenigstens  ursprünglich  die  alte 
Prosphonese  des  Diakon.  An  diesem  Punkt  tritt  übrigens  die  re- 
lative Vorzüglichkeit  der  Überlieferung  der  Deprecatio  in  helles 
Licht.  Wie  W.  Meyer  trefPlich  hervorgehoben  hat,  ist  in  ihr 
allein  der  Charakter  der  reinen  Gebetsanfforderung  bewahrt.  In 
allen  anderen  Zweigen  wird  dagegen  Gott  direkt  angerufen.  So 
heißt  es  z.  B.  im  Stowe-Missale:  „pro  sancta  ecclesia  catholica  .  .  . 
oramus  te  Domine,  exaudi  et  miserere".  Die  lateinische  Überiie- 
ferung  hat  also  jenen  von  der  morgenländischen  Liturgie  so  streng 
gewahrten  Unterschied  im  allgemeinen  nicht  aufrecht  erhalten, 
selbst  der  Text  der  Mailänder  Litugie  nicht  (Pamelins  I  328),  wo 
das  Gebet  noch  ausdrücklich  als  Diakongebet  bezeichnet  ist. 

Man  wird  dagegen  nicht  einwenden  dürfen,  daß  das  Gebet  wie 
z.  B.  im  Stowe-Missale  (und  der  Mehrzahl  der  übrigen  Pro-Texte)  nicht 
die  charakteristische  Form  der  Gebetsaufforderung  enthalte  (Sstj- 
dtüjisv),  sondern  den  Indicativ  (invocamus,  deprecamur,  oramus),  daß 
aber  gerade  das  Merkmal  des  Diakongebets  der  Konjunktiv  der  Auf- 
forderung sei  (s.  0.).  Dsfür  könnte  man  anführen,  daß  in  den  Kon- 

tionem ;  dann  folgt  das  Präfationsgebet  der  Anaphora.  Die  Anomalie  des  Stowe-M. 
(Stellung  vor  der  EvangelienTerlesung)  wird  nicht  bestätigt.  —  Übrigens  wird  auch 
das  zweite  Gebet  Mailand  b  (Pamelius  I  331  dem.  quadrag.  de  Abraham)  ebenso 
als  finita  ingressa  erfolgend  angegeben,  nur  daß  hier  der  ausdrückliche  Hinweis 
auf  den  Diakon  fehlt. 


148  W.  Bousset, 

stitutionen  in  der  Tat  in  dieser  Weise  formal  zwisclien  Bischofs- 
gebet und  Diakongebet  in  der  Intercession  geschieden  wird.  Das 
Bischofsgebet  beginnt  VIII 12, 40  mit  l'ct  Ssöiisda  —  sti  zapaxa- 
XoDjiev  u.  s.  w.,  das  Diakongebet  mit  eti  xal  stt  Serj^wjtsv. 

Dagegen  aber  gilt  erstens,  daß  sich  auch  in  der  griechischen 
Liturgie  der  Indicativ  im  Diakongebet  zeigt,  namentlich  in  de-sen 
oben  festgestellter  zweiter  Form;  zweitens,  daß  in  unseren  Pro- 
Zeugen der  Indicativ  nicht  sicher  steht ,  vielmehr  auch  der  Kon- 
junktiv, wenn  auch  vereinzelt  bezeugt  ist;  vor  allem  drittens, 
daß  auch  in  der  Deprecatio  und  im  Stowe-Missale  eigentlich  die 
Form  des  Konjunktivs  tatsächlich  gegeben  ist  in  dem  Anfang: 
Dicamus  omnes,  Domini  exaudi  et  miserere  (dann  erst  precamur) 
und  daß  das  genau  dieselbe  Form  ist,  die  uns  im  Diakongebet  der 
byzantinischen  Liturgie  begegnet  (s.  o.). 

Es  wird  dabei  sein  Bewenden  haben.  Ursprünglich  hat  unsere 
Gebetsreliquie  auch  in  der  abendländischen  Liturgie  als  Prospho- 
nesengebet  des  Diakon  gestanden. 

Von  hier  aus  versuchen  wir  nun  auch  Aufschluß  über  die 
zweite  Gruppe  abendländischer  Zeugnisse  zu  gewinnen,  über  die 
Vertreter  der  altspanischen  und  der  altgallischen  Messe,  welche 
unser  Gebet  in  der  Liturgie  der  Ostervigil  erhalten  haben.  Das 
Missale  mixtum  sec.  regulam  Isidori  (Migne  Bd.  85  p.  448—470) 
bietet  weiter  keine  Schwierigkeiten  des  Verständnisses.  Hier  wird 
ausdrücklich  dem  Diakon  (dicat  diaconus)  die  Aufgabe  zugewiesen, 
mit  pro  den  Inhalt  der  Gebete  anzugeben,  dann  folgt  die  Angabe 
flectamus  genua  .  .  .  levate,  dann  das  (xebet  des  Bischofs.  Das  er- 
innert am  meisten  etwa  an  die  Beispiele ,  die  wir  oben  aus  der 
ägyptischen  Liturgie  beibrachten.  Merkwürdig  ist  hier  nur,  daß 
sowohl  das  flectamus  genua  wie  das  levate  im  Text  jedesmal 
dem  Gebet  des  Bischofs  vorausgeht.  W.  Meyer  ist  (S.  91)  der 
Ansicht,  daß  das  nur  der  Kürze  halber  so  notiert  sei.  Es  ist 
aber  auch  mögHch,  daß  wir  uns  das  Priestergebet  als  Stillgebet 
und  nur  als  Begleithandlung  zu  denken  haben.  Dann  war  es  na- 
türlich sachgemäß,  wenn  die  Anweisungen  für  den  Diakon  un- 
mittelbar neben  einander  standen.  Jedenfalls  bestätigt  uns  das 
missale  mixtum  von  neuem,  daß  auch  das  Abendland  die  Sitte 
kannte,  daß  die  Pro-Reihen  vom  Diakon  gesprochen  wurden. 

Sehr  viel  komplizierter  ist  die  Anlage  in  dem  von  Förotin 
(Monumenta  ecclesiae  liturgica  V)  herausgegebenen  Liber  ordinum 
p.  217 — 222  und  im  Gregorianum  (Mercator  II  57).  Im  Liber  or- 
dinum steht  zunächst  eine  Aufforderung  des  Priesters  an  die  Ge- 
meinde (deprecemur)  mit  Angabe  des  Gebetinhalts,  dann  fordert  der 


zur  sogenannten  Deprecatio  Gelasii.  149 

Diakon  mit  pro  und  wiederholter  Angabe  des  Inhalts  noch  einmal 
zum  Gebet  auf,  dann  endlich  spricht  der  Priester  das  an  Gott  ge- 
richtete wirkliche  Gebet.  Etwas  einfacher  ist  das  Gregorianum 
gestaltet.  Auch  hier  stehen  Aufforderung  des  Priesters  an  das 
Volk  (oremus  pro)  und  wirkliches  Gebet  paarweise  neben  einander. 
Vor  dem  eigentlichen  Gebet  spricht  der  Diakon  ^flectamus  genua", 
hinter  diesem  „levate". 

Merkwürdiger  Weise  findet  sich  gerade  zu  der  kompliziertesten 
Form  des  altspanischen  Rituals  eine  genaue  Parallele  in  der  ägyp- 
tischen Liturgie.  Baumstark  (die  Messe  im  Morgenland)  S.  13 
macht  darüber  folgende  Angaben :  In  Aegypten  pflegt  seit  alters 
her  der  Bischof  oder  Priester  selbst  vor  jedem  solchen  Gebet  eine 
ausführlichere  Gebetsaufforderung  an  die  Gemeinde  zu  richten, 
in  welcher  er  den  einzelnen  Gebetsgegenstand  bezeichnete.  In 
kürzerer  Form  und  wiederum  in  der  des  Befehls  wiederholt  der 
Diakon  diese  Aufforderxmg,  indem  er  in  Bußzeiten  des  Kir- 
chen jahrs^)  die  Gemeinde  zugleich  zu  einer  dreimaligen  Kniebeu- 
gung (vgl.  Gregorianum,  Karfreitagslitorgie !)  anweist.  Als  Zeugnis 
für  seine  Behauptung  weist  uns  Baumstark  S.  101  auf  die  kop- 
tische und  die  abessinische  Taufliturgie  hin  und  darauf,  daß  sich 
in  der  Meßliturgie  diese  Sitte  teilweise  bis  heute  erhalten  habe  ^). 

Ich  verweise  noch  auf  ein  sehr  interessantes  Gebet  der  äthio- 
pischen Liturgie,  das  in  unseren  Zusammenhang  hineingehört.  Am 
Schluß  jener  äthiopischen  Kirchenrechtssammlung,  welche  die  „apo- 
stolische"  Kirchenordnung  (c.  1 — 21),  die  sogenannte  ägyptische 
Kirchenordnung  (22 — 48)  und  den  Paralleltext  (Epitome)  zu  Konst. 
Apost.  VIII  (c.  49—72)  enthält,  steht  ein  allgemeines  Fürbitten- 
gebet ^),  das  bemerkenswerter  Weise  mit  einem  Morgengebet  (s.  o.) 
beginnt,  und  Bitten  für  den  Kranken,  die  Reisenden,  den  Regen, 
die  Feldfrüchte,  das  Wasser  der  Flüsse  (Nilschwelle !),  den  König, 
die  Gabendarbringer,  die  Katechumenen,  die  Entschlafenen  enthält 
und  mit  der  in  der  ägyptischen  Messe  bekannten  Formation  der 
drei  Gebete  (für  den  Frieden   der  gesamten  Kirche,   die    einzelne 


1)  So  wird  das  schon  oben  erwähnte  Diakongebet  der  koptischen  Messe 
Br.  159  mit  einer  dreimaligen  Aufforderung  zur  Kniebeugung  nur  an  Fasttagen 
(Br.  158  u.)  gesprochen. 

2)  Vgl.  den  Schluß  des  allgemeinen  Fürbittengebets  (der  tpel«  6*>/ai)  in  der 
koptischen  Messe,  Brightman  160,  und  in  der  abessynischen  Br.  224.  —  Merk- 
würdigerweise steht  nach  den  Angaben  Brs  hier  der  Diakonruf  nicht  hinter  der 
Gebetsaufforderung,  sondern  mitten  im  eigentlichen  Gebet  des  Priesters,  das  zum 
größeren  Teil  als  Stillgebet  gedacht  sein  wird  (dazu  vgl  Baumstark  S.  12). 

3)  G.  Homer,  Statutes  of  the  apostle  1904.  222. 


150  W.  Bousset, 

Kirche,  den  Papas)    schließt.     Hier  finden   wir  jene  komplizierte 
Anordnung  von  Anfang  bis  zu  Ende  durchgeführt^). 

Baumstark  S.  101  ist,  wie  es  scheint,  geneigt,  —  ganz  deutlich  sind 
seine  Ausführungen  nicht  — ,  hier  eine  Mittelstufe  der  Entwick- 
lung zu  sehen ,  die  von  der  alten  Sitte,  daß  der  Bischof  das  all- 
gemeine Gebet  sprach,  allmählich  zu  der  Anordnung  herüberführt, 
daß  nur  die  Prosphonesen  des  Diakon  laut  gesprochen  wurden, 
während  das  Gebet  des  Priesters  zum  begleitenden  Stillgebet  herab- 
sank und  schließlich  ganz  verschwand.  Eine  gewisse  Logik  hat 
diese  Konstruktion  des  Entwicklungsganges  ja  für  sich.  Auch 
könnte  die  Tatsache,  daß  sich  nunmehr  die  Verbreitung  dieser  Ge- 
betsformation jenseits  Ägyptens  in  spanischer  wie  in  römischer 
Messe  hat  erweisen  lassen,  für  Baumstarks  These,  daß  wir  es  hier 
wirklich  mit  einer  verhältnismäßig  alten  Sitte  zu  tun  haben,  ins 
Gewicht  fallen. 

Andererseits  kann  ich  doch  diesen  Schluß  nicht  für  sehr  ein- 
leuchtend halten.  Unsere  Gebetsformation  ist  in  sich  zu  kompli- 
ziert und  verworren,  als  daß  ihr  ein  ursprünglicherer  Charakter 
zukäme.  Was  hätte  denn  diese  Verdoppelung  des  ohnehin  schon 
recht  langen  Gebets  durch  die  jedesmal  vorgestellte  GebetsaufFor- 
derung  des  Priesters  ursprünglich  für  einen  Sinn  gehabt  ? !  Baum- 
stark hebt  überdies  selbst  hervor  (S.  13),  daß  im  Gegensatz  zu 
seiner  Gebetsaufforderung  der  Zelebrant  in  der  ägyptischen  Messe 
durchweg  den  größeren  Teil  seines  Gebets  als  Stillgebet  verrichtete. 
Und  was  sollen  nun  die  Diakonrufe  (in  der  ägyptischen  und  der 
spanischen  Messe)  neben  der  Gebetsaufforderung  des  Zelebranten? 

Ich  möchte  wenigstens  die  Vermutung  wagen,  daß  wir  hier 
eine  komplizierte  Rückbildung  vor  uns  haben.  Zu  Grunde  läge 
dieser  ägyptisch-abendländischen  Gebetsformation  die  (oben  nach- 
gewiesene) Sitte,  daß  der  Diakon  (in  einem  referierenden)  Satz  die 
Gebetsaufforderung  an  die  Gemeinde  (resp.  an  den  Priester)  aus- 
sprach, worauf  dann  das  Gebet  des  Priesters  folgte.  In  Gegenden, 
wo  man  den  Anteil  des  Diakons  an  der  Liturgie  wieder  zu  be- 
schränken suchte,  hätte  man  darauf  dem  Priester  selbst  jene  Ge- 
betsaufforderung wieder  zugewiesen.  So  wäre  die  Form,  wie  sie 
im  Gregorianum  vorliegt,  entstanden.  Dann  wäre  endlich  in  diese 
Form  doch  wieder  auch  die  Sitte  eingedrungen,   durch   kurze  Be- 


1)  Nur  das  Gebet  für  die  Entschlafenen  macht  eine  Ausnahme.  Eine  Par- 
allele dazu  liegt  in  dem  koptischen  Intercessionsgebet  Brightman  169,  wo  wenig- 
stens die  erste  allgemeine  Fürbitte  für  die  Toten  ohne  Gebetsaufforderung  des 
Diakon  gelassen  ist. 


zur  sogenannten  Deprecatio  Gelasü.  151 

fehlsrufe  des  Diakon  die  einzelnen  Gebete  zu  markieren.  In  den 
ägyptischen  Formularen  und  dem  spanischen  des  liber  ordinum 
hätten  wir  dann  den  Endpunkt  einer  komplizierten  Entwickelung 
und  vielfachen  Vermittelung. 

Und  nun  endlich  können  wir  den  Tatbestand  ins  Ange  fassen, 
wie  er  in  der  altgallischen  Messe  vorliegt!  Hier  finden  wir  im 
Missale  Gothicum  und  im  Missale  Gallicanum  vetus  ohne  nähere 
liturgische  Angaben  jene  charakteristischen  Gebetspaare  wieder, 
bei  denen  jedesmal  das  erste  Gebet  die  Gebetsaufforderung  (in 
einem  ganzen  Satz  mit  pro),  das  zweite  die  eigentliche  an  Gott 
gerichtete  Bitte  enthält.  Die  einzelnen  Gebetspaare  enthalten 
Überschriften  mit  pro ,  z.  ß.  pro  sacerdotibus,  doch  scheinen  mir 
diese  Überschriften  nur  literarische,  keine  liturgische  Bedeutung 
zu  haben  ^).  Im  dritten  Zeugen  der  gallischen  Liturgie,  dem  sacra- 
mentarium  Gallicanum  ist  nur  die  erste  Gebetsreihe  in  derselben 
Reihenfolge  wie  im  Gothicum  mit  Pro-Überschriften  stehen  ge- 
blieben. 

W.  Meyer  92  nimmt  nun  ohne  weiteres  an,  daß  derjenige, 
welcher  das  Urbild  des  gallikanischen  (und  auch  des  spanischen) 
Rituals  geschaffen  habe,  aus  dem  Gregorianum  die  Form  der  Ge- 
betspaare entlehnt  habe.  Daß  ein  so  alter  liturgischer  Zeuge  wie 
das  Urbild  der  gallischen  und  altspanischen  Liturgie  vom  Gregori- 
anum abhängig  sein  soll,  scheint  mir  im  höchsten  Grade  unwahr- 
scheinlich zu  sein.  —  Ich  möchte  eher  —  nach  allem  Gesagten  — 
annehmen,  daß  in  den  gallikanischen  Ritualen  die  ältere  Gebets- 
formation vorliegt.  In  den  Gebetspaaren  hätte  man  dann,  wie  in 
den  oben  angeführten  orientalischen  Parallelen,  einerseits  die  Ge- 
betsaufforderong  des  Diakons ,  andererseits  das  Gebet  des  Zele- 
branten  (Stillgebet)  zu  erblicken.  Ob  das  dem  Schreiber  unserer 
Texte  in  den  gallikanischen  Messen  noch  deutlich  war,  mag  dahin- 
gestellt bleiben.  Dafür  aber,  daß  das  der  ursprüngliche  Sinn  der 
Gebetsdubletten  war,  deutet  noch  eine  Spur  im  Inhalt  der  Gebete. 
In  der  Bitte  No.  10  des  Gothicum  lautet  die  Aufforderung 
zum  Gebet :  „pro  spiritibus  carorum  nostrorum,  qui  nos  in  dominica 
pace  praecesserunt",  im  Gebet  selbst  aber  wird  gebetet:  „dona 
consacerdotibns  et  caris  nostris  qui  in  tua  pace  requieverunf  ^). 


1)  Sollten  die  Überschriften  auf  Diakonrufe  deuten,  so  müßten  sie  nach 
unseren  Parallelen  zwischen,  nicht  vor  den  Gebetspaaren  stehen. 

2)  Vgl.  übrigens  den  enstprechenden  Text  in  der  Deprecatio :  pro  refrigerio 
fidelium  animarum,  praecipue  sanctorum  domini  sacerdotum,  qui  huic  ecclesiae 
praefuerunt  catholicae  .  .  .  deprecamur.    Die  Doppelfürbitte  für  die  Verstorbenen 

Kgl.  Ges.  <J.  Wiss.  Nachrichten.    Phil.-hisL  KUssc    1916.    Heft  2.  11 


152  W.  Bousset, 

Diese  merkwürdige  Diskrepanz  zwischen  der  Aufforderung  und 
dem  Plus  in  deren  Vollzug  begreift  sich  dann  leicht ,  wenn  die 
Gebetsaufforderung  einmal  vom  Diakon  an  das  Volk  gerichtet 
wurde,  während  das  Priestergebet  für  die  consacerdotes  (als  Still- 
gebet) nebenherging '). 

So  erklärt  sich  auch  am  besten,  daß  die  Texte  der  gallikani- 
schen  Messe,  wie  W.  Meyer  98 f.  treffend  nachgewiesen  hat,  sich 
fast  durchweg  als  verwandt  mit  jener  älteren  Fürbittenreihe  in  der 
Deprecatio  und  den  ihr  verwandten  Zeugen  erweisen.  Die  Sache 
steht  nicht  so,  daß  jene  ihre  Form  dem  Gregorianum,  ihren  Inhalt 
wesentlich  den  älteren  Pro-Reihen  zu  verdanken  haben.  Sondern 
ihre  Form  ist  wahrscheinlich  älter  als  das  Gregorianum  und  dem 
entspricht  der  ältere  Inhalt^). 

Wenn  dann  schließlich  in   einem   der   drei  gallischen  Missale 


im  allgemeineu  und  die  verstorbenen  Priester  im  besonderen  ist  also  alt.    In  der 
Urform  des  Gothicum  wurde  sie  auf  Diakonprosphonese  und  Zelebranten  verteilt. 

1)  Gegen  obige  Vermutung  scheint  allerdings  die  Aufforderung  zur  Fürbitte 
iür  die  Priester  zu  sprechen.  Sie  lautet  im  Gothicum:  „in  sanctorum  sancta  ad- 
missi  et  altaris  coelestis  sacerdotii  aeterni  participes  effecti,  deprecemur  ut  sacer- 
dotes  suos  ac  ministros  donis  repleat  spiritalium  gratiarum.  Die  Attribute  im  An- 
fang können  sich  doch  kaum  auf  die  Teilnehmer  am  Sakrament,  scheinen  sich  viel- 
mehr nur  auf  Priester  beziehen  zu  können.  Und  dann  würde  hier  der  Priester 
sprechen.  Das  sacrament.  Gallicanum  formuliert  die  Bitte:  pro  sacerdotibus  ac 
ministris  ecclesiae  suae,  fratres  carissimi  supplices  deprecemur,  ut  ingressi  sancta 
sanctorum  totiusque  participes  altaris  spiritalium  gratiarum  donis  abundantiaque 
multimoda  repleamur.  Hier  brauchte  man  nur,  das  zu  der  Anrede  fratres  carissimi 
—  also  doch  das  versammelte  Volk  —  nicht  passende  repleamur  in  repleantur  zu 
verwandeln  und  alles  wäre  in  Ordnung.  Doch  mag  die  jetzige  Form  der  Bitten 
immerhin  darauf  hindeuten,  daß  die  Redaktoren  der  Liturgien  hier  das  Gebet  als 
Priestergebet  auffaßten. 

2)  Ob  nun  die  Gebete  in  den  gallischen  Messen  oder  in  den  reinen  Pro- 
Reihen  älter  sind,  wird  sich  schlecht  entscheiden  lassen.  W.  Meyer  88 f.  ist  für 
die  erstere  Eventualität  eingetreten.  Er  hält  den  Ausdruck  militia  (Deprecatio) 
in  der  Königsbitte  für  älter  als  exercitus.  Aber  wir  werden  noch  sehen  (s.  u.  d. 
Zusammenstellung),  daß  beides  seine  Parallelen  in  der  griechischen  Messe  hat. 
Er  zitiert  als  ein  besonderes  Beispiel  des  halb  barbarischen,  bombastischen  Stils 
des  Missale  Gothicum  den  Ausdruck :  virgines  sacras  et  spadones  voluntarios  i.  e. 
pretiosas  ecclesiae  margaritas.  Aber  gerade  die  euvoüxot  finden  sich  neben  den 
Trapö^vot  in  der  Parallele  der  apostol.  Konstit.  (s.  u.  die  Zusammenstellung).  Und 
ich  kann  das  Beiwort  „die  kostbaren  Perlen"  der  Kirche  wirklich  nicht  für  so 
barbarisch-bombastisch  erachten.  —  Daß  die  gallisch-mozarabischen  Rituale  an 
einem  Punkte,  nämlich  in  der  Umwandlung  des  Gebets  zu  einem  Pascha-Vigil- 
gebet  (mit  der  Einleitung  pro  solemnitate  paschali,  der  ersten  Bitte  für  die  un- 
freiwillig Abwesenden  und  der  Verwerfung  der  ursprünglichen  Anfangsbitte  pro 
ecciesia)  sekundär  sind  (W.  Meyer  97  u.  98),  ist  natürlich  richtig. 


znr  sogenannten  Deprec&tio  Gelasü  153 

das  eigentliche  Gebet  des  Priesters  ganz  verschwanden  und  nur 
die  Aufforderungen  zum  Gebet  stehen  (ursprünglich  des  Diakonen) 
geblieben  ist,  so  haben  wir  für  diesen  Vorgang  Parallelbeispiele 
in  der  morgenländischen  Messe  bereits  beigebracht.  Es  erklärt  sich 
dies  Verschwinden  sehr  gut,  wenn  wir  auch  hier  annehmen  dürfen, 
daß  das  wirkliche  Gebet  des  Priesters  nur  als  Stillgebet  gesprochen 
wurde.  Aber  es  soll  auf  diese  Vermutung  kein  Gewicht  gelegt 
werden. 

Wir  wenden  endlich  unsere  Aufmerksamkeit  noch  dem  Inhalt 
des  allgemeinen  Fürbittengebets  namentlich  der  Deprecatio  und  des 
Stowe-Missale  zu.  Stammt  seine  Form,  wie  das  hier  am  deut- 
lichsten bewiesen  ist,  aus  der  morgenländischen  Liturgie,  so  wird 
es  sich  mit  seinem  Inhalt  ähnlich  verhalten.  Ich  wage  eine  Zu- 
sammenstellung des  Hauptinhalts  der  abendländischen  und  morgen- 
ländischen Überlieferung  in  tabellenartiger  Form.  In  die  erste 
Spalte  stelle  ich  den  Text  der  Deprecatio  mit  den  (durch  Druck 
abgehobenen)  Varianten  der  verwandten  Zeugen  (St.  =  Stowe- 
Missale,  M'-''-  =  Mailand  a.  b. ;  A*-^-  =  Angelicus  a.  b. ;  W  =  Wiener 
Handschrift).  Dann  stelle  ich  daneben  den  Text  der  griechischen 
Liturgien,  zu  denen  wir  spezielle  Beziehungen  unseres  Gebetes 
nachgewiesen :  Spalte  2 — 4  die  Texte  der  apostolischen  Konstitu- 
tionen a)  Vni  13  (Diakongebet  bei  der  Intercession),  b)  VIII  12,40ff. 
(Intercessionsgebet  des  Bischofs),  c)  VIII 10  (Fürbittengebet  des 
Diakon  am  Anfang  der  Gläubigenmesse) ;  Spalte  5  Jakobusliturgie, 
Fürbittengebet  des  Diakon  am  Anfang  der  Gläubigenmesse  (Bright- 
man  44),  dazu  im  Druck  abgehoben  Intercessionsgebet  des  Bischofs 
{ib.  54);  Spalte  6  Chrysostomusliturgie  (Diakongebet  in  der  Enarxis). 
Die  Reihenfolge  gebe  ich  nach  der  Deprecatio.  Durch  Kummern 
habe  ich  die  Reihenfolge  der  Bitten  in  den  übrigen  Liturgien 
deutlich  gemacht. 


11' 


2)  ojrsp  x^q  sxxXirjota? 
laÖTTTj?  xal  Toö  Xaoö 


3)    OTTSp   TcdOTJC    k'KlOV.O- 


154  W.  Bousset, 

Deprecatio  Gelasü.      Ap.  Konst.  Vni  13, 3.    Ap.Konst.VIII12,40. 


St. :  pro  altissima  pace 
et  tranquillitate  tempo- 
rum.  Ä^ :  ut  Concor - 
diam  veram  et  pacem 
bonam  nöbis  omnibus 
donare  digneris.  -M* 
pro  pace  ecclesiarum 
.  .  .  quiete  populorum. 

1)  pro  immaculata  dei 
vivi  ecclesia 

St.  pro  sancta  ecclesia 
catholica,  quae  est  a 
finibus  usque  ad  termi- 
nos  terrae  {vgl.  A*.  W. 

2)  pro  sanctis ...  sa- 
cerdotibus  et  mini- 
stris  cunctisque  vere 
colentibus.  3)prouiii- 
versis  recte  tractanti- 
bus  verbum  veritatis 
St.  pro  pastore  N.,  epi- 
scopo  et  omnibus  episc. 
et  presbyterio  et  dia- 
conis  et  omni  clero 
{In  anderen  Zeugen 
noch  weitergehende  Spe- 
zialisierung). 

4)  pro  bis  qui  se  mente 
et  corpore . . .  castifi- 
cant .  St.  pro  v  irginibus 
viduis  orphanis  {vgl.  M* 
Galt.  vet).  Goth. :  vir- 
gines  sacras  et  spa- 
dones  voluntarios. 
St.  pro  hoc  loco  et  in- 
habitantibus  in  eo  {vgl. 

5)  pro  religiosis  prin- 
cipibus    omnique  mi- 


;cavTÖ(;  Tcpsoßorepioo  ää- 
oirjc  . . .  Staxovia?  xal  o- 
nf]peota<; 


4)  bnkp  ßaaiXdtov 


1)  OTCsp  ifii  otfia?   000 
IxxXiTjoiac  f^i; 

aicö  Tcspdttov  iü)?  «epa- 

TCDV. 


2)  xal  OTCsp  uaoTfjc  kni- 

aXOJr-^C   tfl<:  Öpd-OTOIAOD- 

a-qq  töv  Xöfov  zffi  aXr]- 
•d-Eta? 


3)  Bitte  des  Priesters 
für  sich  selbst 
oTc^p  TtavTÖ?  V.  Äpsoßo- 
Tspioo ...  X.  8taxöv(ov 
. . .  T.  xXiJpoo  6)  u.  t. 
Xaoö  TOOTOo 

7)  oTclp  Twv  ev  Tcapd-s- 
vfoj  xal  (^Yveloj,  OTclp  x. 
^C/jpÄv  . .  .  ojc^p  X.  ev 
oe|jLVOic  7d|ji,otc  . . .  oTcäp 

T.    VTfJTCl'wV 


8)  oTt^p  T.  TiöXeo)?  xao- 

tY]C    xal   X.  dvTOtXOÖVTWV 

4)  u;c^p  toü  ßaoiXdox; 


zur  sogenannten  Deprecatio  Grelasii. 


155 


Konst.  Ap.  Vni  10 

1)     OTtep     t^c      slpTfjVKjC 

xöa[JLOU  xal   twv   aYtwv 
ixxXrjOiÄv 


Jakobus-Litnrgie 
Br.  44.  54 
1)  orsp  r^?  äyo>dsv  sl- 
pijvTjc  . . .  oTcäp  c.  elpij- 
V7)C  T.  oopLTravTO?  XÖOftOO 
xal  i'.'waswc  «aoöv  t. 
d^.  t.  d«oö  IxxXtjaiÄv 


Chrysostomus  -Litur- 
gie Br.  362 

1)    OICSp    tfjC  3^V(i>deV  sl- 
pi^VT]«;  . .  .  6,  T.  £tpT]VTf]C  t. 

(j6ji.ÄavT0<;  xöa|ji.oo 


2)  orsp  T.  (XYia?  xado-     2)  (vgl.  i)  ojcsp  t.  «7.     eoota^sia^  twv  «y.  ^- 
Xtx^?  xal  äTcootoXiXTjc     xadoXix^C  xal  dtjrooto-     xXtjoiwv    xal    tt^c    täv 
ixxXifjaiac  t^<;  a?cö  xe-     Xix*^?  IxxXtjoia?  t.  izö     zavtwv  Ivcoosw? 
pdttov  £(0(;  TCEpdTODV  Y"^?  [7cepdt(üv]  jt^px^  t- 

jcspdtcDV  a^T^c 


4)üKep  rdo>j?lTC'axo7r^<;  <2)  fitn]6^riTi    xvgis   x. 

T.  o~6  TÖv  oipavöv  twv  r.  ^  avri]  ay.  xaregav 

^pO-OTojtoovtwv  TÖv  XÖ70V  ^/iöv  X.  ixiöxÖTtov  rav 

r^C  of^i;  dXijdsla«;  [3  6.  ...  ÖQd^oTOfwvvrav  x. 

t.  IvddSs  ^Y'  TCapotxta?]  >U5yov  t.  tf^g  äXijd^sCag 

5)  ortlp  toö  Iäktxöicoo  5)  J5i7<€  <fe5  Priesters  3)  owip  toö  ap)(ts7ctoxö- 
f^jtwv  ['laxtüßoo] . . .  twv  für  sich  selbst  u.  f.  d.  xocf^ji.jt.ttftiourpeoßo- 
«peoßutspwv  .  . .  irdoTjc  xvxXovvxBg  diccxovoi  tspioo,  t^(; . . .  6iaxovtac, 
t.Staxovia^x.orifjpeoia;  iravtö?  t.  xXijpoo   x.  t. 

6)  dvaYvwatwv  «{»aXtüv  Xaoö 


;:apdsv{üv  X'iQP'*^  ^^  **^     7)  6;clp  t.  fev  rapO'Svla 
öp^avwv,  6.  t.  Iv  ooCo-     xal  dY^eic^  xal  doxYjost 
Ytaic. .  oicfep  sovoo-     [xal  Iv  oejivcp  ^d^(f] 
X  w  v .  .  .   6.  t.    Iv   Iy- 
xpatsic^  xal  euXaßetof 


4  =  4)  6.  t.  ÄY-  [Xpi-     5)  bickp   t.  i^Y«    [l«>v^C 
oto5]    t.    d^soö   [iQttttv]     tq]  äöXs«?  ...  X.  t. 


166 


W.  Bousset, 


litia  eorum.  St.  pro 
piissimis  imperatoribus 
et  omni  romano  exer- 
citu  .  .  .  pro  Omnibus 
qui  in  sublimitate  sunt 
(vgl  J/*). 


xai  twv  ev  oTtepo^^ 


xai  T<öv  Iv  OÄspox"^  xal 

TcavTÖ?  xoö  otpatoTr^So» 


6)  pro  jocunditate  „et 
serenitate"  (J.*  sere- 
nitatis  et  opportunitate) 
pluviae  atqne  orarum 
{A'^  aurarum)  vitalium 
blandimentis  ac  pros- 
pero  diversomm  tem- 
porum  cursu 

7)  pro  bis  quos  prima 
Christiani  nominis 
incitavit  agnitio.  St. 
pro  poenitentibus  et  ca- 
tecJmmenis. 

8)  pro  his,  quos  hu- 
manae  infir  mitatis  f r  a- 
gilitas  et  quos  nequi- 
tiae  spiritalis  invidia 
. .  .  involvit  (itf*  quique 
spiritibus  vexantur  ali- 
enis) 

9)  pro  liis  quos  pere- 
grinationis  necessitas 
aut  iniquae  potestatis 
impietas  vel  hostilis 
vexat  aerumna.  Jf' 
pro  .  .  .  captivis ,  pro 
navigantibus  iter  a- 
gentibus  [vgl.  St.pere- 
grinantibus  iter  agenti- 
bus  . . .  navigantibus]  in 
carceribus,  vinculis,  me- 
talliSf  exiliis  constitutis 

10)  pro  judaica  falsi- 


6)  oTcfep  TTjc  eöxpaata? 
piac  t(0V  xapTcüv 


7)  OÄ^p  tWV  VSO^WTtOTCOV 


16)  oTcep  xfiz  eoxpaoiac 
xoö  aipoz  xai  r^?  s6- 
cpopiac  xüv  xapTcwv 


13)  oTtsp  xwv  xaf/j)(OD- 

15)   OÄSp  T.   iv  (tSTaVOlOf, 

dSeX^üv 

9)  DTcsp  Twv  SV  appwat'lcf 

14)  bnkp  t.  )(6iji,aCo[ts- 
vwv  OTCÖ  T.  aXXotptoo 


10)  hickp  twv  Iv  Tcixp^ 
SooXeiQ^  .  .  .  kv  l4opiAi(; 
Iv  STjjteöoeij  oTilp  tcXeöv- 
t(ov   xai   68ot7copoDVT(i)v 

[11)    OTlIp    T.     |l,t006vX(öV 

T^liä«  xai  5t(i)xövx(öv  YJ- 
(iä?  8ia   xö  övojtd  ooo] 


12)  Gff&p  xwv  S^o)  ^vx(i>v 


zur  sogenannten  Deprecatio  üelasii. 


157 


zoUtüi...  X.  T.    öpO-o-  jciotei  olxoovtwv 6v aorg 
SöSwv  irtötei    olxoovtwv 

3  =  5)  oTcsp  twv  eoos-  4)  ojcep  wv  eoaeßeata- 

ßeatdtwv  . .  .  f^ttwv  ßa-  t(öv  . . .  ßaoiXewv  i^^|iäv, 

otX^tüv,  Äavtöc  Toö  Tca-  savtö?  t.  iraXarioo  x,  t. 

Xatioo  xai  toö  otpato-  atpato:r£8oo  aütöv 

äeSoü  a'JTwv 

13  =  11)  oÄsp  euxpaota?  6)  oicsp  soxpaai a;  oepwv 

a^pcöv.SpLßpwv  elpTjVtxwv,  siKpopiotc  twv  xap-wv  t. 

8p6a(ov  a-ya^wv,  xapswv  yt^c  xal  xatpwv  elpr^vt- 

socopiac,  teXsia?  eäetTj-  xwv 

piac, . . .  toö  otecpdvoo  t. 

Iviaotoö 


8)  ozsp  twv  veo^cotiotwv 
äSeX^wv 


9)  ojclp  twv  h>  appwotia     6)  oTcsp  t.  Iv   Yi^poj   x.     7  b)  voooövtwv  xapöv- 

äSovaiticfSvtwv  jvoooöv-     twv 
twv  xajivövtwv"  (=  7) 


10)  ojclp  «Xeövtwv  xal 
oSotitopO'Jvtwv  .  .  .  ÖTTSp 
t.  Iv  [UtäXXot?  .  ..  e^o- 
piai?  cpoXaxat?  . . .  Sea- 
[toi?  . .  .  Iv  itixp4  8oo- 
Xeio^  xataTCovoojjLSVwv 
[11)  oitsp  fex^pwv  X. 
jtiooDVtwv  .  .  .  owep  t. 
Siwxdvtwv  ii\x..  8ia  tö 
ovoiJLa  t.  xopioo] 


8  =  ff)  orsp  TcXeövtwv     7  a)  osep  irXsövtwv  65oi- 
oSoiitopoövtwv  ^evtteoöv-     iropoövtwv 
xwv  xai  t.  [-\-iv  ds6- 
Hots]    ^v  al-/{>,aXwoiaic. 
. .  .  kiopioLK;  .  .  .  cpuXa- 
xat?  . . .  [+  Töv  iv  /i£- 
raAAoisx.  /3a<yai/ot5] ..  . 
Äixpaic  SooXsiaK; 
10  =  6)  xai  OÄsp  udoiQc 
«{jo^r^c  Xpiotiav^c  ^Xi- 
ßo(L8vr^C 


7  c)  alxitJxXwtwv   X.   t. 
owtTjptac  aötwv 


12)  onkp  twv    liw   öv-     11)   xai   SÄiotpoip-^C  c. 


158 

täte  et  haeretica  pra- 
vitate  vel  gentilium 
superstitione  perfasis 
11)  pro  operariis  pie- 
tatis  et  bis  qui  ne- 
cessitatibus  laboran- 
tam  . .  .  subveniunt. 
St.  M^  pro  his  qtii  in 
sanda  (tua)  ecclesia 
frudus  misericordiae 
larghmtur. 


W.  Bousset, 
xal  7r£7tXav7]|i^V(ov 


5)  TÄv  (XYtwv  (taptöpcDV 
{i,VYj[i.ovs6a(i)jiev.      oic^p 


12)  pro  Omnibus  in- 
trantibus  in  haec 
sanctae  domus  .  .  .  a- 
tri  a  (qui)  religioso 
corde  et  supplici  de- 
votione   convenerunt. 

13)  pro  emundatione 
animarum  . . .  ac  venia 
peceatorum 

14)  pro  refrigerio  fide- 
lium  animarum  prae- 
cipue  sanctorum  do- 
mini  sacerdotum.  Goth. 
pro  spiritibus  caroriim 
nostrorum  {pausan- 
timn).  St.  sandorum 
apostoJoruni  et  marty- 
rum  mcmores  simus. 

Das  Resultat  dieser  Vergleichung  entspricht  völlig  unserer 
Erwartung.  Es  kann  kein  Zweifel  daran  sein,  daß  sämtliche  Q-e- 
bete  auf  einen  gemeinsamen  Grundstock  aufgebaut  sind. 

Vergleichen  wir  die  lateinischen  Gebete  mit  der  morgenländi- 
schen Messe,  so  lassen  sich  ihre  sämtlichen  Bitten  in  der  griechi- 
schen Liturgie  ohne  Ausnahme  nachweisen.  Selbst  die  Bitte  der 
Deprecatio,  deren  verhältnismäßige  Singularität  W.  Meyer  S.  94 
hervorhob,  Nr.  10  pro  judaica  falsitate  etc.,  gewinnt  ihre  Parallele 
in  den  Clementinen  oTcäp  twv  ^^w  ävtwv  xal  TceTCXavYjjiivcov.  An  dem 
Parallelismus  kann  gerade,  wenn  man  auf  das  Ganze  schaut  und 
die  Stellung  der  Bitte  im  Gesamtgebet  ins  Auge  faßt,  kein  Zweifel 


5)  D.  TrdvTwv  T.  ftTc'  al(o- 
vo?  eoapeoTYjodvTwv  ooi 
äfmv  7ratpiap5^(öv  irpo- 
cpiQtwv  Sixatwv  iTcoord- 
Xö)V  {tapTÖpcov  öpLoXo^Y]- 
Ttöv  Ittioxötccöv  (die  wei- 
teren Rangklassen) 
Xatxwv  X.  icdtVTcov  wv  . . . 
iTTtaraoai   ta   6v6^ata. 


zur  sogenannten  deprecatio  Grelasii. 

10)  TCavöov  rä  6xC0uccTCi 
X.  ixxXrjö.  xai  x.  t.  at~ 

7)  0.  T.  xap7ro<popo6vT(i)v     QEGeav    inavaöxdöBig, 
£v  ocY-  k%if.\rpir^  x.  rot-     xßtßAvffoi/  tu    (pQvdy- 
O'jvtwv  T.  icsvYjaiv  t.  iXs-     uara  t.  t^i'öf 
Tfjltooovac 

5  =  i2  (P)  6.  t.  xapxo- 
(popoüVTcov  X.  xaXXtsp- 
IfOÖVTCöV  Iv  t.  a^.  T.  ^soO 
IxxX.   |i.s{tvriiJ.sva)v    twv 


159 


9)  ozsp  T.  rapdvTtüv  x.  2)o7repT.aY.oixootoutoo 
ouvso/oftevcöv  i^^fiiv  ev  x.  t.  [tstd  jctorsox;  soXa- 
xa6tiQ  T^  aY'4  Spoj  ßsia?  x,  ^ößoo  ^soö  sloi- 


12)ozspd5e3=ü)?äjj,ap-     {Br.3732i)  vzhq   övy- 
T'.wv     X.    a'JYy.'«>p'']<3sa)<;     j^mpr^fffcD^  xai  acptösag 


7cXTj{i[i£Xarö>v 

evaQEöxriödvTGiv  . . .  d- 
yiGJv  naxägav  nccxQiag- 
Xäv  nQoq)TjXG>v  d:to6x6- 
X(ov  (lUQxvQOv  öfiolo- 
yr^xGiv  didccöxdXav  6- 
6Cg)v,  jcavxbg  nvsvfia- 
tog  dixaiov. 


ufiOQXiav 


sein.  Die  abendländische  Bitte  wird  eine  Erweiterung  und  Spe- 
zialisierung der  morgenländischen  sein.  Daß  nach  Probst,  abendL 
Messe  S.  118,  der  Verfasser  von  de  vocatione  gentium  I  12  und  der 
Papst  Coelestin  in  einem  Briefe  Bekanntschaft  mit  der  Bitte  zeigen, 
ist  wertvoll  für  die  Datierung  der  Herübemahme  des  Gebets  im 
Abendland.  Auch  die  seltene  Bitte  für  die,  welche  die  heiligen 
Hallen  des  Gotteshauses  betreten,  findet  ihre  wörtliche  Parallele 
in  der  byzantinischen  Liturgie,  ihre  sachliche  in  der  griechischen 
Jakobusliturgie.  Die  Bitte  um  Sündenvergebung,  die  so  weithin 
aus  der  Abendmahlsliturgie  verschwunden  ist,  ist  doch  in  der 
Jakobusliturgie  (und  auch  in  der  byzantinischen)  stehen  geblieben. 


160  W.  Bousset, 

Auch  das  Plus ,  das  namentlich  das  Stowe-Missale  nebst  den 
verwandten  Zeugen  über  die  Deprecatio  hinaus  bietet,  ist  meist 
in  den  morgenländischen  Liturgien  zu  belegen.  So  gleich  im  An- 
fang die  charakteristische  Bitte  OÄsp  t"^?  slpYjVYj«;  xal  zfiz  eootad'eiac  xoö 
xöojtoD  (Stowe-M.  Ang.  b.  Mail,  b.) ;  das  ätcö  TuepdTwv  iw?  itspatwv  t^c 
Y^C  in  Bitte  2 ;  die  genauere  Formulierung  der  Bitte  für  den  Klerus 
in  2 ;  das  Gebet  pro  loco  et  inhabitantibus  in  eo  (Stowe-M.  Angel. 
a.  b.  Mail  a.  b);  die  virgines,  viduae,  orphani  des  Stowe-M.  etc.,  die 
ich  zu  Bitte  4  notierte ;  die  Wendung  xai  twv  Iv  oTcepoy-^  in  Nr.  5 ; 
die  wörtlichere  Parallele  in  Nr.  11  pro  his  qui  in  sancta  (tua)  ec- 
clesia  fructus  misericordiae  largiuntur  (Stowe-M.  Maü.  a);  selbst 
das  sanctorum  apostolorum  et  martyrum  memores  simus  (zu  Nr.  14) 
im  Stowe-M.  findet  seine  überraschende  Parallele.  Die  schon 
für  die  meisten  dieser  Varianten  von  W.  Meyer  S.  95  ausge- 
sprochene Vermutung  größerer  Ursprünglichkeit  findet  ihre  defi- 
nitive Bestätigung. 

Von  andern  Kleinigkeiten  sehe  ich  ab  und  verweise  auf  die 
Zusammenstellung  der  Texte.  Nur  das  eine  möchte  ich  hervor- 
heben, daß  die  seltsame  Bitte  Nr.  3  der  Deprecatio  (vgl.  W.  Meyer 
S.  103 :  „eine  mir  unklare  Grattung  von  gelehrten  Greistlichen")  ihre 
völlige  Erklärung  aus  der  obigen  Zusammenstellung  findet.  Die 
Deprecatio  hat  die  griechische  Bitte,  etwa  ojcsp  TcdoYj?  sTrtaxojr-^? . . , 
Tü>v  6pdoTO[j.o6vTö>v  TÖv  XoYOV  ti)?  dXTjdetac,  in  zwei  Bitten  Nr.  2  und 
3  zerschnitten. 

Aber  nicht  nur  der  Inhalt,  auch  die  ganze  Anlage  des  Gebets 
und  die  Reihenfolge  der  einzelnen  Bitten  sind  hüben  und  drüben 
außerordentlich  parallel.  Man  vergleiche  nur  die  lateinische  Reihen- 
folge mit  der  in  der  zweiten  Spalte  stehenden  Parallele  (Interces- 
sionsgebet  des  Diakons),  die  freilich  nur  für  die  erste  Hälfte  zum 
Vergleich  in  Betracht  kommt,  da  ihr  die  Bitten  der  zweiten  Hälfte 
fehlen.  Aber  auch  bei  den  übrigen  Texten  ist  der  Parallelismus 
der  Anlage  vollkommen  deutlich.  Abweichungen  sind  natürlich 
vorhanden.  So  stellt  Konst.  VIII  12, 40  ff.  die  Bitte  für  den  König 
weiter  nach  vorne,  die  für  die  Witterung  und  die  Saat  ganz  an 
den  Schluß  (ebenso  die  Jakobusliturgie,  doch  nicht  die  byzantinische), 
und  hat  die  Fürbitten  für  die  Notleidenden  (9  - 15)  in  veränderter 
Reihenfolge.  Auffällig  parallel  ist  wiederum  das  Stück  Konstitu- 
tionen VllI  10.  Nur  daß  hier  die  Fürbitte  für  die  Wohltäter  der 
Gemeinde  (7)  sich  unmittelbar  an  die  Geber  für  die  einzelnen  Klassen 
der  Gemeinde  anschließt.  Besonders  verwandt  erweist  sich  endlich 
wiederum  die  byzantinische  Liturgie,  die  freilich  viele  Stücke  des 
Gebets  nicht  enthält. 


zur  sogenannten  Deprecatio  Gelasii.  161 

Umgekehrt  läßt  sich  auch  die  Beobachtung  machen ,  daß  die 
verschiedenen  griechischen  Gebete ,  wie  man  sich  durch  die  fort- 
laufende Nummerierung  überzeugen  kann,  mit  wenigen  Ausnahmen 
ziemlich  restlos  von  den  abendländischen  Gebeten  übernommen 
sind. 

Nur  eine  wichtige  Ausnahme  ist  zu  notieren.  In  den  beiden 
Gebeten  der  Konstitutionen  VI1I12,  40flP.  und  Xin  6  steht  (Zu- 
sammenstellung Nr.  11)  eine  sehr  wichtige  Bitte,  die  sich  in  keinem 
der  abendländischen  Texte  findet,  das  ist  die  für  die  Feinde  und 
die  Verfolger  Siä  tö  ovofta  toö  xopioo.  Es  ist  nicht  zufällig,  daß 
gerade  diese  Bitte  ausfiel.  Der  Umstand  zeigt  aber  einerseits, 
daß  die  Urform  des  allgemeinen  Fürbittengebets  aus  der  Verfol- 
gungszeit stammt,  und  daß  die  Aufnahme  des  Gebets  im  Abendland 
in  eine  Zeit  fiel,  in  der  diese  Bitte  als  nicht  mehr  zeitgemäß  emp- 
funden wurde.  Dabei  ist  andererseits  die  in  dieselbe  Zeit  weisende 
Fürbitte  für  die  in  den  Bergwerken  und  Verbannung,  in  Gefäng- 
nissen und  Banden  Befindlichen  in  einigen  Exemplaren  stehen  ge- 
blieben (vgl.  Mail,  a.),  aber  schon  die  Deprecatio  hat  eine  verallge- 
meinernde Umschreibung. 

Zu  demselben  Resultat  führt  eine  Vergleichung  der  Fürbitte 
für  die  Könige.  Das  Diakongebet  Konst.  VIII  10  hat  diese  Bitte 
überhaupt  nicht;  das  beruht  schwerlich  auf  Zufall.  Die  römische 
Obrigkeit  war  während  der  Verfolgungszeit  vielleicht  einfach  in 
die  Bitte  für  die  Feinde  und  die  Verfolger  eingeschlossen.  Aber 
auch  der  Vergleich  des  Wortlautes  der  Bitte  führt  zu  interes- 
santen Resultaten.  Apost.  Konst.  VIII 13, 5  lautet  das  Gebet : 
oTcsp  ßaoiXstöv  xal  twv  Iv  'jrepox"ä  Ssr^O'Wjisv ,  iva  slpTrjvsöwvtai  ta 
rpö?  fj[iä?  (folgt  I.  Tim.  2if.)^).  Da  haben  wir  nun  wieder  die 
Zeiten  der  Verfolgung  und  Bedrängnis  durch  den  römischen  Staat ! 
Ganz  anders  klingt  das  Gebet  in  der  Deprecatio:  pro  religiosis 
principibus  omnique  militia  ^)  eorum ;  im  Stowe-Missale  :  pro  p  i  i  s  - 
8  i  m  u  s  imperatoribus  et  omni  romano  exercitu  und  dementsprechend 


1)  Vgl.  übrigens  hier  die  Aufforderung  zur  Königsbitte  im  Missale  Gothicum: 
„ut  nobis  populo  suo  pacem  Regum  tribuere  dignetar,  ut  mitigatis  eo- 
rum mentibus  requies  nobis  congregationis  istius  perseveret  (vgl.  die  Bitte :  da 
regum  eulmini  religionis  prosperitatem  et  pacis,  ut  nobis  regno  tuo  coelesti  in 
terris  adhuc  positis  liberius  liceat  desenrire).  Ist  hier  altertümliches  konserviert 
oder  das  Gebet  auf  fränkische  Verhältnisse  adaptiert?  Ganz  anders  lautet  Galli- 
canum  vetus:  ut  Regum  nostrorum  exercitum  ita  tua  virtute  corroboret,  ut  per 
eosdem  gentibus  subditis  vel  fugatis  Deo  vivo  jugiter  serviamus. 

2)  W.  Meyer  S.  89  im  Sinne  der  höheren  Staatsbeamtenschaft.  Das  ent- 
spräche dann  etwa  dem  toü  zoAatt'oj  in  der  griechischen  Liturgie. 


162  W.  Bonsset,  zur  sogenannten  Deprecatio  Gelasii. 

in  der  Jakobus-  wie  in  der  Chrysostomusliturgie :  oTcsp  täv  eoos- 
ßectatcDV  i^fjLwv  . . .  ßaotXdcov ,  iravtö?  toö  icaXatiou  xal  toö  atpatoTriSo» 
aottöv. 

Der  Grundstock  des  lateinischen  Fürbittengebets  muß  also  in 
der  Zeit  nach  dem  Ende  der  Christenverfolgung  aus  dem  Osten 
übernommen  sein  und  wiederum,  wie  es  scheint,  vor  der  endgültigen 
Trennung  des  östlichen  und  des  westlichen  römischen  Reiches^), 
also  etwa  im  Laufe  des  vierten  Jahrhunderts.  Die  Beobachtung, 
daß  in  den  lateinischen  (wie  im  Grundstock  der  morgenländischen 
Liturgien)^)  das  Mönchstum  noch  keine  Rolle  spielt  und  nur  ganz 
allgemein  eine  Fürbitte  für  die  Asketen  (die  Jungfräulichen)  aufge- 
nommen ist,  deutet  bestimmt  in  dieselbe  Richtung. 

Daneben  aber  haben  wir  erkannt,  daß  für  die  Form,  in  der 
uns  das  allgemeine  Fürbittengebet  in  der  Deprecatio  und  im  Stowe- 
M.  erhalten  ist,  noch  eine  zweite  Einströmung  griechischen  Ein- 
flusses angenommen  werden  muß.  Und  daß  diese  einer  etwas 
späteren  Zeit  angehört,  beweisen  die  gerade  hier  sich  findenden 
stärkeren  Berührungen  speziell  mit  den  ausgebildeten  Liturgien 
des  Morgenlandes,  der  Jakobus-  und  Chrysostomusliturgie. 


1)  Wenigstens  möchte  Probst  S.  66  das  aus  der  Wendung  des  Stowe-M.  pro 
püssimis  imperatoribus  et  omni  romano  exercitu  schließen. 

2)  Vgl.  besonders  die  lange  Liste  des  griechischen  Textes  im  Gebet  für  die 
Verstorbenen.  Hier  sind  zwar  die  Märtyrer,  aber  weder  die  Mönche  noch  die 
Asketen  genannt. 


Haussa  -  Sänger, 

mit  Übersetznng  und  Erklärung. 

Von 
Rudolf  Prietze. 

Vorgelegt  von  Enno  Littmann  in  der  Sitzung  rom  18.  Dezember  1915. 

Einleitung. 

Nachdem   1896  *)   in   den  Specimens    of  Hausa  Literature   by  Bishenee  Ver- 
Charles  Henry  Robinson  sechs  lange  geistliche  Gesänge  im  Manu- '  ^  '^ 
skript  nebst  Übertragung  und  Erklärung   erschienen  waren,   habe 
ich  1904  in  47  kurzen,   in  Tunis   aus   dem  Munde   zugewjinderter 
Haussa  sechs  Jahre  zuvor  von  mir  gesammelten  Liedern  ein  Bild 
ihrer  Volksdichtung  geboten. 

Inzwischen  gewann  ich,  z.  T.  noch  in  Tunis,  besonders  aber 
seit  1904  in  Kairo  im  Verkehr  mit  Zöglingen  der  Azhar-Moschee 
aus  dem  Sudan  einen  deutlicheren  Eindruck  von  dem  Umfang,  in 
welchem  das  Lied  in  den  Haussaländern  ffepflefft  und  besrehrt  wird.      Lebhafte 

Sangespflcge 

Nicht  als  ob  diesem  heiter  -  sinnlichen ,  weltgewandten,  oberfläch- der  Haussa  auf 
liehen  Mischvolke  ein  tieferes  Gefühl  für  Poesie  innewohnte ;  Quelle  Geistesanlage, 
seiner  Empfänglichkeit  ist  nicht  sowohl  das  Herz,  als  seine  be- 
hende Auffassung  oder,  um  an  eine  naheliegende  Parallele  zu  er- 
erinnem,  sein  Esprit,  der  in  treffenden  Einfällen,  wohlgeprägten 
Schlagworten,  vor  allem  im  Mri-m  magdna  d.  h.  in  Bilderrede, 
versteckten,   nur   dem  Eingeweihten   verständlichen   Anspielungen 


1  )  ÜDserm  weitus  besten  Kenner  des  Haussa,  Gottlob  Adolf  Eranse, 
gebührt  insofern  die  Priorität,  als  er  schon  vor  35  Jahren  eine  große  Anzahl  arabisch 
geschriebener  Haassalieder  gesammelt  hat,  von  denen  einige  sich  in  der  Königl. 
Bibliothek  zn  Berlin  befinden,  die  meisten  aber  mit  dem  größten  Teil  seiner  Auf- 
zeichnungen verloren  gegangen  sind.  Eine  Probe,  von  der  unten  in  den  Be- 
merkungen zur  Prosodie  die  Rede  sein  wird,  hat  er  1896  im  Feuilleton  der  Kreuz- 
zeitung  veröffentlicht. 


164  Rudolf  Prietze, 

Befriedigung  sucht.  Ein  glückliches  Bonmot  ist  bei  ihm,  wie  die 
kiräfi  in  meinem  Aufsatz  „Pflanze  und  Tier  im  Volksmunde  des 
mittleren  Sudan"  (Zeitschr.  f.  Ethnologie  1911,  Heft  11)  beweisen, 
der  Unsterblichkeit  sicher.  Und  wie  in  Ländern  höherer  Kultur 
die  Presse,  unentbehrlich,  geschätzt  und  gefürchtet,  wirkt  dort 
noch  der  Sänger  nicht  allein  als  Bringer  der  Lust,  sondern  als 
Träger  und  Schöpfer  der  öffentlichen  Meinung. 

Äußere  Verhältnisse  kommen  der  Verbreitung  seiner  Kunst 
entgegen.  Das  von  einer  dünnen  Fulbeschicht  beherrschte  Haussa- 
gebiet, an  sich  schon  verhältnismäßig  reich  an  größeren  und  klei- 
neren ge  werbfleißigen  Verkehrszentren,  hat  Dank  dem  Handels - 
geist  seiner  Bewohner  nach  allen  Seiten  Kolonien  ausgestrahlt,  in 
denen  der  Drang  nach  außen  fortstrebt.  Eine  unbegrenzte  Wander- 
lust waltet,  soweit  die  Haussazunge  klingt.  Allenthalben  fühlt 
sich  der  reisende  Kaufmann  daheim ,  und  seinen  Fußtapfen  folg 
truppweise  fahrendes  Volk,  vom  Verdienst  der  Landsleute  zu  leben. 

^^^voiik^"''^  An   der  Spitze   eines  jeden   solcher  Trupps  steht  ein  Führer, 

gfirdi  (PL  gerdawa)  genannt.  Die  niedrigste  Stufe  des  Landstreicher- 
tums  bilden  die  mit  Weib  und  Kind  wandernden  türdawa  (Sg.  türäe), 
die  schlechthin  vom  Bettel  {roho)  leben  und  daneben  höchstens 
Kräuterzauber  verkaufen.  Etwas  besserer  Greltung  erfreut  sich 
das  Gefolge  des  gerdi-yn  mäciäi,  die  Schlangenbeschwörer,  die  gleicii- 
falls  familienweise  ziehn  und  den  Handel  mit  allerlei  Zauber  als 
Nebengewerbe  betreiben.  Hoch  über  beiden  steht  der  Chor  des 
gerdi-m  hdra,  die  fahrenden  Schüler  unter  ihrem  Sangesmeister. 
Sie  wie  auch  der  wandernde  Mälem  (Schriftgelehrte)  mit  seinen 
Jüngern  ziehn  nicht  allein  aus  dem  Verkauf  von  Zauberzetteln 
Gewinn,  sondern  in  erster  Linie  aus  dem  bdra,  dem  Bettelliede, 
das  der  gerdi  vorträgt,  während  die  almääirei  (Schüler,  Umformung 
des  arabischen  almohäjir;  ei  ist  ursprünglich  Dualendung)  nach 
jedem  Verse  eine  Gottesanrufung  singen.  Zwischen  den  drei  Gat- 
tungen von  Wandertrupps  herrscht  bitterste  Fehde;  durch  Zauber 
suchen  sie  sich  vor  einander  zu  schützen. 

Sangesmeutcr.  Mit    den   fahrenden   Schülern   sind    wir   in   den   Bereich    der 

Sänger  eingetreten;  denn  der  gerdi-m  hdra  ist  eine  zabia  (PI.  zä- 
hi(n)  —  ein  Wort  dunkler  Herkunft,  das  stets  feminin  ist  und 
Meistersinger  bedeutet,  sei  es  Mann  oder  Frau.  Die  Kunst  ist 
auch  dort  an  kein  Geschlecht  gebunden,  wird  indeß  meist  vom 
stärkeren  geübt.  Es  ist  der  selbstdichtende  Sänger,  den  ein  Kreis 
von  Musikern  und  Jüngern  umgibt;  stirbt  er,  so  wird  aus  diesen 
sein  Nachfolger  gewählt.  Von  der  zdhia  zu  unterscheiden  sind  die 
zahllosen  vorwiegend  reproduzierenden  Lokalsänger,  die  zwischen 


Haussa  -  Sänger. 


165 


Tanzweisea. 


•den  nächtlichen  Tänzen  nach  bekannten  Weisen  Lieder  vortragen. 
Solche  Volksweisen,  die  bald  getanzt  bald  gesungen  werden,  tau- 
chen plötzlich  auf  und  herrschen  Jahre  lang,  bis  andere  sie  ablösen. 
Die  erste,  deren  mein  Gewährsmann  Jlüsa  sich  entsinnt,  nannte 
sich  nach  ihrem  Urheber  Semba,  die  folgende  hieß  Dädua.  Danach 
mag  vor  25  bis  30  Jahren  die  sehr  verbreitete  Mägara  aufge- 
kommen sein.  Ihr  folgte  drei  Jahre  später  der  GaUii,  vor  20 
Jahren  die  Lelua  und  im  Jahre  darauf  der  Zali.  Nach  allen  diesen 
Weisen  sind  Lieder  von  ziemlichem  Umfang  gedichtet  worden,  die 
ich  mir  aufzeichnen  ließ;  so  gehört  die  an  zweiter  Stelle  von  mir 
veröffentlichte  Liedersammlung,  der  Diwan  des  „Heimchens",  der 
Mä'jara  an. 

Natürlich  ist  der  Geltungsbereich  der  einzelnen  Sangesmeister 
verschieden.  Manche  befinden  sich  vorwiegend  auf  der  Wander- 
schaft, andere  sind  seßhaft;  doch  bringen  auch  diese  auf  zeit- 
weiligen Kunstreisen  ihren  Vorrat  an  Dichtungen  zum  Gehör,  ge-  Kunstreisen. 
legentlich  auch  volkstümliche  Lieder  anderer  Verfasser  beifügend, 
wie  in  der  eben  genannten  Sammlung  die  Sprüche  des  Negele.  So 
finden  ihre  Erzeugnisse  oft  weit  über  die  Grenzen  der  engeren 
Heimat  hinaus  Verbreitung,  mehren  das  geistige  G-emeingut  und 
tragen  in  Ermangelung  einer  Literatursprache  zur  Angleichung 
und  Bereicherung  der  zahlreichen  Mundarten  bei. 

Das  Auftreten  der  säbia  wird  durch  ein  zahlreiches  Gefolge 
unterstützt.  Den  Kern  bilden  die  Musiker;  andere  schließen  sich 
an,  um  beim  Einsammeln  der  Gaben  behilflich  zu  sein.  Auf  Reisen 
wird  ein  möglichst  stattlicher  Eindruck  erstrebt.  Danuma,  von 
dem  die  nachstehenden  Lieder  des  „  Papageis ~  herrühren,  soll  an 
der  Spitze  eines  Zuges  von  16  Berittenen  wie  ein  Pascha  auf- 
getreten sein.  Ist  man  in  einer  Stadt  angelangt,  so  dient  in  der 
Regel  die  Behausung  eines  angesehenen  Gastfreundes  als  Ab- 
steigequartier. Die  Vorträge  finden  dort  wie  daheim  auf  dem 
Tanzplatz  des  Ortes  statt.  Nach  der  Mahlzeit  ruft  die  große 
Trommel  (gangd)  die  Einwohner  zusammen.  Sobald  die  musikali- 
schen Begleiter,  10  bis  20  an  der  Zahl,  ihr  Konzert  vollführt 
haben  —  eine  Beschreibung  ihrer  Instrumente  s.  am  Schluß  dieser 
Einleitung  —  trägt  der  Sänger,  von  der  Musik  mit  Ausnahme  der 
Trommeln  leise  begleitet,  seine  Stücke  vor.  In  den  Pausen  oder 
am  Ende  bringen  die  Zuhörer  ihre  Geschenke,  oft  sehr  beträcht- 
liche, und  die  vorhin  erwähnten  Schmarotzer,  Namen  und  Spende 
des  Gebers  ausrufend,  erhöhen  deren  Ziffer  in  ihrer  Trinkgeld- 
hoffnung noch  um  vieles. 

Den  Vortrag  des  Meistersingers   darf  man  sich,   so  gern  er 


166  Rudolf  Prietze, 

Anwesende  apostrophiert,  im  allgemeinen  nicht  als  Improvisation 
vorstellen.  Er  wird  größtenteils  daheim  wohlvorbereitet,  nicht 
selten  zur  Stütze  des  Gredächtnisses  aufgezeichnet  und  im  häus- 
lichen Kreise  auf  seine  Wirkung  geprüft.  Einschiebsel  und  Um- 
gestaltungen ergeben  sich  später  von  selbst. 
^tti*ngen"  "^^^  stchcude  Gattungen  ihrer  Dichtkunst  nennen  die  Haussa: 

yähö  (Preislied),  sanho  oder  sambö  (Spottlied)  und  hege  (Lied  der 
Liebe,  der  Sehnsucht,  der  Trauer).  Freilich  fallen  viele  ihrer 
poetischen  Erzeugnisse,  wie  die  geistlichen,  moralischen  und  poli- 
tischen Betrachtungen  oder  die  dem  Tanz  und  der  Greselligkeit 
geltenden  Lieder,  aus  dem  Rahmen  heraus,  während  in  anderen, 
z.  B.  in  ITk  u.  p  (s.  u.)  zwei,  ja  alle  drei  Gattungen  sich  drollig 
vermischen.  Die  Gültigkeit  der  Einteilung  ergibt  sich  indeß  aus 
dem  praktischen  Gesichtspunkte  des  Sängers :  er  will  entweder 
durch  Schmeichelei  die  Gebelust  wecken  oder,  sei  es  für  sich,  sei 
es  gegen  gute  Bezahlung  für  andere,  einem  Gefühl  der  Rache,  des 
Verlangens,  des  Leidens  Worte  leihen.  Den  Ausdruck  des  be- 
wegten Gemüts  wird  man  zumeist  im  hege,  sodann  im  sambo  zu 
suchen  haben;  an  Masse  jedoch  überwiegen,  dem  vorherrschenden 
Erwerbssinn  entsprechend,  weitaus  die  Leistungen  im  yähö.  Jeder, 
der  überhaupt  etwas  zu  spenden  hat,  findet  eine  zahia,  die  ihn 
besingt,  und  wehe  ihm,  wenn  er  zu  karg  ist!  Der  drohende 
zamhö  lauert  im  Hintergrunde  (vgl.  Ik).  Wie  in  der  Blütezeit 
unseres  sangfrohen  Mittelalters  ist  diu  milte  hier  erste  Tugend  des 
Starken  und  Reichen.  Den  Gebieter  zu  preisen,  liegt  dem  offi- 
ziellen Hofpoeten  ob,  doch  werden  kluge  Machthaber,  denen  es 
um  „eine  gute  Presse"  zu  tun  ist,  auch  den  freien  Sänger,  der 
ihren  Ruhm  mit  Geschick  zu  verkünden  weiß,  fürstlich  belohnen. 
Man  ist  in  diesem  Punkt  in  den  Haussaländern  gewitzter  als  in 
manchen  Zentren  europäischer  Kultur.  Daneben  scheint  im  Sudan 
die  Eitelkeit  als  noch  stärkere  Triebfeder  zu  wirken.  Wem  der 
Herrscher  zu  fern  wohnt  oder  zu  sehr  umworben  ist,  der  wendet 
sich  mit  seinem  Preislied  an  den  bürgerlichen  Gönner  und  kommt 
in  der  Regel  auf  seine  Rechnung.  Es  gibt  Spezialisten,  die  nur 
Jäger  besingen;  denn  so  niedrig  der  Waidmann  in  der  Achtung 
der  Honoratioren  und  besonders  der  in  Zaubermitteln  mit  ihm  in 
Wettbewerb  stehenden  Gelehrten  angeschrieben  ist,  er  pflegt  nach 
erfolgreicher  Jagd  sehr  freigebig  zu  sein.  Andere  richten  ihre 
dem  Forscher  manch  fesselnden  Einblick  gewährenden  Huldigungen 
an  Ackerbauer,  Färber,  Mörserhauer,  ja  selbst  an  so  wenig  ange- 
sehene Handwerksmeister  wie  Fleischer  und  Schmiede,  und  erhalten 
ihren  Lohn  in  natura.    Sogar  einem  Straßenräuber  und  einem  er- 


Hanssa  -  Sänger.  167 

folgreichen  Diebe  widmet  ein  Barde  begeisterte  Hymnen,  um  an 
der  Beute  teilzunehmen. 

Greringer  als  an  Lobgesängen,  aber  gesalzener  ist  mein  Vor- 
rat an  Schmähliedem.  In  ihnen  entfaltet  der  Haussa  eine  be- 
sondere Stärke.  Gleich  den  Pfeilen  des  Archilochos  soll  ein  Teil 
derselben  den  G-egner  in  Verzweiflung  und  Tod  getrieben  haben. 
Das  bege  hingegen,  das  in  der  Poesie  der  ostlichen  Nachbaren 
(vgl.  meine  Bornulieder)  rührende  Wirkung  erzielt,  dürfte  ihm 
seltener  gelingen. 

Als   erste  Stücke   meiner  Sammlung   lasse   ich  Lieder   zweier  P*«  '>«,'<'«•'  »o^* 

liegenden    „Di- 

Sänger  folgen,  die  nicht  allein  in  ihrer  Begabung  hervorragend,  wanc". 
sondern  auch  in  ihrer  Persönlichkeit  als  typische  Vertreter  ihres 
Standes  erscheinen.  Ein  befähigter  Haussa  namens  Ahmed  (A)  hat 
sie  mir  in  Tunis  im  Frühjahr  1902  als  je  ein  Ganzes  aufgezeichnet 
und  Satz  für  Satz  erklärt;  doch  erst  nach  erneuter  sorgfältiger 
Untersuchung  mit  Hilfe  eines  noch  einsichtigeren  Gewährsmannes 
M^)  vermochte  ich  vor  drei  Jahren  in  Elairo  die  Teile  reinlich  zu 
scheiden  und  über  den  Sinn  im  einzelnen  eine  hinlängliche,  wenn 
auch  nicht  restlose  Klarheit  zu  gewinnen. 

Es  sind  Liedersträuße,  von  ihren  Urhebern  unter  sinnvoll  ge- 
wählten Tiernamen  einem  dankbaren  Hörerkreis  als  ihr  derzeitiges 
Repertoire  dargeboten,  die  sich  füglich,  si  parva  licet  componere 
magnis,  als  „Diwane"  bezeichnen  lassen. 

Beide  Sänger  legen  ein  beträchtliches  Selbstbewußtsein  an  den 
Tag.  In  jedem  von  ihnen  steckt  ein  kleiner  Aretin,  der  sich  als 
Herrn  über  den  Leumund  seiner  Landsleute  fühlt  und  in  der  Aus- 
übung solcher  Gewalt  keine  Skrupel  kennt.  Der  fromme  Ernst 
der  geistlichen  Dichter  Robinsons  ist  Beiden  fremd.  Wie  der 
überwiegende  Teü  ihres  Volkes  bekennen  sie  sich  zwar  aufrichtig 
zum  Islam,  wissen  sich  aber  mit  seinen  moralischen  Forderungen 
behaglich  abzufinden. 

Bei  aller  Übereinstimmung  in  den  Grundanschauungen  heben  sie 
sich  in  ihrer  Eigenart  scharf  von  einander  ab.     Der,  welcher  sich  „Der  Pap«cci. 


1)  Müsa  war  in  Borna  geboren,  aber  noch  im  Knabenalter  zum  Studium 
bei  einem  Mälem  nach  Zindir,  der  Hauptstadt  des  nordöstlichsten  Haussadistrikts 
Damägaram,  gelangt  und  hatte  dort  sowie  auf  Reisen  im  Lauf  der  folgenden 
fünfzehn  Jahre  die  Landessprache  so  vortreflflich  gelernt,  daß  er  sie  mindestens 
so  gut  verstand  wie  seine  heimatliche  und  zu  seiner  großen  Genugtuung  von 
seinen  Haussakommilitonen  in  der  Azhar  für  einen  der  Ihrigen  gehalten  wurde. 
Ich  danke  seinem  kritischen  Scharfsinn  wie  seiner  Zuverlässigkeit  und  seinem 
außerordentlichen  Gedächtnis  nicht  minder  als  seinem  Geschick,  mir  femliegen<le 
Gedankengänge  zu  erschließen,  die  besten  Ergebnisse  dieser  Arbeit. 

£tjl.  Ges.  d.  Wiss.    Nacbricbton.     Phil.-hitt.  Klüse.     191«,    Heft  2.  12 


168  Rudolf  Prietze, 

^n  der  Spitze  seines  Diwans  als  Papagei  einführt  und  seinen  wirk- 
lichen Namen  Danuma  in  56  und  144  verrät,  betrachtet  die  Welt 
ausschließlich  aus  dem  Gresichtspunkt  des  fahrenden  Sängers  und 
seines  Bedarfs.  Trotz  des  oben  erwähnten  pomphaften  Auftretens 
macht  er  aus  seiner  Abhängigkeit  von  der  Gunst  der  Mächtigen 
kein  Hehl  (vgl.  Gr,  Q  und  S);  er  wünscht  von  seiner  Kunst  ohne 
Anstrengung  zu  leben  (vgl.  F,  J),  und  wäre  es  durch  Erpressung 
(H);  selbst  das  Gebet  scheint  ihm  ein  erlaubtes  Mittel  zu  unlau- 
terem Zweck  (E).  Der  gute  Geber  erfährt  warmes  Lob  (D,  M, 
N,  U),  der  Widersacher  oder  schlechte  Zahler  seinen  oft  witzigen, 
meist  gutgelaunten  Spott  (K,  N,  R,  J);  mit  Bitterkeit  äußert  er 
sich  über  Verwandte  (0,  P)  und  die  Fulbe  (Q)  nur,  weil  sie  nichts 
für  ihn  übrig  haben.  Versöhnend  neben  soviel  engem  Eigennutz 
wirkt  seine  Dankbarkeit  für  frühere  Wohltat  (B,  L)  und  ein  wohl 
nicht  bloß  nachgeahmter  Hymnus  auf  die  Größe  und  Güte  Gottes 
(E) ;  auch  besticht  er  durch  die  Leichtigkeit  seines  Stils  und  Sinnes, 
seine  Schelmerei  und  kindliche  Unbefangenheit  diesseit  von  Gut 
und  Böse, 
'^he""*"  Hervorragender,  wo  nicht  als  Dichter  so  doch  als  Persönlich- 

keit, ist  der  Sänger,  der  sich  unter  dem  Pseudonym  Heimchen 
verbirgt.  Er  hieß  laut  A.  Babale  (etwa  „kleiner  Großvater"  oder 
„Bruder  des  Großvaters"),  stammte  aus  Wangara  bei  Gezawa,  einem 
kleinen  Ort  in  der  östlichen  Umgebung  von  Kano,  und  lebte  von 
Gartenbau.  Nicht  sowohl  um  Lohn  als  des  Beifalls  wegen  und 
um  die  Gunst  der  Mädchen  zu  gewinnen,  hat  er  in  jungen  Jahren 
viele  Lieder  gedichtet  und  gesungen,  darunter  den  vorliegenden 
Diwan,  der  im  „Kometenjahr"  entstand  und,  wie  sich  aus  manchen 
Anzeichen  ergibt,  nicht  daheim,  sondern  mindestens  in  seinen 
Hauptbestandteilen  (A,  B,  D,  K,  N,  0,  P,  Q)  auswärts  vorgetragen 
wurde,  vermutlich  in  Garko  (vgl.  Anm.  zu  II  84),  dessen  Verhält- 
nisse im  Vordergrunde  stehn. 

Ein  sicheres  Selbstgefühl  und  starke  Leidenschaft  zeichnen 
ihn  aus.  Mit  ätzendem,  ja  unflätigem  Hohn  verfolgt  er  einen 
Sänger  dienenden  Standes,  dessen  Wettbewerb  in  der  Handhabung 
der  Tanzweise  Magara  (s.  o.)  ihm  unbequem  ist  (B).  Auch  seine 
Preislieder  lieben  ironische  Färbung  (K,  P).  Nur  in  seinen  den 
jungen  Mädchen  gewidmeten  Versen  (E,  L)  weiß  er  sanftere  Töne 
anzuschlagen.  Sein  Hauptaugenmerk  gilt  der  gefahrvollen  poli- 
tischen Lage.  Der  Schrecken  jener  Tage  war  Hardna,  der  Räuber- 
hauptmann, von  dem  auch  der  1886  die  Haussaländer  durch- 
forschende Staudinger  in  seinem  Reisewerk  S.  283  berichtet.  Ein 
Haussa   unbekannter  Abstammung,   hatte   er   sich   an   der  Spitze 


Hanssa  -  Sänger.  169 

zahlreicher  Krieger,  vornehmlich  aus  dem  Heidenstamme  der  Kerr^- 
kerr^,  in  dem  Felsennest  Ningi  an  der  G-renze  der  Staaten  KAno, 
Zauzau  und  Bauci  festgesetzt  und  brandschatzte  in  fortwährenden 
Streif zügen  die  gesamte  Umgegend.  Bei  straffem  Zusammenhalt 
würde  es  dem  meistbetroffenen  Kano  ein  leichtes  gewesen  sein,  des 
Unholds  Herr  zu  werden;  allein  dem  starken  Fulbegeschlecht,  das 
sich  zu  Anfang  des  vorigen  Jahrhunderts  die  Haussaländer  Unter- 
tan gemacht  hatte,  war  grade  an  den  entscheidenden  Stellen  minder- 
wertiger Nachwuchs  gefolgt.  Der  in  Blano  herrschende  Bello,  Sohn 
des  Ig  genannten  Königs  Abdu,  Enkel  des  Dälo  (II  161),  weit 
entfernt,  den  Störenfried  mit  Heeresmacht  in  seinem  Malepartus 
aufzusuchen,  hemmte  noch  durch  ausdrückliche  Weisung  die  Kampf- 
lust des  ihm  untergebenen  sogenannten  Wesirs  von  Garko.  In 
dieser  Bedrängnis  erfüllt  der  Sänger  seinen  Beruf  als  eifriger 
Warner  und  Mahner.  Gewiß  wäre  es  verfehlt,  in  einer  Umwelt, 
der  Vaterlandsliebe  ein  unbekannter  Begriff  ist,  einen  Waltber 
von  der  Vogelweide  wiederfinden  zu  wollen,  zumal  auch  das  Inter- 
esse des  Grundbesitzers  an  einer  Wiederherstellung  des  Land- 
friedens stark  beteiligt  war.  Immerhin  entbehrt  es  nicht  einer 
gewissen  Großzügigkeit,  wenn  das  Heimchen  die  Häupter  ringsum 
strengen  Blickes  mustert,  die  Bewährten  preist  (K,  N),  diejenigen, 
die  es  an  Mannheit  und  Tatkraft  fehlen  ließen,  aufs  schärfste 
tadelt  (H,  K,  M,  N),  selbst  den  Oberherrn  mit  freimütigem  Spott 
überhäuft  (0),  dem  Feinde  seine  Trutzbotschaft  sendet  (98  ff.,  149  ff.), 
die  Aussichten  des  Erfolges  überschlägt  (0)  und  zu  sorglicher 
Rüstung  mahnt  (0,  Q);  hier  führt  nicht  der  Revolverjournalist  das 
Wort,  sondern  der  ernste  Vertreter  des  Gemeinwohls. 

Wie  bei  meinen  Bomuliedern  muß  ich  bedauern,  daß  sich  aus  zur  versWunst 

der  Haussa. 

den  vorliegenden  Diwanen  das  Wesen  ihrer  Form  nur  sehr  unvoll- 
kommen erschließen  läßt.  Sie  wurden  mir  in  A.s  Niederschrift 
ohne  jede  Interpunktion,  ohne  jeden  Absatz  zur  Kennzeichnung 
der  Verse  und  Strophen  überliefert  und  ohne  das  Bewußtsein 
solcher  Gliederung  gedeutet.  Auch  M,  der  kundigere  und  scharf- 
sinnigere Erklärer,  bestritt  das  Vorhandensein  prosodischer  Regeln, 
wie  die  arabische  Poesie  sie  aufwiese,  für  das  Haussa  schlechtbin. 
obwohl  er  nicht  umhin  konnte  Verkürzungen  auf  die  Forderung 
des  Verses  zurückzuführen  und  selber  gelegentlich  auf  den  mäimai 
„Wiederholung",  hier  wohl  Parallelismus  membrorum,  als  dichte- 
rischen Grundsatz  hinwies. 

Daß  auch  die  Haussapoesie  Gesetze  kennt,   bestätieren  die  am  Z^-"*  **^  ^'^ 

_,.  *^        ,  '  o  birsons  Speci- 

Emgang   erwähnten   versmäßig   geschriebenen  Specimens   von  Ro-        ^^°^ 

12* 


170  Rudolf  Prietze, 

binson.  Leider  hat  dieser  es  während  seines  Aufenthalts  in  jenen 
Ländern  versäumt,  sich  die  Texte  von  einem  Sachverständigen  vor- 
lesen oder  vorsingen  zu  lassen,  um  dem  Prinzip  des  Versbaus  auf 
die  Spur  zu  kommen.  Die  bloße  Durchsicht  läßt  nicht  mit  Sicher- 
heit erkennen,  ob  es  auf  Quantität,  Betonung  oder  Silbenzählung 
beruht ;  doch  spricht  m.  E.  die  Wahrscheinlichkeit  für  die  letzte. 
Nur  weichen  die  sechs  Gesänge,  von  denen  je  zwei  auf  einen  Ver- 
fasser zurückgehn,  im  einzelnen  stark  von  einander  ab.  Gemeinsam 
ist  ihnen  die  in  grundsätzlich  gleiche  Hälften  (a  u.  b)  zerfallende 
Langzeile.  Eine  Gleichheit  der  Silbenzahl  innerhalb  der  einzelnen 
Gesänge  wird  mutmaßlich  beim  Vortrage  durch  Zusammenziehung, 
Verschleifung  u.  dergl.  erzielt. 

Bei  dem  Dichter  von  A  und  C  zählt  die  Halbzeile  11 — 14, 
durchschnittlich  13  Silben.  In  der  Regel  werden  Langzeilen  durch 
den  Keim  bezw.  den  Gleichklang  am  Schluß  von  b  zu  kleineren 
und  größeren  Komplexen  verknüpft,  in  A  gewöhnlich  durch  die 
Endungen  ari,  erri,  auch  iri  (7  mal  kafiri),  in  den  55  Langzeilen 
von  C  53  mal  durch  ia  (darunter  39 mal  dünia).  Ferner  schließen 
a  und  a  zweier  benachbarter  Langzeilen  gern  mit  demselben  Wort, 
z.  B.  lahira,  fätiha.  Dagegen  scheint  Reimverbindung  von  a :  b  in 
derselben  Langzeile  nur  zufällig  zu  sein. 

Der  zweite  Autor,  Mälem  Mohammed,  bietet  in  den  174  Lang- 
zeilen von  B  Halbverse,  die  fast  durchweg  10 — 11  Silben  zählen. 
Dagegen  schwanken  sie  in  D,  seinem  andern  Gesänge,  zwischen 
12  und  17  und  ermangeln  einer  natürlichen  Sonderung  ihrer  Hälf- 
ten, ja  7  mal  sind  Wörter  auseinander  gerissen,  um  in  ihrem  ersten 
Teil  den  Schluß  von  a,  im  zweiten  den  Anfang  von  b  zu  bilden. 
Der  Reim  ist  bei  diesem  Dichter  Ausnahme,  nicht  Regel.  Die 
Frage,  ob  er  vorkommenden  Falls  erstrebt  war,  läßt  sich  bei  a 
und  b  der  einzelnen  Langzeile  eher  bejahen  als  bei  a  und  a,  b  und 
b  der  benachbarten. 

Am  sorgfältigsten  hat  der  Fulbescheich  Osmän,  der  1809  ver- 
storbene Eroberer  der  Haussaländer,  als  Verfasser  von  D  und  F 
eine  Form  beobachtet.  Die  Silbenzahl  seiner  Halbverse  beträgt 
überwiegend  12  bis  13,  keiner  zählt  über  14,  keiner  unter  11.  Von 
den  52  Langzeilen  von  D  endigen  nur  9  nicht  auf  a,  von  den  257 
von  F  schließen  145  auf  awa,  81  mit  dem  Worte  Icöwa]  im  ganzen 
endet  b  in  F  249 mal  auf  wa.  Da  auch  am  Schluß  der  ersten 
Halbverse  in  beiden  Gesängen  a  vorherrscht,  so  scheint  ein  Gleich- 
klang auch  bei  a :  a,  a :  b  gern  gesehn,  wenngleich  nicht  Regel  zu 
sein;  a:  a  paren  sich  durch  gleiche  Wörter  am  Schluß  2 mal  in  D, 
12  mal  in  F. 


Haassa  -  Sänger.  171 

Von  diesem  Osmän  rührt  auch  das  zu  Beginn  dieser  Einleitung 
am  Schluß  der  Fußnote  erwähnte  Haussalied  her,  Herr  Gr.  A- 
Krause  teilt  mir  darüber  brieflich  aus  seiner  Erinnerung  fol- 
gendes mit^): 

„Nachdem  ich  viel  darüber  nachgedacht,  hin-  und  hergeraten 
habe,   glaube  ich  das  folgende  als  feststehend  angeben  zu  können: 

Jede  Zeile,  oder  jeder  Vers,  besteht  aus  acht  Silben,  deren  1., 
3.,  5.  und  7.  besonderen  Ton  haben.  Je  vier  (oder  fünf)  bilden 
eine  Einheit  für  sich  in  doppelter  Weise.  Einmal  ist  der  Sinn 
damit  abgeschlossen,  und  dann  haben  die  ersten  vier  gleichen  End- 
reim, der  sowohl  nur  die  Endsilbe  wie  auch  die  beiden  letzten 
Silben  treffen  kann.  Alle  fünften  haben  durch  das  ganze  Lied 
hindurch  gleichen  Endreim,  der  hier  .  .  .  .  ki  ist.  Vier  habe  ich 
mir  ins  Gedächtnis  zurückrufen  können: 

1.  Mäsu  iägo,  zdiigu  üku 

2.  Sunka  köre  sänsaninku 

3.  ZdsH  bifiku  hdr  garinku 

4.  AnniydnsH  ein  hazitiku 
B.  vergessen Jei. 

Vom  Schluß  des  Liedes  kann  ich  drei  angeben,  ich  weiß  nicht, 
wo  die  Lücke  ist: 

1.  Gdsu  cdn  muzdbzabina 

(?  hier ) 

J}uhiehu  täß  dina 
(?  oder  hier  .  .  .  .) 

4.  Mü  amtru-l  tmiminina 

5.  Mün  ha  sämu  mün  yi  särJci. 

Osmän  war  Missionar ;  seine  Missionsreisen,  auf  denen  er  später 
meist  von  seinem  jüngeren  Bruder  Abdullähi  begleitet  war,  er- 
streckten sich  nicht  bloß  auf  das  Haussaland;  er  ist  bis  jenseits 
des  Niger  ins  Gurmaland  gezogen,  hat  überall  gepredigt,  Schulen 
errichtet  und  gedichtet. 

Osmäns  wichtigstes  Lied  ist  wohl  das  sogenannte  Abdulkädir- 
Lied.  Ich  kann  nicht  sagen,  ob  er  es  zuerst  in  haussanischer  oder 
fulischer  Sprache  gedichtet  hat.  Abdullähi  hat  es  später  ins 
Arabische  umgedichtet.  Das  Abdulkädir  -  Lied,  dessen  Urtext  mir 
unbekannt  und  das  ich  nur  in  der  arabischen  Übersetzung  kenne, 
ist  sozusagen  die  haussanische  Marseillaise,  das  haussanische  Re- 
volutionslied. Gedichtet  ist  es,  irre  ich  nicht,  gegen  Mitte  des 
Jahres  1803,  vor  dem  Aufstande". 

1)  Ich  gebe  es  in  der  ron  mir  angewendeten  Schreibung  wieder. 


172  Rudolf  Prietze, 

voik7Heder"von  Über  die  Form  der  Eingangs  berührten  1904  herausgegebenen 
1904.  Volkslieder,  die  ich  mir  in  Tunis  hatte  diktieren  lassen,  vermochte 
ich  von  den  weder  der  Schrift  noch  der  Verstechnik  kundigen  Ge- 
währsmännern keinerlei  Andeutung  zu  gewinnen.  Ich  war  im  Auf- 
spüren der  Griiederung  auf  eigenes  Ermessen  angewiesen  und  glaube 
nach  eingehender  Prüfung  noch  heute,  im  ganzen  das  richtige  ge- 
troffen zu  haben.  Eine  dreifache  Abweichung  von  der  vorhin  er- 
läuterten Kunst  jener  Specimens  scheint  mir  unverkennbar:  Statt 
der  Silbenzählung  waltet  der  Rhythmus  in  Hebungen  und  Sen- 
kungen, die  Kurzverse  werden  mit  Vorliebe  durch  den  Reim  ver- 
bunden, und  ein  Streben  nach  wirklichem  Strophenbau  tritt  zu 
Tage. 

Auch  hier  paren  sich  die  Halbverse  gewöhnlich  (77  %)  zu 
Langzeilen.  Daneben  treten  in  20  7o  der  Fälle  je  drei  zu  einer 
Einheit  zusammen,  die  mehrfach  einer  oder  zwei  andern  strophisch 
entspricht,  während  ich  nur  18  einzelne  finde,  von  denen  acht  im 
Eingang  von  Liedern,  fünf  am  Schlüsse  stehn.  Die  Zeilen  sind 
erheblich  kürzer  als  in  jenen  geistlichen  Gresängen;  die  meisten 
Kurzverse  zählen  nur  fünf  bis  acht  Silben  (71  % ;  sehr  wenige 
über  zehn)  bezw.  zwei  bis  vier  Hebungen,  und  zwar  machen  vier 
Hebungen  40  %,  drei  38  %  und  zwei  16  %  des  Bestandes  aus. 
Etwa  die  Hälfte  der  zu  Langzeilen  geparten  Verse  ist  durch  ein- 
silbigen Endreim  verbunden;  auch  von  den  zu  dritt  vereinigten 
reimt  fast  die  Hälfte  durch  alle  drei  Glieder,  26%  wenigstens 
durch  zwei.  Der  Reim  ist  ein  wesentliches  Hilfsmittel  strophischer 
Gliederung. 

Nicht  wenige  der  Lieder  schließen  zwei  oder  mehr  Langzeilen 
zu  Strophen  zusammen.  Besonders  deutlich  fällt  dies  Bestreben 
bei  dreigliedrigen  Einheiten  ins  Auge.  Die  Lieder  2  und  30 
ordnen  sich  nach  dem  Schema  aabaab,  in  dem  a  durch  zwei  oder 
mehr  Strophen  auf  a  reimt,  b  auf  b ;  nur  gegen  Schluß  tritt  etwas 
Abweichung  ein.  In  beiden  Liedern  haben  zudem  die  einzelnen 
Kurzverse  überwiegend  die  gleiche  Zahl  von  Hebungen,  nämlich 
in  2  vier,  in  30  drei.  In  dreigliedrige  Strophen  zerlegen  sich 
auch  L.  44  und  L.  17,  nur  beginnen  sie  mit  eingliedrigem  Auftakt, 
und  17  hat  auch  eingliedrigen  Schluß.  Strophenartig  wirken  auch 
an  durchgereimten  dreigliedrigen  Einheiten  drei  in  L.  1  und  27; 
L.  21  beginnt,  L.  88  schließt  mit  einer  solchen.  Desgleichen  ord- 
nen sich  in  einer  Anzahl  von  Liedern  zweigliedrige  Langzeilen 
zu  Strophen: 

In  L.  14  nach  eingliedrigem  Auftakt,   indem  der  Halbvers  b  stets 
derselbe  bleibt. 


Haassa  -  Sänger.  173 

In  L.    9,  indem  a  stets  mit  dem  gleichen  Worte  schließt  und  die 

bb  reimen. 
„     „     6,  indem  alle  fünf  Halbzeilen  reimen. 

,     „  32,       „  j,     vier  „  „     ,  nur  die  zweite  nicht. 

In   den   vierzeiligen   LL.  18  und  28   ordnen   sich   die    ersten 
beiden  Zeilen   durch  Reime   in  a :  a.  b :  b,   die   letzten  beiden  von 
L.  18   in  b  :  b,   von  L.  28   in  a :  a,   während   hier   bb   gleich   sind. 
In  L.  33  und  35  reimen  b :  b. ' 
L.  29  gliedert  sich  in  xmregelmäßige  Strophen. 

Teilweise   strophisch   bei   zweigliedriger  Langzeile   sind  noch: 
L.  19,  wo  zwischen  der  ersten  und  der  letzten  in  drei  Zeilen  a :  a, 

b :  b  reimen. 
„    20  und  34.  wo  in  zwei  Zeilen  a :  a.  b :  b  reimen. 
„    36,  wo  nach  einem  Auftakt  in  zwei  Zeilen  b :  b  reimen  und  in 
einem  Zeilenpar.  später  in  drei  Zeilen  b  annähernd  gleich  ist. 
„      1,  wo  mehrere  Zeilen  durch  gleiches  b  oder  dessen  gleichen 

Ausgang  verknüpft  sind. 
.,    16,  wo  in  mehreren  Fällen  b  :  b  reimen. 
„    24  und  42,  wo  in  zwei  Zeilen  b :  b  reimen. 

Der  Umstand,  daß  mir  die  Lieder  des  Papageis  (1)  und  des  f^^^^^jj^^^- 
Heimchens  (II)  von  vornherein  schriftlich  vorlagen,  kam,  wie  be- 
reits bemerkt  wurde,  meinem  Einblick  in  ihren  Versbau  in  keiner 
Weise  zu  Hilfe.  Auch  hier  habe  ich  für  die  Abgrenzung  der  ein- 
zelnen Teile  eines  kundigen  Beistandes  entraten  müssen;  doch  er- 
gaben sich  Schwierigkeiten  nur  in  mäßigem  Umfang.  Daß  ein  be- 
stimmtes Maß  der  Elementarglieder  erstrebt  wird,  beweisen  die 
poetischen  Verkürzungen  wie  1 109  II  145  ma  für  ma-la,  II 107  de 
statt  des  dm  in  106  und  die  so  häufige  Auslassung  des  Personal- 
suffixes vor  Hilfsverben.  Ersichtlich  fügen  sich  dann  Kurzverse 
vermöge  ihrer  syntaktischen  bald  über-  bald  beiordnenden  Ver- 
knüpfung in  überwiegender  Mehrzahl  zuzweit  zu  einer  Langzeiie 
zusammen:  der  einzelne  134  beruht  wohl  auf  einem  Vers ehn.  Ein 
Übergreifen  des  Satzgefüges  aus  einer  Langzeile  in  die  andere 
(Enjambement)  beschränkt  sich  auf  ganz  vereinzelte  Fälle  wie 
II 124  und  wohl  auch  135.  Dreigliedrige  Langzeilen  weist  II  nur 
in  132  und  162  auf,  während  sie  in  I  18  mal  vorkommen.  Sonst 
weichen  die  beiden  Dichter  lediglich  im  Stil,  nicht  in  der  Versform 
von  einander  ab.  Sie  stehn  hierin  zwischen  dem  geistlichen  Ge- 
sänge bei  Robinson  und  den  Volksliedern,  insofern  im  Vergleich 
mit  dieser  erstens  ihre  Zeilen  durchschnittlich  etwas  länger,  meist 
sieben  bis  neun  Silben,  und  besonders  die  kurzen  von  fünf  bis  sechs 


174  Rudolf  Prietze, 

Silben  hier  so  selten  (9  %)  wie  dort  häufig  sind  (38  %),  zweitens 
Reim-  und  Strophenbildung  nicht  derart  im  Vordergrunde  stehn; 
nur  die  den  Schluß  von  II  bildenden  Sprüche  N^geles  schließen 
sich  formal  völlig  den  Volksliedern  an.  Prinzipiell  indeß  stehn 
auch  Papagei  und  Heimchen  ganz  auf  dem  Boden  der  letzteren. 
Auch  bei  ihnen  wird,  wie  sich  aus  dem  Vortrag  meiner  Grewährs- 
männer  und  andern  Erwägungen  ergibt,  nicht  nach  Silbenzahl, 
sondern  nach  Hebungen  gemessen,  denen  ein-  bis  zweisilbige  Sen- 
kungen zur  Seite  stehn,  und  zwar  hat  ihr  Kurzvers  gewöhnlich 
vier  Hebungen,  seltener  drei.  Der  Reim,  der  sich  wie  in  den 
Volksliedern  auf  die  Schlußsilbe  beschränkt,  waltet  nicht  im  dor- 
tigen Umfang  vor,  scheint  aber  als  Schmuck  und  zur  Verknüpfung 
von  strophischen  Gebilden  willkommen  zu  sein.  Freilich  läßt  sich 
im  Einzelfall  kaum  je  mit  Sicherheit  entscheiden,  ob  er  beabsichtigt 
oder  zufällig  ist.  Am  häufigsten  reimen  a  und  b,  deren  enge  Zu- 
sammengehörigkeit stilistisch  noch  augenfälliger  hervortritt.  "Wo 
m.  E.  Langzeilen  auf  diesem  Wege  zu  Strophen  vereinigt  werden, 
geschieht  es  auch  hier  manchmal  nach  dem  Schema  a  :  a,  b  :  b.  So 
in  1108-109,  1178—79,  146—147,  149—150,  187—188.  In  IL8S— 
85  liegt  vielleicht  eine  dreizeilige  Strophe  vor.  Öfter  finde  ich 
nur  b  :  b  gereimt.  So  für  acht  Langzeilen  in  II 120 — 1 28,  für  sechs 
in  1150-155,  für  drei  in  116—18,71—73,  1127—29,102—104, 
für  zwei  in  I  23—24,  65—66,  167—168,  II 23—24,  46—47,  59-60, 
75—76,  98—99,  193—194.  Die  bloße  Bindung  b  :  b  habe  ich  in  der 
Übersetzung  nachzubilden  unterlassen. 

Während  der  Strophenbildung  in  den  Volksliedern  vorwiegend 
der  Reim  diente,  verwenden  Papagei  und  Heimchen,  namentlich 
ersterer,  lieber  ein  rhetorisches,  dort  an  zweiter  Stelle  gepflegtes 
Bindemittel,  die  Wiederholung  ganzer  Verse  oder  Versteile,  und 
zwar  liebt  der  Papagei  diesen  Parallelismus  der  Langzeilen  in 
beiden  Halbversen  auszuprägen,  das  Heimchen  entweder  in  a  oder 
in  b.  Langzeilen,  die  nur  in  wenigen  Worten  von  einander  ab- 
weichen, sind:  19—13,  46—49,  87—88,  110—111,  125—129,  148— 
149,  II 168—169.  In  folgenden  besteht  eine  Gleichheit  der  Schluß- 
oder Eingangs  Wendungen  sowohl  in  aa  als  in  bb:  138 — 41,  62—63, 
54-56,  60—62,  135-139,  II 16—17. 

Durch  gleiche  bb  schließen  sich  zusammen  II 1—2,  3—4,  14— 
16  —  durch  gleiche  aa  1177—178,  1161—62,  72—73  —  durch 
Gleichheit  oder  große  Ähnlichkeit  des  ersten  b  mit  dem  zweiten 
a  1174-175,  175-176,  1186—86,  109—110  —  durch  gleiche  Wen- 
dung am  Eingang  von  aa  135—36,  69—70,  77—79,  84—85,  113— 
114,  145-147,   1137—38,  41—42,  140-141,  172—173  —  durch 


Haussa  -  Sänger.  175 

gleiche  "Wendung  am  Schluß  von  aa  1 5 — 6,  II  48 — 50  —  am  An- 
fang von  bb  n  174—176  —  am  Schloß  von  bb  II 20—22,  158—160, 
163—166,  168-169.  Gleicher  Beginn  des  1.  und  3.,  2.  und  4.  a 
verbindet  n  94—97. 

Von  den  dreiteiligen  Langzeilen  in  I  verknüpft  sich  63  mit  64 
durch  den  Reim,  ebenso  182  mit  der  zweiteiligen  133,  ähnlich  116 
mit  der  zweiteiligen  115.  Wie  kleine  Strophen  wirken  auch  die 
durchgereimte  143  und  die  mit  gleichen  Schlußwendungen  ver- 
sehene 16. 

Natürlich  erheben  die .  vorstehenden  Ergebnisse,  dürftig  und 
z.  T.  noch  unsicher  wie  sie  sind,  keineswegs  den  Anspruch,  ein 
klares  oder  gar  abschließendes  Bild  der  Haussaverskunst  zu  bieten. 
Genauere  Aufschlüsse  würden  aus  dem  Verkehr  mit  zünftigen 
Sängern  und  ausführlichen  phonographischen  Aufnahmen  ihrer 
Vorträge  zu  gewinnen  sein.  Vielleicht  gelingt  es,  in  Ermangelung 
des  besseren,  einer  Untersuchung  meines  noch  größtenteils  unaus- 
gearbeiteten,  die  nachstehenden  an  Umfang  um  vieles  übertreffen- 
den Vorrats  an  Liedern,  etwas  mehr  Licht  zu  schaffen. 

Die  Mundart  des  Papageis  und  Heimchens  ist  die  von  Kano,  Mundart, 
in  welcher  auch  mein  Gewährsmann  A  aufgewachsen  war.  Da 
seine  Niederschrift  mir  orthographisch  nicht  genügte,  ließ  ich  M 
nach  meinem  Diktat  eine  zweite  anfertigen.  Sein  östlicher  Dialekt 
(Zindir)  hat  im  Text  nur  für  einige  seiner  Konjekturen  und  eine 
zu  II 190  erzählte  Fabel,  außerdem  noch  in  dem  unten  folgenden 
Verzeichnis  der  Musikinstrumente  Aufnahme  gefunden.  Er  unter- 
scheidet sich  von  dem  obigen  am  augenfälligsten  durch  1  statt  r 
des  weiblichen  Artikels  und  durch  das  Präfix  mi  statt  mai. 

Meine  Schreibung  ist  wie  bisher  die  von  Lepsius,  jedoch    Schreibune. 
mit  folgenden  darch   die  Eigenart   des   Haussa  bedingten  Abwei- 
chungen : 

Meine  b,  (J,  z,  k  bezeichnen  nicht  zerebrale,  sondern  solche 
Laute,  die  durch  festen  Absatz  bezw.  anschließende  Artikulations- 
pause zu  den  sogenannten  emphatischen  des  hamito  -  semitischen 
Sprachkreises  in  Parallele  treten.  Ich  habe,  nachdem  (J,  z  und  k 
mir  in  ihrer  Besonderheit  aufgefallen  waren  (auf  b  wurde  ich  erst 
später  aufmerksam  gemacht),  in  der  Einleitung  zu  Tiermärchen  der 
Haussa  1907  das  Ergebnis  meiner  damaligen  Beobachtungen  dar- 
gelegt, glaube  aber,  daß  es  noch  exakter  Untersuchung  in  den 
verschiedenen  Dialekten  bedarf,  um  ihren  Charakter  endgültig  zu 
bestimmen ;  es  wird  u.  a.  festzustellen  sein,  ob  b  und  d  überwiegend 


176  Kudolf  Prietze, 

stimmhaft  oder,  wie  von  meinen  bisherigen  Gewährsmännern,  stimm- 
los gesprochen  wird. 

Mein  r  ist  ein  mittleres  Alveolarer,  das  zugleich  etwas  bila- 
teral artikuliert  wird  und  sich  somit  dem  1  nähert;  am  Silben- 
schluß wird  es  zu  dem  an  den  unteren  Alveolen  hervorgebrachten 
r,  das  im  Auslaut  sehr  häufig  ist  z.  B.  im  weiblichen  Artikel,  sich 
aber,  obschon  seltener,  im  Silbenanlaut  gleichfalls  fi.ndet,  und  zwar 
in  arabischem  Lehngut  durchgängig,  doch  auch  in  echten  Haussa- 
wörtem  wie  räkadi,  bära,  kireki.  Man  wird  also  zweierlei  r  als 
bodenständig  annehmen  müssen.  Beide  werden  nach  meiner  Wahr- 
nehmung nicht  sowohl  rollend,  als  mit  einmaligem  Ausschlag  des 
Zungenblatts  hervorgebracht. 

Endlich  ist  neben  der  konsonantischen  Verwendung  von  i  und 
u,  die  durch  y  und  w  bezeichnet  wird,  eine  solche  von  e  und  o  so 
deutlich  unterscheidbar,  daß  es  mir  richtig  scheint,  sie  durch  e 
und  o  wiederzugeben. 

Es  werden  mithin  folgende  Buchstaben  verwendet: 
Vokale  a,  e,  e,  e,  i,  o,  o,  u  bis  auf  den  Murmelvokal  e  sowohl 
kurz  als  lang;  doch  scheint  die  Länge  des  offenen  e  und  g 
nur  im  Kanodialekt  hier  und  da  vorzukommen.  —  Der  Schluß 
ist  anceps,  nie  als  schlechthin  kurz  anzusehn.  Ein-  und  Ab- 
sätze sind  leise,  daher  zahlreiche  Zusammenziehungen. 
Diphthonge  ai,  ei,  au,  oi. 

Konsonanten  w,  y,  §,  q,  r,  r,  1,  m,  n,  n,  z  (stimmhaftes  s),  i  (fran- 
zösisches j),  z  (stimmlos  mit  festem  Absatz,  bisher  meist  ts 
geschrieben,  so  noch  jetzt  von  Mischlich  und  Robinson),  s 
(stimmlos),  s  (seh),  h,  f  (bilabial,  daher  leicht  in  h  übergehend), 
b,  b,  d,  i,  g,  g  (palatal,  fast  wie  gy),  t,  k,  ^,  k'  (palatal, 
Äffrikata),  j  =  d^.  ö  =  tg. 

Ich  schreibe  die  Wörter  jedesmal,  wie  ich  sie  höre,  also  nicht 
immer  gleich.  So  treten  häufig  j  und  1  für  einander  ein,  wie  in 
italienischen  Dialekten. 

Akzente  habe  ich  hier  nur  gesetzt,  wo  ich  den  Iktus  deutlich 
wahrnahm.  Sie  gelten  also  dem  Verse,  nicht  dem  Wort  oder  Satz, 
und  sind  bei  der  verstechnischen  Unkunde  meiner  Gewährsmänner 
nicht  als  unfehlbar  anzusehn. 

°*' vereion"**'^  Eine  Zwischenlinienübersetzung  kann  nicht  immer  ganz  wört- 

lich sein,  wenn  sie  verständlich  bleiben  soll.  Auf  Kosten  der 
Folgerichtigkeit  sind  Zugeständnisse  nach  beiden  Seiten  unver- 
meidlich, So  habe  ich  den  suffigierten  Artikel  n,  Fem.  Sg.  r,  der 
sich  zumeist  nur  vor  dem  Genetiv  oder  bei  adjektivischem  Attribut 


Haussa  -  Sänger.  177 

vor  dem  nachfolgenden  Hauptwort  erhalten  hat,  einerseits  stets 
an  seinem  Platz  übersetzt,  andererseits  aber  in  dem  Geschlecht 
wiedergegeben,  das  ihm  im  betr.  Fall  im  Deutschen  zukommt. 
Bei  den  mechanisierten  "Wörtern  wie  dem  Hilfszeitwort  za  „gehn'' 
für  das  Futur  und  Präpositionen  z.  B.  c'iki  in,  eigentlich  Bauch, 
hi-^n  auf,  eigentlich  der  Kopf,  gab  ich  die  ursprüngliche  Bedeutung. 
Für  die  Negation  ba,  die  in  ihrer  Doppelsetzung  vor  und  hinter 
dem  zu  verneinenden  Ausdruck  zur  reinen  Partikel  geworden  ist, 
sonst  aber  ihren  von  Haus  aus  verbalen  Charakter  durch  Personal- 
suffixe offenbart,  ließ  sich  dieser  nicht  kennzeichnen.  Besondere 
Schwierigkeiten  erwuchsen  noch  aus  dem  vom  Deutschen  abwei- 
chenden Wesen  der  Zeitformen.  Das  Haussa  unterscheidet  im 
Grunde  nicht  Gegenwart  und  Vergangenheit,  sondern  wie  die 
alten  semitischen  Sprachen  vollendete  und  unvollendete  Handlung ; 
nur  ein  eigentümliches  Tempus  mit  zweigipfliger  Betonung  der 
Präformative,  das  jedoch  meist  durch  Umschreibung  mit  dem  eben 
genannten  za  vertreten  wird,  scheint  ausschließlich  der  Zukunft 
zu  gelten.  Der  Aorist,  das  einfachste  Tempus,  das  dem  Verbal- 
stamm die  Personalelemente  Sg.  1.  na,  2.  Aa,  fem.  hi,  3.  ya,  ye, 
fem.  fa,  PI.  1.  mn  2.  ku  3.  su  vorsetzt,  entspricht  bald  unserm 
Präsens,  bald  unserer  erzählenden  Form.  Und  das  Tempus  der 
Vollendung  mit  den  Präformationen  Sg.  1.  na  2.  Ä'ä,  fem.  hn, 
3.  yä,  fem.  tä,  PL  1.  mw»  2.  hin  3.  sun  (für  welchen  PI.  auch 
1.  mu-la  od.  mun-ka  2.  ku-ta  od.  kun-ka  3.  su-ka  od.  sun-ka  ein- 
treten) ist  nicht  selten  präsentisch  wiederzugeben,  insbesondere 
wie  im  Arabischen  beim  Bedingungs-  und  Folgesatz. 

Abkürzungen. 

H:  Haussa. 

A:  mein  Gewährsmann  Ahmed. 

M:      „  „  Müsa. 

B :  Verzeichnis  von  Haussawörtem  in  den  zentralafrikanischen  Vo- 
kabularien von  Dr.  Heinrich  Barth  1866. 

R:  Dietionary  of  the  Hausa  Language  by  Robinson  1899. 

Mi.:  Wörterbuch  der  Haussasprache  von  A.  Mischlich  1906. 

St:  Staudinger,  Im  Herzen  der  Haussaländer  1889. 

HL:  Die  1914  von  mir  herausgegebenen  Haussalieder,  Leipzig,  O. 
Harrassowitz. 

Tierm.:  Tiermärchen  der  Haussa,  in  d.  Ztschr.  f.  Ethnologie  1907. 

Pfl.  u.  T. :  Pflanze  und  Tier  im  Volksmunde   des  mittleren  Sudan, 
in  derselben  Ztschr.  1911  von  mir  veröffentlicht. 
Die   mehrfach   angeführten   24  Bornulieder    und   377  Bornu- 


178  Rudolf  Prietze, 

Sprichwörter   habe   ich   1914   und   1915  in    den   Mitteilungen   des 
Seminars  für  orientalische  Sprachen  zu  Berlin  herausgegeben. 

Anhang. 

Die  bei  den  Haussa  üblichen  Musikinstrumente 
nach  Angaben  von  M. 

Die  Spielleute  nennen  sich  mä-Jcada  (Sg.  md-Jcadi  von  kada 
schlagen.  Md-kada  als  Sg.  heißt  Trommelplatz,  kidi  Trommel- 
schlag), wenn  sie  Trommeln  oder  Saiteninstrumente  handhaben. 
Die  Bläser  heißen  tnä-busa  (Sg.  md-busi  v.  hüsa  blasen). 

A.    Trommeln. 
Sie   gehören   nicht   zur   eigentlichen   Begleitung   des  Sängers, 
sondern  zum  Tanz.    Ihr  Zylinder   besteht  wie  der  Schlägel   {md- 
kedi)   aus  Holz ;   über   den   offenen  Kreis  ist  bei  den  einen  Rinds-, 
bei  den  andern  Ziegenleder  gespannt. 

1)  Gangd,  große  Lärmtrommel.  Ihr  Zylinder  mag  eine  Elle 
hoch  sein,  ihr  Kreis  1  m  im  Durchmesser  betragen.  Ihr  Spieler, 
der  mai-gangd,  trägt  sie  über  die  Schulter  gehängt  auf  der  linken 
Seite  und  bearbeitet  die  Ziegenhaut  der  Schlagseite  mit  einem 
starken  Schlägel. 

2)  Dmidüfa,  bei  Mi.  u.  E,  als  große  Trommel  verzeichnet,  ist 
eine  Trommel  von  mehr  als  meterlangem  Zylinder.  Sie  findet  sich 
jedesmal,  nach  der  Breite  und  somit  der  Tonhöhe  abgestuft,  in 
drei  Exemplaren.  Die  tiefste,  mit  einem  Querdurchmesser  von  etwa 
Vam,  heißt  uwe-l  dundüfa  „Mutter  der  D.".  Die  höchste,  kydure  . 
„hochstimmig"  oder  da-n  dundüfa  „Kind  der  D."  genannt,  ist  er- 
heblich schmaler.  Zwischen  ihnen  in  Breite  und  Ton  steht  die 
kanive-l  uwq-1  dundüfa  „jüngere  Schwester  der  Mutter  der  D.'', 
auch  kurz  kanw§-l  dundüfa.  Sie  werden  von  je  einem  Manne 
wagerecht  auf  dem  Kopfe  getragen.  Um  sie  zu  spielen,  stellt 
man  sie  senkrecht  neben  einander  auf,  indem  man  ihr  unteres  Ende 
etwas  in  den  Boden  treibt,  und  ein  morka/U  schlägt  alle  drei  ab- 
wechselnd mit  kleinen  Klöpfeln.     Ihr  Trommelfell  ist  Rindsleder. 

3)  Kaeagi,  bei  Mi.  u.  R  nicht  angegeben,  ist  kleiner  als  die 
vorige.  Auch  hier  übertrifft  der  Längs-  den  Querdurchmesser 
bedeutend.  Der  Zylinder  verjüngt  sich  nach  der  Mitte  zu.  Über 
beide  Seiten  ist  Ziegenhaut  gespannt.  Der  Spieler  trägt  das  In- 
strument an  einem  um  den  Nacken  gelegten  Riemen,  so  daß  es 
ihm  über  den  Bauch  hinabhängt,  und  bearbeitet  die  Oberseite  mit 
zwei  Schlägeln.   Ein  Orchester  erfordert  stets  zwei  Äa^a^/'- Spieler. 


Haussa  -  Sänger.  179 

4)  Kiirl'utu  (bei  Mi.  kleine  Trommel  mit  nur  einem  Trommel- 
fell), etwas  größer  als  kazcuji,  hat  einen  kegelförmigen  R^sonanz- 
raum  mit  konvexen  Wänden.  Die  offene  Seite,  etwa  eine  Elle  im 
Durchmesser,  ist  mit  Rindshaut  überzogen,  die  der  Spieler,  das 
Instrument  hockend  zwischen  den  Oberschenkeln  haltend,  mit  zwei 
Klöpfeln  schlägt. 

5)  Zauäati  (bei  Mi.  jauje,  doch  ist  dies  nach  M  der  Bomuname). 
Hier  fehlt  mir  die  nähere  Beschreibung.  Nach  Mi.  ist  es  eine  kleine 
Kriegstrommel,  nur  an  einem  Ende  mit  einem  Fell  tiberspannt  und 
beim  Trommeln  unter  dem  linken  Arm  getragen. 

6)  Kalango  (Mi.  kdlangu,  R  kalango),  kleiner  als  die  vorige, 
mit  Ziegenhaut  überspannt,  wird  unter  dem  Arm  getragen  und 
mit  einem  Schlägel  bearbeitet.  Nach  Mi.  kleine  in  der  Mitte  des 
Bauches  verjüngte  Trommel  mit  FeU  auf  beiden  Seiten,  beim 
Schlagen  unter  den  linken  Arm  genommen.  Nach  R  Trommel  aus 
Holz  oder  aus  einer  Kalebasse,  unter  dem  Arm  getragen,  in  ihrem 
Ton  durch  Spannung  der  Schnüre  beeinflußt. 

7)  Közo  (=  Mi.),  wieder  kleiner,  mit  nach  unten  verjüngtem 
Zylinder,  auf  der  schmalen  Seite  ohne  Überzug,  auf  der  andern 
mit  Ziegenhant  bespannt,  mit  den  Händen  geschlagen.  Dieselbe 
Trommel  im  Gebrauch  des  Landmanns  heißt  gänyi  (=  Mi ). 

Die  in  Ägypten  und  Nubien  übliche  mit  Handballen  und  Fin- 
gern geklopfte   tönerne  Darbüka  ist  den  Haussa  fremd  geblieben. 

Zwischen  Trommel  und  Saiteninstrumenten  nenne  ich  die  kugd 
oder  kuge  (Mi.).  Sie  ist  eine  Art  Zymbel,  ein  auf  beiden  Seiten 
zugespitzter  Metallstreifen,  unfern  der  Mitte  so  umgebogen,  daß 
er  einen  spitzen  Winkel  bildet,  in  dessen  Scheitel  sich  eine  Schleife 
befindet;  seine  ungleichen,  mithin  verschieden  tönenden  Schenkel 
werden  mit  Holz-  oder  Metallstäbchen  geschlagen. 

B.    Saiteninstrumente. 
Die  Saite,   zifkia  (vgl.  Mi.  tsirkiya  Bogensehne),    besteht   aus 
Ziegenhaut,   der  Schaft   aus   Holz,   daher  sandd  Stock   oder   itace^ 
itce  Baum  genannt. 

1)  Die  nach  Art  einer  Mandoline  mit  den  Fingernägeln  ge- 
spielten Instrumente: 

a)  Gurmi,  guremi  (Mi.  gitrmi  Art  Zither,  R  gurumi  Art  Gui- 
tarre)  hat  zwei  Saiten.  Ihr  Resonanzboden  besteht  aus  einem 
Kürbis  und  heißt  köjfo.  Der  Sänger  Kanankäda  erhielt  davon  den 
Beinamen  ma-kadi-n  köko. 

b)  Garaya  (Mi.  garäya,   R  garaiya  Harfe),   nach  R  besonders 


180  Rudolf  Prietze, 

von  Jägern  gespielt,   ebenfalls   zweisaitig,   etwas  größer;   ihr  Re- 
sonanzkürbis heißt  kömo. 

c)  Maulö  (Mi.  maiilo,  mölo  Guitarre,  R  mölo  Musik),  ähnlich 
den  vorigen,  aber  drei-  oder  viersaitig, 

2)  Nach  Art  der  Guitarre  gespielt,  d.  h.  mit  den  Fingern  ge- 
zupft wird  gaobsäu,  auch  gomsäu  und  gobsö  gesprochen  (vgl.  Mi. 
gohso  Stoß,  Puff,  R  gobso  Junggesell),  mit  zehn  Saiten. 

Diese  Saiteninstrumente  dienen  in  erster  Linie  nicht  dem  Tanz, 
sondern  füllen  die  Pausen  des  Gesanges  aus,  einzeln  oder  in  Mehr- 
zahl, wobei  sich  die  so  eben  aufgezählten  sämmtlich  gemeinsam 
beteiligen  können.  Der  Saitenmusik  wird  die  stärkste  seelische 
Wirkung  beigemessen  (vgl.  120).  Eine  besondere  Aufgabe  hat 
nach  dieser  Richtung 

3)  Göge,  eine  Art  Geige  mit  10  bis  20  Saiten.  Sie  wird  der 
in  der  Einleitung  zu  meinen  Bornuliedern  S.  9  beschriebenen  ku- 
Jxüma  der  Kanuri  sehr  nahe  stehn.  "Wie  bei  dieser  scheint  als 
Saite,  die  demgemäß  i^gä  heißt,  Pferdeschwanzhaar  zu  dienen; 
jedenfalls  ist  dies  der  Stoff  des  Fidelbogens,  der  da-n  göge  (Sohn 
der  Geige),  auch  maJcadi-n  (Schläger)  göge  oder  tnakadi-n  böri  ge- 
nannt wird,  letzteres  zufolge  der  Hauptbestimmung  des  Instru- 
ments, den  ekstatischen  Böri-Tanz  der  Haussaweiber  zu  begleiten, 
bezw.  die  Genien  dazu  herbeizurufen.  Näheres  darüber  s.  in  meinen 
Bomusprichwörtem  zu  293.  Daneben  wird  es,  wie  bei  den  Bornu- 
leuten  die  JmJcüma,  in  den  Liebes-  und  Klageliedern  (hege)  zum 
Zwischenspiel  verwendet.  Zuweilen  wird  unter  göge  nur  der  Fidel- 
bogen verstanden,  und  dieser  scheint  außer  dem  Spiel  der  Finger 
auch  für  die  oben  genannten  maulö  und  gomsäu  im  Gebrauch  zu  sein. 

C.   Blasinstrumente. 
Sie  vereinigen  sich  mit  den  Trommeln  zur  eigentlichen  Tanz- 
musik,  an  der  die  Saiteninstrumente  nur  gelegentlich   teilnehmen. 

1)  Die  algdita  (Mi.  Trompete,  R  Flöte  wie  ein  Dudelsack  ge- 
blasen), Flöte  aus  Holz  mit  fünf  bis  zehn  Löchern. 

2)  Die  sarewa  (A  Mi.  R  Flöte),  Querpfeife  aus  Rohr  mit  fünf 
oder  mehr  Löchern. 

3)  KakaJci,  ein  langes,  gerades,  blankes  Blechinstrument  (Mi. 
Posaune,  R  Trompete),  das  aber  nicht  der  Lustbarkeit,  sondern 
den  Signalen  des  Fürsten  dient. 

Die  Spieler  dieser  drei  Instrumente  gehören  zu  den  ständigen 
Hof  Chargen;  ihr  Führer,  der  Flötenbläser,  ist  zugleich  der  Hof- 
poet. 

4)  Es  gibt  auch  einen  Dudelsack,   safSwa  salka  (Schlauch)  ge- 


Haussa  -  Sänger.  181 

nannt,   das   einzige  Instrument  von   den  bei  den  Haussa  üblichen, 
das  in  Bornu  keine  Verbreitung  fand. 

Instrumente,  die  lediglich  für  Kinderspiel  in  Betracht  kommen, 
sind  Jcarkdra,  Schalmei  aus  der  Halmhülse  der  Hirse  oder  aus  Baum- 
rinde, durch  eine  längliche  Seitenöffnung  geblasen  (vgl.  1 101),  und 
santü  (Mi.  säntü  kürbisähnliche  Pflanze,  aus  deren  Frucht  Kinder 
sich  eine  Rassel  machen,  R  santo  langer  als  Trommel  gebrauchter 
Flaschenkürbis).  Es  ist  eine  meterlange  Kidebasse,  die  von  Kindern 
und  Frauen  ausgehöhlt  und  teils  geblasen,  teils  mit  der  Hand  ge- 
trommelt wird. 


182  Kudolf  Prietze, 


I. 

Wönnan  wäka-r  zunzü  ne, 
Dies     Lied  das  Vogels  ist 
süna-n-sa     akü. 
Name  sein  Papagei. 

A. 

Karmämi  sai  sanid, 

Stroh       nur   Kuh, 
ingirici  sai  godiä, 

Heu      nur  Stute, 
Kunu-n  Jcanwa    na     ma-häifua; 

Mehlschleim  der  Natrons  der  der  Gebärerin; 

Ttaddm      ha    ta-sd    don   äinHri  ha, 
wenn  nicht  sie  trinkt  wegen  Säuglings, 

ta-sa       don       danyi-n      äiki. 
sie  trinkt  wegen  Unreife  des  Leibes. 
Ni      akii       zimzu-n      atd^rei, 
Ich  Papagei  Vogel  der  Kaufherren, 
ni      tuo-n      tulü    sai  säkdta. 
ich  Brei  der  Krugs  nur  löffelnd. 
Na        Kwdra    tuo-n        guzü-n      hwQfi. 
Der  der      „       Brei  der  Bodens  des  Köchers. 
sai       Jcihia       ce     za-ta      ci. 
nur  Pfeilspitze  ist  geht  sie  essen. 


1  a)  Mi.s  Wiedergabe  von  karmämi  als  Getreide  ohne  Frucht  ist  mißverständ- 
lich. Das  Wort  bezeichnet  (vgl.  auch  R  karamami,  karmämi)  den  Stengel  nebst 
Blättern  ohne  die  Ähre.  —  b)  Ingijici  (Mi.  R  =  Heu)  ist  gemähtes  Gras  oder 
Kraut  (vgl.  6),  und  zwar  wie  karmämi  sowohl  in  grünem  als  in  trockenem  Zustande ; 
in  trockenem  ist  es  Pferdefutter. 

2  a)  Künu  bei  Mi.  Mehlsuppe,  Meblschleim,  nach  R  auch  aus  Reis.  Vgl. 
St.  426.  Natronzutat  bezweckt  leichtere  Verdauung.  —  c)  Danye  ist  das  Frische, 
Grüne,  daher  auch  das  Unreife,  Unzulängliche. 

3  a)  AtäÜri,  PI.  (ursprüngl.  Dual)  atäSirei,  der  reisende  Kaufherr,  dann  der 
Reiche  überhaupt,  ist  dem  Arab.  entlehnt,  wobei  dessen  Artikel  wie  in  litäfi  Buch, 
labäri  Nachricht  zum  Bestandteil  des  Stammes  wurde.  —  b)  Tubi,  PI.  tüluna, 
großer  irdener  Krug  mit  enger  Öffnung ;  daher  läßt  sich  der  Inhalt  nur  in  kleinen 
Portionen  herausnehmen   (Mi.  sakdta  herausholen  mittels  eines  Instruments  ==  M 


Haassa- Sänger.  183 


I. 

Dies  ist  das  Lied  eines  Vogels, 
der  sich  Papagei  nennt 


A. 

Selbsteinschätzung    des    Sängers:     Während    anderes 

dem   Bedarf   leicht    zur  Verfügung   steht,    ist   er,    der 

Papagei,    nur    langsam    und    schwer    zu    gewinnen,    ja 

bleibt  für  manchen  wegen  seiner  bösen  Zunge 

ein  Schrecknis. 

1  Das  Stroh  ist  Futter  für  die  Kuh, 
Heufutter  kommt  der  Stute  zu. 

2  Mehlschleim  mit  Natron  der  Wöchnerin; 
wenn  nicht  dem  Säugling  zum  Gewinn, 
trinkt  sie  dem  schwachen  Leib  zu  lieb. 

3  Ich,  Vogel  der  Reichen,  ich  Papagei, 

bin  Krugbrei,  den  man  nur  löffelnd  erlangt 

4  Kwära^s  Bruder  ist  Brei  auf  des  Köchers  Grund: 
ihn  wird  nur  essen  der  Pfeilspitze  Mund. 


soakdta).    Das  Bild  will  sagen :  Meine  Gunst  ist  nur  durch  fortgesetztes  Werben, 
durch  unablässige  Freigebigkeit  zu  gewinnen. 

4  a)  Das  demonstrative  na  vor  einem  Namen  bezeichnet  nach  M  in  der  Regel 
den  Binder  des  oder  der  Genannten.  Ktcäfa,  der  Name  seiner  Schwester,  be- 
deutet den  Kern  der  kaddnya  (Bassia  Parkii),  aus  dem  Butter  bereitet  wird. 
Wahrscheinlich  wurde  die  Schwester  bei  der  Ernte  dieser  Kerne  geboren.  Neben 
der  offiziellen  mohammedanischen  Namengebung  eine  Woche  nach  der  Geburt  be- 
steht bei  den  H  die  ältere  heidnische  Sitte,  daß  dem  Kinde,  sobald  es  zur  Welt 
kommt,  von  den  Familienältesten  ein  Name  beigelegt  wird,  der  auf  die  Umstände 
seiner  Geburt  Bezug  zu  haben  pflegt,  und  zwar  scheint  dieser  süna-n  kakanü 
(Name  der  Großeltern)  der  eigentliche  Rufname  zu  seiu.  Wir  werden  ihm  auf 
Schritt  und  Tritt  begegnen.  Von  ihm  zu  unterscheiden  ist  der  Jbfdfi  (von  Idra 
nennen,  vgl.  Pfl.  u.  T.,  Einl.),  d.  h.  der  Beiname,  den  mancher  im  Lauf  seines 
Lebens  erwirbt.  Zu  gu^u  vgl.  15  u.  54.  —  b)  Mi.  R  hhia  Pfeil ;  es  bedeutet  aber 
genauer  die  Pfeilspitze.  Der  Schaft  heißt  seme,  das  bei  R  als  Rohr,  bei  Mi.  als 
Strauchart  angegeben  ist,  aus  deren  Zweigen  die  Pfeile  hergestellt  werden. 

Kgl.  Gw.  d.  Wim.    Nachriditeii.    PhU.-kut  Klane.    1916.    Hefl  2.  13 


104  Rudolf  Prietze, 

5  B,ua-n         ivnnka-n      gawa    na    Kwara 
Wasser  das  Waschen  des  Leiche  der  der  „ 

hä-ni         ma-sai      ho  kadän. 
nicht  mich  Trinkender  ob  wenig. 

6  Ni   ingirici-n     täba    na     Kwäfa: 
Ich  Kraut  das  Tabaks  der  der  „ 
doki     ha       sa-'i  ct-ni  ha. 
Pferd  nicht  geht  es  essen  mich. 


7  Äbi-n     da       na-bai  tva  iSa-tvuyd,  i 
Ding,  welches  ich  gebe  zu     „        „                                                   | 

ha      na-bai    wa  Dodä-n-gaba. 
nicht  ich  gebe  zu       „      „      „ 

8  Abi-n  da  na-bai  wa  Eämatü, 
ha  na-bai  wa  Ea-r-go^e  ha. 

9  Saa-n  da     ne-Jce     so-n  Eämatü, 
Zeit  welche  ich  tat  Lieben  das  der  „ 

figa-n        kirki  tä-i       iiyd. 

Tobe  die  der  Güte  sie  machte  Schwierigkeit. 

10  Saa-n  da  ne-ke  sg-n  liämatti, 

wqndo-n  kirki  y^-i       uyd. 

Beinkleid  das  der  Güte  es  machte  Schwierigkeit. 

11  Saa-n  da  ne-ke  SQ-n  Eämatü^ 

rauani-n         kirki       ye-i     uyd. 
Kopfbinde  die  der  Güte  machte  Schwierigkeit. 

12  Saa-n  da  ne-ke  so-n  Eämatü. 

küdi-n     gi§iri  sü-ü  uyd. 
Geld  das  Salzes  sie  erschwerten. 


5  a)  Wie  der  Artikel  n  (für  n)  zeigt,  ist  ftia  trotz  der  Endung  a  männlich 
wie  näma  Fleisch,  Tier,  gida  Haus  u.  a.  —  b)  Bä-ni  zeigt  durch  sein  Suffix  den 
ursprünglichen  Verbalcharakter  des  negativen  ba;  in  diesem  Fall  kann  ihm  ein 
Zeitwort  im  Infinitiv  folgen.  Tritt  ba  dagegen,  zur  Partikel  mechanisiert,  vor  und 
hinter  das  zu  verneinende  Zeitwort,  so  wird  dessen  Präfix  in  der  1.  u.  3.  Sg.  gern 
lautlich  reduziert,  in  der  1.  aus  na  zu  n  (vgl.  47  £F.),  in  der  3.  aus  ya  oder  yd 
la  •  (vgl.  18). 

G  a)  Ingirici  s.  1. 

7  f.  Der  Artikel  n  mit  folgendem  da  „mit"  dient  als  Relativ.  Die  Rufnamen 
in  7  und  8  haben  wie  Kwäfa  4  flF.  individuelle  Bedeutung,  nur  dürften  sie,  weil  auf 
das  spätere  Leben  bezüglich,   der  dort  genannten  Kategorie  des  kifäri  angehören. 


Hanssa  -  S&nger.  185 

5  Kwärä'e  Bruder  ist  Leichenwaschwasser : 

kein  Mensch  trinkt  auch  nur  einen  Schluck  davon. 

6  Ich,  Kwära'B  Bruder,  bin  Kraut  vom  Tabak, 
davon  kein  Pferd  etwas  fressen  mag. 

0 

B. 

Die  soziale  Stufenfolge  seiner  vier  Frauen  und  dank- 
bares Verweilen  bei  Rämatu,   der   einzigen  Gefährtin 
seiner  ehemaligen  Armut. 

7  Das,  was  ich  gebe  der  Sdicuyä, 
das  geb'  ich  nicht  der  Doddngaba. 

8  Das,  was  ich  gebe  der  Bamatu, 
das  geb'  ich  der  Eargoie  nicht. 

9  Als  ich  nur  liebte  RdtnatUy 
«schwang  ich  keinen  feinen  ßock. 

10  Als  ich  nur  liebte  RamcUu, 
erschwang  ich  keine  feine  Hose 

11  Als  ich  nur  liebte  BdmoUu, 
erschwang  ich  keinen  feinen  Turban. 

12  Als  ich  nur  liebte  Rämatu, 

da  war  das  Geld  zum  Salz  noch  knapp. 


Sa-wttya  „trink  Schwierigkeit"  besagt,  daß  seine  Trägerin  wohl  als  Waise  eine 
schwere  Jugend  hinter  sich  hat.  Der  Sänger  wird  sie  billig  erworben  haben  und 
spendet  ihr  daher  weniger  als  der  kraftbewußten  Dodd-n-gaba  („Kobold  voran", 
aus  dodo  Spukgeist  mit  einem  den  folgenden  Vokalen  assimilierten  Auslaut  und 
gaba  Brust,  vorn),  weil  sie  von  Kind  auf  stets  die  Erste  sein  wollte.  Das  hinter 
Doddfigaba  geforderte  zweite  ba  wird  des  Rhythmus  oder  der  Euphonie  halber 
fortgefallen  sein ;  vgl.  8b).  Eämatu,  arabischen  Ursprungs,  benennt  Töchter,  die  von 
verstoßenen  Gattinnen  geboren  wurden ;  ein  Sohn  hat  in  solchem  Falle  den  gleich- 
bedeutenden Namen  Zefdu  („  Wegwurf "  von  Sefa  werfen).  Ea-r-göze,  im  Osten 
E-l-göze  für  Die-l-göie,  ist  „Tochter  der  Exzellenz" ;  göze,  das  bei  B,  R  und  ML 
fehlt,  soll  wie  kaura  das  Prädikat  eines  hohen  Hofamts  sein,  nach  Mi.  und  R 
auf  Ka?ena  beschränkt,  wo  es  nach  Mi.  Feldmarschall,  General,  nach  R  Stall- 
meister bedeutet.  Eargöze  ist  durch  ihre  Abkunft  zu  größeren  Ansprüchen  be- 
rechtigt als  Rämatu,  seine  erste  Liebe. 

9  a)  So-n,  substantivischer  Infinitiv  nach  Hilfsverben  wie  Ve  und  na.  Wohl 
nur  des  Rhythmus  wegen  fehlt  in  diesen  Wendungen  das  durch  den  Sinn  gefor- 
derte sai  =  nur.  —  b)  Ti  (nach  vokalischem  Präfix  meis\  i)  tcuyd  Mühe  machen 
heißt  hier  und  im  folgenden:  nicht  zu  erschwingen  sein,  nicht  ausreichen. 

12  Su-h  uya,  poetisch  verkürzt  aus  su-n  yi  tcuya\  n  wird  im  Auslaut  de« 
H  oder  zwischen  Vokalen  gern  zu  n.  Der  PI.  ist  constructio  ad  sensum  zu  dem 
Subjekt  kudi  (=  Icurdi). 

'     13* 


186  Rudolf  Prietze 

13  Saa-n  da  ne-ke  so-n  Rämatu, 

Jcudi-n      näma    sü-n  uyd, 
Geld  das  Fleisches  sie  erschwerten. 

14  JBäbu  wqnda  ke  sö-na  a  dura, 
Nichts  welches  tat  Lieben  mein  in  Welt, 
sai-ko   gtiva    Rämatu! 

nur   Elephant       „ 

c. 

15  Da-n         Z§(ß(ji,    so    ka-äi! 
Sohn  der  des     „      komm  höre! 

Güzu-n      tepni,       so     ka-si! 
Boden  der  Mörsers,  komm  höre! 

Güzu-n  demya,  so     ka-äi! 

Boden  der  Pflaumenbaums,  komm  höre! 

16  Malern,     äika-m      mäi-bakä, 

Meister,  Enkel  der  des  Herrn  des  Bogens, 
ka-sö  ka-si  sance-n    z'irkia! 
komm  höre  Rede  die  der  Saite! 

17  Zirkia-ta    duk     küka    ta-ke, 
Saite  mein  ganz  Weinen  sie  tut, 

ha      sä-ta      gidd-m     mai-habu   bd, 
nicht  geht  sie  Haus  das  Herrn  (v.)  Nichts, 

18  mai-habu  da      säfi-n     sücia, 
Herrn  (v.)  Nichts  mit  Hitze  der  Herzens, 
ko      küturü        ha     i    -    ß    -    si  ha. 
ob  Aussätziger  nicht  er  übertrifft  ihn. 

19  MäJ§m,    äika-m    hausi, 
Meister  Enkel  der  Bogenholzes, 
ka-kdda  mi-ni  gür§mt! 
schlage    zu  mir  Saiteninstrument! 

20  Don      ubd-n-ka,      koda     sola        kar        ka-i! 
Wegen  Vaters  dein,  obwohl  Gebet  daß  nicht  du  tust 

Dädi-n  güf^mi     yCL-isd. 

Annehmlichkeit  die  des  „     ist  genügend. 


14  a)  Hier  läßt  dichterische  Lizenz  das  Pron.  ye  vor  ke  fort.  Der  substant.« 
Charakter  des  Inf.  $o  (vgl.  0)  kennzeichnet  sich  durch  das  Possessivsuffix.  DärOf 
Ton  arab.  Herkunft,  wird  für  Welt  gebraucht  im  Sinne  des  Wandelbaren,  Flüch- 
tigen, —  b)  Der  Vergleich  mit  einem  lilephanten  soll  die  Tüchtigkeit,  Zuverlässii 
keit  der  HUmatu  ehren;  hiernach  sind  die  Bemerkungen  zu  Pä.  u.  T.  129 
ergänzen. 


Haossa  -  Sänger.  187 

13  Als  ich  nur  liebte  Rämatu, 

da  war  das  Geld  zum  Fleisch  noch  knapp. 

14  Mich  liebte  Niemand  auf  der  Welt, 
als  Rdmatu  der  Elephant! 

c. 

Aufruf  an   die   Genossen   und   Preis   des   vom   giftigen 
Geizhals  nicht  gewürdigten,  wonnespendenden  Saiten- 
spiels,   über   dem   man    unvermeidliche    Übel   vergißt, 
gegen  drohende  indeß  auf  der  Hut  bleiben  soll. 

15  Z^igi'a  Sohn,  komm  her  und  lausche! 
Mörsergrund,  komm  her  und  lausche  I 
Pflaumenbaumstumpf,  komm  her  und  lausche! 

16  Meister,  deß  Ahn  mit  dem  Bogen  gejagt, 
komm,  höre,  was  die  Saite  sagt! 

17  Voll  Klage  tönt  mein  Saitenspiel, 
will  nicht  zum  Hause  des  Habenichts, 

18  des  Habenichts  mit  dem  Herzen  voll  Grimm  — 
kein  Aussätziger  ist  so  schlimm! 

19  Meister,  Bogenbaums  Enkelkind, 
schlage  die  Laute  mir  geschwind ! 

20  Bei  deinem  Vater,  selbst  Beten  laß  sein! 
Man  kann  an  der  Laut«  g^nug  sich  freun. 


15  a)  Den  Namen  Zggigi  zu  deuten  gelang  mir  nicht.  —  b)  (htfu-n  i^rmi 
„Boden  des  Mörsers"  (vgl.  125)  ist  ein  ähnlicher  Xeckname  wie  §a  düka  II 10: 
der  an  Stöße  Gewöhnte.  —  c)  M  glaubt,  der  Spitzname  des  dritten  Spießgesellen 
laute  nicht  Gü?u-n  d§mya  (im  Osten  dumyiia,  B  dummia,  R  dumia,  Mi.  dünya) 
=  Stumpf  eines  Baumes  von  süßer,  schwarzer,  pflaumen-  oder  feigenartiger  Frucht, 
was  keine  rechte  Pointe  ergäbe,  sondern  GM?u-n  dünia  =  cannus  mundi,  gleich- 
sam Gegenstand  allgemeiner  Last. 

16  Die  Bezeichnung  mälpn  beschränkt  sich  nicht  auf  Gelehrte,  sondern  gilt 
auch  von  solchen,  die  sich  auf  irgend  ein  Gewerbe  verstehen,  wie  hier  auf  Musik. 

17  A  schreibt  hier  und  in  43  du.  Da  er  dasselbe  jedoch  in  45  vor  na  zu 
duk  verbessert  und  die  gewöhnliche  Form  diika  lautet,  ist  er  sich  hier  des  Te 
wegen  des  folgenden  fc  wohl  nicht  bewußt  geworden.  Freilich  giebt  es  auch,  viel- 
leicht grade  aus  solchem  Grunde,  du  neben  duica  und  duk. 

18  Zu  ha,  das  sich  hier  mit  dem  Personalpräfix  t  (für  ya)  zum  Diphthong 
vereinigt  s.  5. 

19  a)  Battsi  Baum,  dessen  Wurzeln  den  Stoff  zum  Bogen  liefern,  daher 
Spitzname  für  Jäger  vgl.  II 11.  —  b)  Zu  gür§mi  s.  Einl.  (Musikinstrumente). 

20  Don  %tbä-n-ka  Beschwörungsruf  (ranzua).  Kar,  M  Jbo^  ist  aus  kada 
verkürst. 


188  Rudolf  Prietze, 

21  Ni     ha  mütua  ne-ke    tuna  ha, 
Ich  nicht  Tod  ich  tue  denken, 

haha-n     häiva    mäi-gizö, 
groß  der  Sklave  habend  Wollkopf, 

22  wonda     hd-si     da    tdiisai  Jco  kadän, 
welcher  nicht  er  mit  Mitleid  ob  wenig, 

ha         t^miere  ha        ke  düha  — 
nicht  Leistengeschwulst  tue  anschauen  — 

23  mai-fdsa     käi    ke  tund, 
zerbrechend  Kopf  tue  denken, 

mai-fdsa      käi    kabua ; 
zerbrechend  Kopf  Syphilis; 

24  ta-kan  fdsa  alö-n      kafada, 

Sie  pflegt  zerbrechen  Tafel  die  der  Schulter, 
ta-kan         fdsa      koko-n  guiwa. 
sie  pflegt  zerbrechen  Becher  den  Kniees. 


B. 

25  Mdl§m,  ko      kä-sd     gid, 
Meister,  ob  du  trankst  Wein, 

ha        kä-ki  fadd-m       mai-hä-ka  ha. 

nicht  du  haßtest  Gespräch  das  Gebers  dein. 

26  Mdl§m,  ko      kä-äe  Gumel, 
Meister    ob  du  gingst  (nach)  „ 

ba        kä-ki      imitan     DanSiiya  ha 
nicht  du  haßtest  Leute  (von)   „       , 

27  mutan  jDanMya  müm^nei, 
tnutan  JDanäüya  ädflei, 

a    cdn      su-ka  äuya      dükid. 

in  dort  sie  haben  gewechselt  Güter. 


21  Laut  M  heißen  die  beiden  Engel,  die  den  Toten  im  Grabe  befragen,  im 
H  Munkaran  und  Walekiri.  Letzterer  ist  der  böse,  schwarze,  dem  die  hier  ge- 
nannten Epitheta  gelten.  Gizo  ist  ein  Kopf  voll  dichten  Haares,  vgl.  Mi.  gizo 
Wollkopf,  nach  R  die  Haarfülle  der  Tuareg  und  Schlangenbändiger.  Statt  baba-n 
schreibt  A  banba-n.  M  spricht  und  schreibt  babbd  (auch  Mi.  bat  babbä  neben 
babd)  und  unterscheidet  davon:  1)  das  dem  Bornu,  wo  es  arab.  Lehnwort  für 
Vater  ist,  entnommene  bäbdh  (mit  gehauchtem  Absatz  gesprochen),  neben  dem  jedoch 
auch  babd  nicht  selten  ist  (vgl.  95  u.  a.),  der  väterliche  Oheim,  dem  bei  den  H 
eine   besondere  Autorität  zusteht  und  häufig  Neffen   und  Nichten  zur  Erziehung 


Haassa  -  Sänger.  189 


21  Da  denke  ich  nicht  mehr  an  den  Tod, 
den  großen  Sklaven  mit  dichtem  Schopf, 

22  der  nicht  das  geringste  Erbarmen  kennt, 
achte  auch  nicht  auf  ein  Leistengeschwür  — 

23  nur  was  den  Kopf  tilgt,  liegt  mir  im  Sinn, 
Lues,  die  Kopfzerstörerin ; 

24  sie  ist's,  die  das  Schulterblatt  zerbricht, 
sie  macht  die  Scheibe  des  Kniees  zunicht. 


D. 

Lob  der  guten  Stadt  DanSüya,   an  welcher  der  Sänger 
mit  seinen  Gefährten  ungern  vorbeizöge. 

25  Meister,  auch  wenn  du  getrunken  den  "Wein, 
wird  des  Spenders  Gespräch  dir  nicht  lästig  sein. 

26  Meister,  auch  wenn  du  nach  Gumel  gingst, 
wird  Daniüya's  Volk  dir  nicht  lästig  sein, 

27  Baniüyd'B  Volk  das  gläubige, 
Daniüya's  Volk  das  redliche; 

dort  tauscht  man  Güter  aus  und  ein. 


übergeben  werden.    2)  bäba  Indigo.   Der  Eonuch  (Mi.  bdbä)  dürfte  zu  1)  gehören. 
Vgl.  hierzu  noch  II 24. 

22  Turniere  ist  nicht  mit  B,  R,  Mi.  als  SyphOis  im  allgemeinen  aufzufassen, 
sondern  als  ihr  Vorläufer,  der  Schanker.  Wie  auch  in  23  ist  vor  ie  aus  21  n« 
zu  ergänzen. 

23  a)  Kai  nach  A's  Schreibung  und  der  in  Kano  üblichen  Aussprache,  die 
sich  hier  dem  Rhythmus  besser  einfügt  als  das  gewöhnliche  Jta».  —  b)  KabvM  (in 
Kairo  Icdbha)  ist  die  Syphilis  im  2.  Stadium.  M  behauptet  indeB,  dies  Leiden 
heiße  l'ägua,  ursprünglich  Krebs,  weil  es  den  Leib  vielgliedrig  überkrieche.  Er 
zitiert  als  kiräri-n  Tcdgua  d.  h.  als  geflügelte  Worte  über  die  Lues:  Mügu-n  «tco 
=  böse  Krankheit,  citco-m  himi  =  Stadtkrankheit  (so  bei  B),  gdikau  kä-fi  diki-m 
mälpn  sai  höka  =  Seuche,  du  bist  stärker  als  die  Arbeit  (d.  h.  Zauberzettel)  des 
Malern,  nur  der  Kräuterdoktor  (kann  helfen). 

24  Alö  ist  in  ähnlicher  Weise  dem  Arab.  entlehnt  wie  ataiiri  in  3. 

25  Mcü^  8.  16.  Gia  nach  Mi.  Bier,  Wein,  nach  M  u.  R  Hirsebier  (in 
Kairo  böza)  nach  A  =  bäräsd,  das  St.  134  u.  R  als  Schnaps,  M  als  Dattel- 
schnaps bezeichnet,  jedenfalls  ein  berauschendes  Getränk. 

26  Mutan  des  Verses  halber  für  mutane.  Dan  zuya  „Sohn  des  Austausches" 
Tgl.  27.     Mumenei,  äd§lei  dem  Arab.  entlehnt. 

27  Su-ka  bezeichnet  hier,  wie  z.  B.  in  su-ka  ce  .man  sagt"  das  Gewohnheits- 
mäßige. 


190  Rudolf  Prietze, 


E. 

J28      Komi       sä-ka         i,  da-n        Adam, 

Was  auch  gehst  du  machen,  Sohn  der  des  „ 
ka-dmbaci      süna-n       rdbhi, 
rede  an     Namen  den  des  Herrn. 

29  Idan      kä-Jcai        kära      ga    rabbi, 
Wenn  du  bringst  Hilferuf  zum  Herrn, 

aiki-n       ba       m-i     bdci  ba. 
Werk  das  nicht  geht  es  verderben. 

30  Köda       sota         sä-ka      i, 

Ob  aueh  Diebstahl  gehst  du  machen, 
kai       Tcärd    gun  rdbba-na. 
bring  Hilferuf  Ort  Herrn  unseres. 

31  Ko     nema-m  mäta       kd-ke      i, 

Ob  Suchen  das  (v.)  Weibern  du  tust  machen, 
ka-dmbaci     süna-n      rabbi. 
rede  an     Namen  den  des  Herrn. 

32  Ko       füda-r        bäba      kd-ke      i, 

Ob  Furchen  das  Indigos  du  tust  machen, 
kai      Tpara   guii      rabbi,         aiki-n       ba-iya    bäci. 
bring  Hilfruf  Ort  des  Herrn,  Werk  das  nicht  es  verderben. 

33  Kä-gani,        da      kai       käfa     ga    rabbi, 
Du  hast  gesehn  mit  bringen  Hilfruf  zum  Herrn 

aiki-na        ba    i-baci  ba. 
Werk  mein  nicht  es  verdirbt. 

34  Häl^ku    si  ne  rabbi! 
Schöpfer  er  ist  Herr! 

35  Wonde        ye-i      karge      ye-i      ääbafa, 
Welcher  er  macht       ,,      er  macht        „ 

§i      ye-i      düf§mi      yQ-i      yendi. 
er  er  macht       ,,         er  macht       „ 


28  R  amhaci  sich  wenden  au,  vgl.  Mi.  anbata  anreden.  Bei  rabbi  „mein  Herr", 
das  in  der  Bedeutung  „Gott"  im  islamischen  Afrika  vorkommt,  ist  t  arab.  Posses- 
siv, nicht  einheimische  Endung,  wie  in  andern  Fällen.  Das  H  pflegt  nämlich  nomi- 
nale Entlehnungen  aus  dem  Arabischen  bald  mit  i  (vgl.  die  unter  3  erwähnten 
litäß,  labäri),  bald  mit  u  (vgl.  Hälgku  34,  Idirlsti  83,  Adäudu  98,  Saidu  165), 
bald  mit  o  (vgl.  ieko  H-Licder  37,  wohl  auch  samdko  177)  zu  schließen.  Letztere 
mögen  der  klassischen  Sprache  entnommen  sein. 

21»  a)  Idan  (arabisch,  M  dafür  in)  nicht  selten  statt  des  echten  H-Wortes 
kadan  (verkürzt  kan)  wenn.  —  b)  In  aiki-n  haben  wir  den  selteneren,  jedoch 
keineswegs  vereinzelten  Fall  des  Artikels  ohne  folgenden  Genetiv. 


Haussa  -  Sänger.  191 

£. 

Mahnung,    bei  jedem  Vorhaben,    selbst   dem   sündigen, 
Gott  anzurufen,  undPreis  des  allmächtigen  Schöpfers 

und  Versorgers. 

28  Was  du  auch  tun  willst,  Menschenkind, 
rufe  den  Xamen  des  Herrn  an, 

29  Wenn  du  den  Herrn  zu  Hilfe  rufst, 
80  wird  das  Werk  nicht  mißlingen. 

30  Und  gingst  du  auch  auf  Diebstahl  aus, 
bitte  um  Hilfe  bei  unserm  Herrn! 

31  Und  liefst  du  auch  den  Weibern  nach, 
rufe  den  Namen  des  Herrn  anl 

32  Auch  wenn  du  Furchen  für  Indigo  ziehst, 
rufe  zum  Herrn,  und  das  Werk  gelingt. 

33  Du  hast's  geseh'n,  mit  dem  Ruf  zum  Herrn 
ist  nie  mein  Werk  mißlungen. 

34  Der  Schöpfer  ist  der  Herr! 

35  Der  den  Kargo  schuf  und  den  Schabarastrauch, 
der  schuf  auch  Durmi  und  Yendi. 


30  Cruh  aus  guri-h  der  Ort  (wofür  öfter  tcuri-n)  neben  dem  im  Westen  ge- 
bräuchlichen ga  (östlich  tca  s.  7  ff.).  Zu  rc^ba-na  s.  Anm.  zu  28.  Das  dem  ara- 
bischen gleiche  Possessivsufiix  1.  PI.  na  findet  sich  zuweilen  neben  mu;  sonst  ist 
na  im  H-Possessivsuffix  der  1.  Sg.,  wie  33. 

32  Füda  ist  nöma  im  engeren  Sinne :  Furchen  ziehn,  bezw.  Reihen  häufeln, 
ygl.  92  Anm.  Der  2.  Halbvers  ist  vielleicht  wieder  zu  zerlegen.  Zu  ba-iya  vgl. 
5  Anm. ;  das  y  von  ya  gehört  beiden  Silben  an  und  vereinigt  sich  mit  dem  a  der 
ersten  zum  Diphthong. 

33  Statt  gani  ist  vielleicht  zu  schreiben  ga-ni :  ga  kürzere  Stammform,  n» 
=  mich.     Zu  ba  i-  vgl.  18. 

34  Hier  dürfte  ein  Halbvers  fehlen.  Häl§ku  (vgl.  23  Anm.)  hat  sich  im  1. 
u.  3.  Radikal  dem  Lautstande  des  H  angepaßt,  wie  überhaupt  ein  arab.  q  fast 
immer  als  k  entlehnt,  also  keineswegs  als  identisch  mit  dem  Ä-  des  H  empfunden  wird. 

35  Wonde  assimiliert  aus  wonda.  A  kargo  M  IcaJgo  =  Bauhinia  purpurata; 
sdbara  gelbblühender  Strauch.  Näheres  über  beide  in  meinem  Aufsatz  „Arznei- 
pflanzen der  Haussa"  Ztscbr.  f.  Kolonialspr.  Bd.  IV,  Heft  2.  Ihnen  werden  die 
beiden  hohen  Schattenbäume  dur^mi  und  yendi  gegenübergestellt.  Dufgmi  (Mi.  u. 
R  dürnmi)  wird  gern  im  Hof  und  auf  freien  Plätzen  angepflanzt,  yendi  (anderswo 
nicht  angegeben)  wächst  wild  und  erreicht  größere  Höhe.  Die  Frucht  der  düremi 
ähnelt  der  Kolanuß,  wird  daher  auch  göro-n  teleka  „Guro  der  Armen"  genannt 
and  ebenso  wie  die  geringer  geschätzte  des  yendi  gegessen;  beide  sind  grün,  und 
ihr  Genoß  färbt  die  Zähne  rot. 


192  Rudolf  Prietze, 

36  Wonde        ye-i  demya,       si      ye-i       goruba, 
Welcher  er  macht  Pflaumbaum,  er  er  macht  Dumpalme, 
si      yQ-i      ibiro      ye-i      ätca. 

er  er  macht      „     er  macht      „ 

37  übdngiM       mai-lcautd^        ya  karimu! 

Herr       habend  Geschenk,    o   freigebiger! 
Hal§}iu    si  ne  rahba-na. 
Schöpfer  er  ist  Herr  unser. 

38  Kaddn  yä-bdi  iva        mai-oa, 
Wenn    er  giebt  zu  habend  Mutter, 

maräya      ma    yä-sdn   da    si. 
Waisenkind  auch  er  weiß  mit  ihm. 

39  Kckddn  yä-bdi  wa     mai-kdfa, 

Wenn   er  giebt  zu  habend  Fuß, 
gür§gu    md    yä-sdn    da    si. 
Lahmer  auch  er  weiß  mit  ihm. 

40  Kaddn   yä-bdi  wa      mai-ido, 

Wenn   er  giebt  zu  habend  Auge, 
malcäfo   md      isa-i  ba-si  ne. 

Blinder  auch  geht  er  geben  ihm. 

41  Kaddn  yä-bdi  wa    mai-güdii, 

Wenn   er  giebt  zu  habend  Lauf, 
na       sdtnne      md      sa-i         bä-si  ne. 
der  des  Sitzens  auch  geht  er  geben  ihm. 

42  Mägani-'ü-Tca     m-n         yi,       ya  karimu! 

Mittel  dein     gehe  ich  machen,    o    freigebiger! 
Älla  si  ne  magani-n  kömi. 
Gott   er  ist  Mittel  das  wessen  auch. 

43  Abi-n  kasa  duk  käyd-n-sa  ne, 
Ding  das  der  Erde  alle  Gepäck  sein  ist. 
abi-n  sdma  duk  käyd-n-sa  ne. 

44  Nä-duha  ciki-n        kasa: 
Ich  habe  geschaut  Leib  den  der  Erde: 
h&bu        kamd-r        Allah  k. 

nichts  Gleichheit  die  Gottes. 

45  Sama     duk  nä-düba: 
Himmel  alles  ich  habe  geschaut: 

ba      n-ga  kamd-r        Allähu  ha. 

nicht  ich  sah  Gleichheit  die  Gottes. 


86  a)  Pfmya  s.  16.   —   b)  A  schreibt  zibiro  statt  ibiro,  anca  statt  atca. 
Beides  sind  kleine  körnige  Ilirsearten,  vgl.  dtca  u.  iburu  St.  630. 


Haassa  -  Sänger.  193 

36  Wer  den  Pflaumenbaum  schuf,  schuf  die  Dtunpalme  auch, 
schuf  Ibiro,  schuf  Atscha. 

37  O  gütiger  Herr,  an  Gaben  reich! 
Der  Schöpfer  ist  unser  Herr. 

38  Wenn  er  dem  giebt,  der  eine  Mutter  hat, 
gedenkt  er  doch  der  "Waise  auch. 

39  Und  giebt  er  dem,  der  Füße  hat, 
gedenkt  er  doch  des  Lahmen  auch. 

40  Und  giebt  er  dem  der  Augen  hat, 
wird  er  doch  auch  dem  Blinden  geben. 

41  Und  wenn  er  dem  giebt,  der  da  lauft, 
wird  er  auch  dem,  der  rastet,  geben. 

42  Mit  dir  will  ich  zaubern,  Gütiger! 
Gott  ist  der  Zauber  für  jedes  Ding. 

43  Auf  Erden  alles  ist  sein  Besitz, 
im  Himmel  alles  ist  sein  Besitz. 

44  Ich  habe  geschaut,  was  die  Erde  hegt: 
Nichts  giebt  es,  was  Gott  gliche! 

45  Den  ganzen  Himmel  hab'  ich  beschaut: 
Nichts  sah  ich,  was  Gott  gliche. 


37  Uhangizi  =  uba-n-ffidä  Vater  des  Hauses. 

40  f.  Das  scheinbar  pleonastiscbe  ne  wird  von  A  im  Sinne  von  bald,  von  M 
im  Sinne  von  auch,  als  Verstärkung  von  tna,  gedeutet. 

42  Bei  A  lautet  die  Stelle:  Mägani  ka  (poetisch  für  kaka)  za-n  y»  =  wie 
soll  ich  ein  (Zauber-)Mittel  machen?  Ich  habe  hier  M's  Konjektur  vorgezogen. 
Das  gemeinte  Mittel  ist  nach  ihm  die  Geduld. 

44  ff.  Kama  ist  die  im  H  zum  Hauptwort  gewordene  arabische  Partikel. 

45  flF.  Zu  6a  n-ga  vgl.  18  Anm. 


194  Rudolf  Prietze, 

46  Gebes   mä  nä-düba: 
Osten  auch  ich  habe  geschaut: 
ba  n-ga  kamd-r  Allahu  ba. 

47  Küdu    mä  nä-düba: 
Süden  auch  ich  habe  geschaut: 
ba  n-ga  kamd-r  Ällähu  ba. 

48  Afewa    md  nä-düba: 
Norden  auch  ich  habe  geschaut: 
ba  n-ga  kamd-r  Allahu  ba, 

49  A  yamma   md  nä-düba: 

Zu  Westen  auch  ich  habe  geschaut : 
ba  n-ga  kamd-r  Allahu  ba. 

50  Sarki-n        dere         mai-rana,    ya  karhnu! 
König  der  der  Nacht  habend  Tag,    o    freigebiger! 
Alla  si  ne    yd-isd. 

Gott  er  ist  er  genügt. 

F. 

51  Ni    ivone     dUd      sd-in     yi? 

Ich  welche  Arbeit  gehe  ich  machen? 
ni     ivoce     jdura      zd-in    yi? 
ich  welchen  Handel  gehe  ich  machen? 

52  Jdura    Gonäa  bdnda  ni, 
Handel  v,  „        außer   mir, 
ma      Adamdiva  bdnda  ni. 
Gehn  (nach)  „  außer  mir. 

53  Füda-r  hdba    bdnda  ni, 
Furchenziehn  das  Indigos    außer    mir. 

füda-r  rögo     bdnda  ni. 

Furchenziehn  das  Kassada  außer  mir. 

54  B§lbela        ta-dogafd, 
Rinderhüter  hat  sich  gestützt, 

a      güzu-n         §änu       eä-ta     öi. 
in  Grund  dem  der  Kühe  geht  er  essen. 

55  JJrigtdu       md      tä-dögafa, 
Schmutzgeier  auch  hat  sich  gestützt, 
gafc-ku,  mdfauta,     zd-ta     6i. 

bei  euch,  Fleischer,  geht  er  essen. 


49  Für  yamma  schreibt  A  yanma. 

50  Sarki-n  derl  mai-rdna  ist  eine  mündliche  Verbesserung  A's.    Im  Text 


Eaossa  •  Sänger.  195 

46  Nach  Osten  hab'  ich  hingeschaut: 
Nichts  sah  ich,  was  Gott  gliche. 

47  Nach  Süden  hab'  ich  hingeschaut: 
Nichts  sah  ich,  was  Gott  gliche. 

48  Nach  Norden  hab'  ich  hingeschaut: 
Nichts  sah  ich,  was  Gott  gliche. 

49  Nach  "Westen  hab'  ich  hingeschaut: 
Nichts  sah  ich,  was  Gott  gliche. 

50  0  gütiger  König  der  Nacht  und  des  Tags! 
Gott  ist  es,  der  Genüge  schafft. 

F. 

Der  Sänger  erklärt  den  Bewohnern  vonKano,  er  suche 
sein  Heil  weder  im  Handel  noch  im  Landbau,   sondern 

in  ihrer  Gunst. 

51  Was  für  Arbeit  ßoll  ich  tun? 
Was  für  Handel  treiben  nun? 

52  Handel  mit  Gonza  ist  nichts  für  mich, 
Adamauareisen  nichts  für  mich. 

53  Indigopflanzen  ist  nichts  für  mich, 
Kassadapflanzen  nichts  für  mich. 

54  Der  Rinderhüter  verläßt  sich  darauf, 
zu  Füßen  der  Kühe  zu  schmausen. 

55  Der  Schmutzgeier  auch  verläßt  sich  drauf, 
bei  euch,  ihr  Fleischer,  zu  schmausen. 


schreibt  er  sarlci-n  haitca  König  der  Gabe.     Für  ya  karimu  schlägt  M  vor:    yä- 
käre-mu  er  hat  uns  beschützt.  Yd-i^d  Prät.  im  Sinne  des  allzeit  Gültigen,  vgl.  129. 

51  Für  wQce  schreibt  M  KQta.  Das  Wort  jaura  für  Handel  entstammt  nach 
M  dem  Kanuri;  er  schreibt  es  52  mit  Artikel:  jaura-l  wegen  des  folgenden  Gonza. 

52  a)  Gonia  ist  der  Distrikt  oberhalb  der  Goldküste,  der  die  Kolanuß  er- 
zeugt. Nach  M  wäre  bdnda  als  bäbu-n-da  zu  deuten :  nichts  mit,  nichts  welches. 
In  der  Tat  könnte  das  im  Osten  gesprochene  ham  „verschieden"  in  da-bam,  bam- 
da,_  bam-bam  und  seinen  Ableitungen  auf  bcAu-n  zurückgehen  und  im  Westen  in 
Folge  der  häufigen  Verbindung  mit  da  zu  ban  geworden  sein.  Es  könnte  jedoch 
auch  das  aus  bäya-n  „hinter"  verkürzte  ban  sein  (s.  85  Änm.).  —  b)  Adamaua  gilt 
als  Bezugsquelle  für  Elfenbein. 

53  Zu  füda  vgl.  32  und  92.  Eögo  ist  Kassada,  Manihot  utilissima.  Vgl. 
St.  (?34,  Pfl.  u.  T.  12. 

54  Bslbela,  PI.  belbeloli,  auch  falfela  (vgl.  Pfl.  u.  T.  159),  Ärdea  bubulcus, 
ist  ein  von  Rinderherden  unzertrennlicher  weißer  Vogel.     Gü^u  s.  15. 

55  a)  Bei  ungulu,  M  dgulu  Schmutzgeier  (s.  Pfl.  u.  T.  116)  ist  bemerkens- 
wert, daß  er  trotz  der  Endung  u  Feminin  ist.  —  b)  Ma-fauia,  PL  v.  ma-fauH 
Fleischer,  auch  mü-fauta  und  ma-hauta  (M). 


196  Rudolf  Prietze, 

56  jpdnumd  yä-dögara 

„  er  hat  sich  gestützt 
gare-Jcu,  Känäwa,  sa-i  ci. 
bei  euch,    Kanoer,  geht  er  essen. 

G. 

57  Da-n        SuUi,     da-n         Äutd, 
Sohn  der  des  „      Sohn  der  der  „ 
taimaM-ni,    giigä-na     na  rijia! 

hilf  mir     Eimer  mein  der  Brunnens! 

58  Na-i  zöhari,  har        nä-gaäi, 
Ich  habe  gemacht  Fanghaken,  bis  ich  ward  müde, 

gänßi,  mai-fäda,         halärahe ! 

Bogenhalt,  Herr  der  Residenz,  Araber! 

59  Ba-n        Äutä,     köiva         gamS-Jca, 
Sohn  der  der  „       wer  auch  schimpft  dich, 
räma,  don     ha      i   -   ß   -   ha   ha. 
räche,  denn  nicht  er  übertrifft  dich. 

60  Ni   wone     Jcüka       sa-in     yi? 
Ich  welch  Schreien  gehe  ich  machen? 

Küka-n         sänu        zä-in     yi? 
Schreien  das  der  Kühe  gehe  ich  machen? 

61  Ko     na      tumäki        sä-in     yi? 
Oder  das  der  Schafe  gehe  ich  machen? 

Ko    na       aiväki        zä-in     yi? 
Oder  das  der  Ziegen  gehe  ich  machen? 

62  Küka-n        zakai       m-ln     yi? 
Schreien  das  der  Esel  gehe  ich  machen? 

Küka-n  ddki  eä-in     yi? 

Schreien  das  des  Pferdes  gehe  ich  machen? 

63  Na      alfadari        ha       m-här-si  ha, 
Das  des  Maultiers  nicht  ich  lasse  es, 

ko      ööfa  eäkara  vä-ke    i, 
sogar  Krähn  ilahns  ich  tue  machen, 

in-sämu        gidä-m  mai-fäda. 

daß  ich  finde  Haus  das  Herrn  der  Residenz. 


56  I>d-n-uma,  der  wirkliche  Xame  des  sich  im  Eingangslied  als  Papagei 
einführenden  Sängers  könnte  als  „Sohn  der  Mutter"  gedeutet  werden,  falls  es 
zulässig  ist,  eine  Anähnlicbung  von  uwa  Mutter  an  das  Arabische  anzunehmen. 

57  a)  Sulti  für  Suleimän.  Auta  ist  das  jüngste  Kind  u.  der  kleine  Fini^er. 
Gemeint  ist  Nagyätum,  der  als  Freund  des  Königs  Abdu  in  Kano  allmächtig  war, 
ohne  ein  Amt  zu  bekleiden.     Der  Name  Nagyätum  I)e8agt  etwa:   der  von  Groß- 


Haussa- Sänger.  197 

56  Und  Dänuma  verläßt  sich  drauf, 

bei  euch,  ihr  von  Kano,  zu  schmausen. 

e. 

Lied,  mit  welchem  der  Sänger  von  dem  Freunde  des 
Königs  Abdu  von  Kano,  Nagydtum,  die  Freilassung 
seiner  wegen  Glücksspiels  gefangen  gesetzten  Söhne 
erbittet.  Zum  Schluß  Mahnung  an  sie,  —  sich  nicht 
wieder  erwischen  zu  lassen. 

57  Du  Sohn  der  Äuta  und  des  Sulei, 
mein  Brunneneimer,  steh  mir  bei! 

58  Ich  fischte  nach  dir,  bis  ich  müde  ward, 
du  Bogenhalt,  Hofherr,  weißer  Mann! 

59  Sohn  Äuta' 3,  wer  lästernd  von  dir  spricht, 
vergilt's  ihm;  denn  er  überragt  dich  nicht. 

60  Welch  Geschrei  soll  ich  beginnen? 
Soll  ich  brüllen  wie  die  Kühe? 

61  Oder  blöken  wie  die  Schafe? 
Oder  meckern  wie  die  Ziegen? 

62  Soll  ich  wie  die  Esel  schreien? 
Soll  ich  schreien  wie  das  Pferd? 

63  Nicht  den  Schrei  des  Maultiers  spar'  ich, 
krähe  \ne  der  Hahn  sogar, 

um  des  Hofherm  Haus  zu  finden. 


eitern  Erzogene,  vgl.  gyätuma  alte  Frau  (Masc.  gydtemi),  Mi.  gyatüma,  z.  B.  in 
dem  Sprichwort  Dünia  gyatüma  ce  die  "Welt  ist  eine  alte  Frau,  d.  h.  es  geschieht 
nichts  neues  unter  der  Sonne.  —  b)  Gugd  ist  trotz  seiner  Endung  Masc,  vgl.  5. 
Der  Brunneneimer  dient  öfters  als  Gleichnis  für  Helfer,  Vermittler. 

58  a)  Zdbari  Instrument,  um  herauszuholen,  was  in  den  Brunnen  gefallen 
ist,  nach  Mi.  eine  mehrzinkige  Gabel,  nach  Ä  Bündel  von  5  Ketten  mit  je  4  Haken. 
Seine  Handhabung  bei  der  Suche  nach  dem  Eimer  versinnbildlicht  die  Bemühungen 
des  Sängers,  NagyätunCs  Huld  zur  Befreiung  seiner  Söhne  zu  gewinnen.  —  b)  Gdnfu, 
nicht  bei  Mi.  u.  R,  nach  A  ein  Holz,  das  bei  Anfertigung  eines  Bogens  an  diesem 
befestigt  wird,  ihm  die  gewünschte  Krümmung  zu  geben,  daher  nach  M  Symbol 
der  Stärke.  —  Mai-fäda  nach  M  Günstling  des  Hofes  (fäda  Königshof).  —  Balä- 
rahe  (entlehnt  und  mit  H-Präfix)  oder  Batüre  redet  der  Schmeichler  auch  Ein- 
geborene an,  vgl.  Bornulieder  VI  6,  IX  2. 

59  a)  In  Prosa  köwa  yä-game-Tca;  M  gamd  =  zagd  schimpfen,  dagegen 
^dmo . vollenden.  —  b)  Bäma  wiedergeben,  rächen.  Steigerung  der  Schmeichelei: 
Du  brauchst  dir  von  Niemand  etwas  gefallen  zu  lassen,  weil  du  am  höchsten  stehst 

61  Tumdki,  PI.  v.  tumkia  weibl.  iichaf,  aicdki,  PI.  v.  aküya  Ziege,  sind  wie 
dawdki  v.  döki  Pferd  u.  a.  innere  Pluralbildungen  ähnlich  den  arabischen. 

63  Zu  5a  m-  vgl.  5.  In-sämu  ist  wie  schon  zä-in  60  ff.  Konjunktiv,  ein 
Modus,  der  sich  nur  am  Pron.  1.  Sg.  (m  für  na)  ausprägt. 


198  Rudolf  Prietze, 

64  Kadani  biri     ye-i    banna, 

Wenn     Affe  er  tut  Verwüstung, 

Güdu    yd-Jcan    yi, 
Laufen  er  pflegt  machen, 

mai-göna  bd        i-gdn-si    ba. 

Herr  des  Ackers  nicht  er  sieht  ihn. 

H- 

65  Nd-Jcafa         tdreko      nd-gaji; 

Ich  habe  gestellt  Falle  ich  bin  ermüdet; 

nd-kafa  tdreho-n      mekia. 

ich  habe  gestellt  Falle  die  des  Geiers. 

66  TJngülu  mai-wäwa-n        koddi, 
Schmutjgeier  habend  Narren  den  der  Gier, 

ungülu        td-zo  tä-sigd. 

Schmutzgeier  ist  gekommen,  ist  hineingegangen. 

67  And      zagagi       da  kosakosd? 

Wo  Sumpfvogel  mit  Pelikan? 
Su  borintemke  düs    su-zö. 

•  o 

Sie  „  alle  sie  kommen! 

68  Wdlldhi,   kam     ba       n-sämo     mekia  ba, 
Bei  Gott,  wenn  nicht  ich  erlange  Geier, 

ungülu,         ba       za-m         bdr-ki     ba. 
Schmutzgeier,  nicht  gehe  ich  lassen  dich. 

I. 

69  Domin        wuya        ke     gaiya,      ed-n       samafi, 
Wegen  Schwierigkeit  tut  Aufgebot,  Kinder  die  der  Burschen 
don     a-köma        ke        tö§i. 

weil  man  kehrt  wieder  tut  Trinkgeld. 


64  Für  banna  hat  A  wie  Mi.  barna.  M  schreibt  das  6  hier  mit  demselben 
Zeichen,  mit  dem  er  d  und  ^  wiedergibt,  dem  arab.  ta. 

65  a)  Hier  nä-gaji,  58  nä-gazi;  j  und  i  wechseln  in  der  Aussprache  wie  in 
manchen  Teilen  Italiens.  —  b)  Mekia  ist  der  größte  der  Geier. 

66  Zu  ungülu  vgl.  55.  Mai-wäwa  statt  des  einfachen  wäwa  Narr  ist  auf- 
fallend. 

67  a)  Der  fagagi  ist  nach  R  eine  Wassergans  mit  weißer  Brust,  nach  Mi. 
ein  weißer  Vogel  mit  langen  Beinen  und  langem  rotem  Schnabel,  doch  nach  A 
größer  als  der  eigentliche  Storch,  welcher  sämua  heißt.  KosäJcQsa  ist  nach  M's 
Beschreibung  der  Pelikan,  nicht  der  Schwan,  wie  Mi.  angibt.  Freilich  nennt  B 
für  Pelikan  mai-zika  „Beutelherr"  =  Mi  baba  da  jika,  doch  hiermit  bezeichnete 
M  im  zoolog.  Garten  den  Marabu  oder  Kropfstorcb  (Leptoptilus  cruminifer  nach 
St.  247).  --  b)  Borintftnke  (A  borintinke,  Mi.  borinttimke,  R  borintunki)  nach  Mi. 


Hanssa  -  Sänger.  1 99 

(Epilog;  Die  Söhne  sind  entlassen.) 

64  "Wenn  der  Affe  Frevel  übt, 
weiß  er  sonst  davonzulaufen, 
eh'  des  Feldes  Herr  ihn  sieht. 

H. 

Der  Sänger  schildert  unter  dem  Bilde  einerFalle  und 
verschiedener  großer  Vögel,  deren  jeder  eine  be- 
stimmte Person  bedeutet,  wie  er  ein  ursprünglich  auf 
einen  andern  gemünztes,  von  diesem  jedoch  darchGe- 
schenke  rechtzeitig  abgewehrtes  Spottlied  auf  den 
übertragen  habe,  der  sich  weniger  zahlangs willig 
zeigte,  und  lädt  Zuhörer  ein. 

65  Mit  Fallenstellen  müht'  ich  mich  ab, 

dem  Großgeier  hatt'  ich  die  Falle  gestellt. 

66  Da  kam  Schmutzgeier,  der  gierige  Narr, 
Schmutzgeier  kam  und  ging  hinein. 

67  "Wo  sind  der  Storch  und  der  Pelikan? 
Schaf reigen,  alle  mögen  sie  nahn! 

68  Bei  Gott,  war  der  Großgeier  nicht  zu  fassen, 
Schmutzgeier,  dich  werd'  ich  nimmer  lassen! 

I. 

Der  Sänger  verwirft  unnötige  Anstrengung  und 
verspricht  sich  müheloseren  wie  reicheren  Gewinn 
von  den  kleineren  Orten  der  Umgegend  als  von 
Kano  selbst,  das  ihn,  wie  er  durch  die  Blume  zu 
verstehn  gibt,  enttäuscht  hat  (vgl.  F),  weil  es  mit 
unechter  Freigebigkeit  prahle,  ohne  wirklich  wohl- 
zutun. 

69  Ihr  Bürschlein,  für  Schweres  nur  kommt  man  zu  Häuf; 
nur  der  Wiederkehr  halb  zahlt  man  Trinkgeld  drauf. 

Pelikan,  nach  R  eine  Art  Storch,  auch  nach  M's  Beschreibung  dem  Storch  ähnlich, 
nur  etwas  größer  und  mit  weißen  Flügeln.  Der  Name  scheint  den  Anblick  einer 
Schar  dieser  Vögel  mit  einer  Schafherde  zu  vergleichen  (s.  62  tümkia,  PI.  tumäki) ; 
denn  bort  ist  hier  synonym  mit  taj-o  Herde,  während  es  eigentlich  einen  ekstati- 
schen Tanz  der  H- Weiber  bezeichnet,  vgl.  Einl.,  Saiteninstrumente;  näheres  ist 
zu  293  meiner  Bornusprichwörter  ausgeführt.  Zu  su  mit  folg.  Sg.  s.  II 9.  M 
spricht  hier  dus,  durch  Assimilation  aus  duk  s.  17  Anm.  Im  Text  ist  hier  der 
2.  Halbvers  von  66  als  3.  Zeile  wiederholt,  meines  Erachtens  irrtümlich. 

69  Hier  und  in  70  ist  a  man  vor  /e  ausgelassen,    dem   in  Prosa   auch  yi 
„machen"  folgen  würde.    Gaiya  ist  Volksaufgebot,  Heerbann.    Ea  Kinder  gibt  hier, 

Kgl.  Ues.  d.  Wim.    Nachrichten.    Phil.-hist.  Klia««.    1916.     Heft  2.  14 


200  Rudolf  Prietze, 

70  Domin   defe    ke  sandd, 
Wegen  Nacht  tut  Stock, 

don   da  räna  ko  da  kafa     na-fökara. 
weil  mit  Tag   ob  mit  Rohr  ich  stütze  mich. 

71  Kai-ni  Äletini,  Tutnbäu, 
Earigiso^  Kätarkatva,  Sabongari! 

72  Nä-sa     zuma      nä-kosi. 

Ich  trank  Honig  ich  wurde  satt. 

Mi    za      bai      madi-n     demya    sai    Jcornafi? 

Was  geht  geben  Syrup  der  v.   „       außer  Übelkeit? 

73  Mai-madi      ke  talla, 
Habend  Syrup  tut  ausrufen, 

mai-suma     ya-na    ddka         a  -  tarda -si. 
habend  Honig  er  tut  hausen  man  begegnet  ihm. 

K. 

74  JSä-däina     wäka-r       Dälu, 
Ich  gab  auf  Lied  das  des  „ 

tun  a     bäfa  rigd       ce     ba      i-bä-ni  ba. 

seit  in  letztem  Jahr  Tobe  ist  nicht  er  gab  mir. 

75  B^ki-n       domd    na    küsei, 
Schwarz  der  Kürbis  der  der  Gräber, 
kas      mdfafa,      Dolo    ätka-n      äaäi! 

töte  Zerschneider,       „     Enkel  der  des  Handelsherrn. 

76  Ze-ktty  dauko,       kawö,       kasö! 

Geh,      hole,     bring  heim,  komm ! 
ka-bai  ma-roki,    bd-iya    sdta. 
gib       Bettler,     nicht  er  Diebstahl. 

77  Nä'äi    burumburiim  a   tükanc  — 
Ich  hörte       Geklirr       in  Töpfen  — 

mäta,     ku-düba  Dälu  ko    yä-tä§i  ne. 
Frauen,  seht  nach      „      ob  er  ist  aufgestanden. 


wie  häufig  sein  Sg.  da,  dem  folgenden  Wort  Diminutivcharakter.  Don  ist  aus 
domin  (da-mi-n)  zusammengezogen.  Tost,  bei  Mi.  u.  R  Bestechung,  ist  genauer 
Bakschisch.  Der  Sänger  will  sagen,  wer  sich  der  Gunst  eines  Mädcliens  erfreut 
habe,  tue  nur  dann  ein  übriges,  wenn  er  wiederkommen  wolle. 

70  Zu  tökara  vgl.  54  ff.  dogara.     Auch  R  hat  tokara. 

71  Die  hier  genannten  kleineren  Städte  liegen  alle  bei  Kano.  Die  ersten 
beiden  sind  Fulbe-Namen.  Ea-n  gizo  (vgl.  69  u.  21)  bedeutet  „Kinder  des  Woll- 
kopfs", weil  den  Einwohnern  ein  besonders  dichter  Haarwuchs  zugeschrieben  wird. 
Sdbo-n  gar*  ist  Neustadt. 

72  A  schreibt  za,  nach  welchem  wohl  das  »  der  3.  Sg.  verloren  gegangen  ist, 
M  §a-n:  Was  soll  ich  dem  Syrup   zuschreiben,   als  Übelkeit?    Modi  ist  ein  aus 


Haassa  -  Sänger.  SOI 

70  Zum  Nachtgang  nur  wird  i&r  Stock  benutzt, 
derweil  am  Tag  schon  ein  Bohr  mich  stützt. 

71  Nach  AUtini  führe  mich,  nach   Tumbdu, 
Eangizo.  Neustadt,  Katarkatca! 

72  In  Honig  hab'  ich  mich  satt  getrunken: 
was  schafft  Pflaumsyrup  als  Übelkeit? 

73  Der  Syrup träger  schreit  aus  zum  Verkauf, 
den  Honigmann  sucht  mau  zu  Hause  auf. 

K. 

Spottlied  auf  Dälu,  der  demSänger  eine  versprochene 

Tobe   schuldig   geblieben   ist,    deshalb   für   einen  Dieb 

erklärt  und  ironisch  aufgefordert  wird,  sichnunauch 

gründlich  und  mit  Erfolg  als  solcher  zu  bewähren. 

74  Den  Sang  auf  Dalu  gab  ich  auf, 

er  schuldet  ein  Kleid  mir  seit  vorigem  Jahr. 

75  Schwarzkürbis  vom  Friedhof,  des  Spalters  Tod, 
Dalu,  du  Kaufhermenkel! 

76  GFeh,  hole,  bringe  heim  und  komml 

Gib  dem,  der  bittet  —  er  stiehlt  ja  nicht! 

77  Da  hört'  ich,  wie's  bei  den  Töpfen  kracht  — 
schaut,  Frauen,  ob  Dalu  sich  aufgemacht! 


Früchten  gewonnener  Syrup  (näheres  II 169).  Demya  s.  15.  Kömafi  (nicht  bei 
Mi.  und  R)  ist  Unbehagen  im  Magen,  etwa  Sodbrennen  oder  saures  Aufstoßen, 
ähnlich  gamba,  das  Mi.  (gänba)  durch  Vielfrä£igkeit  wiedergibt,  während  es  nach 
M  vielmehr  Rülpsen  bedeutet. 

73  a)  Vor  ke  fehlt  ye  vgl.  14.  Zu  talla  vgl.  B  mai-talla  Trödler.  —  b)  Daka 
ist  Zeitwort   zu  daki  Hütte,  Zimmer:   das  Haus   hüten,   daheim  bleiben   vgl.  11  1. 

74  Dalu  (vgl.  Pfl.  u.  T.  145  daio  Bullenkalb)  hieß  ein  Mann  in  Gezdwa  bei 
Kano,  der  für  die  ihm  gesungenen  Lieder  Geschenke  versprach,  aber  nie  gab. 
Der  Name  wurde  für  seinesgleichen  typisch;  es  findet  sich  der  PI.  ddloli. 

75  a)  A  damd,  PI.  di'tmami,  M  d^ma,  PI.  demomi,  laut  Mi.  {dümä)  Flaschen- 
kürbis, Lagenaria  vulgaris  L,  nach  R  nicht  gegessen,  sondern  zur  Herstellung  von 
Wassertöpfen  verwendet.  Küsei  oder  küseyi,  PI.  von  küievoa  Grab  (Mi.).  — 
b)  Kas  häufige  Verkürzung  für  ka8e\  der  Imperativ  mit  Objekt  ist,  wie  auch  iq 
germanischen  und  romanischen  Sprachen,  eine  beliebte  Form  für  Beinamen.  Zu 
ma-fafa  vgl.  Mi.  fäfi  Zerschneidung,  besonders  von  kugelförmigen  Körpern.  Der 
Kürbis  wird  zu  obigem  Zweck  in  der  Mitte  der  Quere  nach  gespalten.  Stammt 
«r  vom  Friedhof,  so  stirbt  nach  dem  Volksglauben  der,  der  es  tut.  Zdii  ist  du4 
Bomuwort  für  H  madugu  Karawanenhaupt,  dessen  unwürdiger  Enkel  also  Däiu  war. 

76  Die  erste  Zeile  ist  ein  Diebsmotto,  das  dem  Dälu  beigelegt  wird.  Ze-ka 
altertümlich  für  ka-ie.     Zu  bd-tya  vgl.  32. 

77  a)  Burutnbürum  Nachahmung  rasselnden  Geräuschs  vgl.  II 190  kifikkirin. 
Tukane,  PI.  v.  iukünya  irdener  Topf  (Mi.);  vgl.  d.  PIl.  61.  —  b)  Zu  ne  vgl.  40. 

14* 


202  Rudolf  Prietze, 

78  Kddd        ka-M         zoro~n      düJca, 
Daß  nicht  du  fühlst  Furcht  die  der  Hiebe, 
Dälu,  Mki    ma      ya-sd-si. 

„        Esel  auch  er  trinkt  es. 

79  Kdda         ka-äi         zoro-n       rdmi. 
Daß  nicht  du  fühlst  Furcht  die  des  Lochs, 

ko    gafid    ma    na  sigd. 
sogar  Ratte  auch  tut  hineingehn. 

80  Nd-ki        äiki-m       hdnza, 

Ich  hasse  Werk  das  des  Nutzlosen, 

nä-lä         fqjpe,         hd-n-na  SQ-n       mai-fqjfe! 

ich  hasse  Stümperei,  nicht  mein  Lieben  das  des  Stümpers! 

81  Aiki-m        hdnza  sai   kafS, 
Werk  das  des  Nutzlosen  nur  Hund, 

sai        gadii  mai-sdre-n        tabq. 

nur  Wildschwein  habend  Hauen  das  des  Schmutzes. 

L. 

82  Ni  and  da  and     za-n     kqma? 

Ich    wo  und  wo  gehe  ich  zurückkommen? 

m      Kankaii      za-n      köma 

ich  nach  „        gehe  ich  zurückkommen 

83  gida-n       Idirisu, 
(zum)  Haus  dem  des  „ 

ma-sa    yalö     bäbd-m       Fazum. 

trinkend  Preis  Oheim  der  der  Fatma. 
84.     Yä-bid-ni,  bd-si     da    fingi-m  mä-gamu 

Er  bezahlte  mich,  nicht  er  mit  B-est  dem 

ko  da  bla-m  bäsi         ne. 

ob  mit  Bezahlen  dem  der  Schuld  ist. 
85     Yä  -  bid  -  ni,         düzi    ba-iya    fdrgabd. 

Er  bezahlte  mich.  Stein  nicht  er  Herzklopfen. 

Malern  Idirisu,  ka-zö  ka-M. 

Meister         „  komm  höre. 


78  Zur   phraseologischen  Verwendung   von  sa  trinken   vgl.  H-Sprichw.  102. 

79  Na  poetisch  für  ta-na,  wie  14  Ice  für  ye-tce.  Nach  diesem  Verse  stand 
im  Text  als  3.  Zeile  gitgd  ma  ya-sd-si  den  Eimer  auch  trank  (nahm  auf)  das  IjOch. 
Doch  hätte  nach  M  kada  ka-zi  ?oro-n  rämi  davor  wiederholt  werden  müssen. 
Ohnehin  lag  schon  der  Parallelismus  membrorum  (H  maimai)  von  78  u.  79  vor; 
mitiiin  dürfte  gitgä  etc.  nur  eine  schleppende  Interpolation  sein. 

80  a)  Zeitwörter  wie  ^t  hassen,  fi  ühertreifen,  sani  wissen  stehn  in  der  Regel 
wie  hier  im  Praot.   im  Sinne  des  jederzeit,   dauernd  Gültigen.  —  b)  A  fS^e  oder 


Haassa  -  Sänger.  203 

78  So  fürchte  dich  doch  vor  Prügel  nicht, 
Dalu,  der  Esel  bekommt  sie  auch. 

79  Und  fürchte  dich  nicht  vor  dem  Loch, 
geht  doch  die  Ratte  selbst  hinein. 

80  Zwecklose  Mühe  ist  mir  verhaßt, 
Gestümper,  ich  mag  den  Stümper  nicht. 

81  Zwecklose  Mühe  treibt  nur  der  Hund, 
treibt  nur  der  Eber,  der  Dreck  aufwühlt 

L. 

Trostlied  zu  Ehren  des  Idris,  eines  ehedem  freigebigen, 
jetzt  verarmten  Grönners,  nebst  einem  Lobspruch  auf 
dessen  jungen  Freund,   der  den  Sänger  für  dies   ynho 

belohnt  hat. 

82  Wo,  ja  wo  kehr'  ich  wieder  ein? 
In  Kankan  kehr'  ich  wieder  ein 

83  im  Haus  des  Idirisu, 

bei  Fatma's  vielgepriesenem  Ohm. 

84  Der  hat  mich  bezahlt,  der  vertagt  keinen  Rest, 
als  wär's  eine  Schuld,  die  er  begleicht! 

85  Der  hat  mich  bezahlt,  der  Fels,  der  nicht  bebt. 
Meister  Idris,  komm  und  vernimm. 


höhe,  M  föki  (ö  scheint  dem  Osten  fremd  zu  sein)  wurde  mir  als  synonym  mit 
bansa  angegeben.  Vielleicht  bieten  Mi.  fukd  R  fttku  Atemnot,  Asthma  einen 
Fingerzeig  für  den  genauen  Sinn.  Das  Possessi vsuf fix  an  ba-n-na  zeigt  das  or- 
sprüngl.  Zeitwort  ba  nichtsein  als  substantivischen  Infinitiv,  vgl.  5  Anm. 

81  Die  zwecklose  Tätigkeit  des  Hundes  ist  sein  Herumlaufen,  die  des  Ebers 
das  Aufwühlen  des  Bodens  mit  seinen  Hauern;  säfe  bezeichnet  den  Hieb  mit 
scharfer  Waffe,  daher  auch  den  Biß  der  Schlange.  Tabö  Schlamm  und  tdbo  Narbe 
werden  in  der  Betonung  und  durch  verschiedenes  b  auseinandergehalten. 

82  Kankan  ist  eine  kleine  Ortschaft  südlich  von  Kano  in  der  Nähe  von 
Gezäica,  der  Heimat  des  oben  verhöhnten  Dälu.  Koma  findet  sich  im  Kano  neben 
köma. 

83  Zu  bäbd  vgl.  21  Anm.  Fa^um  eine  lautlich  bemerkenswerte  Nebenform 
von  Fätuma. 

84  Für  das  westliche  fingi  hat  M's  östliche  Mundart  hihgi,  und  für  mä-gamu 
setzt  er  mu-gamu.  Beides  soll  eine  spätere  Zusammenkunft  bezeichnen,  bis  zu 
welcher  der  Schuldner  die  Abtragung  des  Restes  verschieben  will,  vgl.  Mi.  gamö 
Zusammentreffen,  mä-gama  Zusammentluß.  Da  gamu  indeß  auch  übereinkommen 
bedeutet,  sind  mä-gamu  u.  mu-gamu  vielleicht  als  Verbalformen  anzusehn  {mä 
Präfix  der  1.  PI.  im  Futur,  mu  im  Aorist)  und  ringi-m  mä-gamu  als  Redensart 
des  säumigen  Schuldners :  Über  den  Rest  werden  wir  uns  einigen. 

85  Zur  Kennzeichnung  eines  fröhlichen  Gebers  wie  Idris  dient  im  östlichen 
•H-Gebiet  die  Wendung:  Tä-fi  kaute -l  gewoya  ban   (aus  bäj/a-n)   4öJei  Jea-köma 


204  Rudolf  Prietze, 

86  Ka-so      n-gaia       md-ka  aljhna, 
Komm  daß  ich  sage  zu  dir  Kede, 
ahi-n      da      Kanawa     su-n-ka    de: 
Sache  welche  Kanoleute  sie  haben  gesagt: 

87  Ko    linmmi     yä-kafei, 
Ob  Zügeleisen  es  zerbrach, 

yd-fi  gaba-m  baki-n      kare. 

es  übertrifft  Klafter  das  Mundes  des  Hundes. 

88  Koda     sirdi   yä-karei, 
Ob  auch  Sattel  er  zerbrach, 

yä-fi  gabd-ni  bayd-n       kare. 

er  übertrifft  Klafter  das  Rückens  des  Hundes. 

89  Koda      tdkobi      yd-bar     gidd-n-sa, 
Ob  auch  Schwert  es  verließ  Haus  sein, 

yd-fi  teyi-n  haiiyd  bidr. 

es  übertrifft  Angebot  das  (v.)  Hacke  fünf. 

90  Yä-fi  yankd-n       kaii,      sai      ko    ya-yaüka 
Es  übertrifft  Schlachten  das  Hühner,  außer  oder  es  schlachtet 

da-n         aküya       ko  temkid. 
Sohn  den  der  Ziege  oder  Schaf. 

91  Käfo  da  käro    fagö      ya-kan    yi, 
Stoß   mit  Stoß  Widder  er  pflegt  machen, 

da-n        (iküya     sai  mwoyi. 
Sohn  der  der  Ziege  nur  Diai'rhoe. 

92  Masokdno,  gdrtna    Tpdre     aiki, 

„  Hacke  beende  Arbeit, 

§i^ge        kafi-n      duduga ! 
Gehege  Schutz  der  der  Baumwolle! 

93  Kane  -  n       Lamara,        yayd-n        üsaini 
Jüngerer  Bruder  der  der  „     ,    älterer  Br.  der  des  „ 

yäfo   ne     mai-züöia. 
Knabe  ist  habend  Herz, 


ha-na  küka  das  ist  ein  besseres  Geschenk,  als  wenn  man  (der  Geber)  nachher 
hinter  dem  Hause  herumgeht  (um  sich  zu  fassen)  und  heulend  wieder  zum  Vor- 
schein kommt.  —  Zu  ba-itja  vgl.  32.  Färgabd  bei  Mi.  Sorge,  Angst,  Kummer 
M  falgabd  Herzklopfen.    Zu  mdl^m  vgl.  16. 

86  a)  Aljitna  gehört  zu  den  Fremdwörtern,  die  im  entlehnenden  Volk  eine 
andre  Bedeutung  gewinnen  als  daheim.  —  b)  Su-ii'ka  ce  ist  nicht  mit  Schön  als 
Plusquamperfekt  dem  Perfekt  au-ka  ce  gegenüberzustellen,  sondern  nur  als  dia- 
lektische Variante  des  Westgebiets  an/.usehn.  Über  au-ka-ce  man  sagt,  es  beißt 
bei  ihnen  s.  meine  H-Sprichwörter  1,  H,  13  f.  u.  a. 

87  a)  Lintümi,  bei  Mi.  lieami  Zügel,  eine  Entlohnung  wie  lüä^,  labari  (vgl. 


Haassa  -  Sänger.  '^  206 

86  Laß  mich  ein  Wort  dir  künden, 
das  in  der  Kanoer  Munde  lebt. 

87  Auch  wenn  des  Zügels  Gebiß  zerbrach, 
reicht's  weiter  als  ein  Hundemaul. 

88  Ein  Sattel,  riß  er  aach  entzwei, 
reicht  über  Hunderücken  hinaus. 

89  Ein  Schwert,  ob's  auch  die  Scheide  verlor, 
ist  doch  für  hundai  noch  nicht  feü. 

90  Zu  gut  zum  Hühnerschlachten  —  o  nein, 

es  muß  schon  ein  Ziegen-,  ein  Schaflamm  sein. 

91  Der  Widder  leistet  Stoß  um  Stoß, 

das  Zicklein  kriegt  den  Durchfall  bloß. 
(Zu  dem  jungen  Freund  des  Idris): 

92  Kanolieb,  Hacke,  die  hurtig  schafft, 
des  Baumwollfeldes  schirmender  Zaun! 

93  Der  Lamara  Bruder  und  Husseins 
ist  ein  beherzter  junger  Mann. 


8,  28),  soll  hier  genauer  das  Eisen  im  Maul  bedeuten  Karei^  eine  auffallende 
poetische  Nebenform  für  das  zu  erwartende  kan'i,  dient  wohl  dem  unübersetzbaren 
Wortspiel  mit  kare.  —  b)  Gabd,  eig.  Brust,  als  Präposition  „vor",  könnte  auch 
in  diesem  Sinne  zur  phraseologischen  Verstärkung  von  yä-fi  dienen ;  doch  ist  hier 
vermutlich  seine  zweite  Bedeutung  Klafter  heranzuziehn.  Das  Gleichnis  will  wie 
die  folgenden  hervorheben,  daß  ein  Mann  wie  Idris  auch  nach  Verlust  seiner  Habe 
mehr  bedeute  als  Leute  gewöhnlichen  Schlages.     Zu  yä-fi  vgl.  80  Anm. 

89  Der  Umstand,  daß  hauya  Hacke,  Schaufel  und  zugleich  neben  dem  ent- 
lehnten asrin  20  bedeutet,  läßt  wohl  den  Schluß  zu,  daß  die  Hacken  ehedem,  wie 
heute  die  BaumwoUstreifen,  als  Zahlungsmittel  dienten.  Gemeint  sind  100  Kauri, 
in  deutscher  Münze  10  Pfennig. 

90  Das  Bild  vom  Schwert  wird  beibehalten  und  zum  Hinweis  darauf  ver- 
wertet, daß  Idris  den  Gast  nicht  mit  den  üblichen  Hühnern,  sondern  mit  Lamm- 
braten zu  bewirten  pflegte. 

91  Das  eben  Gesagte  bringt  den  Sänger  auf  einen  neuen  Vergleich  für  seinen 
Helden  und  dessen  Gegensatz. 

92  a)  Der  für  Idris  eintretende  junge  Freund  trägt  den  Namen  Ma-so  Kano, 
weil  seine  Mutter  während  ihrer  Schwangerschaft  nach  Kano  zog  und  ihn  dort 
gebar.  A  gdrma,  PI.  gdrmomi,  bei  M  gilmä,  ist  nicht,  wie  Mi.  ergibt,  ein  Pflug, 
sondern  eine  Hacke  mit  breitem  Eisen,  die  im  Gegensatz  zu  der  89  genannten, 
den  Boden  nur  geschoben  auflockernden  hauya  tiefe  Furchen  zieht  (=  fudd,  vgl. 
32,  53).  —  b)  M  schreibt  simge  (=  Mi.  R)  und  kar*  ahduga;  kafi  und  in  der 
1.  Zeile  köre  sind  Imperative  in  ähnlicher  Verwendung  wie  kos  75. 

93  Yayd,  d.  ältere  unter  Geschwistern,  ist  ein  Bomuwort;  im  H  heißt  der 
ältere  Bruder  sonst  wa. 


206  Rudolf  Prietze, 

M. 

94  Mälem,    äa-mii,    ka-Mi-mu, 
Meister,  zieh  uns,     führe  uns, 

Kogör  ta      Kanäwa       sa-mu     ie, 
Nach   „     dem  der  Kanoer  gehn  wir  gehn, 

95  gidä-m  Beki  da-m     Maisägo 
zu  Haus  dem  des  „     Sohnes  des  „ 

mai-yäna  haba-m       Bardu. 

habend  Schaum  Oheim  der  des   „ 

96  Koda      ydna      id-'i    wuyä, 

Ob  auch  Schaum  macht  Schwierigkeit, 

ha        a-resa  ydna     gün-Jca  ha. 

nicht  man  ermangelt  Schaum  Ort  dein. 

97  Mai-tüdu-n         däfawa,         habo-n     Guruea^ 
Habend  Hügel  den  Aufstützens  Oheim  der        „ 

mai-yäna  hahd-n     Isdu, 

habend  Schaum  Oheim  der     „ 

98  Mai-ddmhugu       ha-h    gangdu,  da-n    Addudu, 
Habend  Schlägel  nicht  du    Loch,     Sohn  der  Davids, 

kdr  Jca-büga       don     lämuni! 

daß  nicht  du  schlägst  wegen  Bürgschaft! 

99  Mai-hügn  da  hdgum  bügu  da  däma 
Habend  Schlag  mit  links  Schlag  mit  rechts 
sai  Beki,     dd-m       Maisägo. 

nur      „       Sohn  der  des   „ 
100  Arddu,    tue   na  däwa, 
Donner,  Brei  tut  Hirse, 
sinkäfa  na         so-n       tabo. 
Reis     tut  Lieben  das  Schlammes. 


94  a)  Mäl§m  s.  16,  25.  Sein  musikalischer  Begleiter,  an  den  Lied  C  ge- 
richtet war,  ist  gemeint.  —  b)  Kogör  ist  wie  Kankan  (82)  ein  kleiner  Ort  bei 
Qezdwa.  Städte  werden,  auch  wenn  sie  nicht  auf  a  endigen,  als  weiblich  behandelt. 
Der  Zusatz  ta  Kanäwa  unterscheidet  es  von  der  Fulbe-Siedlung  Kogör  ta  FtUäni. 
Die  Invasion  der  Fulbe  hat  eine  ganze  Reihe  solcher  Parallelorte  geschaflfen. 

!)5  a)  Bski  schwarz  ist  hier  Name  bezw.  Beiname,  der  wie  Duna  Leuten 
Yon  auffallend  dunkler  Hautfarbe  gegeben  wird.  Mai-zägo,  der  Name  seines  Vaters, 
bedeutet  nach  M  wörtlich :  Besitzer  eines  aus  vollem  Kücher  herausragenden  Pfeils 
oder  einer  vorragenden  Lanze,  vgl.  Mi.  R  edgo  Harpune,  Mi.  zdgö  (von  zage)  das 
Vorbeigehn.  —  b)  Ydna  ist  der  Schaum  auf  frischem  Indigo,  der  satte  Färbung 
verbürgt ;  alter  Indigo  hat  keinen  Schaum  mehr  und  färbt  matt.  Den  Namen  Ba- 
fdu  (von  bar  lassen)  deutet  A  als  überlebendes  Kind,  dessen  Geschwister  starben, 
M  wohl  richtiger  als  den  Sohn,  welchen  eine  verstoßene  Frau  nach  ihrer  Wieder- 


Haussa-  Sänger.  ^37 

M. 

Preislied  auf  den  Färbe  rJ5c^-<(Schwarz,  Mohr)  in  Kogör, 
eins  der  in  der  Einleitung  erwähnten  Handwerks-yafto. 

Dem  seiner  Geschicklichkeit  gespendeten  Lob  reihen  sich  Gleichnisreden  an, 
die  gleichfalls  auf  ihn  Bezug  haben  sollen:  100  f,  erläutert  die  Anziehungs- 
kraft, die  Leute  wie  Beki  auf  den  Sänger  üben,  102 — 104  die  schwierige 
Lage,  die  ihm  als  hilfsbedürftigem  Schafbock  oder  Hunde  daraus  erwachse, 
daß   er   die  Gunst   des  Löwen  ü^ki    der    der   Hyäne,   eines    Gegners    des 

Beki,  vorgezogen  habe. 

94  Meister,  leite  und  führe  uns, 

nach  Kogor,  dem  Haussa-Ort,  wollen  wir  ziehen, 

95  zum  Hause  von  Mohr,  Maizä-gd's  Sohn, 
dem  indigoschaumreichen  Ohm  des  Bafdu. 

96  So  schwer  der  Schaum  zu  gewinnen  ist, 
er  wird  bei  dir  doch  nie  vermißt, 

97  Guruza's  Ohm  mit  dem  Bühl,  der  dich  stützt, 
Ohm  Esau's,  der  Indigoschaum  besitzt, 

98  Sohn  David's,  der  nimmer  ein  Kleid  zerklopft, 
klopfe  nie  anders  als  gegen  bar! 

99  Mit  der  linken  Hand  und  der  rechten  dazu, 
80  klopft  nur  Mohr,  Muizägö'B  Sohn! 
(Gleichnisse  für  des  Sängers  Wahlverwandtschaft 

mit  dem  Besungenen:) 
100  Beim  Donner,  Hirse  gehört  zum  Brei, 
der  Reis  begehrt  morastige  Flur. 


anfiiahme   geboren  hat:    eine   Tochter   würde   in   solchem   Falle  Äbafa   genannt 
werden.    Vgl.  II 23. 

96  Zu  gun-lia  vgl.  guh  30.     M  schreibt  a  gidä-ii-lia  in  deinem  Hanse. 

97  Tüdu-n  däfavca  ist  das  Häufchen  Erde,  an  das  der  Gelagerte  sich  be- 
haglich lehnen  kann,  ein  Bild  für  den  Besitz,  von  dem  er  lebt.  Gurüza  nennt 
man  laut  M  ein  Kind  mit  großen  vorstehenden  Angen.   Bäbq^n  assimil.  aus  habä-n. 

98  Da-m  bügu  „Sohn  des  Schlages"  ist  nach  Mi.  ein  kurzer  Holzschlägel, 
mit  dem  man  frisch  gewaschenes  oder  gefärbtes  Zeug  schlägt,  um  es  glänzend  zu 
machen.  M  setzt  ha-k,  poetisch  verkürzt  aus  bä-ka  für  A's  ba ;  vgl.  17  Anm.  zu 
du.  Gangdu  (nicht  bei  Mi.  R,  bei  M  gaugau)  ist  das  Loch  im  Kleide.  A  Adaudu 
M  Daitdu  David  ist  der  Oheim  (vgl.  21),  da  ja  der  Vater  Maizdgo  heißt.  A  jfcor, 
M  Ical  für  kdda.  Zu  lamuni  vgl.  3,  28.  Es  ist  hier  der  Kredit,  den  der  Besteller  be- 
anspruchen möchte,  nicht  etwa  ein  Pfand,  das  Bski  vor  seiner  Arbeit  zu  geben  hätte. 

99  Btki  hat  in  jeder  Hand  einen  Schlägel  und  klopft  abwechselnd,  während 
andre  Färber  nur  mit  der  rechten  klopfen. 

100  Arädu  ist  wie  waVähi  68  ein  Beteunmgsruf.  Na  in  der  2.  Zeile  ist 
Hilfsverb,  bei  dem  das  Präfix  fehlt,  wie  bei  jfe'*  in  14.  22  f.,  in  der  1.  wohl  gleich- 


208  Kudolf  Prietze, 

101  Wäsd  na  so-n        karJcära, 

Spiel   tut  Lieben  das  der  Schalmei, 

ciki-n        jeäl      sai         ea-m     bakä. 
Bauch  der  Wildnis  nur  Kinder  die  Bogens. 

10J8  Yäu    ga     küfa    ga    mJci, 
Heut  sieh  Hyäne  sieh  Löwe, 
ga     ragö     a    gabä-n-su    can. 
sich  Widder  in  Brust  ihrer  dort. 

103  Ranä-n  hadan  woni  hm  läfia, 
Tag  den   wenn    Einer  ruht  (in)  Gesundheit, 

ranä-n      woni      bä        sa-i      gan-ta  ba. 
Tag  den  Anderer  nicht  geht  er  sehn  sie. 

104  Bän-da    kure   yä-sänsano 
Tag  den  Hund  er  schnüffelte 
tukünya  küra,    ya  fädd. 

Topf     Hyäne,  er   fiel. 

N. 

105  Alla  särki,       da-n       dmväki, 
Gott  König,  Sohn  der  der  Pferde, 

sdfo  mal  -  karefi  -  n     gabd! 

Falke  habend  Stärke  die  der  Brust ! 

106  Baldrabi-nä,  ga     M      reba    gardama, 
Araber  mein,  sieh  ihn  trennen  Streit, 

garä     ba  säka-l        äiki! 

Termite  gib  Änderung  die  der  Arbeit! 
a  6an    na-ga  käreß-n      mcia. 

in  dort  ich  sehe  Stärke  die  des  Herzens. 

107  Mai-demi      tara    ya-ki       jini-n        zakd^ 
Habend  Garbe  neun  er  haßte  Blut  das  der  Armensteuer, 
ga      mai-öku     na    nima     y§-i. 

sieh  habend  drei  tut  Suchen  er  macht. 


falls  Hilfsverb  mit  fehlendem  Präfix,  wobei  aus  der  folgenden  SQ-n  zu  ergänzen 
wäre,  könnte  jedoch  aurh  Demonstr.  mit  folgendem  Genetiv  sein.  Brei  wird  auch 
aus  Bohnen  bereitet,  mit  Vorliebe  aber  aus  Hirse. 

101  Karkdra  s.  im  Anhang  zu  den  Blasinstrumenten  in  der  Einleitung  be- 
schrieben. Die  Verbindung  mit  wäsa  zeigt,  daß  hier  karkdra  gemeint  ist,  nicht 
karkdra  bebautes  Feld,  an  das  man  wegen  des  folgenden  jeii  denken  könnte. 
£in  andres  bei  Mi.  genanntes  karkdra  Ausschaben  schreibt  M  kahl:dra. 

103  In  fana-w,  bei  A  r<tn  nun  aus  r^'^a  nan  (Tag  dort),  tritt  die  Bedeutung 
von  n,  n  als  Artikel  zu  Tage.  M  nennt  red-da  aus  ran-da  (104)  für  rf^^^c^-**  da 
als  gleichbedeutend  mit  rf^^fift-i*  kadan.   A  kun,  für  das  M  kwa  setzt,  ist  poetische 


Haussa  -  Sänger.  209 

101  Der  Kinder  Spiel  verlangt  Schalmei, 
die  Wildnis  herbergt  Jäger  nur. 

102  Nun  sieh  die  Hyäne,  sieh  den  Lenn, 
sieh  dort  vor  ihnen  den  Widder  stehn: 

103  Wird  Einer  sich  ruhigen  Wohlseins  freun, 
dann  wird's  der  Andere  nimmer  sehn. 

104  Und  roch  der  Hund  der  Hyäne  Topf, 
am  selben  Tage  ist's  aus  mit  ihm. 

N. 

Lob  eines  fröhlichen  Gebers,  des  Stallmeistersohns, 
und  Spott  über  dessen  reichen,  aber  geizigen  Stief- 
bruder. 
Der  Sänger  hat  jenem  die  Gunst  eines  Mädchens  gewonnen,  das  von  diesem 
begehrt  war,  und  verhöhnt  den  Verschmähten  mit  salbungsvollem  Trost, 
worauf    er    sich    selber    wie   in  5  f.    lachend    als  unausstehlichen  Plagegeist 

schildert. 

105  Gott  ist  König!     Stallmeistersohn, 
du  Falke  mit  der  starken  Brust. 

106  Mein  Weißer,  unbestritten  voran, 
Termite,  die  neue  Arbeit  schafft, 

da  seh'  ich  doch  des  Herzens  Kraft ! 

107  Zur  Spende,  die  der  Neungarbenherr  scheut, 
ist  er,  der  nur  drei  hat,  mit  Eifer  bereit 


Verkürzung  von  Jcwana  rasten.    Wöni-icöni  sind  I^öwe  und  Hyäne  in  ihrem  Wett- 
bewerb um  den  Widder;  der  Sieg  des  Einen  ist  der  Untergang  des  Andern. 

104  Sansano  schnüffeln  ist  bei  Mi.  und  R  nicht  genannt.  Dies  Sprichwort 
von  der  Todfeindschaft  zwischen  Hyäne  und  Hund  fällt  aus  dem  Rahmen  des 
vorhergehenden  heraus. 

105  a)  Alla  sarki  Eingangsfloskel.  M  schreibt  bald  sarki,  bald  safiki;  letz- 
teres sei  das  ursprünglichere.  Daicäki,  PI.  v.  dölci  Pferd,  ist  hier  nach  A  Eigen- 
name, laut  dem  sorgfältigeren  M  der  abgekürzte  Titel  des  Stallmeisters  am  Königs- 
hof, eigentlich  sariki-n  datcdki.  —  b)  Kafefi  Eisen,  Kraft,  dagegen  kaf^  tönerner 
Wassertopf. 

106  a)  Zu  balärabi  vgl.  58.  Die  beliebte  Wendung  fefta  gardama  besagt, 
daß  sein  Erscheinen  jeden  Streit  um  den  Vorrang  beendet,  weil  er  ersichtlich  der 
Erste  ist.  —  b)  Die  Termite,  deren  Zerstörungen  immer  wieder  ausgebessert  sein 
wollen,  .ist  ein  Bild  für  den  Krieger,  der  die  Zauber  des  Feindes  stets  zu  über- 
bieten weiß  und  zu  erneuern  zwingt.     Zu  ba  vgl.  kas  75. 

107  a)  Der  phraseologische  Sinn  von  jini  verdeutlicht  sich  in  der  Redensart 
näki  jini-n-aa  ich  mag  ihn  nicht  leiden,  wörtlich :  ich  hasse  sein  Blut.  Zu  yä-ki 
vgl.  80,  zu  na  vgl.  100.  Zaka  ist  die  Armensteuer  des  Koran.  —  b)  Von  nema 
ist  ye-i  abhängig  zu  denken:  er  trachtet  zu  ton. 


210  Rudolf  Prietze, 

108  Kömi-n  dädi-n         Idhira, 
Was  auch  Angenehmes  das  des  Jenseits, 
gado  da     Txüdi      yä  -  fi  -  ta. 

Bett  mit  Wanze  es  übertrifft  es. 

109  Kömi-n        dadl-n  da-n  tihä-n-Jca, 
Was  auch  Angenehmes  das  Sohnes  Vaters  dein, 

£!e-i        hatä        ma       zücia. 
geht  es  verderben  zu  (dir)  Herz. 

110  JBäwa,  ka-bär   fisi     da  ma-soyi: 
Sklave,      laß      Groll  mit    Lieb: 

kan      kä   -  resa  -  si,    Alla  ne    ha      i-bä-ka  ha. 
wenn  du  hast  vermißt  es,  Gott  ist  nicht  er  gab  dir. 

111  Bäwa,  ka-bär   fisi     sämu, 
Sklave,      laß     Groll  Erlangens, 

kan  kä-resä-si,  Alla  ne  ha  i-bä-ka  ha. 

112  Alla    ya-bai  da-n       dawakl; 
Gott   er  hat  gegeben  Sohn  dem  der  Pferde; 
sdura-n  sai      su-i  ciso  hannü. 

Rest  der  nur  sie  machen  Biß    Hand. 

113  Ni  ktirma-n  hankaka  na       Säi: 
Ich  taub  der      B.abe     der  des  „ 

a-na        kofä-n-ka,       ka-na    dirä. 
man  tut  Verjagen  dein,  du  tust  Herabhüpfen. 

114  Ni       Jcesfi       ci    fqska       na  -  zo, 

Ich  Ausschlag  iß  Gesicht  ich  bin  gekommen, 

ni    ne      särzQ-n         säkira,       ni     kora    6i    käi. 

ich  bin  Splitter  der  des  Hintern,  ich  Glatze  ist  Kopf. 

0. 

115  Kaddti    ba      ka-sän    ha  tä-sdn     da    zamd-ri-ha  ha, 
Wenn    nicht  du  weißt        sie  weiß  um  Weilen  dein, 
ka-san    tä-san    da    zamä-n-ka  ne. 

wisse    sie  weiß  um  Weilen  dein  (ist). 


108  Dieser  dem  Geizhals  zugeschriebene  Gedanke  parodiert  den  frommen 
Spruch  kömi-n  dät^i-n  dünia,  lähira  tä-ft-ta  so  wonnig  das  Leben  ist,  das  Jenseits 
ist  besser.  Kömi-n  hat  den  nämlichen  Artikel,  der  bei  domi-n,  domi-n  69  f.  auf- 
fällt. Zu  yä-fi-ta  vgl.  80.  Küdi  (Pfl.  u.  T.  57)  wäre  Homonym  zu  Jfeu^t  Gold, 
wenn  dies  nicht,  weil  aus  kurdi  hervorgegangen,  genauer  ku44*  lautete. 

109  Sinn :  Dein  Stiefbruder  ist  dir  trotz  seiner  Liebenswürdigkeit  ein  Dom 
im  Auge,  weil  er  mit  dir  erbt,  beide,  von  verschiedenen  Müttern,  haben  den- 
selben Vater;  doch  wird  nur  der  Jüngere  Stallmeistersohn  genannt,  weil  der  Vater 


Haussa  -  Sänger.  211 

(Von  hier  ab  richtet  sich  die  Rede  an  den  Stiefbruder:) 

108  Wär's  Jenseits  wonnig  noch  so  sehr, 
ein  Bett  voll  Wanzen  gilt  dii-  mehr, 

109  Dein  Stiefbruder,  ob  er  der  netteste  wär\ 
er  macht  dir  doch  das  Herz  nur  schwer. 

110  Knecht  Gottes,  laß  ab  vom  Groll  um  das  Lieb; 
entbehrst  du'ß  —   nun,  Gott  gab  dir's  nicht! 

111  Knecht  Gottes,  grolle  nicht  um  den  Besitz: 
entbehrst  du's   —   nun,  Gott  gab  dir's  nicht! 

112  Gott  gab's  dem  Sohne  des  Stallmeisters; 

da  kann  man  eich  nur  in  die  Hand  noch  beißen! 

113  Bin  ein  tauber  Rabe,  ich  Bruder  des  Schal: 
man  wird  gescheucht  —  und  man  hüpft  herbei! 

114  Als  Krätze  kam  ich,  das  Antlitz  zerfressend, 

bin  Splitter  im  Hintern,  bin  Haarschwund  am  Kopf, 

0. 

Klage,  bei  Fremden  denRückhalt  finden  zu  müssen, 
den  Verwandte  versagen. 

Die  Amede,    absichtlich    dunkel    gehalten,    um   nur   von  Eingeweihten  ver- 
standen zu  werden,   gilt   einem  Schwager,    der,   seit  er  reich   geworden  ist, 
sich  von  dem  Sänger  und  dessen  Frau,  der  Schwester  der  seinigen,  zurück- 
gezogen und  den  Ort  gewechselt  hat. 

115  Weißt  du  nicht,  daß  sie  nicht  weiß,  wo  du  weilst, 
so  wisse,  daß  sie  weiß,  wo  du  weilst 


erst  nach  Geburt  des  Älteren  zu  dieser  Würde  kam.    Zi-i  assimil.  aus  za-%.    Ma 
poi'tisch  für  tna-ka  dir. 

110  a)  Bdtca  für  bäwa-n  Alla.  Fisi  ist  der  stille  Verdruß,  haust  der  rach- 
süchtige Grimm.  Um  die  Anspielung  nur  den  Nächstbeteiligten  Terständlich  zu 
machen,  gebraucht  der  Sänger,  obwohl  es  sich  um  ein  Mädchen  handelt,  das  Masc. 
nm-üoyi,  nicht  ma-soyia.  —  b)  Kan  aus  kaddh  für  kaddn  wenn. 

111  Auch  mit  sämu  ist  das  Erlangen  der  Geliebten  gemeint. 

112  Sich  in  Hand  oder  Finger  beißen  ist  eine  landesübliche  Geberde  ohn- 
niät  htigen  Grimms. 

113  Attribute,  die  Farben  oder  leibliche  Mängel  ausdrücken,  werden  wie 
hior  kupna  mit  dem  Artikel  vor  ihr  Hauptwort  gestellt.  J§di,  Bruder  des  Sängers 
(vgl.  4),  hat  seinen  Namen  von  sa,  saye  trinken,  vermutlich  weil  er  als  Kind  eine 
Vorliebe  für  Kloßbrühe  hegte.  —  b)  Die  2.  Sg.  steht  häufig  für  unser  „man". 

114  Kssfi,  nicht  bei  Mi.  u.  R,  ist  ein  juckender  Ausschlag.  Zu  Ü  s.  kos  75, 
zu  kdi  s.  23. 

115  So  nach  M's  Konjektur.  .A.'s  Lesart  Kcidän  ka-sam  ba  ta-san  da  zätna- 
n-ka-sdm  ba,  ka-san  tä-sdn  da  zamd-n  ka-san,  wenn   du  weißt,  sie  wisse   nicht. 


212  Rudolf  Prietze, 

116  Kadän     ha      ha-sam     ma-lcori-n-ta  ha: 

Wenn    nicht  du  weißt  Bedeutung  ihre: 
kadän    ha     l'a-san     da    zamä-m-mu  ha, 

wenn    nicht  du  weißt  um  "Weilen  unser, 
mü  mu-n  sdn   da    zama-n-ka  ne. 
wir  wir  wissen  um  Weilen  dein. 

117  Nä-sa      gero      za-i       Ms-ni, 
Ich  trank  Hirse  geht  es  töten  mich, 

iäha      tä-i  mi-rd     mägani. 

Tabak  er  macht  für  mich  Heilmittel. 

118  Kadän     ba      ka-san      ma-kari-n-ta  ha: 

Wenn    nicht  du  weißt  Bedeutung  ihre: 

dengi-na        dük    zä-su       kds-ni, 
Verwandtschaft  mein  alle  gehn  sie  töten  mich, 

hare       sii-n  cece-ni. 

Fremde  sie  haben  gerettet  mich. 


P. 

119  Ba      don       künga-r         Ahda  ha, 
Nicht  wegen  Scham  der  (vor)  „ 

ahi-n      da       na-ke       so,        zd-m    fadä. 
Ding,  welches  ich  tue  wollen,  geh  ich  sagen. 

120  Mai-Öa         da       herici-n      ranä 
Habend  Mutter  mit  Schlafen  dem  Tages 

hä-ni        so-n-ta,       ha-n-na       ko      gaise-ta, 
nicht  ich  Lieben  ihr,  nicht  mein  sogar  Grüßen  sie, 

121  iiä-r        kinihihl,  ^egia, 

Mutter  die  der  Ohrenbläserei,  uneheliche  Tochter, 

uä-r        kitiko,      algüngamä, 
Mutter  die  der  Lüge,  Zwischenträgerin, 
ta-siga  däki  td-ßtä. 

sie  ging  hinein  Hütte,  sie  ging  hinaus. 

122  Mi  a-ka  hat  wa  hora'^ 
Was  man  gibt  zu  Nebenfrau? 

Böfa         hdüca-r      kiSUi. 
Nebenfrau  Sklavin  die  der  Mitfrau. 


das  Weilen,  das  da  weißt,  so  wisse,  sie  weiß  das  Weilen,  das  du  weißt",  ist  noch 
verzwickter.  Tö  geht  auf  die  Frau  des  Sängers,  wie  mu  im  folgenden  Verse  auf 
sie  und  den  Sänger;  zum  Tempus  vgl.  80.  Ne  (vgl.  40  f.)  scheint  hier  gegenüber 
der  Negation  des  ersten  Satzes  die  Bejahung  hervorzuheben. 


Haussa  -  Sänger.  213 


116  Und  weißt  du  davon  nicht  den  Sinn: 
Wenn  du  nicht,  wo  wir  weilen,  weißt, 
80  wissen  wir  doch,  wo  du  weilst. 

117  Kloßbrühe  trank  ich  und  starb  fast  daran, 
da  ward  mir  Tabak  zur  Arznei! 

118  Und  weißt  du  davon  nicht  den  Sinn: 
All  meine  Sippe  sann  mir  Tod, 

da  retteten  mich  Fremde. 


P. 

Schmählied  auf  eine  Verwandte   (die  für  das  vorige 

Lied  vorausgesetzte  Schwägerin?),  welcher  das  Los, 

von  einer  begünstigten  Nebenfrau  totgepeinigt  zu 

werden,  zugeschrieben  oder  gewünscht  wird. 

119  War'  mir  nicht  Scheu  vor  Abdu  bewußt, 
ich  spräche  mich  aus  nach  Herzenslust. 

120  Die  Tochter  von  der,  die  da  schläft  am  Tag, 
sie,  die  ich  nicht  leiden,  nicht  grüßen  mag, 

121  die  Mutter  des  Klatsches,  die  Bastardin, 
die  Mutter  des  Trugs,  die  Verhetzerin, 
von  Haus  zu  Haus  ging  sie  her  und  hin. 

122  Was  gibt  man  wohl  der  Nebenfrau? 
Sie  ist  die  Sklavin  der  Lieblingsfrau, 


116  Zu  n«  s.  vorige  Anm. 

117  Gero  Pennisetum  spicatum ;  hier  ist /"«rd,  der  daraus  bereitete,  in  Wasser 
oder  Milch  aufgelöste  Kloß,  gemeint.     Kas-,  auch  lian-ni  aus  kdse-ni,  vgl.  75. 

118  Bare  ist  bei  R  als  an  alien  angegeben. 

119  Abdu  ist  nach  A  ein  Vetter  des  Sängers,  nach  M  der  König  von  Kano 
(vgl.  Überschrift  zu  G).     Za-tn  für  zd-n,  weil  das  folgende  f  bilabial  ist. 

120  Hier  6a  wie  38,   121  u.  a.    Bä-ni  s.  5,  ba-n-na  s.  80. 

121  a)  Kinibibi  nach  A  Ohrenbläserei,  Klatsch.  Sege,  in  Kano  auch  sege, 
PI.  segu  (134),  im  Feminin  segia  (Kano  segia)  bedeutet  ursprünglich  uneheliches 
Kind,  dann  verkommenes  Geschöpf  und  ist  ein  beliebtes  Schimpfwort.  —  b)  Küikö, 
nicht  bei  Mi.  und  R,  ist  nach  A  Übertreibimg,  Aufschneiderei,  nach  M  Lüge. 
Algungumi  ist  der,  der  zwischen  Freunden  und  Verwandten  Zwietracht  sät  — 
c)  Ddhi  der  Einzelwobnraum,  daher  Stube,  Hütte,  vgl.  73. 

122  Hier  hat  ka  den  Sinn  des  Gewohnheitsmäßigen,  vgl.  86.  A  M  böra,  PI. 
boron,  ist  die  vernachlässigte  Gattin,  möa,  PI.  mooi,  die  Lieblingsfrau,  wofür  hier 
einfach  kisia  Mitfrau  (von  kisi  Eifersucht)  gesetzt  ist. 


214  Rudolf  Prietze, 

123  Baga       da  -  l  -  lauäe         sai         da  -  n  kori 

Von    Kind  dem  der  Sichel  bis  Kind  dem  des  Köchers 
si  a-ka  hai  wa  böra. 

124  Ta-sdre  daki-n       kisia, 

Sie  fegt  Häuschen  das  der  Mitfrau, 
ta-wonke     kaya-n       kisia. 
sie  wäscht  Zeug  das  der  Mitfrau. 

125  Kadäm  wonnän     ha      i-kas-ta  ha, 

Wenn         dies      nicht  es  tötet  sie, 
ta-cäsa       demi-n       gero  dafi. 
sie  drischt  Garbe  die  v.   „     hundert. 

126  Kadäm  ivonndn  ha  i-käs-ia  ha, 
ta-cäsa  demi-n  däwa  dafi. 

127  Kadäm  wonnän  ha  i-käs-ta  bä, 
ta  cäsa  demi-n  maiwä  dari. 

128  Kadäm  wonnän  ha  i-kns-ta  hä, 

ta-sö  ta-i  casa-n       dengifä, 

sie  kommt  sie  macht  Dreschen  das  der  Plachskapsel. 

129  Kadäm  wonnän  ha  i-käs-ta  ha, 
ku-dangäna,  Alla   ya-isä. 

harret,         Gott  er  genügt. 


130  Malern,    Mka-m        wäi     -    hakä, 

Meister,  Enkel  der  des  Herrn  des  Bogens, 
sa    güffimi,     sa    zifkia! 
setze       „      ,  setze  Saite! 


123  In  da-l  ist  l  nicht  feminin,  sondern  assimiliertes  n.  Da  drückt  hier  das 
Diminutiv  aus:  nur  das  winzigste,  wertloseste  wird  der  vernachlässigten  Frau 
gegeben  bezw.  vererbt. 

124  a)  Zu  däki  vgl.  121.  Im  Gehöft  des  (Utten  hat  jede  seiner  Frauen  ihr 
Häuschen.  —  b)  Wie  der  Artikel  zeigt,  reiht  sich  käya  in  seinem  Geschlecht  den 
unter  5  genannten  Wörtern  ein;  es  wird  ursprünglich  Last  bedeuten,  wohl  von 
kai  bringen,  sodann  Gerätschaften,  Sachen,  Zeug. 

1 25  flf.  Kadäm  aus  kaddn  vor  w.  Das  cdsa,  in  seinem  Zweck  unserm  Dre- 
schen entsprechend,  ist  das  Stampfen  der  Ähren  bezw.  Rispen  mit  einem  schweren 
Stößel  {täbafia,  PI.  tdbäre)  in  einem  großen  Mörser  {türumi,  PI.  türäme,  vgl.  15). 
Beide  bestehn  aus  Holz,  gewöhnlich  aus  dem  des  gamü  (Mi.  gan^ji  breitblättrige 
Kautschukbaumart)  oder  der  ka^änya  (Bassia  Parkii).  Das  Qualvolle  dieser  Tätig- 
keit ist  nicht  sowohl  die  Anstrengung,  als  die  dabei  aufsteigende  Spreu  {kaikai), 
die  aberall  in  die  Poren  eindringend  ein  unerträgliches  Jacken  erzeugt,  und  zwar 


Haassa  •  Sänger.  215 

128  Vom  Sichel-  bis  Köcherchen  —  kleinstes  nur, 
das  bietet  man  der  NebenfrarL 

124  Sie  fegt  das  Haus  der  Lieblingsfrau, 
sie  wäscht  das  Zeug  der  Lieblingsfrau. 

125  Und  richtet  dies  sie  nicht  zu  Grund, 
so  drischt  sie  Gero,  hundert  Bund. 

126  Und  richtet  dies  sie  nicht  zu  Grund, 
so  drischt  sie  Dawa,  hundert  Bund. 

127  Und  richtet  dies  sie  nicht  zu  Grund, 
80  drischt  sie  Maiwa,  hundert  Bund. 

128  Und  macht  auch  das  ihr  nicht  den  Garaus, 
so  kommt  und  drischt  sie  Flachssamen  aas. 

129  Hat  sie  auch  das  nicht  hingerafft, 

so  harrt!     Es  ist  Gott,  der  Genüge  schafft. 


Der  Sänger  äußert  sich  bitter  über  die  Fulbe,  die 
größtenteils  seine  Kunst  nicht  zu  schätzen  wüßten, 
sondern  ihn  darben  ließen,  und  ergießt  die  volle 
Schale  seines  Grimms  über  den  Fulbe-Bürgermeiater 

von  Dausai. 

Er  schildert  diesen,  der  ihm  beim  Streit  um  die  Jagdbeute  einen  Freund 
erschlagen   hat,    als  heruntergekommenen,    im  Schmarotzen    mit   ihm    selber 

wetteifernden  Kerl. 

(Die  "Wirkung   eingestreuter  Fulbe -Brocken,    denen  sich  unten  in  158    ein 

Fulbe  -  Sprichwort    anreiht,    versucht    die    Übersetzung    durch    französische 

"Wiedergabe  zu  veranschaulichen.) 

130  Meister,  des  Jägers  Enkelkind, 

schlage  die  Laute,  die  Saite  geschwind ! 


ist  dies  kaikai  bei  däxca  schlimmer  als  bei  gero,  noch  schlimmer  bei  mctiuia,  am 
schlimmsten  bei  dengifa.  Gero  (s.  117)  wird  höher  geschätzt  als  däica  (vgl.  100) 
das  Sorghum  vulgsü-e.  Näheres  über  beide  St.  626  ff.  Maiwa  ist  eine  weißliche, 
kleinkörnige  Hirseart,  von  B  als  Holcus  cemuus  bezeichnet. 

129  Mi.  ddhgatui  verpfänden,  versetzen ;  dahgäna  Pfand,  Sicherheit,  Geduld, 
Vertrauen.  Letzteres  bedeutet  bei  R  früh  verwaiste,  in  Pflege  gegebene  Kinder. 
Ku  geht  auf  die  Lieblingsfrau  und  den  Gatten.    Alla  yä-isa  s.  50. 

130  Diese  Anrede  findet  sich,  wie  hier  an  den  ersten  Musikus  seiner  Be- 
gleitung gerichtet,  schon  16  und  ähnlich  19.  In  19  wird  fortgefahren:  ka-Jcä4<i 
mini  yuj-fmi.    Hier  wurde  mir  sa  als  synonym  mit  kdda  angegeben. 

Kgl.  G«8.  d.  Wui.    KaehrichUn.    Ffail.-hiat.  Klasse.     1916.    Heft  2.  15 


216  Rudolf  Prietze, 

131  Nd-kada  fdke-n       segid, 

Ich  habe  geschlagen  Weise  die  der  Bastardin, 
ringi      täfce-n        ^Igß- 
Rest  Weise  die  des  Bastards. 

132  A   can    na-ga  wäzewd-r        gari; 
In  dort  ich  sah  Auseinandergehn  das  der  Stadt; 

riMa      tä-bä-ni, 
Brunnen  er  gab  mir, 
gugä   na    nema    ye-hi. 
Eimer  tut  Suchen  er  meide. 

133  MutmiQ-n  kireki    su-m  bide-ni, 
Menschen  die  (v.)  Güte  sie  haben  gesucht  mich, 

wöß  su-n  kore-ni. 

(v.)  Wertlosigkeit  sie  haben  verjagt  mich. 

134  Fulani-n        kireki    sü-n      tafi, 
Fulbe  die  (v.)  Güte  sie  sind  gegangen, 

su-m  bar-mu     da       segu  ed-n      kare. 

sie  haben  gelassen  uns  mit  Bastarden  Kindern  den  Hundes. 

135  Sai  käsua  „mi-dille", 
Nur  Markt 

da-n  kösdi  „mi-nydmö", 

Kind  das  Bohnenkloßes 

136  ed-r  ivoind  „mi-nyäme", 
da-n  fögo  „mi-nydme" , 

137  da-n  sötö  „mi-nydme", 
kuleJpuU  „mi-nydrnB", 

138  da-n  kilisi  „mi-nydms", 
da-n  tubdni  „mi-nydme", 


131  Take  bedeutet  nach  Mi.  Beiname,  nach  M  die  Kennzeichnung  nicht  so- 
wohl durch  das  Wort,  als  durch  die  musikalische  Weise,  also  eine  Art  Leitmotiv. 
Es  hängt  wohl  mit  täki  Tritt,  Fuß  zusammen  und  gelangt  zu  seinem  jetzigen  Sinn 
entweder  vom  Rhythmus  des  Tanzschritts  aus  oder  vom  Fuß  als  Maß  aufgefaßt. 
Zu  segiä,  segq  vgl.  121. 

132  Zu  wä^ewa  vgl.  Mi.  watse  sich  zerstreuen,  verziehen.  Es  bezeichnet 
hier  das  Auseinandergehn  der  Leute  angesichts  des  Sängers ;  sie  drücken  sich, 
um  nichts  geben  zu  müssen.  Mit  dem  Brunnen  ist  nach  M  der  Fulbe-Häuptling 
des  betr.  Orts  gemeint,  mit  dem  Eimer  (vgl.  57)  sein  Hofgesinde  gleichen  Namens. 
Zu  VM  nema  ye-ki  vgl.  107,  wo  die  gleiche  Konstruktion  vorliegt. 

133  a)  Bi4a  =  nema  suchen.  B,  der  den  d-Laut  noch  nicht  kannte,  schreibt 
hidda,  ähnlich  R  bid(d)a.  —  b)  M^oß  setzt  wohl  das  vorhergehende  mutane  -  h 
voraus  und  ist  dann  als  abstraktes  Neutrum  anzusehen;  wäre  es  Subjekt  ohne 
jene  Ergänzung,  so  würde  der  Plur.  des  Zeitworts  auch  den  des  Subjekts  fordern, 
der  wofufüka  lautot 


Hanssa  -  Sänger.  217 


131  Der  Hurentochter  spielt'  ich  sie  schon, 
nun  fehlt  noch  die  Weise  vom  Hurensohn. 

132  Dort,  seh  ich,  drückt  man  sich  insgemein; 
wohl  gab  der  Brunnen  mir,  allein 

der  Eimer  trachtet  mich  los  zu  sein. 

133  Die  Gnten  haben  nach  mir  begehrt, 
Nichtsnutzige  mich  abgewehrt. 

134  Die  guten  Fulbe  zogen  fort, 

ließen  nur  Huren-  und  Hundsbrut  uns  dort 

135  Nur  auf  den  Markt  kann  ich  „aller'^, 
ein  bißchen  Bohnenkloß  „manger'^, 

136  muß  Hirsekügelchen  „manger", 
ein  wenig  Knollenfrucht  „itianger", 

137  muß  Bohnenstängelchen  „ntanger", 
ein  Häppchen  Erdnußkloß  „maiujer", 

138  ein  Schnittchen  Trockenfleisch  ^wanger^, 
ein  bißchen  Bohnenbrei  „inavger", 


134  Fulani  ist  PI.  zum  Sg.  Bafulätani.     Zu  seyu  vgl.  121. 

135  ff.  Die  Zeitwörter  dieser  Verse  gehören  dem  Fulfxdde  an.  A,  der  es 
verstand,  sprach  diUe,  nyäme,  schrieb  aber  dinlai,  nyämai,  hatte  also  wohl  das 
auf  ai,  mundartlich  vielleicht  auch  auf  e  endende  l'utiir  im  Auge;  mi-diiU  hieße 
demnach:  ich  werde  gehn,  mi- nyäme  ich  werde  esseu,  vgl.  die  Lehrbücher  von 
Reichardt  und  Westermann.  Da  gibt  wie  in  123  dem  folgenden  Worte  Diminutiv- 
charakter, ebenso  136  das  Feminin  ^a-r,  für  das  M  hier  da-l  schreibt  statt 
seines  sonstigen  i-l.  Die  hier  angegebenen  Gerichte  sind  die  wohlfeilsten  und  am 
wenigsten  geschätzten  der  Haussa-Kücbe,  wie  der  Markt  sie  bietet.  Kösäi  nach  A 
gebackene  Klößchen  von  gestampften  Bohnen  und  Wasser,  nach  M  kleine  in 
heißem  Öl  oder  Scbibutter  gebackene  Klößchen  aus  Bohnenmehl. 

136  a)  Fa-r  s.  vorige  Anm.  Woind  (Mi.  wdinä)  gestampfte  Durra,  mit  Öl 
zu  kleinen  Kuchen  von  10  cm  Durchmesser  verbacken,  nach  Mi.  Pfannkuchen.  — 
b)  Bögo  (vgl.  53),  nach  St.  an  der  Küste  Cassawa  genannt.  Wenn  der  Volks- 
mund laut  Pfl.  u.  T.  12  dieser  Knollenfrucht  nachrühmt,  wer  sie  baue,  errege  den 
Neid  seiner  Verwandten,  so  hängt  dies  wohl  damit  zusammen,  daß  sie  laut  St.  634 
während  der  Trockenzeit,  bevor  Mais  und  Gero  (vgl.  117)  reif  werden,  nach  Be- 
darf aus  dem  Boden  gezogen  wird  und  stellenweis  das  Hauptnahrungsmittel  bildet. 

137  a)  Söto,  M  soto,  wird  von  Mi.  mit  kösai  (135)  identifizien  und  unter- 
scheidet sich  auch  nach  A  nur  insofern  davon,  als  kösai  in  runder,  söto  in  Stangen- 
form gebacken  wird.  —  b)  Kulekidi,  bei  Mi.  u.  R  nicht  angegeben,  bezeichnet 
die  Klöße,  die  aus  den  Rückständen  der  zur  Ölgewinnung  ausgepreßten  Erdnuß 
bereitet  werden  und  mit  Salz  vortrefflich  munden  sollen.  Vgl.  hiermit  das  von  3 
Centralafr.  Vokab.  S.  176  Anm.  7  unter  dem  Namen  p<ise  (Brechen)  beschriebene 
aus  der  bitteren  Mandel  bereitete  Nationalgericht. 

138  a)  Kilisi,  PI.  hUisosi,  die  getrockneten  Streifen  Fleisch,  die  als  Reise- 
Torrat  dienen.  —  b)  Tuhäni  ist  mit  Wasser  verrührtes  Bohnenmehl,  das  in  Mais- 
blätter eingewickelt  gekocht  ist.  Dieser  Verwendbarkeit  dankt  der  Mais  das 
Epitheton  mai-yewan  zane  der  mit  viel  Zeug  behaftete. 

15* 


218  Rudolf  Prietze, 

139  ea-r  gujid  „mi-nyäme", 
ea-r  tafasä  „mi-nyame"  — 

140  M  -  ji,  Fülani  wöfi, 
du  hast  gehört,    Fulbe    nichtig, 
„birawandu" ,      bä-su     da  kunya  ho  kaddn. 

nicht  sie  mit  Scham  ob  wenig. 

141  Kanäwa-n    Zaugdna     su-n  Jcird-ni, 
Kanoer  die  (v.)    „         sie  haben  gerufen  mich, 
Dausai    yä  -  köre  -  ni 

„         er  hat  verjagt  mich 
Dausai         mai-äa-r      tagta. 
„        habend  rot  die  Kappe. 

142  Mü-n  £e         gära     ni    da  käi, 
Wir  sind  gegangen  Gelage  ich  mit  dir, 

mu-n        wasoso     ni   da   käi, 
wir  haben  gegrapst  ich  mit  dir. 

143  MäJ§m      heki-m      mä-farauci, 
Meister  schwarz  der  Jäger, 
mai-kwdnta-kqriki. 

habend  Biesenknüttel, 
mai-kütumd     ka-ce       kgri! 
habend  Penis  du  sagst  Köcher! 

144  Mälgm  beki-m  md-zlaci! 
Meister  schwarz  der  dürftiger! 
Si  ne    ya-kas   Ättku, 

Er  ist  er  tötete       „ 
md-soyi-n      Danuma. 
Freund  den  des     _ 


139  a)  Gvjia,  M  guUa,  der  östliche  Name  für  Arachis  hypogaea  (vgl.  Pfl. 
a.  T.  14),  im  Westen  gyeda,  B's  yerkurga  ist  vielleicht  aus  (a-r  gujia  korrumpiert. 
—  b)  Tafasa  Kraut  mit  kleinen  Blättern,  die  im  Sommer  getrocknet  die  mia 
(Gemüsebrühe)  würzen,  im  Winter  grün  mit  Öl  und  Zwiebeln  in  Wasser  gekocht 
werden.     Es  gilt  für  wenig  bekömmlich,  Kost  armer  Leute,  vgl.  Pfl.  u.  T.  2. 

140  Das  Fulbe-Wort  hirawandu  ist  =  H  da-n  kari  Hundesohn.  Es  muß 
also  ein  Einzelner  gemeint  sein,  nämlich  Dausai  (141  ff.),  der  nach  seiner  Stadt 
benannt  wird  und  auf  den  schon  sege  in  181  vorausweist. 

141  Zaugdna  ist  eine  kleine  wenig  angesehene  Stadt  des  Kanogebiets,  von 
■der  man  sagt  ha  gaji  ha  ce  sai  kargö  da  sabdra  {kargo  u.  sdbara  s.  35),  d.  h.  es 
ist  gar  keine  Stadt,  sondern  nur  Busch  ~  also  rein  ländlich.    Dausai  Name  einer 


Haussa  -  Sänger.  219 

189  muß  ein  paar  Erdnüßlein  „manger'', 

ein  wenig  Schmalhanskraut  „manger'^  — 

140  Nun  weißt  du's,  Fulbe  taugen  nichts, 

„fils  d'un  chien^,  ohne  die  mindeste  Scham! 

141  Die  Haussa  Zaitgana's  riefen  mich, 
doch  Dausai  hat  mich  fortgejagt, 
Dausai  mit  der  dreckigen  Kappe. 

142  Zum  Gastmahl  zogen  wir,  ich  und  du, 
um  die  Wette  fraßen  wir,  ich  und  du. 

143  Du  schwarzer  Patron  der  Jägerei 

mit  dem  klobigen  Stock  und  dem  Glied  dabei  — 
man  meint  schier,  daß  es  ein  Köcher  sei ! 

144  Der  schwarze,  elende  Patron! 

Er  ist's,  der  Atiku  gemordet  hat, 
den  Trautgesellen  Danuma'B. 


Ton  Fulbe  bewohnten  Stadt,   hier  von  ihrem  Oberhaupt  gebraucht.     Tagia,   arab. 
taqiya,  weiße  Schweißmütze:  za  rot  bezeichnet  ihre  Unsauberkeit. 

142  a)  Gära  bei  Mi.  1)  gute  Mahlzeit,  2)  Morgengabe,  bei  R  Zugabe,  Ge- 
winn beim  Handel,  bei  M  Gastmahl,  wie  es  hier  vorliegt.  Da  gära  auch  besser, 
lieber  bedeutet,  liegt  die  Annahme  einer  frühen  Entlehnung  des  arab.  Jatr  nicht 
fern.  —  b)  Wasöso,  nach  Mi.  das  Grapsen,  ist  der  hastige  Wetteifer,  wie  beim 
Spiel,  so  bei  der  Arbeit  und  beim  Essen,  wie  hier.  Mu-ii  steht  in  poetischer 
Kürze  für  mu-n  yi  wir  haben  gemacht.  Der  Sänger  wirft  ihm  vor,  ein  ebenso 
armseliger  Schmarotzer  zu  sein  wie  er  selber. 

143  a)  MäJem  (vgl.  16)  ist  hier  höhnisch  gemeint.  Ferner  ist  befn  nicht 
Name  wie  95,  sondern  in  dem  Sinne  zu  verstehn,  in  dem  der  Neger  in  Nord- 
amerika seinesgleichen  bloody  nigger  nennt,  doppelt  verletzend  für  einen  Vertreter 
des  hellfarbigen  Fulbe-Volks.  Auch  md-farauci  Jäger  soll  hier  herabsetzend  wirken, 
im  Einklang  mit  dem  Sprichwort  mdfarauci  bä-si  da  kövii  sai  kamuka-n-sa  ein 
Jäger  hat  nichts  als  seine  Hunde.  —  b)  Zur  Deutung  des  rätselhaften  kicanta- 
köriki  bieten  Mi.  u.  R  keinen  Anhalt.  M  gibt  anheim,  ob  nicht  mi-kwQnto  a 
dkurki  sich  duckend  im  Hühnerkorb  gemeint  sei,  erklärt  indeß  auch  A's  Deutung 
„großer,  dicker  Knüttel"  für  haltbar.  Kwanta-kanki  oder  kwanta-korama  werde 
in  diesem  Sinne  für  sandd  den  gewöhnlichen  Stock  gebraucht  und  auch  allge- 
meiner als  Bild  des  Ungeschlachten,  so  in  der  Verbindung  ktcanta-koriki-n  döki 
Riesengaul,  kwanta-koriki-n  mutütn  Schlagetot,  kicanta-kofiki-n  tnace  Überweib  usw. 
Der  Knüttel  solle  den  Verspotteten  entweder  als  seine  Waffe  mit  Dieben  in  Pa- 
rallele stellen  oder  wie  kütuma  (nicht  bei  B,  Mi.  u.  R)  nach  einer  bekannten 
Wendung  als  einziges  Besitztum  gelten.  —  c)  Ka-ce  im  Sinne  von  „man  möchte 
sagen,  sollte  meinen**  H  L  38.  Unförmigkeit  der  Pudenda  ist  ein  beliebter  Vor- 
wurf in  Spottliedem,  vgl.  II 17. 

144  Danuma  s.  56.    AHku  ist  ein  Fulbe-Name  aus  dem  Arabischen. 


220  Rudolf  Prietze, 

B. 

145  Babdrbare      mai-suU,       and 

Bomuer,     habend  Glatze,    wo 
uwd-Jca       td-tafi       diba-n        yäkua? 
Mutter  dein  sie  ging  Suche  die  der  „ 

146  Babdrbare      da-m       Bornö      da-n     Gaiawa, 

Bomuer      Sohn  der  v.  „        Sohn  der  v.    „ 
§eg^  mai-hdsi-n      zaki. 

Bastard  habend  Kot  den  Schrotmehls. 

147  Babdfbare     da-m       Fanna  si  ne, 

Bomuer     Sohn  der  der  „       er  ist, 
ya-Jcdmu       gurmi-na  sa-i    zenka. 

er  faßt     Mandoline  mein  geht  er  zerreißen. 

148  2^a-ce:     akül     Jca-zenka    gmmi, 
Ich  sage:  Wenn  du  zerreißt  Mandoline, 

mä     -     i  fdda  da    alküli     sa-i      san     da  mu. 

wir  werden  machen  Streit  und  Richter  geht  er  wissen  mit  uns. 

149  Akul  ka-zenka  gurmi, 

mä     -     i  fdda  da  sariki  Bello  yä  -  gam  -  mu. 

wir  werden  machen  Streit  und  König      „      er  wird  sehen  uns. 

s. 

150  Nasan      sana-m        md-kej-i, 
Ich  weiß  Kamen  den  des  Schmiedes, 

nä-san      süna-m        md-kerd. 
ich  weiß  Namen  den  der  Schmiede. 

151  Ni    ne     Alla-n       segia, 

Ich  bin  Gott  der  der  Bastardin, 
ba      woni    ne  Alld-n-ta  ba. 
nicht  anderer  ist  Gott  ihr. 


146  a)  M  erklärt  suU  für  Glatze  (=  _ra  114)  und  bestreitet  A's  Wieder- 
gabe von  mairSuU  durch :  ohne  Hose.  —  b)  Statt  uwä-ka^  wie  man  in  Daufa  sagt, 
wäre  die  übliche  Kano-Form  uwä-r-ka  zu  erwarten ;  doch  werden  grade  von  diesen 
Femininzeichen  in  den  einzelnen  Landschaften  nicht  selten  eigne  und  fremde 
nebeneinander  gebraucht  (vgl.  106  säka-l  statt  säka-r).  Sonstige  Varianten  nach 
M :  Uicd-l-ka  in  Damdgaram  (Zindir),  uwd-r-ka  in  Azhcn,  uwa-t-ka  in  Ha^eia, 
uwo'k-ka  in  Kebbi,  uwa-n-ka  in  Sokoto.  YäktM  ist  nach  Mi.  ein  Kraut,  dessen 
Blätter  zur  Saucenbereitung  dienen;  vgl.  St.  649.  Es  ähnelt  nach  M  dem  Flachs, 
wird  in  Bomu  gern  zu  Brühe  verkocht,  gilt  aber  hei  den  H  wie  tafasa  (139)  für 
die  Kost  kleiner  Leute  in  schlechten  Zeiten. 

146  a)  M  schreibt  Ma-bdrbare,  eine  Dissimilation  aus  dem  regelrechten  Ba- 
häfbare.  Oaiawa  ist  eine  von  Bornuleuten  bewohnte  Stadt  im  H-Gebiet  unweit 
Oaia.  —  b)  Auch  die  Exkremente  müssen  zum  Spott  herhalten   (vgl.  1130),   hier 


Haassa  -  Sänger.  $^ 

s. 

Schmählied  auf  einen  Bornumann,   der  des  Sängers 
Mandoline  Cgurmi)  angefaßt  hatte. 

145  Du  BorDtunann  mit  der  Glatze,  sag', 

wo  ging  deine  Mutter  dem  Hungerkraut  nach? 

146  Kanuri  aus  Bomu,  aus  Gaiawa, 

du  Hurensohn  mit  dem  Graupenkot! 

147  Er  ist's,  der  Kanuri,  der  Fannasohn, 

der  mein  Saitenspiel  packt  und  zerreißen  will. 

148  Ich  sag'  dir:  Zerreißt  du  mein  Saitenspiel, 

gibt's  Streit  zwischen  uns,  und  der  Kadi  erfährt's. 

149  Wenn  du  mein  Saitenspiel  zerreißt, 

gibt's  Streit,  wo  uns  Belle  der  König  sieht 

8. 

Offene   Geständnisse   des   Sängers    über   seine  Lage 
und  Grundsätze,  also  Variationen  über  das  Thema: 
Wes  Brod  ich  esse,   des  Lied  ich  singe  —  und  umge- 
kehrt. 

150  Ich  weiß,  was  ein  Schmied  zu  bedeuten  hat, 
ich  weiß  auch,  was  für  Schmiede  es  gibt 

151  Der  Hurentochter  Gott  bin  ich, 

sie  hat  keinen  anderen  Gott  als  mich. 


in  Anspielung   auf  schlechte  Kost,   mit  der  die  Bomuleate  von  den  H  gehänselt 
werden,  vgl.  Bornulied  24. 

147  a)  Fanna  oder  FaniKüa,  beliebter  weiblicher  Name  in  Bomu,  auf  die 
Affin  übertragen,  gleichfalls  Gegenstand  der  Neckerei.  —  b)  M  futnka,  Mi.  tsunka 
zerreißen.     Gupni  s.  Einl. 

148  a)  Akul,  bei  Mi.  u.  R  nicht  angegeben,  soll  für  kadan  wenn  stehn ; 
man  könnte  es  sonst  für  arab.  aqül  halten.  —  b)  Mä  mit  zweigipfligen  Uochton 
ist  Futurbildung.     San  da  s.  38  f.,  115  ff. 

149  Wenn  mit  Bello  der  König  von  Kano  gemeint  ist,  so  wäre  dies  der 
Nachfolger  (s.  II 164  flF.)  des  zu  G  genannten  und  wohl  auch  1 19  gemeinten  Abdu, 
R  mithin  jüngeren  Ursprungs.  Von  yä  gilt  das  zu  148  über  tnä  gesagte.  Gam-mu 
steht  für  gani-mu. 

150  Mit  süna  ist  nach  M  nicht  der  Name  eines  bestimmten  Schmiedes, 
sondern  der  Typus  Schmied  gemeint,  der  bei  den  H  in  geringer  Achtung  steht. 
Die  Wendung  ist  aufzufassen  nach  Art  des  Sprichworts  Nä-sani  Fuläfula  märas- 
kirki,  nä-sani  lulani  masn-kirki  ich  weiß,  der  Fula  taugt  an  sich  nichts,  aber  ich 
kenne  auch  gute  Fulbe  (vgl.  134,  140).  Der  Sänger  will  sagen,  er  schätze  die 
Leute  nicht  nach  ihrem  Stande,  sondern  nach  ihrem  Wert,  d.  h.  dem  Wert,  den 
sie  für  ihn  haben. 

151  Hier  ist  segia  kollektiv  zu  verstebn;  M  setzt  den  PI.  (eigentlich  Dual) 
segiäi  und  demgemäß  nachher  Aüa-n-su.   A  erläutert  den  Vers  dorch  die  Angabe, 


222  Rudolf  Prietze, 

152  Kadäm        mai-hauta         yd-game-ni, 

Wenn     habend  Geschenk  er  schmähte  mich, 
ni    mai-röa      za-n     gamä. 
ich  Geizhals  gehe  ich  schmähen. 

153  Mai-Tiautd  nä-san  gidd-n-su, 
Habend  Geschenk  ich  weiß  Haus  ihr, 
si  Jcua     ha     i-san       na-mu  ha. 

er  auch  nicht  er  weiß  das  unsere. 

154  Gidä-m  mai-rÖa  nä-zane-si, 
Haus  das  des  Geizhalses  ich  quälte  es, 

hä-n-na  so-n         mai-so-n-sa       md. 

nicht  mein  Lieben  das  des  Liebenden  sein  auch. 

155  Güzu-n       termi,  ha-zö  ka-H: 
Boden  der  des  Mörsers,  komm  höre: 
zaya     in  -  gdia      md-ha  aljema. 
steh  daß  ich  sage  zu  dir  Rede. 

156  Gidd-ni     mai-röa      za-ku    ie, 
Haus  das  Geizhalses  geht  ihr  gehn, 
ku-n  ci  käme,  kwa  kiin  käme, 

ihr  eßt     (s.  Anm.)     schlaft, 

kudi-n     gisri    ma   su-n  ivuyd. 
Geld  das  Salzes  auch  sie  erschweren. 

157  Fulätanci  ne    ya-fadd, 

Fulisch      ist  es  hat  gesprochen, 
ha     i-yi  fada-n     käria  ha: 

nicht  es  macht  Spruch  den  der  Lüge: 

158  To  böte  ivoni,  dorn  mangöni, 
kam    bäbii  böte  ha  mangü. 
wenn  nichts  nicht. 

T. 

159  Ni     ha    ixifia  ha  na-ke    fadd, 
Ich  nicht  Lüge         ich  tue  Rede, 

juyi-n        dära       na-ke  fadd. 
Wechsel  den  der  Welt  ich  tue  Rede. 


die  betr.  Weiber  hätten  den  Sänger  beschworen,  sie  nicht  länger  zu  verspotten, 
und  sich  dabei  der  Wendung  u-räsek  bei  deinem  Haupt  statt  des  üblichen  wallähi 
bei  Gott  (vgl.  68)  bedient. 

152  Gama  s.  59. 

153  Sinn :  Für  mich  ist  wichtig,  wo  ich  Qeber  finde,  für  sie  gleichgültig, 
wo  ein  armer  Teufel  wie  ich  wohnt.  Der  PI.  su,  mu  gilt  den  Hausgenossea. 
Ba-n-na  s.  120. 


Haussa  -  Sänger.  223 

152  Wenn  der,  der  mich  beschenkt,  mich  schimpft, 
schimpf  ich  dafür  den  Greizigen. 

153  Ich  weiß  schon,  wo  ein  Geber  wohnt, 
doch  er  weiß  nicht,  wo  unser  eins. 

154  Des  Geizigen  Hause  schuf  ich  Pein, 
ich  mag  auch  den  nicht,  der  es  liebt. 

155  Komm  her  vmd  lausche,  Mörsergrund, 
laß  mich  ein  Wort  dir  künden. 

156  Geht  ihr  zum  Haus  des  Geizigen, 

speist  ihr  von  nichts  und  schlaft  mit  nichts, 
selbst  an  dem  Geld  für  Salz  gebricht's. 

157  Auf  Fulisch  gibt  es  einen  Spruch, 
der  redet  keine  Unwahrheit: 

158  Oü  ü  y  a  le  pourboire,  il  y  o  Ja  gloire; 
wo  kein  pourboire,  auch  keine  gloire. 


T. 

Angriff  auf  einen  Ungenannten,  der  die  Erwartungen 

des  Sängers  täuschend  ihm  Böses   erwiesen   habe   und 

den  er  dafür  als  schauerlichen  Unhold  hinstellt. 

159  Nicht  Trügerisches  rede  ich, 

vom  Wechsel  des  Irdischen  rede  ich. 


155  a)  Vgl.  15.  —  b)  Vgl.  86,  zu  n-gaia  noch  63. 

156  Die  Satzverbindung  ist  eine  poetische  Form  von  Bedingungs-  und  Folge- 
satz :  ersterer  steht  im  Fut.  ohne  einleitende  Konjunktion,  die  Nachsätze  im  Prät. 
¥rie  gewöhnlich ;  nur  bei  kwa  vermag  ich  nicht  zu  entscheiden,  ob  es  mit  M  als 
kua  „wieder,  auch"  aufzufassen  oder,  wie  A  will,  analog  dem  mä  in  148  als 
2.  PI.  des  Fut.  anzusehn  ist.  Zu  su-n  für  su-n  yi  vgl.  die  nämliche  Stelle  12. 
Das  bei  Mi.  u.  R  nicht  angegebene  käme  soll  zunächst  die  geschlossene  Hand 
dessen  bedeuten,  von  dem  eine  Gabe  erwartet  wird,  sodann  die  leere  des  vergeb- 
lich Bittenden. 

158  In  diesem  zu  gleichem  Zweck  wie  die  betr.  Wörter  135  ff.  französisch 
wiedergegebenen  Fulbe-Satz  ist  laut  den  Lehrbüchern  von  Reichardt  imd  Wester- 
maun  to  =  wo,  icotti  das  Verbum  substantivum,  das  in  mangöni  mit  tnangu  Ehre 
zusammengezogen  ist,  d{^i  =  dort.  Bote  erklärt  A  als  gleichbedeutend  mit  H 
mofi^  Gewinn,  Geschenk.  Kam  steht  für  kadan  wenn,  bä  (vielleicht  bäm?)  für 
bäbu.  A  nennt  erläuternd  noch  den  ähnlichen  Fulbe-Spruch :  Takungo  nostete, 
ngo  takdi  mostatäki  und  übersetzt :  Eine  Hand,  an  der  etwas  klebt  (z.  B.  Honig), 
leckt  man ;  wo  nichts  klebt,  leckt  man  nicht.  (Vgl.  hierzu  in  Westermann's  Lehr- 
buch: taka  klebe,  Part.  Präs.  taku,  Xeg.  der  1.  Prät.  Sg.  takäi;  musta  küssen, 
mediale  Intensivform  mustete,  Neg.  der  1.  Prät.  viustatäke.) 

159  Dära  s.  14,    Juy»  ist  Sahst,  zu  jüya,  iüya  s.  27. 


224  Radolf  Prietüe, 

160  Nd-dauki  kare     don    habsi, 
Ich  nahm  Hund  wegen  Bellen, 

yä  -  komo  ea-ya         i       iünkui. 

er  kehrte  zurück  geht  er  machen  Stoß. 
Iko-n  Alla  yä-isd. 

161  Dödo       mai-ci-n  ea-m     mütane, 
Spukgeist  Esser  der  Kinder  der  Menschen, 
kar  ka-ci  ea-m  mütane, 

sai      ka-gd  mai-siri-n  nenia-n         mata-ka. 

außer  du  siehst  Vorbereiter  den  Suchens  des  Weibes  dein. 

162  Dödo      ha    näina     yä-so      mUi-n       defS  — 
Spukgeist  gib  Fleisch  er  kam  Mann  der  der  Nacht  — 

zära  da    tä  -  san  -  ka, 

Altersgenossenschaft  all  sie  kennt  dich, 
wa      zdri     rikd    da  kai? 
wer  geht  er  halten  mit  dir? 

ü. 

163  Da-n       galadima,         da-n        sariki-)i     Kogor 
Sohn  der  Thronfolgers,  Sohn  der  Königs  von      „ 
Bello  ya-na   fama    da    ni. 

„      er  tut  Kampf  mit  mir. 

164  Bello,  kaiikdiva,    hd-iya    ado, 

„  schön       nicht  er  Prachtkleid, 

riga  ddiu   ma  ai    td-isd. 
Tobe   eine  auch       sie  genügt. 

165  Mai-imya      ye     takandd,         da-n        Saidu, 
Habend  Hals  wie  Zuckerrohr,  Sohn  der  des  „ 

ea-m       mäta    Gdbidu     su-ka      ce: 
Kinder  die  Weiber         „        sie  haben  gesagt: 


160  Komo,  gewöhnlich  Icömo,  hierher  zurückkehren  wird  wie  das  gleich- 
bedeutende wolngin  das  Kanuri  in  der  Bed.  werden  zu  etwas  gebraucht:  der,  den 
ich  zum  Haushund  nahm,  stellte  sich  als  Bock  oder  Stier  heraus.  —  Zum  Flick- 
vers am  Schluß  vgl.  50,  12!J ;  er  entspricht  als  Ausruf  wohl  dem  arab.  mäsallah. 
Jko  Kraft. 

161  Dödo,  ein  arger  Beiname  für  den  Angegriffenen,  ist  ein  böser  Dämon, 
wie  der  arab.  'Afrlt,  nicht  zu  verwechseln  mit  »Myi,  mäye  Zauberer,  Werwolf. 
Tötet  mäyi  durch  den  bösen  Blick,  so  dödo  durch  Schrecken.  Daher  heißt  >}%, 
überhaupt  viel  öfter  bildlich  gebraucht  als  unser  essen,  liier  töten.  Kar  daß  nicht 
8.  20.     Zu  matä-ka  vgl.  145  utcä-ka. 

162  a)  Ba  näma  „gieb  Fleisch'*,  ein  Epitheton  des  .lilgers,  weil  er  von 
seinem  Wildpret  andern  mitteilt,  wird  hier  dem  Menschenjager  beigelegt.  Mizi-n 
deri  ist  der  nächtlich  auf  Kaub  Ausgehende.  —  b)  Das  von  Mi.   durch  Alters- 


Uaussa  -  Säuger.  225 

160  Ich  hab'  einen  Hund  für's  Bellen  genommen, 
da  ist  er  als  stößiger  Bock  gekommen.   — 
Genugsam  waltet  Gottes  Macht  I 

161  Spukgeist,  du  Mörder  der  Menschenkinder, 
BD  morde  doch  nicht  die  Menschenkinder, 

du  sähst  denn,  man  stellt  deinem  Weibe  nach. 

162  Als  Nachtschächer  kam  er,  der  Mordgesell  — 
alle  Gefährten  kennen  dich, 

wer  hielte  es  wohl  je  mit  diil 

Ü. 

Preislied  des  Sängers  auf  seinen  schönen  Freund  ^§?io 

von    Kogqr   (s.  M.)    und    dessen   Geliebte   Al^umma   mit 

anschließender    Verhöhnung    eines    ungenannten    von 

ihr  verschmähten  Bewerbers. 

Diesem    wird   eine   Anzahl   angeblicher   Zaubermittel   empfohlen   und   seine 
Unzulänglichkeit   betont.     Zum  Schluß  Mahnung   an  das  Liebespaar,    nicht 

zu  weit  zu  gehn. 

163  Des  Erben  Sohn,  Sproß  des  Herrn  von  Kogqr, 
B§llo  müht  sich  im  Kampfe  für  mich. 

164  Bello  der  Schöne  braucht  keinen  Prunk, 
ein  einzig  Kleid  genügt  ihm  schon. 

165  Sohn  Satd's  mit  dem  Halse  schlank  wie  ein  Rohr, 
die  Mädchen  Gdbidus  sprachen  zu  dir: 


genösse,  Gefährte  wiedergegebene  ^ära,  Mask.  u.  Fem.,  steht  hier  kollektiv.  Du 
(vgl.  17)  wäre  vielleicht  auch  hier  besser  dut  (für  duk  vor  t)  zu  schreiben.  — 
c)  Mi.  übersetzt  nka,  wie  er  unrichtig  schreibt,  mit  beständig  etwas  tau,  anfangen, 
fortfahren,  machen,  rike  mit  halten,  festhalten  =  R  rik(k)e,  r%k(k)a.  Hier  ist  mir 
M's  Deutung,  laut  welcher  die  3.  Zeile  gleichbedeutend  ist  mit  wa  ze-i  gasa-l-ka 
„wer  wird  dich  nachahmen",  zweifelhaft. 

163  a)  Galadlma,  ein  Bornuwort,  ist  meist  der  Titel  des  Tronfolgers  (näheres 
zu  II 195) ;  das  zweite  da  bedeutet  mithin  Enkel.  —  b)  Fama  ist  der  Kampf,  den 
Bello  für  den  Sänger  mit  den  Seinigen  führt,  ihm  Geschenke  und  Ansehn  zu  ver- 
schaffen. 

164  a)  Die  Bildung  kaukäica  von  kau  (kgau),  kätco  Schönheit  findet  sich  bei 
Mi.  u.  R  nicht.  Zu  ba-iya  vgl.  32.  Ado  ist  bei  Mi.  Verzierung,  Anzug,  bei  R 
prächtige  Kleidung.  —  b)  Die  Partikel  ai,  nach  Mi.  Ausruf  der  Verwunderung, 
nach  R  u.  A  =  wirklich,  wahrhaftig,  tindet  einheimische  Anlehnung  an  a-i  man 
macht.  Die  Verwendung  solcher  Wörtchen  mag  mundartlich  verschieden  sein;  so 
verzeichnet  Mi.  kai  als  Aufruf  des  Abscheus,  Schreckens,  während  es  nach  M 
nur  sagen  will:  Nein,  es  ist  nicht  so. 

165  f.  Ea-ni  müta  „Kinder  der  Frauen"  sind  junge  Mädchen;  man  vermifit 
am  Schluß  den  Pluralartikel  n.    Gdbidu  Stadt  im  Kanogebiet.    Dorthin  hatten  die 


226  Rudolf  Prietze, 

166  In  -  deka  ma-lca     ko      in  -  nika         ma-ka, 
Daß  ich  stampfe  für  dich  oder  daß  ich  mahle  für  dich, 

in-däma        ma  gäri     ka-sä? 
daß  ich  rühre         Mehl  du  trinkst? 

167  Aiita      yäro    kankane, 
Jüngster  Knabe  kleiner, 

ma-sd    nönö  zinäria, 
trinkend  Brust  Gold, 

168  döngore     sa     mamä, 
Säugling  trink  Mutterbrust, 
gqrzo^  na     Alzümmal 

Kerl    der  der     „ 

169  Sanü-n-ki,  ^a  -  r         -Bt«,         ea  -  r     mäl^m  MagaH, 
Gruß  dein,  Tochter  die  des   „  ,  Nichte  die  Meisters     „ 

güva,  ea-r       Maisägo. 

Elephant,  Nichte  die  des    „ 

170  Yä-sa     däri,     yä-sa  hai:i-n        düfti  — 

Er  trank  Kälte,  er  trank  Schwarz  das  der  Finsternis   — 
AUumma     tä    -     kl       da  •  n        yäro. 

„  sie  lehnte  ab  Sohn  den  des  Knaben. 

171  Ka-sö     in  -  gaia       mä-ka  mägani : 
Komm  daß  ich  sage  zu  dir  Mittel: 
Ka-nemi       haka^r      belbela, 

suche      schwarz  den  Kinderhüter, 
17J3   ka-nemo     käuci-n       kanya, 
Suche  dir  Mistel  die  der  „ 
ka-nemi    Mni-n  fara  hiar. 

suche     Blut  das  Heuschrecken  fünf. 
173  Ka-äe      ka-deho      kauci-n       kaidaäi 
Geh     pflücke  dir  Mistel  die  des  „ 
na  Kuäfa,  ka-sö      mu-i         säwari. 
des    Niger,    komm  wir  machen  Rat. 


jungen  Leute  von  Kogör  einen  magi  (nicht  bei  Mi.  u.  R)  ausgeführt  d.  h.  einen 
Vergnügungsausflug,  wie  er  von  einer  Schar  junger  Burschen  und  Mädchen  gern 
nach  der  Ernte  unternommen  wird,  und  die  Jungfrauen  von  Gdbidu  hatten  gewett- 
eifert, den  schönen  Bello  zu  verpflegen,  sei  es  mit  furä,  dem  Hirsekloß,  der  in 
Wasser  oder  Milcl»  gelöst  zur  Erfrischung  während  der  Tageshitze  getrunken 
wird,  sei  es  mit  tüo,  dem  Mehlbrei,  der  das  abendliche  Hauptgericht  bildet,  vgl. 
St.  627.  Dieser  tüo  wird  durch  feines  Mahlen  aus  däwa  hergestellt  (s.  100),  die 
fura  durch  Stampfen  aus  einer  andern  Hirseart;  däma  bezeichnet  das  Einrühren, 
wodurch  die  fufd  trinkbar  wird.  In-deJca,  in-nika,  in-däma  Konjunktive  vgl.  68. 
Ma  poetisch  statt  md-ka  für  dich. 


Haussa  -  Sänger.  227 

166  Soll  ich  stampfen  oder  mahlen  für  dich, 
soll  ich  Mehl  einrühren  dir  zum  Trank? 

167  Du  jüngstgeborenes  Knäblein, 
an  goldenem  Busen  genährt, 

168  du  Säugling,  erstarkt  an  der  Mutterbrust, 
du  Hüne,  der  AUumma  Lust! 

169  Heil,  Tochter  Affe's,  dir,  Elephant, 

des  Lehrers  Maga^,  JMaizdgo's  Nichte! 

170  Er  litt  die  Kälte,  das  Dunkel  der  Nacht  — 
doch  Aläununa  mochte  das  Bürschlein  nicht. 

171  Komm,  laß  mich  Zauber  dir  nennen: 
Den  schwarzen  ßinderhüter  suche, 

172  such'  dir  der  Kanya  Mistel, 

von  fünf  Heuschrecken  such'  das  Blut. 

173  Geh,  pflück'  dir  die  Mistel  des  Rosenbaums 
vom  Nigerstrom;  komm,  pflegen  wir  Rats! 


167  a)  Zu  auta  vgl.  57  f.  —  b)  Die  goldne  Mutterbrust  versinnbildlicht  die 
Abkunft  aus  wohlhabendem  Hause. 

168  a)  Böngore  (nicht  bei  Mi.  u.  R)  ist  ursprünglicb  der  wohlgeptiegte  Säug- 
ling und  wird  gern  auch  auf  kraftstrotzende  Männer  übertragen,  wie  z.  B.  in  dem 
für  starke  Krieger  beliebten  Beiwort  dongore  ci  savri  (für  samri)  =  Säugling, 
iß  (d.  h.  töte)  Jünglinge.  —  b)  Görzo,  PI.  göraze,  ist  der  baumstarke  Mann,  vgl. 
Mi.  görzo  athletisch,  sehr  kräftig,  ursprünglich  Mann  im  besten  Alter.  Na,  das 
vor  weiblichen  Namen  meist  den  Bruder  (vgl.  4),  seltner  den  Gatten  bezeichnet, 
geht  hier  auf  den  Geliebten.  AHumma  „die  Freitags  Gehörne"  nach  M  mit  mm 
gesprochen. 

169  Ea  (vgl.  8)  kann  nur  im  1.  Fall  Tochter  heißen,  in  dem  folgenden  ist 
es  Nichte  (vgl.  98).  Der  Name  Biri  Aflfe  haftet  manchem  seit  seiner  Kindheit 
wegen  damaliger  Neigung  zu  Unfug  an.  Magazi,  hier  Eigenname,  bedeutet  Erbe. 
Maizdgo  s.  bereits  95,  99.  Sein  Sohn,  der  dort  besungene  Färber  Biki  von  Kogör, 
mag  also  ein  Vetter  der  Alzumma  sein.  Schon  14  wurde  ein  Weib  ehrend  mit 
einem  Elephanten  verglichen;  hier  der  Größe  und  Stärke  wegen. 

170  In  da-n  yäfo  gibt  da  Diminutivcharakter.  Der  unglückliche  Liebhaber 
ist  ein  unansehnlicher  Jüngling,  der  nächtlich  ihr  Haus  umschlich  und  nun  des 
Sängers  Spott  erfährt. 

171  Baku  Fem.  zu  beki.  Zu  in-gaia  vgl.  63.  NB  es  gibt  nur  weiße  Rinder- 
hüter, vgl.  54. 

172  f.  Während  es  Heuschreckenblut  ebensowenig  gibt  wie  schwarze  Rinder- 
hüter, ist  die  Schmarotzerpflanze  kauci  (näheres  Arzneipfll.  der  H  56)  den  genannten 
Bäumen  nicht  fremd,  nur  sehr  schwer  zu  erlangen.  Kanya  ist  Diospyros  mespüi- 
formis  (nach  St.),  kaidazi  ein  dorniger  Baum  mit  rosenartigen  Blüten.  Das  o  in 
nemo  und  debo  läßt  die  Handlung  zu  Gunsten  des  Handelnden  bezw.  zu  seinem 
Orte  hin  geschehn. 

173  Kuära  ist  der  auf  der  Karte  ehedem  ungenau  als  Quorra  verzeichnete 
H-Name  des  Niger;  man  schildert  ihn  als  eine  große  Masse  schwarzen  Wassers 
fern  im  Westen. 


228  Rudolf  Prietze, 

174  Yäro     ha-iya       iya     yäro, 
Knabe  nicht  er  können  Knabe, 
güf^gn     ha        jsa-i     kos    gada   ha. 
Lahmer  nicht  geht  er  töten  Gazelle. 

175  Güregu  ha  sa-i  kas  gada  ha  — 

sai    kwäna    yä-kärc. 
außer     Tag     er  ist  beendet. 

176  Koda     kwana    ya-cikä, 
Ob  auch     Tag     er  ist  erfüllt, 
masu-kafä      sua  -  koäce. 
Beinbesitzer  sie  werden  wegnehmen. 

177  Makafo    ha       se-i        samako    ha, 
Blinden  nicht  geht  er  Frühaufbruch, 

sai    ko  käria   sa-ye      i, 
außer  ob    Lüge  geht  er  machen. 

178  Makafo  ha  ze-i  samako  ha, 

sai        äa-gora      ya-na,  gabä. 
außer  Zieh-Bambus  er  tut  vorn. 

179  Ko  äa-gora  ya-nä  gahä, 

sai       hanzi      ya-tdke, 
außer  Vormittag  er  ti'itt. 

180  Küturii     ya-hau  kdia    ye-ce: 
Aussätziger  er  stieg  Dorn  er  sprach: 

Kinni         za-a  yi        se        a-yi. 

Was  auch  geht  man  machen  nur  man  macht. 

181  Küturii     yä-sa       deß  ye-ve: 
Aussätziger  er  trank  Gift  er  sprach: 
Komi  za-a  yi  se  Or-yi. 

182  Zumu  zmrimuä  tie,  dddi  gare-si, 
Genosse  Honig,  ist  Lieblichkeit  bei  ihm, 

käda        ka-läse,    bar    kaddn. 
daß  nicht  du  leckst,  laß  ein  wenig. 


174  a)  Zu  yäro  etc  vgl.  II 147.  Auch  ist  dau(ka)  heben,  tragen  zu  ergänzen. 
—  b)  Nach  A  ist  gürugu,  PI.  gürägu,  der,  welcher  keine  Füße  hat,  nach  Mi. 
gwrgu,  PI.  güragü,  einfach  lahm,  ebenso  nach  M  und  11.     Zu  kas  vgl.  75. 

175  Kwäna,  Masc.  wie  r<*na,  hier  Tag  im  Sinne  von  Lebensdauer. 

176  Zu  dem  Futurpräfix  sua  vgl.  «ja  148,  auch  kwa  156. 

177  &)  Zi-i  und  das  zd-ye  i  der  2.  Zeile  weiclien  nur  in  Folge  der  Forde- 
rungen des  Rhythmus  von  einander  ab.  Samako,  Mi.  samdko,  A  sanmako,  R  sau- 
mako  wird  von  R  auf  das  arabisclie  ßabä^  zurückgeführt,  eine  Vermutung,  die 
in  M'8  Nebenform  sabko  eine  StJütze  findet.    Zu  dem  vokalischen  Schluß  bei  Ent- 


Haassa  -  Sänger.  229 

174  Ein  Knabe  trägt  keinen  Knaben, 
ein  Lahmer  erlegt  die  Gazelle  nicht. 

175  Ein  Lahmer  erlegt  die  Gazelle  nicht, 
es  sei  denn  ihr  Leben  vollendet 

176  Und  wäre  auch  ihre  Zeit  erfüllt. 

auf  Beinen  niu-  kann  man  sie  haschen. 

177  Ein  Blinder  macht  nie  in  der  Frühe  sich  auf, 
er  müßte  denn  lügen  wollen. 

178  Ein  Blinder  macht  nie  in  der  Frühe  sich  auf, 
es  sei  denn,  der  Rohrschlepper  schreite  vorauf. 

179  Und  schreitet  der  Rohrschlepper  auch  vorauf, 
es  trifft  ihn  Vormittagssonne. 

180  Der  Aussätzige  trat  auf  Domen  und  sprach: 
Das,  was  geschehen  soll,  geschieht. 

181  Der  Aussätzige  trank  Gift  und  sprach: 
Das,  was  geschehen  soll,  geschieht. 

182  Der  Freund  ist  Honig,  voll  Süßigkeit, 
doch  leck'  ihn  nicht  auf,  laß  etwas  zurück! 


lehnungen  aus  dem  Arabischen  vgl.  28.  —  b)  Piese  2.  Zeile  findet  sich  manchmal 
formelhaft  hinter  einem  negativen  Satz,  z.  B.  II  1-18,  ist  auch  in  A's  Handschrift, 
wohl  versehentlich,  dem  Vers  174  angehängt. 

178  Mit  za-göra  „zieh  den  Bambus"  ist  der  Führer  gemeint,  der  mit  dorn 
einen  Ende  des  Rohrs  in  der  Hand  vorangeht,  während  der  Blinde,  das  hintere 
fassend,  folgt.  Die  Bildung  entspricht  dem  italienischen  fa  legname,  vgl.  auch 
75,  106. 

179  Hanzi  nach  B  Morgen,  Zeit  vor  der  großen  Hitze,  nach  Mi.  die  Zeit 
von  8 — 9  ühr  Morgens,  nach  A  (Tierm.  III 17)  die  Zeit,  wo  man  die  Pferde  tränkt, 
etwa  3  Stunden  vor  Mittag,  nach  M  etwa  2  Stunden  nach  Sonnenaufgang.  Take, 
ursprünglich  treten,  wird  auch  vom  Eintreten  einer  Tageszeit  gebraucht. 

180  Hau  hier  =  trat:  der  Aussätzige  fühlt  die  Verletzung  nicht.  Te-ce 
stehend  für  das  zu  erwartende  ya-ce  des  Aorist,  das  ich  nie  gehört  habe;  dagegen 
yd-ce  Perf. :  er  hat  gesagt.     Se  hier  für  das  gewohnte  sai. 

182  Hier  wird  Alzumma  ermahnt,  die  Freigebigkeit  ihres  Liebhabers  nicht 
zu  sehr  auszubeuten.  Das  Wortspiel  am  Anfang  entzieht  sich  der  Wiedergabe. 
Zutnu  ist  Bruder,  Landsmann,  zumtnua  (so  nach  A,  M  und  B)  Honig,  Mi.  ver- 
zeichnet züma,  zümutcä  als  Biene  und  Honig,  während  B  für  Biene  kuda-n  zum- 
mua  =  Honigfliege  angibt;  ähnlich  R  ztima  oder  zumua  Honig,  kudan  zumua 
Biene.  Läse  lecken  ist  wohl  eine  Umgestaltung  des  betr.  arab.  Stammes.  Es  Hegt 
hier  übrigens  eine  schwerlich  zufällige  Übereinstimmung  vor  mit  einem  von  Spitta 
in  seiner  Grammatik  des  arab.  Vulgärdialekts  von  Ägypten  nach  Tantavy  mitge- 
teilten Sprichwort  (Nr.  3) :  In  kän  sajjihak  'asal  md  tilhasuhs  kuUuh  wenn  dein 
Freund  Honig  ist,  so  lecke  ihn  nicht  ganz  auf.  Vgl.  auch  Littmann-Singer,  Arabic 
Proverbs,  Cairo  1913,  S.  1  f. 


280  Rudolf  Prietze,  Haussa- Sänger. 

183  Älla   ya-kdi    damo  ga  haräwa, 
Gott  er  bringt   Tirol    zu  Bohnenranke, 
]co     ha    i-ci  ba,    ya-sänsand. 

ob  nicht    er  ißt,    er  hat  gerochen. 

184  Ku-i    mi-ni      aiJci-n      gdfara, 
Macht  zu  mir  Arbeit  die  der  Verzeihung, 
sai    wota    räna     nid  -  gamü! 

nur  andern  Tag   wir  werden  zusammentreffen. 

183  Gott  führt  zur  Bohnenranke  den  Molch, 
und  frißt  er  auch  nicht,  er  roch  doch  daran. 

184  Nun  seid  bemüht,  mir  zu  verzeihn! 
Auf  Wiedersehn  ein  andres  Mall 


183  Das  sprichwörtliche  Gleichnis  vom  Urol  {damo,  PI.  damomi  u.  damuna) 
und  der  Bohnenranke  {haräwa,  PI.  haräfowi),  ähnlich  schon  in  Pfl.  u.  T.  74,  dient 
als  Bild  für  das  besungene  Liebespaar  und  enthält  einen  versteckten  Wink  für 
den  Liebhaber,  sich  in  Schranken  zu  halten.  Lockere  Verhältnisse  dieser  Art, 
die  gewöhnlich  auf  keine  Ehe  abzielen  und  gewisse,  für  europäische  Begriffe  recht 
weit  gezogene  Grenzen  beobachten,  sind  in  den  Haussaländern  sehr  verbreitet  und 
werden  ?drence  genannt ;  Mi.  gibt  dies  Wort  ungenau  durch  unzüchtige  Handlung 
wieder.     Zu  sänsana  riechen  vgl.  104  sansano;  M  schreibt  hier  sinsina. 

184  Diese  Schlußbitte  des  Sängers,  seine  freien  Reden  zu  verzeihen,  stand 
in  A's  Niederschrift,  wohl  aus  Versehn,  vor  dem  vorigen  Verse.  Zu  mä-gamu 
vgl.  148-,  sai  WQta  fäna  entspricht  dem  französischen  ä  bientöt. 


Ursprung    und   Text   von  Marculfs   Formelsammlung. 

Von 

Bruno  Krosefa. 

Vorgelegt  von  W.  Meyer  in  der  Sitzung  vom  26.  Februar  1916. 

Wohl  keine  Quelle  führt  uns  den  Betrieb  der  merovingischen 
Verwaltung  in  so  lebensvollen  Bildern  vor  Augen,  wie  die  Formel- 
gammlung  des  Mönches  Marculf,  die  reichhaltigste,  systematisch 
geordnetste  und  verbreitetste  unter  den  fränkischen  Sammlungen 
dieser  Art,  und  ihre  Bedeutung  für  die  Kenntnis  des  königlichen 
und  privaten  Kanzleiwesens  ihrer  Zeit,  wie  der  damaligen  Rechts- 
zustände überhaupt,  aber  auch  ihr  Einfluß  auf  die  frühe  karolin- 
gische  Kanzlei,  die  sie  als  offizielles  Muster  benutzte,  rechtfertigen 
vollkommen  das  große  Interesse,  welches  die  Forschung  von  jeher 
an  der  Person  des  ebenso  verdienten  wie  bescheidenen  Mannes  ge- 
nommen hat,  dem  wir  sie  zu  verdanken  haben.  Auf  Geheiß  eines 
Bischofs  Landerich  stellte  Marculf  im  Alter  von  über  70  Jahren 
mit  zitternder  Hand  und  halb  erloschenen  Augen  die  Formeln  für 
die  Greschäfte  bei  Hof  und  im  Gau  auf  Grund  wirklich  ergangener 
Akten  zusammen,  und  indem  er  viel  weiter  ausgriff,  als  ihm  aufge- 
tragen, hatte  er  den  Unterricht  der  Knaben  im  Auge,  schrieb 
also  für  die  Bedürfnisse  seiner  Klosterschule,  welche  durch  die 
Anleitung  der  Jugend  zur  Entwerfung  von  Urkunden  wenigstens 
den  Aufgaben  des  praktischen  Lebens  gerecht  zu  werden  suchte, 
da  der  tiefe  Verfall  der  Sprache  höhere  Ziele  doch  ausschloß.  Seine 
Willfährigkeit  und  die  Unzulänglichkeit  seiner  Kräfte  hat  Marculf 
in  Erinnerung  an  den  Computus,  den  er  seinen  Schülern  einzu- 
prägen hatte,  mit  den  Worten  geschildert,  mit  denen  einst  Victorius 
sein  Paschale  dem  späteren  Papst  Hilarus  überreicht  hatte  ^).    Ein 


1)  Vgl.  N.  A.  IV,  S.  172. 
Kgl.  Oes.  d.  Wiss.  Nachrichten.  PhU.-hist  Klasse.  1916.  Heft  2.  16 


232  Bruno  Krusch, 

geplagtes  Schulmeisteriein ,  von  dessen  Sorgen  ein  in  den  Hss. 
überlieferter  Schmerzenssclirei  eine  Vorstellung  gibt  ^) ,  ist  durch 
ein  elementares  Übungsbuch  für  seine  Zöglinge,  ohne,  es  zu  ahnen, 
zum  Lehrmeister  der  stolzen  Reichskanzlei  geworden,  und  hatte 
nicht  einmal  den  Bischofssitz  seines  Auftraggebers  genannt ,  so 
daß  Zeit,  Ort,  Heimatland,  kurz  alle  zur  Beurteilung  seiner  Schrift 
notwendigen  Umstände  dem  Scharfsinn  der  Nachwelt  zu  ermitteln 
übrig  bleiben. 

Sämtliche  Fragen  sind  sofort  beantwortet,  wenn  man  unter 
Landerich  den  bekannten  Bischof  von  Paris  versteht,  der  654 
dem  Kloster  St.  Denis  seinen  Freiheitsbrief  gegeben  hat  ^),  und  die 
allgemeine  Meinung  war  dies  früher.  Noch  in  Sickels  ^)  Augen  ist 
„offenbar"  dieser  der  Auftraggeber,  und  Marculf  schrieb  „wahr- 
scheinlich" in  der  Pariser  Diözese,  seine  Heimat  wäre  also  Fran- 
cien.  Die  nach  Sickels  Ansicht  einzige  „entschieden"  ältere  Ur- 
kunde, die  als  Vorlage  für  das  Königsprivileg  Marculfs  I,  2  gedient 
hat,  ist  nun  freilich  für  kein  Pariser  Kloster  gegeben,  sondern  für 
das  Kloster  Rebais  in  der  Diözese  Meaux,  es  ist  Dagoberts  I.  Pri- 
vileg für  dieses  Kloster  von  635/6,  und  das  vorausgehende  an 
eine  Elloster-Kongregation  gerichtete  Bischofsprivileg  bei  Marculf 
I,  1,  die  einzige  nichtkönigliche  und  nicht  einmal  an  einen  König 
gerichtete  Urkunde  im  ersten  Buche,  die  lediglich  als  Vorurkunde 
für  die  folgende  Königsurkunde  für  Rebais  in  diesem  Teile  der 
Sammlung  eine  gewisse  Berechtigung  hat,  stimmt  wieder  zum 
größten  Teil  wörtlich  mit  dem  Privileg  des  Bischofs  Burgundo- 
faro  von  Meaux  für  das  Kloster  Rebais  von  637/8  überein.  Der 
Anfang  der  Marculfschen  Formelsammlung  führt  also  in  die  Diö- 
cese  Meaux,  und  daß  ein  Mönch  gerade  für  die  G-rundlagen  der 
Klosterverfassung  diese  Vorbilder  gewählt  hat,  kann  für  die  Kritik 
nicht  bedeutungslos  sein. 

Ein  Bischof  Landerich  von  Meaux  ist  nun  in  der  Tat  durch 
die  Gesta  ep.  Camerac.  II,  46*),  bezeugt  in  einer  Nachricht  über 
das  belgische  Kloster  Soignies,  dessen  Stifter,  der  H.  Vincentius, 
dort  zusammen  mit  jenem  Landerich,  seinem  Sohn,  begraben  lag :  'cum 
filio  8U0  Landerico  Meldensi  episcopo'.   Die  Stelle  stammt  nicht, 


J)  M.  0.,  Formulao,  ed.  Zeumer  S.  82. 

2)  Nur  die  Bestätigung  von  Chlodoveus  II.  ist  erhalten,  Pertz,  Dipl.  I,  S.  19 ; 
J.  Havet,  Oeuvres  I,  S.  237. 

3)  Sickel,   Beiträge  zur  Diplomatik  (S.  B.  d.  Wiener  Akad.   d.  Wissensch., 
PhiL-hist.  Kl.  Bd.  47,  S.  580');  Acta.  Karolin.  I.  Urkundenlehro,  S.  112. 

4)  SS.  VII,  466. 


Ursprung  und  Text  von  Marculfs  Formelsammlung.  233 

wie  man  gemeint  hat,  ans  der  V.  Antberti^),  wo  von  Landerich 
keine  Spur  zu  finden  ist,  sondern  ist  eigener  Zusatz  des  um 
1043  schreibenden  Chronisten,  der  also  Landerich  für  einen  Bischof 
von  Meaux  gehalten  hat,  und  da  es  sich  bei  der  Angabe  nur  um 
die  rein  lokale  Kenntnis  einer  Begräbnisstätte  handelt,  braucht  in 
dem  späten  Alter  des  Qaellenzeugnisses  noch  kein  Grund  für  seine 
Unglaubwürdigkeit  zu  liegen.  Von  den  Bischöfen  von  Meaux  ist 
nach  Burgundofaro  bis  zur  Mitte  des  8.  Jahrh.  fast  nichts  bekannt, 
und  nur  ein  ganz  spätes  Zeugnis  enthält  noch  eine  schwache  Er- 
innerung an  Landerich.  Ein  Bischofskatalog  von  Demochares  (d.  i. 
Antoine  de  Mouchy^)  f  1574),  den  zuerst  Colvenerius ')  anführt, 
nennt  Landricus  als  24.  Bischof  von  Meaux ,  und  setzt  ihn ,  wohl 
in  der  Schreibung  Lendicus*),  hinter  Burgundofaro,  Hildevertus, 
Hellingus,  Pathasius,  Ebrigisilus,  von  denen  Hellingus  wohl  mit 
einem  683  beglaubigten  Bischof  Herlingus  identisch  ^)  ist.  Steckt 
in  dieser  späten  Angabe  noch  ein  Körnchen  richtiger  Überlieferung, 
dann  würde  man  Bischof  Landerich  von  Meaux  wohl  eher  in  den 
Anfang  des  8.  als  in  das  Ende  des  7.  Jahrh.  zu  setzen  haben.  Ein 
unglücklicher  Gedanke  war  es,  ihn  zusammen  mit  dem  H.  Pirmin 
für  einen  Chorbischof  in  dem  utopischen  'Meteleshem'  ^)  zu  erklären 
oder  in  unkritischer  und  willkürlicher  Veränderung  des  Namens 
einen  ganz  neuen  Bischofssitz  Melsbroeck  für  ihn  zu  creieren '), 
unter  Mißdeutung  des  'Castellum  Melcis'  der  V.  Pirminii  c.  1.  das 
vielmehr  wiederum  unser  liebes  Meaux  ist^j. 

Nach  Metz  versetzt  den  Bischof  Landerich  von  Meaux  eine 
Lesart  späterer  und  schlechterer  Hss.  der  Gesta  ep.  Camerac, 
welche   die  Herausgeber  in  den  Noten  anführen  ^),   ohne  ihr   eine 

1)  Ghesquierus,  Acta  Sanctorum  Belgii  (1785)  III,  551. 

2)  Vgl.  Pfister,  Note  sur  le  formulaire  de  Marculf  (Revue  historique  1892, 
tome  50,  S.  51). 

3)  G.  Colvenerius,  Chronicon  Cameracense  et  Atrebatense  sive  historia  utrius- 
que  ecclesiae  conscripta  a  Balderico,  Duaci  1C15,   S.  539. 

4)  A.A.  SS.  Apr.  II  (1675)  S.  489:  Interim  sub  S.  Farone  episcopo  insti- 
tutus  fuerat  S.  Hildevertus,  eidemque  in  episcopatu  subrogatus,  dein  successerunt 
Hellingus,  Pathasius,  Ebrigisillus,  quibus  a  Demochare .  enumeratis  tandem  appo- 
nitur  Landricus  seu  Lendicus  hoc  nostro  S.  Landrico  multo  junior,  nämlich  als 
der  Metzer  Landerich,  den  Henschen  in  das  Ende  des  7.  Jahrb.  setzte. 

5)  Duchesne,  Fastes  ^piscopaux  II,  478*. 

6)  Toussaints  du  Plessis,  Histoire  de  l'eglise  de  Meaux  (1731)  I,  67;  vgl. 
S.  695. 

7)  G.  Morin  in  Revue  B^nMictine  XXIX,  1912,  S.  262  ff.,  vgl.  Levison,  N.  A. 
XXXVIII,  S.  351. 

8)  Vgl.  SS.  rer.  Merov.  VI,  521,  N.  A.  XXXIX,  S.  551. 

9)  G.  Colvenerius  a.  a.  0.,  S.  539,   bezeichnet  die  zwei  älteren  und  besseren 

16* 


234  Bruno  Krusch, 

Bedeutung  beizumessen.  Konnte  man  sich  über  eine  solche  Va- 
riante leicht  hinwegsetzen,  so  hatte  doch  mehr  Gewicht  eine  von 
Poncelet  aus  einer  Hs.  saec.  XI.  ans  Licht  gezogene  ältere  V.  Vin- 
centii  Madelgarii  mit  der  bestimmten  Angabe,  Landerich  habe  das 
Metzer  Bisthum  lange  Zeit  verwaltet^),  bevor  ihn  der  Vater  an 
seinem  Lebensende  als  Leiter  seiner  Klostergründungen  zu  sich  be- 
rieft). An  Alter  dürfte  diese  Quelle  den  Gesta  ep.  Camerac.  nicht 
erheblich  nachstehen,  doch  sonst  fand  der  Herausgeber  bei  ihrer 
Untersuchung  wenig  an  ihr  zu  loben :  eine  unverschämte  Schwindel- 
schrift, welche  ihren  Helden  durch  Wunder  glänzen  läßt,  die  aus  an- 
dern Quellen  ausgesehrieben  sind.;  Als  Metzer  Bischof  hat  Landerich 
ßogar  einen  eigenen  Biographen  gefunden,  indessen  mit  dieser  V. 
Landerici')  ep.  Mett.  ist  es  noch  schlimmer  bestellt,  denn  sie  ist 
augenscheinlich  erst  wieder  unter  Benutzung  der  kürzeren  V.  Vin- 
centii  geschrieben.  Die  Homilia  de  actibus  S.  Gisleni,  die  in 
einer  Hs.  des  10.  Jahrb.  überliefert  ist,  nennt  Landerich  den  Sohn 
des  Vincentius,  ohne  etwas  von  seiner  Bischofswürde  zu  erwähnen*). 
Der  ältesten  Metzer  Geschichtsschreibung  des  8.  Jahrh.  ist  ein 
Bischof  Landerich  durchaus  unbekannt.  Der  Verfasser  der  Versus 
de  episcopis  Mettensis  civitatis,  wenn  nicht  Paulus,  so  doch  dessen 
Quelle^),   ebenso   wie  die  783  auf  Geheiß  des  Bischofs  Angilram 


Hss.  als  Grundlage  seiner  Lesart  'Meldensi'  und  führt  nur  aus  einer,  nach  seiner 
Vermutung  von  A.  Gentius  (f  1543,  vgl.  Anal.  Boll.  VI,  31  ff.)  geschriebenen  Hs, 
Rubeae  vallis,  d.  i.  Rouge-Cloitre  bei  Brüssel  (Poncelet,  Anal.  Boll.  XXIX,  S.  13), 
den  Zusatz  'alias  Methensi'  an,  den  er  auf  die  Bekanntschaft  mit  der  V.  Landerici 
zurückführt.  Le  Glay,  Chronique  d'Arras  et  de  Cambrai  par  Balderic,  Paris  1834, 
S.  241,  notiert  zu  'Meldensi'  die  Varianten 'Mettensi'  aus  D,  d.i.  Douai  665  u.  221, 
nach  den  BoUandistcn  jetzt  851,  saec.  XIII.  (Anal.  Boll.  XX,  S.  406).  Bethmann, 
schreibt  nach  derHaupt-Hs.  'Meldensi',  ohne  eine  Variante  anzuführen,  nach  dem 
damals  für  entlehnte  Partien  in  den  Mon.  Germaniae  maßgebenden  Grundsatze  j 
cf.  N.  Archiv  II,  462. 

1)  Anal.  Boll.  XII,  S.  480:  'Floruitque  postmodum  multis  virtutibus  rexit- 
que  ecclesiam  Mettensium  in  episcopatu  diebus  multis'. 

2)  Nach  der  späteren  V.  Vincentii,  A.  A.  SS.  Jul.  III,  677,  hätte  er  hernach 
noch  als  Bischof  weiter  gewirkt. 

3)  A.A.  SS.  Apr.  11,  488. 

4)  Anal.  Boll.  VI,  256.  Ebenso  Gislebert,  Chronicon  Hanoniense,  SS.  XVI, 
495.  Die  V.  Aldegundis,  SS.  rer.  Merov.  VI,  S.  86,  der  Schwester  der  Walde- 
trudis,  der  Gattin  des  Vincentius,  die  älteste  Quelle  in  diesem  Sagenkreise,  wenn 
auch  nicht  gerade  saec.  VII,  wie  Pfister  a.  a.  0.  S.  50  meinte,  so  doch  nach  Le- 
visoii  saec.  IX,  kennt  Gundeland  und  Landerich  als  Onkel  der  H.  Aldegunde :  das 
sind  just  die  Namen  zweier  Neustrischen  Maiordomus,  von  denen  der  erste  613 
dem  zweiten  gefolgt  ist. 

5)  M.  G.  Poetae  I,  S.  61,  SS.  XIII,  304:  • 


Ursprung  und  Text  Ton  Marculfs  Formelsammlung.  235 

von  Metz  *)   entstandene   Schrift  des  Paulus   von   den  Metzer  Bi- 
schöfen ^j  lassen   auf  Arnulf  folgen:   Groericus - Abbo ,     Godo  und 
Arnulfs   Sohn   Chlodulf.     Der   Versuch  Pfisters   (S.  56)   zwischen 
den   beiden   letzteren  Landerich   einzuschieben,    scheitert   an  dem 
Mangel  jedes   Beweises   und   der  Geschlossenheit   der   Metzer  Bi- 
schofsliste;  einer  Beschränkung   seiner   Sedeszeit   auf  einen  mög- 
lichst kurzen  Zeitraum  steht  aber  das  ausdrückliebe  Zeugnis   der 
V.  Vincentii  entgegen,  die  ihm  im  Gegenteil  eine   lange  Sedeszeit 
zuschreibt.    Seine  Ansetzung  um  650  für  die  Zwecke  des  Marculfs- 
schen  Widmungsbriefes  erledigt  sich  von  selbst  durch  die  Benutzung 
späterer  Urkunden   durch  Marculf,   worauf  später   einzugehen  ist. 
Ebenso  unhaltbar  erweist  sich  die  Identifizierung  des  Bischofs  Aegli- 
dulf,  der  in  der  Hs.  B  des  Widmungsbriefes  an  Landerichs  Stelle  ge- 
setzten Person,  mit  Bischof  Chlodulf,  die  Pfister  (S.  58) ')  nach  Sickels 
Vorgange  und  mit  denselben  nichtigen  Gründen  von  neuem  versucht. 
Sehr  verständig  hatte  der  Generalvikar  Primeau  in  Meaux  *)  unter 
Betonung  der  Unmöglichkeit  einer  Einschiebung  in  Metz   auf  die 
Möglichkeit  in  Meaux  hingewiesen,    wo   bis  748  eine  große  Lücke 
klafft,   und  noch   ein  anderer   Umstand   muß  uns   für  Meaux    be- 
stimmen.    Ein  Bischof  von  Metz ,    der  Inhaber  des  berühmten  Bi- 
schofsstuhles des  H.  Arnulf,  des  Stammvaters  des  Karolingerhauses, 
und  seines  Sohnes  Chlodulf  war  ein  weit  dankbarerer  Gegenstand 
für  hagiographische  Zwecke,  als  ein  Bischof  von  Meaux,  und  eher 
hat  man  aus  'Meldensis'   ein   'Mettensis'  gemacht,   als  umgekehrt: 
tatsächlich  ist  Bischof  Landerich  auf  diesem  Wege   später  in  den 
Stammbaum  Karls  d.  Gr.  gelangt*). 


Inde  Goericus  praeest,   vocitatus  et  Abbo. 
Post  Godo  terdenus   servat  pia  culmina  primus. 
Subsequitur  sancto  Cblodulfus  germine  cretos. 

1)  Hist.  Langob.  VI,  16. 

2)  SS.  II,  267. 

3)  Sickel,  Urkundenlehre  S.  112  und  Pfister  halten  sich  an  die  Abtrennung 
der  ersten  Sylbe  in  der  Hs. :  'papaae  glidulfo",  aber  dieser  Glidulf  hat  noch  recht 
wenig  Ähnlichkeit  mit  Chlodulf,  und  erst  die  Heranziehung  einiger  anderer 
zweifelhafter  Namensformen  muß  die  Verwandlung  vortäuschen.  Gegenüber  diesem 
planlosen  Herumirren  hat  Zeumer,  N.  A.  VI,  S.  27,  erfreulicher  Weise  an  dem 
überlieferten  Namen  Aeglidulf  festgehalten  und  auch  ganz  richtig  auf  die  Ähn- 
lichkeit mit  dem  Namen  Aylidulf  (Catalogi  ep.  Argentin. ,  SS.  XIII,  p.  322  fg.) 
oder  Helidulf  (MG.  Libri  Confratem.  p.  212)  eines  Bischofs  von  Straßburg  zwischen 
760  u.  778  hingewiesen,  über  den  P.  Wentzke,  Regesten  der  Bischöfe  von  Straßburg, 
Innsbruck  1908,  I,  S.  226,  neuerdings  gehandelt  hat 

4)  Bei  Le  Glay  Chron.  d'Arras  et  de  Cambrai  (1834)  S.  510. 

5)  Florarium  Sanctorum  (A.  A.  SS.  Apr.  II,   488) :    'S.  Landrici   episcopi  et 


236  Bruno  Krusch, 

Es  ist  Zeumers  ^)  Verdienst,  unter  Hinweis  auf  den  Zusammen- 
hang mit  Dagoberts  Privileg  für  Rebais  von  635/6,  dessen  direkte 
Benutzung  durch  Marculf  ihm  außer  allem  Zweifel  schien,  den  Wid- 
mungsbrief wiederum  dem  Bischof  Landerich  von  Meaux  zugestellt 
zu  haben,  an  den  zuerst  Launoy  ^)  gedacht  hatte ;  ja  er  hielt  es 
nicht  für  unwahrscheinlich,  daß  Marculf  sogar  direkt  in  Rebais 
geschrieben  habe.  Die  Abfassungszeit  rückte  er  bis  an  das  Ende  des 
7.  Jahrh.  hinab,  weil  „alle  Neueren" ')  den  Bischof  Landerich  von 
Meaux  gegen  700  setzen,  und  zu  dieser  Rechnung  paßte  seiner  An- 
sicht nach  die  Erwähnung  der  Teilnahme  des  Majordomus  am  Hof- 
gericht in  der  Marculf-Formel  I,  25,  die  er  nur  noch  in  einer  Urk. 
von  697  bezeugt  fand.  Bei  allen  seinen  Ergebnissen  gelangte  er  immer 
nur  zu  Möglichkeiten  von  größerer  oder  geringerer  Wahrschein- 
lichkeit, und  unmöglich  erschien  ihm  eigentlich  nur  die  Metzer  An- 
sicht, für  welche  die  älteste  Quelle  damals  noch  nicht  vorlag. 
Auch  Meaux  erschien  ihm  nur  „wahrscheinlicher"  als  die  Pariser 
Herkunft,  die  er  in  Zweifel  zog,  und  zu  „unbedingter  Gewißheit", 
meinte  er,  würde  man  nach  dem  vorliegenden  Material  nicht  kommen 
können.  Für  den  „Charakter  und  die  Benutzung"  des  Marculfschen 
Werkes  verwies  er  nur  auf  die  „vorzügliche  Auseinandersetzung" 
Sickels  in  seiner  Urkundenlehre  (§  43),  der  zwar  auf  eine  Anzahl 
ähnlicher  Urkundentexte  aufmerksam  macht,  im  übrigen  aber  die 
Quellenfrage  nur  berührt,  ohne  sie  lösen  zu  können.  War  er  doch 
durch  seine  Erklärung  für  Paris  und  die  Mitte  des  7.  Jahrh.  ge- 
bunden, und  lagen  nicht  fast  alle  gleichen  oder  ähnlichen  Ur- 
kundentexte später?  Eine  direkte  Abhängigkeit  konnte  bei  seiner 
vorgefaßten  Ansicht  gar  nicht  in  Frage  kommen,  und  als  einziger 
Ausweg  bot  sich  ihm  die  Annahme  gemeinsamer  Quellen,  älterer 
Formulare,  die  Marculf  und  die  Urkundenschreiber  in  gleicher 
Weise  benutzt  haben  sollten.  Sobald  aber  die  Ansicht  Sickels  über 
Zeit  und  Heimat  der  Sammlung  ins  Wanken  geriet,  änderten  sich 
natürlich  auch  die  Grundlagen  für  die  Beurteilung  der  Übereinstim- 
mungen Marculfs  mit  den  Urkundentexten,  und  es  liegt  auf  der 
Hand,  von  wie  großer  Bedeutung  für  die  ganze  Marculfkritik  eine 


confessoria  de  stirpe  Karolidarum'.     Vgl.  Bonnell,  die  Anfänge  des  karolingischen 
Hauses  S.  52. 

1)  Zeumer,   Über  die   älteren  fränkischen   Formelsammlungen,   N.  A.    VI, 
S.  39  fg. 

2)  J.  Launoii  Inquisitio  in  chartam  immunitatis,   quam  b.   Germanus  Pari- 
siorum  episcopus  suburbano  monasterio  dedisse  fertur,   2.  ed.,  Paris  1676,  S.  25. 

3)  Vgl.  z.  B.  Biographie  Nationale  de  Belgique,  Brüssel  1890—1891,  Bd.  XI, 
col.  260, 


Ursprung  und  Text  von  Marculfs  Formelsammlung.  237 

umfassende  Heranziehung  der  erhaltenen  Urkunden,  die  Prüfung 
des  Verhältnisses  zu  ihnen  und  besonders  die  Feststellung  des  Zeit- 
punktes hätte  werden  müssen,  wo  Marculfs  Urkundenbenutzung 
aufhört ,  und  seine  Schrift  anfängt ,  den  Urkundenschreibem  als 
Vorlage  zu  dienen.  Nur  auf  diesem  Wege  ließ  sich  ein  Einblick 
in  die  Arbeitsweise  des  Verfassers  gewinnen,  und  zugleich  konnte 
ein  solches  Verfahren  die  Textkritik  bisweilen  sicherer  begründen, 
als  es  bisher  möglich  gewesen  war. 

Man  wird  es  den  Parisern  nicht  verdenken  können,  daß  sie 
sich  der  Möglichkeiten  zu  erwehren  suchten,  die  ihnen  einen  so  ver- 
dienten Landsmann  rauben  sollten ;  vielleicht  aber  hatte  sich  ihr 
Anwalt  Tardif  ^)  die  Arbeit  etwas  zu  leicht  gemacht  und  jeden- 
falls besaß  er  nicht  die  Erfahrungen,  um  in  Textfragen  ein  Wort 
mitsprechen  zu  können.  In  einem  Punkte  scheint  er  mir  aber 
richtig  gesehen  zu  haben.  Die  Anwesenheit  des  Majordomus  am 
Hofgericht  in  der  Marculflformel  I,  25,  ist  nicht  für  die  Datierung 
in  der  Weise  zu  benutzen,  wie  es  Zeumer  getan  hat.  Wenn  in  den 
Urkunden  der  Majordomus  Pippin  697^)  als  Beisitzer  erscheint  und 
weder  vorher  noch  nachher  ein  Majordomus  als  solcher,  so  hat 
doch  Tardif  mit  Recht  auf  das  Verhältnis  des  auch  Zeumer  be- 
kannten Nordebert  ^)  zu  Pippin  hingewiesen,  der  in  früheren  Pla- 
cita  genannt  wird  und  nach  dem  Lib.  h.  Fr.  c.  48  als  sein  Stell- 
vertreter bei  König  Theuderich  fungierte ,  während  Pippin  selbst 
nach  Austrien  heimkehrte.  Zeumer  hatte  als  erster  die  Ansicht  be- 
kämpft, daß  der  Majordomus  nie  Beisitzer  des  Hofgerichts  ge- 
wesen sein  soUte,  aber  schließlich  diese  Tätigkeit  auf  das  Jahr  697 
beschränkt.  Nach  Nordeberts  Tode  hat  Pippins  Sohn  Grimoald 
710  als  Hausmeier  an  des  Königs  Stelle  selbständig  das  Hofgericht 
gehalten^),  wie  sein  dritter  Sohn  Karl  überhaupt  vollständig  den 
König  ersetzt^).  Fällt  somit  jeder  Gedanken  weg,  daß  die  Nicht- 
teilnahme  des  Majordomus  in  jenen  Zeiten  einen  anderen  Grund 
gehabt  haben  kann,  als  den  eigenen  Willen  des  allmächtigen  Be- 
amten, so  hatte  es  außerdem  mit  der  Teilnahme  am  Hofgerichte 
697  noch  eine  ganz  besondere  Bewandtnis,  die  eine  generelle  Ver- 
wertung ausschließt,  vor  der  sich  auch  Waitz  gehütet  hat.    Pippin's 


1)  Bibliotheque  de  l'ecole  des  chartes,  Paris  1883,  Bd.  XLIV,  S.  352  ff. 

2)  Pertz,  Dipl.  I,  S.  62. 

3)  Tardif,  Etüde  sur  la  date  du  formulaire  de  Marculf  (Nouvelle  Revue 
historique  du  droit  fran^ais  et  etranger  1884)  VIII,  S.  557 ff.,  und  Nouvelles  ob- 
servations  sur  la  date  du  formulaire  de  Marculf,  ebenda  (1885)  IX,  S.  368  ff. 

4)  Pertz,  Dipl.  I,  S.  69 fg.;  Waitz,  VG.  II,  2»,  S.  78.  399. 

5)  Pertz,  Dipl.  I,  S.  97.    Waitz,  YG.  II,  2»,  S.  90. 


238  Bruno  Krusch, 

eigener  Sohn  Drogo  war  nämlich  damals  Beklagter,  und  der  Vater 
wurde  beschuldigt  bei  der  Tat,  der  Entwendung  einer  klösterlichen 
Villa,  Beihülfe  geleistet  zu  haben;  auch  sein  anderer  Sohn  Grrim- 
oald  war  erschienen,  so  daß  sich  also  ungefähr  der  ganze  karo- 
lingische  Mannesstamm  auf  diesem  Hofgericht  ein  Stelldichein  gab. 
Das  Urteil  fiel  gegen  Drogo  aus,  und  es  würde  kein  Ruhmesblatt 
in  der  Greschichte  des  Karolingerhauses  gewesen  sein,  wenn  sich 
der  Fall  noch  öfter  ereignet  hätte. 

Auch  in  Tardifs  Bedenken  gegen  den  Text  der  Formel  I,  25 
scheint  mir  ein  richtiger  Kern  zu  stecken,  wenn  man  sie  gegen 
Marculf  selbst  und  nicht  gegen  Zeumers  Text  richtet,  und  im  Ver- 
lauf der  Untersuchung  wird  sich  noch  zeigen,  daß  Marculf  keines- 
wegs der  'maitre  consomme'  war,  für  den  ihn  Tardif  hält.  Schon 
bei  der  Aufzählung  der  Aufgaben  des  Hofgerichts  sind  nach  'ad 
universorum  causas'  (S.  59,  i)  ^)  die  ganz  unentbehrlichen  Worte 
'audiendas  vel'  durch  seine  Schuld  ausgefallen^).  Marculf  schließt 
hieran  die  Aufzählung  der  Beisitzer  zuerst  als  Bischöfe  und  Op- 
timaten  ohne  Namen,  dann  wiederum  mit  den  Bischöfen  an  der 
Spitze  mit  den  Namen ,  oder  vielmehr  mit  seinem  stereotypen 
'illis'  für  die  Namen,  eine  Verdoppelung,  welche  nicht  bloß  A2 
durch  Auslassung,  sondern  auch  B  durch  Umarbeitung  beseitigt 
und  für  die  ich  auch  in  den  erhaltenen  Placita  kein  Beispiel  finde. 
Diese  haben  entweder  eine  allgemeine  Fassung  ^)  oder  die  spezielle 
mit  Namen  *),  und  Tardifs  Annahme  einer  Vereinigung  zweier  ver- 
schiedener Protokolle  findet  darin  eine  gewisse  Stütze,  nur  hätte 
er  den  unwissenden  Schreiber,  der  mit  der  Praxis  der  königlichen 
Kanzlei  nicht  vertraut  gewesen  sei,  nicht  für  einen  Interpolator 
des  Textes  halten  sollen ,  sondern  für  Marculf  selbst.  Insofern 
war  Zeumers  Entgegnung  berechtigt  ^).  Wie  Marculf  die  Formel 
vorher  verkürzt  hatte,  so  hat  er  sie  weiterhin  durch  Zutaten  er- 
weitert, und  solche  Erweiterungen  begegnen  bei  ihm  überall.  Ein 
ungeübtes  Auge  aber  konnte  die  durch  ein  Homöoteleuton  verur- 
sachte Lücke  in  A  2  vielleicht  um  so  eher  für  die  Urform  halten, 
als  Zeumer  dieser  Hs.  eine  gewisse  Sonderstellung  eingeräumt  hatte, 
worauf  unten  noch  einzugehen  ist,  Tardif  hatte  sich  durch  Zeu- 
mers Lobsprüche  auf  diese  Hs.  täuschen  lassen  und  die  hinzuge- 
fügten Einschränkungen  nicht   beachtet,   aber  er   war  überzeugt, 

1)  In  Zonmers  Ausgabe  der  Formulae. 

2)  Vgl.  die  Placita  von  693.  709.  711.  749. 
8)  Placitum  von  663,  ed.  Pertz  S.  38. 

4)  Placitum  von  697,  od.  Pertz  S.  62. 
6)  N.  A.  X,  886. 


Ursprung  und  Text  von  Marculfs  Formelsammlung.  239 

daß  sich  auch  andere  in  gleicher  Weise  über  seine  wahre  Ansicht 
hätten  täuschen  können. 

Tardifs  Einwendungen  gaben  Zeumer  Gelegenheit,  neue  und 
beachtenswerte  Gründe  für  die  Entstehung  der  Sammlung  nach 
der  Zeit  des  Bischofs  Landerich  von  Paris  vorzulegen  *),  ganz  fallen 
ließ  er  diesen  aber  immer  noch  nicht,  sondern  nach  wie  vor  wollte 
er  nur  die  Berechtigung  seiner  Bedenken  gegen  diese  Ansicht  nach- 
weisen und  für  seine  eigene  „Hypothese"  einen  gewissen  Grad 
von  Wahrscheinlichkeit  in  Anspruch  nehmen ;  sollte  aber  der  Bi- 
schof Landerieh  von  Meaux  nicht  existiert  haben,  dann  wollte  er 
lieber  an  einen  dritten  Bischof  Landerich  denken,  als  an  den  Pa- 
riser. Also  nicht  weniger  als  drei  Möglichkeiten  mit  absteigenden 
Wahrscheinlichkeitsaussichten:  ein  Bischof  von  Meaux,  ein  unbe- 
kannter Bischof  Landerich,  und  der  von  Paris !  Ganz  ausgeschlossen 
blieb  nur  Bischof  Landerich  von  Metz,  und  doch  sollte  sich  ge- 
rade für  dessen  problematische  Persönlichkeit  noch  lebhafte  Teil- 
nahme zeigen. 

Pfisters  ausgezeichnete  Beobachtung,  daß  sich  gewisse  Formeln 
der  Marculfschen  Sammlung  nur  auf  Austrasien  beziehen  könnten, 
und  sein  Schluß  daraus,  daß  die  Sammlung  nicht  in  Neustrien, 
sondern  in  Austrasien  entstanden  sei,  brachte  ein  völlig  neues 
Moment  in  die  Discussion,  das  dem  Pariser  Landerich  den  Todesstreich 
versetzte.  Indessen  dem  vielversprechenden  Anlauf  folgte  ein  arger 
Fehlsprung,  der  die  Forschung  abermals  mißleitete.  Meaux  wurde 
bei  Seite  geschoben ,  das  bisher  allgemein ,  auch  von  Tardif ,  zu 
Neustrien  gerechnet  war,  und  so  blieb  allein  noch  Metz  übrig,  die 
Hauptstadt  Austrasiens.  Marculf  aber  sollte  der  Cellerarius  dieses 
Namens  im  Kloster  Salicis  etwa  um  600  gewesen  sein  *),  eine  ganz 
unglückliche  und  auch  zeitlich  ganz  unmögliche  Annahme,  die  schon 
von  Mabillon^)  und  Lebeuf*)  abgelehnt  war.  Pfister  nahm  damit 
eine  These  auf,  die  vor  ihm  Digot  *)  aufgestellt  hatte,  dessen  Werk 
Zeumer  unbekannt  geblieben  war,  und  alles  was  er  seinem  unkri- 
tischen Gewährsmann  sonst  noch  nachschrieb,  sind  ganz  unhaltbare 
Behauptungen.  Li  die  Quellen  aber  hatte  er  sich  mit  großer 
Gründlichkeit  vertieft,  und  der  Beweis  für  Austrasien  stand  ganz 


1)  N.  A.  XI  (1886),  S.  338  ff. 

2)  Jonas,  V.  Columbani  I,  c.  7. 

3)  Ann.  ord.  S.  Benedict!  I,  419. 

4)  Lebeuf,  Dissertations  sur  l'histoire  eccl^siastique  et  cirile  de  Paris,  Pari» 
1739,  S.  LXXI. 

5)  A.  Digot,  Histoire  du  royaume  d'Austrasie,  Nancy  1863,  II,  S.  325  ff. 


240  Bruuo  Kruscb, 

nnabhängig  und  wurde  von  der  falschen  Behauptung  nicht  be- 
rührt. 

Die  augenscheinlich  ernste  wissenschaftliche  Arbeit  mußte  in  G-e- 
lehrtenkr eisen  einen  gewissen  Eindruck  machen,  obwohl  im  Neuen 
Archiv  nur  ein  kurzes  anonymes  Referat  von  ihrem  Erscheinen 
Kenntnis  gab  ^).  Es  konnte  nicht  ausbleiben,  daß  nun  den  beiden 
mehr  oder  weniger  approbierten  Annahmen  über  die  Heimat  Mar- 
culfs, Meaux  und  Paris,  als  dritte  Metz  unter  Verweis  auf  Pfister 
hinzugefügt  wurde,  also  gerade  die  von  Zeumer  ausgeschlossene 
Möglichkeit.  Eine  ganz  harmlose  Bemerkung  Caro's  ^)  hat  zu  einer 
scharfen  Auseinandersetzung  mit  Zeumer  ^)  geführt,  auf  die  nicht 
weiter  eingegangen  werden  soll,  da  beide  Streiter  inzwischen  die 
kühle  Erde  deckt.  Genug  Zeumer  hielt  auch  jetzt  noch  die  Mög- 
lichkeit des  Pariser  Landerich  nicht  für  völlig  ausgeschlossen, 
wohl  aber  die  Versetzung  nach  Metz.  Pfister  hatte  in  Zeumers 
Augen  nur  aus  Unkenntnis  der  neueren  Literatur  jenen  uralten 
Irrtum  erneuert,  der  längst  abgetan  gewesen  sei ;  aber  fielen  denn 
seine  ganz  neuen  und  sehr  beachtenswerten  Ausführungen  über  die 
Abfassung  in  Austrasien  unter  diesen  uralten  Irrtum,  der  doch 
lediglich  Metz  betraf,  und  sollte  er  wirklich  die  neuere  Literatur 
so  wenig  gekannt  haben,   mit   der  er  sich  doch  auseinandersetzt? 

Ein  merkwürdiges  Zusammentreffen  war  es ,  daß  ganz  unab- 
hängig von  dem  Pfister' sehen  Aufsatz,  dessen  Bedeutung  für  die 
Marculf kritik  aus  der  Polemik  nicht  zu  ersehen  war,  mein  Bei- 
trag für  die  Zeumer-Festschrift  ^)  die  betreffenden  Marculfformeln 
in  dieselbe  Beziehung  zur  austrasischen  Geschichte  brachte  und 
ungefähr  in  derselben  Weise  für  die  Heimat  des  Verfassers  ver- 
wertete, nur  daß  ich  für  den  westlichen  Teil  Austrasiens  eintrat, 
während  Pfister  nach  der  andern  Seite  abgeschwenkt  war.  Doch 
noch  eine  neue  Überraschung  sollte  sich  bieten!  Schon  der  alte 
Valesius  hatte  den  Zusammenhang  der  Marculfformel  I,  40  mit 
der  Erhebung  des  austrasischen  Königs  Sigibert  III.  634  richtig 
erkannt,  denn  er  schreibt  Res  Francicae  III,  114:  'Scriptis  a 
Rege  litteris  iussi  sunt  Austriae  comites,  sui  quisque  pagi  incolas 


1)  N.A.  XVIII,  710. 

2)  G.  Caro,  die  Landgüter  in  den  fränkischen  Formelsammlungen,  Historische 
Vierteljahrsschrift  (1903),  VI,  S.  311,  und  Zur  Herkunft  der  Formelsammlung  des 
Markulf,  ebenda  (1905),  VIII,  S.  127. 

3)  N.A.  (1904)  XXIX,  S.  539;  ebenda  (1905)  XXX,  S.  716. 

4)  Der  Staatsstreich  des  fränkischen  Hausmeiers  Griraoald  I,  in  Historische 
Aufsätze  Karl  Zeumer  zum  GG.  Geburtstag  dargebracht  von  Freunden  und  Schü- 
lern, Weimar  1910,  S.  414. 


Ursprung  und  Text  von  Marculfs  Formelsammlang.  241 

cum  Francos  tom  Romanos  ceterarumqae  nationum  homines  con- 
vocare,  et  praesente  Misso  Dominico  a  coDgregatis  per  urbes,  vicos 
et  castella  iusinrandnm  exigere,  Regi  et  praecelso  filio  ipsius, 
quem  consensu  Procerum  suorum  regnare  in  Aastria  iussisset, 
fidem  conservaturos',  ohne  jedoch  für  Marculfs  Heimat  irgend  welche 
Schlüsse  daran  zu  knüpfen.  Der  Altmeister  der  fränkischen  Ge- 
schichte hatte  also  wieder  einmal  durch  seine  gründliche  Quellen- 
kenntnis und  feine  Kombinationsgabe  eine  wichtige  Entdeckung 
gemacht,  ohne  doch  bei  der  späteren  Geschichtsforschung  irgend 
welche  Beachtung  zu  finden. 

Zu  einer  besseren  Ergründung  der  Verhältnisse,  unter  denen 
Marculf  seine  Sammlang  zusammenstellte,  läßt  sich,  wie  ge- 
8£igt,  durch  genauere  Vergleichung  mit  den  erhaltenen  Urkunden 
kommen,  und  schon  ein  gelegentlicher  Streifzug  erbrachte  einige 
interessante  Feststellungen  ^).  Marculf  I,  2  hat  in  dem  Privileg 
Dagoberts  I.  für  Rebais  von  635/6  die  Bestimmung  über  die  freie 
Abtswahl  und  das  Institutionsrecht  des  neuen  Abtes  durch  die 
Kongregation  stillschweigend  übersprungen,  welche  Lücke  der 
Schreiber  der  Urk.  Childerichs  111.  von  744  für  Stavelot  und 
Malm^dy  bei  Benatzung  der  Formel  an  der  unrechten  Stelle  er- 
gänzt hat,  und  ohne  eine  solche  Ergänzung  standen  die  auf  Grund 
der  MarcuLfformel  befreiten  Klöster  erheblich  schlechter  als  Re- 
bais, dessen  Privileg  als  Vorlage  gedient  hatte.  Handelte  es  sich 
doch  um  das  höchste  Recht  der  befreiten  BHöster  *),  dessen  Ver- 
leihung noch  Sickel  nicht  erkannt  hatte  ^).  Die  Stelle  ist  in  ganz 
unauffälliger  Weise  (S.  42,11  nach  'facilius')  bei  Seite  gebracht,  und 
alles  schließt  so  ausgezeichnet  an  einander,  daß  nur  die  Verglei- 
chung mit  der  Quelle  die  Lücke  erkennen  läßt.  In  Zeumers  Aus- 
gabe macht  leider  keine  Note  den  Leser  auf  das  Fehlen  dieser 
wichtigen  Bestimmung  aufmerksam,  und  auch  die  Zusätze  und  Ab- 
änderungen Marculfs  sind  nicht  zu  erkennen,  die  sofort  ins  Auge 
springen  würden,  wenn  nach  den  Grundsätzen  der  Mon.  Germ,  die 
entlehnten  Partien  mit  kleinerer  Schrift  gedruckt  wären.  Dieselbe 
Bestimmung  ist  nun  auch  in  dem  bischöflichen  Privileg  I,  1  bei 
der  Wiedergabe  der  Urk.  des  Bischofs  Burgundofaro  von  Meaux 
für  Rebais*)  638   (nach   S.  40, 12   'presumat')   ausgefallen,   was   die 


1)  N.  A.  XXXI,  S.  363. 

2)  N.  Ä.  XXV,  S.  134. 

3)  Sickel,  Beiträge  zur  Diplomatik  IV,  SB.  der  Wiener  Ak.  d.  Wiss.  phil.- 
hist.  Kl.  XL VII,  S.  571 ;  vgl.  Jonas  S.  45. 

4)  Pardessus,  Dipl.  II,  S.  40. 


242  Bruno  Krusch, 

Annahme  eines  Zufalls  wohl  ausschließt,  und  ebenso  sucht  man 
hier  vergebens  das  Recht  des  Klosters  zur  Zuziehung  eines  fremden 
Bischofs  für  die  bischöflichen  Weiheakte,  Ordinationen  u.  s.  w.  und 
den  entsprechenden  Verzicht  des  DiÖzesanbischofs  für  sich  und 
seine  Organe. 

Im  Gegenteil  in  der  Formel  I,  1  spricht  der  Diözesanbischof 
sich  selbst  in  der  dritten  Person  ('predictus  episcopus')  die  Aus- 
übung der  Weihegewalt  und  Einsetzung  des  Abtes  zu:  'episcopus 
ipse  promoveat  abbatem',  und  er  selbst  beansprucht  für  sich  die 
Verleihung  der  Grrade  an  den  Klosterbeamten,  für  den  Abt  und 
Kongregation  nur  das  Vorschlagsrecht  haben,  den  Prior,  wie  eine 
Glosse  von  A  3  ('prior  est')  ergänzt :  und  das  alles  unter  teilweiser 
Benutzung  des  Wortlauts  der  ausgefallenen  Stellen,  deren  Sinn  also 
just  in  das  Gegenteil  verkehrt  ist.  Überhaupt  beginnt  das  bischöf- 
liche Privileg  bei  Marculf  mit  der  Feststellung  der  Rechte  des 
DiÖzesanbischofs  gegen  das  Kloster ,  die  die  Vorlage  aufgehoben 
hatte,  wodurch  sich  eine  durchgreifende  Umarbeitung  von  selbst 
ergab,  und  die  Tendenz  der  neuen  Formel  ist  geradezu  die  teil- 
weise Wiederherstellung  dieser  Rechte.  Der  Bischof  beschränkt 
bei  Marculf  dem  Abte  das  unbeschränkte  Disziplinarrecht  über 
seine  Mönche  durch  den  Zusatz :  'si  praevalet'  (S.  40, 21),  und  legt 
sich,  wenn  dieser  Fall  nicht  zutrifft,  selbst  die  Strafgewalt  bei : 
'pontifex  de  ipsa  civitate  choercire  debeat';  er  macht  sich  auch 
beim  Besuch  des  Klosters  für  gottesdienstliche  Handlungen  ein 
frugales  Mahl  aus,  während  er  in  ßurgundofaros  Privileg  sofort 
('statim')  nach  beendigter  Ceremonie  zu  verschwinden  hatte.  Ihm 
gibt  Marculf  (I,  1)  bei  der  Privilegierung  den  Vortritt,  den  in 
Wirklichkeit  in  Rebais  der  König  gehabt  hatte,  und  wie  Bischof 
Burgundofaro  auf  die  vorausgegangene  Urk.  Dagoberts  I.  Bezug 
nimmt,  so  umgekehrt  der  König  bei  Marculf  (I,  2)  in  einem  eignen 
Zusatz,  allerdings  an  wenig  passender  Stelle  (S.  42,«),  auf  das  vor- 
ausgehende bischöfliche  Privileg ,  das  er  gelesen  habe.  Wenn 
bisher  nur  die  Entlehnung  von  I,  2  aus  Dagoberts  I.  Urkunde  für 
Rebais  anerkannt  war,  so  lag  dies  an  der  starken  Überarbeitung 
des  ersten  Teils  der  Urk.  Burgundofaros  durch  Marculf  in  I,  1, 
doch  hat  dieser  auch  wieder  Flicken  von  Dagoberts  I.  Urk.  in  den 
Text  des  bischöflichen  Privilegs  herübergenommen,  und  die  Stelle: 
'Et  ne  nobis  aliquis  detrahendo  —  videntur  consistere'  (S.  39, 11) 
ist  sogar  ausführlicher  ausgeschrieben  als  in  I,  2  (S.  41, 21),  indem 
die  Namen  der  Klöster  Lerinum,  Acaunum  und  Luxeuil  ausnahms- 
weise genannt  sind,  die  in  I,  2  das  stereotype  'illorum'  ersetzt ;  auch 
weiter  unten  ist  'ordinatores'  (1,1,  8.40,?)  derselben  Quelle   ent- 


Ursprung  and  Text  Yon  Marctüfs  Formelsammlung.  2-13 

nommen  (=  I,  2,  S.  42,5),  während  umgekehrt  die  Archidiakonen 
in  1,  2  (S.  42,5)  wieder  dem  bischöflichen  Privileg  (=  I,  1,  S.  40,6) 
entstammen.  Gibt  man  die  Entlehnung  aus  den  Privilegien  für 
Rebais  bei  I,  2  zu ,  so  muß  man  sie  auch  bei  I,  1  zugeben  ^),  und 
eine  solche  Versetzung  von  Urkundenteilchen  und  ihre  vielfache 
Verwendung  entspricht  durchaus  der  Arbeitsweise  Marcolfs.  Beide 
Formeln  haben  zur  Abwehr  des  Vorwurfs  von  Neuernngen  (S.  39, 12. 
41,22)  hinter  'nova  decernere'  den  selbständigen  Zusatz  Marculfs 
'carmina',  der  aus  dem  Urkundenstil  so  vollständig  herausfällt,  daß 
sich  schon  dadurch  die  geäußerte  Vermutung  ^)  erledigt ,  Marculf 
habe  als  Gerichtsschreiber  oder  gar  im  Dienste  der  königlichen 
Kanzlei  praktische  Erfahrungen  gesammelt.  Überall  tritt  er  uns 
vielmehr  als  reiner  Buchgelehrter  entgegen,  der  bei  seiner  Arbeit 
literarische  Zwecke  verfolgt ,  und  iiuch  die  weitere  Untersuchung 
wird  noch  zeigen,  wie  wenig  er  sich  auf  den  praktischen  Geschäfts- 
verkehr verstanden  hat. 

Wir  kommen  also  zu  dem  überraschenden  Ergebnis,  daß  Mar- 
culf zwar  die  beiden  Privilegien  für  Rebais  in  den  ersten  Formeln 
benutzt  hat,  die  er  zusammen  nur  in  dem  Klosterarchive  von  Re- 
bais finden  konnte,  aber  durchaus  nicht  im  Sinne  und  für  die  In- 
teressen dieser  Klostergemeinschaft ,  und  ich  hatte  schon  früher 
bemerkt '),  daß  aus  jener  Benutzung  nicht  gerade  zu  schließen  sei, 
daß  die  Formeln  in  Rebais  geschrieben  seien.  Es  ist  gar  nicht 
so  wahrscheinlich ,  wie  Zeamer  *)  meinte ,  daß  Marculf  ein  Mönch 
von  Rebais  gewesen,  daß  er  seine  Sammlung  dort  geschrieben  habe, 
vielmehr  kann  die  genaue  Vergleichung  der  Formeln  mit  den  Ur- 
kunden eher  das  Gegenteil  erweisen,  da  er,  was  bisher  völlig  über- 
sehen ist,  die  Interessen  seines  Bischofs  gegen  das  Kloster  durch 
Beschränkung  der  einst  von  Bischof  Burgundofaro  von  Meaux  und 
dem  König  erteilte  Freiheiten  gewahrt  hat.  Er  hat  so  durch  die 
Tat  bewiesen,  daß  er  auf  Geheiß  des  Diözesanbischofs,  des  Bischofs 
Landerich  von  Meaux,  geschrieben  hat,  dem  sein  Werk  gewidmet 
ist,  und  mit  Hilfe  des  abgeänderten  Formulars  konnte  dieser  wich- 
tige alte  Rechte  gegenüber  dem  Kloster  vorkommenden  Falls  wieder 
durchdrücken,  die  sein  Vorgänger  Burgundofaro  in  dem  Privileg 
auf  Kosten  des  Bischofsstuhles  von  Meaux  leichtsinnig  preisgegeben 


1)  Vermutungsweise  hat  diese  Ansicht  auch   später  Zeumer  in  der  Vorrede 
zu  seiner  Ausgabe,  Formulae  S.  33,  geäußert. 

2)  H.  Bresslau,  Handbuch  der  Urkundenlehre  II,  231*. 

3)  N.  A.  XXXI,  S.  363. 

4)  N.  A.  VI.  40;  XI,  345. 


244  Bruno  Krusch, 

hatte.  Schwerlich  hätte  sich  ein  Mönch,  von  Rebais  zu  einem  solchen 
Geschäft  hergegeben ,  und  nach  dem  alten  Satze :  *Is  fecit ,  cui 
prodest'  ist  Marculf  in  der  Umgebung  des  Bischofs  von  Meaux  zu 
suchen. 

Vielleicht  kann  man  nun  auch  eine  Stelle  in  Marculfs  Vor- 
rede besser  verstehen,  worin  er  Bischof  Landerich  schreibt,  er 
habe  gesammelt,  was  er  bei  den  Vorfahren  ('maiores')  nach  der 
Gewohnheit  des  Ortes,  wo  'wir'  leben  ('loci,  quo  degimus')  gelernt 
oder  sich  selbst  ausgedacht  habe.  Können  diese  Worte  einen  an- 
deren Sinn  haben,  als  daß  Bischof  Landerich  und  Mönch  Marculf 
an  demselben  Orte  gelebt  haben?  'Loci'  läßt  sich  doch  wohl  nur 
sehr  gezwungen  mit  Mabillon  ^)  als  Diözese  fassen,  und  schwerlich 
wird  man  zu  Zeumers  Erklärungen^)  greifen,  wenn  nicht  gerade 
ein  zwingendes  Bedürfnis  vorliegen  sollte,  Marculf  nach  ßebais  zu 
versetzen.  Vielmehr  scheinen  mir  Caros  Bedenken^)  in  diesem 
Falle  beachtenswert,  und  sein  Schluß,  daß  Marculf  nicht  dem 
Kloster  Rebais  angehörte,  wohin  ihn  Zeumer  versetzte,  trifft  voll- 
kommen mit  den  Ergebnissen  zusammen,  zu  welchen  die  Untersu- 
chung der  ersten  beiden  Formeln  geführt  hat. 

Nun  gab  es  auch  in  Meaux  ein  Kloster,  nämlich  das  H.  Kreuz, 
und  der  Bischof  von  Meaux,  der  in  Rebais  nach  Burgundofaros 
Privileg  nicht  gerade  viel  mehr  zu  sagen  hatte,  muß  zu  diesem 
Kloster  in  sehr  nahen  Beziehungen  gestanden  haben;  er  scheint  ihm 
zugleich  als  Abt  vorgestanden  zu  haben,  wie  dem  Verbrüderungs- 
buche  von  Reichenau^)  zu  entnehmen  ist  ^),  und  Bischof  Burgundofaro 
soll  in  diesem  Kloster  begraben  sein;  man  hält  es  für  eine  Stif- 
tung desselben,  und  sicher  hat  es  später  seinen  Namen  getragen  (S. 
Faron).  Wenn  Rebais  wegeij  der  Stellung  Marculfs  zu  dessen  Pri- 
vilegien unmöglich  ist,  und  die  Änderungen  vielmehr  die  Hand 
eines  Parteigängers  des  Diöcesanbischofs  verraten,  wie  auch  die 
Vorrede  auf  denselben  Ort  hinweist,  dann  scheint  es  mir  eine  immer- 
hin ganz  annehmbare  Vermutung  zu  sein,  den  Mönch  Marculf  für 
einen  Insassen  des  Klosters  S.  Crucis  in  Meaux  zu  halten. 

Wie  die  beiden  aus  den  Klosterarchiven  von  Rebais  geschöpften 
Formeln  am  Anfang  des  ersten  Buches,  welche  zu  dem  Bischof 
Landerich  von  Meaux  im  Widmungsbrief  Marculfs  so  ausgezeichnet 
stimmten,  so  stehen  auch  die  beiden  Schlußformeln  desselben  Buches, 


1)  Ann.  ord.  S.  Benedict!  I,  419. 

2)  N.A.  XXX,  S.  716. 

3)  Historische  Vierteljahresschrift  (1905)  VIII,  128. 

4)  M.  G.  Lihri  confrat.  ed.  Piper  p.  237. 
ö)  SS.  rer.  Merov.  V,  p.  172. 


Ursprung  und  Text  von  Marculfs  Formelsammlung.  245 

I,  39.  40,  in  engem  Zusammenhange :  vielleicht  die  merkwürdigsten 
und  historisch  wichtigsten  Dokumente  der  ganzen  Sammlung,  aas 
denen  sich  ebenfalls  interessante  Schlüsse  auf  die  Personalverhält- 
nisse des  Verfassers  ziehen  lassen.  Es  ist  fast  unbegreiflich,  wie 
diese  Prachtstücke  so  vollständig  der  Marculfkritik  vor  Pfister 
entgehen  konnten.  Ein  Frankenkönig  befiehlt  in  der  Herzensfreude 
über  die  Geburt  seines  Sohnes  dem  Adressaten  und  den  „andern" 
domestici  im  ganzen  Reiche  die  Freilassung  von  drei  Sklaven  bei- 
derlei Geschlechts  in  jeder  königlichen  Villa  (I,  39).  Er  befiehlt 
weiter  in  der  nächsten  Formel  (I,  40),  ihm  selbst  und  seinem  Sohn 
den  Huldigungseid  zu  leisten,  nachdem  er  diesem  mit  Zustimmung  der 
Großen  in  seinem  Reiche  die  Regierung  überlassen.  Beide  könig- 
liche Erlasse  sind  an  einen  Grafen  gerichtet,  und  wenn  Bischof 
Landerich  der  von  Meaux  ist  und  auch  Marculf  dort  lebte,  müßte 
man  zunächst  an  den  Grafen  von  Meaux  denken,  aus  dessen  Ar- 
chiv oder  Kanzlei  die  Schriftstücke  stammen  würden.  In  der  ersten 
Formel  (I,  39)  ist  der  Adressat  den  andern  'Domestici'  gegenüber 
gestellt,  so  daß  fast  ein  Schreibfehler  in  der  Adresse  zu  vermuten 
ist,  und  merkwürdigerweise  hat  die  Hs.  A  3  die  Lesart :  'maiorem 
domus'  für  'illo  comitae',  auf  die  ich  einst  die  Aufmerksamkeit  ge- 
lenkt ^)  habe,  indessen  die  neu  aufgefundene  Hs.  der  Sammlung 
von  Flavigny  in  Kopenhagen,  Universitäts-Bibliothek,  Coli.  Fa- 
bric.  n.  84,  saec.  IK  (=  B  2)  ^),  liest  ebenfalls  'iU.  comite',  und 
bei  der  Verwandtschaft  des  B- Textes  mit  A  3  ist  dies  wohl 
als  die  Lesart  der  gemeinsamen  Vorliige  aller  Hss.  anzusehen. 
Waitz  ^)  erklärte  sie  so ,  die  Trennung  der  Befugnisse  der  Amter 
der  Domestici  und  Grafen  sei  nicht  strenge  innegehalten  worden. 
Nun  steht  aber  im  2.  Buche  und  wiederum  am  Schlüsse  (11,  52) 
der  in  Ausführung  des  königlichen  Befehls  (I,  39)  ergangenen  Frei- 
lassungsbrief zu  Ehren  der  Geburt  des  Königssprosses,  und  hier 
ist  als  Aussteller  'ill.  domesticus'  genannt,  ja  der  Domesticus  be- 
zeugt ausdrücklich  in  dem  Dokumente,  daß  der  königliche  Befehl 
generell  an  alle  Domestici  ergangen  sei:  'generaliter  ad  omnes 
domesticos'.  Demnach  müßte  doch  wohl  die  Adresse  'comitae'  in 
I  39  aus  'domestico'   ('com*  aus  'dorn')  verschrieben  sein,    und  das 

1)  Zeumer-Festschrift  S.  414. 

2)  Vgl.  Zeumer,  N.  A.  XIV,  S.  593,  der  leider  nur  wenige  sachlich  wichtige 
Ergebnisse  seiner  Vergleichung  der  Hs.  mitgeteilt  hat  und  im  Übrigen  für  Einzel- 
heiten auf  eine  später  etwa  nötige  Neubearbeitung  seiner  Ausgabe  vertröstet. 
Der  gütigen  Vermittelung  des  Herrn  Bibliotheksdirektors  Dr,  Sofus  Larsen  in 
Kopenhagen  verdanke  ich  die  Vergleichung  einiger  Formeln  durch  Fräulein  Dr. 
phil.  Ellen  Jörgensen. 

3)  Waitz,  VG.  H,  2,  S.  49«. 


246  Bruno  Krusch, 

Original  des  königlichen  Erlasses  und  das  Konzept  des  Freiheits- 
briefes  wären  in  der  Kanzlei  des  Domesticus  in  Meaux  zusammen 
zu  finden  gewesen. 

Die  Abtretung  eines  Reiches  durch  einen  Frankenkönig  noch 
bei  Lebzeiten  an  seinen  Sohn,  wie  sie  die  Huldigungsformel  I,  40 
zur  Voraussetzung  hat,  ist  nach  Roth's  richtiger  Beobachtung^) 
zum  letzten  Mal  634  erfolgt,  als  Dagobert  I.  seinen  dreijährigen 
Sohn  'cum  consilio  pontevecum  seo  et  procerum'  ^)  zum  König  von 
Austrasien  einsetzte,  und  auch  in  der  Marculfi'ormel  erfolgt  die 
Erhebung  'cum  consensu  procerum  nostrorum'.  Der  junge  Sigibert 
war  erst  drei  Jahre  vorher  (631)  von  einer  Magd  Ragnetrude  ge- 
boren, und  dazu  würde  die  vorhergehende  Formel  I,  39  mit  dem 
Freudenerguß  des  Königs  ausgezeichnet  stimmen.  Auf  keine  frü- 
here Königserhebung  passen  die  beiden  Formeln  so  gut  wie  auf 
diese,  und  nicht  bloß  Valesius,  auch  Waitz,  VGr.  II,  1,  S.  168', 
hatte  I,  40,  auf  die  Erhebung  Sigiberts  634  in  Austrasien  bezogen. 
In  Neuster  und  Burgund  ist  ein  solcher  Fall  überhaupt  nicht  vor- 
gekommen. Das  Creditiv  eines  Königs  für  eine  Gesandtschaft  an 
einen  anderen  König,  seinen  Bruder,  (I,  9),  bezieht  sich  ebenfalls 
auf  einen  Fall,  der  zum  letzten  Mal  zur  Zeit  Sigiberts  und  seines 
Bruders  Chlodoveus  11.  eingetreten  ist. 

Die  große  Frage  ist  nur,  wie  sich  Austrasien  mit  den  Be- 
ziehungen Marculfs  zu  Meaux  vereinigen  läßt,  und  hier  ist  Pfister 
nach  der  falschen  Seite  abgeschwenkt.  Er  schloß  aus  den  beiden 
Formeln ,  daß  Marculf  nicht  in  Neustrien ,  sondern  in  Austrasien 
geschrieben  habe,  und  der  Bischof  Landerich  des  Widmungsbriefes 
nicht  der  Bischof  von  Paris  gewesen  sein  könne,  aber  hinsichtlich 
der  politischen  Zugehörigkeit  von  Meaux  konnte  er  sich  nicht  von 
dem  alten  Irrtum  losreißen,  der  die  Forschung  bisher  beeinflußte  ^). 
Meaux  ist  fast  vor  den  Toren  von  Paris  belegen,  und  die  Frage 
nach  dem  Reichsteile,  zu  welchem  es  einst  gehörte,  konnte  bei 
einem  Blick  auf  die  Karte  leicht  zu  Gunsten  von  Neustrien  be- 
antwortet werden. 

Indessen  hatten  die  austrasischen  Könige  es  doch  verstanden, 
ihre  territorialen  Beziehungen  bis  in  das  Herz  Frankreichs  zu 
tragen,  und  auch  noch  in  viel  späterer  Zeit   läßt  sich  bei  territo- 


1)  P.  Both,  Geschichte  des  Benefizialwesens  S.  279. 

2)  Fredegar  IV,  75. 

3)  Schon  Ilenschen,  AA.  SS.  Apr.  II,  489  führt  als  Vorzug  von  Metz  vor 
Meaux  an,  daß  jenes  zu  Austrasien,  dieses  zu  Neustrien  gehört  habe:  'cum  Mel- 
dcnsis  ditio  fuerit  sub  regno  Neustriae'. 


Ursprung  und  Text  von  Marculfs  Formelsammlung.  247 

rialen  Teilongen  das  Bestreben  nach  einem  leichten  Zugang  zu 
dem  politischen  Zentrum  beobachten,  was  durch  die  keilförmige 
Schneidung  der  Lose  nach  Art  eines  Kleeblattes  erreicht  wurde. 
Schon  der  in  Metz  residierende  austrasische  König  Sigebert  I.  besaß 
ein  Drittel  von  Paris  ^) ,  das  ihm  nach  dem  Tode  seines  Bruders 
Charibert  567  zugefallen  war,  und  zugleich  neben  anderen  Städten 
auch  Meaux^),  das  also  damals  zu  Austrasien  gehörte.  In  Meaux 
wurden  seine  Töchter  nach  seinem  Tode  von  Chilperich  in  Ge- 
fangenschaft') gehalten;  in  Meaux  weilte  auch  sein  Sohn  Childe- 
bert  n,  als  er  584  die  von  Chilperich^)  hinterlassenen  Schätze  in 
Empfang  nahm.  Meaux  erhielt  Childebert  II.  durch  den  Vertrag  von 
Andelot  zurück,  nachdem  schon  Gunthram  als  Vormund  von  Chil- 
perichs  Sohn  Chlothar  II.  die  Hand  darauf  gelegt  hatte  %  der  nur 
das  Drittel  von  Paris  behalten  durfte  ^).  Meaux  und  Soissons  baten 
durch  ihre  Machthaber  ('viri  fortiores')  Childebert  11.  bei  seiner 
Anwesenheit  in  Straßburg  589  um  einen  seiner  Söhne  zur  leichteren 
Verteidigung  der  Grenzen,  und  unter  dem  Jubel  des  Volkes  hielt 
damals  sein  ältester  Sohn  Theudebert  II.  seinen  Einzug  *),  der  nun 
auch  König  ^)  von  Gregor  genannt  wird.  Theudebert  II.  war  noch 
61U/1  der  Herrscher  über  Meaux,  als  den  H.  Columban  ^)  sein  Weg 
dorthin  führte.  Die  Vereinigung  der  Monarchie  unter  Chlothar  II. 
613  war  nicht  von  langer  Dauer.  Die  Interessengemeinschaft  der 
Austrasier  verlangte  wiederum  eine  eigene  Regierung  und  622/3 
setzte  ihnen  der  König  seinen  Sohn  Dagobert  I.  als  König  unter 
Ausschluß  der  romanischen  Gebiete  ^) ;  doch  schon  drei  Jahre  nach- 
her forderte  und  erhielt  der  Sohn  das  ganze  austrasische  Reich  ^"), 
und  nur  die  südfranzösischen  Landesteile  blieben  ihm  noch  vorent- 
halten. Er  selbst  hat  dann  nach  des  Vaters  Tode  629  das  Reich 
ebensowenig  zusammenzuhalten  vermocht.  Die  Austrasier  fühlten 
sich  gegen  Neuster  zurückgesetzt,   und  nur  die  Einsetzung  seines 


1)  Greg.  H.  Fr.  VI,  27.  VII,  6. 

2)  Ebend.  IX,  20. 

3)  Ebend.  V,  1. 

4)  Ebend.  VII,  4. 

5)  Ebend.  VHI,  18. 

6)  Ebend.  IX,  36. 

7)  Gregor,  H.  Fr.  IX,  37.  P.  Roth,  Gesch.  des  Benefizialwesens,  Erlangen 
1850,  S.  279,  nimmt  eine  Abtretung  an  und  nennt  Theudebert  König  in  Soissons, 
während  ihn  Waitz  nur  als  Vizekönig  oder  Statthalter  gelten  lassen  wollte.  Vgl. 
jetzt  Waitz,  VG.  U,  1,  S.  167». 

8)  Jonas,  V.  Columbani  I,  26. 

9)  Fredeg.  IV,  47. 
10)  Ebend.  IV,  53. 

Kgl.  Ges.  d.  Wiss.    Nachriditen,    PhiL-hiat.  Klasse.    1916.    Heft  2.     '  17 


248  Bruno  Krusch, 

dreijährigen  Sohnes  Sigibert  als  austrasischen  Königs  in  Metz  633/4, 
das  denkwürdige  Ereignis ,  worauf  sich  die  besprochene  Marculf- 
formel bezieht,  vermochte  ihre  Eifersucht  zu  beschwichtigen,  so 
daß  sie  nun  die  Grenzen  des  Reiches  kräftig  gegen  die  "Wenden 
verteidigten. 

Die  Behauptung  Pfisters  (S.  54),  daß  weder  622  noch  633 
Meaux  in  dem  austrasischen  Reich  einbegriffen  gewesen  sei,  ist 
im  ersten  Teil  richtig,  aber  belanglos,  weü  ein  Vorbehalt  vorlag, 
im  zweiten  unwahrscheinlich  wegen  des  Gegenteils;  seine  weitere 
Behauptung  aber,  es  sei  „fast"  sicher,  daß  es  auch  625  nicht 
zu  diesem  Reiche  geschlagen  sei,  ist  falsch  und  das  Gegenteil 
nicht  bloß  „fast"  sicher,  sondern  sicher,  denn  wir  haben  das  be- 
stimmte Zeugnis  Fredegars  (IV,  63),  daß  Dagobert  I.  damals  das 
„ganze"  austrasische  Reich  mit  der  genannten  Beschränkung  er- 
halten hat:  'reddensque  ei  soledatum  quod  aspexerat  ad  re- 
gnum  Austrasiorum'.  Man  weiß  nicht  recht,  was  Pfisters  Hinweis 
auf  Longnons  Karte  im  Atlas  historique  (Taf.  IV)  gegenüber  einem 
solchen  Quellenzeugnis  eigentlich  besagen  soll,  aus  dem  doch  viel- 
mehr jener  Irrtum  zu  berichtigen  wäre  ^) !  Und  auf  der  Karte  von 
639  hat  Longnon  richtig  Meaux  zu  Austrasien  gerechnet!  Alle 
Begriffe  übersteigt  es  aber,  wie  Pfister  diese  richtige  Karte  Long- 
nons zu  discreditieren  sucht,  während  er  auf  die  falsche  eben  sein 
ganzes  Luftschloß  baute :  Longnon  „scheine"  zu  vermuten,  daß  Meaux 
„zufällig"  beim  Tode  Dagoberts  639  zu  Austrasien  gekommen  sei. 
Weder  Vermutung,  noch  Zufall,  sondern  wiederum  das  bestimmte 
Zeugnis  Fredegars  (IV,  76)  läßt  dem  jungen  Sigibert  schon,  ein 
Jahr  nach  seiner  Königserhebung  634/5  Austrasien  in  seiner  Ge- 
samtheit: 'in  integretate',  garantieren,  nämlich  alles,  was  von  alters- 
her  ('iam  olem')  dazu  gehört  habe ,  und  dazu  gehört  hatte  eben 
auch  Meaux ;  dafür  sollte  sein  jüngst  geborener  Bruder  Chlodoveus 
Neuster  und  Burgund  vollständig  erhalten.  Auf  Grund  dieses 
ältesten  Zeugnisses  und  nicht  auf  leere  Vermutung  hin  hat  Longnon 
Sigiberts  Reich  bis  Meaux  ausgedehnt,  und  noch  die  Karte  von  714 
dehnt  das  Herzogtum  Austrasien  soweit  aus.  Von  den  Zeiten 
Sigiberts  I.  an  hat,  soweit  kein  Vorbehalt  gemacht  war,  Meaux 
zum  austrasischen  Reiche  gehört,  und  der  Versuch,  das  Gegenteil 
zu  beweisen,  um  Bischof  Landerich  den  Weg  zum  Metzer  Bischofs- 
stuhl zu  bahnen,   ist  kläglich  mißlungen. 


1)  Da  Longnon  selbst  im  Texte  explicatif  S.  41  schreibt:  'touvS  les  pays 
septentrionaux  qui  ont  d^pendu  de  TAustrasie',  so  kann  fast  nur  ein  kartogra- 
phischer Zeichenfehler  die  Unterlage  für  Pfisters  Ausführungen  bilden. 


ürsprang  and  Text  zu  Marcolfs  Formelsammlang.  249 

Austrasien  paßt  also  nicht  blos  ausgezeichnet  zu  Meaux,  son- 
dern Meaux  würde  überhaupt  unmöglich  sein,  wenn  sich  ein  an- 
deres Teilreich  als  Heimat  Marculfs  ergeben  hätte.  Als  eine  Art 
Landsmann  von  uns  hat  uns  Marculf  die  für  unsere  deutsche  Gre- 
schichte  hochwichtigen  Erlasse  und  Verfügungen  überliefert,  welche 
aus  Anlaß  der  Geburt  und  Erhebung  des  austrasischen  Königs 
Sigibert  III.,  des  Sohnes  Dagoberts  I,  ergangen  sind,  und  diese 
vor  Pfister  unbeachteten  Dokumente  am  Schlüsse  beider  Bücher 
sind  nicht  minder  bedeutungsvolle  Merksteine  für  die  Markulfkritik, 
wie  die  aus  dem  Klosterarchiv  in  Rebais,  in  der  Diözese  Meaux, 
stammenden  beiden  Formeln  am  Anfang  der  Sammlung,  welche  den 
Sitz  des  Bischofs  Landerich  bestimmten. 

Mochte  Pfister  im  Vertrauen  auf  diese  Urkunden  seinen  an- 
geblichen Bischof  Landerich  von  Metz  in  die  Mitte  des  7.  Jahrh. 
gesetzt  haben,  so  führte  doch  eine  andere  australische  ürk.  über 
diese  Zeitgrenze  hinaus ,  deren  Verwandtschaft  mit  der  Marculf- 
formel I,  14,  bereits  Sickel  erkannt  hatte.  Es  ist  die  Schenkung 
der  fiskalischen  Villa  Barisis-au-Bois  ^)  im  Gau  von  Laon  seitens 
des  jugendlichen  Königs  Childerich  JI.  von  Austrasien  und  seiner 
Tante  ^),  der  Gemahlin  Sigiberts  III.,  der  Königinwitwe  Chinine- 
childis  an  den  Bischof  Amandus  663  zu  Behuf  seiner  Mönche. 
Schon  Zeumer')  hatte  bei  der  Ergänzung  seines  Beweismaterials 
diese  Urk.  für  eine  Abfassung  nach  der  Mitte  des  7.  Jahrh.  und 
gegen  den  Pariser  Landerich  verwertet,  allerdings  nicht  ohne  (S. 
346)  mit  einem  „vielleicht^  die  Umarbeitung  durch  einen  „späteren 
Diktator  der  königlichen  Kanzlei"  einzuschalten,  und  er  hielt  es  so- 
gar für  nicht  unmöglich,  wenn  auch  nicht  für  wahrscheinlich,  daß 
man  663  „einen  schon  unten  früheren  jugendlichen  Königen  ge- 
brauchten Urkundenprolog "  wieder  hervorgesucht  habe.  Das  war 
gerade  die  Annahme,  die  Pfister  gut  gebrauchen  konnte,  und  sie  ist 
von  ihm  begierig  aufgegriffen  und  gründlich  ausgeschöpft  worden. 
Die  Schenkung  erfolgte  nach  der  Urk.  Childerichs  11.  zur  Belohnung 
der  zweifachen  Dienste  des  Amandus  für  die  Verwandten  des 
Königs  ("pro  parentibus  nostris')  und  für  seine  eigene  Jugend 
('pro  nostrae  adolescentiae  aetate'),  während  Marculf  die  zweiten 
Dienste  der  Person  des  Königs  von  Jugend  an  ('nobis  ab  aduli- 
scentia  aetatis')  leisten  läßt:  eine  leichte  Änderung,  die  aber,  wie 
Zeumer  richtig  erkannte,  die  Fassung  der  Urk.  erst  für  alle  Fälle 


1)  Pertz,  Dipl.  S.  25 ;  vgl.  SS.  rer.  MeroT.  V,  S.  398. 

2)  G.  Waitz,  VG.  II,  P,  S.  187,  N.  2,  schreibt  irrig  „Mutter«. 

3)  MG.  Formulae  S.  84;  N.  A.  XI,  346  fg. 

17* 


250  Bruno  Krusch, 

brauchbar  machte.  Die  Urk.  war  gerade  auf  den  Regentschafts- 
fall  zugeschnitten,  wie  er  663  vorlag,  und  auch  durch  die  Änderung 
schimmert  hindurch,  daß  es  sich  um  einen  noch  jungen  König 
handelt.  Lag  aber  schon  für  Marculf  selbst  das  Bedürfnis  der 
Änderung  vor,  um  den  Spezialfall  als  Formel  verwendbar  zu  machen, 
warum  soll  man  dann  noch  seine  direkte  Benutzung  durch  einen 
Nebel  von  Möglichkeiten  verhüllen,  für  die  sich  auch  nicht  der 
mindeste  Anhalt  findet?  Pfister  haben  diese  Irrlichter  zu  den 
wunderlichsten  Aufstellungen  geführt.  Er  vermutet  ältere  Ur- 
kunden der  „Kinder"  Dagobert  I.  und  Sigibert  III.  mit  dieser 
Arenga,  und  da  damals  das  Königshaus  stark  zusammengeschmolzen 
war,  muß  er  nun  'parentes'  als  Vater  und  Sohn  erklären,  was 
wegen  der  zweiten  Alternative  und  auch  an  sich  nicht  angeht; 
er  vermutet  weiter  die  Übertragung  der  Formel  auf  Childerich  IL 
663,  was  wieder  dieselben  Verhältnisse  wie  bei  den  früheren  Regenten 
voraussetzen  würde,  und  schon  für  die  'parentes'  in  seiner  eben  ge- 
gebenen Erklärung  stimmt  das  nicht,  denn  Childerichs  Vater  war 
längst  tot.  Pfisters  Vermutungen  haben  zu  offenbarem  Unsinn  geführt, 
und  er  gesteht  das  selbst  mit  den  dürren  Worten  ein :  'cette  ha- 
rangue  perdra  plus  tard  s  o  n  s  e  n  s  pr^cis'.  Unter  'parentes'  ver- 
stehen die  merovingischen  Könige  im  allgemeinen  ihre  Verwandten, 
besonders  auch  Vettern,  und  Childerichs  IL  Verwandte  waren  da- 
mals sein  Bruder  Chlothar  III.  und  sein  nach  Irland  verschickter 
Vetter  Dagobert  IL,  der  Sohn  der  Königin  Chimnechilde. 

Hätte  man  die  Vergleichung  der  Urkunde  von  663  mit  Mar- 
culf über  die  Arenga  hinaus  ausgedehnt,  so  würde  man  gefunden 
haben,  daß  sich  die  Übereinstimmung  in  einzelnen  zusammenhän- 
genden Ausdrücken  noch  weiter  auf  die  Fassung  des  Schenkungs- 
aktes erstreckt,  und  hätte  man  nun  auch  noch  die  folgende 
Marculff'ormel  I,  15  nachgelesen,  so  würde  man  eine  Entdeckung 
gemacht  haben,  die  allen  Möglichkeiten  mit  einem  Mal  ein  Ziel  setzt. 
Marculf  hat  auch  noch  die  folgende  Formel  I,  16  'Cessio  ad  loco 
sancto'  aus  Childerichs  Urk.  von  663  [genommen,  und  nicht  gar 
viele  unbelegte  Ausdrücke  und  Sätze  bleiben  übrig,  von  denen 
übrigens  einige  in  anderen  Urkunden  aus  späterer  Zeit  zu  finden 
sind  ^).  Marcalf  hat  eine  Urkunde  zu  zwei  Formeln  verarbeitet, 
unter  eigenen  Ergänzungen,  wie  er  sie  im  Widmungsbrief  andeutet : 
'vel  ex  sensu  proprio  cogitavi',  und  schon  bei  der  Untersuchung 
des  Verhältnisses  zu  den  Urkk.  von  Rebais  am  Anfang  des  ersten 


1)  Z.  B.  in  der  Urk.  für  St.  Bertin    von  687  (Pertz,   Dipl.  I,  S.  Bl,»),    und 
von  Marculfs  Beziehungen  zu  diesem  Klosterarchive  wird  noch  unten  zu  reden  sein. 


Ursprung  und  Text  Ton  Marculfs  Formelsammlang.  251 

Buches  bemerkten  wir,  wie  er  Stellen  aus  der  einen  Urk.  in  die 
andere  versetzte.  Bisweilen  schließt  sich  sogar  die  zweite  Formel 
enger  an  die  Vorlage  an  als  die  erste :  sie  redet  z.  B.  gerade  wie 
die  Urk.  die  Adressaten  mit  'magnitudo  seo  utüitas  vestra'  an, 
I,  14.  aber  mit  *m.  seo  strenuetas  vestra' ;  sie  allein  hat  nach  'nos' 
den  Zusatz  'propter  nomen  Domini';  sie  allein  liest  (S.  53,  s)  richtig 
'prumptissima  devotione'  mit  der  Urk.,  während  in  I,  14,  'pmmp- 
tissima  volontate'  (S.  52, 15)  geändert  ist.  Für  eine  Schenkung  an 
eine  geistliche  Anstalt  ('äd  loco  sancto'  I,  15)  war  die  Schenkungs- 
urkunde Childerichs  an  das  Kloster  des  Amandus  besser  zu  ge- 
brauchen als  für  die  vorhergehende  Schenkung  an  einen  weltlichen 
Oroßen,  und  bei  der  notwendigen  Umarbeitung  des  Formulars  für 
weltliche  Zwecke  hat  sich  dann  auch  Marculf  arg  verfahren.  Er 
fand  die  Eigentumsübertragung  der  fiskalischen  Villa  auf  Amandus 
mit  der  Schutzklausel  'absque  ulla  contradictione  vel  dimino- 
ratione'  versehen,  ähnlich  wie  später  Theuderich  III.  677  für  eine 
Güter konzession  bestimmte^):  'nee  quislibet  contradicere  nee 
minuare  —  non  praesummatis',  und  verfiel  durch  eine  sprachlich 
leicht  zu  erklärende  Verwechslung  ('cum  tradicione'  für  contradic- 
tione') auf  eine  ganz  andere  Formel  der  privaten  Schenkungs-  oder 
Leiheurkanden^) :  'absque  ullius  expectata  iudicum  tradieione'.  Mit 
dieser  Formel  wurde  in  privaten  Schenkungsurkunden  bei  Vorbe- 
haltung des  Nießbrauchs  der  automatische  Heimfall  der  Grrund- 
stücke  ohne  Dazwischentreten  des  Richters  nach  dem  Tode  der  Ge- 
schenkgeber xmd  ähnlich  bei  Leiheverträgen  das  automatische  Kück- 
fallsrecht  ausgemacht.  Es  liegt  auf  der  Hand,  daß  eine  solche 
Bestimmung  für  eine  königliche  Schenkungsurkunde  nicht  paßte, 
aber  nicht  minder,  daß  eine  königliche  Schenkungsurkunde  an  einen 
Privatmann  für  einen  Mönch  wie  Marculf  schwer  zu  erlangen  war. 
So  mußte  die  Urk.  für  St.  Amand  auch  dieses  Bedürfnis  decken ; 
bei  ihrer  doppelten  Beziehung  ist  es  aber  wohl  ausgeschlossen, 
daß  ihre  Übereinstimmung  mit  der  Formelsammlung  noch  anders 


1)  Pertz,  Dipl,  I,  S.  44, 4,.  Auch  der  Schluß  der  Formeln  I,  14  und  I,  15 
kann  mit  dieser  Urk.  verglichen  werden  :  'liciat  ei  per  nostro  permisso  res 
—  delegare  vel  quicquid  exinde  facere  voluerit  liberam  et  fir- 
missemam  in  omnebus  habiat  potestatem'. 

2)  Marculf  selbst  hat  die  Formel  richtig  angewandt  S.  75,  x,.  78,  ,3.  j«.  99,  u. 
100,1,.  In  den  Formeln  von  Tours  lautet  sie  häufig  'absque  ullius  expectata  tra- 
ditione  vel  iudicum  consignatione*  (S.  136, 4  u.  s.  w.).  In  den  älteren  Weißenburger 
Urkunden  steht  713  u.  715  (Pardessus  11,  440.  444):  'absque  ullius  iudicis  inter- 
pellatione',  aber  schon  734  ist  hier  die  MarculflFormel  11,  3  eingedrungen  (Par- 
dessus II,  457). 


252  Bruno  Krusch, 

erklärt  werden  könnte,  als  durch  direkte  Entlehnung  seitens 
Marculfs. 

Für  die  Entstehung  der  Marculfschen  Formelsammlung  hat 
Brunner  *)  das  Ende  des  7,  Jahrh.  angenommen  unter  dem  Eindruck 
der  Vermutung  Zeumers,  die  sich  im  wesentlichen  auf  die  Teil- 
nahme des  Majordomus  Pippin  am  Hofgerieht  697  gründete,  und 
bei  der  Unsicherheit  dieser  Grundlage  wird  man  den  Ergebnissen 
nicht  ohne  Interesse  entgegensehen,  zu  welchen  sich  auf  dem  be- 
schrittenen  Wege  der  Textvergleichung  mit  den  Originalurkunden 
gelangen  läßt.  Wenden  wir  uns  zunächst  zu  den  beiden  Formeln 
I,  3.  4,  über  neue  Immunität  und  Immunitätsbestätigung,  so  hatte 
schon  SickeP)  richtig  erkannt,  daß  die  erstere  mit  keiner  Mero- 
vingerurkunde  dieses  Inhalts  irgendwie  verwandt  sei,  ohne  sich  doch 
über  die  Ursache  dieses  auffallenden  Umstandes  auszulassen.  Die 
Immunität  war  dem  Kloster  Eebais  in  Verbindung  mit  dem  Privileg 
von  Dagobert  verliehen  worden  ^,  während  Marculf  eine  besondere 
Formel  für  neue  Immunität  um  so  weniger  entbehren  konnte,  als 
er  den  Akt  des  Königs  I,  2  zu  einer  'Cessio  ('Concessio'  A2)  regis 
de  hoc  Privilegium',  zu  einer  bloßen  Ergänzung  des  bischöflichen 
Aktes  herabgedrückt  hatte.  Im  Klosterarchiv  von  Rebais  war 
also  ein  Vorgang  für  reine  Immunitätsverleihung  nicht  vorhanden, 
und  wie  bei  der  Schenkung  an  den  Weltmann  (I,  14),  hat  Marculf 
nun  bei  der  Entwerfung  dieser  Formel  im  wesentlichen  seine  eigene 
Erfindungsgabe  walten  lassen. 

Für  die  Immunitätsbestätigung  in  I,  4,  lag  dagegen  eine  Über- 
fülle von  Material  vor.  Schon  von  Sickel  *)  bemerkt  war  die  Ver- 
wandtschaft mit  zwei  erhaltenen  Immunitätsbestätigungen,  einer 
Theuderichs  III  683  für  Montierender  %  die  der  desselben  Königs  für 
Malmedy  und  Stavelot  nahe  steht  %  und  einer  anderen  Chilperichs  II. 
für  St.  Denis  716  ');  außerdem  zeigt  aber  das  Formular  große  Ähn- 
lichkeit mit  den  Bestätigungen  Chlodovechs  III  691  für  St.  Bertin^) 
und  Childeberts  III  für  das  Kloster  S.  Sergii  in  Angers  c.  705^). 


1)  Brunner,  deutsche  Bechtsgeschichte  I,  579*. 

2)  Sickel,  Beiträge  zur  Diplomatik  III,  217. 

3)  Ebend.  IV,  570. 

4)  Acta  Karolin.  I,  116. 
6)  Pertz,  Dipl.  I,  S.  49. 

6)  Pertz,  Dipl.  I,  S.  193,  setzt  sie  irrig  unter  die  Fälschungen;  vgl.  SS.  rer. 
Merov.  V,  93 ;    Levison  in  N.  A.  XXXIII,  S.  749. 

7)  Pertz,  Dipl.  I,  S.  72 ;  tgl.  Sickel  III,  217. 

8)  Pertz,  Dipl.  I,  8.  52. 

9)  Derselbe  S.  65. 


Ursprung  und  Text  von  Marculfs  Formelsammlung.  253 

Die  Arenga  beginnt  ähnlich  wie  683')  und  läßt  sich  weiter  mit 
Urknnden  von  716  und  717  ^)  vergleichen ;  mit  der  vorhergehenden 
Formel  I.  2  berührt  sie  sich  in  dem  Ausdruck  'benigna'  (S.  41,8), 
der  sich  dort  in  einem  Zusätze  Marculfs  zu  Dagoberts  Urk.  für 
Rebais  findet.  Führt  die  Formel  I,  4  die  Befugnisse  ^  des  öffent- 
lichen Richters,  welche  im  Immunitätsgebiet  ruhten,  zweimal  an, 
bei  den  früheren  Verleihungen  und  bei  der  Bestätigung,  so  liefert 
hierfür  außer  der  Urk.  für  St.  Denis  696*)  nur  noch  die  von  705 
ein  Beispiel,  und  mit  dieser  letzteren  schreibt  Marcnlf  an  der 
zweiten  Stelle  'ad  agendum'.  aber  nicht  an  der  ersten,  wo  viel- 
mehr die  Formel  von  691  begegnet.  Diese  Urk.  von  St.  Bertin 
führt  die  aufgehobenen  richterlichen  Befugnisse  in  großer  Ausführ- 
lichkeit bei  den  früheren  Verleihungen  an  und  bestätigt  allein, 
ebenso  wie  die  späteren  Urkk.  für  St.  Bertin  von  718  u.  721,  an 
dieser  Stelle  einen  Zusatz  Marculfs  über  den  Grerichtszwang  der 
Stiftsuntersassen,  der  sich  außerdem  nur  noch  in  einer  Urk.  von 
700  %  aber  hier  im  disponierenden  Teil  findet.  Allein  mit  der  Urk. 
von  705  und  einer  für  St.  Denis  von  706^)  läßt  MarcuK  bei  der 
Bestätigung  hinter  den  Worten  'quislibet  de  iudiciaria  potestate' 
das  sonst  in  den  Urk.  stehende  'accinctus'  aus,  und  überhaupt  ist 
diese  Phrase,  wie  schon  Levison  erkannte,  nicht  vor  c.  681  ^  nach- 
weisbar. Marculf  erwähnt  alsdann  ein  zweites  Mal  die  Schenkungen 
gottesfürchtiger  Leute  (S.  45, 4),  die  er  schon  bei  den  Vorurkunden 
erwähnt  hatte  (S.  44,  u),  schließt  aber  nun  bei  der  Bestätigung 
einen  ganz  ungehörigen  Zusatz  über  die  Untersassen  an,  der  zum 
Gerichtszwang  und  hinter  'homines'  (S.  44,i6)  gehörte,  wo  er  auch 
in  den  Urkk.  für  St.  Bertin  steht.  Er  ist  nämlich  in  die  hier  un- 
mögliche Stilisierung  (S.  45,5  'tarn  de  ingenuis  quam  de  servienti- 
bus')  der  Urk.  Dagoberts  für  Rebais  in  Formel  1,2  (S.  42,2$) 
hineingeraten,  wo  'de"  von  'poterat  sperare'  abhängt,  das  aber  bei 
ihm  erst  am  Schlüsse  auftaucht  (S.  45, 12),  und  hatte  durch  die 
Vorwegnahme  der  Personen  für  den  Gerichtszwang  nicht  mehr  das 
Objekt,  das  er  oben  bei  den  Vorurkunden  gehabt  hatte.  Er  hat 
daher  (S.  45, 7)  mit  einem  schwer  zu  deutenden  'eos'  auf  die  vor- 


1)  Ich  bezeichne   die   Urkk.  nach  den  Jahren  der  Pertzschen  Ausgabe,  die 
zur  Vermeidung  von  Miäverständnissen  nicht  berichtigt  werden. 

2)  Pertz,  S.  75,  „.  78,  ,0- 

3)  Waitz,  VG.  IV,  301«. 

4)  Pertz,  S.  61. 

5)  Derselbe  S.  64,  „. 

6)  Derselbe  S.  67,  jo- 

7)  Derselbe  S.  46,  »j.  193,  ,8. 


254  Bruno  Krusch,  , 

ausgegangenen  Untersassen  zurückgegriffen,  wofür  dann  König 
Pippins  Kanzlei  bei  der  späteren  Benutzung  der  Formel  das  klare 
'homines  ipsius  ecclesiae'  eingesetzt  hat  ^),  wie  sie  auch  den  voraus- 
gehenden konstruktionslosen  Satz  durch  Einfügung  einer  Erläute- 
rung verständlich  machte.  Marculfs  eigene  Zutaten  und  Ände- 
rungen hatten  die  Formel  unverständlich  gemacht,  die  nun  nicht  ohne 
gewisse  Korrekturen  seitens  der  frühkarolingischen  Kanzlei  ver- 
wendbar war.  Am  stärksten  hat  auf  ihn  der  Urkundentyp  von  St. 
Bertin  eingewirkt,  aber  auch  die  Übereinstimmung  mit  der  ürk.  von 
Angers  705  ist  nicht  unerheblich,  deren  Einfluß  sich  auch  in  der 
Konfirmation  für  einen  Weltmann  1, 17  (S.  54, 21)  bemerkbar  macht. 
Der  Schluß  der  Urk.  für  St.  Bertin  691  weist  kurz  auf  den  Inhalt 
der  früheren  Urkk.  hin  und  daß  das  Kloster  von  den  öffentlichen 
Richtern  nichts  zu  fürchten  habe.',  Hier  hat  sich  Marculf  mehr  an 
das  Muster  der  Urk.  von  716  für  St.  Denis  gehalten.  Überhaupt 
lassen  sich  fast  alle  seine  Wendungen  in  der  Formel  I,  4  aus  den 
erhaltenen  Urkk.  belegen,  und  besonders  aus  den  späteren  bis  716 : 
auch  wenn  er  nur  ähnliche  Urkk.,  nicht  die  gleichen  benutzte,  würde 
man  ihn  nach  diesem  Beispiel  eher  in  den  Anfang  des  8.  Jahrh. 
als  um  das  Ende  des  7.  Jahrh.  zu  setzen  haben. 

Einige  dieser  Wendungen  kehren  nun  aach  in  der  von  Marculf 
frei  stilisierten  Formel  für  neue  Immunität  I,  3  wieder  und  z.  T. 
mit  Zusätzen,  die  in  den  Urkunden  ihre  Bestätigung  finden,  also 
erst  von  Marculf  in  I,  4  gestrichen  sind  ^) ,  ja  die  hier  aus  dem 
Zusammenhang  gerissene  Bemerkung  über  die  Untersassen  (S.  45, 5), 
deren  wir  oben  gedachten,  steht  in  I,  3  noch  in  der  richtigen  Ver- 
bindung, in  der  sie  sich  in  der  Urk.  Dagoberts  für  Rebais  findet 
(S.  42, 28),  und  es  sind  auch  noch  die  nächsten  Worte  der  Urk. : 
'ex  indulgentia  nostra'  hinzugefügt,  wie  auch  sonst  der  Ausdruck 
hier  bei  weitem  mehr  den  Urkk.  gleicht  ^)  als  in  I,  4.  Wenig  glück- 
lich ist  dagegen  Marculfs  eigene  Ergänzung  der  Freien  und  Un- 
freien auf  den  kirchlichen  Besitzungen  in   beiden  Formeln  I,  3.  4 

1)  M.  G.  Dipl.  Carol.  I.  S.  8,33. 

2)  Den  Zusatz  'quoque  tempore'  vor  *non  presumat  ingredire'  I,  3  (S.  43,  u). 
der  in  I,  4  (S.  45,8)  weggelassen  ist,  bestätigen  die  Urk.  von  700  und  716. 

3)  Die  Bezeichnungen  'infra  agros'  und  'super  terras'  für  die  Ansiedlungen 
der  Untersassen  in  I,  3  stimmen  mit  den  Urk.  Dagoberts  (=  Marculf  I,  2,  S. 
i42,28)  und  von  691.  718  (Pertz  S.  62,35.  79,5o),  während  in  I,  4  (S.  45,,)  'in  — 
villas'  steht,  und  auch  die  Corroborationsformel  'inviolata  Deo  adiutori  permaneat' 

n  I,  3,  schließt  sich  an  'inviolata  permaniat'  der  Urk.  von  716  enger  an,  als  'in- 
violata Deo  adiutori  possit  constare'  von  I,  4,  was  ähnlich  schon  vorher  in  I,  2 
(S.  41,, 4),  aber  mißverständlich  und  unter  Störung  des  Zusammenhanges  einge- 
fügt war.; 


Ursprung  und  Text  Ton  Marculfs  Formelsammlung.  255 

durch  eine  neue  Gruppe  der  „übrigen  Nationen",  und  vielleicht  hat 
ihm  hierbei  eine  Gregenüberstellung ,  wie  in  der  Grafenbestallung 
1,8  vorgeschwebt,  wo  die  „übrigen  Nationen"  den  Pranken,  Ro- 
manen und  Burgundern  entgegengesetzt  sind. 

Das  Beste  kommt  aber  noch.  Am  Schluß  der  Formel  I,  3 
wendet  sich  der  König  in  dem  feierlichen  Befreiungsbriefe  (S.  44, 2) 
für  einen  Bischof  nicht  bloß  an  die  königliche  Hoheit,  also  an  sich 
selbst  und  seine  Nachfolger,  sondern  auch  an  die  grausame  Gier 
('saeva  cupiditas')  der  königlichen  Richter,  um  sie  vor  einer  Ver- 
letzung seiner  Immunitätsbewüligung  zu  warnen.  Diese  wenig 
königliche  Grobheit  des  biedern  Schulmeisters,  die  seiner  klerikalen 
Auffassung  derben  Ausdruck  gab,  hat  den  Kanzleien  ebensoviel 
Ärgernis  bereitet  wie  der  modernen  Kritik.  Pippins  Kanzlei  än- 
derte 743  die  Stelle*),  während  sonst  die  Formel  getreu  kopiert 
ist.  Gedankenlos  wiedergegeben  wurde  sie  aber  von  Pippins  kö- 
niglicher Kanzlei  758  in  der  Immunitätsurkunde  für  Honau  * ) , 
und  dies  hat  die  Urk.  in  "Waitzens  ^)  Augen  so  verdächtigt,  daß  er 
sie  zu  den  falschen  oder  zweifelhaften  warf,  wiewohl  ihre  un- 
zweifelhafte Echtheit  schon  von  Sickel^)  dargetan  war.  Auch  in 
der  Immunitätsverleihung  für  Fulda  774  ist  die  anstößige  Bemer- 
kung getreu  wiederholt,  doch  streicht  der  Codex  Eberhardi  wenig- 
stens das  böse  'saeva'^). 

Häufig  hat  sich  Marculf  nur  ganz  leichte  stilistische  Änderungen 
am  Texte  der  ürkk.  erlaubt,  die  ohne  Heranziehung  der  Quellen 
überhaupt  nicht  zu  erkennen  waren,  und  die  besonderen  Eigenheiten 
seiner  Feder  gibt  schon  das  älteste  Beispiel  für  die  Benutzung  der 
Formel  I,  4,  Pippins  Urk.  für  Utrecht  753^),  sklavisch  wieder^;. 
Finden  sich  solche  Lieblingsausdrücke  Marculfs  nicht  in  den  Urkk. 
der  merovingischen  Könige  des  angehenden  8.  Jahrh.,  so  kann 
wohl   die   Verwandtschaft  mit   ihm   nur    in   dem   Sinne   gedeutet 


1)  Pertz,  S.  104,18. 

2)  MG.  Dipl.  Carol.  I,  S.  15. 

3)  Waitz,  VG.  IV,  301». 

4)  Sickel,  Beiträge  zur  Diplomatik  III,  197. 

5)  MG.  Dipl.  Carol.  1,  S.  123,48- 

6)  Ebend.  S.  8. 

7)  Sie  ist  die  älteste  unverdächtige  fränkische  Königsurkunde,  die  nach 
Marculfs  (S.  44, ,j.  54, 3^.  55, ig.  64,15.  65, ,8.  66,45)  Vorgange  'Praecipientes  ergo' 
schreibt  für  'Praecipientes  enim'  (so  richtig  Marculf  S.  54, 4.  62,„);  die  Urk. 
Theuderichs  III.  für  Corbie  über  die  Wahl  des  Abtes  Erembert  ist  verdächtig 
(Pertz,  Dipl.  I.  47, „;  N.  A,  XXXI,  342ff.).  Sie  schreibt  auch  mit  ihm  'tarn  pre- 
sentibus'  ('tarn  presentis'  constant  Marculf  S.  44, 4.  45,  u)  für  'tarn  n  0  s  tr  i  s  quam 
futuris  temporibus',   was  in  den  Merovingerurkunden   der   stehende  Ausdruck  ist. 


256  Bruno  Krusch, 

werden,  daß  die  Beeinflussung  von  den  Urkk.  ausgegangen  ist,  und 
diese  nicht  unter  Benutzung  von  Marculfs  Formelsammlung  ent- 
standen sind. 

Das  ist  ganz  ausgeschlossen  bei  der  Formel  I,  11  für  freie 
Beförderung  und  Verpflegung  einer  fränkischen  Gesandtschaft, 
'Tracturia  ligatariorum  vel  minima  facienda  istius  instar',  deren 
Quelle  ich  in  einer  Urkunde  Chilperichs  II.  für  das  Kloster  Corbie 
von  716  ^)  gefunden  zu  haben  glaube,  und  zu  demselben  Jahre  hatte 
uns  schon  eine  Urk.  desselben  Königs  für  St.  Denis  geführt,  deren 
Beziehungen  zu  Marculf  auch  Sickel  bemerkt  hatte.  Die  Schwierig- 
keiten, welche  dem  Mönche  Marculf  die  Beschaffung  der  Unterlagen 
für  die  auf  weltlichem  Gebiete  liegenden  Formeln  bereitete,  wurden 
schon  bei  der  Schenkung  an  einen  'vir  illuster'  (I,  14)  berührt, 
und  wie  dort  ist  auch  hier  eine  Klosterurkunde  für  den  neuen 
Zweck  zurechtgestutzt  worden,  und  zwar  in  höchst  origineller 
Weise.  Der  König  bestimmt  in  der  Formel  ^)  seiner  Gesandtschaft, 
einem  Bischof  und  einem  'inluster  vir',  außer  Pferden  mit  Fudern 
von  Heu  und  Stroh  folgendes  zu  reichen:  Massen  von  Lebens- 
mitteln und  Getränken,  Fleischwaren  und  Schlachtvieh  aller  Gat- 
tungen ,  allerlei  Spezereiwaren,  Zimt,  Gewürznelken ,  Kostwurz, 
unter  anderen  Kümmel  pfundweise :  'cimino  1  i  b  e  r a  s  tantas',  ferner 
Datteln,  Mandeln,  Pimpernüsse  und  schließlich  noch  Fuder  Holz 
und  Späne,  —  Waren,  die  zur  Ausstattung  eines  Handelsgeschäfts  aus- 
gereicht hätten!  Und  alle  diese  Vorräte  noch  dazu  täglich  ('diebus 
singulis)  und  außerdem  nur  als  Mindestmengen,  wie  in  der  Über- 
schrift bescheiden  angedeutet  ist!  Welches  gesegneten  Appetits 
müßten  sich  die  beiden  Männer  erfreut  haben,  und  welcher  Magen 
gehörte  allein  dazu,  die  Pfunde  Kümmel  alltäglich  zu  verdauen! 
Welche  Vorräte  an  Kolonialwaren  müßten  auf  den  königlichen 
Gütern  damals  aufgespeichert  gewesen  sein,  um  nur  zwei  solcher 
Gesandten  zu  beköstigen!  Waitz^)  erklärte  sich  die  Sache  so,  die 
Meinung  sei  „offenbar",  daß  alle  Untertanen  nach  Verhältnis  ihres 
Besitzes  die  Leistung  aufbringen  sollten.  Sollten  die  Bauern  wirklich 


1)  Pertz,  Dipl.  I,  S.  76.  Zu  der  neuen  Ausgabe  von  L.  Levillain,  Examen 
critique  des  chartes  Märovingiennes  et  Carolingiennes  de  Tabbaye  de  Corbie,  Paris 
1902,  S.  236 ,  habe  ich  aus  der  Hs.  Verbesserungen  nachgetragen ,  N.  A.  XXXI, 
S.  373. 

2)  Sie  beginnt  mit  denselben  Worten  wie  I,  23 ,  und  auch  hier  werden  die 
beiden  Würdenträger  genannt,  aber  durch  'auf  getrennt,  und  die  dritte  Formel  mit 
dem  gleichen  Anfang  I,  40,  über  die  Königserhebung  Sigiberts  III.  hat  dieselbe 
Fassung  des  Befehls  :  'adeo  iubemus\ 

3)  Waitz,  VG.  II,  2,  S.  297». 


Ursprung  und  Text  von  Marculfs  Formelsammlung.  257 

in  jenen  entlegenen  Zeiten  mit  Datteln,  Mandeln,  Pimpernüssen 
nnd  Kümmel  so  reichlich  versehen  gewesen  sein?  Es  ist  wunderbar, 
daß  niemand  bisher  die  Seltsamkeiten  bemerkt  hat,  die  diese  Formel 
birgt.  Solche  Warenlager,  wie  sie  Marculf  hier  für  den  täglichen 
Unterhalt  der  beiden  Gresandten  voraussetzt,  waren  im  fränkischen 
Reiche  an  den  Zollstätten  aufgespeichert,  da  die  Zölle  regelmäßig 
in  den  von  den  Kaufleuten  durchgeführten  "Waren  erlegt  wurden  ^) 
und  der  Inhalt  seiner  Gesandtschaftsformel  I,  11  deckt  sich  mit 
der  schon  genannten  Zollbestätigungsurkunde  Chilperichs  II.  für 
das  Kloster  Corbie  716  in  einem  Umfange,  daß  nur  ein  kleiner  Teil 
als  sein  geistiges  Eigentum  übrig  bleibt.  Es  handelt  sich  in  jener 
Urk.  um  eine  große  Warenschenkung  der  königlichen  Gründer  des 
Klosters  Corbie,  Clothars  III.  und  der  Balthilde,  aus  dem  Zoll 
zu  Fos  (Bouches-du-Rhone),  die  der  Kloster-Cellerarius  alljährlich 
auf  15  Wagen  abholte,  u.  a.  nicht  weniger  als  10  000  Pfund  Öl, 
und  um  die  Gewährung  freier  Fahrt  und  freien  Unterhalts  für 
die  Abgesandten  ('ad  missus  ipsius  monasterii')  bei  ihrer  jährlichen 
Hin-  und  Rückreise.  In  der  Urk.  sind  die  Zollwaren  für  das 
Kloster  von  den  Waren  für  den  Unterhalt  der  klösterlichen  Ab- 
gesandten unterschieden ,  und  Marculf  hat  das  Unheil  dadurch 
angerichtet,  daß  er  von  der  unteren  Reihe  in  die  obere  überge- 
sprungen ist.  Die  Pfunde  Kümmel  stammen  aus  der  oberen  Reihe, 
und  zwar  sind  es  dort  150;  die  klösterlichen  Abgesandten  erhielten 
nach  der  unteren  jährlich  nur  ganze  zwei  Uncien  I  Marculf  begann 
zuerst  die  Lieferungen  für  sie  zu  copieren,  immer  mit  dem  unbe- 
stimmten Formelausdruck  'tantos'  n.  s.  w.,  wie  es  seine  Gewohnheit 
war,  also  Pferde,  Weiß-  und  Schwarzbrot,  Wein,  Bier,  Schinken 
und  Fleisch,  nicht  ohne  schon  hier  Schweine,  Ferkel,  Hammel, 
Lämmchen,  Gänse  und  Fasanen  dem  Riesenappetit  seiner  zwei 
königlichen  Abgesandten  mit  mehr  als  königlicher  Freigebigkeit 
zuzulegen,  und  bei  den  Gewürzen  hat  er  dann  den  verhängnis- 
vollen Sprung  in  die  obere  Reihe  der  dem  Kloster  überlassenen 
Zoll  waren  gemacht : 

Chilperich  II.  716.  Marculf  I,  11. 

'pipere  lib.  30,  cumino  lib.  150,  'cimino  liberas  tantas,    piper 

cariofile    lib.  2,   cinnamo   lib.  1,  tantum,    costo    tanto,     cariofilo 

spico  lib.  2,  costo  lib.  30'.  tanto,  spico  tanto,  cinamo  tanto'. 

Wenn  der  karolingische  Bearbeiter  der  Formelsammlung  c.  20 : 


1)  Ebend.  S.  301 ». 


258  Bruno  Krusch, 

'cumino  vel  piper'  schrieb^),  also  'liberas'  durch  'vel'  ersetzte,  so 
scheint  er  den  Unsinn  bemerkt  zu  haben.  Zugleich  mit  den  Pfunden 
Kümmel  sind  aber  auch  Gewürznelken,  Nardus  (spico) ,  Zimt  und 
Datteln,  Pimpernüsse  und  Mandeln  aus  den  Zollwaren  auf  die 
Speisekarte  der  königlichen  Gresandten  gelangt,  und  höchst  er- 
götzlich ist  es  dann  noch,  wie  unser  Marculf  am  Schluß  mit  kühnem 
Federstrich  die  Jahreslieferungen  an  den  Klosterkellerer  und  seine 
Genossen  in  Tageslieferungen  an  die  zwei  königlichen  Abgesandten 
verwandelt  hat,  die  damit  vor  eine  nicht  leichte  gastronomische 
Aufgabe  gestellt  wurden: 

Chilperich  II.  716.  Marculf  I,  11. 

'qui  hoc  exigeri  ambularent  — .  'Haec  omnia  diebus  singulis, 
Haec  omnia  superius  memorata  tam  ad  ambulandum  quam  ad 
locis  convenientibus  annis  sin-  nos  in  Dei  nomen  revertendum, 
golis  eisdem  tam  euntibus  quam  unusquisque  vestrum  loca  con- 
redeuntibus  absque  mora  dare  et  suetudinaria  eisdem  ministrare  et 
adimplere  deberitis,  etiam  ad  adimplerepr  ocuretis,  qualiter 
revertendum  carra  15  de  loco  in  nee  moram  habeant'. 
loco    pro    loca    consuetudinaria, 

qualiter  pro  eorum  mercide 

absque  dispendio  ipsius  monaste- 

rii;  deberet   provenire. ad 

missus  ipsius  monasterii  dare  et 
adimplere  procuretis'. 

Mangel  an  praktischem  Blick  und  ein  gewisser  Hang  zur  Über- 
treibung, der  sich  auch  anderwärts^)  in  der  Formelsammlung  be- 
merkbar macht,  haben  das  Unheil  angerichtet,  und  die  Aufdeckung 
des  Sachverhalts  läßt  einen  tiefen  Einblick  in  die  Arbeitsweise 
Marculfs  tun,  dürfte  auch  für  die  Beurteilung  seiner  Schrift  von 
nicht  geringer  Bedeutung  sein.  Die  Bestätigungsurkunde  Chilpe- 
richs  II.  für  Corbie  716  wirft  einen  hellen  Lichtstrahl  in  die  Zelle 
des  alten  Mönches,  und  die  Übereinstimmung  erstreckt  sich  über 
den  erzählenden  Teil  hinaus  in  den  verfügenden  des  Königs.  In 
ihm  stehen  nämlich  die  von  Marculf  gebrauchten  Worte:  „et 
adimplere  procuretis",  während  dort  dafür  'et  adimplere  deberitis' 
geschrieben  ist.  Den  Schluß  der  Formel,  die  Drohung  des  Kö- 
nigs mit   Entziehung  seiner  Gunst   schon   bei   einer   bloßen   Ver- 


1)  Forraulae  Marculfinae  aevi  Karolini,  Formulae  S.  122. 

2)  Man  beachte  gewisse  Superlative ,   z.  B.  S.  44,  lo  'robostissimo  iure',   und' 
verstärkende  Zusätze,  wie  S.  39, ,,  'innumerabilia'. 


Ursprung  und  Text  Ton  Marcnlfs  Formelsammlung.  259 

zögerung  der  Lieferungen  an  die  Gesandten:  'si  gratia  nostra 
obtatis  habere',  fand  ich  nach  vielem  Suchen  in  den  königlichen 
Zollbefreiungsurkunden  für  St.  Denis  692  ^)  und  716  wieder,  wo  der 
Satz  in  besserem  Zusammenbange  steht  und  auch  mit  den  wider- 
rechtlichen Zollerhebungen  besser  begründet  erscheint.  Auch  dieser 
Ausklang  verrät  also  den  Ursprung  der  Formel  für  den  Freipaß 
der  königlichen  Gesandten  aus  klösterlichen  Zollurkunden. 

Eine  ergiebige  Quelle  konnte  für  Marculf  das  Archiv  von  St. 
Denis  werden  bei  seinen  reichen  Schätzen  an  fränkischen  Königs- 
urkunden,  die  sich  durch  die  Gunst  des  Königshauses  fortwährend 
mehrten,  und  der  Glanz  der  berühmten  Abtei,  die  auch  in  dem 
nahen  Meaux''*)  Güterbesitz  hatte,  strahlte  so  hell,  daß  es  ver- 
wunderlich gewesen  wäre,  wenn  Marculf  von  seinem  Kloster  aus 
nicht  den  Versuch  gemacht  hätte,  diese  Schätze  für  die  Sammlung 
nutzbar  zu  machen,  die  er  unter  der  Feder  hatte.  Ein  Placitum 
Cblodoveus  m.  für  St.  Denis  von  692')  ist  in  der  Marculfformel 
I,  37,  einem  Hofgerichtsurteil  in  einem  nach  der  Prozeßordnung  der 
Lex  Salica  angestellten  Gerichtsverfahren  wegen  Raubes  ('rauba'), 
so  stark  benutzt,  daß  schon  Sickel  auf  die  Übereinstimmung  auf- 
merksam wurde,  nur  schrieb  Marculf  nach  'suggessit'  nicht  'eo 
quod'  sondern  'quasi',  ebenso  wie  I,  29,  wo  es  sich  wieder  xim  einen 
Raub  handelt.  Das  Placitum  für  St.  Denis  von  692  nimmt  auf 
'noticias  paricolas'  der  Parteien  Bezug,  und  merkwürdiger  Weise 
folgt  auf  die  von  ihm  abhängige  Formel  I,  37  in  I,  38  eine  solche 
'Carta  paricla'*).  Diese  Formel  I,  38  beginnt  mit  den  Worten 
des  Placitums  Chilperichs  IL  für  St.  Denis  von  716^),  in  dem 
allein  die  in  der  Formel  gebrauchte  Wendung:  'Sed  dum  inter  se 
intenderent'  nachweisbar  ist,  und  hier  findet  sich  auch,  wie  schon 
Zeumer  ^  bemerkte,  der  in  der  Formel  LT,  18  wiederkehrende  Aus- 
druck für  die  Sicherstellung  des  Wergeides  für  einen  Erschlagenen 
durch  Wette.  Für  die  Fortsetzung  der  Formel  I,  38  hat  ein 
älteres  Placitum  für  St.  Denis  von  679 ')  Verwendung  gefunden, 
und  insbesondere  stammt  aus  ihm  der  Ausdruck  für  die  Ableistung 
des  Eides:    'super   capella  domni  Martini,  ubi  reliqua  sacramenta 


1)  Pertz,  Dipl.  I,  S.  55.  73 :  'vidite,  ('videtis'  716),  ut  aliud  ob  hoc  non  fa- 
cialis, se  gratia  nostra  optatis  habire  propicia'. 

2)  Vgl.  N.  A.  XL,  S.  315. 
'3)  Pertz,  Dipl.  I,  S.  54. 

4)  Von  dieser  ürkundenart  handelt  Bresslau,  ürkundenlehre  I,  S.  668». 

5)  Pertz,  Dipl.  I,  S.  74. 

6)  Formolae  S.  88.  N.  2. 

7)  Pertz,  S.  45. 


260  Bruno  Krusch, 

percurrunt'.     Nur  die  Örtliclikeit  ist   bei   Marculf  verändert,    in- 
dem er  'in  palatio  nostro'  schrieb  für  'in  oraturio  nostro'  ^). 

Von  der  größten  Wichtigkeit  für  unser  Gesamtergebnis  sind 
aber  die  Beziehungen  Marculfs  zu  den  Urkunden  von  St.  Bertin, 
dessen  Archiv  Folcwins  ^)  fleißige  Feder  der  Nachwelt  erhalten  hat. 
Wie  schon  früher  der  Reflex  der  Immunitätsbestätigung  dieses 
Klosters  von  691  in  der  Formel  I,  4  zu  erkennen  war,  so  führt 
wieder  dorthin  die  jüngste  Spur  einer  Urkundenbenutzung  in  der 
Formell,  16.  Die  Arenga  dieser  Formel,  einer  Schenkungsbestätigung, 
ist  nur  noch  in  der  Immunitätsbestätigung  Theuderichs  IV.  für  St. 
Bertin  vom  10.  November  721  ^)  erhalten  und  kehrt  gleichlautend 
wieder  in  der  späteren  Bestätigung  für  dasselbe  Kloster  von  743*), 
die  für  die  Textkontrolle  von  Wert  ist,  da  Folcwin  Schreibfehler  ^) 
begangen  hat,  die  sich  teilweise  aus  der  Kopie  der  späteren  Urk. 
verbessern  lassen.  Auch  Zeumer  hatte  eine  direkte  Beziehung  der 
Formel  1, 16  zu  der  Urk.  von  721  zuerst  angenommen,  doch  umgekehrt 
Marculf  für  die  Quelle  gehalten,  so  daß  der  Fall  als  ältestes  Beispiel 
einer  Entlehnung  dienen  könnte  ^),  aber  später  hat  er  von  einer  sol- 
chen Verwertung  abgesehen '),  und  in  der  Tat  lassen  sich  vielmehr 
für  die  entgegengesetzte  Auffassung  mancherlei  Gründe  anführen. 
Auf  eine  direkte  Beziehung  scheint  der  Gebrauch  seltener  Ausdrücke 
hinzuweisen,  die  hauptsächlich  in  den  Urkk.  von  St.  Bertin  zu  finden  **) 

1)  Vgl.  Waitz,  VG.  II,  2»,  S.  102;  IH',  S.  516.  Nach  Ausweis  des  Placi- 
tums  Childeberts  III.  für  St.  Denis  von  710  (Pertz  I,  S.  69)  hat  sogar  der  Haus- 
meier Grimoald  als  Stellvertreter  des  Königs  im  Hofgericht  Parteien  einen  Eid 
'in  oraturio  s  u  o  super  cappella  sancti  Marcthyni'  auferlegt ,  also  in  seinem  Ora- 
torium, nicht  dem  des  Königs.  Vgl.  W.  Lüders,  Capeila,  Archiv  für  ürkunden- 
forschung  II,  S.  Uff. 

2)  Cartulaire  de  l'abbaye  de  Saint-Bertin  publik  par  M.  Guerard  in  Collection 
de  documents  inedits  sur  l'histoire  de  France,  Paris  1841. 

3)  Pertz,  Dipl.  I,  S.  81. 

4)  Ebenda  S.  86. 

5)  Schon  Stumpf  in  v.  Sybels  Hist.  Zeitschr.  29,  S.  365  hat  in  dem  Refe- 
rendar 'Conradus'  den  'Eonardus'  der  Urk.  von  726  erkannt  (Pertz  S.  84).  Vgl. 
Bresslau,  Handbuch  der  ürkundenlehre  P,  S.  369. 

6)  Formulae  S.  33,  N.  1. 

7)  N.  A.  XI,  356  ff. 

8)  'Clementiae  regni  nostri  detulit  in  notitia'  (statt  *cl.  r.  n.  suggessit')  bei 
Marculf  I,  16,  steht  in  den  Urkk.  von  St.  Bertin  721  u.  743  (Pertz,  S.  Sl,^,.  86,33) 
und  ähnlich  schon  in  den  älteren  Urkk.  desselben  Klosters  662  (S.  36,7):  'cl.  r.  n. 
detulerunt  notitia'  und  687  (S,  50, 41):  'cl.  r.  n.  intulerunt'.  In  der  Urk.  von  721 
geht  'per  missos  suos'  vorher,  wie  auch  in  den  Urkk,  für  St.  Calais  von  692  und 
695—711  (Oeuvres  de  J.  Havet  I,  S.  162.  164).  Die  Worte  'propter  nomen  Doinini 
et'  vor  'reverentia  ipsius  sancti  loci'  bei  Marculf  (S.  54,,)  begegnen  zum  ersten 
Mal  in  der  Urk.  von  721. 


Urepnmg  und  Text  Ton  Marcnlfs  Formelsammlung.  261 

sind,  und  die  Selbstständigkeit  der  Urk.  von  721  ergibt  sich  viel- 
leicht aus  der  Abwesenheit  aller  derjenigen  Wendungen  Marculfs, 
welche  sich  als  eigenmächtige  Änderungen  des  überlieferten  Urkunden- 
textes darstellen  und  teilweise  als  solche  bereits  besprochen  wurden  ^), 
aber  auch  aus  der  richtigen  Ausfüllung  der  Abstriche,  die  er  am 
Text  gemacht  hat  ^).  Nach  den  Worten  'sub  eo  ordine'  hat  er  (S.  54,  e) 
die  Immunitätsbestätigung  von  St.  Bertin  721  beiseite  gelegt  und 
ist  am  Schlüsse  in  das  Schenkungsformular  der  vorhergehenden 
Formel  1, 15  'Cessio  ad  loco  sancto'  eingeschwenkt,  von  dem  schon 
die  Rede  war. 

Für  die  richtige  Beurteilung  des  Verhältnisses  Marculfs  zur 
Urk.  von  St.  Bertin  721  kommt  noch  ein  nicht  unwichtiger  Umstand 
in  Betracht,  die  überaus  merkwürdige  Verwandtschaft  einer  der 
Formeln  für  Privaturkunden  im  2.  Buche  (II,  6)  mit  einer  Privat- 
urkunde für  St.  Bertin  von  685,  auf  die  ich  hiermit  die  Aufmerk- 
samkeit lenken  möchte.  Die  am  Schlüsse  gegen  die  Übertreter 
der  Urkundenbestimmungen  geschleuderten  Verwünschungen  sind 
in  dieser  Formel  mit  den  damals  in  Privaturkunden  üblichen  Worten 
ausgedrückt  (S.  79,  s) :  ['inprimitus'  Zus.  A  3]  iram  trine  maiestatis 
['trini  magestatis'  A  2]  incurraf,  und  nur  durch  die  Einsetzung  der 
Dreieinigkeit  in  die  Stelle  des  allmächtigen  Gottes  ^)  unterscheidet 
sich  der  Text  von  den  meisten  Privaturkunden;  doch  Marculf  hat 
hier  nichts  geändert,  denn  zwei  noch  erhaltene  Urkk.  von  673*) 
und  690  schreiben  ebenso ,  und  die  zweite ,  die  Schenkung  von 
Vandemiris  und  Ercanberta  an  Pariser  Kirchen,  nimmt  hernach 
ähnlich  wie  MarcuK  auch  auf  die  Kirchen-Heiligen  Bezug  =).   Mar- 

1)  Die  Urk.  von  721  schreibt  richtig  'quod*,  wie  alle  anderen  merovingischen 
Königsurkunden,  während  Marculf  (S.  53,  „),  wie  wir  schon  bei  der  Formel  I,  37 
(S.  67,  j)  sahen,  'quasi"  ändert.  Sie  schreibt  auch  mit  der  Mehrzahl  der  Urk.  -ut 
quicquid  constat',  während  Marculf  hier  und  schon  1.4  (S.  54,4.  44,^):  'ut 
sicut  constat'  vorzieht  in  Anlehnung  an  die  Urk.  von  705  (Pertz  S.  66,3). 

2)  Aus  der  Urk.  von  721.  (Pertz  S.  82,,)  lassen  sich  im  Marculftext  S.  53, ,7 
'Sed  pro  firmitatis  custodiam'  (lies  'estodium'  nach  der  Urk.  von  716,  Pertz  S.  75, 1) 
vor  'petiit  celsitudine  nostrae'  ergänzen  und  S.  54,3  zwischen  'prestetisse  et'  und 
confirmasse  cognuscite'  die  Worte  'in  omnibus',  die  schon  bei  Marcnlf  I,  4  (S.  44,  ,5) 
fehlten,  die  aber  seit  dem  Ende  des  7.  Jahrb.  die  Urkk.  fast  ausnahmslos  bestätigen. 

3)  So  schon  Dagoberts  I.  Privüeg  für  Rebais  (Marculf  I,  2,  S.  42,,,),  das  äl- 
teste Zeugnis  für  die  Formel  und  wohl  die  Quelle  der  Privaturk.:  'quod  primitus 
est,  et  Dei  iram  incurrat  et  nostram  ofFensam'. 

4)  Pardessus  II,  S.  156. 

5)  Pardessus  II,  210,  R.  de  Lasteyrie,  Cartulaire  gen^ral  de  Paris,  Paris 
1887,  S.  19:  'inprimetis  iram  trini  magestatis  incurrat,  üb  .  .  .  ipsis  domnis  sanctis, 
quorum  reliquiae  in  sepefatas  basilicas  inserte  esse  nuscuntur,  et  ab  omnebus  ec- 
clesiis  excomunis  apariat,  nee  hie  nee  in  futurum  veniam  p  .  .  .  rire  non    possit'. 


262  Bruno  Krusch, 

culf  tut  es  aber  in  einer  ganz  abweichenden  Fassnng:  'et  cum 
suprascripto  sancto  illo  ante  tribunal  Christi  deducat  ra- 
tiones;  insuper',  indem  er  den  Frevler  zur  Auseinandersetzung 
mit  dem  oben  genannten  Heiligen  vor  den  Richterstuhl  Christi 
ladet,  und  oben  genannt  ist  der  Patron  der  Kirche,  zu  dessen 
Ehren  sie  erbaut  war.  Die  gleiche  Fassung  findet  sich  nun  wäh- 
rend der  ganzen  Merovingerzeit  nur  noch  in  zwei  Urkk.  von  St. 
Bertin  von  685  und  745 '),  doch  ist  letztere  durch  Zusätze  er- 
weitert. Dagegen  stimmt  der  Text  von  685  fast  genau  mit  Mar- 
culf überein:  'inprimitus  iram  Dei  omnipotentis  incurrat  et  ante 
tribunal  Christi  cum  ipso  sancto  Petro  in  die  iudicii  de- 
ducat rationes,  et  insuper'.  Der  oben  genannte  Heilige  bei 
ihm  ist  also  in  der  Urk,  von  685  der  H.  Petrus,  der  oben  unter 
den  Patronen  an  erster  Stelle  genannt  war,  und  diese  praktische 
Verwendung  des  Kirchenheiligen  zum  Schutze  der  Stiftungen  hat 
Marculf  dem  Petruskloster  in  St.  Bertin  abgelernt^).  Die  Corro- 
borationsformel  von  Marculf  II,  6  (S.  79,  ii)  stimmt  in  der  Schrei- 
bung 'vindicare'  statt  des  gewöhnlichen  'evindicare'  mit  einer  Tausch- 
urkunde von  Tuncionis-Vallis  im  Archiv  von  St.  Denis  von  691  ^) 
überein.  Die  Motivierung  der  Tat  des  Kirchenfrevlers  mit  den 
Worten  (S.  79,  e) :  'calliditate  commotus  aut  cupiditate  preventus', 
stammt  aus  dem  bischöflichen  Privileg  Burgundofaros,  mit  dem  auch 
das  Privileg  des  Bischofs  Berthefrid  für  Corbie  zusammenhängt*), 
und  nur  der  Zusatz 'commotus'  ist  Eigentum  Marculfs.  Anderes  ist 
sehr  wahrscheinlich  der  Schenkungsurkunde  des  Amandus  über  Ba- 
risis-au-Bois  für  seine  dortige  Klostergründung  666^)  entnommen, 
und  auch  die  kgl.  Schenkungsurkunde  über  dieselbe  Villa  für  Amandus 
663  hat  Marculf  wieder  einzelne  Brocken  geliefert®),  die  wir  ihn 
schon  oben  für  seinen  Zweck  benutzen  sahen. 

Eine  solche  Bezugnahme  auf  den  Patron   fand   ich   noch    in   der  Schenkungsurk. 
des  Herz.  Godefridus  für  S.  Arnulf  in  Metz  von  691,  Pardessus  II,  216. 

1)  Guörard,  Cartulaire  de  Saint-Bertin  S.  31.  55. 

2)  Die  mit  der  Urk.  von  685  fast  gleichlautende  von  745  (S.  53)  beginnt 
'Sicut  Dominus  in  euangelio  ait',  während  in  jener  noch  7  Zeilen  vorangehen,  die 
fast  wörtlich  mit  dem  Anfang  des  Prologes  bei  Marculf  II,  2  stimmen,  indessen 
in  ihrem  unvollständigen  Abbrechen  und  durch  die  Beschaffenheit  des  Textes  den 
Eindruck  eines  späteren  Zusatzes  machen  zur  Verschönerung  des  etwas  plötzlichen 
Anfanges,  wie  er  in  der  Urk.  von  745  vorliegt. 

3)  Pardessus  II,  220. 

4)  N.  A.  XXXI,  S.  371. 

5)  Pardessus  II,  133.  Amandus  schrieb  wie  Marculf  (S.  79,,):  'vel  reliquis 
quibuscumque  beneficiis',  und  stilisierte  ähnlich  wie  jener  (S.  79,7):  'quam  ego 
spontanea  voluntate  mea  fieri  rogavi'. 

6)  Pertz,  Dipl.  S.  25,  Z.  40:  'habendi,  tenendi, vel  quicquid 


Ursprung  und  Text  von  Marculfs  Formelsammlung.  263 

In  seiner  Klosterzelle  hätte  natürlich  ein  Mönch  wie  Maxcnlf 
eine  solche  Formelsammlung  niemals  zustande  bringen  können, 
wenn  er  nicht  zur  Ergänzung  des  heimischen  Materials  mit  aller- 
hand fremden  Klöstern  in  Verbindung  trat,  und  die  Ausstellung 
eines  neuen  königlichen  Klosterprivilegs  war  für  ihn  ein  solches 
Ereignis,  daß  die  Erlangung  einer  Abschrift  sein  höchster  Wansch 
sein  mußte.  Selbst  nach  Burgund  führen  einige  Spuren  in  seiner 
Sammlung,  und  Beziehungen  dorthin  waren  auch  schon  früher  an- 
genommen worden,  aber  mit  ganz  unstichhaltigen  Gründen  \\  Die 
Formel  I,  21  ist,  wie  schon  Sickel  gesehen  hatte,  mit  einer  Ur- 
kunde Chlothars  III.  von  667  für  das  Kloster  Beze*)  verwandt, 
und  wenn  dann  für  die  Formel  I,  33  ähnliche  Umstände  den  Grund 
der  Beurkundung  bilden,  wie  sie  in  dieser  und  einer  anderen^) 
Urk.  von  Beze  geschildert  sind,  nämlich  ein  feindlicher  Überfall 
und  der  Verlust  der  'instrumenta  certarum',  wenn  ferner  die  Formel 
I,  35  in  erster  Linie  an  einen  Patricius  gerichtet  ist,  den  es  außer 
in  der  Provence  nur  noch  in  Burgund  gegeben  hat*),  dann  wird 
man  annehmen  dürfen,  daß  Marculf  auch  in  Burgund  und  zwar  in 
Beze  oder  in  der  Nähe  einen  guten  Freund  gehabt  hat,  der  ihn 
mit  Materialien  für  sein  Werk  versorgte.  Bei  der  Verwendung 
der  Formel  I,  35  in  König  Pippins  Kanzlei  für  die  Privilegienbe- 
stätigung des  Klosters  Honau*)  ging  der  schwer  unterzubrin- 
gende Patricius  durch  die  Andernng  'patribus'  in  den  geistlichen 
Stand  über,  und  die  Zurückführung  der  Privilegierung  auf  die 
Einrichtung  'priscorum  patrum'  und  der  übrigen  Bischöfe  brachte 
die  Väter  auch  an  die  Stelle  der  'sedes  apostolica',  die  Marculf 
hier  nennt.  Wäre  es  gestattet,  unter  dem  apostolischen  Stuhle 
den  Papst  zu  verstehen,  was  für  diese  Zeit  allerdings  keineswegs 
sicher  ist  ^),  so  war  die  Zahl  der  vom  päpstlichen  Stuhle  privilegierten 
Klöster  damals  im  Frankenreiche  so  gering,  daß  sich  kaum  an  ein 
anderes  als  das  Martinskloster  im  Autun  denken  ^  ließe,  das  seinen 
Freiheitsbrief  Gregor  I.  verdankte. 


b 

I 


elegerint  faciendi  liberam  ac  firmissimam  per  nostram  auctoritatem  ha- 
beat  potestatem'. 

1)  Widerlegt  von  Sickel,  Beiträge  zur  Dipl.  IV,  580;  ürkundenlehre  I,  113. 

2)  Pertz,  Dipl.  I,  S.  41. 

3)  Ebenda,  S.  40. 

4)  Waitz,  VG.  H,  2,  49  ^ 

5)  M.  G.  Dipl.  Karol.  I,  S.  16. 

6)  Immerhin  ist  der  absolute  Gebrauch  des  Ausdrucks  ohne  'illius'  zu  be- 
achten, der  vielleicht  gegen  den  Diöcesanbischof  spricht,  und  sicher  schreibt  Mar- 
culf in  einem  ähnlichen  Falle  (S.  42  j)  'ab  i  1 1  o  pontifice'. 

7)  Vgl.  SS.  rer.  Meroving.  V,  254. 

Kgl.  Ocs.  d.  Was.    Nachridrten.    Phil.-taist.  KUsse.    1916.    Heft  7.  18 


264  Bruno  Krusch, 

Jedenfalls  hat  in  der  Diözese  Antun,  in  dem  unweit  Beze  be- 
legenen Kloster  Flavigny  der  dortige  Abt  Widerad  schon  am 
18.  Januar  722  ^)  für  sein  Testament  den  Anfang  der  Marculf- 
formel U,  17  benutzt,  die  auf  eine  Mehrzahl  von  Erblassern,  Mann 
und  Frau,  und  ebenso  von  Legataren  zugeschnitten  ist,  während 
er  als  einzelner  Mann  und  für  seinen  einen  Legatar  Amalsindas 
nur  den  Singular  gebrauchen  konnte;  er  hat  nun  auch  den  Text 
seinen  Verhältnissen  entsprechend  umgeschrieben,  aber  leider  einen 
Plural  stehen  gelassen^),  der  seine  Abhängigkeit  von  der  Formel 
noch  heute  verrät;  er  hat  ferner  das  echte  römische  Testaments- 
formular Marculfs,  das  mit  der  Erbeseinsetzung  beginnt,  aus  Un- 
wissenheit jämmerlich  verhunzt.  Sowohl  Zeumer^)  als  ich*)  haben 
denn  auch  Marculf  als  Quelle  angesehen.  In  Flavigny  im  König- 
reich Burgund  ist  also  der  erste  praktische  Grebrauch  von  der 
Formelsammlung  gemacht  worden,  und  in  Flavigny  ist  später  auch 
die  Umarbeitung  und  Erweiterung  der  Marculfschen  Formelsamm- 
lung entstanden,  bei  der  jene  von  Widerad  benutzte  Formel  um- 
gekehrt wieder  aus  seinem  Testamente  vervollständigt  wurde  ^) 
(in  c.  8)  und  sogar  noch  ein  Stück  vom  Datum:  'XV.  Kai.'  ange- 
hängt erhielt,  zu  dem  aus  der  Quelle  'Febr.'  zu  ergänzen  wäre. 

Durch  welche  Umstände  unmittelbar  nach  der  Vollendung  des 
Werkes  ein  Exemplar  nach  Flavigny  gekommen  ist,  und  über  et- 
waige Beziehungen  des  Verfassers  zu  diesem  burgundischen  Kloster 
läßt  sich  nicht  einmal  eine  Vermutung  äußern.  Bemerkenswert  ist 
aber  doch,  daß  der  von  Widerad  eingesetzte  Legatar,  der  'inluster 
vir  Amalsindo',  also  ein  hoher  Beamter,  mit  dem  Königssiegel  ('si- 
gillo  regio')  das  Testament  des  burgundischen  Abtes  untersiegelt 
hat.  War  dieser  Amalsindo  der  königliche  Referendar?  Die  Ver- 
mutung ist  in  der  Tat  geäußert  worden^),  und  das  natürlichste 
wäre  es  wohl  gewesen,  wenn  Marculf  sein  für  die  königliche 
Kanzlei  so  wichtiges  flilfsbuch  nach  der  Vollendung  sofort  dem 
Vorsteher  derselben  zugesandt  hätte.  Ein  einzigartiger  Fall  ist 
das  'sigillum  regium'  in  einer  Privaturkunde,  und  auf  alle  Fälle 
schlägt  sein  Erscheinen  in  der  ältesten  Marculfentlehnung  die  Brücke 
von  der  stillen  Mönchszelle  in  Meaux  zu  der  Reichskanzlei.  Es  war 

1)  Pardessus  II  323.  Zur  Datierung  vergl.  N.  A.  X,  94  und  Levison,  N.  A., 
XXXV,  38 

2)  Er  schreibt  einmal  'tcstamenti  nostri',  vorher  aber  richtig  'testamen- 
tum  meum'. 

3)  N.  A.  XI,  357. 

4)  Ebend.  XX,  540. 

6)  Zeuraer,  Formulae  S.  470. 

6)  Bresslau,  Handbuch  der  Urkundenlehre  I,  369*. 


Ursprung  und  Text  von  Marcnlfs  Fonnelsammlang.  265 

früher  fast  erstaunlich  ^),  daß  die  Urkimdenschreiber  und  besonders 
die  königlichen  Notare  ein  so  nützliches  Buch,  wie  die  Marculfsche 
Sammlung,  so  lange  nicht  gekannt  haben  sollten:  in  dieser  Be- 
ziehung kommt  das  neue  Ergebnis  geradezu  einem  Bedürfnis  ent- 
gegen. 

Die  älteste  nach  Marculfs  Muster  stilisierte  fränkische  Königs- 
urkunde ist  von  744,  und  nur  wenige  Jahre  früher  haben  sich  die 
Hausmeier  seiner  Sammlung  zu  bedienen  begonnen.  Das  älteste  mir 
bekannte  Beispiel  liegt  in  der  Schenkungsurkunde  Karl  Martells 
für  St.  Denis  741  vor^j,  die  zum  größten  Teil  nach  der  oben  be- 
sprochenen Formel  II,  6  konzipiert  ist,  und  dann  folgt  eine  Im- 
munitätsbestätigung*) Pippins,  für  die  Marculf  I,  3  benutzt  wurde. 
Schon  vorher  hatte  im  Elsaß  Eberhard ,  der  Sohn  Herzog  Adal- 
berts,  seiner  Schenkungsurkunde  für  das  Kloster  Murbach  von 
728^),  richtiger  735/7*),  Marculfs  Formeln  für  große  Schenkungen 
II,  2,  3  zu  Grunde  gelegt. 

Wenn  Marculf,  wie  es  scheint,  um  die  Wende  des  Jahres  721 
seine  Formelsammlung  beendete,  so  schrieb  er  unter  Karl  Martell, 
als  eine  Reihe  von  Schattenkönigen  sich  auf  dem  fränkischen  Throne 
folgte  und  die  faktische  Regierungsgewalt  bereits  der  Majordomus 
ausübte.  Das  Vorrücken  des  Majordomats  in  die  Thronrechte  kommt 
in  der  Tat  in  unsem  Formeln  nicht  bloß  an  einer  Stelle  zur  Er- 
scheinung. Anträge  von  Bürgern  (I,  7)  und  Gaugenossen  (1,  34) 
wurden  an  den  König  und  den  Majordomus  gerichtet,  und  diesen 
reden  die  Bürger  als  ihren  'senior  communis  (I,  7)  an,  so  daß 
man  ihn  sogar  mißverständlich  für  den  König  selbst  gehalten 
hat'),  obwohl  über  die  Bedeutung   des   streitigen  Ausdrucks   kein 


I 


1)  Zeumer,  Formulae  S.  34. 

2)  Pertz,  Dipl.  S.  101.  Vgl.  Sickel,  Urkundenlebre  I,  S.  116.  Der  Satz 
^agere  aut  aleqaam  calumniam  generare  voluerit'  stammt  aus  dem  Formular  einer 
anderen  ürk.  und  findet  sich  ebenso  in  den  Urkk.  für  Uonau  722/3 .  Pardessus 
II  337.  341. 

3)  Für  Pertz,  Dipl.  I,  S.  87  ff.  war  Marculf  I,  2  die  Vorlage. 

4)  Für  S.  Vincenz  in  Mä^on  von  743,  Pertz,  Dipl.  I,  S.  104. 

5)  Pardessus  II,  355,  vgl.  Zeumer,  Formulae  S.  33. 

6)  Lenson,  N.  A.  XXVII,  S.  382.  388. 

7)  Roth,  Gesch.  des  Beneficialwesens  S.  371,  hielt  den  Ausdruck  unter  Ver- 
kennung der  Bedeutung  von  'veP  (=:  'et")  für  eine  Tautologie  des  Königs,  und 
auch  Waitz,  VG.  II,  1^  S.  188,  N.  3,  versuchte  noch  eine  Erklärung  in  diesem 
Sinne,  die  Zeumer,  Formulae  I,  47,  N.  1,  nur  für  weniger  wahrscheinlich  hielt,  also 
nicht  ganz  ablehnte.  Die  Vergleichung  mit  der  Formel  I.  34  (S.  64,  i,)  macht  es 
zur  Gewißheit,  daß  der  Majordomus  gemeint  ist,  und  'senior  communis'  darf  viel- 
leicht als  „gemeiner  Herr",  d.  i.  'dominus  publicus',  übersetzt   werden. 

.     18* 


266  Bruno  Krusch, 

Zweifel  sein  kann,  da  an  derselben  Stelle  der  Hausmeier  in  der 
anderen  Formel  (I,  34)  steht.  Wenn  eine  karolingische  Überarbei- 
tung^) für  den  veralteten  Amtstitel  hier  die  stolze  Fürstenwürde 
mit  'vel  p  r  i  n  c  i  p  i  illo'  einsetzt,  welche  die  tatsächliche  Machtstellung 
des  Hausmeiers  besser  zum  Ausdruck  bringt,  so  hat  sogar  schon  Mar- 
culf selbst  in  der  Überschrift  der  Formel  I,  24  dem  Königsschutz  den 
Fürstenschutz  des  Major domus  mit  den  Worten  zur  Seite  gestellt: 
'Carta  de  mundeburde  regis  et  principe s',  woraus  bereits  SickeP) 
die  Veränderung  der  Regierungsgewalt  zugunsten  des  allmächtigen 
Beamten  richtig  erkannte.  Im  Text  der  Formel  heißt  er  noch  Maior- 
domus,  doch  erscheint  der  Schutz  des  Maiordomus  und  seine  Ver- 
teidigung als  die  eigentliche  Ausführung  des  Königsschutzes,  und 
offenbar  war  dieser  ohne  jenen  nichts  mehr  wert.  Tatsächlich  hat 
den  Schutzbrief  für  Bonifaz  723  der  Hausmeier  Karl  Martell  ausge- 
stellt %  und  kein  glänzenderes  Zeugnis  gibt  es  für  die  Verschie- 
bung der  Machtverhältnisse,  wie  sie  Marculf  vor  Augen  schwebt. 
Als  'princeps'  in  der  Überschrift  ist  der  Maiordomus  ein  vielsa- 
gender Kamerad  des  Königs,  denn  'princeps'  bezeichnet  in  den 
echten  Merovingerurkunden ,  auch  noch  in  einer  Arenga  Marculfs 
I,  5  (S.  45,18),  ebenso  wie  in  den  älteren  Geschichtsquellen*),  den 
König  selbst  und  seine  Verwandten,  und  wird  erst  seit  Pippin  II. 
(t  714)  und  besonders  Karl  Martell  allgemeiner  dem  Maiordomus 
beigelegt  ^).  Schon  Zeumer  meinte  daher,  daß  der  Titel  mehr  einer 
späteren  Zeit  als  der  Mitte  des  7.  Jahrh.  entspreche. 

Um  721/2  hat  also  der  Mönch  Marculf  in  seiner  den  Bischof 
Landerich  von  Meaux  gewidmeten  Formelsammlung  hauptsächlich 
aus  Klosterarchiven ,  zunächst  des  nahen  Rebais ,  dann  von  St. 
Bertin,  Corbie,  St.  Denis,  vielleicht  auch  von  Beze  die  Formeln 
für  das  weltliche  und  geistliche  Urkundenwesen  zusammengestellt, 
und  da  es  mit  seinem  Vorrat  an  weltlichen  Urkunden  schlecht  be- 
stellt war,  nicht  bloß  einmal  geistliche  Urkunden  für  weltliche 
Zwecke  umgeschrieben ,  wie  das  Formular  1 ,  14  für  weltliche 
Schenkungen  und  die  Tracturia  für  königliche  Gesandte  I,  11   be- 


1)  Formulae  Marculfinae  aevi  Earolini  19,  S.  120;  vgl.  S.  114. 

2)  Beiträge  zur  Diplomatik  III,  182. 

8)  M.  G.  Ep.  III,  S.  270 ;  Bonifatii  et  Lulli  epistolae,  hersgg.  von  M.  Tacgl 
1916.  S.  37. 

4)  Fortunats  V.  Radegundis  c.  7;  V.  Arnulfi  c.  16. 

5)  Vereinzelt  wird  schon  der  Maiordomus  Erchinoald  in  der  V.  Balthildis 
c.  2  'princeps  Francorum'  genannt.  Pippin  II.  erhält  nach  der  Besiegung  Ber- 
ohars  im  Lib.  h.  Fr.  c.  49  direkt  den  Titel  'Princeps',  während  die  Fortsetzungen 
Frcdegars  (c.  8)  ihn  noch  'dux'  nennen  und  erst  Karl  Martell  von  724  an  (c.  11) 
den  stattlicheren  Titel  geben. 


Ursprung  und  Text  von  Marculfs  Formelsammlung.  267 

weisen.  Die  nachweisbar  von  ihm  benutzten  weltlichen  Urkunden 
von  historischer  Bedeutung  am  Ende  des  1.  und  2.  Buches  be- 
ziehen sich  auf  die  Regierung  des  Teilreiches  Australien  und  ver- 
stärken nur  den  Beweis  für  Meaux,  dessen  politische  Zugehörig- 
keit man  sich  hüten  muß  darch  die  Nachbarschaft  von  Paris  zu 
bestimmen.  Jene  hochwichtigen  weltlichen  Dokumente,  von  denen 
die  Rede  war,  waren  in  den  Archiven  oder  Registraturen  der  lo- 
kalen königlichen  Beamten  zu  finden ,  an  die  sie  gerichtet  sind, 
und  wenn  man  hier  zunächst  auf  die  betreffenden  Beamten  in 
Meaux  raten  darf,  so  würden  ihre  Amtsakten  den  Hilfsquellen 
Marculfs  zuzuzählen  sein.  Manche  allgemeinere  Fassung  in  den  For- 
meln darf  da  nicht  irreführen :  so  sind  in  der  Überschrift  der  Be- 
stallungsformel I,  8  Dakat,  Patriziat,  Comitat  in  dieser  Reihen- 
folge angegeben,  im  Texte  fast  umgekehrt  zuerst  die  'comitia'  und 
dann  Dukat,  Patriziat,  und  augenscheinlich  entscheidet  der  bei- 
gefügte Verwaltungssprengel ,  der  Gau  ('in  pago  illo') ,  für  den 
Grafen :  war  die  zu  Grunde  liegende  Bestallungsurkunde  ursprünglich 
für  ihn  berechnet,  und  hat  ihr  erst  Marculfs  Feder  allgemeinere 
Anwendbarkeit  gegeben,  so  ließ  sich  dieses  Verfahren  bei  ihm 
noch  öfter  beobachten.  Er  liebte  auch  die  Formeln  teilweise  mo- 
saikartig zusammen  zu  setzen,  indem  er  Flicken  bald  daher,  bald 
dorther  nahm,  ohne  daß  gerade  die  erhaltenen  Urkk.  ihm  immer  vor- 
gelegen zu  haben  brauchen,  sondern  vielleicht  nur  ähnliche.  Bei  allen 
Mängeln  seiner  Formelsammlung  darf  aber  nicht  vergessen  werden, 
was  er  mit  den  unzureichenden  IVIitteln  und  ohne  größere  prak- 
tische Erfahrungen  geschaffen  hat,  und  vor  allen  Dingen,  daß  er 
als  Schulmeister  eine  ihm  ziemlich  fernliegende,  für  die  Staatsver- 
waltung äußerst  wichtige  Arbeit  in  Angriff  nahm ,  die  eigentlich 
die  Beamten  der  königlichen  Kanzlei  hätten  ausführen  sollen. 


Wenden  wir  uns  nun  zur  Textkritik,  so  hat  Zeumer  die  vor- 
handenen Hss.  A  1.  2.  3  B  richtig  bewertet  ^)  und  seine  Ausgabe 
auf  sachgemäßer  Grundlage  aufgebaut,  so  daß  spätere  Forschungen 
nur  an  einzelnen  Stellen  zu  bessern  haben  werden.  Da  es  sich 
aber  bei  Marculfs  Formelsammlung  um  ein  Hilfsmittel  des  prak- 
tischen Geschäftsverkehrs  handelt,  das  nach  den  Bedürfnissen  der 
Zeit  durch  Umordnungen,   Streichungen   und  Erweiterungen   ver- 

1)  in  seiner  Ausgabe  S.  34  bezeichnet  A  1  Leiden  114,  8°,  saec.  IX,  A  2 
Paris  4627,  saec.  IX,  A3  Paris  10756,  saec.  IX,  B  Paris 2123,  saec.  IX,  während 
in  seinem  ersten  Aufsatz  N.  A.  VI,  S.  ISflf.,  noch  unter  Beibehaltung  der  Bezeich- 
nungen de  Rozieres  die  Buchstaben  L  A  C  B  gebraucht  sind. 


268  Bruno  Krusch, 

ändert  and  auch  stilistisch  verbessert  worden  ist,  so  hat  jede  der 
erhaltenen  Hss.  ihre  Vorzüge  und  ihre  Mängel,  und  die  Textkritik  bat 
nicht  bloß  zwischen  den  Lesarten  der  verwandten  Hss.-Grruppen  A 1. 2 
einer-,  A3B  andererseits  zu  wählen,  sondern  auch  zwischen  Kom- 
binationen einzelner  Hss.  aus  beiden  Gruppen  unter  sich,  besonders 
in  grammatischen  Eigenheiten,  die  bald  hier,  bald  dort  die  Feder  des 
Korrektors  beseitigt  hat.  Bei  diesem  Stande  der  Dinge  bieten  einen 
sehr  willkommenen  Maßstab  für  den  Herausgeber  die  Merovinger- 
urkunden,  die  entweder  direkt  Marculf  als  Quelle  gedient  haben,  oder 
doch  seinen  Quellen  nahe  stehen,  und  auch  die  auf  seiner  Samm- 
lung fußenden  karolingischen  Urkk.  können  in  einzelnen  Fällen  in 
Betracht  kommen,  wenn  sie  auch  nicht  die  Bedeutung  haben,  wie 
jene.  Seit  Bignons  und  Lindenbruchs  Tagen  hat  nun  A  2  als  die 
vollständigste  Hs.  hervorragendes  Ansehen  genossen,  die  uns  u.  a. 
die  Vorrede  Marculfs  zusammen  mit  der  Sammlung  von  Flavigny 
(B),  einer  karolingischen  Überarbeitung^),  allein  erhalten  hat.  Es 
ist  Zeumers  Verdienst,  die  treuere  Überlieferung ,  besonders  auch 
der  merovingischen  Sprache  und  Orthographie ,  in  A  1  richtig  er- 
kannt und  dieser  Hs.  den.  Vorrang  vor  A  2  eingeräumt  zu  haben. 
Ganz  freilich  hat  er  sich  von  dem  alten  Vorurteil  nicht  loszu- 
reißen vermocht.  Alle  übrigen  Hss.  schieben  sechs  Formeln  ein, 
welche  in  A  2  fehlen ,  und  wegen  des  Fehlens  dieses  Supplements 
nahm  Zeumer  an,  daß  sich  A  2  noch  vor  dieser  Interpolation  von 
der  gemeinsamen  Überlieferung  getrennt  habe,  gab  also  dieser  Hs. 
eine  Sonderstellung  gegenüber  allen  Hss.,  welche  die  Gegner  zu 
dem  Versuche  ermuntern  konnte,  ihr  den  verlorenen  Ehrenplatz 
zurückzuerobern.  Das  günstige  Vorurteil,  welches  seine  Annahme 
erwecken  mußte,  fand  er  nun  leider  nur  „teilweise"  bestätigt;  die 
Lesarten  von  A  2  stehen  im  allgemeinen  der  gemeinsamen  Quelle 
keineswegs  am  nächsten,  wenn  auch  Ausnahmen  aus  den  oben  ent- 
wickelten Gründen  vorkommen. 

Zeumers  Annahme  stellen  sich  vor  allem  gemeinsame  Fehler 
von  A  2  mit  A  1  entgegen ,  die  A  3  B  verbessern ,  und  es  war 
ein  schweres  Stück  Arbeit,  bei  dieser  Sachlage  noch  eine  frühere 
Abzweigung  von  A  2  glaubhaft  machen  zu  wollen.  Eine  neue  An- 
nahme Zeumers  führte  diese  Fehler  schon  auf  die  allen  Hss.  gemein- 
same Vorlage  zurück,  so  daß  sie  also  ursprünglich  auch  in  A  3,  B 
gestanden  haben  müßten,  die  sie  tatsächlich  nicht  haben,  und  nun 
wurde  abermals  eine  Annahme  nötig,  um  sie  aus  ihnen  wieder  weg- 
zuschaiFen,  was  durch  Korrekturen  teils  aus  dem  Zusammenhange, 


1)  Zeumer,  Formolae  S.  470. 


Ursprung  und  Text  von  Marculfe  Formelsammlung.  269 

teils  auch  unter  Zuhilfenahme  eines  besseren  Exemplars  geschehen 
sein  sollte.  Zeumer  hat  drei  gemeinsame  Fehler  von  A  1.  2  als 
Beispiele  angeführt,  wo  also  nach  seiner  Vermutung  solche  angeb- 
lichen Korrekturen  den  Hss.  A  3  B  den  Vorzug  vor  jenen  ver- 
schafft haben  müßten :  S.  42, 25  'servorum']  A  3  B  richtig  mit  Dipl. 
Dag.,  'sanctorum'  A  1.  2;  45, 21  'ut']  A  3  B;  fehlt  A  1.  2;  48, 13  'pro- 
speritate  (i')]  A  3  B;  'proprietate  (m)'  A  1.  2,  und  auch  unter  den 
sonstigen  Übereinstimmungen  zwischen  A  3  B.  die  er  aufzählt  ^), 
finden  sich  neben  Fehlern  einige  richtige  Lesarten  *).  Endlich  sind 
eine  Anzahl  richtiger  Lesarten  allein  in  A  3  überliefert,  indem  das 
sehr  unvollständige  B  entweder  ganz  fehlt  oder  als  Überarbeitung 
für  die  Textkritik  nicht  in  Betracht  kommt.  A  3  hat  allein  S.  79, 8 
'inprimitus'  vor  *iram  trine  maiestatis  incurrat'  überliefert,  das 
die  Urkunde  von  St.  Bertin  685  und  die  Karl  Martells  741  %  also 
Quelle  und  Ableitung,  bestätigen.  Es  hat  auch  allein  die  Formel 
II,  37  vollständig  erhalten,  wo  A  1  ganz  fehlt  und  A  2  ein  paar 
Zeilen  überspringt.  In  erheblichen  Gegensatz  setzt  sich  dann  A  3 
zu  A  2  und  sogar  zu  A  1.  2  in  der  Fassung  einzelner  Überschriften 
des  zweiten  Buches  (II,  38.  41.  52),  und  Zeumers  Text  folgt  hier 
überall  der  anderen  Überlieferung.  Wenn  man  aber  sieht,  daß 
im  Kapitelverzeichnis  am  Anfang  des  Buches  überall  anch  A  2 
den  Wortlaut  von  A  3  bestätigt ,  wo  auch  Zeumer  unbedenklich 
die  Lesart  dieser  beiden  Hss.  in  den  Text  setzt,  daß  ferner  die 
Abweichung  von  A  1.  2  in  der  Überschrift  II,  41  nur  die  notwen- 
dige sprachliche  Verbesserung  einer  ungeschickten  Stilisierung  dar- 
stellt *) ,  und  ebenso  II,  62 ,  wo  außerdem  noch  'ex  ordinatione 
dominica'  von  A3  in  Übereinstimmung  mit  dem  Register  von 
A  2  entschieden  die  Präsumption  des  höheren  Alters  gegenüber 
'ex  ordinacione  regis'  für  sich  hat  und  im  Texte  aller  Hs.  durch 
die  Wendung  'ex  familia  dominica'  beglaubigt  wird,  dann  möchte 
man  sich  in  diesen  drei  FäUen  doch  wohl  besser  für  die  allein  in  A  3 
überlieferte  Fassung   entscheiden ,   wodurch  zugleich  die  störende 


1)  N.  A.  VI,  25. 

2)  Der  von  Zeumer  in  der  Ausgabe  S.  47,  ^  in  Klammem  gesetzte  Zusatz 
Ton  A  3  B  :  'dignanter'  A  vor  'adnuere'  gehört  in  den  Text  nach  der  gleichlau- 
tenden Stelle  S.  64,  j3,  nach  welcher  auch  'iuxta'  vor  'petentibus'  in  'iusta'  zu 
bessern  wäre,  wie  A  2.  3  schreiben. 

3)  In  der  Ausgabe  steht  'inprimis'  (Pertz.  Dipl.  I,  S.  101, 4«),  "wie  in  der 
Urk.  Karl  Martells  von  717,  wo  aber  noch  die  Lesart  der  Hs.  2  (Pertz  S.  97,45) 
•inprimitus'  die  böse  Wortbildung  verbürgt,  die  sich  in  gebildeteren  Zeiten  na- 
türlich nicht  halten  konnte. 

4)  'Prestaria  qui'  von  A  3  ist  mit  A  2  im  Eapitelverzeichnis  in  'Precaria 
qui'  zu  verbessern. 


270  Bruno  Erusch, 

Disharmonie  der  Überschriften  des  Textes  mit  dem  Kapitelver- 
zeichnis beseitigt  würde.  Stimmt  man  mir  darin  bei,  dann  liegen 
hier  willkürliche  stilistische  Abänderungen  schon  der  Vorlage  von 
A  1.  2  vor,  von  denen  allein  A  3  unberührt  geblieben  ist. 

So  wenig  der  Hs.  A  1  die  treuere  Wiedergabe  der  merovin- 
gischen  Grrammatik  und  Orthographie  bestritten  werden  soll,  so 
verdient  doch  an  einigen  Stellen  auch  in  dieser  Beziehung  A  3  den 
Vorzug,  dem  bisweilen  sogar  A  2  gegen  die  Haupths.  beipflichtet, 
und  auch  hier  läßt  sich  immer  dann  mit  größerer  Sicherheit  eine 
Entscheidung  treffen,  wenn  Parallelen  in  den  erhaltenen  Urkk.  einen 
festen  Maßstab  liefern.  Auf  Grrund  solcher  Zeugnisse  möchte  ich 
folgende  Änderungen  des  Zeumerschen  Textes  nach  A  3  oder  A  2.  3 
vorschlagen:  S.  52,  le  'termino']  'termine'  richtig  A2.  3  nach  Chil- 
perichs  Urk.  von  717  (Pertz  S.  77, 32.  4o)  und  so  auch  Marculf  S.  77, 4. 
S.  56, 17  'inlustris  vir']  'inluster  vir'  A  3  mit  der  benutzten  Urk.  für 
Beze  von  667  (Pertz  S.  41,9)  und  ebenso  Marculf  S.  41,  u.  67, 11, 
wie  auch  S.  68, 1  'inluster  ('inl.'  A  3)  vir',  aus  der  Urk.  von  680 
(Pertz  S.  45, 25)  herzustellen  wäre.  S.  59,  s  'referendariis']  'refren- 
dariis'  A  2.  3  mit  der  Urk.  Chlodoveus  III.  (Pertz  S.  58, 41),  ja 
sogar  schon  bei  Gregor  von  Tours  S.  389, 9  bezeugt ;  vgl.  Bonnet, 
Latin  S.  146.  434;  J.  Pirson,  Le  Latin  des  formules  mörovingiennes 
et  carolingiennes  (bei  Vollmöller,  Romanische  Forsch.  Erlangen  1909, 
XXVI,  S.  884.  S.  65,5  'quae  ad  profectum  pertinet']  'qui  ad  pr. 
pertenit'  A3;  'qui  pro  affectum  —  pertenit'  Urk.  Childeberts  III. 
von  696  (Pertz,  Dipl.  S.  61,85).  S.  78,22  'veniam  delictis  meis  con- 
sequi  merear']  'v.  de  delectis  meis  c.  m.'  A  3  mit  der  abgeleiteten 
Urk.  Karl  Martells  von  741  (Pertz,  S.  101,  si). 

Gleich  in  der  Überschrift  des  1.  Buches  hatte  Zeumer  der 
Lesart  'hinc'  von  A  1  so  stark  vertraut,  daß  er  sie  zu  den  wich- 
tigeren Stellen  für  die  vortreffliche  Textbeschaffenheit  dieser  Hs. 
rechnete  ^),  während  *hic'  von  A  3  eine  „unpassende"  Korrektur 
sein  sollte,  doch  scheint  mir  der  Gedanke,  daß  der  Besitzer  der 
Formeln  sie  vom  Kopftitel  an  besitze,  selbst  für  Marculfs  Bildungs- 
stand zu  trivial  zu  sein,  und  gerade  die  Lesart  von  A  3  stimmt 
vielleicht  besser,  daß  er  „diese"  Formel  sich  anzuschaffen  beliebte 
und  nichts  besseres  wisse:  'cui  hie  formola  habere  placuerit  et 
melius  non  valit',  was  auch  an  einen  in  der  Vorrede  von  Marculf 
geäußerten  Gedanken  ^)  wenigstens  erinnert.   'Nee'  für  'ne'  in  A  3, 


1)  N.  A.  VI,  S.  29. 

2)  S.  37,10:  'Cui  übet  exinde  aliqua  exemplando  faciat;   enim   si  vero  dis- 
plicet,  nemo  cogit  invitum'. 


Ursprung  und  Text  von  Maurculfs  Formelsammlung.  271 

S.  47,9,  gehört  wohl  in  den  Text,  wie  es  S.  42, 15  von  Zeumer  auf- 
genommen ist,  und  hier  schützt  es  sogar  das  Privileg  Dagoberts 
für  Rebais ,  worin  Zeumer  ^)  eine  Übereinstimmung  Marculfs  mit 
der  Quelle  sogar  in  Fehlern  erblicken  wollte.  Die  Schreibung 
findet  sich  schon  bei  Fredegar  (S.  79,32)  und  ist  auch  noch  bei 
Paulus  beobachtet  worden^).  So  starke  vulgärlateinische  Mißbil- 
dungen von  A  3,  wie  die  Rekomposition  'terratorio'  und  'terra- 
turio'  (S.  72, 7)  und  'coniuva  sua'  für  'coniuge  sua',  die  die  Freude 
der  Romanisten  bilden'),  sind  wahrscheinlich  eher  später  heraus- 
korrigiert, als  in  den  Text  hineingebracht  worden,  und  tragen  also 
den  Stempel  der  Echtheit  an  sich.  Andererseits  kann  die  Ver- 
gleichung  einer  zweifelhaften  Form  mit  Parallelstellen  des  Verf. 
auch  der  Grammatik  wieder  zu  ihrem  Recht  verhelfen*). 

Ein  Gesamtüberblick  über  die  besseren  Lesarten  von  A  3  B 
oder  A  3  gegenüber  A  1.  2  oder  A  2  zeigt  uns  an  einzelnen  Stellen 
eine  so  stark  abweichende  Überlieferung,  daß  rein  zufällige  Um- 
stände wie  nachträgliche  Korrekturen  zur  Erklärung  nicht  aus- 
reichen würden ,  und  damit  erledigt  sich  Zeumers  Annahme.  Er 
war  übrigens  schon  selbst  bei  der  Ausarbeitung  seiner  Vorrede 
(S.  35)  schwankend  geworden ,  ob  seine  Vermutung  zutreiFe,  und 
wollte  nun  das  Fehlen  des  Supplements  in  A  2  lieber  auf  einen  Irrtum 
oder  Fehler  zurückführen.  Er  hatte  auch  schon  eine  ziemlich 
günstige  Auffassung  von  A  3  gewonnen ,  daß  es  in  vielen  Einzel- 
heiten recht  gut  sei.  Es  ist  die  einzige  Marculf hs. ,  die  ein  Da- 
tum trägt,  indem  zu  der  Überschrift  der  ersten  Formel  (S.  39, ts) 
zugesetzt  ist :  *anno  sexto  regnante  Carolo  rege'  =  774,  vermutlich 
das  Jahr,  in  welchem  ein  Privileg  auf  Grund  dieser  Formel  aus- 
gestellt wurde. 

Auf  der  anderen  Seite  haben  aber  auch  A  3  B  gemeinsame 
Fehler  und  besonders  gemeinsame  Lücken,  und  an  der  von  Zeumer 
getroffenen  Anordnung  der  Hss.  darf  nichts  geändert  werden.  Die. 
von  ihm  an  die  Spitze  gestellte  Hs.  A  1  überragt  alle  anderen, 
doch  sind  entschieden  alte  und  echte  Sprachformen  bisweilen  auch 
nur  in  A  2  erhalten,  und  allein  nach  dieser  Hs.  möchte  ich  S.  63,  is 
'incensa'  in  Zeumers  Texte  in  'incenduta'    verbessern,   eine   wenig 

1)  N.  A.  XI,  345,  N.  2. 

2)  Waitz,  N.  A.  1,  562. 

3)  Vgl.  Pirson  a.  a.  0.  S.  932.  935. 

4)  S.  53,24  'absque  ullus  (so  A  1.2)  introitus  indicum'  würde  die  Lesart 
'ollius'  von  A  3  {'ulius'  B)  wohl  doch  vorzuziehen  sein ,  wenn  man  die  gleichlau- 
tenden Stellen  S.  52,23.  ,4.  54, ,8  vergleicht;  dagegen  ist  'absque  introitus  indicum' 
alt  und  nicht  zu  ändern. 


272  Bruno  Krusch, 

klassische  Konjugation,  die  aber  durch  die  karolingische  Bearbeitung 
der  Lex  Salica  verbürgt  ist  ^).  Auch  die  Vergleichung  mit  den  er- 
haltenen Urkk.  entscheidet  bisweilen  zu  Gunsten  dieser  Hs.  Allein 
A  2  schiebt  in  der  Formel  II,  6  S.  78,  so  'aedificiis'  nach  'domibus* 
ein,  das  die  beiden  Quellen,  die  Urkk.  des  Amandus  von  666  und 
die  von  St.  Bertin  685 ,  wie  auch  die  abgeleitete  TJrk,  von  741 
gleichmäßig  bestätigen,  und  erklären  ließe  sich  ja  wohl,  daß  eine 
solche  ganz  handgreifliche  Tautologie  an  dieser  Stelle  von  zwei 
Abschreibern  gestrichen  wurde ;  Marculf  hat  'aedificiis'  sonst  stets, 
aber  allerdings  einmal  (S.  82, 4)  fehlt  es  auch  bei  ihm  in  allen  Hss. 
Sicher  würde  weiter  unten  S.  79,9  die  Lesart  'trini  magestatis'  allein 
aus  der  Hs.  A  2  aufzunehmen  sein,  denn  'trini  maiestatis'  liest  auch 
die  im  Original  erhaltene  Urk.  von  Vandemiris  und  Ercanberta 
690  ^).  Schwanken  kann  man ,  ob  der  Zusatz  'opposita'  S.  89,  gi 
zwischen  'qualibet'  und  'persona'  auf  echter  Überlieferung  oder  In- 
terpolation beruht,  denn  auch  weiter  unten  S.  90,2?  hat  Marculf 
die  allbekannte  Formel-  ohne  jenen  gebraucht;  sicher  ist  der  Zusatz 
'ligum'  A  2,  'ligumina'  B,  und  ebenso  die  Kopenhagener  Hs., 
vor  'ligna'  (S.  49,  le)  auf  Grund  des  Zeugnisses  von  A  1. 3  zu 
streichen,  so  glücklich  auch  die  Stelle  für  die  Interpolation  ge- 
wählt ist,  denn  er  fehlt  auch  in  der  Quelle,  der  Zollurkunde  für 
Corbie  716. 

Verdächtige  Zusätze  hat  Zeumer  sogar  in  AI  gefunden  und 
auch  gegen  die  Mängel  dieser  Hs.  hat  er  sich  nicht  verschlossen. 
Er  hat  selbst  in  I,  35  eine  willkürliche  Textänderung  von  A  1 
nachgewiesen  und  wundert  sich  nur,  daß  es  in  derselben  Formel 
eine  andere  Stelle  angeblich  allein  echt  überliefere.  Gemeint  sind 
die  Worte  'gloriosi  regni  nostri  petiit',  wie  allein  A  1  schreibt,  wäh- 
rend A  2.  3.  B  'gloriae  regni  nostri  petiit'  lesen,  und  Zeumer  ließ 
sich  durch  die  Lesart  des  aus  der  Formel  abgeleiteten  Diploms 
Pippins  für  Honau  bestimmen  ^) :  'gloriosi  regni  nostri  maiestatem 
peciit' ;  nur  meinte  er,  Marculf  habe  nicht  'maiestatem',  sondern 
'clementiam'  geschrieben  *).  Nach  seiner  Auffassung  würde  also  hier 
eine  Lücke  in  unserer  Überlieferung  vorliegen,  und  dieselbe  Lücke 
hätte  auch  das  von  der  kgl.  Kanzlei  benutzte  Marcnlfexemplar 
aufzuweisen  gehabt,  so  daß  'gloriosi'  den  Vorzug  vor  der  Lesart 
'gloriae'  von  A  2.  3  B  verdienen  würde.    Das  war  ein  Irrtum,  denn, 


1)  Lex  Salica  c.  75  (ed.  Hesseis  col.  357):  'De  basilica  incenduta'. 

2)  de  Lasteyrie,  Cartulaire  gdndral  de  Paris  I,  S.  18. 

3)  M.  G.  Dipl.  Karol.  I,  S.  16. 

4)  N.  A.  VI,  S.  36,  Formulae  S.  65. 


Ursprang  und  Text  von  Marculfs  Formelsammlung.  273 

wie  der  eigene  Text  Marculfs  ausweist  (S.  55. 15.  56,1?),  verbindet 
die  merovingische  Sprache  dieser  Zeit  'petere'  mit  dem  Dativ,  und 
'gloriae  regni  nostri  subgessit'  statt  des  gewohnlichen  'clemen- 
tiae'  schreibt  auch  die  Urk.  von  Beze  665  ^).  Die  Lesart  der  Mehr- 
zahl der  Hss.  liefert  also  eine  tadellose  merovingische  Verbindung, 
und  'gloriosi'  von  A  1  ist  Schreibfehler ,  den  auch  die  königliche 
Kanzlei  Pippins  in  ihrem  Exemplare  fand.  Daß  auch  Zeumers 
zweites  noch  „sichereres"  Beispiel  für  die  angeblich  gleiche  Lücken- 
haftigkeit unserer  Überlieferung  und  des  karolingischen  Kanzlei- 
exemplars keineswegs  so  sicher  war,  wie  er  meinte,  hat  er  hinterher 
selbst  gesehen  und  es  zurückgezogen*). 

Gewiß  sind  in  Marculfs  Formelsammlung  Fehler  und  Mißver- 
ständnisse vorhanden,  wie  ja  auch  in  vorstehender  Untersuchung 
solche  bereits  nachgewiesen  sind,  aber  es  liegt  kein  Grund  vor, 
andere  dafür  verantwortlich  zu  machen  als  den  Verfasser.  Bei 
einer  Abweichung  gegenüber  dem  Texte  der  Quelle  in  der  Formel 
1,2  (S.  42,10):  'ipsud  si  fuerit  cum  volontate  abbatis' scheint  trotz 
der  Unsicherheit  unserer  Überlieferung  der  Urk.  Dagoberts:  'et 
episcopus ,  nisi  fuerit'  diese  doch  den  Vorzug  zu  verdienen,  und 
die  falsche  Auflösung  der  Abkürzung  für  'episcopus'  (=  'eps')  jenes 
'ipsud'  verschuldet  zu  haben.  Andererseits  ist  in  derselben  Urk. 
Dagoberts  (Pertz,  S.  17,  is)  'pecoribus'  nach  dem  handschriftlich 
besser  beglaubigten  Marculftext  (S.  41,25)  in  'corporibus'  zu  be- 
richtigen, wie  die  Urkk.  von  696  u.  716  (Pertz  S.  62,5.  75,3?)  lesen. 

Fassen  wir  unser  Urteil  zusammen,  so  können  wir  nur  Zeumer  ') 
beistimmen ,  daß  keine  der  erhaltenen  Hss.  ein  so  überwiegendes 
Ansehen  verdient ,  daß  man  ihr  blind  vertrauen  darf,  und  genau 
genommen  kann  die  richtige  Überlieferung  fast  jede  Hs.  allein  er- 
halten haben.  Wer  heute  eine  neue  Marculf  ausgäbe  machen  wollte, 
müßte  die  Arbeit  gerade  so  anfangen,  wie  Zeumer,  und  im  allge- 
meinen kann  man  sich  auf  seinen  Text  verlassen.  Im  einzelnen 
lassen  sich  allerdings  die  Keile  tiefer  treiben,  und  feine  gründlichere 
Ausbeutung  der  erhaltenen  Merovingerurkunden,  zu  der  dieser  Auf- 
satz nur  die  Anregung  geben  soll,  würde  Zeumers  Ergebnisse  auf 
sichereren  Boden  gestellt  haben,  speziell  auch  der  Textkritik  zu 
gute  gekommen  sein.  Die  vielen  Möglichkeiten ,  die  seine  For- 
schungen offen  ließen,  haben  verhindert,  daß  seine  richtige  Er- 
kenntnis  voll  zur  Geltung  kam,   und   ihn   sofort  nach  Erscheinen 


1)  Pertz,  Dipl.  1,  S.  40, 4. 

2)  N.  A.  VI,  S.  115. 

3)  N.  A.  XI,  S.  352. 


274:    Bruno  Krusch,  Ursprung  und  Text  von  Marculfs  Formelsammlung. 

seines  Bandes  in  eine  Polemik  verwickelt,  die  sich  fast  bis  zuletzt 
weiter  gesponnen  hat.  Hier  Licht  und  Schatten  richtig  zu  ver- 
teilen, war  ein  Bedürfnis  und  zugleich  ein  Gebot  der  Grerechtig- 
keit.  Wie  ich  mich  hinsichtlich  der  allgemeinen  Auffassung  fast 
in  allen  Punkten  Zeumer  anschließen  konnte,  so  freue  ich  mich 
doppelt,  diesen  Aufsatz  mit  der  ausdrücklichen  Anerkennung  seiner 
verständigen  Arbeit  beschließen  zu  können  ^). 


1)  In  meiner  gleich  nach  Erscheinen  des  Zeumerschen  Formelbandes  ver- 
öffentlichten Besprechung,  in  v.  Sybels  Hist.  Zeitschr.  Bd.  51,  S.  515,  verdienen 
vielleicht  noch  heute  Beachtung  die  Vorschläge  zur  Lesbarmachung  des  in  den 
Marculf-Hss.  überlieferten  schwer  verdorbenen  Prologes  'ad  omnes  potentes  cupidos' 
(N.  A.  VI,  21),  besonders  der  Hinweis  auf  die  'Filii  Jambri'  in  1.  Macc.  9, 36. 


Zur  Geschichte  und  Erklärung  der  ßosettana. 

Von 

Knrt  Sethe. 

Mit  einer  Abbildung  im  Text  und  einer  Tafel. 
Vorgelegt  in  der  Sitznng  vom  25.  März  1916. 

I.   Zur  Geschichte  des  Textes. 

Wenn  je  ein  Text  das  alte  Wort  „Habent  sua  fata  libelli" 
gerechtfertigt  hat,  so  ist  es  der  Text,  auf  den  sich  die  Aegypto- 
logie  gründet,  die  „  Rosettana ".  Seine  Geschichte  besteht  aus 
einer  Kette  seltsamer  Schicksale,  die  z.  T.  mit  den  großen  Ge- 
schehnissen der  Weltgeschichte  in  eigenartiger  Weise  verknüpft 
erscheinen. 

1.    Das  Dekret  von  Memphis. 

Als  im  Jahre  205  v.  Chr.,  am  28.  Nov.  ^),  König  Ptolemaios  V. 
Epiphanes,  noch  nicht  5  Jahre  alt^),  seinem  Vater  Ptolemaios  IV. 
Philopator,  dem  ersten  in  der  langen  Reihe  entarteter  Nachkommen 
des  Lagidengeschlechtes,  auf  dem  ägyptischen  Thron  folgte,  zeigte 
das  ägyptische  Reich  alle  Symptome  beginnender  Auflösung. 
Aegypten  selbst  war  der  Herd  von  immer  wieder  aufflackernden 
Aufständen,  die  im  Jahre  207/6  in  Oberägypten  zur  Errichtung 
eines  selbständigen  Königtumes  mit  der  Hauptstadt  Theben  ge- 
führt hatten.  Die  auswärtigen  Besitzungen  in  Syrien,  Kyrene, 
und  auf  den  griechischen  Inseln  waren  durch  die  alten  Rivalen 
der  Ptolemäer,  die  Könige  von  Syrien  und  Makedonien,  Antiochos  III. 


1)  17.  Paophi  nach  der  Angabe  der  Rosettana  (ürk.  II  194,  3). 

2)  Geb.  am  8.  Okt.  209  =  30.  Mesore  nach  der  Angabe  der  Rosettana  (ürk. 
II  194,  1).  Nach  Hieronymas  (in  Dan.  11,  13)  war  er  4  Jahre  {IV annorutn), 
nach  Justinus  (30,  2,  6)  5  Jahre  alt  {quinquennis),  als  er  König  wurde. 


276  Kurt  Sethe, 

und  Philipp  V.,  die  sich  bald  darauf  gegen  Aegypten  verbündeten, 
stark  gefährdet.  Die  größte  Grefahr  für  das  Reich  aber  zog,  der 
Gegenwart  noch  unbewußt,  in  den  Römern  herauf,  die  soeben 
nach  14jährigem  schwerem  Ringen  mit  Karthago  die  Oberhand 
behielten  und  alsbald  ihre  Blicke  nach  dem  Osten  wandten.  Sie 
warfen  sich  zu  Beschützern  des  jungen  Königs  gegen  seine  Feinde 
auf  und  begannen  damit  eine  Vormundschaft  über  das  Ptolemäer- 
reich  zu  begründen,  der  sich  auch  die  folgenden  Herrscher  der 
Dynastie  nie  wieder  ganz  entziehen  haben  können. 

Die  Regierung  für  den  unmündigen  König  führten,  nach  Er- 
mordung seiner  Mutter,  der  Königin  Arsinoe,  zunächst  die  Minister 
Sosibios  und  Agathokles,  die  bereits  seinen  Vater  in  dessen  letzten 
Jahren  völlig  mit  Hilfe  von  Mätressen  beherrscht  hatten.  Nach 
dem  Tode  des  Sosibios  und  der  Ermordung  des  Agathokles  durch 
den  Alexandriner  Pöbel  lag  die  Regierung  nacheinander  in  den 
Händen   der   Söldnerführer  Tlepolemos,    Skopas   und  Aristomenes. 

Diesem  letzteren  Regenten  gelang  es  gegen  Ende  des  8.  Re- 
gierungsjahres des  Königs  (Sept.  197  v.  Chr.)  die  Stadt  Lykopolis 
im  busiritischen  Grau,  im  Herzen  des  Nildeltas,  in  der  sich  die 
unterägyptischen  Rebellen  verschanzt  hatten,  nach  längerer  Be- 
lagerung zu  nehmen.  Die  Führer  der  Rebellen  wurden  in  Memphis, 
der  alten  Hauptstadt  des  Landes,  hingerichtet,  vielleicht  der  ur- 
alten Sitte  der  Hinopferung  der  Kriegsgefangenen  folgend.  Im 
Anschluß  daran  ward  der  junge  König  ebendort,  augenscheinlich 
um  die  Gemüter  der  Nationalägypter  zu  gewinnen,  nach  den  alt- 
hergebrachten Gebräuchen  der  ägyptischen  Könige  zum  König 
gekrönt.  Die  ägyptischen  Priester,  die  aus  allen  Teilen  des 
Landes,  soweit  sie  der  Herrschaft  des  Königs  unterstanden,  zu 
dieser  Feier  zusammengekommen  waren,  faßten  am  4.  Xandikos 
=  18.  Mechir  des  Jahres  9  (27.  März  196  v.  Chr.)  einen  feierlichen 
Beschluß,  „die  dem  Könige  und  seinen  Vorfahren  in  den  ägypti- 
schen Heiligtümern  zustehenden  Ehrenrechte  zu  vermehren". 

Wie  bei  solchen  Ehrendekreten  ^)  üblich,  wurde  diesem  Beschluß 
zunächst  eine  ausführliche  Begründung  vorausgeschickt,  bestehend 
aus  einer  Aufzählung  der  Wohltaten,  die  der  König  dem  Lande 
und  insbesondere  den  Heiligtümern  erwiesen  haben  sollte.  Im 
vorliegenden  Falle  waren  es  Befreiungen  von  Abgaben  und  Lasten, 
die   auf  den   Tempeln,    ihren   Besitztümern    und    ihrem    Personal 


1)  Das  älteste  und  am  vollständigsten  erhaltene  Priesterdekret,  das  wir  aus 
der  Ptolemäerzeit  besitzen,  ist  das  Dekret  von  Kanopus,  das  238  v.  Chr.  zu  tihrcn 
des  Königs  Ptolemaios  III.  Euergetes  und  seiner  Gemahlin  Berenike  erlassen  wurde. 


Zar  Geschichte  and  Erklärung  der  Rosettana.  277 

ruhten,  Amnestie  für  Vergehen,  Sorge  iür  das  Heer,  Aufhebung 
der  Pressung  zam  Dienst  in  der  Flotte,  "Wiederherstellung  der 
durch  die  Innern  Unruhen  gestörten  Rechtsordnung,  Amnestie  für 
die  freiwillig  zurückkehrenden  Teilnehmer  an  den  Unruhen,  Schutz 
des  Landes  gegen  äußere  Feinde.  Niederwerfung  des  unter  ägypti- 
schen Aufstandes  und  Bestrafung  der  Rädelsführer  in  Memphis, 
Fürsorge  für  den  Kult  des  Apis  und  der  Götter  im  allgemeinen. 
Der  Begründung  folgte  dann  der  eigentliche  Beschluß,  der 
seinerseits  eine  Aufzählung  und  eingehende  Bestimmung  der  zu 
Ehren  des  Königs  beschlossenen  Maßnahmen  enthielt.  In  unserm 
Falle  umfaßte  er  folgende  Punkte: 

1)  In  allen  Tempeln  des  Landes  soll  eine  Statuengruppe  auf- 
gestellt werden,  die  den  König  darstellt,  wie  ihm  der  jeweilige 
Hauptgott  des  Ortes  das  ,, Siegesschwert"  reicht,  und  die  den 
Namen  „Ptolemaios  der  Rächer  Aegyptens"  führen  soll. 

2)  Desgl.  soll  ebendaselbst  ein  Holzbildnis  des  Königs  in  einem 
goldenen  Schrein  besonderer  Ausstattung  aufgestellt  werden  und 
bei  den  Festesprozessionen  mit  den  andern  vorhandenen  Schreinen 
dieser  Art  herumgetragen  werden. 

3)  Der  17.  und  30.  Tag  eines  jeden  Monats  soll  zur  Erinnerung 
an  den  Thronbesteigungstag  (17.  Paophi)  und  den  Greburtstag  des 
Königs  (30.  Mesore)  in  allen  Tempeln  festlich  begangen  werden. 

4)  Alljährlich  soll  am  Anfange  des  Kalenderjahres  in  allen 
Tempeln  ein  Stägiges  Fest  dem  Könige  gefeiert  werden. 

5)  In  die  offizielle  Titulatur  der  Priester  soll  auch  der  Titel 
eines  „Priesters  des  Grottes  Epiphanes  Eucharistos"  aufgenommen 
und  in  allen  Urkunden  und  auf  den  Siegeln  genannt  werden. 

6)  Es  soll  auch  Privatleuten  erlaubt  sein,  ihrerseits  einen 
Schrein  mit  dem  BUde  des  Königs  wie  den  unter  Nr.  2  genannten, 
in  ihren  Häusern  zu  haben  und  die  oben  unter  Nr.  3  und  4  ge- 
nannten Feste  zu  begehen. 

Den  Schluß  des  Dekretes  bildet  eine  Bestimmung  über  seine 
Publikation.  Sie  lautete,  wie  es  bei  solchen  Ehrendekreten  der 
Ptolemäerzeit  allgemein  üblich  war,  dahin,  daß  das  Dekret  auf 
einem  Denkstein  {ötrjkrf)  aus  hartem  Stein  in  den  drei  Sprachen 
des  Landes  aufgezeichnet  werden  solle,  nämlich: 

1)  in  der  alten  längst  erstorbenen,  auf  den  Denkmälern  aber 
traditionell  beibehaltenen  Sprache  der  alten  Literatur  der  Aegypter, 
dem  Altägyptischen  (dem  Lateinischen  zu  vergleichen),  geschrieben 
in  der  dafür  üblichen  alten  Bilderschrift,  den  Hieroglyphen  (Cegä 
yganiiara), 


278  Kurt  Sethe, 

2)  in  der  lebenden  neuägyptischen  Sprache  (dem  Italienischen 
zu  vergleichen),  geschrieben  in  der  aus  der  Hieroglyphenschrift 
abgeleiteten  Kursivschrift,  die  wir  demotisch  nennen  {eyxmQia  oder 
di]fiotLX«  ygccfifiara), 

3)  in  griechischer  Sprache,  geschrieben  mit  griechischen  Buch- 
staben {'ElXrjvixcc  ygcc^fiuTCi). 

Das  solchergestalt  auf  einem  Denkstein  aufgezeichnete  drei- 
sprachige Dekret  sollte  in  allen  Tempeln  ersten,  zweiten  und 
dritten  Ranges  an  sichtbarster  Stelle  aufgestellt  werden.  Wieviel 
Tempel  unter  diese  Bestimmung  fielen,  wissen  wir  nicht ;  aber,  da 
ein  jeder  der  42  ägyptischen  Gaue  gewiß  zum  mindesten  einen 
Tempel  dritter  Ordnung  aufgewiesen  hat,  so  hätte  das  Dekret 
nach  den  Intentionen  seiner  Urheber  also  mindestens  in  42  Exem- 
plaren hergestellt  werden  müssen.  Und  wenn  davon  auch  die 
Tempel  des  südlichen  Oberägyptens,  das  damals  wie  gesagt  unter 
eigenen  Königen  stand,  abzuziehen  sind,  und  wenn  auch  wohl  an- 
zunehmen ist,  daß  der  Beschluß  für  manches  der  kleinen  Heilig- 
tümer wohl  nur  auf  dem  Papier  (richtiger  Papyrus)  stehen  geblieben 
sein  wird  ^),  so  mußte  doch  nach  menschlichem  Ermessen  alles  getan 
sein,  um  den  Ehrenbeschluß  nicht  bloß  zur  Kenntnis  der  Gegen- 
wart zu  bringen,  sondern  auch  der  Nachwelt  zu  überliefern.  Gewiß 
haben  die  Priester,  die  bei  dem  Beschlüsse  mitwirkten,  erwartet, 
daß  er  auch  nach  2000  Jahren  noch  der  Nachwelt  vorliegen  werde, 
wie  ihnen  selbst  so  unzählige  alte  Denkmäler  im  Lande  vorlagen. 
Und  ebenso  gewiß  ist  auch,  daß  sich  keiner  von  ihnen  hat  träumen 
lassen,  welche  besondere  Rolle  vom  Schicksal  ihrem  Werke  bestimmt 
war,  das  doch  nur  ein  Dutzendbeschluß,  wie  es  viele  seiner  Art 
gab,  war.  Niemand  von  ihnen  konnte  ahnen,  daß  schon  nach  einem 
halben  Jahrtausend  für  ihre  eigenen  Nachkommen  nicht  nur  ihre 
alte  Denkmälerschrift,  die  Hieroglyphen,  sondern  auch  ebenso  die 
Schrift  der  Gegenwart,  das  Demotische,  ein  Buch  mit  7  Siegeln 
sein  würde,  und  daß  es  just  ihr  Beschluß  sein  würde,  der  nach 
abermals  V/t  Jahrtausenden  in  der  Hand  der  Nachkommen  roher 
Barbaren  aus  dem  fernen  Nordwesten  zum  Schlüssel  zu  der  völlig 
versunkenen  Gedankenwelt  des  alten  Aegyptens  werden  sollte. 

1)  Wie  wenig  genan  es  mit  der  Ausführung  solcher  Beschlüsse  genommen 
wurde,  lehrt  das  Fehlen  des  griech.  Textes  bei  den  Philaedekreten  (s.  u.)  und 
bei  dem  Kom  el  Ilisn-Exemplar  des  Dekrets  von  Kanopus,  wie  das  Fehlen  des 
demotischen  und  des  griechischen  Textes  auf  der  Nobaireb-Stele. 


Zar  Geschichte  und  Erklänmg  der  Rosettana.  279 

2.    Der  Stein  von  Rosette. 

Es  war  im  August  des  Jahres  1799  unserer  Zeitrechnung,  im 
Fructidor  des  Jahres  7  der  französischen  Republik,  kurz  bevor 
Napoleon  Bonaparte  seine  so  verheißungsvoll  begonnene  und 
so  jämmerlich  endende  ägyptische  Expedition  unter  dem  Druck 
der  englischen  Seemacht  aufgab  und  unter  Zurücklassung  der  Reste 
seines  Heeres  heimlich  nach  Frankreich  zurückkehrte.  Die  fran- 
zösischen Truppen  behaupteten  damals  noch  immer  die  ägj'ptische 
Küste  erfolgreich  sowohl  gegen  die  zur  See  operierenden  Engländer 
wie  gegen  die  von  ihnen  als  Sturmbock  zu  Lande  benutzten  Türken. 
Bei  Rosette,  an  der  westlichen  von  den  beiden  Mündungen,  durch 
die  sich  heute  der  Nil  ins  Meer  ergießt,  arbeitete  man  an  den 
Befestigungen,  die  dieses  Einfallstor  des  Nildeltas  schützten.  Bei 
den  Schanzarbeiten,  die  der  Ingenieuroffizier  Bouchard  daselbst 
leitete,  stieß  man  am  2.  Fructidor  auf  einen  Inschriftstein  aus 
schwarzem  Basalt,  der  3  Inschriften  in  verschiedener  Schrift  trug, 
eine  hieroglyphische,  eine  demotische,  die  man  zunächst  irrtümlich 
für  syrisch  hielt,  und  eine  griechische^).  Es  war  ein  Exemplar 
des  oben  besprochenen  Priesterdekretes  vom  Jahre  196  v.  Chr., 
das  hier,  seltsamerweise  an  einem  Orte,  der  sonst  keine  Spuren 
des  ägyptischen  Altertums  aufzuweisen  hat,  nach  fast  genau 
2000  Jahren  wieder  zutage  kam.  Die  Bedeutung  des  Fundes  wurde 
sogleich  erkannt. 

Der  Stein  wurde  zunächst  nach  Kairo  gebracht,  um  von  den 
Gelehrten  des  ägyptischen  Institutes,  das  Bonaparte  dort  be- 
gründet hatte,  studiert  zu  werden.  Es  wurden  auch  Abdrücke 
von  ihm  genommen  und  nach  Frankreich  gesandt.  Der  Stein  kam 
dann  nach  Alexandrien.  Dort  befand  er  sich  im  Hause  des  fran- 
zösischen Oberbefehlshabers  Menou,  als  dieser  im  September  1801 
vor  den  Engländern,  die  inzwischen  ein  Heer  gelandet  hatten, 
kapitulieren  mußte.  In  die  Kapitulation  waren  ausdrücklich  auch 
die  Altertümer  eingeschlossen,  die  die  Franzosen  während  der 
3  Jahre  ihrer  Anwesenheit  im  Niltale  zusammengebracht  hatten. 
Den  Stein  von  Rosette,  der  Tür  die  Wiedererschließung  des  ägyp- 
tischen Altertums  so  wichtig  sein  mußte,  suchte  man  französischer- 
seits  bei  der  Ausführung  der  Kapitulationsbedingungen  für  Frank- 
reich zu  retten,  indem  man  vorgab,  er  sei  das  Privateigentum  des 
Generals  Menou  und  daher  nicht  in  die  Kapitulation  einbegriffen. 


1)  Courier  de  l'Egypte  No.  37  vom  29.  Fructidor  des  J.  7,   abgedruckt  bei 
Hartleben,  Champollion  II  S.  565. 

Kgl.  Ges.  d.  Wis$.  Nachrichten.    Phfl.-hisL  KUsse.    1916.    Heft  2.  19 


280  Kurt  Sethe. 

Der  englische  Oberkommandierendej  Lord  Hutchinson,  bestand 
indes  auf  der  Auslieferung  „mit  gewohntem  Eifer  für  die  Wissen- 
schaft". Einer  seiner  Offiziere,  der  nachmalige  Greneralmajor 
Turner,  dessen  Bericht  an  die  Society  of  Antiquaries  vom  Jahre 
1810^)  diese  Angaben  zu  entnehmen  sind,  ließ  den  Stein  aus  dem 
Hause  Menou's  wegschaflPen  „unter  den  höhnischen  Spottreden 
zahlreicher  französischer  Offiziere  und  Soldaten"  (amidst  the  sar- 
casms  of  numbers  of  French  officers  and  men),  die  die  Frankreich 
damit  angetane  Schmach  schmerzlich  empfanden. 

An  Bord  der  im  Hafen  von  Alexandria  erbeuteten  französischen 
Fregatte  ÜEgyptienne  mußte  der  Stein  die  Reise  nach  England 
antreten,  wo  er  im  Februar  1802  in  Portsmouth  landete.  Im  März 
wurde  er  in  den  Räumen  der  Society  of  Antiquaries  ausgestellt 
und  dann  nach  einigen  Monaten  in  das  Britische  Museum  über- 
führt ^).  Dort  steht  er  nun,  gleich  den  anderen  ägyptischen  Alter- 
tümern, die  die  Engländer  damals  den  Franzosen  abjagten,  mit  der 
stolzen  Inschrift  geschmückt:  conquered  hy  the  British  armies,  ein 
sinnfälliges  Denkmal  für  die  Wandelbarkeit  des  Grlückes  und  auch 
der  Menschen,  denkt  man  an  die  heutigen  Dinge. 

Wenngleich  es  den  Engländern  so  gelungen  war,  den  Fran- 
zosen den  kostbaren  Stein  selbst  zu  entreißen,  sollte  ihnen  seine 
geistige  Eroberung  doch  nicht  gelingen.  Zwar  bemühte  sich  der 
große  englische  Physiker  Thomas  Young,  auf  den  älteren  Er- 
gebnissen des  Schweden  Akerblad  und  des  Franzosen  de  Sacy 
fußend,  nicht  ohne  Erfolg  um  die  Bestimmung  der  hieroglyphischen 
und  demotischen  Buchstabenzeichen,  die  in  den  griechischen  Königs- 
und Königinnen-Namen  wie  Ptolemaios,  Kleopatra,  Arsinoe  usw. 
vorkamen,  aber  die  eigentliche  Entzifferung  der  Hieroglyphen  wurde 
erst  1822  durch  den  Franzosen  Frangois  Champollion  (geb. 
1790),  die  der  demotischen  Schrift  1848  durch  den  Deutschen 
Heinrich  Brugsch  gegeben. 

Um  das  Verständnis  des  griechischen  Textes,  der  den  Aus- 
gangspunkt dieser  Entzifferungen  bilden  mußte,  haben  sich  als 
erste  der  Göttinger  Heyne  (1802)  und  der  Franzose  Ameilhon 
(1803),  später  der  Engländer  Porson,  der  Franzose  Villoison, 


1)  An  Account  of  tlie  Rosetta  Stone  by  order  of  the  President  und  Council 
of  the  Society  of  Antiquaries  of  London  1811, 

2)  „where  I  trust  ü  will  long  remain,  a  most  valuahle  reite  of  antiquity, 
the  feeble,  but  only  yet  discovered  link  of  the  Egyptian  to  the  known  languages, 
a  proud  trophy  of  the  anm  of  Britain  (I  could  almost  sag  spölia  opima),  not 
plundered  from  defenceless  inhäbitants,  but  honourablg  acquired  by  the  fortune 
of  war",  so  schließt  Turner  bezeichnenderweise  seinen  Bericht. 


Zar  Geschichte  und  Erklärung  der  Rosettana.  281 

der  Deutsche  Dramann  (1822)  und  vor  allem  der  gcoße  fran- 
zösische Hellenist  Letronne  (1840)  die  größten  Verdienste  er- 
worben. 

Den  demotischen  Text,  den  B  rüg  seh  undRevillout  be- 
arbeitet haben,  hat  zuletzt  der  Schweizer  J.  J.  Heß  in  endgültiger 
Form  herausgegeben. 

Der  hieroglyphische  Text  ist,  nachdem  er  seine  Dienste  als 
Entziiferungsmittel  get^n  hatte,  lange  Zeit  ziemlich  unbeachtet 
geblieben.  Wir  waren  bis  vor  Kurzem  für  ihn  noch  immer  auf 
die  alten  Reproduktionen  der  Description  de  l'Egypte  und  von 
Lepsius  angewiesen.  Erst  1913  gab  die  Direktion  der  ägyptischen 
Abteilung  des  Britischen  Museums  eine  gute  Photographie  heraus 
in  der  kleinen  Broschüre  „The  Rosetta  Stone"  aus  der  Feder  von 
Budge.  Eine  kritische  Ausgabe  unter  Benutzung  alles  zugäng- 
lichen Materials  zur  Herstellung  des  Textes  ist  zum  erstenmal 
von  mir  versucht  worden  in  dem  letzthin  erschienenen  Heft  3  der 
von  G.  Steindorff  begründeten  Urkunden  des  ägyptischen  Alter- 
tums, Abt.  IT.  Dort  habe  ich  den  Text  auf  Grund  von  Abklatschen 
und  Photographien,  mit  Sat^eilung  und  Untereinanderstellung  der 
entsprechenden  Worte  des  demotischen  (in  Umschrift)  und  griechi- 
schen Textes,  neu  herausgegeben. 

Der  Stein  von  Rosette,  nach  dem  wir  das  Dekret  vom  Jahre 
196  V.  Chr.  die  Rosettana  nennen,  ist  uns  nun  aber  nicht  voll- 
ständig erhalten.  Es  fehlt  ihm  ein  beträchtliches  Stück  von  der 
rechten  unteren  Ecke  des  griechischen  Textes  (Enden  der  letzten 
27  Zeilen)  und  ein  kleines  Stück  von  der  rechten  oberen  Ecke 
des  demotischen  Textes  (Anfänge  der  ersten  14  Zeilen).  Vom 
hieroglyphischen  Text  ist  überhaupt  nur  ein  kleiner  Teil  erhalten ; 
etwa  die  Hälfte  der  Zeilen  ist  ganz  weggebrochen  und  der  er- 
haltenen unteren  Hälfte  fehlen  ebenfalls  noch  große  TeUe.  Die 
Verluste  des  demotischen  und  des  griechischen  Textes  waren  wohl 
zu  verschmerzen,  da  sich  die  Lücken  fast  sämtlich  mit  großer 
Sicherheit  ergänzen  ließen^). 

Umso  schmerzlicher  war  für  die  Aegyptologie  die  starke 
Verstümmelung  des  hieroglyphischen  Textes,  zumal  in  den  ersten 
Jahrzehnten  des  Bestehens  dieser  Wissenschaft,   in  denen  der  Be- 


1)  Nur  an  einigen  wenigen  Stellen  des  griechischen  Textes,  an  denen  der 
ägyptische  Text  der  Rosettana  im  Stich  ließ,  und  der  griechische  Text  für  sich 
nicht  genügte,  um  den  Zusammenhang  bis  ins  Einzelne  wiederherzustellen,  hat 
sich  der  durch  Letro  nne  aufgestellte  oder  von  seinen  Vorgängern  übernommene 
Wortlaut  als  der  Verbessening  bedürftig  erwiesen.  S.  hierzu  den  2.  Teil  dieser 
Arbeit. 

19* 


Kurt  Sethe, 

sitz  einer  Bilinguis  einen  unendlich  viel  größeren  Wert  hatte,  als 
heute,  wo  man  ihrer  als  Hülfsmittel  zum  Verständnis  der  Sprache 
kaum  noch  bedarf. 

3.  Das  1.  Dekret  von  Philae. 

Es  ist  daher  durchaus  verständlich,  mit  welcher  Freude  die 
gelehrte  Welt  im  Jahre  1844  die  Kunde  vernahm,  daß  die  von 
Lepsius  geleitete  große  preußische  Expedition  das  Glück  gehabt 
habe,  auf  der  Insel  Philae  ein  Duplikat  des  hieroglyphischen  und 
demotischen  Textes  der  Rosettana  neben  einem  zweiten  Dekret 
andern  Inhalts  aufzufinden,  leider  stark  beeinträchtigt  durch  Re- 
liefs und  Inschriften  eines  spätem  Ptolemäers  (Neos  Dionysos), 
die  darüber  geschnitten  sind  und  den  Text  der  beiden  Dekrete 
tatsächlich  zu  einer  Art  von  Palimpsest  gemacht  haben  ^). 

Die  Pariser  Akademie  entsandte  noch  während  der  Dauer  der 
Lepsius 'sehen  Expedition  Herrn  Ampere  nach  Aegypten,  um 
Abdrücke  von  den  Inschriften  zu  nehmen.  Es  knüpfte  sich  daran 
ein  törichter  Prioritäts streit.  Französischerseits  beanspruchte  man, 
insbesondere  der  auf  dem  Gebiete  des  damals  noch  unentzifferten 
Demotischen  dilettierende  Ingenieur  de  Saulcy,  einerseits  die 
Ehre  der  Entdeckung  des  Philae  -  Dekretes  für  Champollion, 
der  die  Inschrift  in  seinen  Notizen  zwar  erwähnt,  aber  ihren  In- 
halt nicht  erkannt  hatte,  andererseits  suchte  man  zugleich  die 
Wichtigkeit  des  Fundes  herabzusetzen,  indem  man  die  mangel- 
hafte Erhaltung  des  Textes  hervorhob  und  behauptete,  das 
Dekret  habe  mit  der  Rosettana  überhaupt  nichts  zu  tun.  Dem- 
gegenüber konnte  Lepsius^)  mit  Recht  betonen,  daß  es  nicht 
darauf  ankomme,  etwas  zuerst  mit  Augen  zu  sehen,  sondern  seine 
•Bedeutung  zuerst  zu  erkennen.  Zugleich  zeigte  er  das  wahre 
Verhältnis  des  Philae-Textes  zur  Rosettana  auf.  Es  handelt  sich 
dabei  in  der  Tat  nicht,  wie  es  beim  ersten  Anblick  geschienen 
hatte,  um  ein  richtiges  Duplikat  des  Dekretes  vom  Jahre  9,  sondern 
um    eine   Republikation    desselben^)    vom    Jahre   21    des   Königs 

1)  Der  zugehörige  griechische  Text  fehlt  bei  beiden  Dekreten.  Lepsius 
nahm  an,  daß  er  vielleicht  nur  in  roter  Farbe  auf  den  freien  Raum  unter  dem 
demotischen  Text  aufgemalt  gewesen  sei.  Das  ist  möglich,  aber  keineswegs  not- 
wendig (s.  u.). 

2)  Z.D.M.G.  l,264ff.  Rev.  arch.  IV  (1847),  1  ff.  241  ff. 

3)  Auf  das  Dekret  vom  Jahre  9  wird,  was  Lepsius  noch  nicht  gesehen  hat, 
in  dem  Texte  an  zwei  Stellen  Bezug  genommen :  „das  Dekret,  das  die  Priester 
der  Tempel  gemacht  haben  im  Jahre  9  unter  der  Majestät  des  Königs  Ptolemaios, 
<]es  ewig  Lebenden,  von  Ptah  geliebten,  zu  seinen  Ehren"  Urk.  II  207,  4 ff.;  „das 
Dekret  vom  Jahre  9"  ib.  210,  5. 


Zur  Geschichte  und  Erklärung  der  Rosettana.  283 

(185/4  V.  Chr.)  mit  dem  Zwecke,  die  im  ersten  Dekrete  dem  Könige 
zuerkannten  Ehren  nun  auch  in  sinngemäßer  Weise  auf  die  Königin 
Kleopatra  auszudehnen,  die  Tochter  Antiochos'  III.,  die  Ptolemaios 
inzwischen  als  Gemahlin  heimgeführt  hatte. 

Demgemäß  zeigt  der  eigentliche  Beschluß  in  diesem  Dekret 
im  Wesentlichen  den  gleichen  Wortlaut  wie  die  ßosettana,  nur 
mit  den  auf  die  Königin  bezüglichen  Zasätzen.  Die  ihr  zuerkannten 
Ehren  bestehen  darin, 

1)  daß  ihre  Statue  neben  der  des  Königs  und  des  Ortsgottes, 
der  ihm  das  Siegesschwert  reicht,  aufgestellt  werde  (TJrk.  II 
206-207). 

2)  daß  ein  Holzbild  der  Königin  zusammen  mit  dem  des  Königs 
in  einem  und  demselben  tragbaren  Kapellenschrein  aufgestellt  und 
bei  den  Prozessionsfesten  herumgetragen  werde  (ürk.  II  203 — 209). 

3)  daß  dieser  Schrein  neben  der  Krone  des  Königs  eine 
Königinnenkrone  als  Abzeichen  tragen  solle  (Urk.  11  209 — 210). 

4)  daß  neben  den  Gredenktagen,  die  der  Geburt  und  der  Thron- 
besteigang  des  Königs  galten,  ein  solcher  Gedenktag  wegen  der 
Geburt  der  Königin  (23,  Thoth)  allmonatlich  am  23.  Tage  in  den 
Tempeln  begangen  werde  (Urk.  II  210 — 211). 

5)  daß  das  Stägige  Jahresfest  am  Anfange  des  Monats  Thoth 
dem  König  und  der  Königin  gefeiert  werde  (Urk.  II  211 — 212). 

6)  daß  die  Priester  den  Titel  eines  „Priesters  der  beiden  er- 
schienenen Götter"  (d.  i.  QeoI  imcpavsts)  führen  sollen  (Urk.  II  212). 

7)  daß  es  den  Privatleuten  freistehen  solle,  auch  ihrerseits  in 
ihren  Häusern  dem  Königspaar  diese  Ehren  zu  erweisen  (Urk. 
n  213). 

Dagegen  weicht  die  Begründung  für  den  Beschluß,  die  wesent- 
lich kürzer  gehalten  ist,  erheblich  ab,  indem  einerseits  die  Dinge, 
die  im  Jahre  9  hochaktuell  gewesen  waren,  jetzt  aber  ihr  Interesse 
verloren  hatten,  wie  die  Niederwerfung  des  unterägyptischen  Auf- 
standes und  die  Amnestie  für  die  Teilnehmer,  unerwähnt  bleiben 
mußten,  andererseits  neue  Wohltaten  des  Königs  und  auch  gewisse 
Verdienste  der  Königin  zu  rühmen  waren.  Unter  den  ersteren 
sind  zu  nennen: 

1)  Erlaß  der  Abgaben,  mit  denen  die  Tempel  und  die  Priester - 
Schaft  im  Rückstände  geblieben  waren  bis  zum  Jahre  19  (ürk.  11 
202 — 203),  d.  i.  dem  Jahre,  in  dem  nach  dem  2.  PhUae-Dekret  die  ober- 
ägj-ptischen  Rebellen  besiegt  wurden  und  ihr  Reich  zerstört  wurde. 

2)  Wiederherstellung  der  für  den  Kult  der  Arsinoe  Philadelphos 
und  der  Götter  Philopatores  festgesetzten  Einkünfte,  die  während 
der  Unruhen  geschmälert  waren  (Urk.  II  203—204). 


284  Kurt  Sethe, 

Der  Königin  wird  nachgerühmt,  daß  sie  Grold,  Silber  und 
Edelsteine  in  großer  Menge  für  den  Kult  der  Götter  und  Göttinnen 
des  Landes  hergegeben  habe  (Urk.  II  204). 

Auch  die  Gelegenheit,  bei  der  dieser  Beschluß  zu  Ehren  des 
Königspaares  von  den  wiederum  im  Tempel  von  Memphis  ver- 
sammelten Priestern  der  ägyptischen  Heiligtümer  gefaßt  wurde, 
ist  natürlich  eine  andere.  Es  ist  die  „Begegnung  des  Apis"  {sjin.w 
Sp,  demot.  mit  dem  bestimmten  Artikel  pi)^  eine  Zeremonie,  wie 
sie  nach  der  Mendes-Stele  (Urk.  II  36—37,  aus  der  Zeit  des  Ptole- 
maios  Philadelphos)  der  König  mit  den  vornehmsten  der  heiligen 
Tiere  der  Aegypter  zu  vollziehen  pflegte.  Daß  es  auch  im  vor- 
liegenden Falle  der  König  war,  der  diese  „Begegnung"  in  eigener 
Person  vollzog,  ist  in  dem  Texte  zwar  nicht  ausdrücklich  gesagt, 
aber  wohl  anzunehmen,  da  gerade  darin  das  Bedeutsame  dieser 
„Begegnung"  gelegen  zu  haben  scheint.  Auch  ist  es  a  priori  wahr- 
scheinlich, daß  es  eben  das  Zusammentreffen  mit  dem  Herrscher 
bei  solch  einer  festlichen  Gelegenheit  gewesen  ist,  das  in  der 
Priesterschaft  den  Entschluß  zur  Ehrung  des  Königspaares  auslöste. 

Den  hieroglyphischen  Text  dieses  Dekrets  von  Philae,  das  wir, 
zum  Unterschied  von  dem  daneben  stehenden  aus  der  Zeit  desselben 
Königs  Ptolemaios'  V.  Epiphanes  stammenden  zweiten  Dekret,  als 
Philensis  I  bezeichnen,  findet  man  mit  einer  Umschrift  des  demoti- 
schen Textes  jetzt  ebenfalls  in  dem  genannten  Hefte  der  „Urkunden 
des  äg.  Altertums",  in  dem  ich  die  Rosettana  neu  herausgegeben 
habe,  auf  S.  198  ff.  Die  noch  immer  ausgezeichnet  brauchbaren 
alten  Papierabklatsche  der  Lepsius sehen  Expedition  von  1843/5, 
sowie  die  schönen  Photographien  der  1908—1910  von  der  Berliner 
Akademie  zur  Aufnahme  der  dem  Untergange  geweihten  Denkmäler 
der  Insel  Philae  entsandten  "und  von  H.  Junker  geleiteten  Ex- 
pedition der  Berliner  Akademie  der  "Wissenschaften,  ermöglichten 
es  mir,  den  Text,  soweit  er  noch  zwischen  und  unter  den  über- 
geschnittenen Skulpturen  späterer  Zeit  zu  erkennen  ist,  fast  über- 
all zweifellos  festzustellen. 

4.    Der  Stein  von  Nobaireh. 

So  nützlich  dieses  Dekret  von  Philae,  die  Philensis  I,  auch 
für  die  Wiederherstellung  mancher  Einzelheiten  in  der  Rosettana 
war  (wie  übrigens  auch  jenes  2.  Dekret,  das  aus  dem  19.  Jahre 
des  Königs  stammt  und  manche  Parallelen  zur  Rosettana  aufweist), 
80  mußte  es  doch  für  alle  die,  die  eine  Wiedergewinnung  des 
ganzen  verlorenen  Teiles  der  Rosettana  davon  erhofft  hatten,  eine 


Zur  Geschichte  und  Erklärung  der  Rosettana.  285 

rechte  Enttäuschtmg  sein.  Noch  war  ja  aber  auf  die  Wiederauf- 
findung  eines  der  vielen  Duplikate,  die  die  ßosettana  nach  den 
Schlußbestimmungen   des  Dekrets   gehabt  haben  sollte,   zu  hoffen. 

Diese  Hoffnung  schien  sich  denn  auch  zu  erfüllen,  als  das 
Museum  von  Kairo  im  Winter  1884/5  einen  Denkstein  mit  hiero- 
glyphischer Inschrift  kaufte,  der  zu  Nobaireh  oder  Nebireh  bei 
Damanhur  im  Delta  gefunden  worden  war  und  ein  Priesterdekret 
aus  der  Zeit  des  Ptolemaios  Epiphanes  wie  die  Rosettana  und  die 
Philaedekrete  enthielt  mit  derselben  Schlußbestimmung  über  die 
Poblikation  in  den  3  Sprachen,  obwohl  der  Denkstein  selbst  nur 
den  hieroglyphischen  Text  und  zwar  in  recht  schlechter  Ausführung, 
jedoch  im  Stile  der  Zeit,  enthält. 

In  der  Tat  zeigte  es  sich  bei  Betrachtung  des  Inhalts,  daß 
der  "Wortlaut  nicht  nur  in  vielen  Teilen  mit  dem  der  Rosettana 
wörtlich  übereinstimmte,  sondern  z.  T.  auch  verlorene  Teile  der- 
selben in  wünschenswertester  Weise  ergänzte.  Andererseits  waren 
große  Auslassungen  zu  beobachten  und  die  ganze  Datierung  am 
Anfang  des  Textes  war  völlig  von  der  verschieden,  die  für  die 
Rosettana  nach  dem  demotischen  und  griechischen  Texte  zu  ver- 
langen ist.  Das  Datum  nannte  nämlich  nicht  den  4.  Xandikos  = 
18.  Mechir  des  Jahres  9,  sondern  den  24.  Gorpiaios  =  24.  Phar- 
muthi  des  Jahres  23  (29.  Mai  182  v.  Chr.),  und  demgemäß  waren 
auch  die  eponymen  Ptolemäerpriester,  wie  sie  in  der  Datierung 
der  ptolemäischen  Urkunden  genannt  zu  werden  pflegen,  andere 
als  in  der  Rosettana  vom  Jahre  9. 

Danach  konnte  es  zunächst  so  scheinen,  als  ob  wir  es  auch 
bei  diesem  Denkstein  von  Nobaireh  wieder  mit  einer  abgekürzten 
Republikation  des  Dekretes  vom  Jahre  9  zu  tun  hätten,  ähnlich 
der  Philensis  I.  Und  dies  ist  denn  auch  bis  jetzt  die  allgemeine 
Ansicht  Aller  gewesen,  die  sich,  mehr  oder  weniger  eingehend, 
mit  der  Inschrift  beschäftigt  haben,  sowohl  der  französischen  Ge- 
lehrten Bouriant^)  und  Baillet^),  die  die  Inschrift  zum  Gegen- 
stande besonderer  Arbeiten  gemacht  haben,  als  ihrer  Landsleute 
Daressy^)  und  Bouche-Leclercq*),  die  bei  Gelegenheit  von 
anderen  Arbeiten  auf  sie  Bezug  genommen  haben. 

Sie  erweist  sich  indes  als  falsch,  sobald  man  nur  einmal  den 
Wortlaut  der  Inschrift  dem  der  Rosettana  genau  gegenüberstellt, 

!)•  Reo.  de  trav.  6, 1  ff. 

2)  Le  d^cret  de  Memphis  et  les  inscriptions  de  Rosette  et  de  Damanhour 
(1888). 

3)  Reo.  de  trav.  33,1.  ' 

4)  Histoire  des  Lagides  I  369/370. 


286  Kurt  Sethe, 

wie  ich  das  in  meiner  Ausgabe  dieses  Textes  getan  habe.  Hierbei 
zeigt  es  sich  zunächst  —  man  sollte  meinen  auch  für  das  blödeste 
Auge  leicht  erkennbar  — ,  daß  die  Auslassungen  des  Nobaireh- 
Textes  keineswegs  derart  sind,  daß  man  diesen  als  eine  „abgekürzte 
Fassung'^,  ein  „abrege",  ansehen  kann.  Es  sind  nämlich  nicht 
etwa  ganze  Abschnitte,  Sätze  oder  zusammenhängende  Satzteile 
ausgelassen,  sodaß  das,  was  verblieb,  einen  brauchbaren  Sinn  gab, 
sondern  es  fehlen  Sätze  und  Satzteüe,  die  schlechterdings  nicht 
entbehrt  werden  können,  wie  z.  B.  in  den  folgenden  Fällen  (die 
ausgelassenen  Textstücke  sind  in  eckige  Klammern  eingeschlossen): 

„dieweil  König  Ptolemaios   usw.  [ tutj   alles  Gute"  Urk. 

n  173,  7. 

„Seine  Majestät  ging  nach  der  Stadt  LykopoHs  [im  busiritischen 
Gau,  die  durch  die  Rebellen  für  die  Belagerung  befestigt  war, 
indem  viel  Kriegsgerät  in  ihr  war.  Er  schloß  sie  ein  mit  Mauern-, 
Wällen  und  Gräben,  wegen]  der  Rebellen,  die  in  ihr  waren''  Urk. 
II  180,4-8. 

„er  dämmte  ab  alle  Kanäle,  welche  führen  zu  [dieser  StadtJ" 
Urk.  II,  181,  3. 

„Seine  Majestät  setzte  Fußsoldaten  [und  Reiterei  an  die  Mün- 
dung dieser  Kanäle,  um  sie  zu  bewachen"]  Urk.  II  181,  6 — 7. 

„[dieselbigen  Kanäle  waren  es,  die  Wasser  auf  viel  Land 
brachten,  indem  sie  waren]  sehr  tief"  Urk.  II  182,  2. 

„er  gab  alles,  dessen  man  bedurfte,  [um  einzubalsamieren]  ihren 
Leib,  reichlich  und  prächtig"  Urk.  II  185,  6. 

„der  Anfang  von  allem  [Guten,  das  gehört  den]  auf  Erden 
Lebenden"  Urk.  II  194,  4. 

„[und  man  soll  ein  Fest  feiern  in  allen  Tempeln  Aegyptens 
dem]  König  Ptolemaios  alljähtlich  vom  1.  Thoth  bis  zu  5  Tagen* 
Urk.  II  195,  6-8. 

„und  man  soll  diese  Feste  feiern  allmonatlich,  all[jährlich, 
damit  erkannt  werde,  daß  die  Bewohner  Aegyptens  den  Gott 
Epiphanes  Eucharistos  ehren,  wie  es  recht  ist.  Und  es  soll  dieser 
Beschluß  eingegraben  werden  auf  einem  Denkstein  von  hartem 
Stein  in  der  Schrift  der  Götterworte,  der  Schrift  der]  Briefe,  der 
Schrift  der  Griechen«  Urk.  II  197,  5—9. 

Nicht  selten  sind  bei  diesen  Auslassungen  auch  TeUe  von  ein- 
zelnen Worten  mit  weggerissen  worden,  sodaß  jetzt  ein  halbes 
Wort  auf  ein  anderes  folgt,  z.  B. : 

„Desgleichen  das  Geben  des  Rech[tes  den  Menschen,  wie  Thoth, 
der  Große  und  Große,  tat.  Er  befahl  aber  auch  wegen  derer,  die 
wiederkommen   würden   von   den  Kriegsleuten   und   den   iibrigen 


Zur  Geschichte  und  Erklärung  der  Rosettana.  287 

Leuten,  die  an  den  Unruhen  teilgenommen  hatten,  daß  sie  zurück- 
kehren sollten  an  ihre  Orte  und  daß  bleiben  sollte  das  Ihrijge  in 
ihrem  Besitz"  Urk.  II  178,  8—179,  5.  —  ffier  folgt  auf  das  qj  von 
tp-nfr  „Rechf  unmittelbar  das  zu  i^.t-sn  „ihre  Sachen",  „das 
Ihrige"  gehörige,  diesen  Ausdruck  beschließende  Pluraldeterminativ. 

„Die  Rebellen  aber,  die  gesammelt  hatten  Trup[pen  und  an 
ihrer  Spitze  gestanden  hatten  usw.,  die  Götter  gaben,  daß  er  sie 
bestrafte  in  Memphis]  am  Feste  der  Uebernahme  der  Königsherr- 
schaft von  seinem  Vater''  Urk.  II  183,  1—5. 

„Er  ist  ein  Gott,  der  Sohn  eines  Gottes,  den  eine  Göttin  gab 
[zu  Boden,  injdem  er  gleicht  dem  Horus,  dem  Sohne  der  Isis,  dem 
Sohne  des  Osiris"  Urk.  11  173,  9—174,  1.  —  Hier  sind  die  Worte 
r  ti  ;,zu  Boden",  die  den  Ausdruck  rdj  r  ti  „zu  Boden  geben*' 
d.  i,  „zur  Welt  bringen"  vervollständigen,  und  das  /  von  iiv-f  „in- 
dem er"  ausgelassen. 

„mÖ[ge  man  diese  Tage,  den  17ten  und  30sten  in  jedem  Monat, 
als  Fest  feiern  in  allen  Tempeln  Aegyptens"  usw.]  Urk.  II 
194,  6 — 7.  —  Hier  folgen  auf  den  Anfangsbuchstaben  des  Wortes 
iw.mj  „möge"  (eig.  „gib")  gleich  die  Worte  „König  Ptolemaios"  von 
Urk.  II  195, 7  (s.  ob.  S.  286). 

„indem  ein  Kranz  an  ihrem  Haupte  ist  und  ff  estlich  gemacht 
werden  die  Altäre"  usw.]  Urk.  II  196,  1. 

Besonders  arg  ist  aber  dem  Teile  des  Textes  mitgespielt 
worden,  der  den  Zeilen  4—8  des  hieroglyphischen  Textes  der  In- 
schrift von  Rosette  entsprach.  Hier  fehlt  der  ganze  Anfang  des 
eigentlichen  Beschlusses,  also  der  springende  Punkt  des  ganzen 
Textes,  und  es  schließt  sich  in  Zeile  26  an  den  unterbrochenen 
Satz  von  Urk.  11  185,  8  unmittelbar  ein  Stück  aus  Urk.  II  192,  3, 
ebenfalls  mitten  in  einem  Satze  beginnend,  an. 

Nach  alledem  ist  es  klar,  daß  wir  es  nicht  mit  einem  planvoll 
hergestellten  Textauszug,  sondern  mit  einer  sinnlosen  Textver- 
stümmelung zu  tun  haben. 

Der  Nobaireh-Text  erscheint  nach  den  angeführten  Beispielen 
in  der  Tat  als  eine  Zusammenflickung  einzelner  aus  dem  Text 
herausgerissener  Bruchstücke.  Dieser  Eindruck  wird  durchaus 
verstärkt  durch  den  eigentümlichen  Befund  in  Zeile  26 — 27.  Dort 
sind  nach  der  Stelle,  wo  soeben  die  große  Lücke  konstatiert  wurde, 
zwei  Bruchstücke  des  Textes  umgestellt.  Es  folgen  dort  auf  d&s 
Wort  wdn  „Opfer"  von  Urk.  II  185,  8: 

a)  die  Worte  von  Urk.  11  192,  3 — 4:  tp-'-sn  m  w"  nb  Cm  mj  Cr 
tp-nfr  m   shn.w  nb  hr-tp  gi{.t)   „vor   ihnen    (ist)    bei   einer  jeden 


288  Kurt  Sethe, 

davon,    wie   es   zu   tun  üblich  ist   bei   allen  Kronen,   auf  [diesen] 
Kapellenschrein",  welche  Worte  hinter  das  Stück  b  gehören. 

b)  die  "Worte  von  ürk.  II  191,  8—192,  3:  gi{.t)  sps  \n]  ntr  pr 
nb  nfr .  w  hr-sn  r  rdj .  t  sÜ-wt  gi{.  t)  tn  m  hrw  pn  r  hntj  rnp .  wt 
mwt-ivt  dj  shn.w  10  nw  hm-f  r  iüniv{.t)  „den^)  herrlichen  Kapellen- 
schrein des  Gottes  Epiphanes  Eucharistos  mit  ihnen  (d.  i.  den 
andern  Schreinen).  Damit  erkannt  werde  dieser  Kapellenschrein 
von  heute  bis  in  alle  Ewigkeit,  soll  man  10  Kronen  seiner  Majestät 
setzen,  indem  eine  Uräusschlange".  Diese  Worte  gehören  in  Wahr- 
heit vor  die  Worte  des  Stückes  a  und  werden  durch  sie  direkt 
fortgesetzt. 

c)  die  Worte  von  Urk.  II  193,  3:  [V'(.  ^)]  mjt.t  [hr  nh  mh  hr-s] 
hr  Tph-s  iib  ^[eine  Uräusschlange]  desgleichen  [auf  einem  Korb, 
unter  dem  eine  Papyruspflanze  ist,]  auf  seiner  (des  Schreines) 
linken  Ecke"  mit  der  durch  eckige  Klammern  angegebenen  Aus- 
lassung. 

Von  hier  an  läuft  dann  der  Text  wieder  eine  Strecke  lang 
in  richtiger  Folge  fort. 

Wie  der  Redaktor  oder  besser  Verfertiger  des  Nobaireh-Textes 
zu  dieser  sinnwidrigen  Umstellung  der  Stücke  (a  vor  b)  kam,  verrät 
uns  nun  aber  der  Umstand,  daß  das  Stück  b  mit  demselben  Zeichen 
beginnt,  das  zugleich  das  Ende  von  a  bildet,  nämlich  dem  Wort- 
zeichen (Ideogramm)  für  „Kapellenschrein".  Dieses  gehört  also 
beiden  Stücken  gemeinsam  an.  Und  ebenso  sollte  auch  c  mit  dem 
Wortzeichen  für  V(.^)  „Uräusschlange"  beginnen,  das  am  Ende 
von  b  als  Determinativ  des  synonymen  Wortes  ivnii-{.  t)  dasteht  ^). 

Es  ist  danach  klar:  der  Redaktor  hatte  hier  Bruchstücke 
der  Inschrift  vor  sich,  die  er  so  aneinander  paßte,  daß  die  Reste 
des  Bildes  des  Kapellenschreines  resp.  der  Uräusschlange,  mit 
denen  das  eine  Fragment  schloß,  sich  mit  den  Resten  des  gleichen 
Zeichens,  mit  denen  das  andere  Fragment  begann,  zu  einem  vollen 
Zeichen  ergänzten. 


1)  Vorher  fehlt  „und  mau  soll  in  Prozession  ausführen". 

2)  In  korrekter  Hieroglyphenschrift  sollte  freilich  die  Uräusschlange  eigent- 
lich in   r'(.t)   auf  ihrem  Schwänze  (  ^  |  liegen,   in  wnw{^.t)  aber  darauf  stehen 

Der  Verfertiger   unseres  Steines   kennt  diesen  Unterschied  aber  nicht, 


iU 


sondern  gebraucht  das  letztere  Bild  (der  stehenden  Schlange)  auch  statt  des 
ersteren,  so  z.  B.  in  dem  Königstitol  nb.ij,  der  an  unserer  Stelle  gleich  darauf 
folgt  (unter  Weglassung  des  Korbes,  auf  dem  die  Schlange  hier  eigentlich  liegen 
soll).    Ebenso  in  Zeile  1. 


Zur  Geschichte  ond  Erklärung  der  Rosettana.  289 

Damit  ist  das  Rätsel  der  seltsamen  Textzerreißung,  die  der 
Denkstein  von  Nobaireh  an  den  oben  zitierten  Stellen  zeigte,  ge- 
löst. Der  Stein  ist  eben  nichts  als  eine  alte  Reproduktion  einer 
Reihe  von  Fragmenten  eines  zertrümmerten  älteren  Originales. 

Diese  Lösung  erfährt  eine  glänzende  Bestätigung  durch  eine 
Stelle  in  Zeile  9  des  Steines  (Urk.  II  173,  4  ff.)-  Dort  sollen  wir 
die  stereotype  Eingangsformel  für  die  Begründung  des  Beschlusses 
lesen,  wie  wir  sie  in  allen  Priesterdekreten  aus  der  Zeit  des  Pto- 
lemaios  Epiphanes  (Phil.  I.,  Phil.  II.,  Rec.  de  trav.  33)  angewendet 
finden :  „dieweil  König  Ptolemaios  der  Gott  Epiphanes  Eucharistos, 
[der  Sohn  des  Königs  Ptolemaios  und  der  Herrscherin  und  Herrin 
der  beiden  Länder  Arsinoe,  der  beiden  vaterliebenden  Götter,  tutj 
alles  Gute"  usw. 

So  steht  auch,  wie  zu  erwarten,  da;  nur  fehlen  die  in  eckige 
Klammern  geschlossenen  Worte,  die  die  Abstammung  des  Königs 
von  den  Göttern  Philopatores  angeben,  zusammen  mit  dem  darauf 
folgenden  „tut"  (hr  ir),  eine  Auslassung,  wie  sie  unser  Stein,  wie 
gesagt,  ja  allerorten  aufweist.  Diesem  Manko  steht  merkwürdiger- 
weise aber  ein  Plus  an  anderer  Stelle  der  Formel  gegenüber. 
Hinter  den  Anfangsworten  m.^-ntj  xcn  „dieweil"  schiebt  unser  Re- 
daktor   nämlich   vor    den   Worten   „König   Ptolemaios    der   Gott 

Epiphanes  Eucharistos"  die  völlig  sinnlosen  Worte  "^^  J  '^^  \ 

ein.  Sie  sind  nichts  anderes  als  eine  Kombination  der  verderbten 
Ueberreste  jener  ausgelassenen  Partie  „der  Sohn  des  Königs 
Ptolemaios  und  der  Herrscherin  und  Herrin  beider  Länder  Arsinoe, 
der  beiden  vaterliebenden  Götter".  Die  sinnlose  Zeichenkombination 

^^  J  ist  der  mißverstandene  Schluß  des  Namens  Arsinoe 
(  ^         ^^^^"^     i'    ^^^  Reste   des  Endes   des  Namensringes  hielt 

der  Redaktor  für  ein  J,  das  im  Hieratischen  in  der  Tat  ebenso 
aussieht.  Das  darauffolgende,  in  seiner  Vorlage  vermutlich  nicht 
sehr   wohl    erhaltene    JJ     „die   beiden    vaterliebenden  Götter" 

T — r 

ergänzte  er  zu  |  |  |  „von  den  Göttern  (plur.)  geliebt",  wie  er 
ähnlich  in  Zeile  11  des  Steines  aus  dem  j^f}  „die  Tempel  Aegyp- 

tens"  seines  Originales  ein  fTO^  mit  3  statt  2  Wasserkriigen  er- 
gänzte (Urk.  II  174,  5).  Schließlich  fügte  er  das  Wort  hi  „und" 
ans  den  Worten  „des  Königs  Ptolemaios  und  der  Königin  Arsinoe" 


290  Kurt  Sethe, 

hinzu.  Vielleicht  weil  es  anf  einem  Fragmente  stand,  das  sich  durch 
seine  Färbung  oder  sonstwie  als  aus  der  Nachbarschaft  stammend 
verriet,  wie  vermutlich  auch  das  vorhergehende  Stück  aus  ähnlichen 
Gründen  an  seiner  Stelle  eingeordnet  worden  sein  wird. 

Aus  der  Natur  des  Steins  von  Nobaireh,  wie  sie  sich  uns  hier 
enthüllt  hat,  erklären  sich  nun  auch  eine  Reihe  von  anderen  un- 
regelmäßigen Erscheinungen,  die  bei  ihm  zu  beobachten  sind.  Zu- 
nächst die  zahlreichen  Mißverständnisse,  die  sich  in  verschiedener 
Weise  äußern,  nämlich  in  der  Ersetzung  einzelner  Schriftzeichen 
durch  ähnlich  gestaltete  andere  Zeichen  ^),  in  der  undeutlichen  und 
unbestimmten  Wiedergabe  mancher  Zeichen  durch  aufgelöste  Strich- 
gebilde, die  oft  an  die  Wiedergabe  der  Hieroglyphen  in  modernen 
Fälschungen  oder  in  den  älteren  Publikationen  des  18.  und  19. 
Jahrhunderts  unserer  Zeitrechnung  erinnert^),  in  der  unrichtigen 
Anordnung  der  Zeichengruppen  ^),  in  der  Einsetzung  völlig  sinn- 
loser Zeichen  an  Stellen,  wo  eine  Lücke  im  Text  klaffte*),  also 
da,  wo  am  Rande  eines  Bruchstückes  Zeichenspuren  sichtbar  ge- 
wesen sein  werden,  die  der  Redaktor  nicht  erkannte,  usw.  Man 
sieht  aus  alledem:  der  Verfertiger  der  Inschrift  verstand  nichts 
von  dem  Inhalt.  Da  es  sich  bei  dem  hieroglyphischen  Text  tat- 
sächlich ja  um  eine  tote  Sprache  handelte,  die  nur  besonders  Ein- 
geweihte noch  lesen  konnten,  ist  das  nicht  allzu  verwunderlich. 

Verschiedentlich  ist  zu  beobachten,  daß  auf  dem  Steine  wesent- 
liche Bestandteile  der  Schreibung  eines  Wortes  fehlen,  die  auf  dem 
Stein  von  Rosette  richtig  dastehen,  daß  aber  der  Raum,  den  diese 
fehlenden  Zeichen  einnehmen  sollten,  frei  gelassen  ist  ^).    Man  wird 

1)  Z.  B.  des  h  in  Hjrni.t  ürk.  II  171,8  (Anm.  f);  des  m  172,4  (Anm.  d); 
des  Determinativs  der  Zeit  (Sonne)  in  ^6  „Fest"  172,7  und  in  rk  „Zeit"  175,3; 
des  nb  173,8  (Anm.  f ) ;  der  beiden-  Krüge  von  Icbji.wj  174,5  (s.  dazu  unten);  der 
beiden  «^'-Zeichen  178,5;  der  strahlenden  Sonne  in  Itnmm.t  „Menschen"  175,5; 
der  Eule  m  175,6;  der  Worte  Jr  r-pr.w  183,9;  der  Worte  mjt.t  {l)r.w  „des- 
gleichen" 194,8;  hr-h'.t  „früher"  194,2;  des  Wortes  ntj  194,1;  mir  „gerade" 
178,7  usw.  Ständig  schreibt  der  Stein  q  statt  X,  so  in  m  ss  mi'  „sehr"  182,2; 
ms'  „Heer"  183,1;  mnj  und  tr  „Byssos"  184,3. 

2)  Z.  B.  Urk.  II  177,  6.  8.  180,  4.  8.  182,  8.  5.  185,  6  und  allenthalben  (man 
betrachte  nur  das  Original  oder  eine  Photographie). 

8)  Z.  B.  in  mnfj.t  „Truppen"  ürk. II  175,2;  Jft  nw  Irr  „Weinberg"  176,5; 
wn  l}r  „aufliegend",  „geschuldet  von"  184,2;  mjt.t  (l)r.w  „desgleichen"  194,3; 
nfrj.t  r  „bis  zu"  183,9;  riö-t  tn  „diese  Stadt"  182,3;  Is.t  „Isis"  174,1;  ntr.t 
„Göttin"  173,9;  ntj  173,4. 

4)  Z.  B.  Urk.  II  194,  5  (nf  statt  sp  „empfangen") ;  ib.  197,  3  (pn  statt  O- 

5)  So  z.  B.  der  senkrechte  Strich  in  (l)tf-s  „ihr  Vater"  Urk.  II  171,  8  (Anm.  b); 
desgl.  in  hrw  pn  „dieser  Tag"  ib.  172,2  (Anm.  a) ;  das  zweite  t  in  ntr.wj  mr-jt 
„die  beiden  vaterliebenden  Götter"  ib.  171,  3  (Anm.  k);  dasj?  und  das  Determinatir 
des  bewaffneten  Armes  in  ip  „empfangen"  ib.  194, 8. 


Zur  Geschichte  und  Erklärung  der  Rosettana.  291 

sich  das  nan  nach  dem,  was  oben  ermittelt  wurde,  so  erklären, 
daß  die  betr.  Zeichen  auf  dem  Exemplar,  das  der  Verfertiger  des 
Nobaireh-Steines  als  Vorlage  benutzte,  ursprünglich  an  ihrer  rich- 
tigen Stelle  gestanden  hatten,  bei  der  Zertrümmerung  der  Inschrift 
aber  zerstört  oder  unkenntlich  geworden  waren. 

Eine  Besonderheit  des  Steines  von  Nobaireh  ist  es,  daß  er 
den  Text  nicht,  wie  es  im  Allgemeinen  üblich  ist  und  auch  bei 
allen  andern  Dekreten  der  Ptolemäerzeit  geschieht,  von  rechts 
nach  links  schreibt,  sondern  in  der  umgekehrten  Richtung.  Das 
geschieht  ja  bei  hieroglyphischen  Inschriften  auch  sonst  nicht 
selten;  soviel  wir  sehen  können,  aber  doch  nur  dann,  wenn  ein 
triftiger  Grund  dafür  vorliegt,  wie  z.  B.  bei  Wand-  und  Tür- 
inschriften, wo  aus  dekorativen  Rücksichten  eine  Inschrift  als 
Pendant  zur  andern  gestaltet  werden  soll,  oder  bei  den  Beischriften 
zu  Bildern,  wo  die  Schriftzeichen  in  demselben  Sinne  zu  stehen 
oder  zu  gehen  haben  wie  die  im  Bilde  dargestellten  Dinge,  zu 
denen  sie  gehören').  Es  ist  also  zweifellos  ungewöhnlich,  daß  in 
unserm  Falle,  wo  es  sich  um  einen  selbständigen,  freistehenden 
Denkstein  handelt^  diese  umgedrehte  Schriftrichtung  gewählt  ist. 
Man  könnte  danach  auf  den  Gedanken  kommen,  daß  ein  Nicht- 
ägypter  (Grieche)  den  Stein  verfertigt  habe.  Die  stillosen  Formen, 
die  manche  Zeichen  haben,  würden  dazu  stimmen. 

Eine  weitere  Eigentümlichkeit  unseres  Steines  ist  nun  aber, 
daß  er  im  Gegensatz  zu  dieser  von  ihm  im  Allgemeinen  angewandten 
Schriftrichtung  die  einzelnen  Zeichen  oder  auch  Zeichengruppen 
vielfach  wieder  umgedreht,  gleichsam  als  Spiegelbilder,  gibt,  sodaß 
sie  nach  rechts  blicken  und  für  sich  allein  von  rechts  zu  lesen 
sind,  wie  es  bei  der  normalen  Schriftrichtung  der  Fall  ist.  Es  ist 
daraus  zu  ersehen,  daß  das  vom  Verfertiger  unseres  Steines  ko- 
pierte ältere  zertrümmerte  Original  die  gewöhnliche  Schriftrichtung 
von  rechts  nach  links  mit  nach  rechts  gewandten  Bildern  aufgewiesen 
hat  wie  der  Stein  von  Rosette  und  die  andern  uns  im  Original 
erhaltenen  Ptolemäerdekrete. 

Auch  in  einem  andern  Punkte  läßt  sich  für  das  verlorene 
Original,  das  unser  Stein  wiedergeben  sollte,  eine  TIebereinstimmung 
mit  dem  Stein  von  Rosette  feststellen.  Vergleicht  man  die  auf 
den  beiden  Steinen,  dem  von  Rosette  und  dem  von  Nobaireh,  zu- 
gleich  erhaltenen  Stücke  (s.  S.  292),    so   zeigt  sich,  bis  auf  einige 


1)  So  läuft  z.  B.,  wenn  zwei  Menschen  sich  gegenüberstehen,  die  Beischrift 
des  einen  der  Beischrift  des  andern  entgegen,  sodaß  sich  die  Schriftzeichenbilder 
ebenso  ansehen  wie  die  Menschen  selbst 


292 


Kurt  Sethe, 


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Zur  Geschichte  und  Erklärung  der  Rosettana.  293 

geringfügige  Verschiedenheiten  an  drei  Stellen  *),  eine  überraschende 
Uebereinstimmung  in  der  Orthographie  und  Zeichenanordnung  ■^). 
Sie  ist  umso  bemerkenswerter,  als  es  für  beides  in  der  Hiero- 
glyphenschrift, zumal  in  der  Spätzeit,  keine  bindenden  Regeln 
gab,  und  führt  zu  dem  zwingenden  Schluß,  daß  beide  Texte  (das 
verlorene  Original  des  Xobaireh-Steins  xmd  der  Stein  von  Rosette) 
auf  einunddenselben  Urtext  zurückgehen  müssen,  dessen  Ortho- 
graphie sie  möglichst  zu  bewahren  suchten. 

In  dieser  Uebereinstimmung  liegt  für  uns  die  Gewähr,  daß 
dem  Nobaireh-Stein  trotz  aller  seiner  Verderbnisse  ein  gewisser 
Wert  für  die  Rekonstruktion  der  verlorenen  Teile  des  Rosette- 
Steines  zuerkannt  werden  darf.  Wir  dürfen  danach  aus  seinen 
Schreibungen  Schlüsse  auf  die  Fassung  und  Schreibung  des  Rosette- 
Steines  ziehen,  wenn  diese  Schlüsse  natürlich  vielfach  auch  nur 
negativer  Art  sein  können. 

Noch  ein  Punkt  aber  harrt  der  Aufklärung.  Es  wurde  oben 
schon  erwähnt,  daß  der  Stein  von  Nobaireh  ein  anderes,  um 
14  Jahre  späteres  Datum  trägt,  als  die  Rosettana,  und  daß  er 
deshalb  in  den  Verdacht  kommen  konnte,  eine  Republikation  des 
alten  Dekretes  vom  Jahre  9  zu  sein,  wie  die  Philensis  I,  die  aas 
dem  Jahre  21  stammte.  Daß  eine  solche  Erklärung  für  den  No- 
baireh-Stein  nicht  zutreffen  kann,  liegt  für  uns  jetzt  aber  auf  der 
Hand.  Die  oben  festgestellten  Uebereinstimmungen  zwischen  ihm 
und  dem  Rosette-Stein  in  Fassung  und  Orthographie  des  Textes 
schließen  es  schon  aus.  Nicht  minder  aber  der  Inhalt.  Hinsicht- 
lich seiner  stimmt  unser  Stein  überall  mit  der  Rosettana  überein, 
auch  da,  wo  die  anscheinend  um  2  Jahre  ältere  Philensis  I  von 
der  Rosettana  so  stark  abweicht,  wie  z.  B.  in  der  Behandlung  des 
unterägyptischen  Aufstandes  und  seiner  Niederwerfung  ün  Jahre  8. 

Vor  allem  aber  nennt  der  Text  des  Dekretes  in  der  Inschrift 
von  Nobaireh  mit  keinem  Worte  die  Königin  Kleopatra,  auf  die 
doch  die  Republikation  vom  Jahre  21  ausdrücklich  die  dem  Könige 
früher  zuerkannten  Ehren  ausgedehnt  hatte.  Auf  dem  Nobaireh- 
Stein  ist  überall,   in  dem  Beschlüsse   selbst  wie  in  seiner  Begrün- 


1)  R.  11  =  N,  29  {Hw.t-fmnli.t);  R.  U  =  N.  30  (m  r.tc-pr  nb  ftr  m-f  m 

und  JSr  vor  dem  Königstitel). 

2)  Bei  dem  Vergleich  darf  man  natürlich  die  ohen  erörterten  Eigentümlich- 
keiten, die,  auf  Rechnung  des  Verfertigers  des  Nobaireh-Steines  gehen,  wie  die 
Verwechslung  und  die  Umdrehung  von  Zeichen,  nicht  außer  acht  lassen.  Auch  daß 
der  Stein  das  n  niemals  in  seiner  genauen  Form  (Wasserlinie)  wie  der  Rosette- 
stein, sondern  stets  abgekürzt  als  einfachen  wagerechten  Strich  gibt,  ist  zu  be- 
rücksichtigen. 


294  Kurt  Sethe, 

düng,  nur  vom  König  die  Hede,  wie  in  der  Rosettana.  Dabei 
erhält  der  König  ebenso  wie  dort  stets  den  doppelten  Ehrentitel 
ntr  fr  nh  nfr.tv  „der  erschienene  (gleich  der  Sonne  aufgegangene) 
Gott,  der  Herr  der  Güte",  der  dem  dsbg  imcpavYig  svxccQi6rog  des 
griechischen  Textes  der  Rosettana  entspricht.  Der  zweite  Be- 
standteil dieses  Titels,  das  Prädikat  nb  nfr.w  „Herr  der  Güte" 
=  sv%dQi6tog,  fehlt  nun  aber  bemerkenswerterweise  in  den  beiden 
Dekreten  von  Philae,  die  aus  den  Jahren  21  und  19  des  Königs 
stammen,  ebenso  wie  in  dem  gleich  zu  erwähnenden  Dekrete  vom 
Jahre  23  (demselben  Jahre,  das  die  Datierung  des  Nobaireh- Steines 
nennt)  und  einem  andern  Dekrete  vom  17.  Audnaios  des  Jahres 
20  (Kairo  22184).  In  diesen  4  Dekreten  aus  den  Jahren  19—23 
heißt  der  König  überall  nur  ntr  pr  „der  erschienene  Gott"  {^ihg 
iTticpccvrlg).  Es  scheint  daraus  hervorzugehen,  daß  das  Prädikat 
svxKQLötog,  das  der  König  in  griechischen  Inschriften  gelegentlich 
auch  noch  nach  seinem  Tode  erhält  ^) ,  ihm  in  ägyptischen 
Texten  in  den  späteren  Jahren  seiner  Regierung,  zum  min- 
desten vom  Jahre  19  ab,  nicht  mehr  gegeben  worden  ist^).  Wir 
werden  also  auch  aus  diesem  Grunde  nicht  glauben  können, 
daß  das  Original,  das  der  Verfertiger  unseres  Steines  bei  der 
Wiedergabe  des  Beschlusses  und  seiner  Begründung  kopierte, 
wirklich  aus  dem  Jahre  23  stammte.  Mit  andern  Worten  heißt 
das:  der  Verfertiger  unseres  Steines  wird  die  Datierung  einem 
anderen  Denkmal  entnommen  haben.  Sie  wird  bei  dem  zer- 
trümmerten Steine,  den  er  kopierte,  verloren  gewesen  sein,  wie 
so  vieles  andere  im  Verlauf  des  Textes.  Während  er  diese  anderen 
Verluste  aber  dem  oberflächlichen  Beschauer  leicht  durch  einfache 
Uebergehung  der  Lücken  verbergen  konnte,  mußte  er  hier  am 
Anfange  für  Ersatz  sorgen,  da  das  Fehlen  des  Kopfes  mit  Datum, 
Königsnamen  und  eponymen  Priestern  sofort  jedem,  der  ägyptische 
Denkmäler  zu  sehen  gewohnt  war,  hätte  auffallen  müssen. 

•  Dieses  zu  postulierende  Denkmal  vom  24.  Gorpiaios  =  24. 
Pharmuthi  des  Jahres  23  des  Ptolemaios  Epiphanes,  das  dem  Ver- 
fertiger des  Nobaireh-Steines  den  fehlenden  Kopf  seiner  Inschrift 
lieferte,  kennen  wir  nun  in  der  Tat.  Es  ist  ein  Priesterdekret 
wie  die  Rosettana  und  die  Philae-Dekrete,  das  ebenfalls  zu  Mem- 
phis  beschlossen   wurde  und   zwar   bei  ähnlicher  Gelegenheit  wie 

1)  z.B.  Strack,  Dynastie  der  Ptolemäer  Nr.  98. 

2)  Auch  in  den  Aufzählungen  der  Ptolemäer  werden  die  Götter  Epiphaneis 
auf  den  ägyptischen  Denkmälern  der  späteren  Zeit  immer  nur  „die  beiden  er- 
schienenen Götter"  ohne  einen  Zusatz,  der  dem  ei^^^^tffroi  der  griech.  Denkmäler 
entspräche,  genannt. 


Zur  Geschichte  und  Erklärung  der  Rosettana.  295 

die  Philensis  I,  nämlich  bei  der  „Begegnung  des  Mnewis"  {shn.w 
Mr-wr),  eines  neben  dem  Apis  verehrten  andern  heiligen 
Stieres.  Den  eigentlichen  Anlaß  zu  dem  Beschlüsse  aber  bot  ein 
Sieg,  den  Aristonikos,  der  Günstling  des  Königs,  soeben,  wie  es 
scheint,  an  der  syrischen  Küste  davongetragen  hatte.  Auf  einem 
Denkstein,  den  das  Museum  von  Kairo  vor  einigen  Jahren  erwarb, 
und  den  Daressy  im  Jahre  1911  veröffentlichte^),  hat  sich  uns 
dieses  Dekret  in  hieroglyphischer  Fassung  erhalten.  Der  Beschluß 
selbst  und,  von  Einzelheiten  abgesehen,  auch  seine  Begründung 
haben  mit  unserm  Texte  bezw.  mit  der  ßosettana  nichts  gemein; 
dagegen  deckt  sich  die  Begründung  zu  einem  großen  Teile  mit 
der  im  2.  Dekret  von  Philae,  das  aus  dem  19.  Jahre  des  Königs 
stammt  und  das  gleichfalls  den  Aristonikos,  hier  als  TJebermittler 
der  Nachricht  vom  Sieg  über  die  oberäg.  Rebellen,  nennt. 

Die  Datierung  dieses  Dekretes  vom  24.  Gorpiaios  des  Jahres  23 
stimmt  nicht  nur  im  Datum  selbst,  sondern  auch  in  der  Nennung 
der  eponymen  Priester  des  Ptolemäerhauses  mit  der  des  Nobaireh- 
Steines  wörtlich  über  ein  und  zwar  auch  hinsichtlich  des  Punktes, 
der  oben  erörtert  wurde,  der  Nennung  des  Königs  Ptolemaios 
Epiphanes.  Während  der  Nobaireh-Stein  im  eigentlichen  Texte 
des  Dekretes,  wie  gesagt,  stets  in  Uebereinstimmung  mit  der  Ro- 
settana vom  Jahre  9  nur  von  dem  ntr  pr  nb  nfr.w  „erschienenen 
Gott,  dem  Herrn  der  Güte"  (=  ^sbs  enirpav^s  svxdQiöros)  redete 
ohne  die  leiseste  Erwähnung  der  Königin  Kieopatra,  lesen  wir 
hier  in  Zeile  4  in  der  Aufzählung  der  vergötterten  Ptolemäer, 
denen  der  eponyme  Priester  dient,  ebenso  wie  in  dem  Kairiner 
Dekret  vom  24.  Gorpiaios  des  Jahres  23,  ntr  .wj  pr  „die  beiden 
erschienenen  Götter"  d.  i.  Qeol  imtpavels  (TJrk.  11  171,4).  Und 
das  Gleiche  steht  versehentlich  in  Zeile  2  hinter  dem  Namen  des 
Königs  (Urk.  II  170, 8)  statt  des  einfachen  singularischen  ntr  pr 
,der  erschienene  Gott,  d.  i.  d-ebg  ennpav^s  (ohne  den  Zusatz  rü> 
nfr.w  „Herr  der  Güte*  =  £v;fa9töTog),  wie  das  Kairiner  Dekret 
vom  Jahre  23  hier  richtig  hat. 

An  beiden  Stellen  hatte  dagegen  die  Rosettana,  nach  Aus- 
weis des  demotischen  und  griechischen  Textes,  dieselbe  Bezeichnung 
für  den  damals  noch  unverheirateten  König  allein,  die  sie  auch 
im  eigentlichen  Texte  des  Dekretes  überall,  ebenso  wie  der  No- 
baireh-Stein sonst,  verwendet:  ntr  pr  nb  nfr.w  „der  erschienene 
Gott,  der  Herr  der  Güte"   =  ^sog  inig)avrjg  sviägiCtog. 

1)  Reo.  de  trav.  33, 1  ff.  —  Diese  Veröffentlichung  ist  unzulänglich  und  ge- 
stattet ohne  Nachprüfung  des  Originads  noch  keine  Verwendung  für  die  Sammlung 
der  Urkunden  des  äg.  Altertums. 

Ksl.  Oes.  d.  Wiss.  Nachrichten.  Phil.-hist  Klasse.  1916.  Heft  2.  20 


296  Kurt  Sethe, 

Daß  der  Verfertiger  des  Nobaireh-Denksteins  die  Datierung 
von  einem  andern  Denkmal  entlehnt  hat,  als  den  übrigen  Text, 
scheint  sich  denn  auch  beim  Betrachten  des  Steines  selbst  noch  zu 
verraten  (s.  die  Tafel  am  Ende).  Die  Zeilen  1 — 7,  die  die  Datierung 
und  den  Beginn  des  Dekretes  enthalten,  zeigen  einen  andern 
Schriftcharakter,  als  die  übrige  Inschrift.  Die  Zeichen  sind  auch 
größer,  tiefer  eingegraben  und  besser  ausgeführt.  Die  Zeilen  sind 
durch  breitere  und  tiefere  Linien  getrennt.  In  Z.  8  ist  die  Schrift 
dagegen  schon  ebenso  leicht  und  flüchtig  eingeritzt,  wie  im  ganzen 
Rest  der  Inschrift.  Hier  heißt  der  König  denn  auch  gleich  anders 
als  vorher,  nämlich  wie  in  dem  übrigen  Texte  und  in  der  ßosettana 
„der  erschienene  Gott,  der  Herr  der  Güte". 

Mit  dem  Anfang  der  Inschrift  zusammen  muß  auch  die  bild- 
liche Darstellung  entlehnt  sein,  die  der  Stein  von  Nobaireh  in  dem 
oberen  Halbrund  unmittelbar  über  der  ersten  Zeile  trägt.  Denn 
sie  zeigt  den  König,  der  (von  rechts  kommend)  vor  den  Göttern 
des  Ortes  (Sw,  der  ihm  das  Siegesschwert  reicht,  und  seine  löwen- 
köpfige  Schwester  Tfn.t)  und  seinen  königlichen  Ahnen  (3  Paare, 
von  links  kommend)  einen  Feind  ersticht,  nicht  allein,  sondern  in 
Begleitung  seiner  Gemahlin. 

Wie  sich  uns  der  Stein  von  Nobaireh  nach  diesen  Ermittlungen 
nun  darstellt,  ist  er  nicht  nur  ein  merkwürdiges  Glied  in  der  Kette 
seltsamer  Schicksale,  aus  denen  die  Geschichte  der  Rosettana  be- 
steht, sondern  bildet  auch  für  sich  eine  große  Merkwürdigkeit. 
Versuche  zur  Herstellung  zerstörter  Texte  aus  Bruchstücken 
werden  im  Altertum  gewiß  oft  vorgenommen  worden  sein,  reden 
doch  die  Texte  so  oft  von  der  Wiederherstellung  des  „zerstört 
Gefundenen"  ^),  aber  wir  kennen  bis  jetzt  kein  zweites  Beispiel, 
wo  wir  das  so  evident  erweisen  und  zugleich  dem  Verfasser  des 
hergestellten  Textes  so  deutlich  in  die  Karten  sehen  können.  In 
seiner  Art  steht  der  Stein  von  Nobaireh  bis  jetzt  in  der  ägypti- 
schen Altertumskunde  durchaus  vereinzelt  da. 

Haben  wir  nach  alledem  auch  in  dem  Stein  von  Nobaireh 
noch  immer  nicht  eines  der  Schwesterexemplare  der  Rosettana. 
sondern  nur  eine  stark  verstünmielte  und  vielfach  arg  verderbte 
Kopie  eines  solchen  vor  uns,  so  ist  der  Nutzen,  der  daraus  für 
die  Herstellung  des  hieroglyphischen  Textes  der  Rosettana  gezogen 
werden  kann,  doch  nicht  unerheblich,  eben  wegen  der  nahen  Ver- 
wandtschaft beider  Texte.    Die  Größe  der  Lücken,   die  in  meiner 

1)  Es  gibt  in  der  alten  religiösen  Literatur  der  Aegypter  nicht  wenige  Fälle 
von  Textverwirrung,  die  in  dieser  Weise  erklärt  werden  könnten,  z.  B.  Pyr.  Spruch 
263  ff.  (vergl.  Spruch  473.  481.  609). 


Zur  Geschichte  und  Erklärung  der  Rosettana.  297 

Ausgabe  der  Rosettana  noch  unausgefüllt  bleiben  maßten,  und  die 
Zahl  der  Verderbnisse,  die  sich  vorläufig  noch  nicht  heilen  ließen, 
ist  nach  Hinzuziehung  der  Philae-Dekrete,  die  manche  Parallele 
bieten,  nicht  mehr  aUzugroß.  Immerhin  dürfen  wir  der  Auffindung 
eines  wirklichen  Duplikates  der  Rosettana  noch  mit  gespannter 
Erwartung  entgegensehen. 

5.   Die  Bruchstücke  von  Elephantine. 

Dürfte  man  den  Angaben  von  Clermont-Ganneau  und 
C 1  ^  d  a  t  trauen,  die  bei  ihrer  vergeblichen  Suche  nach  aramäischen 
Papyri  auf  der  Insel  Elephantine  im  Jahre  1907  Bruchstücke  des 
hieroglyphischen  Textes  der  Rosettana  gefunden  haben  wollen, 
ihren  Fund  aber  bisher  nicht  veröffentlicht  haben,  so  könnte  viel- 
leicht wirklich  schon  heute  ein  weiterer  Schritt  in  der  Herstellung 
des  Textes  möglich  sein.  Man  darf  der  Versicherung  der  beiden 
französischen  Gelehrten  aber  mit  Skepsis  gegenübertreten.  Denn 
die  Insel  Elephantine  stand  zur  Zeit,  als  das  Dekret  der  Rosettana 
erlassen  wurde,  im  Jahre  9  des  Ptolemaios  Epiphanes,  nicht  unter 
der  Botmäßigkeit  des  Königs,  sondern  gehörte  entweder  zum 
Reiche  der  oberägyptischen  Gegenkönige,  die  in  Theben  saßen, 
oder  zum  Reiche  der  untemubischen  Könige  Ergamenes  und  seines 
Nachfolgers,  die  sich  auf  der  Insel  Philae  zwischen  Ptolemaios  IV. 
Philopator  und  Ptolemaios  V.  Epiphanes  als  Bauherren  einschieben. 
Wir  wissen  aus  dem  Dekret,  das  sich  uns  auf  der  Insel  Philae 
neben  der  Republikation  der  Rosettana  (Philensis  I)  aufgezeichnet 
erhalten  hat  (Philensis  II),  daß  die  Macht  der  Eingeborenenkönige 
in  Theben  erst  im  Jahre  19  des  Königs  Ptolemaios  Epiphanes  ge- 
brochen und  Oberägypten  erst  damals  wieder  der  makedonischen 
Herrschaft  unterworfen  worden  ist^).  Dasselbe  ging  auch  aus  den 
Angaben  der  Bauinschrift  von  Edfu  und  den  Datierungen  der 
thebanischen  Rechtsarkunden  aus  dieser  Zeit  hervor"^). 

Demnach  ist  es  eigentlich  so  gut  wie  ausgeschlossen,  daß  das 
Dekret  der  Rosettana  auf  der  Insel  Elephantine  durch  ein  Exemplar 
vertreten  war.  Was  die  französischen  Gelehrten  dort  gefunden 
haben,  wird  vielmehr  voraussichtlich  zu  der  Republikation  vom 
Jahre  21  (Philensis  I)  oder  einem  der  andern  späteren  Dekrete 
aus  der  Zeit  des  Königs,  die  sich  ja  vielfach  in  einzelnen  Sätzen 
nnd  Wendungen  mit  der  Rosettana  berühren,  gehört  haben. 


1)  ürk.  II  214  flf.    üeber  die  historische  Bedeutung  dieses  2.  Dekretes  von 
Philae  gedenke  ich  an  anderer  Stelle  zu  handeln. 

2)  Brugsch  Aeg.  Ztschr.  16,  43fF. 

20* 


298  Kurt  Sethe, 

So  steht  denn  der  Stein  von  Rosette  wahrscheinlich  noch 
immer  als  einziges  von  den  vielen  Exemplaren,  die  mit  ihm  gleich- 
zeitig aufgestellt  werden  sollten,  da*),  durch  das  Schicksal  zu 
großen  Zwecken  für  die  Nachwelt  aufgespart. 


II.   Zur  Erklärung  und  Herstellung  des  Textes 
mit  besonderer  Berücksichtigung  des  Griechischen. 

Letronne  ist  seinerzeit  immer  wieder  auf  das  Wärmste 
dafür  eingetreten,  daß  der  griechische  Text  der  ßosettana  der 
G-rundtext  des  Dekretes  sei,  aus  dem  die  ägyptischen  Texte  erst 
übersetzt  seien.  Die  Frage  ist  nicht  so  einfach  zu  beantworten. 
Das  meiste  von  dem,  was  Letronne  an  Beweisen  für  seine  Auf- 
fassung anführte,  läßt  sich  auch  umkehren  und  auf  die  Priorität 
des  ägyptischen  Textes  deuten. 

Unbestreitbar  erscheint  es  allerdings,  daß  der  äg.  Text  die 
herkömmlichen  Einleitungsformeln  der  griechischen  Dekrete,  die 
der  griech.  Text  anwendet,  nachahmt.  Ihre  äg.  Aequivalente 
sehen  in  der  Tat  unägyptisch  genug  aus.  Das  gilt  vor  allem  für 
das  hierogl.  hyC  s^n.w  nfr,  demot.  irm  pi  s^nj  nfr  „mit  dem  guten 
Ereignis",  das  das  griech.  aya^ij  xv%ri  wörtlich  übersetzt  (Urk. 
11188,1). 

Im  Uebrigen  enthält  der  griech.  Text  aber  tatsächlich  eine 
ganze  Reihe  von  Punkten  (Zweideutigkeiten,  Ungenauigkeiten, 
Seltsamkeiten  des  Ausdrucks),  die  schon  Letronne  und  den 
anderen  Hellenisten,  die  sich  vor  ihm  mit  der  Inschrift  beschäftigt 
hatten,  viel  Kopfzerbrechen  gemacht  haben  und  sie  zu  den  scharf- 
sinnigsten Auslegungen  veranlaßt  haben.  Zieht  man  den  ägyptischen 
Text  heran,  so  zeigt  es  sich  nicht  selten,  daß  diese  Interpretationen 
irrig  waren,  und  daß  sich  die  Anstößigkeiten,  die  der  griech.  Text 
zu  bieten  schien,  leicht  erklären  lassen,  wenn  man  annimmt,  daß 
der  Grieche  den  äg.  Text  übersetzt  hat. 


1)  Der  Stein  von  Menuf,  in  dem  man  in  den  ersten  Zeiten  nach  der  Auf- 
tindung  des  Rosette-Steines  die  Ueberreste  eines  der  Duplikate  der  Kosettana  zu 
besitzen  glaubte,  gehörte  nach  dem,  was  Du  Bois-Aym(5  und  Jollois  in  der 
Description  de  TEgypte  (Etat  moderne,  tome  II,  S.  99)  darüber  mitgeteilt  haben, 
zu  einem  andern  Ptolemäerdekrete  verwandten  Inhalts.  Dasselbe  gilt  von  dem 
Stein,  den  man  gleichfalls  während  der  Napoleonischen  Expedition  in  einer 
Moschee  zu  Kairo  verbaut  vorgefunden  hatte  (jetzt  im  Louvre  C.  122),  und  in 
dem  man  damals  ebenfalls  ein  Duplikat  der  Rosettana  vermutete.  Er  gehörte 
einem  Exemplar  des  Dekrets  von  Kanopus  an. 


Zur  Geschichte  und  Erklärung  der  Rosettana.  299 

Macht  man  sich  einmal  die  Umstände  klar,  unter  denen  ein 
solcher  Beschluß  der  äg.  Priester,  wie  ihn  unser  Dekret  enthält, 
entstanden  sein  wird,  so  ist  es  a  priori  doch  wohl  das  Wahrschein- 
lichste, daß  die  Priester,  die  des  Griechischen  nur  z.  T.  mächtig 
gewesen  sein  werden,  ihn  zunächst  in  der  lebenden  äg.  Sprache, 
also  dem  Demotischen,  abgefaßt  haben  werden.  Dieser  authentische, 
in  der  Versammlung  festgesetzte  Beschluß  wird  dann  der  griechi- 
schen Behörde  zur  Genehmigung  unterbreitet  worden  sein,  wozu 
voraussichtlich  eine  griechische  Uebersetzung  eingereicht  werden 
mußte.  Diese  wird  dann  unter  Umständen  manche  Abänderungen 
erfahren  haben  und  so  konnte  es  sehr  wohl  dahin  kommen,  daß 
die  so  abgeänderten  Stücke  dann  ihrerseits  wieder  in  das  De- 
motische übersetzt  werden  mußten.  Der  hieroglyphische  Text 
wird  dann  nach  endgültiger  Feststellung  des  "Wortlautes  von  be- 
sonders gelehrten  Priestern  ins  Altägyptische  bezw.  die  Hiero- 
glyphen übertragen  worden  sein.  Diese  Uebertragung  ist  vielfach 
ziemlich  frei. 

Für  die  Priorität  des  Demotischen  vor  dem  Griechischen,  die 
jetzt  auch  Bouche-Leclercq  annimmt^),  sprechen  z.B.  die  Be- 
schreibungen des  Kapellenschreins  (Urk,  11  191, 9  ff.  =  griech. 
43—46)  und  der  Statuengrnppe  (ib.  189,  7ff.  =  griech.  38-40). 
Sie  sind  im  Demotischen  viel  ausführlicher  als  im  Griechischen 
und  wirklich  zweckentsprechend;  im  Griechischen  fehlen  hier  so 
viele  Details,  daß  eine  sinngemäße  Ausführung  des  Beschlusses 
nach  der  griechischen  Anweisung  schlechterdings  nicht  möglich 
gewesen  wäre^). 

Die  Priorität  des  demotischen  Textes  vor  dem  hieroglyphischen 
verrät  sich,  abgesehen  von  der  Wahl  mancher  Ausdrücke,  wie 
rsj.t  „Stadt^  Urk.  11182,3,  z.B.  deutUch  an  der  SteUe  Urk.  11 
189, 8 — 9 ,  wo  im  Hieroglyphischen  eine  altäg.  Benennung  über- 
flüssigerweise in  die  lebende  Sprache  übersetzt  ist,  wie  es  im 
demotischen  Texte  sinngemäß  geschehen  war  (s.  u.  Nr.  19). 

1.  Urk.  n  169,  9  (griech.  1).  Man  hat  dieses  %aQaXaß6vxos 
xriv   ßaCiXsCav   nagä   tov  xccrgog   ebenso    wie    die    Erwähnung   der 

1)  Eist,  des  Lagides  I  368. 

2)  Dieser  keineswegs  unwesentlichen  Verkürzung  des  Textes  im  griech.  Teile 
steht  die  versehentliche  Auslassung  des  „geliebt  von  Ptah"  hinter  „Ptolemaios 
der  ewig  Lebende"  im  demot.  Texte  ürk.  11  188,3  gegenüber,  die  Letronne 
seltsamerweise  als  Beweis  für  die  Priorität  des  griech.  Textes  nahm,  obwohl  es 
sich  doch  gerade  hier  um  etwas  spezifisch  Aegyptisches,  den  offiziellen  altägyptisch 
abgefaßten  Namen  des  Königs  handelt,  den  der  demot.  und  der  griech.  Text 
übersetzen. 


300  Kurt  Sethe, 

^Uebernahme  der  Königsherrschaft  von  seinem  Vater"  Urk.  II 
172,  7  (griech.  8).  194,  3  (griech.  46/7)  auf  eine  angebliche  Berufung 
des  Königs  zur  Mitregentschaft  an  der  Seite  seines  Vaters  beziehen 
wollen.  Da  ist  es  bedeutsam  festzustellen,  daß  an  unserer  Stelle 
die  äg.  Fassung  des  Prädikates,  das  zum  offiziellen  ag.  Namens- 
protokoll des  Königs  (seinem  „Horusnamen")  gehört,  lautet:  „der 
als  König  erschienen  ist  an  der  Stelle  seines  Vaters".  Es  enthält 
also  nicht  nur  nichts  von  der  Uebergabe  der  Königswürde  durch 
den  Vater,  sondern  bezeichnet  den  König  im  Gegenteil  geradezu 
als  Nachfolger  seines  Vaters,  also  ganz  im  Sinne  der  Auffassung 
Letronne's,  die  Bouch^-Leclercq  bekämpft  hat.  Das  was 
dieser  und  andere  aus  unserer  Stelle  herauslesen  wollten,  wird  in 
dem  Namensprotokoll  anderer  Könige  des  Ptolemäerhauses  tat- 
sächlich in  ganz  anderer  Weise  ausgedrückt,  nämlich  durch  Worte 
wie  „ihn  hat  sein  Vater  gekrönt"  (Ptol.  Philometor,  Lepsius, 
Königsbuch  Nr.  699),  „ihn  hat  seine  Mutter  gekrönt"  (Ptol.  Ale- 
xander I,  ib.  Nr.  714). 

2.  Urk.  II 170,  3.  6.  7  (griech.  2— 3).  Let rönne  wollte  aus 
der  dreifachen  Nennung  des  Sonnengottes  in  den  Titeln  und  Prä- 
dikaten ßciöiXEcog  xad-ccTtSQ  6  "HXlos,  g)  6  "HXtog  sdcoxsv  rijv  vlxtjv 
und  vlov  tov  llXtov,  die  der  König  hier  führt,  schließen,  daß  es 
zu  Memphis  einen  Tempel  des  Helios  (Phre)  gegeben  habe,  wie  es 
dort  auch  einen  Tempel  des  Ptah  gab,  mit  dem  der  König  in  den 
Prädikaten  xvqiov  XQiaxovraetriQCdcov  xcc&ccjcsq  6  ""HcpaLötog  6  ^syag 
(Urk.  II  170,  2)  und  bv  6  "H(pai6rog  idoxt^aesv  (ib.  5)  in  Beziehung 
gesetzt  erscheint.  Der  Schluß,  den  auch  Dittenberger  noch 
wiederholt,  ist  aber  falsch,  was  für  Nichtägyptologen  zu  bemerken 
wohl  nicht  ganz  überflüssig  ist.  Es  handelt  sich  hier  um  Bestand- 
teile der  Königstitulatur  und  des  Königsnamenprotokolls  ganz 
allgemeiner  Art,  die  durchaus  nichts  Memphitisches  an  sich  haben. 

3.  Urk.  II  170, 4  (griech.  3).  Die  Worte  ^syag  ßaöLkevg  räv 
TS  ava  xttl  t&v  xccto  jjojpöv  werden  seit  Letronne  wegen  des 
Nominativs  auf  den  Sonnengott  bezogen,  mit  dem  der  König  vor- 
her verglichen  ist  {xa^KTCSQ  6  "HXiog),  und  demgemäß  wird  das 
r&v  re  avco  xal  r&v  xcctco  xfOQäv  auf  die  oberen  und  unteren  Teile 
der  Welt  gedeutet.  Die  äg.  Texte  lassen  aber  keinen  Zweifel,  daß 
dieser  Nominativ  ein  Irrtum  des  griechischen  Uebersetzers  ist  und 
daß  die  Worte  auf  den  König  zu  beziehen  sind,  also  im  Grenitiv 
stehen  sollten.  Sie  entsprechen  dem  alten  hieroglyphischen  Königs- 
titel n-Sw.t-bj-t  „König  von  Ober-  und  König  von  Untecägypten", 
der  hier  wie  üblich  dem  ersten  der  beiden  in  den  ovalen  Ring  ge- 
schlossenen  offiziellen  Namen   des  Königs  (dem  sogenannten  Re'- 


Zur  Geschichte  and  Erklärung  der  Rosettana.  301 

Xamen)  vorangeht:  „der  Erbe  der  beiden  vaterliebenden  Götter, 
von  Ptah  erwählt,  User-keJ-re',  das  lebende  Bild  des  Aman"  (im 
Griechischen  und  Demotischen  übersetzt  resp.  paraphrasiert).  Dies 
wie  die  demotische  Wiedergabe  Pr-i  n  m  ts .  w  ntj  hrj  ni  ts .  ic  ntj 
hrj  „der  Pharao  der  oberen  Gaue  (t^ouj)  und  der  unteren  Gaue" 
(vgl.  Phü.  I  d.  1  =  Urk.  II 199, 13)  schließt  auch  die  Deutung  auf 
„die  oberen  und  unteren  Teüe  der  Welt"  aus. 

4.  Urk.  II  172, 2—9  (griech.  6—8).  Die  nach  dem  üblichen 
Schema  gebaute  griech.  Einleitungsformel  des  Dekretes  ^r/'qptöfia* 
ol  &QXLEQsls  usw.  öwax^svteg  iv  xä  iv  Ms[i<pei  Ugä  rfi  rnuQ(f  tavrij 

elnav  (vgl.  im  Dekret  von  Kanopus  tlf^rfcpiöficc  •  et  apjrtfpf r? 6vv~ 

iÖQ£v6uvT£s  rccuTT]  T7J  iili'^Qtf  iv  TO  SV  KavGiTic)  IsQä  ....  eiciuv)  hat 
bei  aller  Anlehnung  an  das  griech.  Vorbild  doch  im  Aeg.  eine  ge- 
wisse Umänderung  erfahren  müssen,  um  nicht  zu  unägyptisch 
auszusehen. 

Zunächst  wurde  das  dem  ra-vtr]  trj  rjuEQo:  entsprechende  hnc  pn 
„an  diesem  Tage"  (auch  im  Demot.  altertümelnd  beibehalten  in 
der  Schreibung  hrw  Ipn  „an  gedachtem  Tage")  unmittelbar  hinter 
das  Datum  gestellt,  wie  es  in  den  Inschriften  der  Spätzeit  üblich 
ist'),  vgl.  „Jahr  7,  Monat  2  der  Winterjahreszeit,  Tag  6",  hrw  pn 
smi-tiu  Ws-ir  N.N.  „an  diesem  Tage  Bestattung  des  Osiris  N.N.", 
Sharp e,  Eg.  Inscr.  13.  48.  Young,  Hierogl.  48(ptolem.);  „Jahr  1, 
Monat  3  der  Sommerjahreszeit,  Tag  29"  hrw  pn  spr  si.t  n-sw.t 
'n^-n-s-Nfr-ib-r'  r  Wis.t  „an  diesem  Tage  Gelangen  der  Königs- 
tochter 'Anch-nes-Nefer-'eb-re'  nach  Theben"  Ann.  du  serv.  5,  85 
(sait.). 

Hierauf  hatte  der  Ausdruck  für  das  Geschehnis  des  betr. 
Tages  (im  Aeg.  meist  ein  Infinitiv)  zu  folgen.  Im  vorliegenden 
Ealle  mußte  dies  das  dem  griech.  tl;r}(fi6^a  entsprechende  Wort 
für  „Beschluß"  sein:  hierogl.  shi.iu  (eig.  „Gedenken"),  demot.  ivt, 
vgl.  Urk.  II  197, 8  (griech.  53)  und  ib.  207, 5.  210, 5  (die  oben 
S.  282  Anm.  3  zitierten  Stellen  der  Phil.  I,  die  auf  unser  Dekret 
Bezug  nehmen). 

Nunmehr  hatte  das  logische  Subjekt,  die  beschließenden  Priester 
(ot  dgxiegslg  etc.),  zu  folgen.  In  der  hierogl.  Fassung  ist  es  hier 
wie  in  allen  anderen  Priesterdekreten  dieser  Zeit  durch  ein  völlig 
sinnloses  itv  angeknüpft,  das  wie  das  zur  Partikel  gewordene 
Hülfsverbum  Iw  „es  ist",    „es  war"  (kopt.  e-,  resp.  epe-)   aussieht. 


1)  In  älterer  Zeit  läßt  man  stattdessen  dem  Datnm  ein  appositionelles  hnc 
«...  „Tag  des  . . ."  mit  folgendem  Infinitiv  folgen,  also  so :  „Jahr  7  usw.,  Tag 
des  Bestattens  den  N.N.",  vgl.  mein  Verbum  II  §  586.  587. 


302  Kurt  Sethe, 

Es  findet  sich  vereinzelt  anscheinend  auch  im  demotischen  Text 
in  ungewöhnlicher,  vielleicht  altertümlicher,  Schreibung  wieder 
(Kanopus-Tanis),  falls  die  betr.  Gruppe  nicht  vielmehr  als  histo- 
rische Schreibung  des  in  Anm.  1  genannten  in  zu  erklären  ist. 
Meist  aber  folgt  das  logische  Subjekt  dem  Worte  „Beschluß"  im 
Demotischen  unvermittelt  (Rosettana,  Kanopus-Kom  el  Hisn),  wie 
in  der  oben  zitierten  Stelle  Ann.  du  serv.  5,  85,  also  anscheinend 
als  Grenitiv^).  Stattdessen  findet  es  sich  aber  in  Phil.  I  durch 
l .  Ir  angeknüpft,  d.  h.  die  historische  neuäg.  Schreibung  der  ßelativ- 
form  des  Verbums  tr  „tun".  Diese  Form  wäre  nach  neuäg.  Gre- 
brauch  hier  auch  durchaus  am  Platze,  vgl.  (Datum)  hrw  n  s^k  l.ir 
rmt  Hij  pij-j  Iff  r  pi  ^r  „der  Tag  des  Eintretenlassens,  das  Jemand 
machte,  IJaj  meinen  Vater  in  die  Nekropole"  d.  i.  „an  welchem 
Tage  man  den  5.  in  die  Nekropole  eintreten  ließ",  Inscr.  hierat. 
char.  14  (Sethe,  Verbum  II  §  587). 

Das  sinnlose  iw  der  hierogl.  Fassung  wird  entweder  aus  diesem 
neuäg.  i.lr  „welches  N.N.  tat",  oder  aus  dem  in  Anm.  1  erwähnten 
altäg.  in,  das  auch  in  neuäg.  Aktenstücken  in  Fällen  wie  dem 
unsrigen  damit  wechselt,  zu  erklären  sein.  Das  erstere  ist  deshalb 
nicht  ausgeschlossen,  weil  dieselbe  Schreibung  l .  ir  im  Demot.  nicht 
selten  auch  das  zu  epe-  erweiterte  alte  liv  bezeichnet^).  In  beiden 
Fällen  würde  es  sich  um  die  falsch  etymologisierende  Wiedergabe 
eines  der  lebenden  Sprache  verloren  gegangenen  Ausdrucks  handeln, 
der  sich  im  Aktenstil  in  den  Datierungen  als  fossiles  XJeberbleibsel 
erhalten  hatte. 

Der  dem  Partizipium  conjunctum  6vva%%-ivt8g  (resp.  evvsÖQEv- 
öavtsg)  entsprechende  äg.  Ausdruck  hat  im  Demot.  entweder  die 
Form  eines  Relativsatzes  i.lr  twtw  „die  sich  versammelt  hatten" 
(Ros.,  Kanopus-Kom  el  Hisn,  in  anderer  Schreibung  ir  tw  Phil.  I) '), 


1)  In  Wahrheit  wird  dieser  scheinbare  Genitiv  mit  seinem  beim  Lesen  za 
ergänzenden  Exponenten  n  auf  den  alten  Ausdruck  für  das  logische  Subjekt 
mittels  der  Partikel  In  (schon  im  Neuäg.  wie  der  Genitivexponent  und  die  Prä- 
position m  nur  noch  en-  gesprochen)  zurückzuführen  sein,  vgl.  das  Verbum  11 586 
zitierte  Beispiel  Abbott  4,11/2. 

2)  Für  diese  Erklärung  des  Iw  scheint  recht  stark  eine  Stelle  der  Phil.  II 
(Urk.  II  228, 6 — 8)  zu  sprechen,  wo  gleichfalls  auf  ein  Datum  mit  dem  appositio- 
nellen  Zusatz  hrw  n  smjw-s  „der  Tag  des  es  Meldens"  das  zu  dem  genitivischen 
Infinitiv  gehörige  logische  Subjekt  („der  Reiteroberst  Aristonikos")  im  Demotischen 
durch  das  relativische  ^ .  ^r  „welches  tat",  im  Hieroglyphischen  durch  ein  sinnloses 
iw  angeknüpft  folgt  (demot.  „der  Tag  des  Meldens,  welches  Aristonikos  tat,  vor  dem 
Könige",  d.  i.  „der  Tag,  an  dem  Aristonikos  meldete").  Auch  ib.  228, 10  stand 
wahrscheinlich  [hrw]  rdj.t  ([w  imnws]  „der  Tag  des  Gebens  durch  Amnos". 

8)  Phil.  II  ist  hier  zerstört. 


Zar  Geschichte  and  Erklämng  der  Rosettana.  303 

oder  eines  Zastandssatzes  iw-w  twtw-iv  „indem  sie  sich  versammelten* 
(Kanopus-Tanis).  Im  Hierogl.  steht  eine  Form  "b-SYi  (Ros.,  Phil. 
I.  II,  Dekret  vom  Jahre  23)  oder  twt-sn  (Kanopas  —  beide  Exem- 
plare), die  beides  sein  kann. 

Das  im  griech.  Texte  mit  dem  Subjekt  „die  Priester"  zu  einem 
Hauptsatze  verbundene  „sie  sagten"  {el:iav)  mußte  im  Aeg.  natur- 
gemäß zu  einer  Fortsetzung  des  Satzes  „es  wurde  durch  die 
Priester  beschlossen"  werden,  der  in  den  Worten  „Beschluß  seitens 
der  Priester"  usw.  latent  enthalten  ist.  Diese  Fortsetzung  erfolgt 
in  den  demot.  Texten  der  Ptolemäerdekrete  in  der  Regel  wieder 
durch  einen  Relativsatz,  der  sich  auf  „die  Priester"  bezieht,  i.ir 
dd  „die  sagten*.  Nur  Phil.  II  ^)  hat  stattdessen  einen  Zustands- 
satz  Iw-w  dd  „indem  sie  sagten".  Die  hierogl.  Texte  übernehmen 
z.T.  das  demot.  i.ir  dd  in  der  ihrer  Orthographie  angemesseneren 
Schreibung  ir  dd  (Kanopus  —  beide  Exemplare)  oder  sie  setzen 
dafür  is-sw  ki-sn  „und  sie  sagten"  (Ros.,  Phil.  I,  Dekret  vom 
Jahre  23)  oder  nur  ki-sn  „sie  sagten"  (Phil.  11). 

Der  äg.  Wortlaut  ist  also  etwa  so  wiederzugeben:  „an  diesem 

Tage   Beschluß    seitens    der    Priester ,    die    sich    versammelt 

hatten  (oder:  indem  sie  sich  versammelten)  ....  und  sagten". 

5.  Urk.  II 172, 7/8  (griech.  7—8).  Die  Fassung  des  griech. 
Textes  nQog  rrjv  TcavrlyvQiv  tfjg  naQaXi]tlfsas  tfjg  ßaßilsvag  Tr\g  Ilto- 
XsfiaCov  aicovoßiov  '^yanrjusvov  v%b  tov  O&ä  ^eov  knLtpavovg  «v;ga- 
giötov,  tJv  xagskccßev  Tcagä  tov  aargog  ccvrov  ist  ganz  augenschein- 
lich nur  eine  unbeholfene  Uebersetzung  des  demot.  Textes,  der 
wörtlich  so  lautet:  „an  dem  Feste  des  Uebernehmens  das  Königs- 
tum,  welches  (seil,  das  Uebemehmen)  tat  der  König  Ptolemaios, 
der  ewig  Lebende,  der  von  Ptah  geliebte,  der  er- 
schienene Gott,  dessen  Güte  angenehm  ist,  aus  der  Hand 
seines  Vaters". 

Der  genitivische  Infinitiv  „des  Uebernehmens"  (r^g  xaQaXrjtl^sag), 
dem  sein  logisches  Subjekt  in  einem  Relativsatz  „welches  der  und 
der  tat"  (ijv  nuQiXaßav)  angeknüpft  wird,  ist  echt  ägyptisch  (s.  ob. 
S.  302).  Im  Neuäg.  und  Demot.  kann  man  sich  in  solchen  FäUen 
garnicht  anders  ausdrücken.  Der  oben  wörtlich  mit  ,,aus  der 
Hand"  übersetzte  Ausdruck  n-d.t  ist  in  der  Zeit  unseres  Textes 
längst  zu  einer  einfachen  Präposition  „von"  geworden,  die  dem 
nagd  genau  entspricht.  Er  darf  nicht  so  wörtlich  genommen 
werden,  daß  darin  etwa  eine  Bestätigung  dafür  gesehen  werden 
könnte,  daß  Ptolemaios  Epiphanes  noch  zu  Lebzeiten  seines  Vaters 


1)  Phil.  I  ist  hier  zerstört. 


304  Kurt  Sethe, 

von  diesem  zum  Mitregenten  berufen  worden  sei,  wie  diesRevil- 
lout  (ßev.  egyptol.  3,1  ff.)  und  Bouche-Leclercq  (Hist.  des 
Lagides  I  322.  335,  Anm.  2)  angenommen  haben. 

6.  Urk.  ir  172,  9  (griecb.  8).  Man  hat  sieh  über  die  Bezeich- 
nung rc5  Bv  MinxpBi  tsgä  ohne  Nennung  des  Ortsgottes  Ptah,  die 
an  der  Parallelstelle  Urk.  II 192, 6  (griech.  44)  wenigstens  im 
hieroglyph.  Text  steht,  gewundert.  Namentlich  Letronne  hat 
daran  Anstoß  genommen,  weil  er  aus  den  Angaben  der  Serapeum- 
papyri  aus  der  Zeit  des  Philometor  irrig  folgerte,  daß  als  der 
Tempel  von  Memphis  par  excellence  zu  damaliger  Zeit  das  Se- 
rapeum  gegolten  habe,  das  tatsächlich  fern  von  der  Stadt  Memphis 
in  der  Wüste  gelegen  war  (korrekter  jtQoq  Msiitpsi). 

Die  Nennung  des  Tempels  nur  mit  dem  Ort,  wie  sie  an  unserer 
Stelle  und  an  der  genannten  Parallelstelle  Urk.  II  192,  6  (griech. 
44)  im  demot.  und  griech.  Texte  steht  (h.t  ntr  n  Mn-nfr  „der 
Tempel  von  Memphis",  griech.  tö  ev  Mdiicpsi,  lsqöv),  ist  nun  aber 
typisch  ägyptisch.  Die  demotischen  Texte  verfahren  nie  anders, 
als  es  unser  demot.  Text  hier  an  beiden  Stellen  tut,  vgl.  h.t-ntr 
n  Dhi  „der  Tempel  von  Edfu"  (Pap.  Eleph.  herausg.  v.  Spiegel- 
berg), h.t-ntr  n  Tij-tv-dij  „der  Tempel  von  Tewdoj"  (Pap.  Ryl.  9), 
h.t-ntr  n  Ntv.t  ^der  Tempel  von  Theben"  (Pap.  de  Ricci  10,4). 

Der  hierogl.  Text  wendet  an  unserer  Stelle  für  Memphis  be- 
zeichnenderweise den  Ausdrack  m^i.t  ti.wj  „die  Wage  der  beiden 
Länder"  an.  Diesen  Namen  führte  der  Ort  mit  Bezug  auf  die 
Rolle,  die  er  einst  bei  der  „Vereinigung  der  beiden  Länder''  ge- 
spielt hatte  (vgl.  das  „Denkmal  memphit.  Theologie"  Z.  16),  jenem 
Ereignis,  auf  dem  der  äg.  Staat  der  historischen  Zeit  beruhte  und 
das  jeder  König  bei  seiner  Thronbesteigung  und  Krönung  sym- 
bolisch wiederholte.  Wie  wir  aus  unserem  Texte  selbst  und  an- 
deren Zeugnissen  der  griechisch-römischen  Zeit  lernen,  geschah  das 
auch  damals  noch  immer  womöglich  eben  im  Tempel  von  Memphis  ^). 

7.  Urk.  11174,5  (griech.  11).  Seit  Villoison  gilt  es  als 
ausgemacht,  daß  in  dem  Ausdrucke  tä  hgä  xaraönjöacfd-ai  mit  dem 
Worte  rä  legä  nicht  wie  sonst  die  Tempel,  sondern  der  Kult  ge- 
meint sein  müsse,  weil  von  den  Tempeln  erst  nachher  die  Rede 
sei  und  xa&ierdi/at  bei  ihnen  nicht  am  Platze  sein  würde.  Die 
äg.  Texte  widerlegen  die  scharfsinnigen  Schlußfolgerungen  der 
Hellenisten  aber,  wenn  man  nicht  annehmen  will,  daß  die  Aegypter 
das  griech.  isgd  falsch  übersetzt  haben.    Das  Hierogl.  hat:  r  sdd 

1)  Vgl.  meine  Unters.  III  135.  Letronne  zu  unserer  Stelle  (Oeuvres 
cboisies  II  289). 


Zur  Gfschichte  nod  Erklärang  der  Rosettana.  305 

Ikbh.icj  „nm  die  beiden  M>h  dauernd  zu  machen''  mit  dem  auf  den 
Dualismus  des  ägyptischen  Landes  Bezug  nehmenden  Ausdruck 
kbh.tcj^),  der  in  dieser  Zeit  (ebenso  wie  Itr.tj  „die  beiden  Tempel- 
paläste") die  Gesamtheit  der  Tempel  von  Ober-  und  Unterägypten 
bezeichnet  (z.  B.  Urk.  11  190, 1  =  226,  8).  Der  demot.  Text  hat 
r  smn  ni  irpj .tv  „um  die  Heiligtümer  zu  konstituieren"  mit  dem  ge- 
wöhnlichen Wort  für  „Tempel",  das  auch  im  Kopt.  noch  erhalten  ist 
(pnc)  und  das  in  den  demot.  Texten  der  Dekrete  den  verschiedensten 
alten  hieroglyphischen  Synonyma  gegenübersteht.  Das  dem  xara- 
ertjGccö&at  entsprechende  Verbum  smn  (constituere)  ist  dasselbe, 
das  Urk.  II  187,  8  (griech.  36j  dem  öca^ievovörjg  entspricht,  im  De- 
kret von  Kanopus  aber  dem  svdzad^ovöav  (griech.  19).  Die  Ent- 
sprechung hierogl.  ad  (alt  ddj)  „dauern^,  „bestehen"  und  demot. 
smn  findet  sich  auch  Urk.  II 194, 2  (griech.  47),  wo  der  griech. 
Text  das  äg.  „die weil  der  Geburtstag  des  Königs  früher  fest- 
gesetzt geworden  ist  als  Fest  in  den  Tempeln"  ganz  frei  durch 
i3C(ovv(iovg  v£voiiixu6iv  iv  tolg  Csgoig  wiedergegeben  hat.  Es  könnte 
auch  hier  vielleicht  die  Uebersetzung  aus  dem  Aegyptischen  an 
der  Wahl  des  anscheinend  den  Hellenisten  so  anstößigen  xaraöTjj- 
öttöQ-aL  die  Schuld  tragen. 

8.  Urk.  II 174,  6  (griech.  12).  Hier  ist  man  allgemein  in  der 
Auffassung  des  rccig  ts  iaxrcov  övvctfießLv  jf£(fiXav&Q(önr(xe  itdöaig 
durch  eine  Bemerkung  von  Champollion  irregeführt  worden. 
Nach  der  Fassung  des  ägyptischen  Textes  „er  hat  Belohnung  ge- 
geben der  ganzen  Heeresmacbt,  die  in  seinem  Reiche  ist"  unterliegt 
es  keinem  Zweifel,  daß  ratg  iavxov  dvväߣ6cv  Jiäöaig  „allen  seinen 
Truppen"  bedeutet  (vgl.  griech.  20)  und  nicht  „mit  allen  seinen 
Kräften". 

9.  Urk.  11175,2  (griech.  12).  Seit  Letronne  werden  die 
Worte  o  TS  Aßög  xal  ol  a^Aot  ndvxsg  so  gedeutet,  daß  unter  /xcög 
das  Volk  (Ackerbauern,  Gewerbetreibende  usw.),  unter  et  aXXoi 
XttVTsg  Soldaten,  Priester  und  Beamte  zu.  verstehen  seien.  Der 
hierogl.  Text  würde  eher  erwarten  lassen,  daß  Xaog  hier  noch  in 
seiner  alten  Bedeutung  „Heer"  gebraucht  sei,  denn  es  entspricht 
ihm  im  Hierogl.  mnfj.t  mit  dem  Determinativ  der  Soldaten,  im 
Demot.  p\  ms"  „das  Fnßvolk",  das  in  dieser  Zeit  zwar  auch  schon 
in  der  allgemeineren  Bedeutung  „Volk",  „Menge"  (so  z.  B.  in  der 
Rosettana   selbst  Urk.  II 190, 1.  197, 1)  gebraucht  wird,   hier  aber 

1)  Die  beiden  fcft^  „Wasserflut"  sind  eigentlich  die  die  beiden  Länder  im 
Norden  und  Süden  begrenzenden  Gewässer,  das  Mittellündische  Meer  („der  Icb^ 
4es  Horus")  und  der  Katarakt  Ton  Syene  („der  hb^  des  Seth"). 


306  Kurt  Sethe, 

im  Zusammenhang  doch  wohl  das  Heer  bezeichnen  muß  (wie  an  den 
Stellen  Urk.  II  179,  7.  181,  6.  183, 1).  Denn  das  dem  xal  ot  'dkXoi 
ndvxeg  entsprechende  demot.  irm  m  hj  .w  rmt  dr-w  „und  die  andern 
Menschen  alle"  klingt  doch  so  allgemein,  daß  es  schwerlich  in  dem 
von  Letronne  angenommenen  Sinne  verstanden  werden  kann. 
Das  Hierogl.  hat  überhaupt  nur  hn^  wnn.w  „und  die  Menschen", 
mit  demselben  allgemeinsten  Ausdruck,  der  Urk.  II 178,  8  (griech. 
19)  dem  nädiv,  ib.  197, 1  (griech.  52)  dem  tols  äXXoig  idicoTccig  des 
griech.  Textes  entspricht.  Vielleicht  beruht  aber  die  Nennung 
des  kccog  auf  einer  ungenauen  Uebersetzung  des  äg.  Textes  durch 
den  Griechen? 

10.  Urk.  II  175,  3  (griech.  13).  Dem  enl  r^g  savrov  ßaeiXsCag 
entspricht  im  demot.  Text  n  pij-f  hiw  ntj  Pr-'i  „in  seiner  Zeit  des 
Königs",  wie  an  der  Parallelstelle  187,  3  (griech.  35).  —  Das  ntj, 
in  dem  man  mit  Heß  (S.  55)  die  kopt.  Genitivpartikel  «-ve-  zu 
erkennen  hat  (vgl.  Urk.  II  172, 9.  201, 7.  217, 2).  ist  an  beiden 
Stellen  nach  Photographie  und  Abklatsch  völlig  sicher.  Der  kleine 
Ansatz,  den  das  Zeichen  für  ntj  an  der  2.  Stelle  oben  zu  haben 
scheint,  und  der  es  einem  Ir  „tun"  ähneln  läßt,  beruht  auf  Zufall. 
Tatsächlich  hat  auch  das  Zeichen  ir  in  unserer  Inschrift  sonst  eine 
andere  Linienführung.  —  Der  hierogl.  Text  bietet  in  seinem  md- 
nh-iv"  „Alleinherrnangelegenheit"  für  ,, Alleinherrschaft"  eine  selt- 
same Mischbildung,  die  nach  dem  Muster  des  ganz  modernen  Aus 
drucks  md-Pr-'i  „Königtum"  (eig.  „Königsangelegenheit",  kopt. 
AinV-ppb)  von  dem  älteren  Ausdruck  nh-w'  „Alleinherr"  für 
,, König"  (häufig  z.  B.  in  den  Inschriften  des  neuen  Reichs)  gebildet 
ist.  Hier  entspricht  also  m  rk-f  n  md-nb-w"  „in  seiner  Zeit  der  Allein- 
herrschaft" dem  griech.  inl  tfjg  iavtov  ßaötXeiag.  Man  könnte, 
wenn  man  den  Ausdruck  beim  Wort  nähme,  hier  einen  Gegensatz 
zu  der  vermuteten  Mitregentschaft  des  Königs  neben  seinem  Vater 
(s.  ob.  Nr.  1  und  Nr.  5)  heraushören. 

11.  Urk.  II 175,  5  (griech.  13).  Dem  tä  ßaöihxä  dtpeiXilfiata 
steht  hier,  wie  dem  synonymen  tä  6(psik6fisva  eig  t6  ßaöihxöv 
ib.  183,  9  (griech.  28/9),  im  Demot.  ni  sp .  tv  n  Pr-i  „die  Reste  des 
Königs"  gegenüber*).  Der  Ausdruck  mj  sp.tt;  findet  sich  in  gleicher 
Bedeutung  auch  in  den  demot.  Papyri  von  Elephantine  aus  der 
Zeit  des  Ptolemaios  Euergetes  I.  (s.  Sethe-Partsch,  Demot. 
Bürgschaftsurkunden  Nr.  13.  14).  Hieroglyph.  entspricht  an  der 
2.  Stelle  (II  183,9)  grh.w  mv  hm.f  „die  Defizits   seiner  Majestät" 


1)  Das  Zeichen  für  sp  ist  an  unserer  Stelle  nur  z.  T.  erbalten. 


Zur  Geschichte  und  Erklärung  der  Rosettana.  307 

(vgl.  kopt.  (S'pcD^  sah. :  (»"po^  boh.,  vöregrj^a,  evöbio).  An  der  an- 
deren Stelle  (II  175,  5)  folgte  auf  dasselbe  Wort  grh .  w  an  Stelle 
des  Attributes  „des  Königs"  ein  anderer  Ausdruck,  der  auf  der 
Nobaireh-Stele  in  einer  vermutlich  verderbten  Form  vorliegt. 

12.  Urk.  II  176,  5  (griech.  15).  Die  xa<s  xa^rixovöag  änopLoigug 
Toig  d-£otg  ccnö  rs  ri}g  a^xsXnidog  yf^g  xai  täv  nagadeiöav  deutete 
Dittenberger,  unter  Verweis  auf  Wilcken  Ostraka  156 
Anm.  3  und  Petrie  Pap.  46,  auf  die  der  Arsinoe  Philadelphos 
und  den  Philopatoren  gemeinschaftlich  zustehenden  Abgaben,  die 
Phil.  15  (Urk.  11204,2)  im  hierogl.  Text  als  „die  Anteile  (dnl.t) 
der  Bruderliebenden  und  der  beiden  vaterliebenden  Götter"  be- 
zeichnet sind.  An  unserer  Stelle  ist  aber  in  allen  drei  Texten 
von  den  Anteilen,  die  ,,den  Göttern"  im  Allgemeinen  zustehen, 
die  Rede;  im  hierogl.  Text  sogar  von  „allen  Anteilen  der  Götter", 
wie  auch  an  der  Parallelstelle  Rec.  de  trav.  33,  4  (Dekret  vom 
14.  Gorpiaios  des  Jahres  23)  =  Phil.  U  5  (Urk.  II  219,  7).  Das 
kann  doch  schwerlich  so  eng.  nur  auf  diese  drei  vergötterten 
Ptolemäer  beschränkt,  verstanden  werden. 

13.  Urk.  II  177,  2  (griech.  16).  Das  iag  tov  ngarov  irovg  hcl 
rov  xatQog  ccvrov  ist  verschieden  aufgefaßt  worden;  zunächst  so, 
daß  damit  das  erste  Jahr  der  Herrschaft  des  Vaters  des  Königs, 
also  des  Königs  Ptolemaios  Philopator  gemeint  sei,  sodaß  der  betr. 
Zustand,  von  dem  hier  gesagt  wird,  daß  er  bis  zu  diesem  Jahre 
bestanden  habe,  in  die  Zeit  des  Ptolemaios  Euergetes  I.  und  früher 
gefallen  wäre.  Letronne  verwarf  diese  Deutung,  weü  sie  einen 
Gebrauch  von  sjil  voraussetzt,  der  sonst  nirgends  zu  belegen  ist. 
Er  bezog  das  „erste  Jahr"  auf  den  regierenden  König  Ptolemaios 
Epiphanes,  wie  das  ja  bei  den  analogen  Jahresangaben  ohne 
Nennung  des  Königs  an  anderen  Stellen  des  Textes  zweifellos  der 
fall  ist.  In  dem  exl  rov  jcargog  avrov  sah  er  eine  appositioneile 
Einschränkung  dieser  nach  rückwärts  unbegrenzten  Zeitbestimmung 
„bis  zum  Jahre  1''  und  fügte  demzufolge  vor  den  Worten  „unter 
seinem  Vater"  ein  Komma  ein. 

Zu  dieser  Auffassung  scheint  auch  der  demot.  Text  zu  stimmen, 
der  genau  entsprechend  r-hn{-r)  hi.t-spl.t  l.ir-hr  pij-fjt  „bis  zum 
Jahre  1,  unter  seinem  Vater"  hat.  Auch  dort  kann  das  l.ir-hr 
pij-fjt  „unter  seinem  Vater"  kaum  mit  dem  vorhergehenden  „Jahr  1" 
verbunden  werden.  Man  würde  dafür  im  Demot.  ebenso  die  Ge- 
nitivverbindung  M.t-sp  l.t  n  pij-f  jt  j^Jahr  1  seines  Vaters"  ge- 
braucht haben,  wie  im  Griechischen. 

Dagegen  spricht  der  hierogl.  Text,  wie  er  uns  auf  dem  No- 
baireh-Stein  vorliegt,  für  die  ältere  Auffassung,  und  dies  hat  auch 


308  Kurt  Sethe, 

mich  in  meiner  Ausgabe  des  Textes  leider  dazu  verführt,  dieser 
von  Letronne  verworfenen  Auffassung  zuzustimmen.  Es  steht 
nämlich  da:  nfrj.t  r  M.t-sp  l.t  hm  {i)tf-f  sps  „bis  zum  Jahre  1 
der  Majestät  seines  erhabenen  Vaters". 

Vergegenwärtigt  man  sich  aber,  was  oben  über  die  eigentüm- 
liche Natur  dieses  Steines  festgestellt  wurde,  so  wird  man  kein 
Bedenken  tragen,  auch  hier,  wie  an  so  vielen  anderen  Stellen,  eine 
Lücke  im  Text  anzunehmen.  Man  wird  die  Stelle  gewiß  zu  nfrj  J 
r  hi.t-sp  l.t  [m  rk]  hm  {i)tf-f  §ps  „bis  zum  Jahre  1,  [in  der  Zeit] 
der  Majestät  seines  erhabenen  Vaters"  zu  ergänzen  haben. 

Daß  eine  Ungeschicklichkeit  des  Ausdrucks  vorliegt,  die  sich 
in  allen  drei  Texten  in  gleicher  Weise  bemerkbar  macht  und  den 
minder  aufmerksamen  Leser  irreführen  muß,  ist  nicht  zu  leugnen. 
Sie  ist  nicht  nur  sprachlicher,  sondern  auch  sachlicher  Natur ;  denn 
die  Angabe  „zur  Zeit  seines  Vaters"  ohne  das  ;,bis  zum  ersten 
Jahre"  hatte  ja  allein  schon  vollauf  genügt,  um  das  zu  sagen, 
was  gemeint  war. 

14.  Urk,  II  179, 5  (griech.  20).  Dem  xatElQ-dvTaq  (isvslv  STtl 
räv  lölcav  xt'rjöecov  entspricht  im  demot.  Text  „daß  sie  zurückkehren 
sollten  an  ihre  Orte  und  daß  ihre  Sachen  in  ihrem  Besitz  bleiben 
sollten".  (Das  zerstörte  Verbum  für  „zurückkehren"  ist  nach  dem 
reflexiven  Objekt  st  sicher  sti  gewesen.)  Das  zeigt,  daß  Letronne 
zwar  im  Allgemeinen  Recht  hatte,  als  er  das  xatsld-övrag  auf  die 
Heimkehr  von  Emigranten  deutete,  nicht  aber  darin,  daß  er  es 
mit  den  t&v  idiav  xn^öscov  verbinden  wollte,  dergestalt,  daß  die 
obigen  Worte  soviel  bedeuteten,  wie  xatekd-övxag  sig  rag  löiovg 
^f^ösig  (isvsiv  in'  avx&v. 

15.  Urk.  II 183,  9  (griech.  29).  Letronne's  Auffassung  des 
aag  rov  ^ydöov  hovg  als  Inklusivfrist  „bis  zum  Jahre  8  einschließ- 
lich", im  Unterschied  zu  der  oben  besprochenen  Fristangabe  mg 
rov  TCQGjrov  hovg,  die  „bis  zum  Jahre  1  ausschließlich''  bedeutete, 
wird  durch  den  äg.  Text  bestätigt,  der  beidemal,  hierogl.  und 
demot.,  „bis  zum  Jahre  9  (d.h.  ausschließlich)"  hat. 

16.  Urk.  11184,5  (griech.  30).  Die  von  Letronne  vor- 
geschlagene, von  Dittenberger  angenommene  und  auch  in 
meinen  Text  übernommene  Ergänzung  «[jcorcrayJ/icVijg  ist  doch 
sehr  bedenklich,  da  sie  viel  zu  viel  Raum  beansprucht.  Das  von 
Mahaffy  vorgeschlagene  a[(p(0QL6]^svr}g  würde  besser  passen,  da 
nur  etwa  5  Buchstaben  fehlen. 

17.  Urk.  II  187, 2—3  (griech.  35).  Zwischen  den  beiden  äg. 
Texten  einer-  und  dem  griech.  Texte  andererseits  besteht  hier  ein 


Zur  Geschichte  und  Erklärung  der  Rosettana.  309 

Widerspruch.  Das  griech.  :tQ067Cvv^av6fi£v6g  rs  tä  räv  legav 
TifiLaxara  ävavsovto  kann,  wie  Letronne  richtig  gesehen  hat, 
nur  bedeuten:  ^und  die  geehrtesten  unter  den  Tempeln  erfragend 
(bezw.  erkundend)  erneuerte  er  sie*".  Die  äg.  Texte  haben  dagegen: 
„indem  er  fragte  nach  den  Ehren  der  Tempel,  um  sie  zn  erneuern". 
Um  Uebereinstimmung  zwischen  beiden  Versionen  herznstellen, 
müßte  man  im  griech.  Texte  rt^t«  statt  xtuiaraxa  haben,  vgL 
Urk.  n  186, 1.  188,  3  (griech.  33.  36). 

Letronne  war  es  bei  seiner  Voraussetzung,  daß  der  griech. 
Text  vor  dem  ägyptischen  die  Priorität  haben  müsse,  nicht 
zweifelhaft,  daß  ein  Uebersetzungsfehler  seitens  der  Aegypter  vor- 
liege. Aber  das  Fragen  und  das  Erneuern  passen  doch  wohl  besser 
zu  alten,  in  Vergessenheit  geratenen  Rechten,  als  zu  „den  an- 
gesehensten der  Tempel",  die,  wenn  sie  diese  Bezeichnung  ver- 
dienten, doch  hinreichend  bekannt  sein  mußten  und  nicht  erst 
„erfragt"  zu  werden  brauchten.  Wäre  an  unserer  Stelle  aber 
wirklich  von  der  Erneuerung  der  angesehensten  Heiligtümer  die 
Eede,  wie  es  nach  dem  griech.  Text  der  Fall  zu  sein  scheint,  so 
würde  das  in  dem  Zusammenhange,  in  dem  es  steht,  eine  Tauto- 
logie schlimmster  Art  ergeben,  denn  der  ganze  Abschnitt  lautet 
ja  so:  „er  gründete  Heiligtümer,  Kapellen,  Altäre  neu  für  die 
Götter  und  stellte  die  der  Herstellung  bedürfenden  wieder  her" 
(T«  TS  TCQoedeofieva  i:tL6xevil5  jiQoödioQ^aöaro,  demot. :  „er  ließ 
andere  ihre  Art  tun''  d.  h.  versetzte  sie  in  ihren  alten  zweckdien- 
lichen Zustand),  da  er  wohltätigen  Herzens  gegen  die  Grötter  war, 
indem  er  die  Ehren  der  Tempel  erfragte,  um  sie  zu  erneuem  in 
seiner  Regierungszeit,  wie  es  sich  gehört". 

Glücklicherweise  kehrt  nun  der  strittige  Satz,  mit  leichter 
Variation,  auch  in  dem  2.  Dekret  von  Philae  wieder  (Urk.  II  221,  3), 
—  ein  Umstand,  der  uns  in  den  Stand  setzt,  die  hierogl.  Fassung 
auch  an  unserer  Stelle  herzustellen,  —  und  dort  läßt  in  der  Tat  der 
Zusammenhang  keinen  Zweifel,  daß  wirklich  von  den  „Ehren" 
(riuia)  nnd  nicht  von  den  „angesehensten"  {xiuiäxaxa)  der  Tempel 
die  Rede  ist:  „Sie  (König  und  Königin)  traten  Anordnung,  daß 
alles  (im  Kult)  geschehe  gemäß  der  alten  Schriftsatzung  des  Thoth, 
des  Großen  und  Großen.  Die  Ehren,  die  den  Tempeln  gebührten, 
und  die  übrigen  Ehren  Aeg^'ptens  [vermehrte]  der  König,  indem 
seinHerz  wohltätig  war  gegen  dieGötter,  fragend 
nach  ihren  Ehren,  um  sie  zu  erneuern  in  seiner 
Zeit^.  Die  gesperrt  gedruckten  Worte  stimmen  mit  unserer 
Stelle  genau  überein  mit  dem  eiuen  und  sehr  bedeutsamen  Unter- 


810  Kurt  Sethe, 

scliiede,  daß  hier  für  die  Ehren  der  Tempel  die  Ehren  der  Grötter 
eintreten. 

Wie  die  Sache  liegt,  gibt  es  für  die  Divergenz  des  äg.  und 
des  griech.  Wortlautes  an  unserer  Stelle  der  Rosettana  wohl  nur 
eine  Erklärung:  Der  griech,  Text  muß  zunächst  in  seiner  ersten 
Passung  (vermutlich  als  Uebersetzungsversuch  des  äg.  Textes)  tä 
Tcbv  Cegäv  ti^ia  resp.  tä  xCina  xöbv  lsqcöv,  was  dem  Stil  des  Textes 
besser  entspräche,  gehabt  haben.  Dies  ist  dann  von  einem  Ueber- 
arbeiler  irrig  als  ;,die  angesehenen  der  Tempel"  verstanden  worden 
und  durch  Einsetzung  des  Superlativs  deutlicher  gemacht  worden. 

18.  Urk.  II  188, 4  (griech.  37).  Im  griech.  Text  sind  hinter 
T«  VTtaQiovra  x\CiLitt  Ttdvra]  ra  aicovoßCco  ßaöiXet  IltoXsiiata)  rjyccztj- 
fiEvca  vjco  xov  ^Q^ä  %^E<p  enicpavBl  evxccQCöxa  die  Worte  ev  xotg  Cegots 
ausgefallen,  die  beide  äg.  Texte  und  auch  die  beiden  Philae-Dekrete 
hier  erwarten  lassen. 

19.  Urk.  II 189,  8—9  (griech.  39).  Die  Statue  des  Königs  hat, 
wie  es  sich  für  ein  solches  äg.  Denkmal  gehört,  einen  Namen,  der 
in  altäg.  Sprache  abgefaßt  ist  und  natürlich  in  Hieroglyphen  auf 
ihr  eingegraben  sein  soll :  Ptlwmjs  nd  hik .  t  „Ptolemaios,  der  Schützer 
Aegyptens".  Für  den  ungelehrten  Aegypter  von  damals  bedurfte 
das  einer  Uebersetzung,  die  im  demot.  Texte  durch  Ftlivmjs  i.ir 
nht  n  Kmj  gegeben  ist.  Dabei  sind  die  altäg.  Ausdrücke  für 
„schützen"  {nd)  und  „Aegjrpten"  (ijÄ.if),  die  der  lebenden  Sprache 
nicht  mehr  angehörten,  durch  die  modernen,  noch  im  Kopt.  lebenden 
Ausdrücke  Ir  nht  (p-n*.g'ie)  und  Kmt  (khaic)  wiedergegeben. 

Seltsamerweise  ist  diese  Uebersetzung  des  altäg.  Namens  nun 
aber  nicht  nur  im  demot.  Texte  zu  finden,  wo  sie  am  Platze  ist, 
sondern  auch  im  hierogl.  Texte,  der  dabei  nur  statt  der  Um- 
schreibung i.ir  n^t  „der  Schutz  machte"  (für  „der  schützte")  ein- 
fach nht  hat,  als  ob  es  ein  Verbum  n^t  „schützen"  gäbe,  dessen 
Partizip  hier  nach  altäg.  Weise  vorläge  ^). 

In  der  Herübernahme  resp.  Wiedergabe  dieser  demotischen 
Uebersetzung  des  altäg.  Namens  in  den  altäg.  (hierogl.)  Text 
verrät  sich  auf  das  Deutlichste  dessen  Abhängigkeit  vom  demoti- 
schen Texte. 

Der  griech.  Text  kann  und  will  diese  Erklärung  des  altäg. 
Ausdruckes  durch  den  neuäg.  (demotischen)  natürlich  nicht  wieder- 


1)  Im  Demot.  werden  die  alten  Partizipia  durch  das  Partizip  von  ir  „tun" 
(eben  unser  l.lr)  mit  folgendem  Infinitiv  umschrieben.  Der  Verfasser  des  hierogl. 
Textes  glaubte  eine  solche  Umschreibung  vor  sich  zu  haben,  während  das  Wort 
nlft  in  Wahrheit  ein  Substantiv  war. 


Zur  Geschichte  und  Erklärung  der  Rosettana  311 

geben.  Er  begnügt  sich  damit,  den  äg.  Namen  einfach  in  griech. 
Uebersetzung  zn  geben:  ?)  TiQoöovoiiuö^riöaTut  Uroke^uiov  tot)  tTta- 
fivvavTOg  vfi  Alyvnxa. 

20.  Urk.  II 189,  10  (griech.  39)  ^).  Das  demot.  Äquivalent  des 
6  y.vQicixaro$  9sbg  tov  Csqov,  der  dem  König  das  Siegesschwert 
{oTckov  vLxritixöv,  äg.  ]ips  „Schenkel")  überreichen  soll,  wie  das  die 
Denkmäler  so  oft  darstellen^),  bot  bisher  eine  Schwierigkeit.  Der 
auf  die  Worte  pi  ntr  „der  Grott"  folgende  unterscheidende  Zusatz 
konnte  nicht  sicher  gedeutet  werden.  Heß  dachte  an  eine  appo- 
sitionelle  oder  attributive  Bezeichnung  des  Gottes  selbst,  wie  nb 
psd.t^)  „Herr  der  Götterneunheit''.  Revillout  hatte  in  richtiger 
Erkenntnis,  daß  das  erste  Zeichen  des  Ausdrucks  der  bestimmte 
Artikel  m  (plur.)  oder  fi  (fem.  sg.)  sein  müsse,  einen  genitiviscben 
Zusatz  darin  vermutet;  er  las  ni  rmt.tv  „der  Menschen",  das  Ganze 
also  „der  Gott  der  Menschen",  was  natürlich  sinnlos  war. 

Sah  man  von  den  Zeiclien,  die  dastehen,  zunächst  einmal 
ganz  ab  und  faßte  nur  den  Sinn  ins  Auge,  so  war  anzunehmen, 
daß  ein  Aequivalent  des  uralten  Ausdrucks  ntr  nw.ij  „der  Stadt- 
(oder  Orts-)Gott'*,  mit  der  seit  alter  Zeit  die  unzähligen  Lokal- 
gottheiten der  verschiedenen  Orte  Aegyptens  bezeichnet  werden, 
vorliegen  werde.  Und  da,  wie  gesagt,  der  Artikel  ti  oder  m  da- 
steht, so  mußte  die  Lesung  jh  ntr  fi  nwJ  „der  Gott  der  Stadt" 
die  zu  erwartende  Lesung  sein.  Aus  einer  Verderbnis  der  rich- 
tigen demot.  Schreibung  für  nw.t  „Stadt"  ließ  sich  denn  in  der 
Tat  auch  wohl  das  Wort,  das  von  Revillout  rmt.ic  „Menschen" 
gelesen  wurde,  erklären. 

Daß  diese  Deutung  tatsächlich  richtig  ist,  ergaben  die  Parallel- 
stellen der  beiden  Philae  -  Dekrete  (Phil.  18  =  Urk.  II  207,  3 ; 
II  13  =  ib.  226,  10).  Sie  zeigen  im  hierogl.  Texte  deutlich  ein 
ntr  nw.t  „der  Gott  der  Stadt"",  das  die  genaue  altäg.  Entsprechung 
dazu  bildet,  und  das,  da  es  sonst  im  Altäg.  durch  den  synonymen 
Ausdruck  ntr  nie  Aj  d.  i.  wörtlich  „der  zur  Stadt  gehörige  Gott"*, 
„der  örtliche  Gott"  vertreten  ist,  wohl  als  Uebersetzung  aus  dem 
Demotischen  zu  werten  ist. 

21.  Urk.  11190,2  (griech.  39—40).  Letronne  hat  in  der 
Angabe   a   iötai   xaxs6%eva6iiiv\a    tov   jiiyvnxiav]    xqötcov,    der    im 


1)  In  meiner  Wiedergabe  des  griech.  Textes  ist  das,  durch  Abirren  des 
Auges  auf  das  kurz  vorhergehende  TtQ06ovouaa9T]asrai  verursachte,  unsinnige 
jrcefffTTjfffrai  in  nagsatri^erai  zu  verbessern,  wie  das  Original  völlig  deutlich  hat. 

2)  S.  auch  unsere  Tafel. 

3)  Bei  Heß  nach  älterer  Weise  neb  paut  nfer  umschrieben. 
K«l.  Oes.  d.  Wiss.    Nachriditen.    Riil.-hist  Klasse.    1916.    Heft  2.  21 


312  Kurt  Sethe, 

Demot.  ein  gleichbedeutendes  Iw-w  r  ^)  r-h  jp  rmt  (n)  Kmj  „indem 
sie  gemacht  sind  ^)  nach  der  Weise  von  Aegypter- Arbeit"  entspricht, 
wieder  einen  schlagenden  Beweis  dafür  finden  zu  dürfen  geglaubt, 
daß  der  griech.  Text  der  ursprüngliche  sei.  Er  meint,  so  könne 
nur  ein  Nichtägypter  reden;  ein  Aegypter  hätte  gesagt  „nach 
unserer  Weise"  (t6i^  xaO''  i^juag  rgönov  o.  ä.).  Ich  möchte  glauben, 
daß  Letronne  sich  hier  wieder  einmal  durch  seine  vorgefaßte 
Meinung  hat  in  die  Irre  führen  lassen.  Was  er  von  den  Aegyptem 
erwartet,  scheint  mir  etwas  sehr  modern  gedacht.  Ob  ein  Grieche 
sich  in  dieser  Weise  ausgedrückt  haben  würde,  wage  ich  nicht  zu 
entscheiden;  ein  Aegypter  hätte  es  sicherlich  nicht  getan.  Ein 
derartig  subjektiv  gefärbtes,  Gremeinsamkeits-  oder  Nationalgefühl 
verratendes  „wir"  findet  sich  m.  W.  im  ganzen  äg.  Schrifttum  nie- 
mals. In  einem  so  objektiv  abgefaßten  Dekret,  in  dem  sich  die 
Beschließenden  selbst  nur  an  einer  Stelle  und  dort  in  3.  Person 
nennen  („es  kam  iu  das  Herz  der  Priester"  =  adol,ev  rotg  Isqevöi) 
würde  es  —  ich  möchte  glauben,  auch  im  Grriechischen  —  vollends 
nicht  am  Platze  sein. 

Der  hierogl.  Text,  der  sich  nach  Phil.  1 8  (Urk.  II  207,  1).  II 11 
(Urk.  11226,9)  herstellen  läßt,  hatte  m  B  .t  msn  Jj  .w  nw  hik  .t  „in 
der  Arbeit  der  Bildhauer  Aegyptens".  Hier  tritt  der  Zweck  dieser 
Angabe  deutlich  hervor;  es  ist  der,  zu  sagen,  daß  die  in  den 
Tempeln  aufzustellende  Statue  des  Königs  nicht,  wie  das  sonst 
oft  genug  geschah,  ein  griechisches,  sondern  ein  ägyptisches 
Kunstwerk  sein  sollte,  das  den  König  nicht  als  Hellenen,  sondern 
als  Aegypter,  ägyptisch  aufgefaßt  und  geschmückt,  darstellte. 

22.  Urk.  II  192,  3—4  (griech.  43).  Hier  ergänzte  man  mit 
Porson,  in  völliger  Verkennung  des  Sinnes,  so:  inixstöd-ai  rca  vaa 
rag  rov  ßaöiXscog  XQ^^^S  ßccöiXeCag  dexa,  aig  jCQOöKstösrai  ccGTtlg  [xcc~ 
&äjtsQ  xal  knl  naöäv]  räv  döTttdosidav  ßccöilsLcbv  tav  iTcl  täv  aXXav 
vaav.  Der  entsprechende  ägyptische  Text  lautet  aber  „man  soll 
10  Kronen  des  Königs  —  indem  vor  einer  jeden  von  ihnen  eine 
Uräusschlange  ist,  wie  es  Sitte  ist  zu  tun  mit  allen  Kronen  — 
setzen  auf  diesen  Kapellenschrein  anstatt  der  Uräusschlangen,  die 
auf  den  Kapellenschreinen  (sonst)  sind".  Der  Schrein  (vaög)  soll 
also  im  Unterschied  zu  den  gewöhnlichen  Schreinen  10  Königs- 
kronen  statt   des   üblichen   Frieses   von  Uräusschlangen   erhalten. 


1)  Zu  dieser  Form  des  Vcrbums  Ir  „machen"  s.  meine  Bemerkungen  Aeg. 
Ztschr.  60, 12G.  Die  Parallelstelle  Phil.  II  d.  11  (Urk.  II  220, 9)  hat  dafür  die 
Nebenform  Irj.ij,  die  meine  Auffassung  von  der  Natur  dieser  Formen  durchaus 
bestätigt. 


Zar  Geschichte  und  Erkläning  der  Rosettana.  313 

Es  ist  also  zunächst  vor  räv  uXXav  sicher  &vzi  zu  ergänzen.  Für 
das,  was  vorherging,  ist  ein  Raum  von  ISVz  Buchstaben  da.  Es 
muß  daher  eine  sehr  kurze  Paraphrase  des  äg.  Satzes  „wie  es  Sitte 
ist  zu  tun  mit  allen  Kronen"  dagestanden  haben  (wie  das  ja  auch 
Porson  annahm),  also  vermutlich  einfach  „wie  es  Sitte  ist"  o.a. 
Den  richtigen  Wortlaut  dafür,  der  sich  dem  ganzen  Satz  vorzüg- 
lich einpaßt,  fand  Alfred  Rahlfs  in  dem  dem  Sprachgebrauch 
der  Septuaginta  und  der  griechisch-ägyptischen  Papyri  der  Ptole- 
mäerzeit  gleich  geläufigen  natu  x'ov  i&ie^iov  (vgl.  Judith  13,  10. 
Makkab.  II  12,  38.  Gen.  31,  35.  Tebtunis  Pap.  I  6,  40.  40,  25.  50,  24 
usw.).  Es  ist  also  zu  lesen :  . . .  alg  ngoexslotrai  aöxls  [xaxä  tov 
id^Löuöv,  ävtl]  räv  ttöxidosidärv  ßaöiXsiav  .  . . 

23.  TJrk.  II 192, 7  (griech.  44—45).  Das  von  Letr onne  wegen 
des  Konjunktivs  [öwlteksod-fj  mit  Sicherheit  hergestellte  [oxag  h 
ttvxm  6w\xEXs69fi  rä  vo^ii^6[isva  r^  «agakijtlfeL  tr}g  ßaöilsiag  wird 
eine  freie  Wiedergabe  des  demot.  Textes  sein,  der  so  lautet:  „als 
man  ihm  tat  das,  was  zu  tun  Gesetz  ist  bei  der  Uebernahme  der 
Königswürde".  Der  hierogl.  Text  lautet:  .,als  (resp.  nachdem)  ihm 
getan  wurde  alles,  was  zu  tun  ist  bei  der  Einführung  des  Königs 
in  den  Tempel,  wenn  er  seine  große  Würde  übernommen  hat". 

24.  ürk.  II  193, 1— 4  (griech.  45).  Dittenberger  las  hier, 
mit  leichter  Korrektur  [ovo  statt  dsxa)  der  Letr  onne 'sehen  Er- 
gänzung,   so:    £:c(,&slvai  de  xal (pvlaxxylgia   iQv[6ä  ovo  olg  iy- 

yQccq:ilO€xai\  oxi  iöriv  xov  ßuöi/Jag  xov  eTCicpavi]  :iOLrj6uvxog  tijv  xs 
äv(o  xai  xi)v  xüxa.  Der  ägyptische  Text,  der  hier  viel  ausführlicher 
ist,  zeigt  aber,  daß  es  sich  bei  diesen  (pvkaxxriQLa  um  die  alten 
Wappenpflanzen  oder  Symbole  der  beiden  Länder  Ober-  und  Unter- 
äg^^pten  (Binse  und  Papyrus)  in  Verbindung  mit  den  darüber  auf 
einem  Korbe  stehenden  Schutzgöttinnen  derselben  beiden  Länder 
(des  Geiers  der  Eileithyia  "Js  und  der  Uräusschlange  der  Bato  ^) 

handelt,  eine  symbolische  Darstellung,  die  sich  auf  den  Denkmälern 
so  oft  abgebildet  findet.  Die  Anbringung  dieser  Darstellung  in 
figürlicher  Form  auf  dem  Kapellenschrein  des  Königs,  gegenüber 
der  Königskrone,   soll  nach  dem   ägyptischen  Text  andeuten,    daß 

der  Schrein   einem  ^£^  (d.  i.  dem  mit  den  genannten  beiden  Göt- 

tinnen  identifizierten  Könige)  gehöre,  der  die  beiden  Länder  hell 
(durch  die  Krone  angedeutet)  gemacht  habe.  Demnach  ergibt  sich 
für  die  etwa  21  Buchstaben  fassende  Lücke  des  griech.  Textes  als 
einzig  mögliche  Ergänzung:  <fvXaxxi]Quc  XQv\6ä  räv  ovo  xo>Q^v  6ri- 
ftatVorra]  oxl  usw.   Die  Richtigkeit  der  Ergänzung  xäv  ovo  xagdv 


314  Kurt  Sethe,  Zur  Geschichte  und  Erklärung  der  Rosettana. 

wird   dadurch  erhärtet,   daß  der  Text  nachher  trjv  ts  ävoa  xal  f^v 
xatG)  ohne  das  zugehörige  %c)Qav  sagt. 

25.  Urk.  II 195,  3  (griech.  48).  Die  von  P  o  r  s  o  n  vorgeschlagene, 
von  Letronne  verworfene,  Ergänzung  ÖLdövat  dürfte  den  Sinn 
ungefähr  treffen.  Denn  der  äg.  Text  bietet :  ,, alles,  was  an  diesen 
Festen  geopfert  wird,  werde  geleitet  {ssm,  so  hierogl.),  resp.  be- 
stimmt {ts,  so  demot.,  seltsamerweise  mit  dem  Determinativ  der 
geistigen  Tätigkeit  statt  mit  dem  der  Handtätigkeit)  an  alle  Leute, 
die  im  Tempel  Dienst  tun"  (jtaQSxoiisvoLg).  Zu  dem  aktiven  In- 
finitiv vgl.  iniQ'stvai  ob.  Nr.  24,  xad^idQvdai  Urk.  II 191,  5  (griech.  42), 
xataxcoQCöcci  unten  Nr.  26. 

Nach  dem  äg.  Wortlaut  ist  aber  vielleicht  statt  des  von 
Porson  vorgeschlagenen  rotg  Isqevölv  totg  nuQsxo^ävoLg  besser 
nädLv  totg  nagexo^svoLg  zu  lesen.  Dann  würde  vorher  für  etwa 
5  Buchstaben  mehr  Raum  da  sein,  als  didovca  beansprucht  (im 
Ganzen  12  Bachstaben  von  voller  Breite).  Man  könnte  dann  an 
xataiisQCöcci  o.  ä.  denken. 

Der  bisher  ungelesene,  auch  in  meiner  Ausgabe  nicht  um- 
schriebene, Ausdruck,  der  im  Demot.  dem  w5  rmt.iv  ntj  snis  ,,die 
Leute,  welche  dienen"  vorangeht,  und  der  den  mask.  Artikel  pl 
nebst  einem  kurzen,  aus  einem  Zeichen  bestehenden,  Worte  zu 
enthalten  scheint,  wird  das  Aequivalent  von  nh  ,,alle",  das  der 
hierogl.  Text  bietet,  sein,  also  ,,die  Gesamtheit",  „die  Menge"  o.  ä. 
bedeuten  („die  Gesamtheit  der  Leute,  die  dienen").  An  dmd  kann 
aber  nicht  gedacht  werden,  da  dies  im  Demot.  ohne  den  Artikel 
zu  bleiben  pflegt. 

26.  Urk.  11196, 8  (griech.  51).  Dittenberger  will  hier 
mit  Mahaffy  auf  Grund  des  Dekrets  von  Kanopus  lesen:  xal  elg 
Toirg  d[axrvXiovg  oi)g  q)0Q0v6L  3tQ06syxoXd7ttE6d-ai  ti)v]  isQutelav  «vrov. 
Die  Lücke  ist  für  diese  Ergänzung  aber  viel  zu  klein.  Außerdem 
entspricht  das  passivische  nQoöEyxokdnxeö&ai  garnicht  der  aktivi- 
schen Fassung  des  vorhergehenden  xal  xatccxagCöai  elg  ndvtag  xovg 
XQrj^avLßfiovg,  zu  dem  der  Akkusativ  [tt^v]  UgatsCav  adrov  in  gleicher 
Weise  als  Objekt  gehört.  Dies  wie  die  Größe  der  Lücke  führen 
mit  Notwendigkeit  auf  die  Ergänzung  ivxokccijjai  (so  statt  iyxoXdtjjai 
nach  der  Orthographie  des  Textes). 

27.  Urk.  II  197,  8  (griech.  53).  Dittenbcrger's  Ergänzung 
[eig  öt^kag  ö]teq£ov  XC&ov  ist  nach  beiden  ägyptischen  Texten  zu 
verwerfen;  es  muß  ör^kijv  gestanden  haben. 


Nachrichten  von  der  Kgl.  Gesellschaft  der  Wissenschaften  zu  Oöttingen. 
PhU.-hist  Klasse  1916,  Heft  2  (Sethe). 


i^- 


Der  Oberteil  des  Steins  von   Nobaireh 
nach  einer  Photographie  von  Emil  Brugsch. 


H 


Zur  Setzung  der  Lesemütter  im  Alten  Testament. 

Von 

Alfred  Bahlfs. 

Vorgelegt  von  E.  Litt  mann  in  der  Sitzung  vom  12.  Febrnar  1916. 

Abkürzungen:   Brock.  =  C.  Brockelmann,   Grundriß  der  vergleichenden  Gram 
matik  der    semitischen  Sprachen.    I:  Laut-  und  Formenlehre 
BerUn  1903. 
Ges.  =  W.  Gesenius'  hebräische  Grammatik,    völlig  umgearbeitet 

von  E.  Kautzsch.     28.  Aufl.     Leipzig  1909. 
Lidzb.  =  M.  Lidzbarski,   Handbuch   der   nordsemitischen  Epi- 

graphik.     I :  Text.     Weimar  1898. 
Schröder  =  P.  Schröder,  Die  phönizische  Sprache.    Halle  1869. 
Seirol  wird  durch  ^  transkribiert.     Die  Quantität  der  auslautenden  Vokale  ist  oft 
als  zweifelhaft  absichtlich  nicht  angegeben. 

Kapitel  1. 

Inkonsequenzen  in  der  Setzung  der  Lesemütter. 

Man  nimmt  gewiß  mit  Recht  an,  daß  die  nordsemitische  Schrift 
ursprünglich  eine  reine  Konsonantenschrift  war,  da£  nur  die  Kon- 
sonanten bezeichnet  und  alle  Bachstaben  wirklich  als  Konsonanten 
ausgesprochen  wurden.  Aber  ein  Denkmal,  welches  diesen  ur- 
sprünglichen Zustand  noch  bewahrt  hätte,  besitzen  wir  nicht.  Schon 
in  unseren  ältesten  Inschriften  spielen  die  sogenannten  Lesemütter 
eine  mehr  oder  minder  große  Rolle.  Sie  sind  bekanntlich  ein  Pro- 
dukt der  schon  in  sehr  alter  Zeit  beginnenden  lautlichen  Zersetzung 
der  nordsemitischen  Dialekte.  Besonders  1  und  "•  sind  schon  früh 
in  manchen  Fällen  in  der  Aussprache  fortgefallen.  Infolgedessen 
gab  die  Schrift  nicht  mehr  den  wirklichen  Lautstand  wieder,  und 
man  konnte  nun  zwei  "Wege   einschlagen :    entweder    konnte   man 

Kgl.  Ges.  d.  Wiss.  Nachrichten.  Phil.-hist.  Klasse.   1916.    Heft  3.  22 


Zur  Setzung  der  Lesemütter  im  Alten  Testament. 

Von 

Alfred  Bahlfs. 

Vorgelegt  von  E.  Littmann  in  der  Sitzung  vom  12.  Februar  1916. 

Abkürzungen:   Brock.  =  C.  Brockelmann,   Grundriß  der  vergleichenden  Gram 
matik  der    semitischen  Sprachen.    I:  Laut-  und  I-ormenlehre 
Berlin  1908. 
Ges.  =  W.  Gesenius'  hebräische  Grammatik,   völlig  umgearbeitet 

von  E.  Kautzsch.     28.  Aufl.     Leipzig  1909. 
Lidzb.  =  M.  Lidzbarski,   Handbuch  der   nordsemitischen  Epi- 

graphik.     I:  Text.     Weimar  1898. 
Schröder  =  P.  Schröder,  Die  phönizische  Sprache.    Halle  1869. 
Segol  wird  durch  f  transkribiert.    Die  Quantität  der  auslautenden  Vokale  ist  oft 
als  zweifelhaft  absichtlich  nicht  angegeben. 

Kapitel  1. 

Inkonsequenzen  in  der  Setzung  der  Lesemütter. 

Man  nimmt  gewiß  mit  Recht  an,  daß  die  nordsemitische  Schrift 
nrsprünglich  eine  reine  Konsonantenschrift  war,  daß  nur  die  Kon- 
sonanten bezeichnet  und  alle  Buchstaben  wirklich  als  Konsonanten 
ausgesprochen  wurden.  Aber  ein  Denkmal,  welches  diesen  ur- 
sprünglichen Zustand  noch  bewahrt  hätte,  besitzen  wir  nicht.  Schon 
in  unseren  ältesten  Inschriften  spielen  die  sogenannten  Lesemütter 
eine  mehr  oder  minder  große  Rolle.  Sie  sind  bekanntlich  ein  Pro- 
dukt der  schon  in  sehr  alter  Zeit  beginnenden  lautlichen  Zersetzung 
der  nordsemitischen  Dialekte.  Besonders  1  und  "^  sind  schon  früh 
in  manchen  Fällen  in  der  Aussprache  fortgefallen.  Infolgedessen 
gab  die  Schrift  nicht  mehr  den  wirklichen  Lautstand  wieder,  und 
man  konnte  nun  zwei  Wege   einschlagen :    entweder    konnte   man 

Kgl.  Ges.  d.  Wiss.  Nachrichten.  Phil.-hist  Klasse.   1916.    Heft  3.  22 


316  Alfred  Rahlfs, 

die  aus  alter  Zeit  überlieferte  Schreibung  beibehalten,  oder  man 
konnte  das  alte  Prinzip,  nur  die  Konsonanten  zu  schreiben,  auf- 
recht erhalten  und  die  nicht  mehr  als  Konsonanten  gesprochenen 
Buchstaben  fortlassen.  Im  ersten  Falle  war  die  Orthographie 
historisch,  im  anderen  phonetisch. 

Die  Hebräer  haben  mehr  den  ersten  Weg  eingeschlagen. 
Sie  behielten  die  alten  1  und  "^  gewöhnlich  auch  da  bei,  wo  sie  in 
der  Aussprache  geschwunden  waren  und  nur  noch  rein  vokalisches 
ü,  ö,  ^,  e  gesprochen  wurde,  und  sie  übertrugen  dann  l  und  "•  als 
bloße  Vokalzeichen  mit  der  Zeit  in  immer  weiterem  Umfange  auch  auf 
solche  Fälle,  wo  nie  ein  Konsonant  1  oder  "^  vorhanden  gewesen  war. 

Umgekehrt  bevorzugten  die  Phönizier  in  der  Regel  die 
phonetische  Schreibung,  so  daß  bei  ihnen  z.  B.  p  nicht  nur  =  hebr. 
"jS  „Sohn"  ist,  sondern  auch  =  '^yi  „Söhne",  nsa  „er  baute"  und 
153  „sie  bauten"^).  Erst  die  Punier  haben  manchmal,  wenn  auch 
sehr  unregelmäßig,  Lesemütter  hinzugefügt,  s.  Schröder  S.  119 f.; 
hierauf  gehe  ich  jedoch  nicht  ein,  sondern  beschränke  mich  überall 
auf  das  eigentliche  Phönizische. 

Eine  Mittelstellung  nehmen  nach  der  Mesainschrift  die  Moa- 
biter ein.  Einerseits  schreiben  sie  sehr  oft  phonetisch,  z.B.  Mesa- 
inschr.  Z.  4  isyon  „er  rettete  mich"  statt  "isy^in,  7  nnni  „in 
seinem  Hause"  =  hebr.  in'iaa  und  23.  27.  30  (zweimal)  ril  „Haus" 
st.  nia,  13  niDSI  „und  ich  ließ  wohnen"  st.  möix'}.  Andrerseits 
finden  sich  aber  auch  historische  Schreibungen  wie  nJT^na  „in  sei- 
nem Hause"  Z.  25,  so  daß  hier  bei  demselben  "Worte  und  sogar 
bei  genau  derselben  Form  die  beiden  Schreibungen  miteinander 
wechseln:  Z.  7  nnna,  25  nn^na. 

Eine  vollkommene  Konsequenz  finden  wir  bei  keinem  der  drei 
Völker.  Selbst  bei  den  Phöniziern  kommen,  wie  wir  im  nächsten 
Kapitel  sehen  werden,  einige  Ausnahmen  von  dem  Prinzip  der 
streng  phonetischen  Schreibung  vor. 

Derartige  Inkonsequenzen  sind  aber  auch  nur  natürlich. 
Die  Orthographien  von  Literatursprachen,  die  schon  eine  längere 
Greschichte  hinter  sich  haben,  sind  niemals  rein  phonetisch,  sondern 
weisen  stets  einen  mehr  oder  minder  großen  Zusatz  historischer 
Schreibungen  auf.  Und  das  ist  für  das  Verständnis  des  Geschrie- 
benen in  der  Regel  auch  nur  ein  Vorteil.  Denn  da  bei  fortschrei- 
tender Zersetzung  der  Sprachen  manche  anfangs  vorhanden  ge- 
wesene Unterschiede  fortfallen,  so  pflegt  durch  streng  phonetische 


1)  Die  Belege  s.  bei  Lidzb.;  außerdem  kommt  p  noch  als  p  „in  mir"  vor 
(ESmun'azar-Inschrift  Z.  5). 


Zur  Setzung  der  Lesemütter  im  Alten  Testament.  317 

Schreibung ,  wie  wir  z.  B.  an  dem  noch  nicht  einmal  ganz  konse- 
quenten Phönizischen  sehen,  das  Verständnis  eher  erschwert  als 
erleichtert  zu  werden  ^).  Aber  jene  historischen  Schreibungen  bilden 
doch  regelmäßig  nur  einen  mehr  oder  minder  großen  Bruchteil  des 
Oanzen.  Streng  historische  Schreibung  ist,  zumal  im  Altertum, 
schon  deshalb  ausgeschlossen,  weil  die  Schreibenden  den  Urzustand 
ihrer  Sprache  und  Orthographie  gar  nicht  mehr  kennen.  Und 
immer  wird  sich  doch  auch  wieder  das  Bestreben  geltend  machen, 
zu  schreiben  „wie  man  spricht".  So  finden  wir  in  den  Ortho- 
graphien regelmäßig  einen  Kampf  zwischen  historischer  und  pho- 
netischer Schreibung.  Und  die  Kompromisse,  die  dabei  heraus- 
kommen, sind  naturgemäß  inkonsequent. 

Granz  besonders  zahlreich  aber  sind  die  Inkonsequenzen  in  der 
Setzung  der  Lesemütter  im  Alten  Testamente.  Noch  unsere  Hand- 
schriften, die  doch  durchweg  erst  einer  recht  späten  Zeit  ange- 
hören und  im  übrigen  schon  einen  im  großen  und  ganzen  durchaus 
festen  Text  bieten,  gehen  gerade  in  der  Setzung  der  Lesemütter 
sehr  oft  auseinander.  So  schwanken  z.  B. ,  um  nur  einen  charak- 
teristischen Fall  anzuführen,  die  von  Grinsburg*)  verglichenen  Hand- 
schriften in  Jes.  10 13  zwischen  "'r'ua;,  Ti^'^:,  "»räa:  und  "^ria:  „ich 
bin  klug",  so  daß  hier  in  der  Schreibung  des  ü  und  ö  alle  nur 
denkbaren  Kombinationen  vertreten  sind. 

Diese  Inkonsequenzen  erklären  sich  zu  einem  guten  Teile 
daraus,  daß  sehr  viele  Lesemütter  erst  im  Laufe  der  Zeit  von 
den  Abschreibern  hinzugefügt  sind.  Die  echte  Orthographie  der 
Zeit  Jesaias  haben  wir  durch  die  Siloahinschrift  kennen  gelernt. 
"Wenn  diese  z.  B.  O»  „Mann"  =  «TS,  "I2  „Fels"  =  TS,  Ifü-'  „rechte 
Seite"  =  ■)'<T2*  schreibt,  so  hat  Jesaia  natürlich  ebenso  geschrieben, 

1)  Aus  diesem  Grunde  haben  z.  B.  die  Syrer  die  historischen  Schreibungen 
-hjfndu  (o  Frau)~  und  ^)^\^  _du  (o  Frau)  tötetest"  beibehalten,  um  die  Femi- 
nina von  den  gleichlautenden  Maskulinis  ÄjJ'und  £\^  zu  unterscheiden.  .Ja  die 
Westsyrer  haben  in  jüngerer  Zeit  sogar  statt  ''^^  „sie  (die  Frauen)  töteten",  um 
es  von  "''^^  „er  tötete"  zu  unterscheiden,  sA^  geschrieben,  obwohl  es  nie  auf 
einen  t-  oder  e-Laut  ausgegangen  ist,  sondern  ursprünglich  S5pp  hieß;  -A^ä  ist 
bloße  Analogieschreibung :  wie  im  Mask.  neben  der  längeren  (sekundären)  Form 
,^^  die  kürzere  Form  di^  stand,  so  bildete  man  auch  im  Fem.  zu  der  län- 
geren (sekundären)  Form  ^^^  eine  kürzere  ^^^.  Ähnlich  unterscheiden  die 
Araber  durch  abnorme  Hinzufügung  der  Lesemutter  ^^\  „diese"  von  ^\  „zu", 
,_^  „'Amr"  von  _^  „'Omar". 

2)  Prophetae  posteriores  düigenter  revisi  juxta  Massorah  atque  editiones 
principes  cum  variis  lectionibus  e  mss.  atque  antiquis  versionibus  collectis  a  C. 
D.  Ginsburg,  Lond.  1911. 

22* 


318  Alfred  Rahlfs, 

und  die  volleren  Schreibungen,  die  wir  jetzt  im  Buche  Jesaia  fin- 
den, gehören  erst  den  späteren  Abschreibern  an,  die  entsprechend 
dem  Brauche  ihrer  Zeit  viele  früher  defektiv  geschriebenen  Wörter 
plene  schrieben.  Solche  E-eno vier un gen  der  Orthographie  von  Lite- 
raturwerken kommen  ja  auch  heutzutage  fortwährend  vor.  Selbst 
Ausgaben  von  Groethes  Werken  pflegen,  wenn  sie  nicht  für  speziell 
gelehrten  Gebrauch  bestimmt  sind,  nicht  mehr  in  der  Orthographie 
seiner  uns  doch  noch  gar  nicht  so  fern  liegenden  Zeit  gedruckt 
zu  werden,  sondern  in  der  jetzt  üblichen  Orthographie.  Dabei  ist 
aber  ein  bedeutsamer  Unterschied  zu  beachten.  Goethes  Werke 
kann  jeder  geschulte  Setzer  mit  Hilfe  des  Duden,  der  über  die 
zu  wählende  Schreibung  fast  nirgends  im  Zweifel  läßt,  in  die  heu- 
tige Orthographie  übertragen.  Dagegen  ist  die  hebräische  Ortho- 
graphie gerade  in  der  Setzung  der  Lesemütter  nie  zu  einer  so 
strengen  Regelung  gekommen.  Daher  ist  die  an  sich  schon  mit 
der  Entstehung  der  Lesemütter  gegebene  Inkonsequenz  durch  in- 
konsequente Renovierung  der  Orthographie  der  alttestamentlichen 
Schriften  noch  gesteigert. 

Aber  wenn  auch  in  weitem  Umfange  die  Willkür  der  Ab- 
schreiber maßgebend  gewesen  ist,  so  ist  doch  keineswegs  alles  von 
ihr  abhängig  gewesen.  So  sehr  auch  die  Abschreiber  in  dem  oben 
angeführten  Beispiele  aus  Jes.  10 13  hinsichtlich  der  Schreibung 
von  ü  und  ö  in  ''n(1)D(1jn:  auseinander  gehen,  so  stimmen  sie  doch 
alle  in  dem  schließenden  "<  überein.  Und  während  wir  bei  ü  und 
ö  das  Gefühl  haben,  daß  keine  der  vorkommenden  Schreibungen 
unbedingt  den  Vorzug  verdient  oder  schlechterdings  zu  verwerfen 
ist,  empfinden  wir  bei  dem  auslautenden  «  sofort,  daß  dieses  in 
der  Tat  unbedingt  plene  geschrieben  werden  muß ;  n^ViD^ljDS  ohne 
•^  würde  für  das  Alte  Testament  entweder  eine  ganz  abnorme, 
geradezu  fehlerhafte  Schreibung  oder  eine  andere  Form  sein. 

Daß  bei  aller  Willkür  doch  gewisse  Regeln  herrschen,  ist 
natürlich  den  Grammatikern  nicht  entgangen.  Ganz  richtig  be- 
merkt z.B.  Ges.  §7.(7,  daß  „der  auslautende  lange  Vokal  mit  sehr 
wenigen  Ausnahmen  durch  einen  Vokalbuchstaben  angedeutet  wird". 
Aber  für  das  Verständnis  dieser  und  ähnlicher  Erscheinungen  ist, 
soweit  ich  sehe,  erst  wenig  getan.  Und  doch  läßt  sich,  wie  ich 
glaube,  hier  noch  manches,  namentlich  mit  Hilfe  der  Inschriften '), 

1)  Ich  zitiere  in  der  Hegel  nur  die  Mesainschrift  und  die  Siloahinschrift 
auRdrücklich.  Für  die  idiönizischcn  Inschriften  stütze  ich  mich  auf  die  gramma- 
tisch-lexikalischen Zusammenstellungen  von  Schröder  und  Lidzbarski.  Die  ara- 
mäischen Inschriften  ziehe  ich  in  der  Regel  nicht  heran,  da  es  mir  nicht  auf 
Vollständigkeit  ankommt  und  sie  gewöhnlich  nichts  Neues  lehren. 


Zar  Setzung  der  Lesemütter  im  Alten  Testament.  319 

historisch  verstehen.    Ich  will  dies  an  einigen  besonders  wichtigen 
Punkten  za  zeigen  versuchen. 


Kapitel  2. 
Lesemütter  am  Wortende. 

Nicht  nur  die  Hebräer  deuten  gerade  den  auslautenden  Vokal 
besonders  häufig  durch  eine  Lesemutter  an.  sondern  auch  auf  der 
Mesainschrift  finden  sich  die  meisten  Lesemütter  am  Wertende^), 
und  ebenso  kommen  bei  den  Phöniziern  die  ziemlich  spärlichen 
Lesemütter,  wie  schon  Schröder  S.  118  bemerkt  hat,  „für  gewöhn- 
lich nur  im  Auslaut  der  Wörter  vor".  Diese  Übereinstimmung 
läßt  auf  einen  tiefer  liegenden  Grund  schließen.  Um  ihn  zu  er- 
mitteln, müssen  wir  uns  die  Fälle,  in  welchen  am  "Wortende  plene 
geschrieben  wird,  genauer  ansehen.  Dabei  machen  uns  aber  die 
Inschriften  insofern  Schwierigkeiten,  als  wir  ja  keine  Überlieferung 
über  die  bei  ihnen  zu  ergänzende  Vokalisation  besitzen  und  die 
jetzige  Vokalisation  des  Alten  Testamentes,  welche  nicht  einmal 
die  althebräische  Aussprache  ganz  unverändert  wiedergibt,  erst 
recht  nicht  ohne  weiteres  auf  die  verwandten  Dialekte  übertragen 
dürfen.  Hier  bedarf  es  also  besonderer  Vorsicht,  und  gewisse 
Punkte  werden  naturgemäß  unsicher  bleiben.  Immerhin  aber  läßt 
sich  doch  mit  Hilfe  der  vergleichenden  Sprachwissenschaft  und 
durch  Beobachtung  der  Schreibung  verwandter  oder  ähnlicher  For- 
men ein  hinreichend  sicheres  Fundament  gewinnen. 

Für  das  Phönizische  führt  Schröder  S.  118 f.  außer  ein- 
zelnen plene  geschriebenen  Wörtern,  die  ich  als  nicht  sicher  ver- 
wendbar beiseite  lasse,  drei  häufig  wiederkehrende  Endungen  an: 
1)  die  Nisbe-Endung,  2)  das  Pronomen  suffixum  der  1.  Pers.  Sing, 
in  Verbindung  mit  einem  Nomen.  3)  das  Pronomen  suffixum  der 
3.  Pers.  Sing.  Mask.  und  Fem.  in  Verbindung  mit  einem  Nomen 
oder  einem  Verbum.  Alle  diese  Endungen  werden  im  Phönizischen 
ohne  jeden  Unterschied  durch  ein  i-  angezeigt,  nur  ,.im  Dialekt 
von  Byblus"  heißt  das  Suffix  der   3.  Pers.  Sing,   im  Mask.  ^- ,   im 


1)  Im  Wortinneren  kommen  Lesemütter  nur  da  vor,  wo  ursprünglich  der- 
selbe Buchstabe  als  Konsonant  gestanden  hat,  z.  B.  in  niT^aa  „in  seinem  Hause" 
Z.  25  (s.  oben  S.  316).  Ursprüngliche  einfache  Vokale  werden  nur  am  Wortende 
durch  Lesemütter  angezeigt,  z.  B.  in  der  L  Pers.  Sing.  Perf.  TSbo  „ich  wurde 
König"  u.  dgl.  (s.  unten  S.  323).  Beim  Antritt  eines  Suffixes  wird  aber  auch 
diese  Form  nicht  mehr  plene  geschrieben:  Z.  17  nm2"inn  „ich  weihte  sie". 


320  Alfred  Rahlfs, 

J^'em.  n-  %  s.  Lidzb.  S.  395  f.  404  (S5-  als  Zeichen  der  3.  Pers.  Sing, 
kommt  nur  im  Punischen  vor). 

Die  Nisbe-Endung,  für  welche  Lidzb.  S.  398  viele  Beispiele 
beibringt,  lantete  ursprünglich  -ij  {-ijj).  Im  Hebräischen  ist  -ij 
{-ijj)  am  Wortende  und  vor  der  Femininendung  -t  stets  zu  -i  ge- 
worden, und  auch  im  Inlaut  ist  es  mit  dem  -?-  der  Pluralendung 
des  Mask.  gewöhnlich  zu  einem  einzigen  -«-  zusammengeschmolzen, 
z.B.  '''^ny  „Hebräer",  D^iW,  r\^yüiya  „Moabiterin''  (ni-iSS;  kommt, 
wohl  zufällig,  nicht  vor).  Dagegen  hat  sich  -ij  {-ijj)  im  Hebräi- 
schen stets  vor  einer  vokalisch,  aber  nicht  mit  -i-  beginnenden 
Endung  und  gelegentlich  auch  vor  -i-  gehalten :  n^iS^ ,  ri'i'^nay , 
D"<''"iny.  Die  Phönizier  schreiben  nicht  nur  das  Fem.  ns^S  „Sido- 
nierin",  sondern  auch  den  sehr  oft  vorkommenden  Plur.  Mask.  D312 
mit  Ausnahme  einer  einzigen  Inschrift  stets  defektiv  (Lidzb.  S.  356), 
haben  also  das  ursprüngliche  -ij-  in  diesen  Formen  fragelos  ebenso 
zum  reinen  Vokal  -i-  gemacht  wie  die  Hebräer.  Daher  ist  es  so 
gut  wie  sicher,  daß  sie  ''-  auch  im  Sing.  Mask.  i3lS  rein  vokalisch 
gesprochen  haben,  zumal  der  ursprüngliche  Konsonant  -;'  gerade 
am  Wortende  besonders  leicht  schwinden  konnte.  Konsonantische 
Aussprache  des  ''-  in  ^T\,1  wäre  nur  dann  erklärlich,  wenn  die 
Phönizier  noch  die  alten  Kasusendungen  bewahrt  hätten.  Aber 
gewiß  mit  Recht  sagt  Schröder  S.  177 :  „Den  lebendigen  Gebrauch 
von  Casusendungen,  wie  er  dem  Altarabischen  eigen  ist,  kennt  das 
Phönizische  in  der  Zeit,  aus  welcher  die  uns  vorliegenden  Texte 
stammen,  ebensowenig  mehr,  als  die  Sprache  des  alten  Testamentes". 

Das  Pronomen  suffixum  der  3.  Pers.  Sing,  hieß  ursprünglich 
im  Mask.  -hu  oder  -/w,  im  Fem.  -ha.  Historisch  ist  also  die  Schrei- 
bung beider  Suffixe  mit  n-,  die  wir  im  Moabitischen  finden  werden 
(s.  unten  S.  321  f.).  Im  Phönizischen  kommt  diese  historische  Schrei- 
bung nur  noch  im  Dialekt  von  Byblus  vor  und  zwar  nur  boira 
Femininum.  Das  Mask.  wird  in  jenem  Dialekt  mit  V,  beide  Ge- 
schlechter im  übrigen  Phönizischen  mit  ''-  geschrieben.  Das  setzt 
voraus,  daß  die  Phönizier,  wie  z.  T.  auch  die  Hebräer,  das  -h-  der 
ursprünglichen  Formen  verloren  hatten.  Dann  werden  sie  aber 
auch  wie  die  Hebräer  bei  einem  Nomen  im  Singular  ursprüngliches 
-a-hu  zu  -ö,  resp.  -a-hi  zu  -e  zusammengezogen  haben  (vgl.  Schröder 
S.  147  f.),  so  daß  1-  und  "i-  hier  bloße  Lesemütter  sind. 

Das  Pronomen  suffixum  der  1.  Pers.  Sing,  am  Nomen  hieß 
ursemitisch  -ja,    später   in  Verbindung  mit   einem   singularischen 


1)  Ob  das  Nomen,  an  welches  das  Suffix  antritt,  im  Sing,  oder  Plur.  steht, 
kommt  in  diesem  Dialekt  ebensowenig  wie  im  übrigen  Phönizischen  zum  Ausdruck. 


Zur  Setzung  der  Lesemütter  im  Alten  Testament.  321 

Nomen  meistens  -/.  Auch  die  Punier  sprachen  nach  Plautus  -i 
(oder  -e),  s.  Schröder  S.  145.  Daß  die  Phönizier  ebenso  gesprochen 
haben,  läßt  sich  nicht  beweisen,  ist  aber  sehr  wahrscheinlich. 

Aber  weshalb  haben  nun  die  Phönizier  gerade  für  die  Nisbe- 
Enduno:  und  die  Pronomina  suffixa  gegen  ihre  sonstige  Gewohnheit 
Lesemütter  verwendet  ?  Ich  glaube :  deshalb,  weil  das  Verständnis 
des  Geschriebenen  sonst  gar  zu  sehr  erschwert  worden  wäre.  Denn 
mit  diesen  Endungen  stand  es  doch  anders  als  mit  den  vokalischen 
Ausgängen  der  Nominal-  und  Verbalflexion,  die,  wie  wir  oben 
S.  316  sahen,  unbezeichnet  blieben.  Bequem  war  es  ja  auch  nicht, 
daß  in  „Sohn"  und  „Söhne",  „er  baute"  und  »sie  bauten"  heißen 
konnte;  aber  ob  an  der  betreffenden  Stelle  ein  Nomen  oder  Ver- 
bum  zu  erwarten  sei,  und  ob  dieses  Nomen  oder  Verbum  im  Sin- 
gular oder  Plural  stehen  müsse,  konnte  man  in  der  Regel  wohl 
ohne  zu  große  Mühe  aus  dem  Zusammenhange  erkennen.  Sagte 
man  aber  „sein  Sohn"  oder  „er  baute  ihn",  so  kam  zu  „Sohn" 
oder  „baute"  ein  ganz  neuer  Begriff  hinzu,  der  sich  nicht  ohne 
weiteres  ergänzen  ließ,  sondern  auch  in  der  Schrift,  wenn  sie  ver- 
ständlich bleiben  sollte,  irgendwie  zum  Ausdruck  kommen  mußte. 
Daraus  erklärt  es  sich,  daß  man  das  Pronomen  suffixum,  wo  es 
nur  noch  aus  einem  Vokal  bestand,  wenigstens  durch  eine  Lese- 
mutter andeutete.  Ahnlich  war  es  bei  der  Nisbe.  Fügte  man  zu 
pS  „Sidon"  die  Nisbe-Endung  -7  hinzu,  so  entstand  dadurch  ein 
ganz  neues  Wort,  und  dieses  mußte  man  auch  in  der  Schrift  von 
dem  Grundworte  unterscheiden.  Daher  schrieb  man  ■':":s  plene, 
aber  auch  nur  "»STS  selbst,  nicht  das  Fem,  n:'TS  und  nicht  (mit  einer 
Ausnahme)  den  Plnr.  Mask.  d:"2,  da  diese  Formen  sich  schon  durch 
ihr  n-  oder  C-  von  p2  unterschieden. 

Sonst  erwähne  ich  noch  das  Wort  ''tn  „Hälfte",  welches  nach 
allem,  was  wir  sonst  vom  Phönizischen  wissen,  gewiß  nicht  mehr 
mit  konsonantischem  "',  sondern  wohl  ähnlich  wie  das  hebr.  "'sn 
gesprochen  wurde ').  Wenn  trotzdem  die  historische  Schreibung 
mit  ■>  beibehalten  worden  ist,  so  wird  man  den  Grund  darin  suchen 
dürfen,  daß  "^ITi  „Hälfte"  sonst  mit  den,  allerdings  im  Phönizischen 
noch  nicht  sicher  belegten,  Wörtern  7n  „Pfeil"  und  fn  „Straße" 
zusammengefallen  wäre. 

Gehen  wir  sodann  zum  Moabiti sehen  über,  so  ist  zunächst 
zu  bemerken,  daß  die  Mesainschrift  im  Unterschied  vom  Phönizi- 
schen das  Pronomen   suffixum   der   3.  Pers.  Sing.  Mask.  und  Fem, 

1)  Vgl.  das  phonizische  IB  „Frucht",  welches  entweder  wie  im  Hebräischen 
•^■^B ,  oder  wie  im  Syrischen  1B  gesprochen  worden  sein  kann. 


322  Alfred  Rahlfs, 

in  Verbindung  mit  dem  Nomen  und  Verbum  stets  nach  dem  ur- 
sprünglichen Lautstande  (s.  oben  S.  320)  mit  n-  schreibt,  vgl.  z.  B. 
nn  Z.  7  „in  ihm"  und  Z.  8  u.  ö.  „in  ihr'^  nsa  Z.  6.  8  „sein  Sohn", 
nia'i  Z.  8  „seine  Tage'',  n^n^ü  Z.  22  „ihre  Tore",  r\rh^yü  ebenda 
„ihre  Türme",  nsbnil  Z.  6  „und  er  trat  an  seine  Stelle '^j  nnttinn 
Z.  17  „ich  weihte  sie".  Die  entsprechenden  hebräischen  Formen 
werden  z.  T.  noch  wirklich  mit  konsonantischem  n-  gesprochen, 
und  auch  die  Moabiter  werden  wohl  noch  in  manchen  Fällen  den 
Konsonanten  n-  bewahrt  haben;  auch  tra'^  „seine  Tage"  =  hebr. 
1112^  mag  etwa  H'a';  gesprochen  worden  sein,  vgl.  im  Hebräischen 
Nah.  24  ini'iiiia  „seine  Helden",  Hab.  3io  ^n^l^  „seine  Hände",  Hiob 
2423  irr^r?  »seine  Augen".  Ob  n-  aber  überall  noch  Konsonant 
war,  oder  ob  etwa  nsa  „sein  Sohn"  wie  hebräisches  133  gesprochen 
wurde,  ist  eine  Frage,  die  sich  nicht  beantworten  läßt. 

Im  übrigen  finden  sich  die  oben  aus  dem  Phönizischen  ange- 
führten Pleneschreibungen  genau  so  auch  auf  der  Mesainschrift. 
Die  Nisbe- Endung  liegt  vor  in  'isa^l  „Daibonit"  Z.  1/2,  das  Pro- 
nomen suffixum  der  1.  Pers.  Sing,  am  Nomen  in  "iDSi  „mein  Vater" 
Z.  2.  3,  ^b  „mir"  Z.  14.-  32  u.  dgl. ;  das  Wort  -»sn  „Hälfte"  findet 
sich  in  Z.  8.  Leider  läßt  sich  jedoch  über  die  wirkliche  Aussprache 
auch  in  diesen  Fällen  nichts  Sicheres  ausmachen ,  da  uns  hier  In- 
dizien, wie  sie  im  Phönizischen  vorhanden  waren,  fehlen. 

Außerdem  aber  hat  die  Mesainschrift  Pleneschreibung  auch 
noch  in  anderen  Fällen,  wo  die  Phönizier  defektiv  schreiben,  oder 
die  betreffenden  Formen  im  Phönizischen  noch  nicht  nachgewiesen 
sind.  Darunter  finden  sich  allerdings  wiederum  mehrere  Fälle,  in 
welchen  die  wirkliche  Aussprache  nicht  sicher  festzustellen  ist, 
nämlich  das  Pronomen  suffixum  der  1.  Pers.  Sing,  am  Verbum  ■>;- 
(Z.  4  isyon  „er  rettete  michf  und  ''jSnn  „er  ließ  mich  sehen"),  ur- 
sprünglich wohl  -n/ja,  phönizisch  ]-  geschrieben;  die  Endung  des 
Stat.  constr.  im  (Dual  und)  Plural  des  Mask.  ">-  (Z.  8  "»«^  „Tage", 
13.  18  "^SD  „Gresicht"  u.  dgl.),  ursprünglich  -aj,  phönizisch  überhaupt 
nicht  geschrieben;  die  Partikel  "^D  „daß,  denn"  Z.  4  u.  ö-,  ursprüng- 
lich vielleicht  mit  konsonantischem  -;",  vgl.  arab.  ^S  (Brock.  S.  74), 
phönizisch  D;  auch  der  Imperativ  ItDS'  „macht"  Z.  24,  bei  welchem 
trotz  des  hebräischen  itüV  diphthongische  Aussprache  nach  Ana- 
logie des  syrischen  oäJ  nicht  ganz  ausgeschlossen  wäre  (im  Phöni- 
zischen kommt  nach  Lidzb.  S.  401  ff",  kein  Imperativ  vor,  doch  wird 
das  Perf.  „sie  bauten",  hebr.  123,  bloß  p  geschrieben).  Aber  an- 
drerseits gibt  es  doch  auch  im  Moabitischen  einige  Fälle,  in  welchen 
sich  auf  Grund  verschiedener  Erwägungen  mit  großer  Sicherheit 
behaupten  läßt,  daß  es  sich  nur  um  Lesemütter  handeln  kann. 


Zar  Setzung  der  Lesemütter  im  Alten  Testament.  323 

Der  erste  und  wichtigste  Fall  ist  die  auf  der  Mesainschrift 
häufig  vorkommende  1.  Pers.  Sing.  Perf. ,  die  am  Schlüsse  stets 
mit  ■'-  geschrieben  wird,  vgl.  z.  B.  '>r35'D  „ich  wurde  König'  Z.  2/3, 
•^r:!  „ich  baute"  Z.  21  ff.  =  hebr.  TiiIS.  Die  Endung  dieser  Yer- 
balform  lautete  in  den  verschiedenen  semitischen  Dialekten  ver- 
schieden :  -Tcu,  -tu,  -ti  (Brock.  §  262  e),  ging  aber  in  allen  auf  einen 
Vokal  aus.  Daß  die  Moabiter  hier  im  Gegensatz  zu  allen  übrigen 
Semiten  einen  Konsonanten  ">-  gehabt  haben  sollten,  ist  schlechthin 
unglaublich;  auch  wird  in  Z.  17,  wo  an  die  1.  Pers.  Sing.  Perf. 
noch  ein  Pronomen  suftixum  angehängt  ist,  defektiv  nn'Qinn  „ich 
weihte  sie"  geschrieben.  In  diesem  Falle  wird  also  ■^-  sicher  nur 
ein  Zeichen  für  den  Vokal  -i  sein.  Das  Vorhandensein  einer  solchen 
Vokalbezeichnung  setzt  aber  voraus,  daß  vorher  schon  in  anderen 
Fällen  ein  ursprünglich  konsonantisches  "«-  in  den  Vokal  -i  über- 
gegangen war ;  denn  nur  wenn  dieser  Übergang  schon  öfter  statt- 
gefunden hatte,  erklärt  es  sich,  daß  man  '^-  als  Zeichen  für  -i  be- 
trachtete und  nach  der  Analogie  auch  da  schrieb,  wo  von  Haus 
aus  kein  Konsonant  "^  gestanden  hatte.  Hieraus  können  wir  weiter 
schließen,  daß  i-  auch  in  mehreren  der  vorher  angeführten  Fälle, 
bei  denen  an  sich  nichts  Sicheres  über  die  Aussprache  zu  ermitteln 
war,  bloßes  Vokalzeichen  ist.  Speziell  wird  diese  Annahme  er- 
laubt sein  für  die  Pronomina  suffixa  der  1.  Pers.  Sing,  "i-  in  "^nK 
„mein  Vater"  etc.  und  "*>  in  i:yün  „er  rettete  mich"  etc.  Denn 
die  Suffixe  ^-  und  ■>:-  und  die  Verbalendung  Ti-  stimmen  nicht  nur 
im  Ausgang  auf  -i  überein,  sondern  sind  auch  sachlich  verwandt, 
da  sie  alle  drei  die  1.  Pers.  Sing,  bezeichnen.  Je  näher  aber  die 
Verwandtschaft  ist,  desto  leichter  kommt  es  zu  Analogiebildungen 
und  auch  zu  Analogieschreibungen.  Daher  darf  man  geradezu  an- 
nehmen, daß  die  Schreibung  T-  durch  die  Analogie  von  "*-  und 
i;-  veranlaßt  ist. 

Zwei  andere  Fälle  liegen  vor  in  n:n  „er  baute"  Z.  18  und 
nbb  „Nacht"  Z.  15.  Bei  beiden  läßt  sich  mindestens  mit  Sicher- 
heit behaupten,  daß  n-  kein  aus  der  Urzeit  stammender  Konsonant 
ist.  Die  Verba  n"'5  hatten  als  letzten  Radikal  ursprünglich  ic  oder 
;■;  mit  "-  schrieb  man  sie  erst,  nachdem  der  letzte  Radikal  fort- 
gefallen war.  In  nbb  wäre  n-  nach  der  hebräischen  Punktation 
tiyo  (mit  Ton  auf  der  ersten  Silbe)  fossile  Akkusativendung.  Ur- 
sprünglich hat  es  aber  vielleicht  nb'^b  =  syr.  u^..^  (^'gl«  den  arab. 

Plur.  JLJ)  geheißen,  s.  (xesenius-Buhl,  Hebr.  u.  aram.  Handwörter- 
buch s.  V.  Auf  jeden  FaU  wird  n-  auch  hier  jüngeren  Datums 
sein.    Selbst  wenn  die  Akkusativenduaff  in  der  Urzeit  -hä  srelautet 


324  Alfred  Rahlfs, 

haben  sollte  (vgl.  Brock.  §  245  a),  dürfen  wir  diese  Urform  für  das 
Moabitische  wohl  sicher  nicht  mehr  zugrunde  legen. 

Über  die  Entstehung  der  Lesemutter  n-  wird  beim  Hebräi- 
schen ausführlicher  zu  handeln  sein  (s.  unten  S.  329  f.).  Hier  sei 
nur  bemerkt,  daß  die  von  Brock.  S.  409  Anna.  1  vertretene  Her- 
leitung dieser  Lesemutter  von  der  Femininendung  des  Nomens  ge- 
rade durch  das  Moabitische  widerlegt  wird.  Denn  wenn  Brock, 
sich  zum  Beweis  für  seine  Annahme  auf  das  Phönizische  beruft, 
welches  noch  die  alte  Femininendung  n-  erhalten  hat  und,  wie 
Brock,  meint,  aus  diesem  Grunde  auch  noch  keine  Lesemutter  n- 
kennt,  so  hat  er  dabei  übersehen,  daß  das  Moabitische  genau  so 
wie  das  Phönizische  noch  die  Femininendung  n-  hat  und  trotzdem 
in  nsn  und  nbb  schon  n-  als  Lesemutter  verwendet.  Von  wo  solche 
Schreibungen  wie  nsi  und  nbb  in  Wirklichkeit  ausgegangen  sind, 
können  wir  nicht  sicher  feststellen  und  infolgedessen  auch  keine 
weiteren  Schlüsse  aus  ihnen  ziehen. 

Wir  haben  gesehen,  daß  ">-  und  n-  auf  der  Mesainschrift  in 
gewissen  Fällen  Lesemütter  sind,  und  müssen  nun  die  Frage  auf- 
werfen: Was  veranlaßte  die  Moabiter  zur  Setzung  dieser  Lese- 
mütter? Hier  lautet  die  Antwort  ebenso  wie  früher  bei  den  phö- 
nizischen  Plenesehreibungen :  die  Rücksicht  auf  das  Verständnist 
Man  schrieb  die  1.  Pers.  Sing.  Perf.,  z.  B.  inDbia ,  mit  ">- ,  um  sie 
von  der  2.  Pers.  Mask.  und  Fem.,  hebr.  PS^'a  und  Tdyn,  zu  unter- 
scheiden. Man  charakterisierte  die  Verba  n"b ,  die  bei  streng  pho- 
netischer Schreibung  in  vielen  Formen  mit  den  Verbis  Y'y,  i"3?  und 
y"?  zusammenfielen,  durch  die  Hinzufügung  des  n-.  Man  unter- 
schied nbb   durch   das  n-   von   der   kürzeren  Form,    die   im  Hebr» 

b'b,  im  Arab.  J»aJ  heißt.  Ebenso  wie  diese  Fälle,  in  welchen  es 
sich  sicher  oder  höchst  wahrscheinlich  um  bloße  Lesemütter  handelt, 
lassen  sich  aber  auch  die  übrigen  Fälle  erklären,  bei  welchen  die 
Möglichkeit  konsonantischer  Aussprache  an  sich  nicht  ausgeschlossen 
war.  Daß  man  die  Nisbe-Endung  und  das  Pronomen  suffixum  der 
1.  Pers.  Sing,  am  Nomen  mit  "-  schreiben  mußte,  weil  sie  sonst 
in  der  Schrift  überhaupt  nicht  zum  Ausdruck  gekommen  wären, 
und  daß  man  "^in  zum  Unterschied  von  yn  und  yn  plene  schrieb, 
haben  wir  schon  beim  Phönizischen  gesehen.  Analoge  Rücksichten 
auf  das  Verständnis  können  auch  für  die  übrigen  Plenesehreibungen 
des  Moabitischen  maßgebend  gewesen  sein.  Das  Pronomen  suffixum 
der  1.  Pers.  Sing,  am  Verbum  "i:-  fiel,  nach  phönizischer  Weise 
bloß  "}-  geschrieben,  mit  dem  Suffix  der  1.  Pers.  Plur.  13-  zusammen. 
Ließ   man   die   Endung   des   Stat.  constr.   im  Dual  und  Plur.   des 


Zur  Setzung  der  Lesemütter  im  Alten  Testament.  325 

ATask.  ■^-  fort,  so  war  der  Dnal  und  Plur.  nicht  vom  Sing,  zu  un- 
terscheiden. "^D  »daß,  denn",  defektiv  geschrieben,  fiel  mit  D  »w^ie" 
zusammen.  Und  im  Imperativ  hätten  bei  streng  phonetischer 
Schreibung  die  drei  Formen  TWS ,  "'TB? ,  ^TOV  ganz  gleich  ausgesehen. 
Hierdurch  wird  es  wahrscheinlich,  daß  es  sich  auch  in  diesen  Fällen 
—  ebenso  wie  im  Hebräischen,  das  ja  mit  dem  Moabitischen  eng 
verwandt  ist  —  in  der  Tat  nur  noch  um  Lesemütter,  nicht  mehr 
um  wirklich  ausgesprochene  Konsonanten  handelt.  Und  dafür 
spricht  auch  die  Beobachtung,  daß  das  Moabitische  im  Inneren  der 
Wörter,  wie  besonders  n55  „Nacht"  Z.  15  =  hebr.  ro"^^  und  "jr«^ 
„zweihundert"  Z.  20  =  hebr.  O'^rs^'C  beweisen,  sogar  schon  mehr 
alte  Konsonanten  verloren  hat  als  das  Hebräische. 

Anhangsweise  sei  hier  noch  das  Pronomen  separatum  der  1. 
Pers.  Sing,  erwähnt,  welches  auf  der  Mesainschrift  stets  i:x  ohne 
■1-  geschrieben  wird  (Z.  1.  2.  216*.).  Zu  dieser  Schreibung  bemerkt 
M.  Lidzbarski,  Altsemitische  Texte  1  (1907),  S.  5  in  Übereinstim- 
mung mit  Th.  Nöldeke  (Die  Inschrift  des  Königs  Mesa  von  Moab 
[1870],  S.  33)  und  anderen  Forschern:  „TX,  wahrscheinlich  ohne 
auslautendes  i  gesprochen,  da  dieses  in  der  Mesainschr.  ausge- 
schrieben wird  ("»a» ,  Tsbtt)".  Aber  wenn  man  auch  bei  der  De- 
fektivschreibung i:k  naturgemäß  nicht  sicher  behaupten  kann,  daß 
die  Moabiter  das  auslautende  -i  noch  bewahrt  hatten,  so  darf  man, 
glaube  ich,  aus  ihr  noch  viel  weniger  den  Schluß  ziehen,  daß  die 
Moabiter  das  -i  verloren  hatten.  Denn  der  Fall  liegt  bei  TK  ganz 
anders  als  bei  "i^S  und  TObTS.  Diese  mußte  man  plene  schreiben, 
weil  sie  sonst  nicht  von  as  „Vater"  und  ra^'a  „da  wurdest  König" 
zu  unterscheiden  waren.  Defektiv  geschriebenes  ^:s  dagegen  konnte 
höchstens  mit  ^IS  ,,Blei"'  verwechselt  werden ;  eine  solche  Ver- 
wechselung war  aber  wohl  stets  schon  durch  den  Zusammenhang 
ausgeschlossen.  Daher  war  hier  die  Hinzufügung  einer  Lesemutter 
gar  nicht  nötig,  und  so  ist  es  nicht  zu  verwundern,  daß  auch  im 
Phönizischen  und  im  Altaramäischen  (Hadadinschrift  Z.  1)  1:S5  ge- 
schrieben wird  ^).  Umgekehrt  muß  es  eher  auflPallen,  daß  daneben 
im  Altaramäischen  (Panammuinschrift  Z.  19)  und  sogar  im  Phöni- 
zischen (s.  Lidzb.  S.  2*22)  die  Pieneschreibung  i-:s5  vorkommt.  Und 
diese  Tatsache  beweist  doch  wohl  zur  Grenüge,  daß  auch  die  alten 
Aramäer  und  die  Phönizier  trotz  der  Defektivschreibung  das  alte 
-i   bewahrt   hatten^).     Daher   glaube  ich,    daß   auch  die  Moabiter 

1)  Hierzu  führt  mir  K.  Sethe  eine  ägyptische  Parallele  an:  „Das  Ägyptische 
schreibt  das  Aleph  prostheticum  nie  bei  Formen  mit  Gemination,  weil  es  bei 
diesen  zur  Erkennung  der  Formen  nicht  nötig  war". 

2)  M.   Lidzbarski,   Altsemitische   Texte  1    (1907),    S.  12  schließt  aus  dem 


326  'Alfred  Rahlfs, 

*'Dbb5  gesprochen  und  zu  12«  nur   deshalb   keine  Lesemutter   hinzu- 
gefügt haben,  weil  13S  ohnehin  deutlich  genug  war. 

Im  Hebräischen  müssen  alle  auslautenden  Vokale  außer 
■ä  stets  plene  geschrieben  werden.  Die  Lesemütter  sind  wie  im 
Moabitischen  1-,  ">-  und  n-;  daneben  kommt  S?-  als  quieszierender 
Buchstabe  vor,  jedoch  mit  verschwindenden  Ausnahmen  nur  in 
Fällen,  wo  ursprünglich  ein  Konsonant  S-  gestanden  hatte,  so  daß 
wir  hier  von  ihm  absehen  können.  Die  Lesemütter  verteilen  sich 
auf  die  verschiedenen  vokalischen  Ausgänge  in  folgender  Weise: 
-U  und  -I  stets  ■=!-  und  ''-7- 

-ö  und  -e  entweder  i-  und  "^-^j  oder  fC —  und  H-;;- 
-a  und  -^  stets  n^^  und  H-^,  falls  -ä  nicht  unbezeichnet 
bleibt. 
Darin,  daß  alle  auslautenden  Vokale  außer  -ä  stets  bezeichnet 
werden  müssen,  so  daß  also  hier  z.  B.  auch  nicht  mehr  i:i5,  sondern 
nur  "»DIS?  erlaubt  ist,  läßt  sich  eine  gewisse  Systematisierung  nicht 
verkennen.  Doch  ist  dieselbe  gar  nicht  so  künstlich  ,  wie  sie  auf 
den  ersten  Blick  erscheinen  könnte,  sondern  fast  mit  Naturnot- 
wendigkeit aus  dem  Zusammenwirken  zweier  Tendenzen,  die  wir 
bereits  kennen  gelernt  haben,  erwachsen,  nämlich  1)  dem  konser- 
vativen Zuge  der  hebräischen  Orthographie,  2)  der  Rücksicht  auf 
die  Verständlichkeit  des  Greschriebenen.  Ich  werde  dies  im  ein- 
zelnen zu  zeigen  versuchen  und  beginne  dabei  mit  der  Bezeich- 
nung von  -ü  und  -i  durch  1-  und  '^-. 

Der  konservative  Zug  der  hebräischen  Orthographie  zeigt  sich, 
wie  schon  S.  316  bemerkt,  darin,  daß  die  alten  Konsonanten  1  und 
"i  in  der  Regel  auch  da  beibehalten  sind,  wo  sie  in  der  Aussprache 
geschwunden  waren  und  nur  noch  ein  Vokal  übriggeblieben  war. 
Besonders  streng  ist  diese  Praxis  am  Wortende  durchgeführt.  Das 
erklärt  sich  daraus,  daß  1  und  "^  gerade  am  Wortende  für  das 
Verständnis  besonders  wichtig  waren.  Denn  in  der  Regel  handelte 
es  sich  hier  entweder  um  kurze  Wörter  wie  ^nn  „Wüstenei",  i» 
„oder",  "inö  ,, Frucht",  "'ly  „arm",  '^n')  „er  werde",  oder  um  Endun- 
gen, welche  wie  die  Nisbe-Endung  -l,  das  Nominalsuffix  der  1.  Pers. 
Sing,  -l  und  die  Endung  des  Stat.  constr.  im  Dual-Plural  des  Mask. 
-e  jetzt  nur  noch  aus  einem  Vokal  bestehen.    Jene  kurzen  Wörter 


Vorkommen  der  beiden  Schreibungen  "^SK  und  ''SSS  im  Phönizischen  auf  einen 
dialektischen  Unterschied.  Ich  halte  es  für  wahrschcinliclier,  daß  es  sich  nur  um 
einen  orthographischen  Unterschied  handelt,  ebenso  wie  im  Altaramäischen ,  wo 
der  Vater  Panammu  (in  der  Hadadinschrift)  ^DS ,  der  Sohn  Barrekub  dagegen  (in 
der  Panaramuinschrift)  "^DDS  schreibt. 


Zur  SetztiDg  der  Lesemütter  im  Alten  Testament.  327 

wären  bei  defektiver  Schreibung  gar  zu  nnkenntlicb  geworden  und 
auch  oft  mit  anderen  Wörtern  zusammengefallen,  z.  B.  '^"'S  ,, Frucht' 
mit  IE  „junger  Stier'',  "^I^  „arm"  mit  y^7  „Auge"  u.  dgl.  (vgl.  das 
oben  S.  321  über  isn  „Hälfte"  Bemerkte).  Die  nur  noch  aus  einem 
Vokal  bestehenden  Endungen  aber  wären  bei  Defektivschreibung 
überhaupt  nicht  zum  Ausdruck  gekommen  und  werden  ja  deshalb, 
wie  wir  sahen,  sogar  im  Phönizischen  z.  T.  plene  geschrieben. 

Aber  die  Hebräer  sind  nun  nicht  dabei  stehen  geblieben,  die 
aus  der  Urzeit  überlieferten  V  und  "'-  zu  konservieren,  sondern 
haben  diese  Buchstaben  auch  da,  wo  ursprünglich  kein  Konsonant 
"-  oder  1-  vorhanden  gewesen  war,  als  Lesemütter  hinzugefügt, 
und  zwar  nicht  bloß  gelegentlich  wie  die  Phönizier  und  Moabiter, 
sondern  überall,  wo  ein  Wort  auf  -ü  oder  -l  ausging.  Indessen 
ist  auch  für  diese  Verwendung  von  "i-  und  •'-  als  bloßer  Lesemütter 
in  der  Regel  die  Rücksicht  auf  das  Verständnis  maßgebend  ge- 
wesen. Es  gab  im  Hebräischen  viele  Fälle,  in  welchen  ähnliche 
Formen  sich  nur  dadurch  unterschieden,  daß  die  eine  auf  -ü  oder 
-T,  die  andere  auf  einen  anderen  Vokal  oder  vokallos  ausging. 
Hätte  man  hier  nun  bloß  die  Konsonanten  geschrieben,  so  würden 
diese  Formen  in  der  Schrift  ganz  zusammengefallen  sein.  Daher 
zeigte  man  das  aaslautende  -ü  oder  -?  durch  V  oder  ^-  an.  Fol- 
gende Fälle,  in  welchen  wir  mit  Sicherheit  anndimen  können,  daß 
ursprünglich  kein  Konsonant  1-  oder  ■>-,  sondern  nur  ein  Vokal 
vorhanden  gewesen  ist,  kommen  hier  in  Betracht. 

Das  Pronomen  personale  separatum  der  2.  Pers.  Sing,  hieß 
ursprünglich  im  Mask.  \i)da ,  im  Fem.  "anti.  Das  Mask.  wird  im 
Alten  Testamente  gewöhnlich  nn»  geschrieben  (vgl.  unten  S.  338. 
341  f.),  das  Fem.  dagegen  zuweilen  TS  (Ges.  §  32/<),  also  mit  ">-  für 
-i  zur  Unterscheidung  vom  Maskulinum  (vgl.  oben  S.  317  Anm.  1\ 
Gewöhnlich  allerdings  fehlt  '^-,  da  das  Fem.  seinen  auslautenden 
Vokal  früh  verloren  hat;  und  auch  da,  wo  TÄ  geschrieben  ist, 
hat  das  Q^re  es  in  rs  korrigiert. 

Im  Pronomen  personale  suffixum  hießen  die  entsprechenden 
Formen  der  2.  Pers.  Sing,  -la  und  -Jci.  Auch  hier  kommt  beim 
Fem.  gelegentlich  ^2-  vor  (Ges.  §  58^.  Qle.l)  zum  Unterschiede 
vom  Mask.  7^-  (selten  ro-).  Gewöhnlich  allerdings  fehlt  auch  hier 
das  ■^-  aus  demselben  Grunde  wie  bei  "^ns. 

Das  Pronomen  suffixum  der  3.  Pers.  Sing,  hieß  ursprünglich 
im  Mask.  -hu,  im  Fem.  -ha.  Dementsprechend  schrieb  die  Mesa- 
inschrift,  wie  wir  S.  321  f.  sahen,  für  beide  Geschlechter  stets  n-, 
und  auch  im  Althebräischen  kommt  n-  noch  zuweilen  für  das  Mask. 
vor,   z.  B.  Gen.  9  21  u.  ö.  7<^nili  (Q^re  V;nj{)  „sein  Zelt",    Exod.  3225 


328  Alfred  Rahlfs, 

nb^nö  ,,er  überließ  ihn  sich  selbst"  (Ges.  §  58*7.  91  e).  Aber  später 
haben  die  Hebräer  n-  nur  für  das  Fem.  beibehalten,  dagegen  für 
das  Mask.,  je  nachdem  es  sein  -Ji-  bewahrt  oder  verloren  hatte, 
in-  oder  1-  eingeführt,  letzteres  nicht  nur  in  io'io  „sein  Pferd", 
ib'üp  „er  tötete  ihn"  u.  dgl.  (s.  unten  S.  334).  sondern  auch  in 
^UB'a  „von  ihm",  inbi:p  „sie  tötete  ihn ^^  ^^btOj?"]  „er  wird  ihn  töten". 

Das  Pronomen  sufRxum  der  1.  Pers.  Plur.  -nu  (oder  -na  ?)  wird 
im  Phönizischen  ebenso  mit  bloßem  )-  geschrieben  wie  das  Verbal- 
suffix der  1.  Pers.  Sing,  -ni  (ursprünglich  -nija).  Die  Hebräer 
unterscheiden  1i-  und  i3-. 

Ebenso  unterscheiden  sie  durch  die  Hinzufügung  der  Lese- 
mütter ""ü  „wer?"  von  rra  „was?"  und  das  Relativpronomen  ^T 
von  HT  „dieser". 

Beim  Nomen  ist  die  alte  Grenetivendung  -i  zuweilen  noch  fossil 
erhalten.  Sie  wird  durch  "i-  angezeigt,  weil  sie  sonst  in  der  Schrift 
gar  nicht  zum  Ausdruck  käme. 

Beim  Verbum  wird  die  1.  Pers.  Sing.  Perf,,  wie  auch  im  Moa- 
bitischen (s.  oben  S.  323),  aber  nicht  im  Phönizischen  (Schröder 
S.  193.  204.  Lidzb.  S.  399  ff.),  durch  die  Pleneschreibung  ^nbt2p  von 
der  2.  Pers.  P|bp|5  und  ribt:]?  unterschieden.  Auch  die  2.  Pers.  Fem., 
die  im  Althebräischen  ebenso  wie  die  1.  Pers.  auf  -ti  ausging,  wird 
zuweilen  noch  mit  "i-  geschrieben  (Gres.  §  44//),  aber  das  Q^re  hat 
das  1-  hier  ebenso  getilgt  wie  bei  dem  entsprechenden  Pronomen 
personale  separatum  'itiN. 

Die  3.  Pers.  Plur.  Perf.  V?::]?  wird  pleno  geschrieben,  weil  sie 
sonst  mit  der  3.  Pers.  Sing,  btsp  zusammenfiele. 

Im  Imperfektum  und  Imperativ  werden  die  auslautenden  Vo- 
kale -i  und  -u  in  "'büpn ,  ^bup'; ,  ib'jpn  und  ""bi:]? ,  ibt:]?  durch  ■'-  und 
1-  angezeigt,  weil  "^btspn  und  'ibupF)  sonst  mit  bbpn,  ^bi:]?'^  mit 
biap';!,  "»bpp  und  ^bpp  mit  bbjp  zusammenfielen. 

In  allen  diesen  Fällen  erklärt  sich  die  Hinzufügung  der  Lese- 
mutter aus  dem  Streben,  die  betreffenden  Formen  von  anders  aus- 
lautenden Formen,  mit  denen  sie  sonst  in  der  Schrift  zusammen- 
fallen würden ,  zu  unterscheiden.  Nur  wenige  Fälle  bleiben  nun 
noch  übrig,  in  welchen  solche  konkurrierenden  Formen  nicht  vor- 
handen sind:  die  Pronomina  personalia  separata  "ipbs  und  "^rs 
„ich",  isn?»  oder  'irn?  „wir",  und  beim  Verbum  die  1.  Pers.  Plur. 
Perf.  IDb'jp  „wir  töteten".  Allerdings  waren  auch  hier  gewisse 
Verwechselungen  möglich ;  z.  B,  konnte  defektiv  geschriebenes  ''Dbx 
auch  als  -TSIä  „Blei",  defektiv  geschriebenes  isbup  auch  als  ibüp  ,,er 
tötete  sie  (die  Frauen)"  oder  ibü)?  „ihr  (der  Frauen)  Töten"  auf- 
gefaßt  werden.      Aber   solche   Verwechselungen  kamen   praktisch 


Zur  Setzung  der  Lesemütter  im  Alten  Testament  329 

kaum  jemals  in  Betracht  und  dürfen  bei  der  Vieldeutigkeit,  welche 
so  vielen  hebräischen  Wörtern  trotz  der  Lesemütter  eignet,  nicht 
in  Rechnung  gestellt  werden.  Daß  man  trotzdem  auch  diese  Formen 
nach  Analogie  der  übrigen  auf  -f  und  -ü  auslautenden  Formen 
plene  geschrieben  hat,  erklärt  sich  um  so  leichter,  als  gerade  hier 
ganz  besonders  nahe  Parallelen  vorhanden  waren,  welche  die  Ana- 
logieschreibung aufs  leichteste  hervorrufen  konnten.  Denn  wenn 
man  die  Pronomina  suffixa  der  1.  Pers.  Sing.  •>-  und  "^:-  und  die 
Endung  der  1.  Pers.  Sing.  Perf.  Tv-  mit  "^  schrieb,  so  lag  es  doch 
sehr  nahe,  dieselbe  Schreibung  auch  auf  die  Pronomina  separata 
der  1.  Pers.  Sing.  ''Drs  und  '':s,  welche  ebenso  wie  jene  auf  -i  aus- 
gingen, zu  übertragen.  Und  wenn  man  einmal  das  Pronomen  suf- 
fixum  der  1.  Pers.  Plur,  M-  mit  V  schrieb,  so  wäre  es  fast  ein 
Wunder  zu  nennen,  wenn  man  die  ganz  genau  so  ausgehenden  und 
gleichfalls  die  1.  Pers.  Plur.  bezeichnenden  Formen  i:n:«,  i:n:  und 
i;bi2p  nicht  ebenso  geschrieben  hätte. 

Während  -ü  und  -i  stets  durch  "[-  und  "'-  bezeichnet  werden 
müssen,  können  -ö  und  -e  entweder 'gleichfalls  durch  "- 
und  •'-,  oder  durch  n-  angezeigt  werden,  i-  und  "'^^  er- 
klären sich  ohne  weiteres  als  Analogieschreibungen  nach  Wörtern, 
in  welchen  ein  ursprünglich  konsonantisches  1-  oder  "»-  in  Verbin- 
dung mit  vorhergehendem  a  zu  rein  vokalischem  -ö  oder  -e  ge- 
worden war,  z.  B.  is  ,,oder'  aus  'atc  und  ■'ra  „Söhne''  aus  IjanaJ. 
Verwickelter  liegt  die  Sache  bei  der  Bezeichnung  von  -ö  und  -e 
durch  n-,  zumal  dieselbe  Lesemutter  außerdem  auch  zur  Andeutung 
von  -ä  und  -e  dient.  Daher  müssen  wir  zunächst  auf  die  Frage 
eingehen :  Wie   erklärt  sich  diese   vielseitige  Verwendung  des  n  ? 

Wie  1  und  ^ ,  ist  auch  die  Lesemutter  n  in  gewissen  Fällen 
ursprünglich  Konsonsint  gewesen.  Ein  aus  der  Urzeit  stammendes 
h  liegt  vor  1)  in  theophoren  Eigennamen  wie  n^'5S  aus  ^n^'"S , 
2)  beim  Pronomen  suffixum  der  3.  Pers.  Mask.  Sing,  -ö  aus  -a-hu. 
welches,  wie  oben  S.  327  f.  bemerkt,  zuweilen  noch  mit  n-  geschrieben 
wird.  Jüngeren  Datums  ist  n-  z.  B.  bei  der  Femininendung  des 
Nomens  im  Status  absolutus,  ursprünglich  -at,  später  -ah.  Daß 
auch  hier  das  h  einst,  wenigstens  in  gewissen  Fällen  (in  Pausa), 
wirklich  ausgesprochen  wurde,  nimmt  man,  glaube  ich,  mit  Recht 
an.  Die  Parallele  des  Arabischen,  welches  die  Feminiuendung 
gleichfalls  durch  -h  anzeigt,  spricht  entschieden  dafür  ^) ;  auch  kann 
man  sich  schwer  vorstellen,   weshalb   die  Hebräer   gerade  n-  und 


1)  Nach  einer  Mitteilung  von  E.  Littmann  hat  J.-J.  Heß  von  Zentralarabem 
das  -h  der  Femininendung  in  Pausa  noch  deutlich  gehört. 


330  '  Alfred  Rahlfs, 

nicht  etwa  S<-  als  Lesemutter  gewählt  haben  sollten,  wenn  nicht 
wirklich  in  gewissen  Fällen  ein  -Ä  gesprochen  wäre.  Nur  glaube 
ich  aus  dem  oben  S.  324  angegebenen  Grunde  nicht,  daß  die  Lese- 
mutter n-  gerade  von  der  Femininendung  ausgegangen  ist.  Meines 
Erachtens  liegt  auch  gar  kein  Grrund  vor,  weshalb  sich  jenes  se- 
kundäre -h  gerade  bei  ihr  zuerst  entwickelt  haben  sollte.  Über- 
all, wo  man  einen  vokalischen  Ausgang  mit  Nachdruck  spricht, 
kann  hinter  ihm  leicht  ein  Hauchlaut  entstehen.  Brock.  S.  48 
bringt  lehrreiche  Beispiele  dafür  bei ,  z.  B.  die  arabische  Endung 
des  Ausrufs  -äh  neben  -ä  in  ja  "abatäh  „o  Vater"  ^)  und  aus  der 
Sprache  des  Negd  dah  „dieser";  auch  stellt  er  damit  gut  die  klas- 
sisch-arabischen Formen  äihi  und  tihi  für  dt  und  tt  zusammen,  in 
denen  der  nachdrücklich  gesprochene  Endvokal  zweigipflig  geworden 
ist  und  einen  Hauchlaut  zwischen  den  beiden  Gripfeln  bekommen 
hat^).  Jenem  dah  entspricht  im  Hebräischen  HT  „dieser"  nebst 
dem  Fem.  n'T  „diese".  Andere  hebräische  Wörter,  deren  n-  sich 
leicht  aus  nachdrücklicher  Aussprache  des  Endvokals  erklären  läßt, 
sind  "Ta  oder  TVü  ,,was?"  (vgl.  die  arab.  Pausalform  mah  Ges.  §  37  b. 
Brock.  §110b),  n^K  „wo?",  nsn  „siehe  da!",  nb  „so"^),  ns  „hier"^). 
Von  solchen  vielgebrauchten  Wörtchen  kann  die  Verwendung  des 


1)  Vgl.  im  Deutschen  „oh"'  neben  „o".  Jenes  hat  man  nach  Duden  zu 
schreiben,  wenn  es  sich  um  einen  nur  aus  dem  Wörtchen  „oh!'*  bestehenden  Aus- 
ruf handelt  (also  in  Pausa) ,  dieses  in  Verbindung  mit  anderen  Wörtern,  z.B. 
„0  ja."",  „0  König!''. 

2)  Ebenso  hörte  ich  von  meinen  Kindern  und  Dienstboten  bei  nachdrück- 
licher Beteuerung  deutlich  ,Jaha^  statt  „ja^.  Etwas  anders  erklärt  Brock.  S.  48 
die  Formen. 

3)  ns  aus  kä  ist  schon  an  sich  wegen  der  Länge  des  Vokals  gegenüber  S 
aus  kä  (vgl.  HD^X,   HM)  eine  Nächdrucksform. 

4)  Analog  erklärt  sich  die  Schreibung  von  Xb  „nicht"  mit  S5 ;  wie  mir  Litt- 
mann  mitteilt,  wird  ^  „nein"  noch  jetzt  im  Neuarabischen  mit  hörbarem  JA  ge- 
sprochen (vgl.  Brock.  S.  48).  Auch  HB  „hier"  ist  einmal  (Hiob  38  u)  XB  ge- 
schrieben. Ein  großer  Unterschied  wird  zwischen  H-  und  S-  kaum  gewesen  sein ; 
darauf  weist  der  Wechsel  von  H-  und  i5-  im  älteren  Aramäischen  hin  (erst  im 
Syrischen  hat  X-  die  Alleinherrschaft  errungen).  Übrigens  mußte  xb  im  Hehr,, 
Aram.  und  Arab.  auch  deshalb  mit  S-  geschrieben  werden,  weil  es  sonst  mit  nb 
ot^  äI  „ihm,  ihr"  oder,  wenn  man  es  defektiv  geschrieben  hätte,  mit  b  ^  J 
„zu"  zusammengefallen  wäre  (doch  kommt  die  Defektivschreibung  b  „nicht"  ver- 
einzelt im  Aram.  vor,  s.  Lidzb.  S.  301 ;  auch  setzt  die  Wiedergabe  von  "jsb  „darum" 
durch  oix  ovToog  in  der  LXX  Gen.  4  lö.  30 15  u.  ö.  die  Auffassung  von  b  als  „nicht" 
voraus).  Ähnlich  steht  es  mit  NIB»  (oder  IB«)  „nun,  denn" ;  es  wird  durch  die 
Schreibung  mit  S-  von  HB"'«  „wo?"  unterschieden. 


Zur  Setzung  der  Lesemütter  im  Alten  Testament.  331 

n-  als  Lesemutter  ebensogut  ansgegangen  sein,  wie  von  der  Fe- 
mininendung.  Das  Herabsinken  des  eigentlich  konsonantisclien  -h 
zur  bloßen  Lesemutter  erklärt  sich  daraus,  daß  es  nicht  immer, 
sondern  nur  bei  nachdrücklicher  Aussprache  lautbar  wurde,  trotz- 
dem aber  begreiflicherweise,  nachdem  es  sich  einmal  eingebürgert 
hatte,  stets  geschrieben  und  auch  auf  andere  Fälle  mit  denselben 
vokalischen  Ausgängen  übertragen  wurde. 

Aus  der  dargelegten  Entstehung  der  Lesemutter  n  erklärt 
sich  ohne  weiteres,  daß  sie  im  Gegensatze  zu  ^  und  ^  nur  am  Wort- 
ende vorkommen  kann  ^).  Daraus  erklärt  es  sich  aber  auch ,  daß 
sie  im  Gregensatze  zu  1  und  "^  nicht  auf  eine  bestimmte  Yokalgruppe 
beschränkt,  sondern  im  Grrunde  gegen  den  Vokal  völlig  indifferent 
ist.  Während  nämlich  l  und  ^  häufig  in  ü  und  i  übergegangen 
sind  oder  durch  Zusammenziehung  mit  vorhergehendem  a  ein  ö 
oder  e  ergeben  haben,  hat  n  auf  den  Vokal,  den  es  jetzt  als  Lese- 
mutter anzeigt,  nirgends  einen  Einfluß  ausgeübt.  In  den  beiden 
Fällen,  in  denen  es  sich  um  ein  aus  der  Urzeit  stammendes  h  han- 
delte, schwankt  der  Vokal  zwischen  «  in  n~'"S  und  ö  in  «Tbri? ,  und 
weder  das  ä  noch  das  ö  ist  von  dem  7/  beeinflußt ;  denn  "^'5K  ist 
eine  einfache  Verkürzung  von  ^n*!:i?  ohne  jede  weitere  Verände- 
rung, und  das  Pronomen  suffixum  -0  ist  durch  Monophthongierung 
aus  -rü-hu  nach  spurlosem  Ausfall  des  h  entstanden.  Erst  recht 
aber  zeigt  sich  die  Neutralität  des  n-  bei  jenen  vielgebrauchten 
Wörtchen  mit  sekundärem  -//,  von  denen  ich  die  Lesemutter  n-  in 

1)  Keine  Ausnahme  bilden  natürlich  die  aus  zwei  Wörtern  zusammengesetzten 
Eigennamen  ^Knin  (aber  gewöhnlich  bSTH  geschrieben),  5KntD7,  ^5?n"E  (so 
TokaUsiert !  als  ob  H  Konsonant  wäre)  und  n'SnrB ,  da  T\  bei  ihnen  den  Schluß 
des  ersten  Wortes  bildet.  —  Ein  eigentümlicher  Fall  liegt  vor  bei  dem,  soweit 
ich  sehe,  noch  immer  nicht  lichtig  gedeuteten  -iST'  als  erstem  Bestandteil  von 
Eigennamen.  Dies  -in*'  ist  nämlich  nicht,  wie  man  fabelt,  aus  einem  ganz  uner- 
klärlichen -"n")  für  -"y-i^  entstanden  und  dann  später  zu  -'!''  zusammengezogen, 
sondern  umgekehrt  erst  durch  eine  ganz  junge  Distraktion  aus  -i"'  entstanden. 
Nur  -T'  erklärt  sich  naturgemäß :  wie  süs-a-hu  „sein  Pferd"  nach  Ausfall  des  h 
zu  süsö  geworden  ist,  so  Jahu-  zu  Jö-.  Dies  Jö-  wurde  nun  manchmal  phonetisch 
-"*  geschrieben;  manchmal  dagegen  behielt  man  die  historische  Schreibung  -in*' 
bei.  Diese  historische  Schreibung  aber  bereitete  den  späteren  Juden  große  Schwie- 
rigkeiten, da  n  im  Wortinneren  sonst  nicht  quieszierte.  Daher  faßten  sie  das  n 
auch  hier  als  Konsonanten  und  sprachen  statt  Jö-  mit  Einschiebung  eines  Schwa 
J*fiö-,  ähnlich  wie  sie  das  historisch  allein  berechtigte  rSTD  „aufheben",  das  in 
rsicb  (Ges.  §  76 &)  noch  erhalten  ist,  zu  rxfc ,  und  rS©T2  „Aufhebung",  wie 
eigentlich  gesprochen  werden  müßte,  zu  rSTCr  distrahierten ;  vgl.  auch  pcin"^  Ps. 
81 6  (auch  inschriftlich  vorkommend,  s.  Lidzb.  S.  286)  neben  dem  sonst  üblichen  '^y^. 
Kgl.  Ges.  d.  Wiss.  Nachrichten.   Phil.-hist.  Klasse.   1916.  Heft  3.         -  23 


332  Alfred  Rahlfs, 

erster  Linie  herleiten  möchte:  JTO  hat  -ä  oder  -^,  HT  -^  oder  -ö, 
rr^ii  und  nsn  -e,  ns  und  ns  -0.  Hier  sind  also  alle  im  Auslaut 
vorkommenden  Vokale  außer  den  stets  durch  V  und  "i-  bezeich- 
neten -li  und  -*  vertreten. 

Kehren  wir  nunmehr  zu  der  Bezeichnung  des  auslautenden  -ö 
und  -e  zurück,  so  zeigt  sich  folgendes : 

-ö  wird  außer  in  den  bereits  angefülirten  Fällen  (n^n»;  h't, 
ns,  nb,  vgl.  auch  oben  S.  330  Anm.  4)  stets  oder  gewöhnlich  durch 
n-  angedeutet  im  Infin.  abs.  der  Verba  n"b  (rfba)  und  in  mehreren 
Eigennamen,  besonders  dem  Königsnamen  nidbö,  den  Ortsnamen 
n'ba ,  nbito  ^)  und  rtbü  (vgl.  J.  Olshausen,  Lehrbuch  der  hebr.  Sprache 
[1861],  §  215  g.  Ges.  §  85  v)  und  auch  den  ägyptischen  Wörtern 
nb"iB  (Titel  des  Königs)  und  Jnb5  (Königsname),  die  hier  mit  anzu- 
führen sind,  weil  ihr  n-  spezifisch  hebräisch  ist  und  im  Ägypti- 
schen überhaupt  kein  konsonantisches  Äquivalent  hat^). 

-ö  wird  1-  geschrieben  1)  gewöhnlich  im  Pron.  suff.  der  3.  Pers. 
Mask.  Sing,  -ö  aus  -a-hu,  2)  in  der  fossilen  Nominativendung  -ö 
aus  -u,  3)  in  der  archaistischen  Form  des  Pron.  suff.  der  3.  Pers. 
Mask.  Plur.  -mö  aus  -humu,  4)  in  dem  poetischen  iUS  „wie"  aus 
ka-mä,   5)  auch  in  anderen,  unten  zu  erwähnenden  Fällen. 

-e  wird  außer  in  den  bereits  angeführten  Fällen  (H)^S,  nsn) 
durch  n-  angedeutet  im  Imperativ  der  Verba  n"b  (nbä)  und  im 
Stat.   constr.    des   Singulars  der    Nominalbildungen   von   Wurzeln 


1)  T\yW  kommt  auch  auf  Krugstempeln  vor,  s.  M,  Lidzbarski,  Epbemeris 
f.  sem.  Epigraphik  1  (1902),  S.  54.  179. 

2)  Nach  K.  Sethe,  der  hierzu  bemerkt:  „Das  Aleph,  das  das  altägyptische 
Prototyp  von  liyysi  hinter  dem  • 'Ajin  enthielt  (Pr-'i  „großes  Haus"),  war  seit 
dem  neuen  Reich  sicherlich  längst  verloren,  da  das  Wortbild  von  '  i  „groß"  (kopt. 
o)  bereits  damals  zur  Schreibung  des  einfachen  'Ajin  in  Fremdwörtern  verwendet 
wurde.  Der  0- Vokal,  den  die  koptische  Form  nppo  aufweist,  wird  durch  die 
Wiedergabe  des  Wortes  in  den  Annalen  Sargons  bereits  für  das  Ende  des  8.  Jahrh. 
V.  Chr.  bezeugt:  Pi-ir-'-u,  s.  G.  Steindorfi'  in  den  Beiträgen  zur  Assyriologie  und 
vergl.  semit.  Sprachwiss.  1  (1890),  S.  342.  —  Die  Annalen  Assurbanipals  geben 
den  Namen  Necho  durch  Ni-ku-u  oder  Ni-ik-ku-u  wieder  (a.  a.  0.,  S.  346).  Der 
seiner  Herkunft  nach  vermutlich  libysche  Namo  wird  hieroglyphisch  N-ki-w  mit 
dem  Zeichen  ki  oder  dem  gleichwertigen  Bilde  des  Stieres  an  seiner  Stelle  ge- 
schrieben. Das  kann  aber  nach  der  ganzen  Art  der  Schreibung  nur  eine  soge- 
nannte „syllabische"  Schreibung  für  den  Konsonanten  k  sein,  wie  sie  bei  Fremd- 
wörtern üblich  war.  Ein  »  ist  damit  nicht  bezeichnet.  Der  Name  ist  also  Nkw 
d.  i.  1D5  zu  lesen.  SteindorflF  (a.  a.  0.,  S.  347)  hält  das  w  für  die  Bezeichnuiu,' 
eines  konsonantischen  Waw.  Dagegen  spricht  jedoch  die  demotische  Schreibung, 
die  nur  N-ki  d.  i,  ^D  gibt  (Griffith,  Catalogue  of  the  Demotic  Papyri  in  the  John 
Rylands  Library  Manchester  HI  [1909],  S.  243,  Note  7).« 


Zar  Setzung  der  Lesemütter  im  Alten  Testament.  B33 

n"5  (nba ,  nnie),  auch  in  dem  Worte  n;n«  „Lowe"  und  in  der  Form 
nniDy,  welche  das  Zahlwort  „10"  bei  den  weiblichen  Zahlen  11 — 19 
annimmt. 

Bezeichnung  von  -e  durch  "»-  findet  sich  fast  nur  in  Fällen, 
wo  ursprünglich  ein  Konsonant  ''-  vorhanden  gewesen  war  (^SC 
„wo?";  Endung  des  Stat.  constr.  des  Daal-Plurals  "^^rj  archaisti- 
sche Formen  einiger  Präpositionen  wie  ^b7).  Die  einzige  mir  be- 
kannte Ausnahme  ist  "'bib  .,wenn  nicht'"  neben  dem  ursprünglicheren 

Daß  man  das  auslautende  -ö  und  -e  überhaupt  irgendwie  an- 
deutete, erklärt  sich  in  den  meisten  Fällen  leicht.  Bei  den  ein- 
silbigen Wörtchen  nt,  713,  nis  war  die  Hinzufügung  des  n-,  ganz 
abgesehen  von  dem  oben  S.  330  Dargelegten,  auch  deswegen  not- 
wendig, weil  Wörter,  die  nur  aus  einem  einzigen  Buchstaben  be- 
stehen, nach  einer  auch  aus  dem  Syrischen  und  Arabischen  be- 
kannten und  schon  auf  der  Mesainschrift  befolgten  Regel  nicht  als 
selbständige  Wörter,  sondern  als  Präpositionen  gelten  und  mit 
dem  folgenden  Worte  zusammengeschrieben  werden;  überdies  wäre 
n's  „so"  bei  Defektivschreibung  mit  "'S  „denn,  daß"  und  3  ,,wie" 
zusammengefallen.  Ableitungen  von  Wurzeln  n"b  wie  nba ,  nba , 
nba,  TVTtt  wären  ohne  Andeutung  des  vokalischen  Ausganges  gar 
zu  unkenntlich  gewesen  und  oft  mit  Ableitungen  von  Wurzeln 
1"?,  "»"y  und  y"y  (z.  B.  b'^y  und  bby)  zusammengefallen.  Hätte  man 
in  TVQ'^ti  das  schließende  -ö  nicht  bezeichnet,  so  wäre  dieser  Eigen- 
name nicht  von  dem  anderen  Eigennamen  O^^TD  und  auch  nicht  von 
cbc  ..vollständig",  Dlbr  ,. Wohlbefinden"  u.  dgl.  zu  unterscheiden 
gewesen.  Ebenso  wären  bei  Defektivschreibung  die  längeren  Formen 
n^S ,  nsn ,  n^'^S  mit  den  kürzeren  "'S ,  "jn ,  ins  und  die  archaistische 
Suffixform  iT3-  mit  der  gewöhnlichen  Form,  die  oft  aus  bloßem  3- 
besteht,  zusammengefallen.  Und  gar  das  Pron.  suff.  -ö  und  die 
fossile  Xominativendung  -ö  wären  bei  Defektivschreibung  überhaupt 
nicht  zum  Ausdruck  gekommen.  Allerdings  läßt  sich  nicht  Tür 
schlechthin  jeden  Fall  ein  ähnlich  zwingender  Grrund  zur  Plene- 
schreibung  aufweisen;  aber  wenn  in  so  vielen  Fällen  die  Hinzu- 
fügung einer  Lesemutter  notwendig  war,  so  ist  die  Verallgemeine- 
rung der  Pleneschreibung  eigentlich  selbstverständlich. 

Von  den  beiden  Bezeichnungen  des  auslautenden  -ö  scheint 
die  durch  n-  die  ältere  zu  sein.  Ein  so  alter  Eigenname  wie  Sa- 
lomo  wird  stets  mit  H-  geschrieben,  und  auch  die  alten  Moabiter 
verwendeten  n-  für  -ö,  ganz  sicher  z.  B.  in  dem  Namen  der  Stadt 
Nebo,  die  auf  der  Mesainschrift  Z.  14  nn;,  im  A.  T.  dagegen  ".23 
geschrieben   wird.      Umgekehrt   erscheint   >   gerade   in   jüngeren 

.      23* 


334  Alfred  Rahlfs, 

Schriften  des  A.  T.  Öfters  in  Wörtern,  die  in  älteren  Schriften  mit 
n-  geschrieben  sind:  nur  in  der  Chronik  und  im  Q^re  von  Jos.  1048 
findet  sich  iDitO  statt  des  nicht  bloß  in  Jos.,  Sam.  I  und  Kön.  I 
überlieferten,  sondern  jetzt  auch  durch  Krugstempel  (s.  oben  S.  332 
Anm.  1)  bestätigten  nbite  oder  nbto;  nur  bei  Ezechiel  kommt  is 
neben  dem  sonst  allein  üblichen  HB  vor  (vgl.  unten  S.  346  Anm.  1). 
Doch  läßt  sich  in  der  vielfach  modernisierten  Orthographie  unseres 
hebräischen  Textes  die  geschichtliche  Entwickelung  nicht  mehr 
deutlich  verfolgen:  'ib("'~jTä  kommt  in  verschiedenen  Büchern  neben 
ribtä  vor,  132  findet  sich  nicht  nur  in  der  Chronik,  sondern  auch 
bei  Jeremia  statt  des  nb3  des  Königsbuches,  und  andere  Eigen- 
namen ,  z.  B.  Jericho  und  Megiddo,  v^erden  sogar  regelmäßig  mit 
V  geschrieben  (Ausnahme  nur  Kön.  I  16  34  niriT  ,  wozu  Ginsburg 
als  Q^re  itT^n'^  angibt).  Im  ganzen  kann  man  sagen,  daß  die  jetzt 
im  A.  T.  vorliegende  Orthographie  entschieden  V  bevorzugt  ^) ;  selbst 
im  Infin.  abs.  der  Verba  li'b  erscheint  schon  öfters  "1-  statt  n-  (Ges. 
§  75  w),  obwohl  gerade  hier  die  Beibehaltung  des  für  diese  Ver- 
balklasse charakteristischen  n-  besonders  nahe  lag. 

Der  Übergang  von  n-  zu  V  ist  wohl  begreiflich.  Die  Schrei- 
bung mit  V  erklärt  sich  in  dem  am  häufigsten  vorkommenden  Falle, 
dem  Fron.  suff.  der  3.  Pers.  Mask.  Sing,  beim  Nomen  (io^D  „sein 
Pferd")  und  Verbum  (ibüiP  „er  tötete  ihn"),  sofort  aus  der  Rück- 
sicht auf  das  Verständnis.  Bei  der  auf  der  Mesainschrift  stets 
und  zuweilen  auch  noch  im  A.  T.  vorkommenden  Schreibung  des 
Suffixes  mit  n-  (s.  oben  S.  321  f.  327  f.)  ist  das  Mask.  nicht  vom  Fem. 
zu  unterscheiden.  Daher  hat  man,  wie  schon  S.  328  gezeigt,  das 
Mask.,  wenn  es -hü  oder  -w  lautete,  in- oder  1- geschrieben.  Daher 
hat  man  auch,  wenn  es  -ö  lautete,  n-  durch  V  ersetzt;  schon  die 
Siloahinschrift  schreibt  Z.  2.  3.  4  Vn  d.  i.  i^n  „sein  Genosse".  Ein 
ähnlicher  Grund  war  für  die  Schreibung  der  fossilen  Nominativ- 
endung -ö  mit  1-  maßgebend :  hätte  man  sie  n-  geschrieben,  so  wäre 
sie  von  der  Akkusativendung  n  -^^  und  auch  von  der  Femininendung 
n-^  nicht  zu  unterscheiden  gewesen.  Und  ebenso  wäre  das  poeti- 
sche ittS,  wenn  man  es  nttS  geschrieben  hätte,  mit  nias  „wieviel?" 
zusammengefallen.  Daraus  erklärt  es  sich ,  daß  man  in  diesen 
Fällen  die  Bezeichnung  des  auslautenden  -ö  durch  "i-  wählte  und 
diese  Schreibung,  nachdem  sie  besonders  durch  das  Pron.  suff.  *!-  1 
sehr  geläufig  geworden  war,   mit  der  Zeit  auch  auf  andere  Fälle 


1)  Vgl.  die  neuhebrftische  Orthographie,  in  der  aus  T^ytß  und  IDittJ  schließ- 
lich hDio  geworden  ist. 


Zur  Setzung  der  Lesemütter  im  Alten  Testament.  335 

übertrug,  ohne  daß  jedoch  die  alte  Schreibung  mit  n-  ganz  aus- 
gerottet wäre. 

Die  Bezeichnung  des  auslautenden  -e  durch  n-  bei  verbalen 
und  nominalen  Ableitungen  von  Wurzeln  n"5  ist  ebenso  natürlich, 
wie  die  Bezeichnung  von  -ö  durch  n-  bei  derselben  Wurzelklasse. 
Während  aber  der  Infin.  abs.  nba  auch  schon  öfters  mit  \-  ge- 
schrieben wird,  ist  die  Bezeichnung  des  -e  durch  n-  in  Formen 
wie  nba,  nbh,  rrni  durchaus  fest  geblieben.  Dies  erklärt  sich  vor 
allem  daraus,  daß  ein  Wechsel  der  Orthographie  hier  sehr  leicht 
zu  Mißverständnissen  geführt  hätte.  Im  Imperativ  wäre  das  Mask. 
nba  mit  dem  Fem.  "^ba ,  bei  den  Nominalbildungen  der  Sing,  nbä , 
TTTiD  mit  dem  Plur.  iba,  i'lTD  zusammengefallen.  Auch  bei  n;;-!K 
konnte  das  -e  nicht  wohl  durch  i-  bezeichnet  werden,  weü  schon 
der  vorletzte  Buchstabe  ein  "^  war,  und  man  es  möglichst  vermied, 
eine  Lesemutter  T  oder  i  unmittelbar  hinter  einen  Konsonanten  ^ 
oder  "^  zu  setzen,  vgl.  Ges.  §  Sh.  Nur  bei  nntD^  lag  kein  beson- 
derer Grund  für  die  Beibehaltung  des  n-  vor;  doch  hat  sich  bei 
diesem  Worte  die  altüberlieferte  Schreibung  öfters  noch  bis  ins 
Jüdisch-Aramäische  erhalten,  wenn  auch  die  Schreibung  "nzv  oder 
•''loy  dort  schon  bevorzugt  wird,  s,  G.  Dalman,  Gramm,  des  jüd,- 
paläst.  Aramäisch,  2.  Aufl.  (1905),  S.  126 f.  und  vgl,  oben  S.  334 
Anm.  1. 

Endlich  kommen  wir  zu  der  Bezeichnung  von  -a  und  -f 
durch  n-.  Wie  man  dazu  gekommen  ist,  diese  beiden  Vokale 
durch  n-  anzudeuten,  habe  ich  oben  S.  329  f,  gezeigt.  Daß  Schrei- 
bung mit  1-  und  ^-  hier  nicht  vorkommt,  wird  sich  daraus  erklären, 
daß  die  auf  -ä  und  -^  ausgehenden  Formen  von  Wurzeln  n"b,  bei 
denen  eine  solche  Schreibung  historisch  möglich  wäre,  z.  B.  nba 
aus  galaj ,  nbj")  aus  jnjlaj ,  ihren  letzten  Radikal  V  oder  '^-  schon 
sehr  früh  verloren  haben;  schreibt  doch  schon  die  Mesainschrift 
n:a  „er  baute"  (s.  oben  S,  323)  und  die  Siloahinschrift  Z.  1  n"n 
„es  war". 

Auslautendes  -e  muß  stets  bezeichnet  werden.  Das  ist  leicht 
begreiflich,  da  -f  meistens  in  Ableitungen  von  Wurzeln  n"b  vor- 
kommt, für  welche  die  Schreibung  mit  n-  überhaupt  charakteristisch 
und  zur  Erleichterung  des  Verständnisses  dringend  erwünscht  war, 
vgl.  oben  S.  333.  Auch  bei  den  einsilbigen  Wörtchen  nt  „dieser", 
na  „was  ?",  ns  „Mund",  nilJ  „ein  Stück  Kleinvieh"  ist  Pleneschrei- 
bung  notwendig,  weil  sie  sonst  nach  dem  oben  S.  333  erwähnten 
Grundsatz  zu  Präpositionen  herabsinken  würden. 

Auslautendes  -a  wird  oft  durch  n-  angedeutet,  bleibt  aber  in 
einigen  Fällen  unbezeichnet.     Ich  werde  zu  zeigen  versuchen,  wie 


336  Alfred  Rahlfs, 

auch  hierfür  die  Rücksicht  auf  das  Verständnis  maßgebend  ge- 
wesen ist.  Dabei  beginne  ich  mit  den  Fällen,  in  welchen  n-  ge- 
schrieben wird. 

Beim  Pronomen  personale  separatum  haben  wir  in  der  2.  Pers. 
Fem.  Plur.  die  längere  Form  n;r)i?  neben  der  kürzeren  "jp^,  in 
der  3.  Pers.  Mask.  Plur.  die  längere  rrari  neben  der  kürzeren  DH. 
Hier  erklärt  sich  die  Pleneschreibung  aus  der  Notwendigkeit,  die 
beiden  Formen  zu  unterscheiden.  Und  es  ist  leicht  begreiflich, 
daß  man  dann  auch  die  3.  Pers.  Fem.  Plur.  T\3T\  geschrieben  hat, 
obwohl  "jSn  nicht  als  Pronomen  separatum,  sondern  nur  in  Verbin- 
dung mit  Präpositionen  vorkommt. 

Auch  bei  den  entsprechenden  Pronomina  suffixa  kommen  neben 
den  hier  durchaus  vorherrschenden  kürzeren  Formen  zuweilen  län- 
gere vor:  2.  Pers.  Plur.  Fem.  n:?-,  3.  Pers.  Plur.  Mask.  n^n-, 
Fem.  T^lT}-  0.  ä.  (Ges.  §  91  /'.  l).  Auch  sie  müssen  natürlich  zum 
Unterschiede  von  )> ,  DH- ,  "JH-  plene  geschrieben  werden. 

Das  Fragewort  fra  ,,was?"  ist  unter  Umständen  wohl  wirk- 
lich mit  -h  gesprochen ,  s.  oben  S.  330.  Außerdem  mußte  es  von 
"•■a  ,,wer?"  unterschieden  werden.  Dafür  hätte  es  allerdings  ge- 
nügt, ^"n  plene  zu  schreiben  und  das  defektive  "a  für  „was?"  zu 
reservieren ;  und  in  der  Tat  findet  sich  einigemal  bloß  "ü  für  ,,was?", 
s.  Ges.  §  37  c.  Aber  dann  muß  "ü  nach  der  schon  zweimal  er- 
wähnten Regel  mit  dem  folgenden  Worte  zusammengeschrieben 
werden ,  vgl.  z.  B.  Jes.  3 15  D^^'ö  „was  ist  euch  ?"  Dadurch  ver- 
liert sich  aber  das  Wort  zu  sehr;  auch  fällt  es  mit  dem  in  allen 
möglichen  Bildungen  vorkommenden  Präformativ  -"ü  (bl2)Pa,  Dip'a 
u.  dgl.)  und  der  Präposition  -ü  zusammen.  So  ist  es  auch  von 
diesen  Gesichtspunkten  aus  leicht  begreiflich,  daß  man  regelmäßig 
rra  geschrieben  hat. 

Beim  Nomen  wird  -a  als  Akkusativendung  und  als  Feminin- 
endung stets  durch  n-  angezeigt,  vgl.  den  Akkusativ  (?)  nbb  ,, Nacht" 
auf  der  Mesainschrift  (s.  oben  S.  323)  und  die  Feminina  nnp3 
„Durchstich",  nnr  „Spalte  (?)",  HD-Q  „Teich",  nax  „Elle"  auf  der 
Siloahinschrift.  Ohne  das  rt-  wären  beide  Endungen  überhaupt 
nicht  zum  Ausdruck  gekommen,  und  man  hätte  die  Form  mit  der 
Akkusativendung  nicht  von  der  Form  ohne  Endung  und  das  Fem. 
nicht  vom  Mask.  unterscheiden  können. 

Entsprechend  schreibt  man  beim  Verbum  nbüy?  „sie  tötete" 
zum  Unterschiede  von  bü)?  „er  tötete"  und  bezeichnet  auch  die 
Kohortativendung  stets  durch  H— .  Überflüssig  aber  und  nur  aus 
der  Wirkung  der  Analogie  zu  erklären  ist  die  Pleneschreibung  der 
Endung  ns-  im  Imperativ  und  Imperfektum ,  da  die  Endung  nicht 


Zur  Setzung  der  Lesemütter  im  Alten  Testament.  337 

aus  dem  bloßen  Vokal  -ä  besteht  und  Verwechselung  mit  anderen 
Formen  zwar  möglich  ist  —  tr^y^  „tötet  (o  Frauen!)"  könnte  auch 
■""uP  „er  tötete  sie  (die  Frauen)**  oder  y^^'p^  „ihr  (der  Frauen) 
Töten"  gelesen  werden  — ,  aber  doch  nicht  naheliegt.  In  der 
Tat  kommt  hier  auch  noch  gelegentlich,  besonders  im  Pentateuch, 
die  Defektivschreibung  vor,  s.  G-es.  §  46/.  47 1  und  Fr.  Ed.  König, 
Historisch-kritisches  Lehrgebäude  der  hebr.  Sprache  1  (1881),  S.  289  f. 
609  f.  ^). 

Daß  auch  das  auslautende  -ä  der  Verba  n"5  plene  geschrieben 
werden  muß.  bedarf  nach  dem  öfter  über  diese  Verbalklasse  Ge- 
sagten keiner  Begründung  mehr.  Als  einzelnes  Wort  sei  noch 
HD"»»?  „wie?"  genannt,  das  durch  die  Pleneschreibung  von  der  kür- 
zeren Form  ?fS  unterschieden  wird. 

Während  -ä  in  den  angeführten  Fällen  regelmäßig  plene  ge- 
schrieben wird,  wird  es  in  drei  anderen  Fällen  ebenso  regelmäßig 
defektiv  geschrieben,  nämlich  beim  Pronomen  personale  suffixum 
in  der  2.  Pers.  AFask.  Sing.  T|-  und  in  der  3.  Pers.  Fem.  Sing,  n- 
und  beim  Perfekt  des  Verbums  in  der  Endung  der  2.  Pers.  Mask. 
Sing.  n-. 

In  allen  drei  Fällen  besteht  die  Endung  nicht  aus  dem  bloßen 
Vokal  -ä,  sondern  diesem  geht  noch  ein  Konsonant  voraus.  Schon 
durch  die  Schreibung  dieses  Konsonanten  kam  die  Endung  in  der 
Schrift  zum  Ausdruck ;  daher  war  Pleneschreibung  nicht  unbedingt 
erforderlich.  Bei  dem  Suffix  ~-  war  sie  aber  nicht  einmal  mög- 
lich, da  es  schon  ein  n  als  Konsonanten  enthält,  und  man  dazu 
nicht  noch  ein  n  als  Lesemutter  hinzufügen  konnte,  vgl.  Ges.  §  8  h. 
Daher  ist  die  Defektivschreibung  gerade  bei  rj-  ganz  streng  auf- 
rechterhalten^).    Auch  konnte  eine  Verwechselung   mit  dem  mas- 


1)  König  sieht  in  '\TClt  Gen.  423  und  ^^"^p  Exod.  2  20  wohl  mit  Reclit 
durch  die  Defektivschreibung  veranlaßte  falsche  Vokalisationen  für  "pTStJ  und 
"if^p  (so  ist  in  Kuth  I20  vokalisiert).  Allerdings  fällt  der  auslautende  Vokal 
der  Endung  -na,  wie  mir  Littmann  bemerkt,  in  mehreren  neuarabischen  Dialekten 
fort,  und  es  wird  dann  vor  dem  -n  ein  Hilfsvokal  eingeschoben ,  s.  Brock.  S.  ö59 
und  L.  Bauer,  Das  Palästinische  Arabisch,  3.  Aufl.  (1913),  S.  23  (tcÜiWn  „schreibt 
[0  Frauen!]",  udrübin  „schlagt!",  ifhdmin  „versteht!"). 

2)  Wenn  jedoch  das  h  des  Suffixes  -hä  ausfällt  und  nur  noch  der  Vokal  -ä 
übrigbleibt,  wie  in  T^i'ß'Q  „von  ihr",  nP5i:j:  „sie  tötete  sie",  nsbcp"]  -er  wird 
sie  töten",  den  Femininis  der  oben  S.  328  angeführten  Maskulina  '^i'ß'Q,  'Pbsp , 
^abtSp"],  so  darf  das  -a  nicht  etwa  auch  defektiv  geschrieben  werden,  da  das 
Suffix  dann  in  der  Schrift  gar  nicht  zum  Ausdruck  kommen  würde,  sondern  das 
Suffix  muß  auch  dann  durch  ein  TV,  das  in  diesem  Falle  natürlich  nur  noch  Lese- 
mutter ist,  angezeigt  werden. 


338  Alfred  Rahlfs, 

kulinischea  Suffix  -hü  ja  niclit  mehr  stattfinden,  seitdem  man  dieses 
in-  (oder  1-)  schrieb,  vgl.  oben  S.  327 f.  334.  Eher  wäre  Plene- 
schreibung  bei  '?;-  und  T\-  möglich  und  in  gewisser  Weise  auch  an- 
gebracht gewesen,  da  diesen  maskulinischen  Endungen  ebenso  ge- 
schriebene femininische  gegenüberstehen,  und  in  der  Tat  kommt 
auch  gelegentlich  HD-  (Gres.  §  58^.  i.  'dld.  e.  103  ^r)  und  HPi-  (§  44^) 
vor.  Auch  wird  das  entsprechende  Pronomen  separatum  nrix  „du" 
fast  immer  zum  Unterschiede  vom  Fem.  Hii  mit  n-  geschrieben 
(§  32 f/).  Aber  dies  hat  seinen  besonderen,  später  zu  erörternden 
Grund  (s.  unten  S.  341  f.).  Im  übrigen  muß  man  sagen,  daß  eine 
Unterscheidung  der  beiden  Geschlechter  gerade  bei  der  2.  Pers. 
nicht  unbedingt  nötig  war,  da  sich  aus  dem  Zusammenhange  sofort 
ergab,  ob  der  Angeredete  ein  Mann  oder  eine  Frau  war. 

So  sehen  wir,  wie  auch  für  die  Pleneschreibung  der  auslau- 
tenden Vokale  im  A.  T.  in  erster  Linie  die  Rücksicht  auf  das 
Verständnis  maßgebend  gewesen  ist.  Und  vor  allem  hat  sich 
ein  Grundsatz  ergeben,  den  ich  hier  noch  einmal  ausdrücklich  for- 
mulieren und  an  zwei  weiteren  Beispielen  illustrieren  möchte: 
alle  Endungen,  die  nur  aus  einem  Vokal  bestehen, 
müssen  plene  geschrieben  werden,  da  sie  sonst  in  der 
Schrift  nicht  zum  Ausdruck  kommen  würden.  Bei  ?]b  »dir"  kommt 
das  Suffix  bereits  in  dem  ^-  zum  Ausdruck,  daher  genügte  hier 
die  Defektivschreibung;  bei  Hob  ,,geh!"  dagegen  heißt  schon  die 
Form  an  sich  ^b  ,  und  die  hinzukommende  Kohortativendung  würde 
gar  nicht  erkennbar  sein,  wenn  man  sie  nicht  durch  das  n-  an- 
gezeigt hätte.  Der  Plural  D']ia  „Völker"  ist  regelmäßig  defektiv 
geschrieben ,  weil  man  hinter  *>  als  Konsonanten  nicht  noch  ein  ^ 
als  Lesemutter  hinzufügen  mochte  (Ges.  §  8  ^•) ;  ebenso  on^^ia  (Gen. 
10  5. 20. 81. 32),  weil  diese  Form  schon  durch  ihr  DH-  hinreichend  als 
Plural  charakterisiert  war;  dagegen  ist  der  Status  constr.  des 
Plurals  i;)ia  trotz  des  doppelten  1  ebenso  regelmäßig  plene  ge- 
schrieben, weil  sonst  der  pluralische  Charakter  der  Form  in  der 
Schrift  nicht  zum  Ausdruck  gekommen  und  der  Plural  nicht  vom 
Singular  zu  unterscheiden  gewesen  wäre.  Dies  ist  übrigens  nur 
eine  Weiter ausgestaltung  desselben  Prinzips,  das  wir,  freilich  nur 
recht  keirahaft,  im  Phönizischen  fanden:  hat  man  dort  wenigstens 
die  Pronomina  suffixa  und  die  Nisbe-Endung  stets  irgendwie  in 
der  Schrift  angezeigt  (s.  oben  S.  320 f.),  so  hat  man  hier  dafür 
gesorgt,    daß  alle  Endungen  in  der  Schrift  zum  Ausdruck  kamen. 

Und  noch  etwas  anderes,  was  gelegentlich  vorgekommen  ist, 
möchte  ich  zum  Schluß  noch  einmal  hervorheben.  Wenn  man  die 
hebräische  Orthographie  auch   zweifellos  in  erster  Linie  aus  dem 


Zur  Setzung  der  Lesemütter  im  Alten  Testament.  339 

Streben  nach  Unterscheidung  sonst  zusammenfallender  Formen  er- 
klären mnß,  so  darf  man  doch  nicht  so  weit  gehen,  dabei  auf  alle 
Verwechselungen,  die  irgendwo  und  irgendwann  einmal  vorkommen 
können,  zu  reflektieren,  sondern  muß  sich  auf  die  näher  lie- 
genden Verwechselungen  beschränken.  So  ist  z.  B.  die 
Gleichschreibung  von  Pbi:j5  „du,  o  IVIann,  hast  getötet"  und  Rbt:]? 
„du,  o  Frau,  hast  getötet",  wie  schon  bemerkt,  durchaus  erträg- 
lich, weil  der  Zusammenhang  sofort  lehrt,  ob  der  Angeredete  ein 
Mann  oder  eine  Frau  ist.  So  macht  es  auch  nichts  aus,  daß  !fb 
„geh!"  und  7\b  „dir"  gleich  geschrieben  werden;  denn  aus  dem 
Zusammenhange  wird  sich  regelmäßig  sofort  ergeben,  ob  „gehl"' 
oder  „dir"  gemeint  ist:  und  selbst  wenn  z.  B.  in  Gen.  22-2  l'>  Tb 
geschrieben  steht,  weiß  doch  der  Kundige  sofort,  daß  es  „geh  dir!" 
heißen  soll.  Dagegen  ist  die  phönizische  Gleichschreibung  der  1. 
und  2.  Pers.  Sing.  Perf.  (rbt2p)  eigentlich  unerträglich  und  die 
Differenzierung  im  Moabitischen  und  Hebräischen  ganz  natürlich: 
denn  ob  derjenige,  der  zu  einem  anderen  redet,  von  sich  selbst 
oder  von  dem  anderen  spricht,  das  konnte  in  der  Tat  oft  genug 
zweifelhaft  sein. 


Kapitel  3. 

Pleneschreibung  kürzerer,  Defektivschreibung  längerer 

Formen. 

Man  hat  längst  richtig  beobachtet,  daß  dieselben  Vokale  oft 
in  kürzeren  Formen  plene,  in  längeren  defektiv  geschrieben  werden. 
So  heißt  es  z.B.  bei  Ges.  §  8^, 

j.daß   die   scriptio  plena   in    zwei   aufeinanderfolgenden  Silben 
im  allgemeinen  vermieden  wurde ;  vgl.  z.  ß.  N"^!: ,  aber  n^xa: , 
pi-M^,  aber  D-^p'^s^);  bip,  nibp;  :?cin^  ^ns2ü". 
Und   schon  der  alte  Gesenius   selbst  bemerkt  in  seinem  ,, Ausführ- 
lichen grammatisch-kritischen  Lehrgebäude  der  hebräischen  Sprache" 
(Lpz.  1817),  S.  50. 

„daß  die  defective  Schreibart  vorzüglich  dann  gewählt  wurde, 


1)  Dies  Beispiel,  das  sich  aus  der  gleich  anzuführenden  Stelle  des  alten 
Gesenius  bis  in  den  neuesten  Gesenius-Kautzsch  fortgeerbt  hat ,  ist  schlecht  ge- 
wählt. Denn  D^p'HS  kommt  nach  Mandelkerns  Konkordanz  nur  dreimal  vor  (Kön. 
I  2  32.  II  109.  Hos.  14 10).  Sonst  ist  immer  D'^p'^'^S  geschrieben,  oder  auch  Dp'^'^2 
(Gen.  18  24  zweimal.  26.28.  Deut.  4  8.  16 19,  d.h.  an  allen  Stellen,  wo  der  Plural 
im  Pentateuch  vorkommt,  außer  Exod.  23  8;  außerdem  Ezech.  23  45). 


340  Alfred  Rahlfs, 

wenn  das  Wort  hinten  gewachsen  war,  und  man  orthographiscb 
ersparen  wollte.     Von  2  quiescentibus  wird  dann  in  der  Regel 
die   erste   defectiv  geschrieben ,    z.  B.  rtibs  Plur.   D'^rtb^'l ,   ^^^T 
mit  Suff.  ^bnT;    p^-^S  Plur.  D^p^2;   rnns«   mit  Suff.  DD^nhS;    sel- 
tener die  zweyte,    z.B.  n'bip   (statt  nibp);    D:inD  4  Mos.  8,17 
[lies  16].  19  (gew.  D^sns  4  Mos.  3,  19  [lies  9])  ^) ; '  ni''nte  1  Mos. 
40,  10  (dagegen  U^Tß^  V.  13  [lies  12]) ;   am   seltensten  werden 
beyde   defectiv   gefunden   z.  B.   QTöbtö   2  Mos.  14,  18  [lies  7]  f. 
D^Tt'^bTö ;  UT]'^  Ezecb.  22  [lies  32],  18,  oder  die  Grundform  selbst 
ohne    hinzugekommene  Verlängerung,    z.B.  bp  f.  bip  Stimme; 
0^3   5  Mos.  32,  34  f.   D^ias ,    n:   f.   n^3  (Leuchte)  2  Mos.   23,  2 
[gemeint  ist  wohl  3  Mos.  24,  2,  wo  aber  nicht  1D,   sondern  IS 
steht]." 
Die   vom   alten   Gesenius    angeführten   Beispiele    zeigen    zugleich, 
daß   hier,    wie    überhaupt   bei   den    Lesemüttern    im   Inneren    der 
"Wörter,  von  strenger  Regelmäßigkeit  keine  Rede  sein  kann ;  auch 
gehen  die   hebräischen   Handschriften,    wie    schon   früher  (S.  317) 
bemerkt ,    gerade  in  der  Setzung  dieser  Lesemütter   sehr   oft  aus- 
einander.    Trotzdem  kann  das  Vorhandensein   einer    starken  Ten- 
denz, kürzere  Formen  plene,  längere  defektiv  zu  schreiben,  jedem, 
der  die  uns  vorliegende  Orthographie  des  Alten  Testamentes  auf- 
merksam betrachtet,  durchaus  nicht  zweifelhaft  sein. 

Wie  erklärt  sich  diese  Tendenz?  Ich  glaube:  daraus,  daß 
längere  Formen  im  allgemeinen  schon  an  sich  leichter  zu 
erkennen  und  weniger  zweideutig  sind  als  kürzere,  so  daß 
es  bei  ihnen  auch  weniger  notwendig  war,  das  Verständnis  durch 
die  Hinzufügung  von  Lesemüttern  auf  die  richtige  Spur  zu  leiten. 
Nehmen  wir  z.  B.  das  erste  Wort,  welches  der  alte  Gesenius 
anführt,  nibs?  „Gott".  E§  kommt  im  Sing,  mehr  als  50mal,  im 
Plur.  unendlich  oft  vor  und  wird,  wie  Gesenius  richtig  angibt, 
regelmäßig  im  Sing,  plene,  im  Plur.  defektiv  geschrieben.  Defek- 
tivschreibung des  Singulars  findet  sich  nach  Mandelkerns  Konkor- 
danz ,  die,  wenn  sie  auch  die  Varianten  der  Handschriften  und 
Ausgaben  unberücksichtigt  läßt,  doch  ein  für  unsern  Zweck  hin- 
reichend treues  Bild  gibt,  nur  in  Deut.  32 1?  (aber  32  is  'if^^)-  Kön. 
II  17  81  (aber  Q'^re  richtig  ""Tp)^).  Dan.  11  ss  (fü'^ijb';* ,  aber  gleich 
darauf  in  demselben  Verse  nibsbl),  außerdem  an  der  einzigen  Stelle, 
wo  der  Singular  mit  einem  Suffix  verbunden  ist:  Hab.  In  inbxb. 
Im  Plural  wird  das  ö  im  Stat.  abs.  D'^nbs  stets  defektiv  geschrieben ; 

1)  Die  Ausgaben  von  Kittel  und  Ginsburg  haben  umgekehrt  D3^r)3  in  Nuni. 
3  9,  D'^SnS  in  Num.  8 16. 19, 


Zur  Setzung  der  Lesemütter  im  Alten  Testament.  341 

PleneschreibuDg  findet  sich  nur  ein  paarmal  in  anderen  Formen 
des  Pinrals  nnd  zwar  nur  im  Psalter:  Ps.  I847  '•n^'i?  faber  in  der 
Parallelstelle  Sam.  11  22 <:  '^rf:»),  145i  -»nibK  und  in  Pausa  143 10 
'»n'^bt*.  Diesen  Unterschied  erkläre  ich  mir  daraus,  daß  der  de- 
fektiv geschriebene  Singular  "bs  auch  nbs  ..Fluch",  nbs  oder  n'ss 
.,Terebinthe",  n3K  „diese"  gelesen  werden  konnte,  der  Plural  Dinbs 
dagegen ,  sobald  man  nur  die  Endung  plene  schrieb ,  absolut  un- 
zweideutig war  und  selbst  bei  völlig  defektiver  Schreibung  (nnbx), 
die  aber  in  Wirklichkeit  im  A.  T,  nicht  vorkommt,  höchstens  mit 
defektiv  geschriebenem  cnbs  ,,zu  ihnen"  hätte  verwechselt  werden 
können.  Ebenso  war  auch  der,  wie  gesagt,  nur  einmal  vorkom- 
mende Singular  mit  Suffix  schon  in  der  Schreibung  inbs  ganz  un- 
zweideutig und  bedurfte  keiner  weiteren  Verdeutlichung, 

Ein  anderes  Beispiel  ist  r^i^  ,, Zeichen".  Nach  Mandelkern 
wird  es  im  Sing,  fast  immer  plene  geschrieben;  nur  wenn  es  mit 
dem  Artikel  oder  der  Präposition  b  verbunden  ist,  kommt  zuweilen 
üefektivschreibung  vor:  Exod.  4$  zweimal.  819  nsn  (sonst  9mal 
niS"),  Exod.  12 13  ri^b  (sonst  14mal  r.ixb).  Dagegen  wird  der  Plur. 
^öthöth  trotz  seines  doppelten  ö  häufig  ganz  defektiv  (r.rs)  ge- 
schrieben, und  auch  da,  wo  die  Lesemutter  1  hinzugefügt  ist,  ist 
sie,  obwohl  der  Plur.  ohne  und  mit  Suffix  35  mal  vorkommt,  doch 
niemals  in  beiden  Silben  hinzugefügt,  sondern  nur  entweder  in  der 
ersten  oder  in  der  zweiten  Silbe.  Der  Plur.  mK  war  eben  schon 
an  sich  unverkennbar,  während  der  Sing,  r«,  besonders  wenn  er 
weder  den  Artikel  noch  eine  Präposition  vor  sich  hatte,  mit  dem 
Akkusativzeichen  TS,  der  Präposition  nx  „mit",  dem  Pronomen 
pers.  separ.  der  2.  Pers.  Sing.  FS?  (allerdings  fast  immer  nPS  ge- 
schrieben) nnd  rs  und  auch  mit  rs  ,, Pflugschar (?)"    zusammenfiel. 

Wie  maßgebend  für  die  Plene-  nnd  Defektivschreibung  die 
Rücksicht  auf  das  Verständnis  gewesen  ist,  sieht  man  auch  an  dem 
Worte  "1^35  „Held",  das  im  Gegensatze  zu  der  sonst  herrschenden 
Tendenz  auch  im  Plural  meistens  mit  1  geschrieben  wird.  "i^Sä 
„Held"  wird  durch  das  1  von  123  „Mann"  unterschieden.  Diese 
Unterscheidung  war  aber  nicht  nur  im  Sing. ,  sondern  auch  im 
Plur.  angebracht,  da  auch  die  Plurale  C^as  und  D^^ias  gleich  aus- 
sehen, wenn  man  nicht  in  ff^^S^i  das  1  einsetzt. 

Durch  die  bisherigen  Darlegungen  wird  die  Tendenz,  kürzere 
Wörter  mehr  plene,  längere  mehr  defektiv  zu  schreiben,  genügend 
erklärt  sein.  Diese  Tendenz  hat  nun  aber,  nachdem  sie  sich  ein- 
mal ausgebildet  hatte,  zu  einigen  eigentümlichen  Kons  equenzen 
geführt. 

Ich  habe  im  vorigen  Kapitel  (S.  338)  bemerkt,   daß  nrx  „du" 


342  Alfred  ßahlfs, 

fast  immer,  das  Suffix  T[-  und  die  Perfektendung  n-  zuweilen  plene 
geschrieben  werden.  Die  Pleneschreibung  hat  bei  nnsi  ihren  guten 
Grund :  bloßes  rii?  ist,  wie  wir  eben  bei  n'ii?  sahen,  recht  vieldeutig. 
Ebenso  erklärt  es  sich  leicht,  daß  man  die  2.  Pers.  Mask.  Sing. 
Perf.  von  ln^72  ,, sterben"  und  rrilö  ,, setzen"  plene  geschrieben  hat: 
Ezech.  288  nnttl,  Ps.  87  nniü  (ebenso  Ps.  908  Q're,  aber  K«thlbh 
nffi) ;  denn  da  das  t  der  Endung  mit  dem  t  des  Stammes  zusammen- 
fiel, kam  die  Endung  bei  Defektivschreibung  gar  nicht  zum  Aus- 
druck, und  die  2.  Pers.  Mask.  war  nicht  von  der  3.  Pers.  Mask. 
tra  und  niö  zu  unterscheiden  ^).  Sonderbar  aber  ist  es,  daß  man 
nun  auch  zu  P,n3  „du  gäbest"  sehr  oft  ein  n-  hinzugefügt  hat 
(63mal  npriD ,  26mal  JPini).  Hier  kann  man,  da  schon  nn;  unzwei- 
deutig ist,  keinen  anderen  Grund  für  die  Pleneschreibung  annehmen 
als  die  durch  die  Assimilation  des  3.  Radikals  hervorgerufene 
Kürze  der  Form;  und  es  scheint  nicht  einmal  bloßer  Zufall  zu 
sein,  daß  P\rü  noch  etwas  häufiger  defektiv  geschrieben  wird,  wenn 
es  ein  1  vor  sich  hat  und  dadurch  schon  etwas  verlängert  ist  (19 
mal  1^57151  >  40mal  nrin;*!) ,  als  wenn  es  für  sich  allein  steht  (7  mal 
S^Pi ,  23  mal  npns).  Auch  kann  man  erwähnen ,  daß  unter  den 
übrigen  Beispielen  für  plene  geschriebenes  np-,  welche  Ges.  §  44  7 
anführt,  zwei  besonders  kurze  Formen  sind :  Gen.  21 23  nr|"\5  ,,du 
weilst  als  Fremdling",  Kön.  II  93  nripS')  „und  du  sollst  fliehen". 
Doch  stehen  daneben  einerseits  längere  Formen  von  anderen  Verben, 
die  gelegentlich  gleichfalls  plene  geschrieben  werden,  z.  B.  ni^'l^ 
„du  weißt"  Sam.  II226  (vgl.  Ges.  a.  a.  0.),  andrerseits  ebenso  kurze 
Formen,  die  defektiv  geschrieben  werden,  z.B.  P'»]?  „du  standest 
auf"  Sam.  II  12  21  u.  ö. 

Ebenso  sonderbar  wie  die  Pleneschreibung  nrin:  und  ebenso 
nur  aus  der  durch  die  Assimilation  hervorgerufenen  abnormen 
Kürze  der  Form  erklärbar  ist  die  Pleneschreibung  des  Suffixes  T^- 
in  nDDi  ,,er  wird  dich  schlagen",  die  sich  ausnahmslos  an  allen 
sieben  Stellen  findet,  wo  die  Form  vorkommt:  Deut.  2822.27.28.35 
nDS;;',  Jes.  10  24.  Jer.  40 15.  Ps.  1216  n35\  Auch  in  einigen  anderen 
Fällen,  wo  dasselbe  Suffix  plene  geschrieben  wird,  ist  der  Grund 
in  der  Kürze  der  Formen  zu  suchen : 

ns^i?  „wo  bist  du?"  Gen.  '69  (sonst  nicht  mit  diesem  Suffix 
vorkommend) 


1)  Allerdings  fällt  bei  der  Pleneschreibung  die  2.  Pers.  Mask.  mit  der  3.  Pers. 

Fem.  nntt  und  Simö  zusammen.  Aber  dies  wurde  nicht  als  so  störend  empfunden, 
da  das  Geschlecht  sich  meistens  aus  dem  Zusammenhange  leichter  ergibt  als  die 
Person. 


Zur  Setzung  der  Lesemütter  im  Alten  Testament.  343 

nycD  „wie  du"  Exod.  15  n  zweimal ,  sonst  stets  TfittS 
nrss  „dein  Kommen"  Gen.  10 19  zweimal.  30.  13 10.  25  is.  Kön. 
I  18  46,  sonst  m^2  oder  T]»'3. 
In  den  beiden  letzten  Fällen  kann  ein  Zufall  kaum  obwalten,  da 
die  Pleneschreibung  des  Suffixes  nur  dann  vorkommt,  wenn  das  ö 
von  TCD  und  6«"Q  defektiv  geschrieben  und  das  Wort  dadurch  in 
der  Schrift  kürzer  geworden  ist. 


Kapitel  4. 

Wechsel  der  Orthographie. 

Auf  der  Mesainschrift  wird,  wie  schon  S.  316  bemerkt, 
„in  seinem  Hause"  in  Z.  7  defektiv  nraa,  in  Z.  25  dagegen  plene 
Pr;"'3n  geschrieben.  Ebenda  werden  die  Formen  rrc""  „seine  Tage" 
Z.  8  und  nc-i  „seine  Armen  (?)"  Z.  20,  die  etwa  ini^^  und  ^n-'cn 
zu  sprechen  sind  (s.  oben  S.  322),  defektiv,  dagegen  ni"iT«  „ihre 
Tore"  Z.  22  plene  geschrieben;  daß  n">ny83  weibliches,  TVü^  und  rrct 
männliches  Suffix  haben,  macht  nichts  aus,  da  die  Mesainschrift 
sonst  zwischen  beiden  Suffixen  keinerlei  Unterschied  macht,  s.  oben 
S.  321f.  ^).  Diese  Inkonsequenz  fällt  uns  auf;  sie  ist  aber  vielleicht 
beabsichtigt.  Vielleicht  hat  der  Schreiber  der  Inschrift  in  diesen 
Fällen,  wo  verschiedene  Schreibungen  möglich  waren,  absichtlich 
zwischen  ihnen  gewechselt.  Über  bloße  Vermutung  kommen  wir 
allerdings  hier,  wo  das  Material  so  dürftig  ist,  nicht  hinaus'-). 

Mit  Sicherheit  dagegen  können  wir  solchen  absichtlichen  Wechsel 
der  Orthographie  im  Alten  Testamente  konstatieren.  Aller- 
dings wird  auch  hier  die  Untersuchung  von  manchen  Schwierig- 
keiten bedrückt.    Die  alttestamentliche  Orthographie  ist  uns,   wie 


1)  Das  gleich  auf  •T'iyiD  folgende  nn'5~:^T3  n^^^  Türme"  muß  hier  aus 
dem  Spiele  bleiben,  da  die  Moabiter  noch  die  ursemitische  Form  Sli'b'^^Ta  statt 
der  hebräischen  n''rib"j|'Q  gehabt  haben  können. 

2)  Analoge  Beobachtungen  würde  man  gewiß  auch  an  anderen  Inschriften 
machen  können.  Ich  kann  allerdings  zur  Zeit,  da  ich  die  Inschriften  nicht  darauf 
durchgesehen  habe,  nur  noch  die  Inschrift  des  Königs  Jehawmelek  von  Byblus 
(M.  Lidzbarski,  Altsem.  Texte  1  [1907],  S.  12—14)  anführen,  in  der  das  Akku- 
sativzeicben  in  Z.  3.  7  ns ,  in  Z.  8.  15  dagegen  H^S  geschrieben  wird,  ein 
Wechsel,  der  kaum  zufällig  ist,  da  dieselbe  Inschrift  in  Z.  4—6  auch  zwischen 
den  sinngleichen  'Demonstrativis  IT  und  T  und  zwischen  Substantiven  mit  und  ohne 
Artikel  wechselt  ("(T  und  T  lösen  sich  dort  ganz  regelmäßig  ab :  "JT ,  T ,  "JT ,  T ,  ]T , 
zum  Schluß  das  Fem.  ST), 


344  Alfred  Rahlfs, 

schon  S.  317 f.  bemerkt,  nur  in  stark  modernisierter  Form  erhalten, 
und  durch  die  Modernisierung  sind  gewiß  manche  Inkonseq,ueazen 
rein  zufällig  in  sie  hineingekommen.  Auch  müssen  wir  infolge 
dieser  Modernisierung  natürlich  darauf  verzichten,  feststellen  zu 
wollen,  inwiefern  der  Wechsel  der  Orthographie  etwa  schon  auf 
die  Originale  der  alttestamentlichen  Schriften  selbst  zurückgeht. 
Aber  bei  aller  gebotenen  Vorsicht  und  Zurückhaltung  dürfen  wir 
doch  sagen,  daß  jener  Wechsel  der  Orthographie  bei  Wiederkehr 
derselben  Wörter  so  häufig  ist,  daß  man  ihn  unmöglich  aus  bloßem 
Zufall  erklären  kann. 

Schon  Fr.  Böttcher,  Ausführl,  Lehrbuch  der  hebr.  Sprache  1 
(1866),  S.  95  hat  einen  häufigen  Fall  solchen  Wechsels,  bei  dem 
sich  ohne  die  Annahme  einer  Absicht  nicht  wohl  auskommen  läßt, 
beobachtet.  Er  sagt:  „Weggelassen  sind  die  sonst  gewohnten  Vo- 
cal-  oder  Dehnbuchstaben  .  .  .  nicht  selten,  wo  dasselbe  Wort  oder 
ein  entsprechendes,  schon  mit  Vocalbuchstab  verdeutlicht,  kurz 
zuvor  da  war'',  und  er  führt  eine  größere  Zahl  von  Beispielen  an, 
als  erstes  Gen.  19 33  rttt^pai  und  35  •^^|?:il  „und  in  ihrem  Aufstehen". 
Sehr  viele  weitere  Beispiele  ließen  sich  mit  leichter  Mühe  hinzu- 
fügen.    Ich  führe  nur  zwei  charakteristische  an: 

1)  In  der  Fabel  Jothams  in  Rieht.  9  ist  „werde  König"  zu- 
erst plene  geschrieben:  s  HDlbls  (nach  dem  K^thibh),  dann  defektiv: 
10  '^sb'a,  dann  wieder  plene:  12  "^DlbTa  (nach  dem  K°thibh),  und 
schließlich  wieder  defektiv:  i4  "ibia. 

2)  In  der  Geschichte  von  den  Träumen  Pharaos  Gen.  41,  wo 
sehr  oft  dieselben  Worte  wiederkehren,  ist  „Kühe"  zuerst  regel- 
mäßig plene  geschrieben:  2 ff.  Tt^\^,  aber  nachher  einmal  defektiv: 
26  ti'lB.    Ebenda  stehen  nebeneinander 

2  Tht"*  und  4. 18  rib";  „schöne" 

8.  4. 19. 20  tr\y'\  und  27  ni?n  „schlechte" 

3.  6. 7. 23  riip'n  und  4. 24  np'n  „dünne" 

6  ^).  22.  24. 35  fiinu  uud  26  zweimal  nhb  ,,gute" 

7  n2:Pban;i  und  24  13?bnri^  „und  sie  verschlangen" 
7  n'isbu  und  22  ns«bia  „volle". 

Aber  das  zuletzt  genannte  Kapitel  Gen.  41  zeigt  zugleich, 
daß  durchaus  nicht  immer  zuerst  die  Plene-  und  dann  die  Defek- 
tivschreibung kommt,  sondern  daß  es  auch  umgekehrt  sein  kann. 
„Heraufkommende"  wird,  obwohl  gerade  dieses  Wort  die  erste 
der  in  diesem  Kapitel  so  zahlreichen  femininischen  Pluralformen 
ist,  doch  zuerst  defektiv  geschrieben :  a  rib'y ,  und  erst  dann  plene : 


1)  Aber  Kittel:  5  n3b. 


Zur  Setzung  der  Lesemütter  im  Alten  Testament.  345 

3.  5  rhbiy;  und  dieselbe  Erscheinung  wiederholt  sich  nachher,  wo 
der  Pharao  seine  Träume  erzählt,  denn  auch  hier  wird  das  Wort 
wieder  zuerst  defektiv  geschrieben:  is  rbir  ^),  und  erst  dann  plene : 
19  nnby;  zum  Schluß  aber  kommt  wieder  Defektivschreibung:  22.  27 
r'b?.  Ebenso  geht  die  Defektivschreibung  r"i5''i3  „fette"  2. 4  der 
Pleneschreibung  rns'^na  5.  7.  is  voraus,  und  erst  zum  Schluß  kommt 
wieder  Defektivschreibung :  so  njf^nn.  Auch  ,, versengte"  wird  in 
der  Endsilbe  zuerst  defektiv  geschrieben:  e  ns^"p,  und  nachher 
plene :  23.  2-  rriBnö ;  doch  geht  mit  diesem  Wechsel  ein  anderer 
Hand  in  Hand,  da  das  in  der  Endsilbe  defektiv  geschriebene  Wort 
Pleneschreibung  in  der  mittleren  Silbe  hat  und  umgekehrt. 

Entsprechende  Beobachtungen  lassen  sich  auch  an  vielen  an- 
deren Stellen  des  A.  T.  machen.  Gleich  in  Gen.  1  finden  wir 
„Lichter"  zuerst  völlig  defektiv  geschrieben :  14  nnSTS ,  erst  dann 
in  der  mittleren  Silbe  plene :  15  n'nij^ia ,  und  zum  Schluß  wieder 
defektiv :  le  rnxc  In  Gen.  10  ist  das  gewöhnlich  plene  geschrie- 
bene Wort  „Held"^  (vgl.  oben  S.  341)  zuerst  zweimal  defektiv  ge- 
schrieben: 8.  9*  "133,  und  erst  zum  dritten  Male  plene:  9^  "^133.  Und 
bei  dem  Worte  , .nackte"  ist  in  Gen.  225  zwar  die  zweite  und 
dritte  Silbe  plene  geschrieben,  aber  die  erste  defektiv:  a"'S'.TJ, 
während  bald  darauf  in  3:  die  erste  Silbe  plene  und  die  beiden 
anderen  defektiv  geschrieben  sind:  C'iZn'^y.  Beabsichtigt  ist  hier 
m.  E.  in  beiden  Fällen  dieselbe  Aussprache.  Überhaupt  glaube  ich 
nicht,  daß  es  neben  zh'^y  auch  ein  Di7  „nackt"  gegeben  hat.  ITT^ 
verdankt  seine  Existenz  lediglich  der  Punktation,  die  sich  zu 
mechanisch  an  die  überlieferte  Orthographie  klammerte  und  da, 
wo  die  erste  Silbe  defektiv  geschrieben  war,  regelmäßig  D"^?  statt 
Ciy  vokalisierte ,  freilich  nicht  ohne  inkonsequenterweise  einige 
Ausnahmen  zuzulassen  und  auch  defektiv  geschriebenes  C\7  zu- 
weilen (nach  Mandelkern  Ezech.  16 7.  18  le.  2329)  ff^IP  zu  vokalisieren. 

Dieser  häufige  Wechsel  der  Orthographie  läßt  sich,  da  er  sich 
oft  in  dicht  aufeinander  folgenden  Versen  findet,  nicht  ausschKeß- 
lich  aus  Nachlässigkeit  bei  der  B-enovierung  der  alttestamentlichen 
Orthographie  erklären.  Es  wäre  doch  zu  sonderbar,  wenn  man 
z.  B.  ein  ursprüngliches  UXnS  in  Gen.  2  25  zu  O'^'QIt:?  und  wenige 
Verse  darauf  aus  purem  Mangel  an  Aufmerksamkeit  zu  c^i"»?  ge- 
macht hätte.  Wir  müssen  vielmehr  die  den  alten  Hebräern  eigene 
Freude  an  der  Abwechselung  zur  Erklärung  heranziehen. 

Diese  Freude  liegt  ja  den  Hebräern  sozusagen  im  Blute.  Der 
Dichter  bemüht  sich  vor  allem,    denselben  Gedanken  in   den  par- 

1)  Aber  Kittel:  18  riby. 


346  Alfred  Rahlfs, 

allelen  Versgliedern  auf  möglichst  verschiedene  Weise  auszudrücken, 
und  wechselt  daher,  um  nur  ein  Beispiel  anzuführen,  gern  auch 
zwischen  Perfekt  und  Imperfekt,  was  unter  Umständen  zur  Folge 
hat,  daß  wir  gar  nicht  ausmachen  können,  von  welcher  Zeit  er 
eigentlich  spricht.  Und  auch  der  Prosaiker  liebt,  falls  er  nicht 
gerade  durch  genaue  Wiederholung  derselben  Worte  einen  beson- 
deren Eindruck  erzielen  will,  sehr  die  Abwechselung.  Sogar  der 
Priesterkodex ,  als  dessen  Charakteristikum  mit  Recht  die  stete 
Wiederkehr  derselben  Ausdrücke  hervorgehoben  wird,  ist  nicht  so 
eintönig,  wie  man  danach  glauben  könnte.  Man  braucht  nur  ein- 
mal in  Gen.  1  die  Verse  11  und  24,  weiche  Befehle  Gottes  ent- 
halten, mit  den  Versen  12  und  25,  welche  über  die  Ausführung 
dieser  Befehle  berichten,  zu  vergleichen,  oder  in  Gen.  23  sich  die 
mehrfach  variierte  höfliche  Bitte  um  Gehör  anzusehen  (nach  rich- 
tiger Herstellung  des  Textes  5/6  "i'-^i?  ^s^^tttö  ^b ,  u  ''??ttTß  ^5'lS  ^b , 
13  ''2y'at3  'nb  nriS-DSi  -fi? ,  14/15  wie  n),  so  wird  man  merken ,  daß  auch 
dieser  Schriftsteller  bei  aller  Gleichförmigkeit  seiner  Ausdrucks- 
weise doch  im  einzelnen  nach  Abwechselung  strebt.  Dieses  Streben 
erstreckt  sich  auch  auf  die  grammatischen  Formen:  „nach  seiner 
Art"  heißt  Gen.  In  is'^'ab ,  dagegen  12.  21.  25  ^njiiab,  und  wiederum 
Lev.  11 15. 22  (P)  iD-ipb ,  16. 22  (2"-4°).  29  ^ns-i^b ,  Deut.  14 14  TOb, 
15  ins'i'ab.  Erst  recht  findet  sich  solcher  Wechsel  zwischen  gleich- 
wertigen Formen  natürlich  bei  anderen  Schriftstellern ;  hier  nur 
einige  Beispiele  aus  Stellen  der  Genesis ,  die  nicht  dem  Priester- 
kodex, sondern  dem  Jahwisten  oder  Elohisten  angehören:  810.12 
bnil  und  bni^l  d,  i.  nach  richtiger  Aussprache  bn'^l  und  bfi'^'^l  „und 
er  wartete",  1933. 35  i5in  nb-^bs  (vgl.  Ges.  §  126«/)  und  «inn  nb';'b5 
„in  jener  Nacht",  21 28. 29  "iH'^ab  und  HD'nnb  „für  sich  allein"  (beides 
seltene  Formen  für  H^b),  2423.25  "j'^bb  und  "Jlbb  „zu  übernachten", 
37?  D'^isbs  „Garben"  und  DD'iK'abi?  „eure  Garben".  Auch  in  den 
aramäischen  Stücken  des  A.  T.  finden  sich  analoge  Erscheinungen, 
z.  B.  wechseln  in  demselben  Verse  Jer.  10  n  die  beiden  Formen 
«pjnii  und  »Ty»  „die  Erde",  vgl.  Aramaic  papyri  discovered  at  As- 
suan  ed.  Sayce  and  Cowley  (1906),  Papyrus  B,  wo  in  Z.  15  f. 
gleichfalls  zuerst  Kpn«  und  dann  »:pnK  erscheint. 

Nach  alledem  ist  es  wohl  zu  begreifen,  daß  sich  das  Streben 
nach  Abwechselung  auch  auf  die  Orthographie  ausgedehnt  hat,  und 
die  verschiedenen  möglichen  Schreibungen  oft  miteinander  wechseln  ^). 


1)  Übrigens  wechseln  nicht  nur  Plene-  und  Defektivschreibung,  sondern  auch 
verschiedene  Arten  der  Pleneschreibung :  in  Hiob  38  u  wird  zuerst  HB  „hier" 
geschrieben,  dann  KJS ;  in  Ez.  40 10  zuerst  dreimal  T\B ,   dann  einmal  1B ;    ebenda 


Zur  Setzung  der  Lesemütter  im  Alten  Testament.  347 

Die  späteren  Juden  haben  allerdings  an  dem  Wechsel  der  Ortho- 
graphie zuweilen  Anstoß  genommen  und  ihn  beseitigt;  so  haben 
sie  in  Gren.  19  33  das  zweite  ^  von  rrcipm  „und  in  ihrem  Aufstehen" 
durch  einen  übergesetzten  Punkt  getilgt,  um  dieselbe  Schreibung 
mspm  wie  in  1935  herzustellen^).  Aber  sie  haben  auch  an  dem 
Wechsel  der  Formen  zuweilen  Anstoß  genommen  und  z.  B.  in  Gen. 
810.12  statt  brr^  und  br.|;"l ,  um  diese  beiden  Formen  einander  mög- 
lichst anzugleichen,  bn^l  und  bn^'^  gesprochen,  obwohl  bn^>  nicht 
von  bn*' ,  sondern  von  bTi  oder  bbn  herkommt,  und  bn^^  eine  ganz 
unmögliche  Bildung  ist. 


40 12  zuerst  einmal  HE ,  dann  zweimal  iß  (oder  nach  Ginsburgs  neuester  Ausgabe 
zweimal  nis  und  einmal  IE) ;  ebenda  40  39  zuerst  einmal  ifi ,  dann  einmal  TVS  ; 
ebenda  4048  zuerst  zweimal  HB,  dann  zweimal  is  (auch  sonst  wechseln  in  Ez.  40 
nis  und  iE,  während  in  Ez.  8  nur  ni« ,  in  Ez.  41  nur  ^B  vorkommt  [nur  in 
diesen  drei  Kapiteln  kommt  das  Wort  bei  Ez.  vor]). 

1)  Die  Punktation  erkennt  jedoch  wiederum  diese  Tilgung  nicht  an,  sondern 
Tokalisiert  ma^pSI . 


KgL  Oes.  d.  Wiss.  Nachrichten.    Pbfl.-hisL  Klasse.    191&    Ucft  3.  24 


Kollektaneen  zum  Kautillya  Arthasästra*). 

Von 

Julius  Jolly. 

Vorgelegt  von  Herrn  H.  Oldenberg  in  der  Sitzung  vom  25.  März  1916. 

Zur  Datierungsfrage. 

Die  überragende  Wichtigkeit  des  K.A.  für  die  altindische 
Staatsverwaltung,  Politik  und  Kriegskunst,  Rechts-  und  Wirt- 
schafts-, Kultur-  und  Literaturgeschichte  muß  es  entschuldigen,, 
wenn  hier  der  Versuch  gewagt  werden  soll,  die  schon  viel  ven- 
tilierte, schwierige  Frage  nach  der  Zeit  seiner  Entstehung  noch 
einmal  aufzugreifen. 

Das  von  mir  ZDMGr.  68,  355  ff.  aus  Dandins  idäninv  entnommene 
Argument,  daß  dieser  Dichter  des  7.  Jahrhunderts  n.  Chr.  das  K.A. 
als  ein  nicht  lange  vor  seiner  Zeit  geschriebenes  Werk  angesehen 
habe,  ist  von  H.  Jacob i  ZDMG.  68,  603 — 605  beanstandet  worden,, 
und  ich  gebe  die  Möglichkeit  zu,  das  „kürzlich"  von  dem  histori- 
schen Milieu  zu  verstehen,  in  das  der  Dichter  seine  Märchenerzählung 
versetzt.  Dann  wäre  die  Stelle  für  die  Datierung  des  K.A.  ohne 
Bedeutung.  Für  viel  wahrscheinlicher  halte  ich  jedoch,  daß  ein 
„aus  der  Rolle  Fallen"  Dandins  vorliegt,  der  dem  Verfasser  des 
damals  modernen,  oder  wenigstens  von  ihm  für  modern  gehaltenen 
Lehrbuchs  der  Politik,  das  offenbar  zu  seiner  Zeit  viel  gelesen 
und  auch  von  ihm  selbst  fleißig  benutzt  war,  einen  Hieb  versetzen 
wollte.  Gerade  wenn  Dap^in  ein  berechnender  Schriftsteller  war, 
wird  er  die  etwas  weit  hergeholten  satirischen  Anspielungen  auf 
das  K.A.   seiner   Dichtung   nicht   ohne   solchen   besonderen  Anlaß 


1)  Die  vorliegenden  Untersuchungen  schließen  sich  an  die  ZDMG.  68,  345  flF., 
69,  369fiF.  veröffentlichten  an. 


Julius  Jolly,  KoUektaneen  zum  Kautiliya  Arthasästra.  349 

eingeflochten  haben.  Meine  weitere  Vermntong,  daß  das  Maurya 
in  Mauryärthe  bei  Dandin  vielleicht  'König'  bedeuten  solle,  war 
hauptsächlich  durch  den  auffallenden  Gleichklang  dieses  Kompo- 
situms mit  narendrärthe  K.A.  75,  9  hervorgerufen.  Es  kann  aber 
auch  noch  darauf  verwiesen  werden,  daß  nach  der  indischen  Glosse 
bei  Hesychios:  pnoQuZs'  oC  x&v  'Ivöäv  ßaöLXsls^)  Moriya  auch  dem 
griechischen  Altertum  als  ein  indischer  Königstitel  bekannt  war. 
Der  Bedeutungsübergang  wäre  ähnlich  zu  denken  wie  bei  der 
Entwicklung  des  Individualnamens  Caesar  zur  Bezeichnung  der 
Kaiser. 

Meine  von  Jacob i  nicht  berücksichtigte  Hauptschwierigkeit 
in  Bezug  auf  eine  allzu  frühe  Datierung  des  K.A.  liegt  nach  wie 
vor  in  den  nahen  Beziehungen  dieses  Textes  zu  den  jüngeren 
Gesetzbüchern,  auf  die  ich  schon  in  einem  früheren  Artikel  ZDMG. 
67, 49 — 96  ausführlich  hingewiesen  habe.  Ist  das  K.A.  wirklich 
seinem  ganzen  Umfang  nach  schon  um  300  v.  Chr.  entstanden,  so 
klappt  die  ganze  bisher  angenommene  Chronologie  der  Smrtis  wie 
ein  Kartenhaus  zusammen.  Dadurch  sieht  sich  der  Arbeiter  auf 
dem  Gebiet  des  Dharmaäästra  genötigt,  zu  dieser  Datierungs frage 
Stellung  zu  nehmen. 

Nun  hatte  ich  früher  die  Möglichkeit  offen  gelassen,  jene  un- 
verkennbaren Beziehungen  aus  der  Aufnahme  jüngerer,  aber  mit 
dem  Grundstock  des  Werks  geschickt  verschmolzener  Elemente 
aus  den  späteren  Gesetzbüchern  in  das  K.A.  zu  erklären.  Jedoch 
schwinden,  je  eingehender  man  sich  damit  beschäftigt,  desto  mehr 
alle  Zweifel  an  der  Einheitlichkeit  des  ganzen  Textes.  Besonders 
die  zahlreichen  Verweisungen  nach  rückwärts  und  vorwärts  zeigen, 
daß  das  K.A.  ein  Werk  aus  einem  Gusse  ist,  wie  dies  ja  auch 
Jacobi  annimmt^). 

Die  Smrtis  oder  Dharmasästras  bieten  uns  das  deutliche  Bild 
einer  historischen  Entwicklungsreihe,  von  den  noch  deutlich  znr 
vedischen  Literatur  gehörigen,  teilweise  als  Bestandteile  der  alten 
Lehrbücher  vedischer  Schulen  enthaltenen  Dharmasütras  zu  dem 
metrischen  Dharmasästra  des  Manu,  und  von  diesem  zu  den  jüngeren 
versifizierten  Smrtis  des  Yäjnavalkya,  Närada,  Brhaspati  u.  a. 
Zuerst  wurde  diese  Reihenfolge  an  der  Yäjnavalkyasmrti  fest- 
gestellt, von  der  schon  Stenzler  bemerkte,  daß  sie  die  nächste 
Stufe  nach  Manu  darstellt.  Während  z.  B.  Manu  3, 13  die  Ehe 
eines  Brahmanen  mit  einer  Südrä  noch  zuläßt,  polemisiert  Yäjiia- 


1)  Vgl.  Charpentier,  Zu  den  indischen  Glossen  bei  Hesychios  K.Z.  45,  90. 

2)  Ahnlich  auch  Hertel  WZKM.  24,419. 

24* 


350  Julius  Jolly, 

valkya  1, 36  mit  klarem  Hinweis  auf  Manus  Regel  gegen  diese 
Anschauung.  Einen  noch  jüngeren  Standpunkt  als  Yäjnavalkya 
vertritt  Närada,  schon  darin,  daß  bei  ihm  das  weltliche  Recht 
ganz  von  dem  religiösen  abgelöst  und  für  sich  dargestellt  ist. 
Eine  noch  etwas  spätere  Stufe  der  Rechtsentwicklung  scheint  bei 
Brhaspati  vorzuliegen.  Diesen  relativen  Kriterien  entsprechen  die 
absoluten,  die  besonders  in  den  jüngeren  Texten  vorliegen,  so 
wenn  Y.  auf  Grund  seiner  Bekanntschaft  mit  der  griechischen 
Astrologie  nach  früheren  Untersuchungen  Jacobis^)  frühestens 
in  das  3.  Jahrh.  n.  Chr.  zu  setzen  ist,  wenn  die  jungen  Münznamen 
nänaka  und  dmära-SrjvdQiov  {rj  schon  als  t  zu  sprechen),  ersterer 
bei  Y.,  letzterer  bei  N.  und  Br.  auftreten.  Aus  solchen  Daten 
ergeben  sich  freilich  nur  ungefähre  Schätzungen,  und  ich  kann 
Winternitz^)  zugeben,  daß  es  auch  möglich  wäre,  N.  und  Br. 
in  eine  etwas  frühere  Zeit  zurückzudatieren  als  500 — 700  n.  Chr. 
Doch  bildet  die  untere  Grrenze  für  N.  bisher  nur  die  Erwähnung 
des  Näradiyadharmasästra  bei  Bäpa  (7.  Jahrh.). 

In  diese  Entwicklungsreihe  ist  nun  unerwartet  die  hochbedeut- 
same Darstellung  des  altindischen  Rechts  im  K.A.  hineingetreten, 
die  den  zentralen  Teil  dieses  Textes  ausmacht  und  schon  deshalb 
nicht  als  spätere  Beifügung  ausgeschaltet  werden  kann.  Trotz 
ihrer  Eigenartigkeit  berührt  sich  diese  Darstellung  vielfach  wört- 
lich mit  allen  Gesetzbüchern,  weitaus  am  meisten  aber  mit  Y. 
und  N.,  überhaupt  mit  den  jüngeren  Gesetzbüchern.  Näheres 
s.  ZDMG.  67, 49  ff.  Auch  indische  Sanskritisten  haben  diese  Über- 
einstimmungen hervorgehoben,  Shama  Sastri  besonders  die  Be- 
ziehungen zu  Y.,  K.  S.  JayaswaP)  die  Parallelen  bei  N.,  der 
nach  seiner  Auffassang  sowohl  die  Beschreibung  des  Gerichts- 
verfahrens als  die  dem  Dharmasthiya  des  KA.  analoge  Einteilung 
des  materiellen  Rechts  aus  letzterem  Werk  übernommen  und  solb^t 
in  der  Prosaeinleitung  p.  1  im  Allgemeinen  die  Kapitelüberschriften 
des  K.A.  reproduziert  haben  soll.  Nun  verdient  auch  diese  Er- 
klärungsmöglichkeit, die  Annahme  einer  Abhängigkeit  der  jüngeren 
Smrtis  von  dem  K.A.,  gewiß  alle  Beachtung,  ich  habe  auch  selbst 
schon  auf  die  Erwähnungen  des  Arthaäästra  in  diesen  Texten  und 
die  sich  daraus  ergebende  Möglichkeit  einer  Benutzung  speziell 
des  KA.  hingewiesen.  Zwingend  wäre  die  Annahme  einer  weit- 
gehenden Beeinflussung   dieser   Art  jedoch   nur    dann,    wenn   aus 

1)  ZDMG.  30,  806  f. 

2)  DLZ.  1914,  2430. 

3)  Calcutta  Weekly  Notes  1913,  No.  44.  Die  Närada?mrti  setzt  Jayaswal 
in  das  4.  Jahrh.  n.  Chr. 


Kollektaneen  zum  Kautiliya  Arthasästra.  351 

anderen  Gründen  das  K.A.  unbedingt  als  das  ältere  "Werk  anzu- 
sehen wäre,  während  doch  tatsächlich  nur  das  Dharmasästra  ein- 
schließlich des  von  Anfang  an  dazu  gehörigen  räjadharma,  nicht 
aber  das  Arthasästra  bis  in  die  vedische  Literatur  zurückverfolgt 
werden  kann. 

Ist  nun  die  Verfasserschaft  des  Ministers  Cäijakya,  von  der 
die  frühe  Datierung  des  K.A.  abhängt,  durch  die  eigenen  Angaben 
des  Autors  und  durch  die  alten  Zitate  aus  dem  K.A.  sicher  zu 
erweisen?  Aus  der  bekannten  Schlußstelle  K.A.  429  kann  die 
persönliche  Note,  das  berechtigte  Selbstbewußtsein  eines  großen 
Staatsmannes  zu  uns  sprechen,  vorausgesetzt,  daß  das  Werk  wirk- 
lich von  dem  Minister  Candraguptas  selbst  verfaßt  ist.  Es  kann 
aber  darin  auch  nur  eine  geschickte  Reklame  liegen,  wie  sie  in  dem 
verwandten  Dharmasästra  oft  vorkommt  und  auch  in  Nititexten 
vertreten  ist.  Jacobi  Sitzungsber.  1912,848  charakterisiert  es  als 
„eine  Fälschung,  wenn  sich  ein  Werk  als  von  Manu,  Yäjnavalkya, 
Vyäsa  oder  von  sonst  irgendeinem  Gott  oder  Rsi  verkündet  aus- 
gibt**,  unterscheidet  aber  von  solchen  Fällen  als  einen  Betrag,  der 
nicht  der  indischen  Anlage  entspreche,  den  Mißbrauch  des  Namens 
einer  historischen  Persönlichkeit  mit  studierter  Anpassung  des 
Werkes  an  letztere.  Die  Geschichtlichkeit  Cänakyas  ist  nicht 
ganz  unbestritten,  weil  sein  Name  in  den  abendländischen  Berichten 
über  Sandrakottos  nicht  vorkommt.  Davon  abgesehen,  ist  es  be- 
kannt, daß  mit  wenig  berühmten  Namen  in  der  Sanskritliteratur 
so  viel  Mißbrauch  getrieben  ist  als  mit  Cä^akya,  dem  man  als 
dem  klügsten  Mann  der  Vergangenheit  die  jeweils  populäre  Spruch- 
weisheit ebenso  zuschrieb,  wie  der  weise  Vyäsa  das  Mhbh.  und 
die  Puränas  verfaßt  haben  sollte  ^).  Über  das  Auftreten  des  Autor- 
namens C.  als  Moralist  und  Mediziner  in  der  arabischen  Literatur 
vgl.  Zachariae  WZKM.  28, 183.  Da  Kautilya  ein  altes,  schon  in 
den  Puränas  vorkommendes  Synonym  für  C.  ist,  so  wird  man 
einem  Verfassemamen  Kautilya  mit  dem  gleichen  Mißtrauen  be- 
gegnen müssen  wie  C.  Li  der  Deutung  von  Kautilya  stimme  ich 
mit  Winternitz  1.  c.  überein,  der  es  nicht  auf  das  allerdings 
auch  gut  belegte  Kautalya  zurückführt,  da  „  Tartuffe "  zu  gut  auf 
den  Minister  C.  der  Tradition  passe.  Dann  sei  aber  nicht  anzu- 
nehmen, daß  C.  sich  selbst  K.  genannt  hätte,  und  so  spreche  das 
im  K.A.  so  oft  wiederkehrende  iti  Kautilya)}'^)  doch  gegen  die 
Autorschaft   des   berühmten   I\linisters.     Die   Durchführung   dieses 


1)  Vgl.  Monier  Williams,  Indian  Wisdom'  508. 

2)  Vgl.  darüber  auch  Hillebrandt,  Zu  Kautüya  ZDMG.  69,360—364. 


352  Julius  Jolly, 

demnach  fingierten  Namens  im  K.A.  erinnert  überdies  ganz  an  die 
Aufmachung  bei  Manu  und  anderen  angeblichen  Smrtiverfassern. 
So  wird  in  der  Manusmrti  Manu  19  mal  als  Autorität  für  einzelne 
Gresetze  genannt,  obschon  er  in  der  Einleitung  allgemein  als  der 
einzige  Kenner  des  heiligen  Rechts  erscheint,  dessen  Übermittlung 
an  die  großen  Rsis  er  dann  1,  59  seinem  Sohn  Bhrgu  überträgt. 
In  2,  7  wird  noch  einmal  die  Allwissenheit  Manus  betont.  Ähnlich 
wird  im  K.A.  Kautilya  am  Schluß  des  ersten  Kapitels  und  am 
Schluß  des  ganzen  Werks  als  der  Verfasser  desselben  bezeichnet, 
außerdem  aber  noch  an  sehr  vielen  Stellen  mit  iti  Kautilyah  als 
Autorität  für  einzelne  Lehrsätze  angeführt  und  in  dem  Kapitel 
über  Urkundenlehre  speziell  als  der  Verfasser  dieses  Kapitels  ge- 
rühmt. Eine  Bestimmung  über  Verheiratung  mit  einer  Südrafrau 
wird  M.  3, 16  in  die  Form  einer  Klimax  von  verschiedenen  Schul- 
ansichten gebracht,  die  mit  der  streng  abweisenden  Lehre  des 
maßgebenden  Bhrgu  ihren  Gipfelpunkt  erreicht.  Granz  den  näm- 
lichen Kunstgriff  zur  Belebung  seiner  Darstellung  wendet,  wie 
Jacobi  Sitzungsber.  1912,840  gezeigt  hat,  das  K.A.  an,  wobei 
dann  die  fingierte  Diskussion  mit  dem  jedesmaligen  iti  Kautilyah 
ihren  Abschluß  erreicht.  Vgl.  die  Zitate  im  Kämasütra.  Übrigens 
hat  schon  A.Weber  I.  Str.  1,255  über  die  obige  Dandinstelle 
im  D.K.C.  bemerkt,  daß  das  dort  erwähnte  Lehrbuch  der  dandanlti, 
unser  K.A.,  als  von  Visnugupta  für  den  Mauryafürsten  verfaßt 
galt  und  es  als  C.s  angebliches  Lehrbuch  bezeichnet,  kann 
es  also  nicht  für  echt  gehalten  haben. 

Über  die  bisher  nachgewiesenen  älteren  Anführungen  aus  dem 
K.A.  kann  auf  die  bekannten  Arbeiten  von  Zachariae,  Hille- 
brandt,  Hertel,  Jacobi  u.a.  verwiesen  werden,  auch  ist  in 
meinen  früheren  Artikeln  manches  Bezügliche  zur  Sprache  ge- 
kommen. Für  den  Jainatext  Ya^astilaka  wird  das  Datum  959  n.  Chr. 
nach  Hultzsch  ZDMGr.  68, 698  bestätigt  durch  eine  im  gleichen 
Jahr  ausgestellte  Urkunde.  Zahlreiche  Zitate  enthält  besonders 
Pancatantra -Tanträkhy äy ika ,  das  auch  einleitend  C.  unter  den 
benutzten  Quellen  mit  Auszeichnung  erwähnt  und  dessen  angeb- 
licher Verfasser  Visnusarman  eine  Kopie  Visnuguptas,  des  angeb- 
lichen Verfassers  des  K.A.  ist.  Die  Entstehungszeit  dieses  poli- 
tischen Märchenbuchs  möchte  ich  im  Anschluß  an  die  Argumentation 
von  Winternitz  DLZ.  1910,  2766  nahe  an  die  Zeit  der  Pehlevi- 
übersetzung  heranrücken.  Im  MR.  besitzen  wir  ein  Drama,  das 
die  Nitilehren  veranschaulicht  und  Kautilya  als  Helden  hat.  Doch 
konnte  ich  außer  der  von  Hi  lieb  ran  dt  nachgewiesenen  Nitistelle 


KoUektaneen  zum  Kautillya  Arthasästra.  353 

im  4,  Akt  ^)  bisher  keine  als  Zitat  aus  dem  K.  A.  deutbare  Stelle 
darin  entdecken,  und  die  Ähnlichkeiten  in  der  Terminologie  könnten 
auch  auf  der  Benutzung  eines  anderen  Arthasästra  beruhen. 
Zur  Bestätigung  der  Möglichkeit,  die  Stelle  im  2.  Akt  der  Sakun- 
talä  über  die  Vorzüge  der  Jagd  als  ein  Zitat  aus  K.A.  327  an- 
zusehen (ZDMG.  68,  350),  könnten  die  von  Zachariae  WZOI. 
27,404  und  von  Mookerji  bei  Law,  ffinduPolity  (1914)  p.  XVIII 
angeführten  KäHdäsastellen  dienen.  Die  umfangreichen  Zitate  aus 
adhikarana  I  bei  Medhätithi  (9.  Jh.)  sind  jetzt  gesammelt  in  Val- 
lauris  sorgsamer  Übersetzung  dieses  Stückes'^). 

Diese  alten  Zitate  beweisen  die  angesehene  Stellung  des  K.A. 
innerhalb  der  klassischen  Literatur,  aber  die  Frage,  ob  dasselbe 
in  einer  weit  früheren  Zeit  von  dem  Minister  Cä^iakya  verfaßt 
wurde,  wird  schwerlich  durch  die  Zitate  zu  lösen  sein,  außer  wenn 
noch  sehr  viel  ältere  als  die  bisherigen  entdeckt  werden^).  Da- 
gegen kommt,  wenn  die  Dandinstelle  keinen  chronologischen  Wert 
besitzt,  für  die  Bestimmung  der  oberen  Grenze  das  Zitat:  nacam 
sarävam  KA.  366,1  aus  Bhäsa  (ca.  3. — 4.  Jahrh.  n.Chr.?)  in 
Betracht,  falls  dasselbe  nicht  eine  Glosse  ist,  wie  Jacob i*)  des- 
halb vermutet,  weil  sonst  solche  Zitate  im  K.A.  nicht  auftreten. 
Durch  die  besonders  feierliche  Situation  einer  ermutigenden  An- 
sprache an  die  Truppen  vor  der  Schlacht  wird  aber  die  Anführung 
eines  passenden  Dichterworts  vielleicht  gerechtfertigt.  Der  4.  päda: 
yo  hhartrpindasya  krte  na  yudhyet  wird  auch  in  Vämanas  Lehrbuch 
der  Poetik  5,  2,  30  zitiert^),  die  Bhäsastelle  besaß  also  eine  gewisse 
Berühmtheit.  Für  alte  Beziehungen  zu  Bhäsas  Dramen  spricht 
auch  der  Umstand,  daß  dieselben  sich  ebenso  wie  das  K.A.  im 
äußersten  Süden  Indiens  erhalten  haben,  vielleicht  dort  entstanden 
sind,  wie  auch  die  geographischen  Beziehungen  im  K.A.  besonders 
auf  den  Süden  hinweisen.  Auch  daß  der  allerdings  sehr  bekannte 
Udayana  K.A.  358,  3  zitiert  wird,  könnte  mit  seiner  Eigenschaft 
als  Held  zweier  Dramen  Bhäsas  zusammenhängen  ^). 

1)  Vgl.  jetzt  HillebrandtB  Ausgabe  103,9;  KA.  248,2. 

2)  Dr.  M.  Vallauri,  H  I  Adhikarapa  dell'  Arthacästra  di  Kautilya.  Riv. 
degU  studi  Or.  VI,  1317—82  (1915). 

3)  Die  unleugbaren  Beziehungen  zu  den  Asokainschriften,  besonders  in  alten 
Beamtennamen,  die  namentlich  in  den  wichtigen  Untersuchungen  von  F.  W. 
Thomas  JRAS.  1909,  467 f.  und  1914,  383—395  hervortreten,  dürften  sich  aus 
dem  von  Hillebrandt,  Üb.  d.  K.  13  hervorgehobenen  Feststehen  der  Termino- 
logie des  Staatswörterbuchs  erklären,  die  frühe  ausgebildet  wurde. 

4)  Internat.  Monatsschrift  1913,655.  Über  die  Bhäsastelle  vgl.  Gapapati 
Sästris  Svapnaväsavadattä,  Introd.  XXVIII,  sowie  Macdonell  JRAS.  1913,  188. 

5)  Vgl.  Gaijapati  Sästri  1.  c.  XXII. 

6)  Vgl.  Charpentier  WZKM.  28,  239. 


354  Julius  Jolly, 

Was  die  Datierung  nach  inneren  Grründen  betrifft,  so  liegen 
über  die  sagengeschichtlichen  Elemente  im  K.A.  jetzt  die  eingehenden 
Untersuchungen  von  Charpentier^)  vor,  mit  dem  Hauptergebnis, 
daß  der  Sagenschatz  desselben  z.  T.  besser  mit  der  vedischen  und 
altbuddhistischen  als  mit  der  uns  vorliegenden  epischen  Literatur 
übereinstimmt.  Die  halbgeschichtlichen  Erzählungen  des  K.A.  von 
den  im  Harem  ermordeten  Fürsten  sind  dabei  nicht  berücksichtigt 
und  einer  besonderen  Erörterung  vorbehalten.  Bis  dieselbe  vor- 
liegt, darf  ich  wohl  daran  festhalten,  daß  diese  Greschichten,  soviel 
bisher  bekannt,  sonst  zuerst  im  6.  und  7.  Jahrh.  bei  Varähamihira 
und  Bäna  auftreten^).  Die  kleine  Differenz  zwischen  K.A.  und 
Mhbh.  in  der  Legende  von  Mändavya  kann  darauf  beruhen,  daß 
dieselbe  aus  einem  der  Gesetzbücher  in  das  K.A.  übergegangen 
zu  sein  scheint^).  Wichtig  für  die  Beurteilung  des  Verhältnisses 
zwischen  K.A.  und  Mhbh.  ist  auch  der  Umstand,  daß  die  meisten 
und  häufigst  zitierten  Autoritäten  des  K.A.  auf  dem  Gebiet  der 
rajaniti  auch  im  Mhbh.  ähnlich  nachweisbar  sind.  Dahin  gehören, 
die  Auäanasäh  (U^anas  im  Mhbh.),  Kaninka  Bhäradväja  (Kanika), 
Kätyäyana,  Kau^apadanta  (Bhlsma),  Parääara  oder  Päräsara,  Pä- 
rääaräh  (Parääara),  Piäuna  nebst  Pi^unaputra  (Närada,  der  seinen 
Spitznamen  Piäuna  wohl  den  jetzt  von  Hopkins,  Epic  Mythology 
189  gesammelten  Stellen  im  Mhbh.  verdankt),  Bärhaspatyäh 
(Brhaspati),  Bähudantiputra  (Indra),  Bhäradväja  (Bhäradväja),  Mä- 
naväh  (Manu),  Viääläksa  (Viääläksa  oder  Siva).  Es  ist  einfacher 
anzunehmen,  daß  diese  mythologischen  Namen  aus  dem  Mhbh.  oder 
der  epischen  Tradition  in  das  K.A.  übergegangen  sind,  als  um- 
gekehrt, daß  ihre  Träger  z.  T.  erst  im  Mhbh.  von  Menschen  zu 
Göttern  erhoben  wurden*).  Was  Kanifika  Bhäradväja  betrifft,  so 
hat  Charpentier  ^)  denselbeii  nicht  nur  mit  dem  Kanika  des  Mhbh. 
identifiziert,  sondern  auch  in  den  Reden  dieses  Kanika  interessante 
Anklänge  an  das  K.A.  nachgewiesen.  Es  hindert  nichts,  hier 
direkte  Entlehnungen  des  K.A.  aus  dem  Mhbh.  anzunehmen,  wenn 
auch  vielleicht  aus  einer  älteren  Rezension  des  letzteren.  Daß 
der  Hauptinhalt  des  Mhbh.,  d.  h.  die  Geschichte  der  Knruiden  und 
Pän^uiden,  wenigstens  ihren  Hauptzügen  nach,  zur  Abfassungszeit 
des  K.  A.  bekannt  war,  nimmt  auch  Charpentier  an  ^).    Hertel  sagt 


1)  1.  c.  211—240. 

2)  ZDMG.  68,  359. 

3)  ZDMG.  67,  85. 

4)  Vgl,  Jacobi,  Sitzungsber.  1911,973;  Charpentier  I.e.  215. 

5)  1.  c.  216. 

6)  1.  c,  239. 


Eollektaneen  zum  Eaatiliya  Arthasästra.  355 

einfacli,  es  falle  schwer  zu  glauben,  daß  Kautilya  das  Mhbh.  nicht 
schon  gekannt  haben  sollte^). 

In  inhaltlicher  Beziehung  machen  die  vielen  Einzelheiten  im 
K.A.  über  Spione,  Gesandte,  Prinzen,  Beamtentitel,  Verwaltung 
und  Finanzen,  Unterschlagungen,  Bergwerke  und  Fabriken,  Miinz- 
wesen,  Besteuerungsarten  und  Steuernamen,  Zoll-  und  Paßverhält- 
nisse, Fluß-  und  Seeschiffahrt,  Pferde-  und  Elefantendressur, 
Straßenpolizei,  Kunstbauten,  gerichtliche  Tortur,  außergewöhnliche 
Steuern,  Staatsverträge  und  Diplomatie,  Kriegskunst  und  Strategie 
u.  a.  nicht  gerade  den  Eindruck  besonderer  Altertümlichkeit.  Ich 
lasse  hier  als  Probe  einen  Übersetzungsversuch  der  besonders 
charakteristischen  adhy.  12 — 14  des  2.  Buchs  über  Metallurgie  und 
Münzwesen  folgen,  wobei  freilich  vieles  unsicher  bleibt,  obschon 
dafür  die  beiden  Übersetzungen  von  Shama  Sastri  und  die  Diss. 
von  Sorabji  (ZDMG.  69,378)  benutzt  werden  konnten. 

II,  12.     Über  den  Betrieb  von  Bergwerken  und  Fabriken. 

1.  Der  Bergwerksinspektor,  vertraut  mit  der  Lehre  von  den  Kupfererzen, 
mit  dem  Quecksilberkochen  (Chemie)  und  mit  der  Farbe  der  Edelsteine*),  oder 
unterstützt  von  Kennern  dieser  Wissenschaften  {°sakho  zu  lesen),  ausgerüstet  mit 
den  dazu  nötigen  Arbeitern  und  Gerätschaften,  soll  entweder  alte  Bergwerke  (oder 
Fundorte)  untersuchen,  die  durch  Metallausscheidungen  (Eisenrost),  Schmelztiegel, 
Kohle  und  Asche  als  solche  kenntlich  sind,  oder  neue  (ausfindig  machen),  deren 
Erze  in  der  Ebene,  an  Felsabhängen,  oder  in  Flüssigkeiten  (Wasser,  Quecksilber 
u.  a.)  auftreten')  und  sich  durch  auffallende  Färbung  oder  Schwere  auszeichnen, 
oder  einen  durchdringenden  Geruch  oder  Geschmack  haben. 

2)  Goldhaltige  Flüssigkeiten  sind  solche,  welche  auf  ihrer  Örtlichkeit  nach 
bekannten  Bergen  aus  verdeckten  Höhlen  hervorquellen,  die  sich  in  Klüften, 
Felsenspalten  oder  Bergabhängen  befinden;  deren  Farbe  die  gleiche  ist  wie  die- 
jenige von  Früchten  des  Jambübaums,  Mangobaums  oder  der  Fächerpalme,  von 
einem  Stück  reife  Gelbwurz,  von  Rauschgelb,  Honig,  Zinnober,  Lotusblüten,  Pa- 
pageien- oder  Pfauenfedern ;  die  ähnlich  gefärbtem  Wasser  oder  Pflanzen  benach- 
bart sind;  klebrig,  durchsichtig  und  schwer  sind. 

3.  Auch  solche,  die,  wenn  man  sie  auf  Wasser  gießt,  sich  wie  Öl  darin 
verbreiten,  Schlamm  und  Schmutz  an  sich  ziehen  und  bei  einer  Verbindung  mit 
Kupfer  oder  SUber  (diese  Metalle  in  Gold  verwandeln  und)  um  mehr  als  da« 
Hundertfache  (ihres  ursprünglichen  Gewichts  an  Gewicht)  vermehren*). 

1)  WZKM.  24,  419. 

2)  Nach  dem  Komm,  ist  die  Auffärbung,  nach  Sh.  S.  die  Prüfung  der  Edel- 
steine gemeint,  matiiräga  kann  auch  „Rubin"  bedeuten,  so  36, 3  nach  Vallauri  1.  c. 

3)  Der  Komm.,  dem  Sh.  S.  folgt,  bezieht  dhätu  auf  den  Reichtum  der  Erze 
(sattvaprakrti^).  Eine  andere  Möglichkeit  wäre  die,  rasadhätu  als  eine  Bezeichnung 
des  Quecksilbers  zu  fassen,  wie  es  z.  B.  unter  den  Quecksilbernamen  bei  Garbe, 
D.  ind.  Min.  15,  Nr.  109  vorkommt. 

4)  So  nach  dem  Komm.,  vgl.  Festschrift  für  E.  Windisch,  103 f. 


356  Julius  Jolly, 

4.  Dem  Aussehen  nach  gleicht  ihnen  Steinharz,  hat  aber  einen  durch- 
dringenden Geruch  und  Geschmack. 

5.  Gelbe,  kupferrote,  oder  rotgelbe  Erze  in  der  Ebene  oder  an  Felsabhängen, 
die  isoliert  auftreten^),  blaue  Streifen  enthalten,  oder  wie  schwarze  oder  grüne 
Bohnen  oder  wie  Sesamspeise  gefärbt  sind,  gesprenkelt  wie  Klöße  aus  Tupfen  von 
Quark,  safrangelb  wie  Gelbwurz,  Myrobalane,  Lotusblüten,  (die  Wasserpflanze) 
Saivala,  wie  die  Leber  oder  wie  die  Milz;  die,  wenn  man  se  spaltet^),  feinen 
Sand,  Striche,  Tupfen  oder  ein  Svastikakreuz  enthalten ;  die  runde  Klumpen  auf- 
weisen ;  die  glühend  von  Erhitzung  nicht  splittern,  aber  viel  Schaum  und  Rauch 
von  sich  geben  —  sind  Golderze,  die,  wenn  man  sie  (pulverisiert)  mit  Kupter 
oder  Silber  vermischt,  (dasselbe  in  Gold)  verwandeln  ^). 

6.  (Jene  Erze),  welche  die  Farbe  von  Muscheln,  Kampfer,  Bergkrj-stall  (oder 
Alaun),  frischer  Butter,  einer  Taube  oder  Turteltaube,  (dem  hellroten  Juwel)  Vima- 
laka,  oder  eines  Pfauenhalses  haben;  die  wie  ein  Saphir  oder  Achat  oder  wie 
Kandiszucker  oder  Zuckerwürfel  gefärbt  sind;  oder  die  Farbe  der  (purpurroten) 
Blüte  von  Kovidära,  Lotusblüte,  der  (scharlachroten)  Blüte  von  Pätali,  der  (dunkel- 
farbigen) Blüte  von  Kaläya,  der  Flachsblüte  und  Leinenblüte  haben ;  die  mit  Blei 
oder  mit  Antimon  verbunden  sind;  muffig  riechen;  isoliert  auftreten*);  weißlich, 
schwarz,  schwärzlich  oder  ganz  weiß,  oder  alle  mit  Strichen  oder  Tupfen  ge- 
zeichnet; weich;  die  beim  Schmelzen  nicht  splittern  (oder  zischen),  aber  viel 
Schaum  und  Rauch  von  sich  geben  —  sind  Silbererze. 

7.  Bei  allen  Erzen  ist  der  Gehalt  (oder  Wert)  um  so  größer,  je  schwerer 
sie  sind.  Von  denselben  werden  die  (nur  oberflächlich)  verunreinigten  oder  durch- 
aus unreinen  (eigentl.  totgeborenen)  gereinigt  und  (beim  Schmelzen)  flüssig,  wenn 
man  sie  mit  menschlichem  und  tierischem  Urin  und  mit  Asche  (Lauge)  beizt  und 
mit  einem  Teig  von  Räjavrksa,  Vata,  Pilu,  Gallenstein  des  Rindes,  dem  Harn  und 
Kot  von  Büffeln,  Eseln  und  Elefanten  vermischt,   zusammenrührt    oder  bestreicht. 

8.  Bestreuung  (oder  Begießung)  mit  (einem  Pulver  von)  Kandall  und  Vajra- 
kanda  nebst  der  Asche  von  Gerste,  Bohnen,  Sesam,  Paläsa,  Pllu  oder  nebst  Kuh- 
milch und  Ziegenmilch  bewirkt  Weichheit  (der  Metalle). 

9.  Honig,  Süßholz,  Ziegenmilch,  nebst  Ol,  vermischt  mit  zerlassener  Butter, 
Melasse  und  Hefe,  nebst  (Pulver  von)  Kandaliblüten  :  durch  dreimaliges  Besprengen 
mit  diesen  Stoffen  wird  auch   ein   hunderttausendfach  zersprungenes  Metall  weich. 

10.  Bestreuung  (Calcinierung)  mit  (pulverisierten)  Zähnen  und  Hörnern  einer 
Kuh  bewirkt  andauernde  Weichheit. 

11.  Schwere,  fettige  und  weiche  Erze  an  Bergabhängen  oder  in  der  Ebene, 
die  rotbraun,  grün,  blaßrot  oder  rot  sind,  sind  Kupfererze. 

12.  Schwarz  wie  eine  Krähe,  oder  von  der  Farbe  einer  Taube  oder  der 
Gallenblase  des  Rindes,  oder  weiß  gestreift,  muffig  riechend  sind  Bleierze. 

13.  Gesprenkelt  wie  salziger  Boden  oder  von  der  Farbe  eines  gebrannten 
Lehmklumpens  sind  Zinnerze. 

14.  Orangefarben  oder  hellrot  oder  von  der  Farbe  der  Sinduvärablüte  sind 
Eisenerze. 


1)  Doch  kann  hhinna  (v.  1.  chinna)   auch   zerschlagen  oder  aufgeplatzt   be- 
deuten, wie  wahrscheinlich  nachher  82,  8. 

2)  bhinna,  vgl.  die  vorige  Note. 
8)  Vgl.  obige  Festschrift,  104. 
4)  bhinna,  vgl.  Note  1  und  2. 


Kollektaneen  zum  Kautiliya  Arthasästra.  357 

15.  Von  der  Farbe  des  (roten)  Blattes  der  (Bohnenart)  Käkä^da  oder  des 
Birkenblattes  sind  Vaikrntaka-Erze  *). 

16.  Hell,  glatt,  glänzend,  klingend,  kalt  und  hart,  schwach  gefärbt  sind 
Edelsteine. 

17.  Den  Ertrag  der  Erse  (an  Gold  und  anderen  Metallen)  soll  (der  Berg- 
Tverksinspektor)  den  dafür  bestimmten  Werkstätten  übergeben. 

18.  Den  Handel  in  den  (aus  Metall)  verfertigten  Gegenständen  soll  er  nur 
an  einem  bestimmten  Orte  gestatten  (zentralisieren)  tmd  solchen,  die  sie  ander- 
wärts herstellen,  kaufen  oder  verkaufen,  eine  Strafe  auferlegen. 

19.  Einem  Bergwerksarbeiter,  der  (Erze)  stiehlt,  soll  er  eine  Buße  im  acht- 
fachen Betrag  (des  Wertes)  abverlangen,  außer*  im  Falle  von  Edelsteinen  (auf 
deren  Entwendung  die  Todesstrafe  steht). 

20.  Einen  Dieb  (von  Erzen  oder  Mineralien),  ebenso  einen,  der  ohne  Er- 
laubnis danach  gräbt,  soll  er  in  Fesseln  (in  den  Gruben)  arbeiten  lassen. 

21.  Solche  Bergwerke,  aus  denen  man  für  die  Herstellung  von  Gerätschaften 
dienliche  Erze  fördert'*),  oder  deren  Betrieb  besondere  Ausgaben  erfordert,  soll  er 
gegen  einen  Anteil  am  Ertrag  oder  gegen  eine  feste  Rente  vermieten.  Ein  Berg- 
werk, das  wenig  Kosten  verursacht,  soU  er  selbst  betreiben. 

22.  Der  Metallinspektor  soU  die  Bearbeitung  von  Kupfer,  Blei,  Zinn,  Vaikrn- 
taka'),  Messing,  Stahl*),  Bronze,  Rauschgelb  und  Eisen  (lodhra  für  loha"*)  in 
besonderen  Werkstätten  besorgen ;  auch  den  Handel  in  Gerätschaften  aus  Metall 
(soll  er  organisieren). 

23.  Der  Münzinspektor  soll  Silbermünzen  herstellen  lassen,  die  vier  Teile 
Kupfer  enthalten,  dazu  entweder  Eisen  oder  Zinn  oder  Blei  oder  Bleiglanz  im 
Gewicht  von  je  1  Mäsa  (d.  h.  Vie)  als  Bindemittel  {hija) : 

24.  Einen  Pana,  einen  halben  Paija,  ein  Viertel  und  ein  Achtel.  Kupfer- 
münzen mit  einem  Zusatz,  der  ein  Viertel  ihres  Gewichtes  beträgt  *),  (davon  präge 
er)  1  Mäsa,  V2  Mäsa,  1  Käkarii  und  '/a  Käkani. 

25.  Der  Münzprüfer  soll  den  Münzfuß  feststellen,  sowohl  für  das  umlaufende 
Geld  als  für  dasjenige,  welches  in  den  Schatz  des  Königs  zahlbar  ist. 

26.  (Von  dem  letzteren  sind  zu  erheben :)  8  "/o  ^Is  rüpikam  (Münzsteuer), 
5°/o  als  vyäji^),  Vs  Paija  vom  Hundert  als  jjärifcsitam  (Prüfungskosten),  außerdem 


1)  Garbe  1.  c.  89  erklärt  das  analoge  vaikränta  als  Scheindiamant  (Berg- 
krystall).  Im  Rasaratnasamuccaya  ist  es  ein  achteckiger,  glatter,  schwerer  Stein 
von  mannigfacher  Färbung,  diamantartig  und  als  Ersatz  für  Diamanten  dienend, 
vgl.  Ray,  Hindu  Chemistry  I,45f.  Sorabji  vermutet  in  raikpitaka  einen 
Quecksilbernamen. 

2)  Der  Komm.,  der  bhändopakärinas  ca  \  liest,  zieht  diese  zwei  Worte  noch 
zu  Nr.  20:  solche,  die  wegen  Verdacht  der  Entwendung  von  Erzen  festgenommen 
werden,  soUen,  wenn  sie  keine  Buße  bezahlen  können,  dafür  Zwangsarbeit  leisten. 

3)  Über  Vaikrntaka  vgl.  die  Anmerkung  zu  Nr.  15. 

4)  Nach  vartaldha,  nach  Garbe  1.  c.  40  „damaszierter  Stahl",  wird  wohl  auch 
iyrtta  eine  Art  Stahl  sein. 

5)  Nach  dem  Komm,  sollen  die  Kupfermünzen  V«  SUber,  "/ig  Kupfer  und 
Vis  Eisen,  Zinn,  Blei  oder  Bleiglanz  (wie  die  Silbermünzen)  enthalten. 

6)  Auch  in  28,  29  und  K.A.  193,  1 — 4  erscheinen  rüpam  und  vyäjl  als  Nameu 
einer  8%  (Va^/o)  und  5  »/o  Steuer. 


358  Julius  Jolly, 

noch  25  Papas  als  Buße  (für  einen  Gewichtsverlust  Ton  Vs  an  1  Papa)  *),  außer 
bei  dem  Verfertiger,  Käufer,  Verkäufer  oder  Prüfer  (die  im  gleichen  Falle  die 
höhere  Buße  von  1000  Panas  zu  zahlen  haben). 

27.  Der  Inspektor  der  Fundorte  (im  Meer)  soll  die  Gewinnung  der  Muscheln, 
Diamanten,  Juwelen,  Perlen,  Korallen  und  Salze  veranlassen  und  den  Handelsver- 
kehr (in  diesen  Gegenständen  überwachen). 

28.  Der  Salzinspektor  soll  rechtzeitig  (den  fälligen  Anteil  des  Staates  an 
dem)  durch  Sieden  gewonnenen  Salz  als  Salzsteuer  und  dazu  den  Pachtzins  erheben. 
Aus  dem  Verkauf  (des  Salzes)  soll  er  den  Preis  desselben  und  (die  Prüfungsgebühr 
von  Vs  %  als)  Tüpam,  sowie  (die  5  %  Steuer)  vyäji  erlösen. 

29.  Von  auswärts  eingeführtes  Salz  soll  ein  Sechstel  (als  Zoll  an  den  König) 
abgeben.  Nachdem  die  Abgabe  (von  einem  Sechstel  an  den  König)  nebst  der 
weiteren  Abgabe  (von  5  %  als  Unterschied  des  königlichen  Kubikmaßes  von  dem 
bürgerlichen)*)  geleistet  ist,  soll  der  Verkauf  fünf  vom  Hundert  als  vyäjl,  (VsVo 
als)  rüpam  und  (8  Vo  als)  rüpikam  (ergeben).  Der  Käufer  soll  den  Zoll  und  dazu 
als  Entschädigung  einen  Betrag  bezahlen,  welcher  der  an  dem  königlichen  Monopol 
erlittenen  Einbuße  gleichkommt.  Andernfalls  (soll)  der  Käufer  600  Papas  als 
Buße  (bezahlen). 

30.  Verfälschtes  Salz  soll  die  höchste  Buße  bezahlen,  ebenso  wer  ohne  Er- 
laubnis Salz  verfertigt ,  von  Waldeinsiedlern  abgesehen.  Gelehrte  Brahmanen, 
Büßer  und  Frohnarbeiter  (die  bei  der  Salzgewinnung  beschäftigt  sind)  dürfen  sich 
Salz  zu  ihrer  Nahrung  mitnehmen.  Sonstige  Salze  oder  ätzende  Stoffe  ^)  müssen 
Zoll  bezahlen. 

31.  32.  So  beziehe  er  aus  den  Gruben  (und  Fundorten)  ein  Zwölffaches, 
nämlich  den  Erlös  (aus  ihrer  Ausbeute),  den  Anteil  (des  Königs  an  der  Ausbeute), 
die  (5  °/o  Prämie)  vyäji,  die  (Münzsteuer)  parigha,  die  (obige)  Buße  (von  je 
25  Papa),  den  Zoll,  die  Entschädigung  (für  Beeinträchtigung  eines  königlichen 
Monopols),  die  (jeweilige  besondere)  Buße,  den  Schlagschatz  (bei  Silber-  und 
Kupfermünzen)  und  die  (8  "/o)  Münzsteuer,  die  Metalle  (selbst)  und  den  Handels- 
gewinn. Auf  diese  Weise  ist  bei  allen  Waren  die  Besteuerung  des  Ertrags  (?) 
festzusetzen. 

33.  Aus  den  Bergwerken  stammt  der  (königliche)  Schatz,  auf  dem  Schatz 
beruht  das  Heer.  Die  Erde  wird  durch  den  Schatz  und  das  Heer  erlangt  iu\d 
durch  den  Schatz  geschmückt. 

II,  13.  Der  Goldinspektor  in  der  Goldschmiede. 
1.  Der  Goldinspektor  soll  für  die  Bearbeitung  von  Gold-  und  Silbersachen 
eine  Goldschmiede  (Münze)  mit  vier  nicht  mit  einander  zusammenhängenden  Ar- 
beitsräumen und  einer  Tür  einrichten.  Mitten  an  der  Hauptstraße  soll  man  einen 
geschickten  Goldschmied  aufstellen,  aus  guter  Familie  und  von  zuverlässigem 
Charakter. 


1)  Nach  dem  Komm,  sollen  Privatleute  oder  Gehülfen  des  Münzbeamten  für 
einen  Minderwert  des  Papa  von  Ve  eine  Buße  von  25  Papas  bezahlen,  für  einen 
Minderwert  von  V4  eine  Buße  von  50  Papas  u.  s.  w.  Die  Verfertiger  u.  s.  w.  zahlen 
die  höhere  Buße  von  1000  Papas. 

2)  So  nach  dem  Komm,  bei  Sh.  S. 

3)  Aufgezählt  94, 13  f. 


KoUektaneen  zum  Kautiliya  Arthasästra.  359 

2.  Jämbünada  (vom  Flusse  Jambü  kommend,  der  auf  dem  Götterberg  Meru 
entspringt  und  Ton  der  Farbe  des  Jambüsaftes),  Sätakumbha  (von  dem  Berg 
Satakumbha  stammend  und  lotusfarbig),  Hätaka  (aus  dem  Goldbergwerk  Hätaka 
stammend  und  von  der  Farbe  der  Karandablüte),  Vaipara  (rom  Berg  Ve^u 
stammend  und  von  der  Farbe  der  Karpikärablüte),  Srngasuktija  (von  Srngasukti 
stammend  und  von  der  Farbe  des  roten  Arseniks),  Jätarüpa  (schönfarbig),  Raaa- 
viddha  (mit  Quecksilber  amalgamiert)  und  Akarodgata  (in  Bergwerken  oder  Gold- 
sand gewonnen)  sind  (die  verschiedenen  Arten  von)  Gold  *). 

3.  Das  lotusfarbige,  weiche,  glatte,  lange  klingende,  glänzende  ist  am  besten. 
Das  rotgelbe  ist  von  mittlerer  Beschaffenheit.     Das  rote  ist  gering. 

4.  Von  den  besten  Arten  ist  unvollständiges  (unreines)  Gold  gelblich  oder 
weiß.  Man  reinige  (legiere)  es  mit  der  \-ierfachen  Menge  an  Blei  von  demjenigen 
(MetaU  oder  Mineral),  mit  dem  es  verbunden  ist.  Wenn  es  durch  die  Verbindung 
mit  Blei  brüchig  wird,  muß  man  es  mit  Stücken  von  (angezündetem)  trockenem 
Kuhmist  zum  Schmelzen  bringen.  Wenn  es  infolge  seiner  Härte  zersplittert,  muß 
man  es  in  Ol  vermischt  mit  Kuhmist  eintauchen  (mazerieren). 

5.  Bergwerksgold,  das  durch  die  Verbindung  mit  Blei  brüchig  wird,  muß 
man  (in  erhitztem  Zustand)  auf  einem  Ambos  (?  vgl.  93,  4)  zu  dünnen  Platten 
schmieden.  Oder  man  muß  es  in  einem  Teig  von  KandalTblüten  und  Vajrakanda 
beizen. 

6.  Tutthodgata  (aus  dem  Berg  Tuttha  stammend  und  jasminfarbig),  Gaudika 
(axis  dem  Lande  Assam  stammend  und  der  Aloeblüte  gleichend),  Kämbüka  (von 
dem  Berg  Kämbu  stammend  und  wie  die  Kundablüte  gefärbt)  und  Cäkravälika 
(aus  dem  sagenhaften  Gebirge  Cakraväla  stammend  und  von  gleicher  Farbe  wie 
die  vorige  Art)  sind  (die  verschiedenen  Arten  von)  Silber. 

7.  Das  weiße,  glänzende  und  weiche  ist  am  besten.  Andernfalls  und  wenn 
es  (beim  Schmelzen)  platzt  (oder  zischt),  ist  es  schlecht.  Solches  soll  man  mit 
einem  Viertel  so  viel  Blei  reinigen  (schmelzen). 

8.  Wenn  es  Blasen  zieht,  klar,  glänzend  und  molkenfarbig  wird,  ist  es  rein. 

9.  Die  einzige  Art  (Varpaka)  von  reinem  Gold  ist  das  (mustergültige)  Gold- 
stück (Suvanaa)  *).  Wenn  man  davon  (je  eine  Käkapi  Gold)  wegnimmt  (und  dafür) 
je  eine  Käkaiji  Kupfer  (hinzufügt),  bis  zum  Betrag  von  vier  (Mäsa  =  16  KäkanI), 
80  erhält  man  16  (weitere)  Goldarten  (Varnaka)'). 

10.  Zuerst  mache  man  mit  dem  Goldstück  (Suvarpa)  einen  Strich  auf  dem 
Probierstein,  dann  (daneben)  einen  Strich  mit  dem  zu  prüfenden  Golde.  Wenn  ein 
einfarbiger  Strich,  auf  nicht  vertiefter  oder  erhabener  Fläche  des  Probiersteins  ein- 
getragen, sich  abwischen  oder  ablecken  läßt,  oder  wenn  der  Strich  von  unter  den 
Nägeln  befindlichem  gelben  Ocker  herrührt,  so  ist  ein  Betrugsversuch  anzunehmen. 

11.  Wenn  man  die  Fingerspitzen  in  eine  Lösung  von  Zinnober  oder  gelb- 
lichem Eisenvitriol  eintaucht,  die  mit  Kuhurin  gebeizt  ist,  und  benetzt  das  Gold- 
stück (Suvarpa)  damit,  so  wird  es  weiß. 


1)  Der  Komm,  nimmt  an,  daß  die  drei  letzten  Arten,  von  Jätarüpa  ab,  die 
dreifache  Entstehungsart  der  fünf  vorausgehenden  Goldarten  angeben.  Vgl.  Garbe 
L  c.  Nr.  8—13,  wo  ähnlich  mit  dem  rasavedhajam  eine  neue  Reihe  anfängt,  die 
auf  den  Ursprung  des  Goldes  geht. 

2)  Vgl.  Sorabji  und  den  Konun.  Nach  Sh.  S.  wäre  von  dem  Strich  auf 
dem  Probierstein  die  Rede,  der  bei  reinem  Gold  die  Farbe  von  Gelbwurz  hat. 

3)  Es  sind  also   mit  dem   reinen  Gold  zusammen  17  Abstufungen  (Komm.). 


360  Julius  Jolly, 

12.  Ein  Probierstein,  der  wie  grünes  Eisenvitriol  gefärbt,  glatt,  weich  und 
glänzend  ist,  ist  der  beste. 

13.  Ein  Probierstein,  der  aus  dem  Lande  der  Kaiingas  stammt  und  die  Farbe 
der  grünen  Bohne  hat,  ist  auch  von  der  besten  Beschaffenheit. 

14.  Der  einfarbige  ist  sowohl  für  den  Verkauf  als  für  den  Kauf  (von  Gold) 
vorteilhaft. 

15.  Der  elefantenfarbige,  grünliche,  einen  Reflex  gebende  ist  für  den  Ver- 
kauf (von  Gold)  vorteilhaft. 

16.  Der  harte,  imebene,  bunte,  keinen  Reflex  gebende  ist  für  den  Kauf  (von 
Gold)  vorteilhaft. 

17.  Der  weiße,  klebrige,  einfarbige,  glatte,  weiche  und  glänzende  ist  der  beste. 

18.  Dasjenige  Gold,  welches  in  der  Glut  *)  äußerlich  und  innerlich  unver- 
ändert bleibt  und  die  Farbe  des  Lotus  oder  der  Kära^idakablüte  hat,  ist  das  beste. 
Das  schwarze  oder  blaue  ist  unrein  (oder  die  Unreinheit). 

19.  Über  die  Wage  und  das  Gewicht  werden  wir  in  dem  Kapitel  über  den 
Gewichtsinspektor  handeln  (II,  19).  Nach  den  dortigen  Vorschriften  soll  man  das 
Silber  und  Gold  geben  und  nehmen. 

20.  Die  Goldschmiede  soll  kein  Unbefugter  betreten.  Wer  sie  dennoch  be- 
tritt, soll  vernichtet  werden^). 

21.  Ein  Angestellter,  der  Silber  oder  Gold  bei  sich  trägt,  soll  desselben  ver- 
lustig gehen. 

22.  Erst  nach  Untersuchung  ihrer  Kleider,  Hände  und  ihres  Afters  dürfen 
die  Arbeiter  in  Gold,  hohlen  Schmucksachen  (pf§ita)^),  Fassungen  (oder  Gold- 
plattieren) und  lauterem  Gold,  ferner  die  Bläser  (oder  Blasebalgtreter),  Späher  und 
Staubkehrer  eintreten  oder  hinausgehen.  Auch  müssen  ihre  sämtlichen  Gerät- 
schaften und  ihre  unvollendeten  Arbeiten  dort  an  ihrem  Platze  bleiben.  Das  von 
ihnen  (zur  Bearbeitung)  empfangene  Gold  und  die  angefangenen  Arbeiten  muß  man 
in  die  Mitte  der  Werkstatt  bringen.  Am  Abend  und  in  der  Frühe  muß  man  (die 
Wertgegenstände)  verwahren,  nachdem  sie  mit  dem  Siegel  des  Arbeiters  und  des 
Arbeitgebers  kenntlich  gemacht  sind. 

23.  Kßepatia,  gurj^a  und  Tisudra  sind  (die  drei  Hauptarten  von)  Juwelier- 
arbeit. 

24.  K?epana  ist  die  Fassung  von  Glasperlen  (oder  Juwelen)  in  Gold  u.  dgl. 

25.  Guna  ist  das  Ziehen  von  Fäden  (oder  die  Verfertigung  von  Ketten) 
u.  dgl.. 

26.  Die  Anfertigung  von  massiven  Artikeln,  hohlen  Gegenständen  und  von 
mit  pf?üa  u.  dgl.  verbundenen  Schmucksachen*)  nennt  man  k^drdka  (geringe 
Arbeit). 

27.  Für  die  Fassung  von  Glasperlen  (oder  Juwelen)  übergebe  man  (dem 
Juwelier)  fünf  Teile  Gold   (für   die  Unterlage)  und  zehn  Teile  als  „Maß"  (für  die 


1)  Für  täpo  ißt  täpe  zu  lesen,  vgl.  dähe  bei  Garbe  1.  c.  86,  Nr.  12. 

2)  Auch  M.  9,  292  schreibt  für  unredliche  Goldschmiede  eine  verschärfte 
Todesstrafe  vor. 

3)  Nach  Sorabji  ist  mit  Rücksicht  auf  88,2 — 7  vielleicht  zu  lesen:  käca- 
pr?ita,  was  Arbeit  in  vermischten  Glasperlen  oder  Juwelen  bedeuten  könnte.  Ich 
folge  Sh.  S. 

4)  Sh.  S.  bezieht  prfitädiyuictatti  auf  Kügelchen  mit  einer  runden  Öffnung  in 
der  Mitte. 


Kollektaneen  zum  Kautiliya  Arthasästra.  361 

Befestigung).  Letzteres  soll  in  Silber  legiert  mit  einem  Viertel  Kupfer,  oder  in 
Gold  legiert  mit  einem  Viertel  Silber  bestehen.  Feingold  soU  man  davon  fern- 
halten (d.  h.  nicht  für  das  „Maß"  verwenden). 

28.  Für  die  Fassung  von  Glasperlen  (oder  Juwelen)  in  hohlen  Schmucksachen 
(prsita)  dienen  drei  Teile  (Gold)  als  Einfassung,  zwei  zur  Unterlage,  oder  vier 
Teile  (dienen)  als  Unterlage,  drei  als  Fassung. 

29.  Bei  Plattieningsarbeiten  (?)  belege  man  die  Kupferplatte  (oder  den 
kupfernen  Gegenstand)  mit  der  gleichen  Menge  Gold.  Einen  silbernen  Gegen- 
stand, der  massiv,  oder  teils  massiv  teils  hohl  ist,  bestreiche  man  mit  der  halben 
Menge  Gold  (um  ihn  zu  vergolden).  Oder  man  trage  Gold  im  Betrag  eines  Viertels 
(des  Silbers)  darauf  auf,  mit  einer  Lösung  oder  einem  Pulver  von  feinem  Zinnober. 

30.  Lauteres  Gold  (tapantt/a)  ist  das  beste,  funkelnde  Gold.  Wenn  man 
dasselbe  mit  einer  gleichen  Menge  Blei  verbindet,  mit  (angezündetem)  trockenen 
Kuhmist  zum  Schmelzen  bringt,  zusammen  mit  Steinsalz,  so  wird  es  zur  Grundlage 
für  blaue,  gelbe,  weiße,  grüne,  papagei-  und  taubenfarbige  Legierungen. 

31.  (Das  Metall)  tiksyia^),  von  der  Farbe  des  Pfauenhalses,  mit  weißen 
Tupfen,  prickelnd  (blendend),  mit  Rauschgelb  gefüllt  (oder  verrieben),  im  Gewicht 
einer  Käkapi  ist  der  FarbstoflF  eines  Goldstücks. 

32.  Silber  (unrein)  oder  gereinigt,  wenn  man  es  17  mal  mit  Kupfervitriol 
bearbeitet,  und  zwar  durch  \-iermalige  (Erhitzung  mit  einer)  Mischung  von  (pul- 
verisierten) Knochen  und  Kupfervitriol,  viermal  mit  einer  gleichen  Menge  Blei, 
viermal  mit  trockenem  Kupfervitriol,  dreimal  in  kapäla  (einem  Schmelztiegel  von 
reinem  Ton),  zweimal  in  (getrocknetem)  Kuhmist,  femer  es  zusammen  mit  Steinsalz 
z\ir  Siedhitze  bringt :  von  dieser  Masse  ist  eine  Käkaiji  bis  zu  2  Mäsa  (8  Käka^i) 
auf  ein  Goldstück  (Suvarpa)  *)  zu  gießen,  alsdann  ei^bt  die  Vereinigung  der  Farben 
weißes  Silber. 

33.  Wenn  man  drei  Teile  von  lauterem  Golde  {tapanxya)  mit  32  Teilen  von 
weißem  Silber  zusammenschmilzt,  so  entsteht  eine  weißlich-rote  (Mischung).  Nimmt 
man  Kupfer  (statt  Silber),  so  bringt  es  eine  gelbe  (Mischung)  hervor. 

34.  Wenn  man  nach  Erhitzung  des  lauteren  Goldes  drei  Teile  (des  in  31 
erwähnten  üksna)  als  Farbstoff  darauf  gibt,  so  nimmt  (die  Mischung)  eine  gelbe 
Färbung  an. 

35.  Zwei  Teile  von  weißem  Silber  und  ein  Teil  von  lauterem  Golde  ergeben 
eine  Mischung  von  der  Farbe  der  grünen  Bohne. 

36.  Wenn  man  (lauteres  Gold)  mit  (einer  Lösung  von)  der  halben  Menge 
schwarzes  Eisen  bestreicht,  so  wird  es  schwarz. 

37.  Mit  einem  Zusatz  von  Quecksilber  (zu  dieser  Lösung)  doppelt  bestrichen 
nimmt  das  lautere  Gold  die  Farbe  der  Papageienfedem  an. 

38.  Ehe  man  sie  in  Gebrauch  nimmt,  soll  man  bei  diesen  verschiedenen 
Mischungen  einen  ihren  Gehalt  angebenden  Stempel  anbringen'). 

39.  Auch  soll  man  sich  über  die  Prüfung  von  tik^na  und  Kupfer  (aus 
Büchern  oder  durch  Befragung  von  Sachverständigen)  unterrichten. 


1)  Nach  Sh.  S.  ist  Kupfervitriol  gemeint,  vgl.  14,  5.    Der  Komm,  zieht  txk^vMttt 
cäsya  zu  30. 

2)  Sh.  3.  zitiert  eine  Kommentarstelle,  wonach  Suvarpa  hier  einen  Karsa  von 
Silber  bedeuten  soll. 

3)  So  nach  Sorabji,  während  nach  Sh.  S.  von  einem  Strich  auf  dem  Pro- 
bierstein die  Rede  ist. 


362  Julius  Jolly, 

40.  Daraus  (erkennt  man)  die  Gegengewichte  für  Diamanten,  Juwelen,  Perlen, 
Korallen,  sowie  Münzen  und  die  für  die  Herstellung  von  Silber-  und  Goldschmuck 
erforderlichen  Mengen  (von  diesen  Metallen). 

41,  42.  Von  gleichmäßiger  Färbung,  von  gleicher  Beschaffenheit  wie  das  als 
Muster  gebrauchte  Gold,  frei  von  hohlen  Blasen,  fest,  ganz  glatt,  ohne  Zusätze, 
richtig  verteilt,  angenehm  (als  Schmuck)  zu  tragen,  milde  glänzend  (und  doch) 
funkelnd,  eine  liebliche  Masse,  ebenmäßig,  das  Gemüt  und  die  Augen  erfreuend: 
so  werden  die  Eigenschaften  von  lauterem  Golde  angegeben. 

II,  14.     Bie  Tätigkeit  des  Goldschmieds  in  der  Hauptstraße. 

1.  Der  Goldschmied  soll  das  Silber  und  Gold  der  Städter  und  Landbewohner 
von  seinen  Arbeitern  (zu  Münzen,  Schmuck  u.  s.  w.)  verarbeiten  lassen.  Diese 
sollen  ihre  Arbeiten  rechtzeitig  und  der  Bestimmung  gemäß  (und  für  den  ver- 
abredeten Lohn)  verrichten. 

2.  Wenn  sie,  unter  dem  Vorwand,  daß  die  Zeitdauer  und  Art  der  Arbeit 
nicht  festgesetzt  worden  sei  ^),  ihre  Arbeit  nicht  ordentlich  verrichten,  so  sollen 
sie  ihren  Lohn  verlieren  und  den  doppelten  Betrag  desselben  als  Buße  bezahlen. 
Wenn  sie  die  Zeit  verstreichen  lassen,  sollen  sie  ein  Viertel  von  ihrem  Lohn  ein- 
büßen und  doppelt  so  viel  als  Buße  bezahlen. 

3.  Wie  sie  die  (Gold-  und  SLlber-)Barren  (von  den  Eigentümern)  empfangen, 
in  der  gleichen  Beschaffenheit  und  von  gleichem  Gewicht  sollen  (die  Arbeiter) 
dieselben  (als  Münzen  oder  Schmucksachen  u.  s.  w.  an  die  Eigentümer)  zurück- 
geben. Auch  nach  langer  Zeit  sollen  (die  Eigentümer  ihr  Gold  und  Silber)  un- 
verändert (von  dem  Goldschmied  oder  dessen  Erben)  zurückempfangen,  außer  was 
davon  abgenutzt  oder  zerbrochen  ist*). 

4.  Durch  die  Arbeiter  soll  (der  Goldschmied)  alles  herausbringen,  was  auf 
das  Gold,  die  metallische  Masse,  die  Stempel  und  den  Tauschwert  Bezug  hat  (um 
dadurch  Streitigkeiten  mit  den  Eigentümern  des  Metalls  entscheiden  zu  können, 
oder  um  Unterschlagungen  seitens  der  Arbeiter  vorzubeugen). 

5.  Wenn  aus  Gold  oder  Silber  (eine  Münze  im  Gewicht  von  einem)  Suvarija 
(=:  16  Mäsa)  geprägt  werden  soll,  muß  man  als  Schlagschatz  eine  Käkapi  (=  Vi 
Mäsa)  dazugeben.  Als  Farbstoff  gebe  man  zwei  KäkaijiT  von  tlk^na  (Kupfervitriol). 
Davon  geht  ein  Sechstel  (bei  der  Prägung)  verloren. 

6.  Wenn  die  Beschaffenheit  einer  Münze  im  Gewicht  von  1  Mäsa  wenigstens 
verschlechtert  wird,  soll  die  erste  Buße  bezahlt  werden ;  wenn  das  Gewicht  zu 
gering  ist,  die  mittlere  Buße ;  wenn  in  Bezug  auf  die  Wage  oder  das  Gegengewicht 
ein  Betrug  versucht  wurde,  die  höchste  Buße;  ebenso  bei  einem  Betrugsversuch 
in  Bezug  auf  eine  fertige  Münze  oder  Schmucksache  (z.  B.  durch  Vertauschung 
derselben  mit  einer  anderen). 

7.  Wer  hinter  dem  Rücken  des  Goldschmiedes  oder  anderwärts  (als  in  der 
königlichen  Goldschmiede)  Gegenstände  (aus  Edelmetall)  herstellen  läßt,  soll  eine 
Buße  von  12  Papas  bezahlen ;  wer  sie  selbst  verfertigt,  das  Doppelte.  So  wenn 
(der  Besteller  auf  Befragen)  die  Herkunft  (der  Münzen)  angibt. 

1)  Zu  lesen  und  abzuteilen:  anirdi^takälahäryäpadeiatfi  käryaayänyaihakarane. 

2)  So  nach  dem  Komm,  bei  Sorabji,  während  nach  Sh.  S.  der  Goldschmied 
und  «eine  Leute  als  Subjekt  zu  denken  und  die  geprägten  Münzen  von  ihnen 
jederzeit  wieder  zurückzunehmen  wären,  außer  im  Falle  der  Abnutzung  und  Wert- 
verminderung. 


EoUektaneen  zum  Eaatiliya  Arthasästra.  363 

8.  Wenn  er  ihre  Herkunft  nicht  angibt,  soll  das  (in  adhikarana  IV  be- 
schriebene) Verfahren  zur  Entdeckung  von  Übeltätern  gegen  ihn  eröffnet  -werden. 
Der  Verfertiger  soll  (in  solchem  Falle)  200  Parias  als  Buße  bezahlen,  oder  man 
soll  ihm  die  Finger  abschneiden. 

9.  Die  Wagegerätschaften  und  die  Gewichte  soll  man  bei  dem  Wägungs- 
inspektor  (II,  19)  kaufen,  andernfalls  ist  eine  Buße  von  12  Parias  zu  bezahlen 
(wenn  man  sie  selbst  anfertigt  oder  anderswo  kauftj. 

10.  Massive  Arbeiten,  massive  und  zugleich  hohle  Arbeiten  (z.  B.  goldene 
Krüge  oder  Vasen),  Löten,  Bestreichen  (Amalgamieren),  Zusammenfugen  (z.  B.  eines 
Gürtels),  Vergolden:  dies  sind  die  verschiedenen  Arbeiten  der  Juweliere. 

11.  Eine  falsche  Wage,  Wegnehmen,  Abzapfen,  petaka  (Falten,  Zusammen- 
schieben), pinica  (VertauBchung  ?)  sind  die  ünterschlagungsmittel  (der  Goldschmiede). 

12.  Mit  sich  biegendem  Wagebalken  versehen,  mit  hohem  (und  innerlich 
Quecksilber  enthaltendem)  Zapfen,  mit  zerbrochener  Spitze,  mit  hohlem  Halse  •), 
mit  schlechten  Stricken,  mit  schiefen  Wagschalen,  hin  und  her  schwankend,  mit 
einem  Magneten  verbunden :  dies  sind  die  (verschiedenen  Arten  von)  gefälschten 
Wagen. 

13.  Zwei  Teile  Silber,  ein  TeU  Kupfer  heißt  Triputaka  (drei  Schichten).  Wenn 
dies  an  die  Stelle  von  Bergwerksgold  (oder  Flußgold)  gesetzt  wird,  so  heißt  das 
Triputakävasäritam  (Wegnahme  durch  die  drei  Schichten).  Wenn  (das  echte  Gold) 
durch  Kupfer  (ersetzt  wird),  so  heißt  dies  Sulbävasäritam  (Wegnahme  durch 
Kupfer).  Wenn  durch  vellaka  (eine  Legierung  von  halb  Eisen  und  halb  Silber), 
so  heißt  dies  VelL.kävasäritam.  Wenn  durch  eine  zur  Hälfte  Gold,  zur  Hälfte 
Kupfer  enthaltende  Mischung,  so  heißt  dies  Hemävasäritam  (Wegnahme  durch  eine 
Goldlegierung). 

14.  Ein  Schmelztiegel  mit  einem  hohlen  Boden,  Metallausscheidungen  (Eisen- 
rost j,  die  Öffnung  einer  Beißzange  (oder  eines  Kamins),  eine  Ahle  und  Zange  (oder 
eine  ahlenartige  Zange),  eine  jongani  -)  und  Natriumsalz  (für  chemische  Prozesse) : 
dies  sind  die  Mittel  zur  Unterschlagung  (Wegnahme)  von  Gold. 

15.  Wenn  vorher  aufgeschütteter  feiner  Sand^)  nach  dem  (absichtlichen) 
Bersten  des  Schmelztiegels  aus  der  Pfanne  aufgelesen  und  (die  ganze  Masse)  nach- 
her zusammengeschmolzen  wird;  oder  wenn  bei  der  Prüfung  einer  Menge  von 
Goldsachen*)  ein  silbernes  Stück  (mit  einem  goldenen)  vertauscht  wird,  so  heißt 
dies  Abzapfen  (vgl.  11).  Ebenso  wenn  feiner  Sand  (Goldsand)  mit  Sand  von  einem 
unedeln  Metall  vertauscht  wird. 

16.  Petaka  (vgl.  11),  sei  es  fest  oder  lose,  geschieht  beim  Löten,  Amalga- 
mieren und  Zusammenfügen  (Plattieren).  Wenn  ein  Bleistück  (Bleimünze)  mit 
einer  Lage  von  Gold  überzogen  und  innen  mit  Lack  verkittet  wird,  so  heißt  dies 
fester  Petaka.  Das  nämliche  Verfahren  mit  (bloßem)  Aufeinanderlegen  (ver- 
schiedener) Lagen  heißt  loser  (Petaka). 


1)  Oder  „knotenreich",  nach  der  Lesart  upakarninl  und  dem  Komm,  bei 
Sorabji. 

2)  Nach  dem  Komm,  und  Sorabji  ein  metallenes  Kästchen  oder  hohles 
Rohr  zum  Verbergen  des  gestohlenen  Goldes. 

3)  Nach  Sh.  S.  handelt  es  sich  um  kleine  Stücke  unedeln  Metalls,  nach 
Sorabji  um  aufgeschütteten  feinen  Sand,  mit  dem  beim  Springen  oder  Umfallen 
des  Tiegels  das  flüssige  Metall  aufgefangen  wird. 

4)  So  nach  dem  Komm,  bei  Sorabji. 

Kgl.  Oes.  d.  Wiss.  Nachrichten.  Phil.-hist  Klasse.  1916.  Heft  3.  25 


364  Julius  Jolly, 

17.  Beim  Amalgamieren  wird  eine  (mit  dem  unedeln  Metall  verbundene) 
Platte  oder  eine  doppelte  Lage  (von  Edelmetall)  verwendet.  Kupfer  oder  Silber 
wird  als  Kern  der  Platten  beim  Zusammenfügen  (Plattieren)  verwendet.  Ein 
Kupferstück,  mit  einer  Goldplatte  überzogen  und  (im  Feuer)  geglättet,  heißt 
supärsva  (schön  auf  der  Oberfläche).  Ein  ebensolches  Stück  aus  Kupfer  oder 
Silber,  mit  einer  doppelten  Platte  von  Gold  (oben  und  unten)  überzogen  und  im 
Feuer  geglättet,  heißt  uttaravarnaka  (von  schönster  Farbe). 

18.  Die  beiden  Arten  (von  petaka)  kann  man  durch  Erhitzung  oder  durch 
Aufstreichen  (der  Münze)  auf  dem  Probierstein  erkennen,  oder  an  dem  Fehlen 
eines  Geräuschs  beim  Zerschlagen  oder  durch  Bearbeitung  mit  einer  ätzenden 
Flüssigkeit ').  Den  losen  (petaka)  stellt  man  fest  durch  ein  Bad  in  (dem  sauren 
Saft  von)  Badarämla  oder  in  Salzwasser.     Soweit  der  Petaka. 

19.  In  einem  teils  massiven  teils  hohlen  Gegenstand  bleiben  Stückchen  von 
Goldsand^)  oder  eine  Paste  von  Zinnober  in  erhitztem  Zustand  haften.  Auch  an 
einem  ganz  kompakten  Gegenstand  bleibt  eine  Mischung  von  (metallischem)  Sand 
oder  eine  Paste  von  rotem  Lack  und  rotem  Blei^)  in  erhitztem  Zustand  haften^). 
Bei  beiden  Arten  (von  Verunreinigung)  geschieht  die  Reinigung  durch  Glühen  und 
Abreißen.  An  einem  mit  einer  Einfassung  versehenen  Stück  bleibt  Salz  haften,  wenn 
man  es  durch  eine  Flamme  zusammen  mit  hartem  Kies  erhitzt.  Hier  geschieht 
die  Reinigung  durch  Sieden  (in  einer  ätzenden  Flüssigkeit).  Eine  Schicht  von 
Talk  wird  durch  Lack  mit  einem  doppelt  (oben  und  unten  mit  Gold  oder  Silber) 
plattierten  Gegenstand  verbunden.  Bei  einem  solchen  mit  Talk  (oder  Glas)  be- 
deckten Gegenstand  geht,  wenn  man  ihn  in  Wasser  eintaucht,  ein  Teil  (der  keinen 
Talk  enthält  und  daher  schwerer  ist)  darin  unter;  oder  man  kann  mit  einer  Nadel 
in  die  inneren  Schichten  hineinstechen.  Edelsteine,  Silber  oder  Gold  können  bei 
teils  massiven  teils  hohlen  Gegenständen  (mit  Nachahmungen)   vertauscht  werden. 

20.  Hier  geschieht  die  Reinigung  (und  Entdeckung)  durch  Glühen  und 
Abreißen.     Soweit  der  Pinka  (Vertaüschung,  vgl.  11). 

21.  Daher  muß  (der  Goldschmied)  an  den  Diamanten,  Juwelen,  Perlen,  Ko- 
rallen und  Münzen  ihre  Art,  Gestalt,  Farbe,  ihr  Gewicht,  ihren  Stoff  und  besondere 
Kennzeichen  (Stempel)  untersuchen. 

22.  Bei  der  Prüfung  verfertigter  (neuer)  Gegenstände  (von  Metall)  oder  der 
Ausbesserung  alter  (metallener)  Gegenstände  gibt  es  vier  Arten  des  Betrugs: 
Hämmern,  Abschneiden,  Abfegen  und  Abreiben. 

23.  Hämmern  besteht  darin,  daß  man  unter  dem  Vorwand  eines  (Betrugs- 
versuchs durch)  petaka  einen  hohlen  Gegenstand  (pf-$ita,  vgl.  13,  22),  einen  Gold- 
faden oder  ein  Gefäß  (von  Edelmetall)  zerschlägt. 

24.  Abschneiden  besteht  darin,  daß  man  bei  aus  zwei  Lagen  bestehenden 
Artikeln  (dviguV'avästukänäin  zu  lesen)  für  das  Edelmetall  Blei  einsetzt  und  das 
Innere  ausschneidet. 

25.  Abfegen  besteht  darin,  daß  man  massive  Stücke  mit  Kupfervitriol  be- 
arbeitet. 

26.  Abreiben  besteht  darin,  daß  man  entweder  mit  einem  Pulver  aus  einem 
der  folgenden  Stoffe:   gelber   oder  roter  Arsenik  oder  Zinnober,   oder  mit   einem 


1)  Ebenso. 

2)  Zu  lesen  auvari^amfdvälukä. 

3)  So  nach  Sorabji,  doch  bleibt  gändhära  unsicher,  nach  Sh.  S.  bedeutet 
das  Kompositum  'the  waxlike  mud  of  G&ndhära'. 


Kollektaneen  zum  Kautiliya  Arthasästra.  365 

Pulver  von   (zerriebenem)  Rubin   (oder  mit  Schmirgelpulver)    ein  Tuch   bestreicht 
und  damit  (den  metallenen  Gegenstand)  abreibt. 

27.  Durch  solche  (Bearbeitung)  werden  goldene  und  silberne  Gegenstände 
abgenutzt,  doch  erfahren  sie  keine  Beschädigung  (dadurch). 

28.  Bei  zerschlagenen,  zerschnittenen,  oder  abgeriebenen  gelöteten  Stücken 
kann  man  durch  Vergleichung  mit  einem  ähnlichen  (jedoch  unverletzten)  Stück 
(den  Verlust)  abschätzen.  Bei  amalganiierten  Stücken  (oder  bei  abgekratzten,  nach 
der  Lesart  avalekhyänätn)  schneide  man  ebenso  viel,  als  davon  abgeschnitten  wurde, 
von  einem  anderen  Stück  ab  und  bestimme  danach  (den  Verlust).  Verdorbene 
muß  man  oftmals  erhitzen  und  dann  im  Wasser  kühlen. 

29.  Wegwerfen,  Gewichte,  Feuer,  Ambos  (?  s.  o.  13, 5),  Handwerksgerät, 
der  Arbeitsplatz  (?),  Flederwisch,  Faden,  Kleiderfalten*),  der  Kopf*),  der  Schoß, 
Fliegen  (um  sie  abzuwehren),  Hinsehen  auf  den  eigenen  Körper,  der  Blasebalg, 
die  Wasserschale,  die  Pfanne:  (auffallende  Beschäftigung  mit  diesen  Dingen)  läßt 
auf  eine  (von  dem  Arbeiter  beabsichtigte)  Unterschlagung  (?)  schließen. 

30.  Bei  Silbersachen  läßt  muffiger  Geruch,  Anziehung  von  Unreinigkeiten, 
Unebenheit,  Härte  und  Glanzlosigkeit  auf  Fälschung  schließen. 

31.  So  muß  man  neue  und  gebrauchte,  verdorbene  und  von  Haus  aus 
schlechte  (Gegenstände  von  Gold  und  Silber)  untersuchen  und  Bußen  dafür,  wie 
angegeben,  verhängen. 

Vergleicht  man  mit  den  vorstehenden  Angaben  die  Vorschriften 
der  medizinischen  Werke  über  die  Verarbeitung  der  Metalle  und 
Mineralien  zu  Arzneien,  so  tritt  eine  überraschende  Ähnlichkeit 
in  der  Terminologie  zu  Tage,  die  sich  aber,  gerade  wie  bei  der 
juristischen  Literatur,  weit  mehr  auf  die  späteren^),  als  auf  die 
alten  Texte  bezieht.  So  kommt  in  diesen  3  adhy.  des  K.A.  9  mal 
als  Bezeichnung  des  Kupfers  sulba  vor,  das,  wie  man  auch  über 
seinen  angeblich  lateinischen  Ursprong*)  urteilen  mag,  jedenfalls 
bisher  nur  in  späten  Texten  als  Kupfername  nachgewiesen  ist. 
Vielleicht  noch  wichtiger  sind  die  Hinweise  auf  das  Quecksilber, 
das  in  rasapäka  81, 14  (=  12, 1),  rasaoiddham  85, 14  (13,  2)  und  prä- 
ülepinä  rasena  (päradena  Komm.)  89,  2  (13,  37)  deutlich  vorliegt.  Da 
Quecksilber  meist  aus  Zinnober  {hingula)  gewonnen  wurde,  das  in 
Dardestan  häufig  vorkommt  (vgl.  Ray,  Hist.  of  Hindu  Chemistry 
1, 43),  so  kommt  für  eine  ausgiebige  Bekanntschaft  mit  dem  Queck- 

1)  Nach  der  Lesart  cellajollanam  nebst  Erklärung  bei  Sorabj  i. 

2)  Glätten  der  Haare,  Kratzen  u.  dgl.  (Komm.). 

3)  Der  in  Garbes  Ind.  Mineralien  bearbeitete  Räjanigha^tu ,  zu  dem  das 
K.A.  auffallende  Parallelen  bietet,  ist  im  13.  Jahrh.  n.  Chr.  verfaßt. 

4)  Nach  dem  PW.  läge  sulphur  zu  Grunde,  vgl.  Garbe  1.  c.  35  zu  sulba : 
„erschlossen  aus  dem  Lehnworte  sulbäri  =  sulphur,  dessen  falsche  Zerlegung 
in  sulba  ~-  ari  „Feind  des  sulba"  einem  sulba  in  der  Bedeutung  „Kupfer"  das 
Leben  gab."  Doch  wie  soll  das  lateinische  sulphur  nach  Indien  gelangt  sein  ? 
Über  die  umgekehrte  Hypothese,  der  zufolge  lat.  sulpur  aus  sulbäri  entlehnt  sein 
soll,  vgl.  O.  Schrader,  Reallexikon  s.v.  Schwefel. 

25* 


366  Julius  Jolly,  KoUektaneen  zum  Kautiliya  Arthasästra. 

Silber  auch  die  fünfmalige  Erwähnung  von  hingula  in  Betracht. 
Über  das  Auftreten  des  Quecksilbers  in  der  älteren  indischen 
Medizin  ist  jetzt  Hoernles  Anmerkung  zu  Bowerhs.  11,297 
(Calc.  1909)  zu  vergleichen,  wonach  dasselbe  zwar  in  der  Bowerhs. 
und  bei  Caraka  je  einmal,  bei  Su^ruta  zweimal  vorkommt,  aber  doch 
in  Lehrbüchern  der  allgemeinen  Medizin,  selbst  späten  Datums, 
selten  erscheint.  Später  ist  es  bekanntlich  das  Hauptmittel  ge- 
worden, vgl.  meine  Medicin  §  26,  Megasthenes  erwähnt  von  in- 
dischen Metallen  nur  Silber,  Grold,  Erz,  Eisen  und  Zinn,  ähnlich 
wie  nach  den  älteren  indischen  Aufzählungen.  Von  den  mannig- 
fachen chemischen  und  metallurgischen  Prozessen  im  K.A.  ist  be- 
sonders die  Verbindung  von  Kupfer  und  Silber  und  anderen 
minderwertigen  Metalien  mit  Quecksilber  und  anderen  rasa  von 
Interesse,  weil  dadurch  das  Goldmachen,  eine  Verwandlung  unedler 
Metalle  in  Gold  zugleich  mit  vielfacher  Vermehrung  des  ursprüng- 
lichen Gewichts,  bewirkt  werden  soll,  die  ganz  den  Lehren  der 
abendländischen  Alchimie  entspricht,  vgl.  o.  12,  2,  4  und  13,  2,  dazu 
,,Der  Stein  der  Weisen"  in  der  Festschrift  an  E.  Windisch,  103 f. 
Auch  Ray,  der  das  Alter  der  indischen  Alchimie  und  latrochemie 
sehr  hoch  schätzt,  kennt  keinen  älteren  Sanskrittext  darüber  als 
das  nepalesische  Kubjikätantram  in  einer  nepalesischen  Hs.  angeb- 
lich aus  dem  6.  Jahrh.  n.  Chr.  (1.  c.  II,  XLIIff.). 

So  ergeben  die  Parallelen  in  medizinischen  Texten  ebenso  wie 
die  Analogieen  in  den  juristischen  das  Bild  einer  viel  jüngeren 
Stufe  der  Anschauung,  als  man  in  einem  Werk  des  4.  Jahrhunderts 
V.  Chr.  erwarten  sollte.  Ungeteilte  Zustimmung  hat  ja  die  Autor- 
schaft des  Ministers  Cänakya,  des  indischen  Bismarck,  bei  indischen 
Gelehrten  gefunden.  Sollte  dabei  aber  nicht  etwas  der  indische 
Nationalismus  mitsprechen,  der  die  Errungenschaften  der  indischen 
Kultur  in  möglichst  frühe  Zeiten  zurückschieben  möchte '?  Bei  den 
Dharmaäästras  dringen  wir  nirgends  bis  zu  den  wirklichen  Ver- 
fassernamen durch,  bei  den  nahe  damit  verwandten  Arthasästras 
wird  es  nicht  anders  sein. 


Die  Formel  „Glaube,  Liebe,  Hoffnung"  bei  Paulus. 

Von 

B.  Beitzen stein. 

Vorgelegt  in  der  Sitzung  am  8.  April  1916. 

In  dem  neusten  Heft  der  Preußischen  Jahrbücher  (Band  164, 
S.  1  ff.)  hat  V.  Harnack  vor  einem  weiteren  Publikum  über  den 
Ursprung  der  Formel  „Glaube,  Liebe,  Hoffnung"  gehandelt  und 
dabei  einen  doppelten  Angriff  gegen  mich  gerichtet.  Ich  soll 
durch  wissenschaftliche  Hypothesen  die  Originalität  der  christ- 
lichen Religion  mehrfach  schwer  verletzt  haben  und  soll  in  meinem 
Buch  ^Historia  monachorum  und  Historia  Lausiaca"^  gegen  die  erste 
Pflicht  jedes  Forschers,  das  ihm  bekannte  Material  für  seine  Be- 
hauptungen vorzulegen,  in  ganz  unbegreiflicher  Weise  verstoßen 
haben,  und  zwar  in  einem  Falle,  in  welchem  dieses  Material  zwin- 
gend gegen  mich  spräche.  Es  handelte  sich  um  eine  dort  beüäufig 
gegebene  Deutung  der  Worte  des  Paulus  I.  Kor.  13,  13  vovi  8k 
|j.svsi   Tciat'.?,    tkiz'.q,   aYaTTTj,    ta  tpia  taöTa"    tJLe'lCoüv  5s  tootcüv  r^  aYarTj. 

Auf  den  Vorwurf,  die  Originalität  der  christlichen  Religion 
schwer  verletzt  zu  haben,  der  ohne  nähere  Angaben  auch  auf 
meine  frühere  Tätigkeit  ausgedehnt  wird,  gehe  ich  an  diesem 
Orte  nicht  ein.  Nur  für  „einen  größeren  Leserkreis'"  bestimmt,  muß 
er  wohl  oder  übel  vor  diesem  verhandelt  werden.  Sollte  er  doch 
recht  eigentlich  die  Persönlichkeit  verletzen  und  zugleich,  an  dieser 
Stelle  vorgebracht,  durch  ein  autoritatives  und  mikontrollierbares 
Urteil  nach  außen  diskreditieren ').  Persönliches  scheidet  hier  aus. 


1)  Die  Redaktion  der  Preußischen  Jahrbücher,  die  ich  um  Aufnahme  einer 
Darlegung  des  Sachverhalts  bat,  hat  sie  mit  der  Begründung  abgelehnt,  daß  ihre 
mehr  der  allgemeinen  Bildung  als  der  Fachwissenschaft  dienende  Zeitschrift  Ar- 
tikel von  zu  weit   gehender  philologischer   und  theologischer  Gründlichkeit   nicht 


368  R.  Reitzenstein, 

Auch  gegen  den  zweiten  Vorwurf,  den  ich  vor  jenem  größeren 
Publikum  mit  berücksichtigen  mußte,  weil  er  den  ersten  verschärfen 
sollte  (vgl.  V.  Harnack  S.  13.  14) ,  werde  ich  in  diesem  Aufsatz 
nicht  viel  mehr  sagen.  Er  beruhte  auf  einer  willkürlichen  Miß- 
deutung meiner  Worte,  die  nach  v.  Harnack  enthalten  sollen,  die 
Zusammenstellung  der  Begriffe  Glaube,  Liebe  und  Hoffnung,  ja 
die  Begriffe  selbst  habe  Paulus  aus  einej*  hellenistischen  Mysterien- 
religion entlehnt,  während  ich  nur  von  dem  einen  Verse  gesprochen 
habe,  der  bei  ihm  diesen  drei  Gotteskräften  überraschender  Weise 
ein  Bleiben  im  Jenseits  zuschreibt  und  zugleich  allein  eine  For- 
mel bietet.  Er  beruhte  ferner  auf  der  Überzeugung  v.  Harnacks, 
was  er  selbst  vorbrächte,  sei  „Material"  für  diese  Frage,  d.  h.  be- 
einflusse irgendwie  ihre  Entscheidung.  Sollte  diese  Überzeugung 
ihm  erschüttert  werden,  so  wird  der  in  konziliantesten  Formen  ^) 
und  kränkendstem  Sinn  vorgebrachte  Vorwurf  wohl  von  selbst 
wegfallen.  Mich  beschäftigen  also  hier  nur  die  sachlichen  Auf- 
stellungen V.  Harnacks  über  den  Ursprung  der  Formel  „Glaube, 
Liebe,  Hoffnung"  und  sodann  die  philologische  Interpretation  des 
„Hohen-Liedes  von  der  Liebe",  I.  Kor.  13. 

1. 

Den  Ursprung  der  Formel  „Glaube,  Liebe,  Hoffnung"  will 
V.  Harnack  aus  einem  Vergleich  mit  der  truiitarischen  Bekenntnis- 
formel gewinnen  „Gott  Vater,  Sohn  und  Geist".  Es  ist  klar,  wie 
er  dabei  den  Begriff  Formel  faßt;  er  bezeichnet  sie  später  als 
Idee  oder  Schöpfung.  Wie  sich  nun  nach  ihm  die  trinitarische 
Bekenntnisformel  aus  zwei  binitarischen  Formeln  „Vater  und 
Sohn"  und  „Vater  und  Geist"  durch  eine  Art  Addition  und  zu- 
gleich auf  Grund  eines  Empfindens  für  die  Vollkommenheit  der 
Dreizahl  entwickelt  haben  soll,  so  die  Formel  „Glaube,  Liebe, 
Hoffnung"  aus  zwei  ähnlichen  binitarischen  Formeln  „Glaube  und 
Liebe"  und  „Glaube  und  Hoffnung".  Ich  bin  gegen  solche  Beweise 
durch  einen  Vergleich  mißtrauisch,  zumal  wenn  der  Vergleich  hinkt. 
In  der  Verbindung  der  drei  Begriffe  Vater,  Sohn  und  Geist  ist 
im  Bekenntnis  der  formelhafte  Charakter  von  selbst  gegeben:  drei 
verschiedene  Begriffe,   und  nur  diese  drei,  geben  eine  höhere  Ein- 


aufnehmen  könne.  Da  die  Redaktion  der  Historischen  Zeitschrift  die  Annahme 
dieses  Aufsatzes  gütig  zugesagt  hat,  wird  wenigstens  ein  Teil  der  Leser  sich  dort 
überzeugen  können,  wie  v.  Harnacks  Vorwurf  begründet  und  wie  er  eingeführt  war. 
1)  Populärer  ist  die  Form  in  den  Aufsätzen,  die  sich  an  ein  engeres  Publi- 
kum wenden,  so  in  der  gegen  mich  gerichteten  Bemerkung  in  den  Sitzungsbe- 
richten d.  Kgl.  Preuß.  Akad.  zu  Berlin  1916  S.  541, 2. 


die  Formel  „Glaube,  Liebe,  Hoffnung"  bei  Paulus.  369 

heit;  das  wird  bei  der  Nennung  dreier  Tugenden  durchaus  nicht 
immer  der  Fall  sein ;  die  altchristliche  Literatur  bietet,  wie  v,  Har- 
nack  selbst  andeutet,  eine  Fülle  der  verschiedensten  Kombinationen 
und  Zahlensysteme  (von  2  bis  12).  Femer,  bei  dem  Glaubens- 
bekenntnis mochten  ältere  Verbindungen  wie  „Vater  und  Sohn" 
oder  gar  „Vater  und  Greist",  also  eine  Verbindung,  die  ursprüng- 
lich sicher  keine  Formel  ist,  dem  Wesen  der  Sache  nach 
als  Formeln  oder  vielmehr  als  Material  für  die  Formel  gefaßt 
werden;  bei  Aufzählungen  von  Tugenden  ist  das  durchaus  nicht 
nötig.  Nur  eine  fast  uneingeschränkte  Herrschaft  zweier  binita- 
rischer  Formeln  konnte  hier  den  Additionsprozeß  verlangen.  Ein 
bloßer  Nachweis  der  Existenz  der  Begriffe  würde  nicht  genügen. 
Sie  sind  an  sich  in  jeder  individuellen  Religion  natürlich  und 
daher  fast  überall  nachweisbar;  auffällig  werden  sie  nur  durch 
die  Beschränkung  auf  eine  bestimmte  Zahl.  Nur  hierin  kann  das 
Wesen  der  Idee  oder  Schöpfung  oder  Formel  im  engem  Sinne 
liegen.  Von  Hamack  ist  hierauf  nicht  eingegangen,  sondern  fol- 
gert aus  seinem  Vergleich  sofort:  da  die  drei  Begriffe  neben  ein- 
ander —  er  sagt  die  Formel  —  „Glaube,  Liebe,  Hoffnung"  sich 
schon  in  dem  frühsten  Briefe  des  Paulus  (L  Thess.)  finden,  so 
ist  die  Formel  vielleicht  sogar  vorpaulinisch  und  müssen  die  beiden 
binitarischen  Formeln  „Glaube  und  Liebe"  und  „Glaube  und  Hoff- 
nung" noch  älter  sein;  sie  reichen,  wenn  wir  das  auch  für  die  eine 
literarisch  nicht  voll  erweisen  können,  sicher  bis  in  die  Urzeit  des 
Christentums  zurück.  Nun  ist  freilich  auch  für  die  trinitarische 
Formel  irgendwelche  Herrschaft  in  der  Literatur^)  nicht  erweis- 
bar; aber  da  diese  „Schöpfung"  in  junger  Zeit  allgemein  ange- 
nommen ist,  können  wir  uns  mit  der  Annahme  helfen,  daß  die 
Gemeinde  die  trinitarische  Formel  sofort  nach  ihrer  Auf- 
stellung als  beste  Devise  der  christlichen  Frömmigkeit  und 
Überzeugung  erkannt  hat ;  sie  nannte  nach  den  einzelnen  Begriffen 
sogar  ihre  Frauen.  So  erhielt  sich  in  einer  gewissermaßen  unter- 
literarischen Schicht  jene  Uridee  des  Christentums,  in  der  es  sich 
am  originellsten  und  vollkommensten  ausprägt,  durch  anderthalb 
Jahrhunderte,  bis  endlich  die  Theologie  ihre  Abneigung  aufgab 
und  diese  Idee  rezipierte.  So  der  Gedankengang  v.  Harnacks,  so 
weit  ich  ihn  aus  seiner  Darstellung  zu  deuten  vermag. 

Zugrunde  Hegt,  soweit  ich  sehe,  trotz  einzelner  Berichtigungen 
und   Zusätze    eine   von  A.  Resch   „Agrapha",   Texte    und   Unter- 


1)  Von  Harnack  sagt:    „in  der  Theologie"  und  nennt  die  Apologeten.    Daß 
die  Beschränkung  falsch  ist,  werde  ich  unten  erweisen. 


370  ^-  Reitzenstein, 

suchungen,  Bd.  30  (N.  F.  15),  Heft  3,  S.  153  ff.  vorgetragene  Be- 
hauptung. Ihr  hat  v.  Harnack  Grrundauffassung  und  Methode,  die 
Mehrzahl  der  Zitate  und  die  Anlässe  zu  Mißverständnissen  und 
Flüchtigkeiten  entnommen.  Nur  hatte  ßesch  einen  anderen  Aus- 
gangspunkt, der  seine  dem  Philologen  befremdliche  Argumentations- 
art bestimmte.  Er  glaubte,  daß  jene  seltsamen  Predigten  unter 
dem  Namen  des  Macarius  (hom.  XXXVII  Anf.)  ein  Herrenwort 
bezeugten:  iTctjisXeio^s  TTtatsw?  xal  IXTriSo?,  St'  wv  Ysvvärat  ii  cptXö- 
dso?  xai  (ptXdtvö-pwTCO?  öcYaTCT]  ii  tyjv  aldbviov  Cwtjv  -KapByoviCici.^).  Resch 
hielt  es  für  echt  und  suchte  durch  eine  kritiklose  Sammlung  aller 
frühchristlichen  Stellen,  an  denen  die  drei  Begriffe  in  beliebiger 
Entfernung  von  einander  und  in  beliebigen  Zusammenhängen  vor- 
kamen, zu  erweisen,  schon  Jesus  könne  so  gesprochen  haben.  Auf 
die  Formel,  die  ja  in  dem  vermeintlichen  Herrenwort  gar  nicht 
liegt,  kam  ihm  nichts  an;  die  einzige  Stelle,  wo  sie  sicher  ist 
(I.  Kor.  13, 13),  stand  bescheiden  am  Ende  der  ganzen  Reihe.  Für 
V.  Harnack  ist  diese  Stelle  und  die  Formel  die  Hauptsache,  das 
Logion  hat  er  aufgegeben,  das  „Material"  aber  großenteils  beibe- 
halten, ja  noch  ergänzt.  Den  urchristlichen  Ursprung  der  Formel 
muß  nun  ihre  Herleitung  aus  den  zwei  binitarischen  Formeln  er- 
weisen, d.  h.  das  Fundament  Reschs  ist  aufgegeben,  oder  vielmehr 
durch  eine  Hypothese  ersetzt,  der  Oberbau  ist  geblieben  und  noch 
etwas  stärker  belastet.  Ich  prüfe  zunächst,  ob  die  Hypothese  ihn 
überhaupt  noch  tragen  kann. 

Vorher  freilich  müssen  wir  uns  über  den  Begriff  des  Wortes 
Formel  klar  werden,  der  durch  den  in  mehr  als  einer  Hinsicht 
schiefen  Vergleich  mit  der  Bekenntnisformel  so  unklar  geworden 
ist,  daß  man  von  Schöpfung  einer  Formel  im  verschiedensten  Sinne 
reden  und  auf  ganz  verschiedene  Weise  meinen  kann  ihren  Ur- 
sprung zu  beweisen.  Hier  liegt,  glaube  ich,  die  Ursache  jener  Miß- 
deutung v.  Harnacks,  die  ich  im  Eingang  erwähnte.  Wenn  in 
Athen  die  vier  Tugenden  avSpeia,  awf  poaovYj,  StxatoaövY],  (ppövYjOK;  für 
die  Kardinaltugenden  erklärt  werden,  mit  dem  Zusatz,  daß  die 
(ppövYjot?  die  G-rundtugend  ist,  so  erkenne  ich  hierin  eine  Idee  und 
kann  den  Lehrsatz  selbst  als  Formel  bezeichnen.     Würde  ich  ihre 


1)  Über  das  Logion  selbst  verliere  ich  kein  Wort;  wer  die  sprachlicbe  Ent- 
wicklung im  frühen  Christentum  etwas  kennt,  muß  es  für  jung  erklären.  Zudem 
hatte  schon  Ropes  richtig  betont,  daß  die  einführenden  Worte  des  Macarius  gar 
nicht  besagen,  daß  er  ein  überliefertes  Wort  anführen  wolle;  Reschs  Gegen- 
gründe zeigen  nur  den  Mangel  jeder  philologischen  Schulung,  etwa  wie  die  köst- 
lich ungriechische  Textgestaltung,  die  er  im  gleichen  Zusammenhang  für  Barnab. 
1,6  vorschlägt.     Ich  kenne  keinen  Forscher,  der  das  Logion  noclf  verteidigt. 


die  Formel  „Glaube,  Liebe,  Hoffnung"  bei  Paulus.  371 

Erfindung  dem  Plato  zusprechen,  so  könnte  ich  wohl  nicht  damit 
meinen,  daß  er  die  Begriffe  erfunden  oder  sie  zuerst  als  „Tugen- 
den" bezeichnet  habe.  Ein  Verweis  auf  den  Preis  einer  einzelnen 
aus  älterer  Zeit  würde  mich  nicht  widerlegen,  auch  nicht  die  Be- 
obachtung, daß  sehr  viel  ältere  Grabepigramme  in  Attika  schon 
zwei  Begriffe  vereinigen  und  vom  Manne  immer  wieder  sagen:  „er 
war  tapfer  im  Kriege  und  maßvoll  im  Frieden"  {arfct^ob  xal  ow- 
^povo?  ävSpö?)  oder  von  seiner  apstT]  ■i^^h  aao^pooövif]  reden.  Ich 
würde  höchstens  anerkennen :  solches  Empfinden  lag  Plato  besonders 
nahe.  Aber  weiter:  auch  ocYaO-oö  xal  ato^povo?  ävSpo'?  kann  ich  als 
formelhaft  bezeichnen,  zunächst  im  sprachlichen  Sinne;  es  wieder- 
holt sich  ja  in  Attika  ziemlich  oft  und  wird  sogar  Vorbild  für  die 
Scipioneninschrift  fortis  vir  sapiensquc.  In  gewissem  Sinne  sogar 
als  sachliche  Formel.  Die  beiden  Eigenschaften  treten  für  das 
allgemeine  Empfinden  hier  so  besonders  hervor,  daß  unter  dem 
metrischen  Zwang  zu  kurzem  Ausdruck  nur  sie  erwähnt  werden \). 

1)  Die  Frage  tautologischer  oder  gegensätzlicher  Verbindung  spielt  dabei 
eine  gewisse  Rolle:  je  näher  sich  die  beiden  unter  sich  verbundenen  Begriffe 
stehen,  um  so  klarer  ist  der  Charakter  der  rein  sprachlichen  Formel.  So  steht 
neben  dem  Lob  des  Mannes  äyaSö;  xal  awopiuv  später  ein  ähnlich  doppelgliedriges 
Lob  der  Frau  awtppwv  xal  xpr^rd^  (besonders  charakteristisch  Kaibel  60),  in  dem 
die  beiden  Adjektiva  einander  weit  näher  stehen  ;  es  ist  wohl  Nachbildung.  Klarer 
wird  ein  modernes  Beispiel  sein.  Für  uns  ist  „Glauben  und  Wissen"  eine  sach- 
liche Formel ,  die  Verschiedenartiges ,  ja  Gegensätzliches  verbindet.  Für  den 
Dichter  des  Kirchenliedes  „Nun  weiß  und  glaub  ich  feste,  Ich  rühm's  auch  ohne 
Scheu,  Daß  Gott,  der  Höchst  und  Beste,  Mir  gänzlich  günstig  sei",  ist  es  eine 
rhetorische  Formel,  die  keinerlei  Zeugnis  für  das  Alter  und  die  Verbreitung  der 
sachlichen  (Glauben  und  Wissen)  bietet.  Aber  diese  rhetorische  Formel  ist  noch 
sonst  lehrreich.  Sie  zeigt,  wie  wenig  bei  stilistischen  Entlehnungen  der  Inhalt 
mit  entlehnt  zu  sein  braucht.  Ich  empfinde  Paul  Gerhardt  hier  beeinflußt  von 
der  lateinischen  Rhetorik ,  die  diese  tautologischen  Verbindungen  seit  ihrer 
Urzeit  besonders  liebt  (vgl.  Cato  Or.  fr.  1,  1  scio  ego  atqice  tarn  pridem  cognovi  atque 
intellexi  atque  arhitror)  und  werde  durch  die  Wahl  der  beiden  Epitheta  Gottes 
darin  bestärkt.  Ich  höre  in  Zeile  3  und  4  deum  Optimum  maximum  mihi  plane 
propitium  esse,  weiß,  daß  Paul  Gerhardt  lateinisch  las  und  dichtete,  und  verfolge 
mit  Interesse,  wie  man  mit  glücklichem  Empfinden  aus  einem  recht  bänkelsänge- 
rischen Parallelgedicht  („Ich  hab  oft  bei  mir  selbst  gedacht")  für  die  zu  latei- 
nische Wendung  „gänzlich  günstig^  eingesetzt  hat  „Freund  und  Vater",  und  wie 
das  Lied  uns  nun  in  dieser  Gestalt  lieb  und  vertraut  geworden  ist.  Wenn  ein 
Gegner,  ohne  die  Zusammenhänge  zu  erwähnen,  einem  Laienpublikum  berichtete, 
ich  „verletze"  die  Originalität  Paul  Gerhardts  oder  gar  des  Protestantismus  und 
leite  seine  Vorstellungen  von  der  Erhabenheit  und  Güte  Gottes  aus  dem  Kulte 
des  lupiter  optimus  maximus  ab,  während  diese  Vorstellungen  nicht  nur  urchrist- 
lich ,  sondern  zugleich  unser  teuerster  Besitz  und  das  einigende  Band  der  zer- 
spaltenen  Christenheit  seien,  so  würde  ich  das  für  eine  etwas  voreilige  Polemik 
halten. 


372  R.  Reitzenstein, 

Felilte  dieser  Zwang,  so  könnten  natürlich  auch  andere  hinzutreten; 
eine  Idee  liegt  nicht  zugrunde,  wenigstens  nicht  so,  wie  in  der 
platonischen  Formel.  Gesellen  sich  ihnen  in  Mahnreden  oder  En- 
komien  noch  andere,  individuellere  Eigenschaften  oder  Epitheta, 
so  werde  ich  von  Formeln  überhaupt  kaum  mehr  reden.  Nun  ge- 
hört noch  dem  vierten  Jahrhundert  eine  G-rabschrift  (Kaibel  54) 
{iV^IJLa  SixaiooövTji;  %al  ow^pocDvir]?  apet'^';  ts.  Ich  werde  kaum  daraus 
schließen,  daß  sich  schon  in  vorplatonischer  Zeit  aus  der  binitari- 
schen  eine  trinitarische  Formel  gebildet  habe  und  Plato  sie  annahm, 
etwa  weil  er  den  Theognis  schätzte,  in  dessen  Sammlung  sich  ja 
ein  Spruch  (147)  findet  Iv  Ss  Sixatooovifj  oDXXYjßSTjv  Tcäa'  apez-q  eonv, 
endlich,  daß  er  aus  anderen  Formeln  auf  Grund  einer  Vorliebe  für 
die  Vierzahl  als  Vollzahl  die  ^pöv/jais  zugefügt  habe;  die  attische 
Komödie  zeige  ja  Frauennamen  wie  <i>povif]c3iov  (und  wohl  auch 
<I>pövYjoi(;).  Das  Bild,  welches  wir  auf  Grund  derartiger  Behaup- 
tungen von  der  Entwicklung  der  griechischen  Ethik  empfingen, 
wäre  abenteuerlich ;  auch  genügte  Plato  selbst,  um  es  zu  widerlegen. 

Wenden  wir  nun  den  Blick  zu  der  Formel  „Glaube,  Liebe, 
Hoffnung".  An  einer  einzigen  Stelle  des  Neuen  Testamentes, 
I.  Kor.  13, 13,  erscheint  sie  in  dem  Sinne  einer  „Idee",  also  wirk- 
lich als  Formel.  Dagegen  wird  in  einer  immerhin  größeren  An- 
zahl von  Stellen  Glaube  und  Liebe  als  besonders  wichtig  hervor- 
gehoben, ja  die  beiden  Tugenden  verbinden  sich  nicht  ganz  selten 
zu  einer  Quasi  -  Formel,  etwa  wie  in  dem  Beispiel  a^fcnd-oü  xai  aw- 
(ppovo?  avSpö?.  Im  zweiten  Jahrhundert  werden  sie  sogar  von  Ig- 
natius  als  echte  Formel  gebraucht,  vgl.  Eph.  14  wv  oöSsv  Xavddvei 
ujjiä?,  lav  TsXetw?  sl?  'Iirjaoöv  Xpiotöv  l'xTjts  ttjv  itioziv  xal  ttjv  aYocTtTjv, 
tjtk;  latlv  ap/Y]  Cw^?  %al  t^Xog"  ^pxh  l*-^^  ittatK;,  tsXo?  8k  aYaTCYj,  ta 
8s  Soo  Iv  ivÖTirjTi  Ysvdjieva  be6<:  kaxiv  ta  S^  aXXa  Tcdcvta  sl?  xaXoxaYa- 
■d'iav  axöXoodd  louv.  Das  ist  eine  „Idee",  eine  Lehre,  wie  jene 
Lehre  von  den  vier  Kardinaltugenden;  sie  wird  sich  uns  freilich 
in  dieser  Form  als  hellenistisch  erweisen.  Die  einfache  Hervor- 
hebung und  Zusammenstellung  der  beiden  Begriffe  hat  niemand 
für  hellenistisch  erklärt  und  niemand  je  die  grundlegende  Be- 
deutung der  Begriffe  für  das  Christentum  bestritten. 

Anders  steht  es  mit  der  angeblichen  Formel  „Glaube  und 
Hoffnung",  deren  Existenz  v.  Harnack  für  das  Urchristentum 
nachweisen  will.  Es  ist  die  Grundlage  seiner  ganzen  Beweis- 
führung und  das  Neue  in  ihr.  Beide  Begriffe  grenzen  nahe  an 
einander,  ja  sind  je  nach  des  Auffassung  des  "Wortes  Trtottc  für 
einzelne  Autoren  und  Zusammenhänge  fast  synonym,  vgl.  Hebr. 
11, 1    sott  Sä   Tclottc  IXTTiCojJievwv  oTcöotaoK;,   TrpaYlidxwv   IXsyxO'I  o^  ß^*~ 


die  Fonnel  „Glanbe,  Liebe,  Hoffiiung"  bei  Paulus.  373 

?:o|iiv(öv  (vgl.  die  FortsetznDg  besonders  v.  7  und  27).  Es  ist 
schwer  denkbar,  wie  sie  überbanpt  eine  Formel,  sei  es  auch  nur 
in  dem  neutestamentlichen  Sinne  von  „Glaube  und  Liebe'',  bilden 
können.  Ich  muß  wortgetreu  anführen ,  wie  v.  Harnack  die 
Existenz  und  das  Alter  dieser  befremdlichen  Formel  beweist 
(S.  10.  11). 

Paulus  schreibt  Böm.  15, 13:  „Der  Gott  der  Hoffnung  erfülle 
euch  mit  aller  Freude  und  Frieden  im  Glauben,  auf  daß  ihr  Über- 
fluß haben  wöget  an  Hoffnung" ;  Gal.  5,5:  „Aus  dem  Glauben 
entnehmen  wir  die  Hoffnung'*;  Koloss.  1,23:  „Beharrt  auf  dem 
Glauben  ...  nicht  wankend  von  der  Hoffnung" ;  1.  Petr.  1,21: 
„Auf  daß  euer  Glaube  und  Hoffnung  sei  auf  Gott" ;  Hebr.  6, 11  f.: 
„Zur  Vollbereitung  der  Hoffnung  durch  Glaube  und  Langmut^; 
Tit.  1,  If:  „Nach  dem  Glauben  der  Erwählten  .  .  .  auf  Hoffnung 
des  Lebens";  1.  Clemens  58:  „Gott,  der  Herr  Jesus  Christus  und  der 
hl.  Geist  sind  der  Glaube  und  die  Hoffnung  der  Erwählten"; 
JBarnabas  1:  „Die  Hoffnung  auf  dc^  Leben  ist  Anfang  und  Ende 
unseres  Glaubens".  Nach  diesen  und  anderen  Stellen  kann  es  nicht 
zweifelhaft  sein,  daß  „Glaube  und  Hoffnung"  eine  uralte,  wahrschein- 
lich schon  hinter  Paulus  liegende  Formel  in  der  Christenheit  war. 

Also  stand  die  Hoffnung  von  Anfang  an  beim  Glauben,  und  sogar  bei 
der  Liebe  kam  sie  als  ihre  Ergänzung  zum  Ausdruck.  „Die  Hoff- 
nung macht  nicht  zu  schänden",  schreibt  Paulus  (Rom.  5,5);  „denn 
die  Liebe  Gottes  ist  ausgegossen"  und  ßarnabas  (c.  1,  4)  spricht  von 
„der  Liebe  auf  Hof f nun g  des  Lebens".       * 

Ich  aweifle  nicht,  daß  das  „weitere  Publikum"  durch  die  immer 
wieder  in  Sperrdruck  neben  einander  gestellten  Worte  überzeugt 
ist.     Aber  wie  lauten  die  Stellen  denn  wirklich? 

1)  Rom.  15,  13  6  Ss  dsöc  tt^?  IXkiSix;  TtXr^pdioii  ö{i.äc  zdoTj?  x*P*^ 
xal  elpTfjvir]?  Iv  tq)  Triotsostv,  sl?  tö  Trsptoaeosiv  6|iä(;  Iv  rg  IXäiS»  fev  do- 
vd{ji£'.  iT/sufJLato?  dcYioo.  Lietzmann  übersetzt:  „Grott  aber,  von  dem 
die  Hoffnung  kommt,  erfülle  euch  mit  aller  Freude  und  Friede, 
indem  ihr  glaubt,  auf  daß  ihr  reich  werdet  an  Hoffnung  durch  die 
Klraft  des  heiligen  Geistes".  Die  Änderung  der  Infinitivkonstruk- 
tion  zum  Substantiv  macht  an  sich  wenig  aus ;  aber  von  einer 
Formel  kann  doch  wohl  nicht  die  Rede  sein:  wer  in  Frieden 
und  Freudigkeit  glaubt,  hat  vollere  Hoffnung. 

2)  Gal.  5,5  rj{jL£i<;  fdcp  mtb^azi  Ix  ^riatsü)?  feX::i5a  S'.xatooovYj? 
otTTsxSsxopisda.  Hier  ist  durch  die  Unterdrückung  des  Genetivs, 
den  selbst  Resch  beibehält,  der  Sinn  vollkommen  geändert.  Der 
Zusammenhang  ist:  wer  sich  als  Christ  beschneiden  läßt,  ist  ver- 
pflichtet  das  ganze  Gesetz  zu  erfüllen;    Christus  ist  für  den  wir- 


374  R.  Reitzenstein, 

kungslos,  der  aus  dem  Gesetz  sich  selbst  rechtfertigen  will ;  er  ist 
von  der  Gnade  (^apt?)  ausgeschlossen.  Denn  wir  Christen  empfangen 
nur  auf  Grund  des  Glaubens  Hoffnung  auf  Gerechtigkeit,  d.  h,  eine 
zukünftige  Gerechtigkeit.  Wie  in  dem  ganzen  Briefe  entsprechen 
sich  auch  hier  Glaube  und  Gerechtigkeit,  nicht  Glaube  und  Hoff- 
nung; IXttic  bezeichnet  hier  gar  nicht  die  Tugend.  Jeder  Gedanke 
an  eine  Formel  ist  abzulehnen. 

3)  Kol.  1,  20  ff.  cTt  £dSöx7]0£V  .  .  ,  irapaof^oat  ofiä?  aYtoo?  xal 
«{xw^iOD?  xax  aveYxXvjTOo?  xaTsvwTiiov  aoioö,  s'i  ^s  l;ri[i£V£t£  t^  Tciatei 
T£^e^EXt(0{jL£voi   xal   iSpaioi  *)    xal  {itj  (i£Taxivoö{i£VOt   aTrö  triz  IXtciSo? 

TOÖ     zhcL"^"^  tXlOVi     00    Y]Xo6oaT£,     TOÖ    XYjpO^C&^VTO?    Iv   Tcaoif]   xttosi 

T-ji  OTTO  TÖv  oopavö'v,  OD  iY£VO!J'''''l^  ^"^^  IlaöXos  §icxxovo?.  Auch  hier 
schließt  der  Zusatz  bei  IXul?  jede  formelhafte  Beziehung  der 
beiden  weit  von  einander  entfernten  Substantive  ttiotic  und  IXtti? 
aus ;  eine  Formel  müßte  ganz  anders  wirken  ^). 

4)  I.  Petr.  1,  18  f.  £ISÖT£?  ozi  oh  cp^apTOi?,  ap^optcj)  t)  ^poai(p,  iXo- 
'cpw'd'Yj'CE  .  .  .  aXXa  ttpilq)  aijiaTi  .  .  .  Xpiotoö,  7:po£YV(oaji£Voo  {ifev  Tcpö 
xataßoX"^«;  xöa[i.oo,  ^avEpW'ö-EVTO?  8s  iz'  koyjxzo^  täv  ypdvwv  St'  ofiä«; 
tobq  SC  aDToö  Tutatoug  £1?  ■8-eöv  iöv  ly^^P*^'^*  auxöv  Ix  VEXpwv  xal  Sö^av 
ai)t(p  Sövta,  woTs  njv  Triattv  6[i(ii)v  xal  IXxtSa  elvat  eI?  ■ö-eöv.  Es  ist  die 
einzige  korrekt  übersetzte  Stelle;  zwei  eng  verwandte  Begriffe 
sind  neben  einander  gestellt,  vielleicht  weil  mit  der  Tatsache,  daß 
Gott  Christus  wieder  erweckt  und  verklärt  hat,  sich  die  Erwartung, 
das  Gleiche  selbst  zu  erleben,  verbinden  soll,  vielleicht  nur  der 
Fülle  halber.     Für  eine  Formel  spricht  nichts. 

5)  Hebr.  6, 11  f.  e7ri'9'0|io5[i£v  Ss  sxaatov  dijlwv  tyjv  ahvifv  IvSeIxvo- 
o^ai  otcooStjv  npbq  izkriporpopia)/  t-^c  IXtiiSo?  ä/pt  teXoo?,  tva  (jltj  vw^pol 
7£V7]a^£,  jitjtrjtal  8k  twv  Sia  Trtaxsü)?  xal  [laxpoO-uiita?  xXy]povo{Jlo6vt(ov  ta? 
kita^^zkicLq.  Keine  Beziehung  der  beiden  fraglichen  Substantive  auf 
einander  ist  spürbar.  Das  Wort  Triati?  verbindet  sich,  wie  die 
Fortsetzung  zeigt,  eng  mit  {xaxpodo{xla,  das  Wort  IXtci?  bezeichnet 
das  Gehoffte.     Die  Übersetzung  entstellt  den  Sinn. 

6)  Titus  1, 1  IlaöXoi;  SoöXo?  •&£oö,  aTcöatoXo;  8k  Xpiotoö  'lYjaoö 
xata  TTiOTtv  IxXsxTwv  •9-eoö  xal  ItuIyvcöocv  aXifj^sta;  f^?  xat'  Eoo^ßEiav 
Itt'  IXttISi  Cw^?  alwvloo,  ^v  iTCTjYYe^Xato  6  a({)Eo5Y]<;  •O-eöc  Tcpö  )(pöva)V 
alwvitov.  Verbunden  sind  «Iotk;  und  iTclYvtoot«;  aX-zj^sia?  (Glaube  und 
Vollerkenntnis  der  Wahrheit),  zu  letzterem  Gliede  zugefügt  ist 
xat'  E^oEßEiav  Itt'  hXm8i  Cw^?  aiwvioo.  Eine  Formel  ist  nie  daraus 
zu  gewinnen.     Die  sDo^ßsta  hat  ihren  Grund  in  der  Hoffnung. 

1)  Vgl.  Ephes.  3,  17.  18. 

2)  Auch  darf  man  zweifeln,  ob  iXizk  überhaupt  hier  als  Tugend  gefaßt  ist 
und  nicht  objektiv  „das  Verheißene"  bedeutet  {i;  aiutr^pia  ^  eiayyeXiaöelaa). 


die  Formel  -Glaube,  Liebe,  Hoffnung"  bei  Paulus.  375 

7)  I.  Clemens  58,  2  wird  in  der  Ubersetzimg  v.  Harnacks  wohl 
jeden  Leser  befremdet  haben:  „Gott,  der  Herr  Jesus  und  der 
heilige  Geist  sind  der  Glaube  und  die  Hoffnung  der  Erwählten'^. 
Überliefert  ist :  C'fl  Tfap  O  deö?  xal  C"n  ö  xöpio?  'Itjooöc  Xpiatöi;  v/il  zb 
7rv£Ö{i.a  zb  aY'.oy  ri  ze  ziozi<;  Kai  f;  kXzK;  twv  IxXsxrcov  ozi  6  ^ro'.TJaa?  ev 
taTTstvocppoaüvxj  {ist'  Ixtsvoö?  iTiiä'xsia?  a'jicTaijLsXTJTo)!;  ta  6~6  xoö  dsoü 
SeSojisva  Stxa'.a)|iata  xal  :rpoaxaY{iaTa,  ooto?  ivTsta7{i,6voc  xal  sXXo^'.jto? 
lotai  et?  TÖv  aptd[iöv  täv  oü>Co{isv(ov  5'.a  'Ir^ooö  Xp'.atoö,  also  deutsch: 
„Denn  so  wahr  Gott  und  der  Herr  Jesus  Christus  und  der  heilige 
Geist  leben,  lebt  auch  der  Glaube  und  die  Hoffnung  der  Erwähl- 
ten^), daß  wer  in  Demut  .  .  .  erfüllt  hat,  dieser  eingeordnet  und 
eingerechnet  werden  wird  in  die  Zahl  derer,  die  durch  Jesus 
Christus  das  Heil  finden".  Die  feierliche  Rede  rechtfertigt  die 
tautologische  Verbindung  iriat'.?  xal  IXtti?  (ziatsow  xal  iXiriCc»  ott). 
Von  einer  Formel  ist  nicht  die  Rede. 

8)  Bamabas  1,  6  xpia  ouv  5ö7{taxd  saxiv  xoptoo  Cö>^C**)  ^Xict?,  ipxh 
xal  xsXo?  ziaxsö)?  f^ficöv,  xal  SixatoaövT],  xpiaeo);  °'-9X'^  **^  tsXo?,  <xai> 
ä^äTzt],  <(j.sx'>  eo^pooovTj? ')  xal  aYaXXtdoswi;  epYwv  S'xa'.oaovrj?  piapTOpia. 
Hier  liegt  wirklich  der  Versuch,  eine  echte  Eormel  zu  bilden,  vor 
und  das  ist  für  die  Beurteilung  späterer  Stellen  entscheidend.  Die 
Formel  lautet  IXtii?,  Sixaioauvr],  afÖLzri.  Sie  hat  v.  Hamack  überhaupt 
übergangen*).  Das  Einzelglied,  was  er  aus  ihr  herausbricht  und 
in  der  Übersetzung  selbständig  macht,  kann  eine  Formel  gar  nicht 
sein,  wenn  es  auch  äußerlich  einer  Formel  angeglichen  ist.  Man 
vergleiche  Ignatius  Eph.  14  (oben  S.  372):  der  Unterschied  ist 
sofort  klar.  Wenn  dort  die  -loxi?  die  ap-^ii,  die  ci.';ä.zr^  das  xsXo? 
der  CiöT^  ist,  so  sind  zwei  Dinge  die  notwendigen  Bestandteile 
eines    dritten   (Wesen   der  Formel);    wenn    ein  Ding  Anfang   und 

1)  D.  h.  sie  existieren  wirklich,  sind  kein  leeres  Gerede  {estis,  io,  superi):  die 
Cw3a  cX-t;  I.  Petr.  1,  3  läßt  sich  z.  T.  von  hier  erklären ;  in  der  feierlichen  Ver- 
sicherung wird  die  anreihende  Satzform  anstelle  zweier  korrekten  Sätze  gewählt. 
Daß  der  lateinische  Übersetzer  das  verkennt,  besagt  nichts.  Möglich  wäre  viel- 
leicht :  lebt  auch  der  Geist  (in  der  Gemeinde)  und  der  Glaube  u.  s.  w. 

2)  Man  kann  schwanken,  ob  C«jt^;  nicht  zu  JX-t;  gehört  (vgl.  v.  4  ilziZt 
Ctufj;  aixoü).  Aber  dadurch  würde  der  rhetorische  Bau  der  Formel  zerstört,  um 
den  sich  der  Autor  offenbar  Mühe  gibt  (vgl.  den  Chiasmus  im  Folgenden).  So 
ist  richtiger  nach  v.  3  i-ö  toü  -aousiou  ttj;  dfd-rr^i  xuotou  (vgl.  für  den  Vers  Rom. 
5,  5)  auch  hier  zu  schreiben  x'jptou  Cw^ii- 

3)  Die  Ergänzung  scheint  notwendig. 

4)  Seine  früheren  willkürlichen  Textänderungen  (Ausgabe  von  1875)  hat  er, 
wie  die  Übersetzung  zeigt,  aufgegeben.  Die  überlieferte  Formel  ist  antipauli- 
nisch ,  ihr  Sinn  klar ,  wenn  man  die  ähnlichen  trinitarischen  Formeln  vergleicht 
(unten  S.  388):  Hoffnung  auf  ewiges  Leben  veranlaßt  die  E-taxpotp?]  r.pbi  &e<5v,  es 
folgt  gerechter  Wandel,  dann  als  Vollendung  die  Liebe. 


376  ^'  Reitzenstein, 

Ende  eines  andern  ist,  so  ist  es  mit  ihm  identisch,  macht  dies 
andere  aus.  Wir  sehen  das  gut  an  dem  von  den  Herausgebern 
z.  T.  mißverstandenen  Parallelsatz  SixatoouvY]  xpioswg  ap^^Tj  xal  ts'Xo?. 
Die  alttestamentliche  tautologische  Verbindung  SixatoauvT]  xal  xptot? 
(xpt[jLa)  wirkt  ein ;  der  Autor  zerlegt  sie  aus  einem  rein  rhetorischen 
Interesse;  ebenso  eine  tautologische  Verbindung  k\m<;  xai  ictaTi?. 
Für  aYaTUT]  steht  ihm  kein  Synonym  zur  Verfügung;  so  setzt  er 
eine  tautologische  Verbindung  im  Grenetiv  dazu.  Von  einer  be- 
grifflichen Formel  finde  ich  auch  hier  keine  Spur. 

9)  Für  eine  Formel  „Liebe  und  Hoffnung"  verweist  v.  Harnack 
auf  Uöm.  5, 3  ff.  slSötec  oti  i^  ■d'Xttjjt?  otcojj-ovtjv  xatspYaCe- 
tat,  1^  8k  oTcojiovTj  Soxt,[tT]v,  7]  8k  SoxijJLTj  IXTTiSa,  1^  5s  lX;rl<; 
00  v.avaiaybvei,  ozi  "q  ä'^äTcri  toö  deoö  Ixxs/otat  Iv  tai?  xapSiaK;  tqjawv 
8ta  7rvs6{i,aT0?  aYioo  toö  5o6-§vto?  "i^iilv.  Man  braucht  nur  den  von 
V.  Harnack  weggelassenen  und  daher  von  mir  in  Sperrdruck  ge- 
gebenen Vordersatz  zu  lesen,  um  zu  erkennen,  daß  IX^rtc  sich  nicht 
auf  äYajnr],  sondern  auf  otuoiiovy]  und  Soxt^i]  bezieht.  Der  begrün- 
dende Satz  hängt  nicht  mit  dem  Begriff  iXniq,  sondern  lediglich 
mit  dem  Verbum  od  xaraia^uvei  zusammen  (sie  läßt  nicht  zu  schän- 
den werden,  denn  Grott  hat  seine  Liebe  ja  schon  mit  seinem  Geist 
über  uns  ergossen,  vgl.  v.  8).  Auch  würde  doch  die  Erwähnung 
der  Liebe  Gottes  zu  uns  neben  der  IXttis  nie  auf  die  „Formel" 
ocjcdTTir]  xal  iXxi?  weisen. 

10)  Barnab.  1,  4  avaYxdCo[j<at  ,  .  .  afcnKäv  6|).ä<;,  ort  jieYaXirj  Tctot!.«: 
%at  aYaTTTTj  l^xatcixsl  Iv  djjliv  IXtciSi  Cw^c  aDtoö  wird  zunächst,  mir 
nach  Sinn  und  Sprache  gleich  unverständlich,  als  „Liebe  auf  Hoff- 
nung des  Lebens"  übersetzt  und  beweist  eine  binitarische  Formel, 
während  auf  derselben  Seite  die  Stelle  als  Zeugnis  für  die  trini- 
tarische  Formel  Glaube,  Liebe,  Hoffnung  erscheint.  Das  kann  sie 
nun  wegen  1,6  (oben  S.  375)  sicher  nicht  sein;  zwei  ganz  ver- 
schiedene trinitarische  Formeln  in  nächster  Nähe  schlagen  sich 
unter  einander  tot^).  Bei  der  paulinischen  Erwähnung  der  jctoui; 
xal  aYaTcifj  der  Adressaten  fügt  zu  demVerbum  eYxatoixst  Iv  b\iiv 
der  Verfasser  noch  einen  instrumentalen,  bezw.  kausalen  Dativ 
k\nlU  Ctö"^«:  hinzu  (infolge  der  Hoffnung  auf  das  Leben  in  ihm)  -) ; 


1)  Wohl  darum  wurde  in  der  Ausgabe  von  1875  nach  der  willkürliclien 
Deutung  von  1,4  der  Text  von  1,6  durch  ein  halbes  Dutzend  schwerster  Ände- 
rungen umgebildet. 

2)  Um  des  zukünftigen  Lebens  in  Gott  willen  entfalten  sie  die  Stärke  der 
Liebe.  Für  den  Dativ  i^rAhi  genügt  es  wohl  auf  Athenagoras  Suppl.  33,  1  zu 
verweisen.  Genau  den  gleichen  Gedanken  drückt  Kol.  1,  4.  5  aus  ttjv  äydarjv  ¥)v 
l)^«Tt  tii  Ttivtai  Tous  4y(ou;  8t4  ttjv  iXitiha  t)jv  äitoxitjiivTjv    üfilv   iv   toi;  oüpavot;. 


die  Formel  „Glaube,  Liebe,  HofEaung"  bei  Paulas.  377 

zu  keinem  der  beiden  eng  zusammengehörigen  Substantiva  steht 
er  in  formelhafter  Beziehung  und  zu  beiden  auch  nicht.  Der  Ver- 
fasser häuft  in  diesem  ganzen  Vorwort  ohne  viel  „Ideen"  die  feier- 
lichen Worte  über  einander,  so  v.  5  die  ^vwai?  und  zwar  als  Er- 
gänzung zur  ttiotk;,  was  wichtig  genug  ist,  und  v.  7  den  ^ößo?  ^soö. 
Natürlich  ist  auch  später  11,8  nicht,  wie  v.  Harnack  will,  ein 
Zeugnis  für  die  trinitarische  Formel  ,. Glaube,  Liebe.  Hoffnung": 
srdv  pfjjAa  8  sav  s^s^söostat  s^  Ö{1ü>v  Sidc  toö  otö{tato<;  ojiöv  Iv  iziazzi 
%a\  a 7 a TiTQ  ,  sa-cai  e».!;  i z '. o t p  o (p rj v  x a l  I X z  t S a  "jzoXkolc;.  Auch  hier 
ist  IXff'lc  nicht   die  Hoffnung,    sondern  das  Gehoffte,    die  ownjpia^). 

Nach  irgendwelchen  Wortindices  sind  ohne  jede  Rücksicht  auf 
den  Zusammenhang  oder  den  Satzbau  und  die  Wortbedeutung  zehn 
Stellen  zusammengetragen  und  meist  falsch  übersetzt.  Nur  durch 
die  Art  der  Übersetzung  und  Verstümmelung  erhalten  sie  den  An- 
schein, etwas  zu  beweisen.  Wohl  selten  ist  von  einem  Gelehrten 
in  der  Stellung  v.  Hamacks  eine  wichtige  These  vor  einem  Laien- 
pablikum,  das  kaum  nachprüfen  kann,  so  bewiesen  worden.  Der 
ungeheuren  Bedeutung  für  das  Christentum  und  die  ganze  Christen- 
heit, die  er  zu  polemischem  Zweck  der  Formel  zuschreibt,  entspricht 
diese  Art  des  Schriftbeweises  wenig.  Ich  gehe,  gerade  weil  ich  der 
Angegriffene  bin,  nicht  weiter  darauf  ein.  Die  These  ist  widerlegt; 
vielleicht  könnte  ich  meinerseits  fragen,  ob  sie  so  überhaupt  hätte 
vorgebracht  werden  dürfen. 

Ich  lege  die  Nachprüfung  der  weiteren  Übersetzungen  nicht 
vor,  sondern  konstatiere  lediglich,  daß  die  Formel  des  Paulus 
I.  Kor.  13,  13  seltsamer  Weise  nur  auf  eine  einzige  Stelle  im 
Neuen  Testament  und  eine  bei  den  Apostolischen  Vätern  gewirkt 
hat,  nämlich  Hebr.  10,  22  irpoosp^^toiisda  .  .  .  Iv  icXTjpo^opta  s  t  a  t  s  o)  c 
.  .  .  xat^/ö)jjLSv  rfjv  ojtoXofiav  tTj?  eXriSo?  axX'.vij  .  .  .  xal  xaravoÄiJLrV 
äXXkjXou?  sl?  Äapo4oa(iöv  äifaÄY]?  xal  xaXwv  spYwv.  Der  Charakter 
des  Lehrsatzes  ist  aufgegeben,  aber  eine  Entwicklung  zur  Voll- 
kommenheit noch  empfunden.  Die  zweite  Stelle  bietet  Polykarp 
Phil.  3,  2,  der  in  einem  Briefe  an  eine  Paulus-Gemeinde  den  Paulus 
zitiert,  die  Formel  aber  so  umbildet,  daß  tt'Ioti?,  äfäTcri,  IXrt«;  die 
Vollendung  der  SixaioauvT]  bilden.  Er  verwebt  dabei  Stellen  aus 
verschiedenen  Briefen,  ohne  eine  klare  Anschauung  zu  bieten. 

Nicht  als  Formel,  wohl  aber  in  freierer  Verbindung  finde  ich 
die  drei  Substantive  noch  zweimal  bei  Paulus  in  dem  frühsten  der 

1)  Bekehrung  (vgl.  für  den  Sinn  des  Wortes  Inatpo;?:^  Porphyrius  Ad  Mar- 
cellatn  24)  und  Heil  ist  das  zusammengehörige  Paar.  Rhetorische  Gesichtspunkte 
verlangen  zwei  Glieder  wie  vorher;  eine  inhaltliche  Beziehung  des  einen  zu  dem 
früheren  ist  geradezu  ausgeschlossen. 


378  R-  Reitzenstein, 

erhaltenen  Briefe  (I.  Thess.)  und  zwar  am  Anfang  und  Schluß. 
Zunächst  1,  3  eo/aptaTOöfisv  .  .  .  aSiaXetvcxü)?  {xvYjixovsDOVTei;  ofjLwv  xoä 
epYoo  T-^c  TciGTstoc  xai  toö  xöttoo  t^?  aY^^T^J?  ''-al  t^c  D7ro[JLOV^? 
TT^c  sXtciSo?  toö  xoptoo  T^[i,wv  'Itjooö  Xptatoö.  Sachlich  wird  dasselbe 
erwähnt  3,6  Ttfio^soD  ..  .  BXiCf.'^^BkiGa]xiyovi  i^jitv  trjv  Tciaxtv  y.al  tyjv 
ocYairTjv  d{iwv^)  und  endlich  1,8  a^'  ujawv  ^ap  I^7]y7]tat  6  Xö-fo?  toö 
xopioo  00  [iövov  SV  T-^  Max£§ovtc^  xal  'A^^aiof,  aXX'  Iv  Travtl  zöizip  ri 
TzlaxK;  o{i,(öv  t^  xpö?  xöv  ■^söv  e^eXtjXuO-ev,  woie  {Jly]  ^(psiav  s)(stv  (^{läg 
XaXsiv  TL  Wo  er  kurz  sein  will,  nennt  er  nur  die  Hauptsache,  die 
TTiaxi?,  wo  er  etwas  breiter  seine  Freude  schildern  will,  erweitert 
er,  TtiOTt?  xal  aYocTCT],  in  der  rhetorischen  Ausführung  des  formel- 
haften Einganges  rundet  es  sich  zu  izlozii;,  a-(6L7zri,  IXtcic  (dazu  ip^a, 
xo'tcoi,  6 ;r 0 [j. 0 VI])  aus.  Zu  vergleichen  ist  aus  Paulus  selbst  Rom. 
1,  8  s6)(apiaTd)  ...  oti  tI]  TrioTt?  6[ji,{öv  xaTaYYsXXsTat  Iv  oXcp  Tcjj  %öa{JLi|> 
und  Philemon^)  5  so/aptOTw  .  .  .  axoDwv  ooo  tyjv  aYaTTYjv  xal  tyjv 
TTioTiv,  y)v  l/st?  Trpö?  TÖv  xupiov  'Iyjooöv  xal  elc  xavTa?  tou?  aYtoo?. 
Paulus  selbst  hat  also  keine  Formel;  es  handelt  sich  hier  mehr 
um  eine  Frage  der  Rhetorik  und  des  -^^oc  der  einzelnen  Stelle.  — 
Von  Paulus  -  Nachahmungen  kommen  in  Frage  Eph.  1, 15  axoöcac 
T7]v  xad'  ujiä?  TT  i  a  T  i  v  Iv  T(j)  xupiq)  'Iirjaoö  xal  ttjv  a  y  a  t:  tj  v  tyjv  bIq 
irävTa?  TOÖ?  aYioo?  od  Traöofiai  eo^^aptaTcüv,  IL  Thess.  1,  3  söyapiOTeiv 
ö^stXoiiev  ...  OTt  oTTepaulavst  i^  Tziaziq  ofiwv  xal  TcXsovdCst  ii  oi'fdTzri 
xtX.  Endlich  Kol.  ^)  1,  4.  5  £üyapiaToö[jLEV  .  .  .  axoöaavTE?  tyjv  tc  t  o  t  t  v 
6[iwv  Iv  XpioTcp  'Iyjooö  xal  ttjv  a  y  a  i:  yj  v,  -^v  I/ete  eI?  iravxac  toö?  «xyiod? 
Sta  T7]v  IXjclSa  tyjv  aTcoxsifAlvYjv  ojjlIv  Iv  toI?  oopavoi?,  rjv  icpoTjxoöaaTs 
SV  T({)  X6Y(p  1"^?  aXyjö-sta?  toö  soaYYsXioo  (vgl.  Barn.  1,  4,  oben  S.  376). 
Von  einer  Formel  kann  um  so  weniger   die  Rede   sein,   als   sXzIq 

1)  Daß  die  Hoffnung  hier  fehlt,  will  v.  Dobschütz  (Meyer,  Kritisch-exeg.  Kom- 
mentar X^  S.  140)  erklären:  Timotheus  hatte  über  sie  nicht  absolut  Befriedi- 
gendes melden  können,  was  aus  4,  13  und  5,  1  hervorgehen  soll,  aber  nicht  her- 
vorgeht. Man  sieht,  wohin  der  Gedanke  der  P'ormel  führt.  Das  erste  mal  hat 
Paulus  die  yTrofiov/)  t^;  iXm'So;  gelobt;  das  zweite  mal  erinnert  er  sich,  daß  es 
eigentlich  damit  recht  iibel  steht,  und  läßt  diese  Rubrik  seines  Zensurenbuches 
(etwa  wie  ;  Fleiß ,  Betragen ,  Aufmerksamkeit)  lieber  unausgefüllt.  In  Wahrheit 
zeigt  der  Zusammenhang,  daß  ihm  auch  hier  auf  den  Begriff  -Aa-zn  alles  ankommt 
(vgl.  5  lT:e[j.'|»a  eU  tö  -ptüvat  ttjv  Tifartv  üfiüiv,  7  -apexXTj&7)(j.ev  .  .  Stet  tTjS  üfiÄv  irtSTEiu; ; 
zwischenein  schiebt  sich  die  Schilderung  der  frohen  Botschaft;  da  sagt  er  t>)v 
rfaxiv  xotl  ttjv  ctYaTiTjv). 

2)  Von  der  Echtheit  des  kleinen  Briefes  hat  mich  Ed.  Schwartz  in  den 
Charakterköpfen  überzeugt. 

3)  Der  Brief  ist  ähnlich  wie  der  zweite  Thessalonicher-Brief  von  namhaften 
Forschern  mit  so  ernsten  Gründen  in  Zweifel  gestellt,  daß  v.  Ilarnack  ihn  schwer- 
lich vor  Laien  als  sicher  paulinisch  behandeln  durfte.  Vielleicht  ergibt  die  fol- 
gende Darlegung  weitere  Argumente. 


die  Formel  „Glaube,  Liebe,  Hoflfnang"  bei  Paulus.  379 

hier  wieder  gar  nicht  die  Hoffnung,  sondern  das  Gehoffte  bedeutet. 
Die  Stellen  zeigen  nur,  daß  auch  die  Paulus-Nachahmer  eiue  For- 
mel nicht  empfinden.  —  Dem  Anfang  entspricht  im  ersten  Thes- 
salonicherbrief  5, 8  sv5ooa|j.evo'.  d-wpaxa  TcioTSCDc  xal  Ä-ydÄi]?  xal 
Äspixe^aXatav  kXziSa.  ownjpta?.  Man  erkennt,  daß  die  Verbindung 
ittatK;  xai  a^dtzY]  ihm  vorliegt ;  er  will  sie  nicht  lösen,  braucht  daher 
für  den  zweiten  Gegenstand  des  Vergleichs  ein  weiteres  Wort  und 
wählt  IXTTts.  Eine  Formel  ist  das  nicht;  sonst  wäre  der  Vergleich 
elend  gebaut.  Daß  es  in  der  nächsten  Zeit  auch  nicht  als  Formel 
empfunden  ist,  zeigt  die  Nachahmung  Ephes.  6, 14 — 17,  in  der  zu- 
gleich Jes.  59,17  nachgeahmt  ist:  für  afd-xri  ist  SixaiooovYj  einge- 
setzt, die  TcioTi?  auf  einen  anderen  Vergleichsgegenstand  übertragen, 
IXzi?  mit  Absicht  beseitigt,  endlich  äXT^^sw,  ito'-iJLaoia  toö  eoa^f  sXioo 
t^?  slpTjvTj?  und  gar  tö  7tv£5|ia  eingesetzt;  der  Verfasser  will  gar 
keine  Formel  geben,  nur  einen  breit  ausgeführten  Vergleich  *). 

Die  Frage,  ob  Paulus  bei  den  beiden  Erwähnungen  der  IXzi? 
im  ersten  Thessalonicher  -  Brief  schon  an  die  Formel  denkt,  die  er 
in  dem  etwas  späteren  ersten  Briefe  an  die  Korinther  verwendet, 
kann  man  aufwerfen,  aber  nicht  a  priori  beantworten^).  Wir 
müssen  erst  sehen,  ob  die  Formel  im  Korinther  -  Briefe  individuell 
und  zu  bestimmtem  Zwecke  geprägt  ist.  Für  jetzt  stelle  ich  fest: 
irgendwelche  Herrschaft  einer  mit  Bewußtsein  als  Devise  christ- 
licher Frömmigkeit  geprägten  Formel  „Glaube,  Liebe,  Hoffnung" 
ist  in  der  altchristlichen  Literatur  überhaupt  nicht  nachweisbar, 
selbst  bei  Paulus  nicht  (man  vergleiche  unten  S.  386  die  Übersicht 
über  die  ähnlichen  Formeln).  Dafür,  daß  die  Gemeinde  sie  von 
Anfang  an  ausschließlich  betont  habe,  hat  v.  Hamack  leider  kein 
Beweismaterial  vorgebracht,  nur  zwei  flüchtige  Andeutungen. 

Er  legt  hohen  Wert  auf  die  weiblichen  Rufnamen,  die  dieser 
Formel  entnommen  seien,  leider  ohne  Einzelnheiten  zu  bieten. 
Und  doch  wäre  das  Alter  und  der  Ort  der  Bezeugung,  femer  die 
Häufigkeit  gerade  dieser  Namen  gegenüber  den  anderen  Abstrakta 
als  Namen  von  Christinnen  entscheidend.  Aber  weiter :  der  Einzel- 
name spricht  nur  für  die  Schätzung  des  Einzelbegriffs ;  wie  gewinnt 
man  aus  ihm  die  Formel?  Und  ist  denn  jede  Agape,  Pistis  oder 
Elpis,    die  uns  auf  Inschi'iften  begegnet,    erst  als  Christin   so  ge- 

1)  Ebenso  Ignatins  Pol.  6,  2. 

2)'  An  sich  ist  vollständige  Unabhängigkeit  beider  Briefe  durchaus  denkbar. 
Wie  die  Entscheidung  falle,  für  meine  Untersuchung  war  sie  und  ist  sie,  wie  ich 
in  der  Historischen  Zeitschrift  dargelegt  habe,  vollständig  gleichgültig.  In  späteren 
Briefen  fehlt  die  „trinitarische  Formel"  völlig,  selbst  wenn  man  den  Kolosserbrief 
als  echt  betrachtet. 

Kgl.  Oes.  d.  Wiss.    Nachrichten.    Phil.-hist.  Klasse.    1916.    Heft  3.  26 


^g()  ,  B.  Beitzenstein, 

nannt  worden?  Das  „weitere  Publikum"  wird  das  ja  glauben,  aber 
V-  Harnack  hat  uns  selbst  soeben  in  der  MissionsgescHcbte  ^,  1915, 
1 407  fF.  auseinandergesetzt,  daß  die  Sitte  der  Umnennung  erst 
spät^)  üblicb  wird.  Ich  darf  nun  kaum  verlangen,  daß  jenes 
weitere  Publikum  etwa  den  Thesaurus  linguae  latinae  für  'AYaTCT]^) 
oder  wenigstens  Papes  Wörterbuch  der  griechischen  Eigennamen 
für  die  anderen  Namen  nachschlägt,  um  von  Inschriften-  oder  Pa- 
pjrus  -  Sammlungen  ganz  zu  schweigen.  So  wird  es  schwerlich 
wissen,  daß  'EXtti?  ein  im  Heidentum  ganz  üblicher  Rufname  ist, 
die  trinitarische  Formel  sich  aus  den  Namen  also  überhaupt  nicht 
erweisen  ließe,  und  daß  'Ayoctty]  und  etwas  seltener  Iltaui;  auch  im 
Heidentum  vorkommen.  Schlüsse  auf  die  Religion  können  wir  aus 
dieser  bekannten  Tatsache  freilich  nicht  ziehen;  die  IltoTLi;  kann 
sehr  wohl  dabei  Treue  bedeutet  haben  ^);  wenn  sie  Christin  ge- 
worden war,  wird  sie  die  Bedeutung  des  Namens  anders  empfunden 
haben.     Zu  machen  ist  mit  diesem  „Material^  noch  nichts. 

So  bliebe  noch  die  Bemerkung  S.  11:  In  der  Seide  der  Valenti- 
nianer  sind  dann  Glaube,  Liebe,  Hoffnung  schon  su  Äonen  geworden 
(s.  Epiphanius  H.  31,2.5:  „Die  weiblichen  Äonen  sind  Pistis,  JElpis, 
Agape,  Synesis"  u.  s.  w.).  Das  Zitat  ist  etwas  flüchtig  aus  ßesch 
entnommen,  der  zwei  verschiedene  Kapitel  anführte,  während 
V.  Harnack  nur  aus  dem  zweiten  ein  paar  Worte  bietet.  Da  auch 
das  erste  zum  Verständnis  nötig  ist,  berücksichtige  ich  es  mit. 
Kap.  2,  5  ff.  (p.  384, 17  Holl)  legt  dar,  daß  Valentin  dreißig  Götter 
oder  Äonen  oder  Himmel  einführt;  je  einer  männlichen  Gottheit 
entspricht  eine  weibliche,  die  mit  ihr  das  nächste  Paar  erzeugt; 
die  Namen  werden  zunächst  in  ihrer  angeblichen  orientalischen 
Form  aufgezählt,  dann  heißt-  es,  ihre  Deutung  sei  ßu^ö?  und  Si^if], 
Noö?  und  'AXTj^eia,  Aö^o?  und  Zwt],  "Avö-pwTro?  und  'ExxXiQoia,  Ila- 
paxXTjto?  und  Iliou?,  IlaTptxöc  und  'EXtci?,  MYjtpixö?  und  'Afa^Tj, 
'Aei'voo?  und  Suvsot?,  ©sXYjtd?  (oder  ^&z)  und  MaxapiötYjc,  'ExxXrj- 
ataauxö?  und  So^i'a,  Bö^to?  und  Mt^t?,  'AYT^pato?  und  "Evcooi?,  Aöto- 
^OKJ?  und  SoYvcpaot?,  Movoysvtq«;  und  'Evönjc,  'AxfvYjtoi;  und  'HSovyJ. 

1)  Nach  ihm  vom  dritten  Jahrhundert  ab,  das  für  unsere  Untersuchung  gar 
nicht  mehr  in  Frage  kommt. 

2)  Einmal  (C.  I.  L.  X  3674)  mit  ILo^ia  verbunden;  auch  die  Worte  der  Lite- 
ratursprache 'hylTtTi^a  und  'AYotTiTjat;  begegnen  als  heidnische  Namen. 

1)  Vgl.  über  diese  Namen  Bechtel,  Die  attischen  Frauennamen  132,  der  auf 
Aii$a  ypirjaxi^  ,  rvu)(i.7] ,  E'jvotft ,  E^ta^fa,  E'Jt^Xeia,  Xocpia,  N^Tjfxa,  Ilaföeuat;,  Stop-p^, 
X'jveat;,  (PiXfa  weist.  Für  IHaxi;  vgl.  C.  1.  G.  II  2195  (p.  1028  a)  IHaK« 'HpaxXeioou 
Ttßipioj  KXaüStos  E'JoSfiov  xuptot  t<üv  xaTayEtuiv  Tct'cptov  täv  tiz  aüxou;  xaTT]VTrj[xoT(ü]v 
a-aaiv  . .  .  'EXn(;  begegnet  fast  in  allen  Sammlungen ,  auch  bei  Deißmann ,  Licht 
Tom  Osten  S.  121. 


die  Formel  „Glaube,  Liebe,  Hoffnung«  bei  Paulus.  381 

Aus  anderer  Quelle  stammt  Kap.  5,  das  von  §  8  (p.  392,  6  Holl) 
innerhalb  der  dreißig  Grötter  eine  Zwölf  zahl  und  eine  Zehnzakl 
scheidet.  Von  ^Avdpö);:©«;  und  'Ex^Xr^a-'a  stammen  zwölf  Götter 
(sechs  Paare)  ab :  oi  oov  äppsv§?  slat  •  FlapaxXT^to«;,  Hatpixö;,  Mirjrpixöi;, 
'A£''voo(;,  ÖsXyjtö?  (o  4oti  4>(i><;),  'ExxXYja'.aattxo?,  al  Ss  d'ijXstai*  II i- 
otk;,  'EXtci?,  'Ay<ä^tj,  Sovsaic,  Maxapia,  Sofp-'a.  Es  sind 
die  von  Hamack  als  „Zitat"  gebotenen  "Worte;  dann  folgt:  Aöyo? 
und  ZoDT]  zeugen  ebenfalls,  und  zwar  zehn  Grötter;  die  männlichen 
heißen  Bo^io?,  'ATTQpato?,  Aoto^oTj?,  Movoysvtj?,  'Ax''v7]to<;  zu  Ehren 
des  Urvaters,  des  BuO'd«;.  die  weiblichen  Milt?,  "Evwo'.?,  SoYxpaai?, 
'EvÖTTfjc,  'HSovT]  zu  Ehren  der  Siy*»].  Innerhalb  des  Systems  stehen 
also  die  Namen  nicht  so  nebeneinander  wie  in  dem  Zitat  ^),  doch  ist 
allerdings  klar,  daß  bei  diesen  zwei  Gruppen  Beziehungen  der 
Xamen  untereinander  nur  innerhalb  der  Geschlechter  gesucht  sind. 
Bestimmend  sind  im  zweiten  die  Mannesnamen ;  sie  geben  fünf  Bei- 
worte Gottes;  für  die  weiblichen  Namen  entscheidet  der  Grund- 
begriff der  Mi^t?;  er  wird  nur  frei  variiert.  Innerhalb  der  ersten 
Gruppe  stehen  die  weiblichen  Namen,  abgesehen  von  der  wunder- 
lichen Maxapt'a,  in  besserem  Zusammenhang:  Iliaui;,  'EX^t?,  'AyAiti], 
Suveo'.?,  Maxapi'a,  So^t'a.  Hier  scheinen  die  männlichen  Namen  ge- 
waltsam zusammengebracht.  Nun  ist  an  sich  natürlich  denkbar 
daß  Valentin  in  der  Not  um  Namen  zu  Paulus  grifft);  aber  sicher 
ist  es  keineswegs.  Zunächst  sind  ja  Vii-zx'.q,  'EXzic,  So^'la  wie  Siy^ 
selbst,  'AXi^d-sia,  Zwt]  und  schließlich  'HSovt)  auch  im  Hellenismus 
vergöttlicht,  und  bei  diesen  Systemen  gestehe  ich  nicht  zu  wissen, 
wie  viel  solcher  Abstrakta  noch  orientalische  Gottesnamen  ver- 
treten, sodann  aber  steht  gar  nicht  fest,  daß  eine  trinitarische 
Formel  hier  berücksichtigt  ist.  Wir  werden  eine  Reihe  von  He- 
xaden und  ähnlichen  Systemen  im  Christentum  selbst  wiederfinden. 
An  welche  schließt  Valentin?  Auch  dieser  Beweis  für  eine  allge- 
meine Geltung  der  Formel  „Glaube,  Liebe,  Hoffnung"  fällt  einst- 
weilen fort. 

Es  ist  hier  nicht  meine  Aufgabe,  selbst  eine  Geschichte  dieser 
Formeln  zu  geben.  Aber  ein  paar  Tatsachen  kann  ich  hervor- 
heben, die  uns  die  Spärlichkeit  der  Zeugnisse  für  die  binitarische 
wie  die  trinitarische  Formel  in  klareres  Licht  treten  lassen  und 
vielleicht  einem  späteren  Bearbeiter  der  Frage  dienen. 

Festzuhalten  ist   zunächst   die   schon   von  ßesch  beobachtete, 


1)  Man  vergleiche   die  Aufzählung  der   Zwölfzahl   und  Zehnzahl    bei  'ler- 
tnllian  Adv.  Valentinianos  c.  8. 

2)  Es  würde  für  die  Formel  auch  nichts  beweisen. 

26* 


382  R-  Reitzenstein, 

aber  durch  willkürliche  Umbiegnngen  verdunkelte  Tatsache,  daß 
das  Substantivum  k.'kiziq  in  der  sjmoptischen  Tradition  überhaupt 
nicht  vorkommt  und,  was  seltsamer  ist,  auch  das  Substantivum. 
aYdiiT]  nur  bei  Matthäus  und  Lukas  je  einmal^).  Schon  diese  Tat- 
sache weist  darauf,  wie  beide  Stellen  zu  beurteilen  sind.  Luk.  11,  42 
izapepyzod'B  t7]v  xpiaiv  xal  ty]v  aYocTnrjv  zob  dsoö  wird  durch  den  Pa- 
rallelbericht Matth.  23,  23  xyjv  xpioiv  xal  zb  eXsoc  xal  ttjv  tciotiv  als 
redaktionelle  Änderung  des  Verfassers  selbst  erweisen^);  Matth. 
24,  12  (jjoYTJoETai  ri  aYaTUT]  zm  icokXm  wird  redaktioneller  Zusatz  sein ; 
der  ganze  Vers  hat  kein  Gegenbild  in  den  übrigen  eschatologischen 
Reden. 

Gegen  das  Alter  der  Formeln  tcIouc  xal  aifaTnr)  oder  Triottc, 
a7d;nr],  iXitiq  spricht  der  Tatbestand,  daß  die  ältere  synoptische 
Tradition  zwei  dieser  Substantiva  nicht  kennt ;  er  wäre  unbegreif- 
lich, wenn  eine  Formel  oder  Devise  derart  in  der  Urgemeinde 
verbreitet  war.  Das  bedeutet  nicht,  daß  die  BegriiFe  ganz  fehlen  j 
das  Verbum  aYaTcäv  ist  ja  da,  und  der  ältesten  Tradition  gehört  das 
Gebot  Jesu  Mark.  12,  30  an,  das  die  beiden  jüdischen  Gebote  ver- 
bindet: aYaTrijoec?  xopiov  xöv  d-Bov  aoo  ki  oX'fi<;  zfi<;  xapSia?  ood  xal 
ki  oXyj?  t-^?  ^o)C^<;  ood,  xal  ki  oXt]?  z'^q  Siavola?  gou  xal  IS  oXt]?  t^? 
layuo?  aoo  und  a.^aicriasiq  xöv  ;rX7]aiov  ooo  öx;  oeaotöv.  Von  hier  muß 
auch  lexikalisch  jede  Bestimmung  des  christlichen  Begriffes 
a^dTTT]  ausgehen,  der  offenbar  erst  in  einer  etwas  jüngeren  Zeit 
feste  Umrisse  annimmt.  Es  widerstreitet  den  beiden  Bildern,  die 
wir  aus  dem  Urchristentum  haben,  den  Bildern  Jesu  und  seines 
größten  Apostels,  wenn  wir  mit  v.  Harnack  dYdTnrj  nur  als  Nächsten- 
liebe verstehen;  die  Gottesliebe  trete  erst  später  hinzu;  weder 
berechtigen  die  wenigen  Fälle,  in  denen  die  Formel  erscheint,  dazu, 
noch  läßt  es  sich  mit  dem  lexikalischen  Gesamtbefund  vereinigen, 
der  dYdTtT]  für  jede  Art  der  Liebe  gebraucht  zeigt  ^).  Es  ist  ein- 
fach Willkür.  Man  mag  ruhig  sagen:  das  Empfinden  ist  da,  der 
logische  Begriff  noch  nicht  klar  herausgebildet  und  nicht  scharf 
umgrenzt.  Liegt  doch  gerade  hierin  die  Erklärung  dafür,  daß  die 
Formel  oder  Idee  oder  Devise  sich  relativ  spät  bildet.  Nicht  die 
einmalige  Aufstellung   einer  Idee   hat   das  Empfinden   geschaffen, 


1)  Auch  bei  Johannes  stellt  dyctTTT)  nur  in  Redestückeu,  iKizli  und  sogar  -bit; 
feblen  ganz. 

2)  TTjV  Trfattv  scheint  bei  Mattliäus  Zusatz, 

8)  Auch  die  Deutung  von  Job.  Weiß,  Korintherbrief  S.  312  „das  innige  Ge- 
fübl  der  Beseligung  und  Harmonie  mit  Gott  und  Welt,  das  sich  in  Hingabe  und 
Wohltun  einen  Ausdruck  sucht"  ist  viel  zu  modern  und  paßt  gerade  zu  Paulus- 
fctcllen  wie  II.  Cor.  5, 14  gar  nicht. 


die  Formel  „Glaube,  Liebe,  Hoffnung"  bei  Paulus  383 

sondern  aus  dem  Empfinden  ist  ganz  allmählich  zunächst  der  Be- 
grifi"  und  endlich  die  Idee  erwachsen.  Die  "Wortgeschichte  scheint 
mir  hier  besonders  interessant,  weil  es  sich  bei  afizri  um  einen 
religiösen  Grundbegriff  und  zugleich  um  ein  Eigenstes  des  Christen- 
tums handelt,  in  dessen  Literatur  das  Wort  schnell  zur  Herrschaft 
gelangt.  Ursprünglich  christliche  Bildung  ist  es  nicht  (vgl.  Passow- 
Crönert),  auch  schwerlich  hellenistisch-jüdische,  wiewohl  es  in  ein- 
zelnen Teilen  der  Septuaginta  schon  vorkommt  und  von  Deißmann, 
Neue  Bibelstudien,  S.  27  bei  Philo  Quod  deus  immut.  69  in  der  Be- 
deutung „Liebe  za  Gott"  und  in  einer  Verbindung  nachgewiesen 
ist,  die  dem  späteren  christlichen  Gebrauch  (z.  B.  I.  Joh.  4,  18) 
vollkommen  entspricht.  Aber  hier  bleibt  es  vereinzelt,  von  der 
christlichen  Sprache  einmal  aufgegriffen,  erhält  es  die  mächtige 
Entfaltung.  Dem  Vortreten  des  Substantivs,  das  den  Beginn  der 
Herausarbeitung  eines  Begriffes  zeigt,  folgt  seine  Verbindung  mit 
einem  anderen  ähnlich  grundlegenden '),  freilich  noch  nicht  in  einer 
Formel  oder  Idee,  sondern  in  einer  Quasi-Formel,  wie  sie  etwa  die 
früher  besprochene  attische  Quasi-Formel  a-j-aO-ö«;  xai  ow^pwv  bot. 
Erst  im  zweiten  Jahrhundert  wird  bei  Ignatius  die  wirkliche  For- 
mel daraus,  und  sie  ist  hellenistisch,  freilich  nicht  philosophischen, 
sondern  religiösen  Ursprungs  (siehe  unten) ;  Wirkung  übt  sie  nicht. 
Ist  Tciati?  xal  OL^iTzi]  nur  eine  Quasi-Formel,  so  wird  anf  die 
Erweiterungen  viel  ankommen.  Dabei  ist  möglichst  scharf  zu 
scheiden,  ob  es  sich  um  die  Bildung  einer  Idee,  also  echten  For- 
mel, handelt  (avSpeia,  awcppooovTrj,  S'.xa'.ooövY],  cppö'/ijot?),  oder  ob  indivi- 
duelles Empfinden  nur  noch  einen  oder  mehrere  andere  Begriffe 
in  freier,  oft  logisch  wenig  klarer  Beziehung  anreiht.  Wichtigkeit 
hat  dabei  nicht,  daß  auch  Tciottc  und  afdnj  erscheinen,  sondern 
was  neu  hinzutritt^).     Besondere  Bedeutung  wird  dabei  jede 


1)  Daß  diese  Verbindung  an  die  Substantiva,  nicht  an  die  Verbalformen 
schließt,  ist  psychologisch  fast  notwendig.  Dem  Philologen  ist  es  wichtig,  auf 
diesem  besonders  günstigen  Boden  einer  noch  volkstümlichen  Literatur  aus  einem 
gewaltigen  ümbildungsprozeß  die  typischen  Formen  sprachlicher  Entwicklung  we- 
nigstens annähernd  verfolgen  zu  können.    Auch  -latt;  ist  zunächst  vieldeutig. 

2)  Wie  völlig  v.  Hamack  gerade  dies  verkennt,  zeige  ein  Beispiel.  Ich 
hatte  in  meinem  Buch  darauf  hingewiesen,  daß  Clemens  v.  Alexandrien  eine  echte 
und  von  Paulus  verschiedene  Formel  bildet  ttistic,  -pKüat;,  äfi-n]  und  für  meinen 
ganzen  Beweis  entscheidende  Folgerungen  daraus  gezogen ,  die  er  gar  nicht  er- 
wähnt. Wenn  Clemens  IV54, 1,  um  Paulus  zitieren  zu  können,  sagt,  die  Grund- 
lagen der  Xo-ftxT)  f/ütan  (was  übrigens  nicht  „logische  Gnosis"  heißt)  seien  Tzirzu, 
i\-(i,  a-fi-r^,  SO  wird  das  von  ihm  wie  Resch  als  Beweis  dafür  angeführt,  daß 
Clemens  schon  die  trinitarische  Formel  kenne;  daß  er  Paulus  kennt,  ist  selbst- 
verständlich, was  er  in  der  Umgestaltung  zufügt  wie  bei  Polykarp  wichtig;    wenn 


384  R-  Reitzenstein, 

Erwähnung  der  Erkenntnis,  sei  es  im  Sinne  einer  Gottesschau,  sei 
es  im  Sinne  von  Weisheit  und  Einsicht,  haben,  weil  die  helleni- 
stische Entwicklung  hierauf  drängt.  Ich  führe  aus  dem  Neuen 
Testament  und  den  sogenannten  Apostolischen  Vätern  die  freien 
Verbindungen  und  die  Formeln  an,  soweit  sie  mit  einem  der  beiden 
GrundbegriiFe  lüiOTt?  und  ä^faizri  (die  IXTrt?  ist  stets  nebensächlich) 
zusammenhängen.  Hinzu  nehme  ich  ferner  die  Apologeten,  denen 
V.  Harnack  auf  Glrund  eines  bedauerlichen  Übersehens  und  zu  ge- 
ringen   Stilempfindens    eine    Sonderstellung    einräumen    mochte  ^). 

er  VII  55,6  die  drei  Elemente  izbiii,  yvtüats,  äyairTj  aufzählt  und  dabei  bemerkt, 
Anfang  und  Ende,  Tziaiiz  und  dyctmr),  seien  nicht  lehrbar,  wohl  aber  sei  es  in  ge- 
wissem Sinne  die  yvöjatc,  so  streicht  v.  Harnack  diese  ganz  fort  und  zitiert  „An- 
fang und  Ende  sind  Glaube  und  Liebe"  ,  und  zwar  als  Beweis  für  die  b  i  n  i  t  a- 
rische  Formel.  Clemens  und  Ignatius  (Eph.  14,  oben  S.  372)  werden  zusammen- 
gestellt. Das  ist  jene  flüchtige  und  äußerliche  Art  der  lexikalischen  Arbeit,  die 
sie  um  jedes  Ergebnis  bringt,  ja  zur  Gefahr  macht,  vgl.  unten  S.  390, 4. 

1)  Er  sagt  S.  1  A.  2 :  „Die  ältesten  christlichen  Theologen,  die  Apologeten, 
brauchen  das  Wort  'Agape',  von  zwei  Zitaten  abgesehen,  niemals  tmd  bieten  daher 
auch  nirgends  die  Trias:  Glaube,  Liebe,  Hoffnung;  aber  dann  wurde  es  auch  in 
der  Theologie  anders",  und  S.  6  „hundert  Jahre  früher  (vor  Porphyrius)  hat  auch 
noch  der 'wissenschaftliche'  Christ  Justin  sie  (die  dyaTirj)  ausdrücMich  durch  ,Philia' 
ersetzt'.  Beide  Behauptungen  scheinen  mir  falsch.  Berücksichtigt  man,  daß  die 
Verschiedenheit  des  Steifes  eine  etwas  seltenere  Erwähnung  jener  drei  Begriffe 
mit  sich  bringt,  so  unterscheiden  sich  die  Apologeten  in  nichts  von  den  andern 
frühchristlichen  Autoren ;  nicht  die  Theologie  bestimmt  den  Wortgebrauch ,  son- 
dern einfach  die  stilistische  Rücksicht  auf  ein  Publikum,  für  das  dyd-T)  eben  kein 
literaturfähiges  oder  ohne  weiteres  verständliches  Wort  ist.  So  sagt  Justin  Dialog 
110,  3  eia^ßetav,  otxai&aivTjV ,  cptXav&ptu7r(av,  ttiotiv,  ikmha  ttjv  Ttap'  aütoO  xoü 
TTÄTpos  8td  xoü  OTaupüjd^vToc  In  der  Fünfzahl  ist  die  Triade  Glaube,  Liebe,  Hoff- 
nung wirklich  enthalten.  Das  literarische  Wort  für  dyd-Ki],  der  Ersatz,  wenn  man 
so  will,  ist  hier  cptXavOptuzfa ;  es  begegnet  schon  in  den  Pastoralbriefen,  Tit.  8,4^ 
■^prjaxrfTirj?  xai  ij  cptXovOptoTtfa  toü  atuTfjpo?  ifj|x(üv  Oeoü  (Paulus  würde  ^  dfdr.-q  toO 
öeoy  sagen,  vgl.  Rom.  5,  5)  und  in  echt  griechischer  Verbindung  in  der  Apologie 
Justins  10,  1  öiucppoauvTjv  xal  Stxaioouvrjv  xal  «piXavöptoTriav  xal  oaa  oJxet«  &etp  iariv 
(von  Mensch  und  Gott  gesagt;  in,  den  Wir-Berichten  der  Apostelgeschichte  hat 
das  Wort  natürlich  ganz  andere,  freilich  auch  hellenistische  Bedeutung).  Richtig 
ist,  daß  in  dem  von  Justin  benutzten  jungen  Evangelium  (vgl.  über  es  Zeitschr. 
f.  d.  neutestamentl.  Wissenschaft  1914  S.  69  ff.  und  dazu  M.  Heer  Rom.  Quartal- 
scbrift  1914  S.  97  ff.)  die  einzige  Stelle,  in  der  bei  Lucas  das  Substantiv  dydKri 
vorkommt,  überarbeitet  aufgenommen  war  und  von  Justin  Dial.  17,4  angeführt 
wird.  Das  zweite  Zitat  finde  ich  nicht.  Gemeint  ist  wohl  Dial.  93,  3.  4  htyr^  ouv 
T^s  TCofoTjs  Stxatoö'JvTj;  xexpiTjpiivTji ,  rrpo«  te  öeov  xal  ctväpioTiou; ,  Saxt«,  (pr,atv  ö  KCyoz, 
i^a^:^  xupiov  x6v  öiov  i^  äXtj?  xfjj  xopo{a;  xal  i^  oXtjc  x^?  i(l)(6oc  xal  xov  TtXTjdov  wc 
iauxdv,  Sfxatoc  dXijdä)«  Sv  tli\.  0(xcTc  ^i  o!>xc  npoc  deöv  o'jxc  np6c  xou(  npocpi^xac  o'üxe  rp6c 
iauxous  cptXfav  ^  ifditTj^  lyio^Tti  o68inoxe  i5e(/9r)xe  .  .  .  Troivxoxe  xol  cpovetc  xcöv  8txa(tuv 
tüpfoxiaäc.  Um  den  Zusammenhang  zwischen  dem  Herrenwort  und  dem  Begriff  ^iX(a 
(Gegensatz  (iloo;  oder  Sx^^O  herzustellen,  muß  Justin  hier  das  unliterariscbe  Substantiv 


die  Formel  „Glaube,  Liebe,  Hoflnung"  bei  Paulus.  ß85 

Dagegen  kann  ich  aus  Mangel  an  eigenen  Kenntnissen  die  aus 
späteren  Sammlungen  zu  gewinnenden  liturgischen  Stücke  nicht 
mit  berücksichtigen,  so  wichtig  sie  nach  den  Proben  werden  könn- 
ten, die  in  diesen  Nachrichten  W.  Bousset  1915,  S.  435  ff.  (vgl.  465) 
geboten  hat.  Es  handelt  sich  nur  um  die  Verbindung  von  Substan- 
tiven^). Ihre  Seltenheit  hat  mich  selbst  aufs  höchste  überrascht. 
Selbst  die  Verbindung  der  zwei  grundlegenden  Begriffe  in  Parataxe 
fängt  erst  bei  Paulus  langsam  an,  und  es  ist  lehrreich  zu  beachten, 
daß  es  eigentlich  nur  in  einem  festen  tötto?  geschieht,  der  keinen  dog- 
matischen oder  mahnenden  Charakter  hat;  die  EvangeUen  wie  die 
Apostelgeschichte  zeigen  überhaupt  keine  derartige  Verbindung^). 
Ungeheuren  Abstand  hiervon  zeigen  die  Pastoralbriefe,  die  eine 
ganz  neue  Eähigkeit  und  Häufigkeit  der  Begriffsbildung  zu  Tage 
treten  lassen.  Hier  waltet  höhere  literarische  Bildung.  Die  Liste 
scheidet  paulinisches  und  unpaulinisches  Gut^). 


difSTTTj  gebrauchen  und  der  cpiXia  gleichsetzen  (in  anderem  Sinne  sagt  er  von  sich 
Dial.  8,  1  zöp  Iv  TQ  'T>'JXf,  ävVj^&T)  xal  Iptu?  l/ei  [xe  xüiv  7:pO(pr^TÜiv  xal  rüiv  dvSpüv 
exei'vuiv,  ot  etat  Xptatoü  9O.01).  Will  man  aus  diesem  Sachverhalt  überhaupt  Folge- 
rungen ableiten,  so  ergibt  sich  nur :  für  das  hellenistische  Judentum  dieser  Zeit 
ist  äyctTTTj  wieder  ungebräuchlich  geworden.  Von  einer  Opposition  der  Theologie 
gegen  die  „Formel"  der  Gemeinde  ist  nicht  die  Rede. 

1)  Die  Grenzen  sind  freilich  schwer  zu  ziehen;  die  Verbindung  ipya  xal 
ri'sxu  gehört  natürlich  nicht  hierher;  aber  sie  ist  üblich  und  wirkt  ein,  wenn 
Apok.  2, 19  verbunden  wird  -i  epya  xal  ttjv  dyaTTrjv  xai  ttjv  -t'jTtv  xat  tt;v  otaxoviav 
xal  T7)v  'jTTopiovTiV.  Offenbar  soll  der  Begriff  Smxovta  dabei  dem  Begriff  Ip-ja  ent- 
sprechen und  ist  durch  ihn  veranlaßt;  ich  stelle  das  also  mit  Fragezeichen  zu 
der  Formel  dya'Trrj,  -i'otu,  ü-oixovt^.  Ein  anderes  Beispiel:  x^'P'^  ""-^^  ^'P^/"'^  '''■^P^ 
&eoO  gehört  nicht  hierher;  dagegen  bei  Gal.  5,  22  iidirri,  yßpoi,  e^pr^vr^  xtX.  wird 
man  wenigstens  zweifeln  können.  Apostelgesch.  6,  5  und  11, 24  Td/^pr^;  T.h-ztoiz 
xal  TTi/eüfxaTo;  äyiou  gehört  nicht  hierher  (ttiiti;  bedeutet  hier  die  oivapL'.;,  vgl.  unten 
S.  402,  4 ;  die  Verbindung  ist  ungleichartig) ;  dagegen  bin  ich  an  anderen  Stellen, 
wie  bei  der  Verbindung  -poseu/))  xal  ifäTtri  weitherziger  gewesen.  Bei  Justin  sind 
Verbindungen  wie  Apol.  49,  5  y.^^pa.  xal  tzizzh,  53,  12  -et8(i)  xal  rt3Tt;  Dial.  69,  1 
rVjV  i\  YP^?"^'  yvüioiv  xal  zfativ ,  53,6  ^v  r^  rdzrii  xal  fjLaÖTj-efa  a-JTOü ,  135,6  ^x 
ria-reu);  xal  TrveütAOTo;  yeyevvtjijl^vov,  138,2  ot'  uoaTo;  xal  r.hzzua  xal  c'jXo-j  dvaYSvvTj- 
ÖEvro;  unterdrückt,  aufgenommen  dagegen  Dial.  100,5  r.bxii  xal  '/apa,  weil  die 
Xapo  als  religiöse  Tugend  im  Hellenismus  vorkommt  und  die  Stelle  anders  als 
Ap.  49,  5  ist.  Trotz  des  subjektiven  Elementes  derartiger  Listen  und  der  Irrtums- 
möglichkeit bei  der  Kürze  der  Zeit,  die  mir  zur  Verfügung  stand,  hoffe  ich  doch 
ein  im  ganzen. richtiges  Bild  der  Entwicklung  bieten  zu  können.  Das  Ordnungs- 
prinzip für  den  ersten  Teil  mußte  rein  formal  sein ;  für  den  zweiten  schien  das 
überflüssig. 

2)  Über  Matth.  23,23  ttjv  xpfaiv  xal  tö  l>>eo;  xal  ttjv  rt'sTiv  =  Luc.  11,42 
TTjV  xp(atv  xal  ttjv  dYdrafjv  xoü  8eoü  vgl.  oben  S.  382. 

3)  Nur  ersterem  ist  der  Name  Paulus  vorgesetzt. 


386  ^-  Reitzenstein, 

I.    Freie  Verbindungen. 
a)  Zweigliedrige: 

Paulus:    I.  Thess.  3,6    und  Philemon  5  icioxn;  xal  ^'(aTct]   (vgl. 
oben  S.  378,   vergl.  Gal.  5,  6  ttiou?  8t'   aYÖcTcir]?  lvepYOD{i§VY] 
und  I.  Kor.  16,  13.  14)  i). 
II.  Thess.  Ij  3  TctoTi?  xal  oLfä-Kri,  '^S^'  oben  S.  378. 
Eph.  1, 15  TTiaTtg  xal  aYaTTY],  vgl.  oben  S.  378,  vgl.  auch  3, 17. 18. 
Kol.  1,  4  Tci'au«;  xal  di.'^dzfi,  vgl.  oben  S.  378. 

I.  Tim.  1,  14  1^  X^P^*^  •  •  •  l^^"^^  moTBOiz  xal  di'fditriq. 

II.  Tim.  1,  13  Iv  Tctotet  xal  «ScYaTcj]. 

Bamab.  1,  4  ttiotic  xal  aYaTur]  (siehe  oben  S.  374.  375). 

Barnab.  11,  8  Iv  tuioxsi  xal  aYocTCTQ  (ebenda). 

IL  Clemens  15,  2  [lera  Tctatswi;  xal  ocYa^rY]«;. 

Hermas  Äiwe.  IX  17, 4  [iia  Tctatt?  xal  jti'a  aYaTcirj   (entsprechend 

{j.iav  9pövY](3tv  xal  sva  voüv,  ebenso  18,  4)  ^). 
Apok.  13, 10  ü7co[jiov7]  xal  TcioTt?  (vgl.  14,  12). 
II.  Thess.  1,  4  o:co[iovYj  xal  iri'oTi?  (aufgenommen  wird  aYdiCYj  xal 

TciotK;,  also  fast  dreigliedrig). 
IL  Thess.  2,13  aYtaojJLÖ?  xal  7riou(;(?). 

Eph.  4, 13  TTioitc  xal  iTciYVwaK;  toö  oioö  toö  Osoö  (vgl.  Philem.  5.  6). 
Tit.  1, 1  maxK;  xal  iTctYVtoat?  aXTj^sia?  (vgl.  oben  S.  374). 
I.  Tim.  1, 19  tciotk;  xal  aYa^Tj  auveiSirjot?,  vgl.  1,  5  und  3,  9. 
I.  Tim.  2,  7  TTioTt?  xal  äXig^eia. 
I.  Clem.  60,4  %\.azi<;  xal  aXi]d£ia(?). 
Polyk.  Phil.  9,  2  Tciott?  xal  Sixatoauv/]. 
Hebr.  6, 12  Tuioxt?  xal  [laxpo^otiia  (^=  IXtüi?,  oben  S.  374). 
I.  Petr.  1,  21  Tciou?  xal  kXiziQ  (vgl.  oben  S.  374). 
I.  Clemens  68,  2  tzIoik;  xai  IXtcI?  (vgl.  oben  S.  375). 
Justin.  Dial.  100,  5  ttiotk;  xal  /apA  (Gegensatz  zapaxoi)  xal  ^4- 

vato?).     Unsicher. 
I.  Clem.  10,  7  und  12, 1  tcIozk;  xal  ^tXo^evfa. 
IL  Joh.  3  Iv  aXirjd'sfcj  xal  (iYa^cifj  (?). 
Barnab.  21,9  aYä^Yj  xal  elpTi^virj,  vgl.  I.  Clemens  62,  2. 
Ad  Diogn.  9,  2  ipiXavO'ptöTrfa  xal  aY«^"»]- 
Ign.  Magn.  14, 1  Trpoaeox"?)  xal  ctfAirri  (?). 

I.  Clem.  51,  2  ipößo?  xal  öcYaTTT]  (vgl.  Philo  Quod  deus  immut.  69). 
Bamab.  11, 11  ^ößo;  xal  IXtu^?. 
b)  Dreigliedrige: 

Paulus:   I.  Thess.  1,3,  vgl.  5,8  Tcbtic,  i-fATri,  IX«(c  (vgl.  oben 

S.  378.  379). 

1)  Weitere  zweigliedrige  Verbindungen  finden  sich  bei  Paulus  nicht. 

2)  Ignatius  siehe  unter  Formeln,  S.  888. 


die  Formel  „Glaube,  Liebe,  Hoffnung"  bei  Paulus.  387 

Hebr.  10,  22  Tctottc,  IXzi?,  äfazti  (oben  S.  377). 

Polyk.  Phil.  3,  3   iciot'.?,  ocy«^»  IXtci(;  (mit  StxaiooovTr]  verbunden, 

oben  S.  377). 
I.  Tim.  4,  12  a^do],  ?rtai'.<;,  a^veia. 

I.  Tim.  2, 15  irtOTic,  dtYdn],  aYiaojtö?  jistd  oö>9poaövT](;  (Variation, 

vgl.  11.  Thess.  2, 13). 
Polyk.  Phil.  4,  2  dfaTT/;,  zioti?,  aYvsia. 

II.  Tim.  1,  7  Sövaii'.?,  dfarT],  owTpovtofiö?. 

Apok.  2, 19  (td  Ipfa)  xal  rfjv  d^dTojv  xal  ttjv  ictonv  (xal  tT]v  8ta- 

xovtav)  xal  ttjv  63ro[iov"i^v  (?). 
Tit.  2,  2  ttiotk;,  aYdirrj,  D;ro{i.ov'i]. 
Ign.  Pol.  6,  2  iriott«;,  dYdTcrj,  oTropiovT^. 
Polyk.  Phil.  13,  2   TciaTtg,   otcoiiovt]  xal  irdaa  olxoSojnj  (vgl.  oben 

6zoji,ovTQ  xal  ziav.<;). 
Ign.  Philad.  11,  2  tcIotk;,  aYdjnj,  o^iövoia. 
Herrn.  Mand.  6, 1  zIgziq,  ^ößo?,  Iy^P^^"^«'-*- 
Justin  Dial.  24,  2  Trlot'.i;,  dXrjO'sta,  slpfjVir]. 

c)  Viergliedrige : 

II.  Tim.  3,  10   ttiotk;,  {laxpoO-oftta,  aYdr»],  oTrofiovi]  (Erweiterung 

aus  Tit.  2,2). 
II.  Tim.  2,  22  S'.xaiooovTj,  Jtlat'.?,  dY^^^i»  sipT^vir]. 

d)  Mehrgliedrige : 

Paulas :  Gal.  5, 19 — 22  IpYa  r^<;  oapxö?  *  Tropvela,  dxa^apaia,  dasX- 
YS'.a,  slStüXoXaTpsta,  ^ap^taxela,  l'^^O'pai,  Ipt?,  C'^Xo?,  duiiol,  Ipi- 
^etai,  St^ootaai'ai,  aipeas'.?,  cpO'övot,  jtsO-at,  xüpLOc  xal  td  o{to'.a 
toÖTOt?  —  xap^cö?  toö  ^rväü^ato?*  dYdjrrj,  x*?^''  s^P'']V''ii  {laxpo- 
dDjiia,  xp'^OTÖTYj«;,  dYad'OOovirj,  xiott?,  xpaonji;,  Iy^^P^^^-^*  (kaum 
hergehörig)  ^). 

I.  Clemens  62,  2  Tcioit?,  p.£tdvoia,  YViQaia  aYd^nj,  lY^P^'^^ia,  ow-spo- 
aövTf],  oäojiovt]. 

I.  Clemens  64  ttioiic,  ipößo?,  eipTJvr^,  oäojiov»],  (taxpo^jita,  Iy'M^^" 
xsia,  aYvsta,  aw^pooovi]. 

1.  Tim.  6, 11  SixatooovT],  eoasßsta,  Trlott?,  aYdjrrj,  owo^iovi^,  Tcpaö- 
Trdde'.a. 

Hermas  Mand.  8,  9  tcioti?,  ^ößo?  xoptoo,  aYd^irj,  öiidvota,  piij{i,ata 
StxatooüVTQ?,  dXTjds'.a,  D7ro|iovTf]. 

Hermas  Mand.  12, 3, 1  IpYdoTQ  Stxaioaovrjv  xal  dpsm^v,  dXrj&eiav 
xal  (pößov  xoploo,  Äi'otiv  xal  irpaöt7]Ta  xal  ooa  tootok;  o(i,o'.d 
lot'.v  ttYaO'd. 

Justin  Dial.  110,  3    suasßs'.av,    3ixaioa6vir]v,    (piXavö'ptoittav,    jttotiv, 

1)  Vgl.  über  die  Lasterkataloge  Lietzmann  zum  Römerbrief  S.  11. 


388  ^-  Reitzenstein, 

IXTTiSa  TYjV  jrap'  aötoö   toö   Ttaxpö?  Sta  toö   OTaopüodsvTO?   (vgL 

oben  S.  384, 1). 
Das  spricht  wenig  für  ein  allgemeines  Streben  im  Urchristen- 
tum, für  die  christliche  Überzeugung  und  Frömmigkeit  bestimmte 
Devisen  zu  prägen  oder  auch  nur  die  Begriffe  scharf  gegeneinander 
abzugrenzen  und  herauszuarbeiten;  auch  wüßte  ich  nicht,  wie  ich 
der  G-emeinde  zuschreiben  könnte,  was  ihre  Lehrer  selbst  noch 
nicht  üben;  müßte  doch  die  Gremeindeüberzeugung  notwendig  auf 
den  Lehrer  wirken.  Die  Zusammenstellung  zeigt,  daß  eine  allge- 
meine Devise  der  Christenheit  „Olaube,  Liebe,  Hoffnung"  nicht 
bestanden  hat.  Die  positiven  Ergebnisse  dieses  Überblickes  werden 
sich  erst  bieten  lassen,  wenn  wir  die  echten  Formeln  betrachtet 
haben. 

IL    Echte  Formeln. 
Paulus:    L  Kor.  13,13   vovl   Ss   [jl^vsi  tcIozk;,    iXniq,   ^CjfdTCYj,    zcn 

tpia  Taöta*  (leiCcov  8k  Toötcov  ii  a.'^ÖL'K'q. 
Barnab.  1,6  tpia  ouv  So'^^a.zä  lottv  xopioo  C<«>'^?'  eXtcis  .  .  .  Sixato- 

ouvT]  .  .  .  aYocTTT]  (vgl.  oben  S.  375). 
Clemens  AI.  Strom.  Buch  VII  und  sonst:  tci'oti?,  y^woic,  a-^Anri^). 
JDidaclie  Äpost.  10,  2   zhya.^\.(ixob]i.i^  oot  .  .  .  oTcsp  t-^?  Yvcioeco?  %al 

TCiOTSo)?  %cfX  a.%'CLV(JLO\.a<i,  riz  SYVcbptoa?  fjjiiv  Sia  'lYjaoö  toö  7cat8ö<; 

000  ^). 

Ignatius  Eph.  14,1.2   wv^)   oo§£V  Xav^dvst  ottä?,   lav  tsXeio)«;  sie 

'IyjOOÖV    XpiOTÖV    S5(Y)T£    TYjV    TClOttV     Xal    TYjV     aYOCTTYJV,     "(flZ    lotlV 

h^Xh  Cw'^s  xal  xi\oz'  ap/Yj  [i^v  ^ctati?,  t^Xo?  6e  aYajCT)*  ta  8e 
8öo^)  IvlvÖTYjTt  YEVÖjJLsva  ■9-eoc  lotiv.  xatk  äXXa  Tcdvta 
61?  xaXoxäYadiav  axöXoodct  loxiv.  ooSei?  tciotiv  l7raYYsXXo|i.evo(; 


1)  Vgl.  unten  S.  409. 

2)  Hierher  gestellt,  weil  das  liturgische  Gebet  schon  an  sich  die  Formel 
verlangt.  Hellenistische  Gebete  geben  Gegenbilder,  vgl.  im  Papyrus  Mimaut  (Hel- 
lenist. Mysterienreligionen  S.  113)  X'^'p'"'  '°'  oüSafi-ev  ..  5ti  ..  TraxpixTjv  eovoiav  .. 
i\zhzi.^ia 'fo.^id\i.z\oii  ■^\i.\'^  voüv,  Xdyov,  yvüiijtv  voOv  [/.^v,  ivo  ae  vo^au)[j.ev,  Xo^ov  5^, 
Yva  ae  ÜTroXoY/atufxev,  -pfüoiv  o£,  ^va  ae  ^Triyvov-ej  x°''P*"i^^'''  1^^*^  äöavaai'a ,  deren  Er- 
scheinen bei  den  Christen  zunächst  befremdet ,  erklärt  sich  daraus ,  daß  sie  im 
Hellenismus  wirklich  als  Gotteskraft  und  Eigenschaft  gefaßt  wird,  die  man  durch 
die  yvÄat;  empfängt,  vgl.  Poimandres  §  18  (S.  334,  2  meiues  Buches)  das  Gottes- 
wort  öva^viopiaaTU)  <f,>   Ivvo-j;   (der  Mensch ,   in  den  der  voü;  herabgesendet  ist) 

3)  Da  es  sich,  wie  zu  zeigen  ist,  um  die  Zusammensetzung  des  T^^tM^axixhz 
öfvdpuTToc  (das  ist  der  dcö;  ^v  i/jfxtv)  handelt,  halte  ich  für  möglich,  daß  uiv  sich 
nur  auf  die  vorher  genannten  Substantive  iTrfyeia  und  oipdvto,  nicht  aber  auf  den 
ganzen  Inhalt  des  Satzes  bezieht. 

4)  Ignatius  könnte  auch  sagen  TaüTa  li  xä  Süo. 


die  Formel  „Glaube,  Liebe,  Hoffnung"  bei  Paulus.  389 

d(taptdvsi,  ohBk  a-jfdtÄTjv  xsxxT^ixevoi;  {jl'osi.  Vgl.  bei  Ignatius 
weiter  Eph.  1,  1.  9,  1.  20,  1.  Magn.  L  2.  13,  1.  Smyrn. 
Aufschrift;  1,1(?).  6,1  x6  -(äp  oXov  sotiv  zioziz  xai  Äfaxir;, 
m  ooSev  Ttpoxsxpitat.  13,  2.  Den  gesperrt  gedruckten  Satz 
pflegt  man  nicht  wörtlich  zu  nehmen.  Ihn  erklärt  Cle- 
mens SfroDL  III  69,  3  ivwoa?  xfjV  fvöoiv,  Trioitv,  äväTOjv,  si? 
wv  Ivdevos  .  .  .  xal  z'/soiJ.aT'.xö?  ovcw«;.  Er  faßt  jene  drei 
Gottesgaben,  wie  III  68,  5  zeigt,  als  die  drei  Bestandteile 
unserer  Seele  oder  unseres  geistigen  Ichs.  Ignatius  kennt 
nur  zwei,  ihre  Vereinigung  büdet  den  Gott  oder  Christus 
oder  das  „Leben"  (vgl.  Magn.  1,2  mit  Eph.  14)  in  uns. 
Ich  halte  es  sogar  für  wahrscheinlich,  daß  er  TraU.  8, 1 
Iv  TTiotEi,  8  ioxiv  oap4  toö  xopioo,  xai  h  aYd-iQ,  o  iattv  aiita 
'Itjooö  Xpiotoü  sagt,  weü  Fleisch  und  Blut  den  wahrhaftigen 
und  lebendigen  Christus  ausmachen.  Die  gleiche  Anschau- 
ung liegt,  freilich  vergeistigt,  bei  Clemens  zugrunde. 
Deutlicher  sind  an  sich  die  mehrgliedrigen  Foiineln.  Ich  stelle 
an  die  Spitze  eine  besonders  durchsichtige. 

Barnab.  2,  2  tf/c  oov  Trioteouc  f^{i(j)v  slolv  ßor^O-ol  cpößoi;  xai  öäojiovtq, 

xoL    2s    ou{i|ia)(OüvTa    -/^{liv    jiaxpodo{iia    xai   i^xpdtsta"    tootodv 

(LsvövTODV  td*)  wpö<;  xöp'.ov  d^vö)?,  oovstxppaivovtai  aötoic  oo^pia, 

aovsoK;,  iTttoxTjitir],  fvwo'.«;. 

An  der  Spitze  steht  die  i:iozi<;,  ihr  helfen  im  Streit  des  Lebens 

vier  moralische  Eigenschaften  cpößo?    und  u;:o{i.ovT|.    jtaxpod'uiJLia   und 

sYxpdteia.     Des  Sieges   freuen   sich   (bei  der  Vereinigung   mit   dem 

Herren)  vier  Geistesgaben  oo^ia,  oövcaic,  lztorr,jj.7;,  'f/wa'.?  mit*). 

Ich  muß,  um  das  Büd  verständlich  zu  machen,  den  Leser  zu- 
nächst einen  Umweg  führen.  Das  Kap.  XIII  (XIV)  des  Hermetischen 
Korpus,  Poimandres  S.  339  ff.  schildert  ein  Vergottungsmysterium, 
oder  vielmehr  die  oovdpdpwoi?  toü  A670D  (S.  342,  18),  die  Zusammen- 
fügung des  neuen  Gottwesens  im  Menschen.  Hur  voraus  geht  das 
XoEiv  tö  oxf^vo?  (S.  345,  9.  344, 1)  oder  SiatiEXtCso^a«  (S.  340,  17).  In 
uns  hausen  zwölf  Dämonen  (S.  342,  8  ff.),  die  zugleich  als  Glieder 
unseres  irdischen  "Wesens  betrachtet  werden^;  es  sind  in  dieser 
Aufzählung  aifvoia,  Xöttt],  dxpaoia,  i;r'.0'U{j-ia,  dStxia,  TrXsovs^ia,  dffdnj, 
(fdövo?,  5öXo?,  opYTf],  :cpo7rETsia,  xaxia.  Sie  entweichen  nacheinander, 
in  die  Flucht  geschlagen  von  zehn  (ursprünglich  sechs  oder  sieben) 


1)  Harnack   (Ausgabe  von  1875)   will  zä  zp6;  xüptov  mit  üuve-jcppaivovTctt  ver- 
binden, sprachlich  wie  sachlich  unmöglich;  vgl.  Clemens  Strom.  1131,2. 

2)  Man  denkt  unwillkürlich  an  Bilder  wie  sie  Kebes  entwirft,    doch  ist  die 
Philosophie  nicht  Quelle. 

3)  £s  sind  die  zwölf  fjictpai  xoü  davdxou  bei  Zosimus  (Poimandres  S.  214, 1). 


390  R-  Reitzenstein, 

Kräften  Gottes,  die  eine  nach  der  andern  niedersteigen,  yvcöoic  d-eoö, 
YVwok;  yjxpäq'^),  s^xpatcca,  xaptspia,  SixatooövTj,  xoivwv'a,  aXi^O-sia.  Die 
sieben  zusammen  bilden  die  achte  Kraft  tö  ocYadöv  (343,  8  itsirXTJ- 
pwtat  TÖ  ocYad-öv),  dem  wieder  als  neunte  und  zehnte  cpcoc  und  CtoTj 
folgen.  Ist  der  Streit  zu  ende  (343,  11  vtxTj^sroaO,  so  besteht  der 
neue  Mensch  oder  Grott^)  aus  ihnen;  sie  sind  seine  Grlieder. 

Ich  habe  mit  dieser  seltsamen  Lehre,  die  zunächst  wohl  jeden 
Leser  abstößt,  schon  früher  (Poimandres  S.  232)  zwei  Allegorien 
jenes  wunderlichen  frühchristlichen  Propheten  verglichen,  der  einen 
großen  Teil  seiner  Visionen  recht  ungescheut  aus  hellenistischen 
Oifenbarungsschriften  entnommen  hat^),  des  sogenannten  „Hirten" 
des  Hermas.  Er  schaut  Vis.  III  8  bei  dem  Bau  des  Turmes  sieben 
Weiber,  deren  jede  die  Tochter  der  vorausgehenden  ist,  zunächst 
die  IltOTi?,  dann  die  'EY^paista,  dann  "^AtiXöttjc,  'ETTtarij^i-Yj,  'Axaxi'a, 
SsiivÖTTjc,  'AYaTtY].  In  dieser  Reihenfolge  werden  sie  zunächst  ge- 
nannt; dann  richtiger  in  Form  eines  Tugendkataloges,  der  völlig 
den  Formeln  entspricht : 

•  Ix  T^?  TcioTEO)?  '^BWäzcLi  k'^Y.päzBi'X,  Ix  "C^c  lYxpatsfa?  (XTcXör»)?, 
Ix  Tfi<;  aTcXötYjTO?  axaxi'a,  Ix  vr^(;  axaxia?  cssiivöt-/]?.  Ix  t^?  oejt- 
voTTjTO?  iTTtoTTjinrj,  Ix  T^?  l;rtoTif]{i,iQ<;  ocYaTC-»]*). 
Ich  vergleiche  schon  jetzt  eine  weitere  neutestamentliche  Formel : 
IL  Petr.  1, 4  tva  Bio.  ioötcdv  "{ivriad-B  dst'ac  xotvwvol  ^öoswc  ^), 
(iffoipoYÖVTE?  T^c  Iv  xÖ3{i,(p  Iv  Irttdoji^o^  (fdopä?,  xal  abzb  toöto 
Ss  otcooStjv  Ttäaav  TtapeiasvdYxavtsc  iTut^^opTrjYT^aaTe  Iv  t'^  riotet 
6(iwv  T7]v  äpsTTjv,  Iv  61  T'^  äpsT^  Trjv  Y^woiv,  Iv  8k  T-fl  Y^woei 
rJjv  lYxpareiav,  Iv  Ss  t^  lYxpatsi'o^  ttjv  67ro[iovifiv,  Iv  Sl  t-^  ojto- 
jtov^  TTjV  ebolßeiav,  Iv  Ss  T-^j  söosßs^cj  ttiv  ^tXaSsXfjpt'av,  Iv  Ss 
T^  ^iXaSsXfpt'a  tyjv  äYa^cYjV.  Taöta  y«P  ^H-^v  o7rap)(0VTa  xal  ttXso- 

1)  Sie  sind  neben  einander,  kaum  erträglich ;  ursprünglich  stand  hier  nur 
yapct;  oder  das  eine  Glied  ist  überhaupt  zugefügt. 

2)  Es  ist  die  8e(a  '^i'^xh'  <^ß""  ^^^  ^^^''»  heißt  344,8  <^'JYo-f6\oi,  aber  zugleich 
das  TTveüjAGt  in  uns  (344,  9. 10).    Die  verschiedensten  Ausdrücke  wechseln. 

3)  Ich  hatte  das  ursprünglich  einmal  (Poimandres  S.  11,  Hellenistische  Wunder- 
erzählungen S.  126)  für  ein  Stück  nachweisen  können  und  wenigstens  bei  Philo- 
logen wie  V.  Wilamowitz  (Kultur  d.  Gegenwart  I  8.  1905.  S.  187)  und  Wendland 
(Urchristliche  Literaturformen*  S.  387)  Zustimmung  gefunden.  Ein  zweites,  noch 
wiclitigercs  Stück  hoife  ich  in  der  Festschrift  für  Fr.  C.  Andreas  (Leipz.  1916) 
S  41  ff.  erwiesen  zu  haben.  Ein  drittes  wird  ein  theologischer  Freund  wohl  bald 
auf  seinen  Ursprung  zurückführen. 

4)  Von  Harnack  behauptet  S.  9,  hier  erschienen  izli-zn  und  äyänr]  allein, 
und  bietet  als  Zitat:  „Der  Glaube  aus  dem  sich  die  Liebe  erzeugt".  Resch  spricht 
nämlich  S.  158  von  einer  Genesis  der  djdnri  aus  der  TrfsTt;. 

5)  Vgl.  in  dem  Zaubergebet  des  Pariser  Papyrus  Z.  200  (Hellenistische 
Mysterienreligionen  S.  69)  ioo%iou  cpüaciu;  xuptcuaac. 


die  Formel  „Glaube,  Liebe,  Hoffiiang"  bei  Paulus.  39i 

vdCovta  oox  ap^oo?  ob8k  a'Aipzooq  xad'i'or/joiv  ei?  rfjv  toö  xopi'oo 
T;jj.<üv  'Ir^aoö  Xp'.oxoö  ejrtifvwatv. 

Es  ist  ein  klares  System  \)  mit  bezeichnendem  Anfang  und 
Ende.  Die  Vollkommenheit  gibt  die  Vollerkenntnis  (volle  Schau) 
Christi.     Auch  matK;  und  kzifvonoK;  entsprechen  sich. 

East  noch  wichtiger  ist  die  spätere  Umgestaltung  bei  Hermas 
Siiti.  IX.  Ich  referiere  kurz.  Zwölf  Jungfrauen  sind  bei  dem 
Turmbau  beschäftigt ;  die  vier  an  den  Ecken  sind  die  namhafteren ; 
es  sind  Iliaxi?,  'E^xpateia,  A6va{j.'.?,  MaxpoO'oif'a.  Unter  jeder  stehen 
zwei  geringere,  nämlich  'AäXött^?,  'Axaxi'a,  'Apsia,  'IXapdtir]?,  'AXij- 
deta,  I'jvso'.?,  'O^övo'.a,  'AyAthj.  Nur  weil  sie  in  dem  Verzeichnis 
am  Ende  stehen  mußte,  wie  Iliaxi<;  am  Anfang,  hat  offenbar  'AifiicTj 
unter  den  Geringeren  Platz  gefunden.  Ihnen  stehen  entgegen,  zwar 
nicht  eigentlich  im  Kampf,  aber  doch  im  Wettbewerb  um  die  Men- 
schenseelen, zwölf  Laster,  vier  große  'Aäiotio,  'Axpaoia,  'Assidsia, 
'A;rAnj,  und  acht  kleinere,  Aöjn],  IIovTjpia,  'AoeXYe'.a,  'O^u/oXia,  4'sO- 
6oc,  .'AcppoaüvTrj,  KataXaX'.d,  Miao?. 

Von  hier  gilt  es  das  dritte  Kapitel  des  Kolosser  -  Briefes  zu 
betrachten,  das  ebenfalls  je  einen  Laster-  und  einen  Tagendkatalog 
bietet.  Beide  scheinen  zunächst  sich  nicht  mehr  streng  zu  ent- 
sprechen; ein  altes  Vorbild  ist  ja  auch  nach  christlichem  Empfinden 
frei  umgestaltet.  Doch  gestatten  die  Parallelberichte  uns  mit 
Sicherheit  zu  sagen,  daß  die  gleiche  hellenistische  Grundanschau- 
ung waltet: 

Kol.  3, 12  IvSüoaads  ^)  oov  wc  IxXsxtoi  toö  d'soö  a-yioi  xai  Ijainj- 
[tsvot  OTrXdf^va  olxtipfjLOö,  ■/pTjotötTQta,  tairsivo^po- 
GÖVTjv,  TipauTTjta,  |i,axpodojj,iav  ...  Izl  iräotv  Se  tooxok; 

1)  Freilich  nicht  logisch  klar;  aber  das  gilt  von  den  meisten  dieser  Systeme; 
wichtig  sind  Anfang  und  Ende  (also  hier  T.inii  und  a-jdzr^);  zwischen  ihnen 
wechseln  die  Namen  recht  frei;  wichtig  ist  nur  die  Zahl  und  die  Formel.  Für 
den  Eingang  des  zweiten  Petrusbriefes  hat  Deißmann  Bibelstudien  277  und  Licht 
vom  Osten  231,4  gutes  Material  beigebracht,  aber  zu  viel  schließen  wollen. 
Gewiß  gibt  die  Inschrift,  die  er  vergleicht  (Dittenberger  Or.  gr.  inscr.  438)  eine 
im  Leben  übliche  Formel  des  Lobes  ävopa  .  .  Stev^'/xavTa  Ttiatei  xai  ioer^  xai  otxoto- 
s'jvt;  xrn  ejseßei'a.  An  sie  schließt  sich  der  Christ,  indem  er  die  einzelnen  Worte 
umdeutet  und  z.B.  a^vd\  recht  willkürlich  zur  Bravheit  macht,  neben  der  die 
oixatoaüvT,  keine  Stelle  findet.  Eingeschoben  werden  fünf  weitere  Eigenschaften 
Yväiau,  E^xpaTeia,  özoiiovr,,  cp[)^aoe/.^:a,  i-^irrri  (interessant  wegen  der  Scheidung  der 
Gottesliebe  und  Bruderliebe).  Hier  sind  wir  in  einer  anderen  Sphäre,  die  freilich 
auch  nicht  eigentlich  christlich  zu  sein  braucht  (vgl.  zu  der  o&opi  ev  ^-töufxfa  Poiman- 
dres  334,  3).  Beachtenswert  ist,  daß  die  -p/üjat;  als  Vorstufe  der  Eziyvojau  erscheint. 

2)  Der  Ausdruck  ist  paulinisch  und  wird  von  dem  Apostel  selbst  sowohl 
von  Gottesgaben  (Unsterblichkeit  I.  Cor.  15,  53)  wie  von  dem  neuen  Menschen,  dem 
XpiSTOf  iv  TjLiiv,  gebraucht  (Rom.  13,  14;  Gal.  3,27). 


392  ^   Reitzenstein, 

TY]V  aYdcTTYjv,  0  lauv  a6v§eo{iO(;  t"^?  teXetötr^to? ^).  Sechs 
Tugenden  ergeben  die  Vollkommenheit;  die  letzte,  wieder 
die  ocYäTTT],  bindet  alle  zusammen. 
Schwieriger  ist  der  Lasterkatalog,  doch  ist  klar,  daß  auch  hier 
sechs  größere  aufgezählt  und  dann  sechs  kleinere  zugefügt  werden. 
Wichtig  ist  die  Einleitung  v.  3  aTrsö-dcvets  ^ap,  %al  i^  Cw-^  ojiwv  xs- 
xpoTutai  ODV  Tcj)  Xpiattp  Iv  tc])  '9-£(p.  Das  ist  gewiß  christliche  Vor- 
stellung, stimmt  aber  zugleich,  merkwürdig  auch  zu  der  Grrund- 
anschauung  jenes  Hermetischen  Traktates,  nach  welchem  der  Ver- 
gottete nur  noch  einen  Scheinleib  auf  Erden  hat;  er  selbst  kann 
gar  nicht  gesehen  werden;  er  ist  schon  bei  Gott.  Eine  Erklärung 
bedarf  ferner  die  Auiforderung  im  Eingang,  die  „Glieder  auf  Erden" 
abzutöten ;  es  seien  die  Laster.  Man  deutet  wohl,  je  ein  Laster 
entspräche  einem  wirklichen  Körperglied ;  aber  welchem  bestimmten 
Gliede  entsprechen  z.  B.  'Ko.d-oi;,  TcXeove^ta  oder  stSwXoXatpeia  ?  Nur 
die  Hermetische  Schrift,  oder  vielmehr  eine  hellenistische  Anschau- 
ung von  dem  ax-^vo?  und  seinen  (isXt],  gibt  die  Lösung^). 

Col.  3,  5    VExpcocaTS  ouv  ta  (x^Xt]  üfiwv  za  kid  f^?  y^c  '),   itopvelav, 
äxa^apotav,   Tca^o?,   kmd'O^ia.v  xaxrjv,  xal  ttjv  TrXsove^iav,  ^u? 
lotlv  slSwXoXaTpsia*).     Hierauf  nach  einer  Digression:  i.zö- 
^so^s  xal  ö[i,sic  ta  Tcavta,  öpY^jV,   i>o{jlöv,   xaxiav,    ßXaa^rjjAiav, 
alo/poXoYtav  Ix  toö  oTÖjxato?  6|X(öv  •  [jltj  (jjsoSsod-s  si?  dXXijXooi;. 
Das  wiese  auf  einen  Katalog  der  kleineren  Laster  in  zwei 
Triaden  öpYi],  ■0-D{JLdc,  xaxi'a  |  ßXaa'fYj[iia,  ala/poXoYt'a,  tjj£5§oc. 
Der  Schluß  leitet   dann  zu  dem  schon  besprochenen  Tugend- 
katalog  über:    a7usxSoaa[j.evoi  töv  TiaXatöv  av^pwTcov   (oben  in  anderm 
Bild  Toc  {isXyj  ta  knl  t^?  y'^?)   ^"^^   '^'*^?   ^pd^satv   aüTOÜ  xal  lv5ood[j.evoc 
TÖV  v^ov,  TÖV  dvaxatvo6{i£Vov  st?  iTCtYVwatv  xaT'  elxöva  toö  XTioavro?  a^TÖv. 


1)  Zusatz  des  christlichen  Verfassers  xal  ii  etprjVT)  xoü  Xpisroij  ßpaßeu^Tiu  jv 
Tal;  xapSiat;  ujxäv  xtX.  Es  ist  weniger  die  Friedfertigkeit,  als  der  in  Schluß- 
wünschen übliche  Begriff  des  Gottesfriedens ,  der  das  Ergebnis  ist  ^  aber  zugleich 
personifiziert  ist. 

2)  Dieselbe  Anschauung  liegt  wohl  auch  2,  11  zugrunde:  ^v  tp  (Xpiattp)  xal 
7repieTp.T^&7jTt  ^:e(HXOl^.f^  dyzipoTcoi-f^xv^  ev  t/)  direx 5 6 aet  toO  aw(ji.aTo;  ttj;  aapxö; 

iv    T^    TIEplTOpi^j    TOO    XpiOTOÜ. 

3)  Vorher  rj  Cu>^  0(ji(üv  x^xpuTixai  .  .  .  ^v  T(ii  Oe'p. 

4)  Der  Parallelismus  verlangt  die  Aufzählung  von  sechs  Lastern.  Da  der  Text 
(durch  Polykarp  Phil.  II,  2)  vielleicht  bezeugt  ist,  darf  man  schwerlich  auf  einen 
Wortausfall,  wie  etwa  <xal  ttjv  da^ßetav>  ijTic  iazh  etSwXoXatpefa,  raten.  Der  Christ 
hat  seine  Vorlage  willkürlich  umgestaltet  und  aus  einer  Erwähnung  der  da^ßsia 
die  gezierte  Wendung  gemacht,  daß  die  rXeovc^fa  selbst  Götzendienst  sei.  Recht 
ungeschickt  ist  tt^öoc  eingesetzt,  das  mit  Dibelius  nur  auf  das  erotische  za'&o;  zu 
beziehen  Pseudo-Phokylides  v.  194  natürlich  gar  kein  Recht  bietet. 


die  Formel  „Glaube,  Liebe,  Hoffnung"  bei  Paulus.  393 

Da  dies  v.  12  aufgenommen  wird  evSooaads  oov,  so  besteht  der  neue 
Mensch,  der  avd-pwTro?  xat'  slxdva  ^soö,  also  aus  orXaY/va  oixt'.pjj.oä, 
ypYjatöxTj?,  Ta;:s'.vo(ppoo6vTrj,  Ttpaotirjc,  ttaxpoO^^ita  und  ä'{dr:r^,  o  iattv 
aDv5£a[xo<;  tf^?  xeXsiÖTTjto«;.  Es  ist  wohl  ein  Akt  der  Verzweifelung, 
wenn  auch  ein  so  belesener  und  verständiger  Interpret  wie  Dibe- 
lius  mit  einem  male  von  Kleidern  redet,  die  durch  den  Gürtel  der 
Liebe  zusammengehalten  werden.  Noch  ärger,  wenn  er  sich  dafür 
auf  Simplicius  zu  Epiktet  "208  A  beruft  oi  flo^aYÖps'-O'.  jrsp'.oaw?  twv 
oXXcöv  apsTwv  TTjV  cptXtav  Itijjwov  xat  ouvSsofiov  aotTjv  :raoÄv  twv  apstojv 
Dvcfov  oder  das  Wort  ouvSsojjlo?  ttj?  tsXe'.ottiTO?  auf  das  die  Ge- 
meinde umschlingende  Band  deuten  möchte.  Es  kann  nur  be- 
sagen :  die  aYdzTj  vereinigt  die  andern,  genannten  Tugenden  in  uns 
zum  organischen  und  vollkommenen  Granzen,  stellt  also  jenes  oib^a. 
ix  Sova{j-s(üv  xa^satö?  des  Hermetischen  Traktates  her  (Poimandres 
344,17,  vgl.  343,16  sx  toötcdv  ouviatdciisvo«;).  Simplicius  sagt:  fehlt 
auch  nur  eine  Tugend,  so  i.st  die  cpiXia  unmöglich ;  sie  gibt  die  (auf 
der  Vollkommenheit  beruhende)  ivcoot?  mit  dem  Freund  und  weiter 
mit  Gott.  Das  bestätigt  einigermaßen  Jamblich  Vit.  Pyth.  240  zokb 
8i  TOOTwv  ^au[jLao'.(i)Tepa  -^v  ta  r=pt  tr^?  xoivwvia?  twv  ^si'tov  ft-j'ad'wv  xal 
•ca  TTspi  Tf^?  Toö  voö  6[i.ovo''a?  xal  xa  Kspl  f^?  dsia?  4''^x^'^  aötoi?  a'f op'.aO-svta. 
^capr^YYsXXov  y^P  ^api.«  äXXrjXo'.?  jjlyj  Staoitäv  töv  Iv  saoToi?  ^söv. 
ouxoüv  ei?  Oeoxpaoiav  v.va.  xal  r/jv  rpo«;  löv  ^söv  ivwaiv  xal  r/]v  toö  voö 
xo'.vwvi'av  xal  xriv  f^?  dsia;  'fO'/^?  aTrsßXszsv  a'jtoi?  -»i  xäoa  t"^;;  ^tXta? 
gttodSt]  6'.'  spYwv  xs  xal  Xö-j-wv  (pythagoreisch  in  neuplatonischer  Fort- 
bildung). Natürlich  ist  jeder  Gedanke,  daß  der  Verfasser  des  Kolosser- 
briefs  eine  philosophische  Quelle  benutzt,  ausgeschlossen.  Aber  eine 
volkstümliche  religiöse  Parallelbildung,  etwa  wie  die  des  Hermetischen 
Traktates  kann  ihn  beeinflussen.  Mir  persönlich  ist  diese  Analyse 
der  abschließende  Beweis,  daß  der  Brief  nicht  von  Paulus  herrührt. 
So  abhängig  zeigt  er  sich  sonst  nie;  auch  die  ganze  kleinliche  Art 
der  Durchführung  widerstreitet  seinem  sonstigen  Charakter. 

Ich  kann  die  Vermutung  nicht  unterdrücken,  daß  von  den 
vielgliedrigen  freien  Verbindungen  noch  eine  oder  die  andere 
(freilich  sicher  nicht  Gal.  5,  20)  auf  ähnliche  Systeme  oder  viel- 
mehr Allegorien  und  Bilder  ^)  zurückgeht,  die  wir  jetzt  nicht  mehr 
als  solche  nachweisen  können,  und  ich  glaube,  daß  jetzt  wohl  er- 
klärt ist,  warum  ich  in  Valentins  Dodekas  und  Dekas  (oben  S.  381) 
unmittelbare  Einwirkung,  sei  es  des  Paulus,  sei  es  einer  in  der 
Gemeinde  lebenden  trinitarischen  Formel  nicht  für  erwiesen  halte. 


1)  Auf  E.  Große -Brauckmann  De  compositione  Pastoris  Hermae  Gott.  1910 
S.  19  ff.  61  ff.  sei  beiläufig  verwiesen.  Auf  Spittas  Vermutung  eines  jüdischen 
Vorbildes  für  Hennas  glaube  ich  nicht  mehr  eingehen  zu  müssen. 


394  R-  Reitzenstein, 

Ich  vergleiche  die  Hexade  weiblicher  Gottheiten  Hioxk;,  'EX;ri?, 
^AfäzT],  Suveaic,  Maxapia(?),  So^ia  lieber  mit  der  Enneade  bei  Bar- 
nabas  .2, 2  ttiou?  |  ^ößo?,  oTtojicvT]  |  jtaxpo'ö'Ojiia,  l^xpateta  |  ootpi'a,  aoveatg, 

Wie  dem  sei,  überblickt  man  die  ganze  Reihe  dieser  Auf- 
zählungen einmal,  so  muß  auffallen,  wie  wenig  Worte  und  Begriffe 
der  griechischen  Philosophie  auch  nur  in  ihrer  populärsten  Form 
entnommen  sind^)  und  welche  Unklarheit  sich  in  den  Systemen, 
den  hellenistischen  wie  den  christlichen,  findet  ^).  So  eng  der  Aus- 
schnitt aus  dem  weiten  Gebiet  lexikalischer  Forschung  zu  diesen 
Fragen  ist,  auf  den  mich  diesmal  Thema  und  Anlaß  der  Arbeit 
beschränkt,  so  scheint  doch  schon  er  zu  zeigen,  daß  die  hellenisti- 
schen Einflüsse  in  dieser  ersten  Zeit  nicht  von  der  Philosophie, 
sondern  von  volkstümlichem  religiösen  Denken  ausgehen'').  Das 
ist  nicht  wunderlich,  wenn  wir  an  die  Kreise  denken,  in  denen 
das  Christentum  entstanden  war,  und  an  die  Kreise,  in  denen  es 
auf  griechischem  Boden  zunächst  Aufnahme  fand  und  für  die  es 
sich  darstellen  mußte.  Seltsam,  wenn  man  hier  zunächst,  wie  bei 
der  Gründung  einer  theologischen  Parteigruppe,  eine  Devise  und 
Formel  gesucht  hätte  (etwa  wie :  Gott,  Unsterblichkeit,  Menschen- 
liebe). Noch  seltsamer,  wenn  man  in  dem  Vollgefühl  der  beseli- 
genden neuen  Botschaft  auf  die  Originalität  in  Sprache,  Bild  und 
Form  ängstlich  geachtet  und  nicht  gebraucht  hätte,  was  am  allge- 
meinverständlichsten und  wirkungsvollsten  war;  Gebot  und  Emp- 
findung sind  die  Hauptsache,  sie  gilt  es  zu  geben;  alles  weitere 
wird  der  „Geist"  in  dem  Neubekehrten  selbst  wirken.    Gewiß  hat 

1)  Es  ist  mir  nicht  gleichgültig,  daß  die  Tugend  der  awcppoaüvrj  nur  I.  Tim.  2,  9 
([xexd  aiSoüc  xa\  otucppoauvr);)  und  2,  15  vorkommt  (Apostelgesch.  26,  25  ist  es  Gegen- 
satz zu  [jLavia,  wie  awcppoveiv  bei  Paulus  Gegensatz  zu  exOT^vai)  oder  daß  der  kurze 
Titusbrief  allein  die  Verbindungen  awcppuiv,  Si'xaio;,  oaioc  (1,  8,  vgl.  2,  2)  und  atucppovio;, 
IvAaldii,  EuaeßA;  (2,  12)  bietet.  Mau  erkennt  den  Unterschied  am  besten,  wenn  mau 
die  jüngere  asketische  Terminologie  betrachtet.  Anders  ist  Titus  2,  4.  5  cpiXavSp&u; 
eTvott,  cptXoT^xvou?,  awcppova;,  äyvct«,  ©(xoupouc  d-ja^di,  br.oxaaaoiiisaz  tot;  iStoi;  ävSpctatv, 
für  das  ich  auf  Deißmann,  Licht  vom  Osten  228  verweisen  darf.  Hier  handelt  es 
sich  um  eine  Erweiterung  der  im  allgemeinen  Gebrauch  üblichen  Redeformeln. 

2)  Ich  erinnere  an  II.  Petr.  1,  5  rfaTt«,  äpexi^,  ^^xpccxeia  u.  s.  w.  oder  an  die 
Stellung  der  xax(a  am  Schluß  des  Lasterkataloges  der  Hermetischen  Schrift  und 
des  Kolosser-Briefes  oder  des  d'(a%6y,  (p<ü;  und  C«>t^  nach  den  Tugenden  in  ersterer. 
Man  erkennt:  die  Zahl  ist  das  Bestimmende,  nicht  die  innere  Verbindung  der 
Begriffe;  das  Denken  liegt  noch  halb  bewußt  in  den  Banden  ursprimglich  mytho- 
logischer Tradition. 

3)  Einen  ähnlichen  Gedanken  bietet  Deißmann  „Licht  vom  Osten"  S.  230. 
Später  tritt  die  Philosophie  ein.  Clemens  steht  im  Paedagogus  zu  Musonius  wie 
Ambrosius  zu  Cicero.  Für  die  Allgemeinheit  dieses  Verhältnisses  spricht  die 
Terminologie  der  Askese. 


die  Formel  „Glaube,  Liebe,  Hoffnung"  bei  Paulus.  395 

jene  erste  Annäherung  an  den  Hellenismus  für  die  spätere  Zeit, 
als  die  Kraft  des  Wollens  nnd  die  Tiefe  der  Empfindung  verflachen 
und  die  Spekulation  ihr  Recht  an  der  Religion  fordert,  mancherlei 
Folgen  gehabt,  die  recht  tief  dringen.  Aber  die  Originalität  des 
Christentums  selbst  wird  dadurch  nicht  in  Frage  gestellt,  und 
wem  sie  gar  davon  abzuhängen  scheint,  ob  in  einem  Kapitel  des 
Kolosserbriefes  neben  einem  paulinischen  Grrundgedanken  auch  ein 
hellenistisches  Vorbild  benutzt  ist,  der  würde  mir  kleinlich  und 
unhistorisch  zu  urteilen  scheinen. 


Was  ich  zu  bieten  habe  ist  eine  rein  philologische  Inter- 
pretation von  I.  Kor.  13,  bei  der  es  auf  die  Gedankenentwicklung 
besonders  ankommt.  Erbauliche  Betrachtungen,  die  man  anzu- 
knüpfen pflegt,  stören  dabei  nur  und  wird  von  mir  niemand  er- 
warten; was  jeder  von  uns  empfindet,  bleibt  beiseite.  Auch  das 
Neue  Testament  wird  es,  glaube  ich,  vertragen  können,  zunächst 
einfach  auf  den  ursprünglichen  Wortsinn  geprüft  zu  werden. 

Das  Kapitel  durchbricht  scheinbar  einen  festen  Gedanken- 
zusammenhang (zwischen  Kap.  12  und  14)  und  hat  stilistisch  einen 
besonderen  Charakter.  So  gut  es  zunächst  seine  Verklammerung 
mit  der  Umgebung  zu  prüfen;  denn  selbst  ein  so  feinsinniger 
Exeget,  wie  der  leider  der  Theologie  zu  früh  entrissene  Job.  Weiß, 
zweifelt  sie  an,  weist  auf  die  Möglichkeit  hin,  daß  es  zu  anderer 
Zeit  und  für  anderen  Zweck  entworfen  ist,  und  möchte  es  ganz 
isoliert  betrachten,  und  auch  H.  Lietzmann,  von  dessen  ruhiger 
Sachlichkeit  ich  immer  gern  lerne,  hält  es  für  kleinlich,  Bezie- 
hungen auf  das  Vorausgehende  in  dem  „Hohen-Liede  auf  die  Liebe" 
zu  suchen.     Ich  bin  anderer  Ansicht. 

Der  Brief  bietet  eine  Auseinandersetzung  mit  den  „Gnostikern" 
in  Korinth,  d.  h.  Leuten,  die  sich  als  Geistesträger  oder  Pneuma- 
tiker von  Paulus  unabhängig  fühlen  und  ihrer  unmittelbaren  Gottes- 
schau (yvwgk;)  rühmen  ^).  Bitter  bemerkt  der  Apostel  dagegen  „ge- 
wiß; Yvöoi?  haben  wir  alle;  aber  die  yvwoc?  bläht  auf;  nur  die  Liebe 
baut"-).    Beständig  klingt  die  Warnung  vor  dem  'xooioOoda'.  wieder 

1)  Die  Bedeutung  hat  Norden  in  seinem  großen  Buch  abschließend  erwiesen; 
V.  Harnacks  Festsetzung  (Sitzungsber.  d.  ßerl.  Ak.  1911  S.  138)  „die  Gnosis  um- 
faßt das  gesamte  Gebiet  des  Erkennens  in  den  drei  Reichen  des  Seins  sub  specie 
dei"'  ist  sprachwidrig;  wie  sie  gebildet  wurde  und  wie  wenig  sie  für  die  Stelle 
paßt,  für  die  v.  Hamack  sie  formulierte,  habe  ich  „Histcrria  monachornm  und 
Hisloria  Lausiaca"  S.  238  ff.  gezeigt. 

2)  K.  8.  1  oi8aij.ev  ort  TZ'hxti  Yvuicfiv  Ipfxev.  fj  yvoisi;  cpusiot,  ^^  hk  i'ciTJi  oixo- 
oofiEü    Ich  würde,  wenn  ich  yviöatj,    wie  v.  Hamack  betrachtete,   nicht  so  herab- 


\ro»h.-;/.v.t.>«     Di.:i 


396  R.  Keitzenstein, 

(4,  6.  4, 18. 19.  5,  2,  vgl.  3,  21).  Das  Thema  ist  vorher  schon  ange- 
schlagen; seine  eigentliche  Ausführung  folgt  in  dem  neuen  Teil 
Tcepl  ;cvED[i,att%(üv  (die  Greistesgaben,  auf  welche  die  Korinther  stolz 
sind)  ^),  Kap.  12  ff.  Wohl  sind  die  Geistesgaben  verschieden,  aber 
doch  ist  die  Gremeinde  ein  Leib  und  das  einzelne  Grlied  darf  sich 
nicht  über  die  andern  erheben,  ohne  die  es  doch  nichts  wäre.  Wie 
die  am  meisten  nach  außen  geschmückten  Grlieder  wohl  gar  nicht 
die  wertesten  sind,  mag  vor  Grott  mancher,  der  in  der  Gemeinde 
durch  kein  xap^<3[ia  hervortritt,  wertvoller  sein  als  die  Träger  der 
verschiedenen  /apiofjiaTa.  Wohl  soll  man  in  der  Kirche  sie  schätzen, 
und  zwar  ihrer  Wichtigkeit  und  Größe  nach  schätzen;  eine  Rang- 
folge wird  12, 28  aufgestellt  TrpwTov  octtootöXooi;,  ösorspov  TcpotpTJTac, 
tptTov  ÖLÖaaxaXooi;,  sTistTa  SDvd{istc,  sTrstta  ^^apto^ata  lafJiäTCöv,  avitXij^jL- 
tj;s'.?,  xoßepvTjaEt,?,  7^V7)  YXwaawv  (niedrigste  Gabe)  — ■  wir  erwarten 
als  Nachsatz :  aber  Gott  entscheidet  allein,  wer  für  ihn  wertvoller 
ist.  Statt  dieses  Nachsatzes  folgt  zunächst  die  Erinnerung,  daß 
eben  dieser  Verschiedenheit  halber  einer  nicht  aUe  Gaben  haben 
kann,  also  den  Besitzer  der  minder  geehrten  nicht  geringschätzen 
darf,  und  hierauf  die  Mahnung  12,31  CTfjXoöts  Ss  za.  j^api^tata  ta 
{jLstCova"  xal  In  xaO-'  ujrspßoXyjv  oSöv  6|jilv  8sixvo{it.  Es  folgt  das 
„Hohe-Lied  auf  die  Liebe";  dann  beginnt  Kap.  14  Stwxsts  xrjv  ctfä.- 
?nr]v,  C'/jXoÖTe  Ss  xa.  7rveD[xaTty.a,  [läXXov  8k  tva  Tcpo'fTjTsarjte.  Es  ist  die 
höchste  Stufe,  die  ihnen  zugänglich  isf).  Paulus  stellt  in  Gegen- 
satz zu  ihr  sofort  die  nach  seiner  Schätzung  niedrigste,  auf  welche 
die  Korinther  doch  besonders  stolz  sind,  die  Glossolalie,  und  be- 
gründet seine  Schätzung:  für  das  olxoSojisiv  leistet  die  Prophetie 
unendlich  viel  mehr ;  sie  dient  den  andern  (und  das  entspricht  der 
Liebe).  Der  Teil  schließt  sachlich  14,  39  wots,  äSsX^f  oC,  CtqXoöts  tö 
7cpo(pYjTSDeiv,  xal  tö  XaXsiv  [it]  xcoXoeTE  h  YXwaaatc  ^).  Der  Unterschied 

setzend  von  der  „aus  Kleinbürgern,  Sklaven  und  Frauen  zusammengesetzten  Ge- 
meinde" reden,  wie  er  jetzt  (S.  4)  tut. 

1)  Der  Titel  wird  12,1  angegeben  und  12, 4ff.  erklärt  (vgl.  auch  14,12). 
Die  Aufzählungen  erläutern  weiter,  was  Paulus  meint:  die  bestimmten  „Gaben", 
die  den  TrvEU(i.aTtx(5c  von  den  übrigen  Geraeinderaitgliedern  unterscheiden  (vgl.  14,37 
TipocpT^TTj;  ?j  7:veu|xaTt)co{,  Prophet  oder  überhaupt  Pneumatiker ;  der  Prophet  reprä- 
sentiert innerhalb  der  Gemeinde  die  höchste  Stufe).  Es  ist  falsch,  für  die  Deu- 
tung des  Folgenden  von  dem  Begriff  /apfafxaxa  auszugehen,  der  nur  sekundär  ist, 
und  dann  zu  erörtern,  ob  [at]  «puaioüaöat  u.  dgl.  „absichtlich  paradox"  auch  so  be- 
zeichnet werden  können,  während  Paulus  klar  angibt,  über  was  er  allein  handelt, 
und  selbst  Rangfolgen  aufstellt. 

2)  Das  Apostolat  ist  natürlich  ausgeschlossen ;  nur  um  die  eigene  Stellung 
zu  wahren,  hat  er  es  12,  28  erwähnt. 

3)  Zusatz  udvxa  o^  e6axrjpiöv(ut  xal  xati  xct'Stv  ^ev^aÖcu  (soweit  es  nämlich  in 
Ordnung  und  Anstand  geschehen  kann;  das  gilt  hauptsächlich  für  die  Glossolalie, 


die  Formel  „Glaube,  Liebe,  Hoffnung"  bei  Paulus.  397 

der  beiden  Imperative  zeigt,  daß  der  zweite  nur  eine  Konzes- 
sion bedeutet:  zwar  brauclit  ihr  dis  Zingeareden  nicht  za  ver- 
hindern^), aber  strebt  nach  der  Prophetie.  Genau  ebenso  gebaut 
und  gebraucht  ist  14, 1  Stwxete  t/jv  aYiic/jv,  Ct]Xo"3-s  8k  ta  zm[x%z:%i  : 
Paulus  gestattet  ihnen,  was  sie  jetzt  schon  tun  (vgl.  14, 12  izii 
CirjXdötai  iats  TrvsopLaTtüv,  bezw.  Ävsojxatixäv),  abar  noch  eifriger  sollen 
sie  der  Liebe  „nachjagen'';  das  ist  sein  Grebot.  Es  ist  also  klar, 
daß  die  Liebe  nicht  zu  den  Tcvsütiat'.xa  gehört-).  Weiter 
folgt,  daß  den  gleichen  Sinn  haben  muß  12,  31  ^rjXoürs  8k  ta  yj.pl's- 
(lata  td  {JLsiCova,  xat  su  xa^'  GsspßoXTjv  65öv  opiiv  Ssixrjjjit :  strebt 
ruhig  nach  den  yaptoixata.  freilich  nach  den  größeren,  aber  es  gibt 
einen  noch  höheren  Weg,  den  ich  euch  jetzt  zeige ^j,  oder:  es  gibt 

vgl.  V.  23  ff.,  natürlich  aber  auch  fui  die  größeren  Gaben,  ja  gibt  eine  Einschrän- 
kung selbst  für  die  Prophetie,  vgl.  v.  29  ff.). 

1)  Es  ist  ja  auch  ein  -/aptsiAa.  Paulus  wahrt  sich  ängstlich  vor  dem  An- 
schein ,  es  verbieten  zu  wollen  (vgl.  v.  5) ,  und  versichert  es  selbst  viel  zu  üben, 
nur  nicht  vor  der  Gemeinde  (v.  18). 

2)  Zwei  verschiedene  Interpretationsmethoden  scheiden  sich  hier,  eine  rein 
philologische  und  eine  nicht  in  der  „Theologie-,  wohl  aber  bei  theologischen  Sy- 
stematikern früher  übliche  und  daher  noch  jetzt  weit  verbreitete,  mit  herausge 
rissenen  Einzelstellen  zu  arbeiten.  Sie  zeigt  sich  am  besten  in  dem  gegen  die 
„Religionsgeschichtler" ,  d.h.  in  diesem  Fall  gegen  die  Philologen,  gerichteten 
Auslegungsversuch  v.  Harnacks  Sitzungsber.  d.  Berl.  Akademie  1911  S.  132  ff. 
Ich  kann  es  daher  nicht  vermeiden,  wenigstens  in  den  Anmerkungen  auf  ihn  ein- 
zugehen, freilich  ohne  auch  nur  annähernd  alles  zu  erwähnen,  worin  er  mir 
gegen  die  Forderungen  philologischer  Interpretation  zu  verstoßen  scheint.  Für 
v.  Harnack  ist  der  Ausgangspunkt  (S.  133):  die  höheren  Gaben  in  12,  31  können 
nur  die  sein,  welche  Paulus  an  einer  andernStelle,  nämlich  Gal.  5,  22  (siehe 
oben  S.  387)  als  Früchte  des  Geistes  bezeichnet  hat;  es  sind  die  christlichen 
Tugenden,  unter  denen  dort  auch  Liebe  und  Glaube  erscheinen,  freilich  als 
Gegensatz  zu  den  Werken  des  Fleisches,  den  Lastern.  Nach  dieser  dogmatischen 
Feststellung  muß  die  gauze  Deutung  sich  richten  und  gerät  in  unlösliche  Schwie- 
rigkeiten. Ich  bedaure  es,  so  lange  ich  Kap.  13  allein  betrachtete,  nicht  wegen 
der  Parallelstelle,  sondern  wegen  der  Urbedeutung  von  yicaiii,  die  ich  einseitig 
betonte,  selbst  an  Glaube,  Liebe,  Hoffnung  gedacht  zu  haben.  Die  Gedanken- 
entwicklung im  Gesamtverlauf  dieser  Kapitel  ist  auch  damit  zerstört.  Von  ihr 
muß  der  Philologe  ausgehen;  den  scheinbaren  Widerspruch,  daß  die  ;TV£'j[jiaTixa 
hier  ganz  andere  sind  als  dort  der  xaprö;  xoü  irveüfiato;,  erklärt  er  sich  leicht  aus 
dem  Zusammenhang  dort  und  aus  der  bekannten  Beobachtung,  daß  für  Paulus 
wohl  alle  Christen  den  Geist  empfangen  haben,  oder  besser,  unter  der  Wirkung 
des  Geistes  stehen,  dennoch  aber  der  7r*i£'j[xanxo«  bei  ihm  eine  besondere  Stellung 
unter  den  übrigen  Christen  einnimmt. 

3)  Von  Harnack  (134,2)  erklärt  dies  für  sprachlich  unmöglich;  dann  müsse 
statt  xai  ert  mindestens  stehen  j-i  U.  Ich  halte  dies  Sprachempfinden  für  irrig. 
Wird  das  logische  Verhältnis  zweier  Sätze  nicht  im  Gesamtbau,  sondern  in  der 
Nuance  der  Verba  oder  Substantiva  ausgedrückt,  so  kann  unterschiedslos  beides 
stehen.    Paulus   hätte  14, 1  ebensogut  sagen  können :    önüxete  ttjv  dydTTTjv  x  a  l  Ctj- 

97* 


398  ^-  Reitzenstein, 

noch  etwas  Höheres,   was  ich  euch  jetzt  lehre  ^).     Er  hätte  gleich 
sagen   können    Ct^Xodte   8h  za.  /apiojjLata   ta   {istCova  xal   Sköxete   ttjv 


Xoöxe  Ta  TtvsufxaTtxa,  wie  er  ja  14,39  wirklich  sagt:  C'»]^oÜTe  to  ^tpotpTjTe'jeiv  •/. al  to 
XaXeiv  yXwaaatj  fXTj  xcuXüexe.  Gewiß  hätte  er  12,31  sagen  können  CtjXo-jte  tol  -/ct- 
pi'afxata,  Siioxexe  SJ  xö  ext  uTrepßaXXov  abzd,  8  ü(j,äi  6t8d6u>.  Aber  die  Angliederung 
an  den  vorangehenden  Gedanken  hat  schon  eine  Adversativpartikel  verlangt  (eifert 
aber  trotzdem  immerhin  nach  den  /apfsf^axa,  und  zwar  nach  den  höheren;  die 
Beschränkung  ist  ähnlich  wie  14, 1  CtjXoüte  Ss  xd  7:v£U(i.axtxct ,  p.äXXov  5e  tva  rpocpr^- 
xE'JTjxe  und  14,  5  %iXm  oe  üfjiäi;  XaXsTv  yX^aactts,  piäXXov  8s  ?va  TcpocpTjxe'iTjxe ;  da  hier  sofort 
folgt  fiefCwv  81  6  TrpocpTjxe'jwv  I^  6  XaX&v  yXobaaat;  und  vorher  12, 27  eine  feste 
Rangfolge  angegeben  ist,  kann  trotz  v.  Harnacks  Einspruch  12,  31  nur  xd  fxetCova, 
nicht  aber  xd  xpet'xxova  stehen);  daher  sagt  er  hier  noch  passender  xai  ö  ext  bnep- 
ßdXAet  auxct,  upiTv  Befxvupii  und  bereitet  dadurch  14,  1  8ia)xexe  xtjv  d-jd-rzi]^  vor.  Den 
gewollten  Parallelismus  der  drei  Verse  12,  31 ;  14,  1  und  14,  39  zerstört,  wer  in 
dem  ersten  xd  x«pta[j.axa  xd  [xefCova  auf  irgend  welche  Tugenden  bezieht.  Den 
Grund,  den  v.  Harnack  gegen  die  Beziehung  auf  die  soeben  in  Rangfolge  aufge- 
zählten echten  Charismen  anführt,  man  könne  doch  nicht  von  ihnen  sagen  C^- 
Xoüxe;  Gott  gebe  sie  doch,  wem  er  will  (12,11),  verstehe  ich  nicht.  Trotzdem 
kann  man  um  sie  bitten  und  nach  ihnen  streben ,  und  14, 1  heißt  es  doch  tat- 
sächlich C^jXoüxe  .  .  .  iva  7rpocp7)xe67jxe,  14,  12  C^^Xtütaf  ^axe  7:veu(i.ctx(uv  (oder  TrveufAaxt- 
xojv)  14,  39  Ci'jXoüxe  x6  Tipocpr^xsueiv. 

2)  Ob  in  6o6v  Se^xvujxt  die  sinnliche  Bedeutung  noch  voll  empfunden  wird, 
kann  niemand  sagen,  vgl.  4,  17,  wo  Paulus  von  Timotheus  sagt  ö;  üpid;  dvapivi^aei 
xdc  680Ü5  (jLO'j  xdc  Iv  Xpt(Jx(ii  xc(t)(u;  Tiavxaj^oü  i^  Tcda-^  ^xxXT]a(a  StSdaxw  oder  bei- 
spielsweise Xenophanes  fr.  6  Hiller  vOv  aux  dXXov  STtetpn  Xöyov  8e($ü)  51  xfXeu&ov 
(vgl.  den  folgenden  Inhalt  des  Xrlyo?).  Von  den  drei  Hauptfragen,  die  v.  Harnack 
stellt  (Was  ist  unter  den  höheren  Gnadengaben  zu  verstehen?  Wie  kann  der 
Inhalt  des  Kap.  13  als  „Weg"  bezeichnet  werden?  Gehört  xa&'  'jTcepßoXrjv  als  ad- 
jektivische Bestimmung  zu  68dv  oder  als  adverbielle  zu  dem  Verbum?)  ist  die  erste 
falsch  beantwortet,  die  zweite  falsch  gestellt,  die  dritte  von  ihm  selbst  nicht  ent- 
schieden. Von  der  Voraussetzung  ausgehend,  daß  dfdr.ri  und  Trfaxtc  zu  den  jiveu- 
jjiaxtxd  zählen  müssen,  also  „paradox"  auch  ■/aplait.a'ca  heißen  können,  sagt  er 
(S.  134),  wenn  alles,  was  in  cap.  12  genannt  sei,  nicht  zu  den  höheren  gehöre, 
80  müsse  jeder  Hörer  wissen ,  was  für  diese  nur  übrig  bleibe.  Daher  heiße  xat 
Iti  „und  zum  Überfluß".  Das  ist  hier  sprachlich  unmöglich.  Er  folgert  weiter, 
der  Weg  sei  die  Liebe,  also  sei  der  Weg  „ganz  wörtlich  zu  verstehen".  Ich  sehe 
die  Folgerung  nicht  ein,  noch  weniger  freilich  die  Voraussetzung.  Ist  die  Liebe 
nur  der  Weg  zu  den  „höheren  Gaben",  so  kann  sie  doch  nicht  selbst  im  Schluß 
von  Kap.  18  als  das  Höchste  bezeichnet  werden.  Zwar  v.  Harnack  erklärt  dies 
ausdrücklich  (134,3)  im  Sinne  des  Apostels  für  möglich;  aber  die  ganze  Schei- 
dung zwischen  Weg  und  Ziel  hat  doch  nur  Sinn,  wenn  das  Ziel  das  Wichtigere 
ist.  Was  soll  ferner  dies  Ziel  sein?  Man  würde  zunächst  dann  an  Glaube  und 
Hoffnung  denken,  aber  v.  Harnack  sagt,  es  ist  „der  Chor  negativer  und  positiver 
Tugenden",  die  13,  4 — 7  genannt  sind.  Also  ob  7:ep7:epe'jeaöat,  ou  cpyatoOc[{)at  u.  s.  w. 
sollen  die  yap(a|Aaxot  fj-e^Cova  sein !  Dann  ist  der  Bau  des  Hymnus  und  sein  Schluß 
geradezu  unverständlich  I  Aber  weiter :  der  Artikel  vor  68(5v  soll  auffälliger  Weise 
fehlen ;  es  handele  sich  ja  um  den  allen  bekannten,  den  einzigen  Weg ;  zudem 
findet  V.  Harnack,   daß   xaö'  ÜTTepßoXi^v   sich   nur  dann   leicht  mit   ö8ov  verbinde. 


die  Formel  „Glaube,  Liebe,  Hoffnung"  bei  Paulas.  399 

aYocTOjv,  führt  aber  dies  höchste  Gebot  zunächst  in  geheimnisvoller 
Weise  ein,  um  erst  am  Schluß  die  Mahnung  5'.(üX£T£  tyjv  aYaxrjv  zu 
bringen.  Man  könnte  in  einem  gewissen  Sinne  von  einem  chiasti- 
schen  Bau  der  Einleitnngs-  und  Schlußformel  reden.  Der  Sinn  der 
ersteren  muß  sein:  etwas,  was  über  alle  •/jxpia^'xza  hinausführt, 
will  ich  euch  lehren.  Hieran  knüpfen  die  nächsten  Worte  (Kap.  13) 
und  führen   aus:   alle  '/cupio^cLZT.  sind  vor  Gott   wertlos   ohne  die 


Aber  wir  hören  dabei  zugleich,  Bengel  werde  wohl  Recht  haben,  Paulos  wolle  die 
Korinther  spannen;  übrigens  fehle  es  auch  an  Beispielen  für  nachlässigen  Weg- 
fall des  Artikels  nicht.  Ich  würde  bei  dieser  Deutung  den  Artikel  unter  allen 
Umständen  für  nötig  halten;  aber  ich  sehe  nicht,  wodurch  sie  eigentlich  verlangt 
wird.  Clemens  Alexandrinus  (Quis  dives  scUv.  38)  versteht  ö5o«  auch  sinnlich, 
deutet  aber  nach  dem  Zusammenhang  ö8öv  ItzX  au)TTjp{av,  vielleicht  noch  nicht  scharf 
genug,  jedenfalls  aber  so,  daß  das  Vorausgehende  die  Erklärung  bietet;  zu 
der  "Wertung,  der  Schätzung  bei  Gott  suchen  die  Korinther  zu  kommen,  sie  freilich, 
indem  sie  von  den  rvE'j,ac[ttxa,  und  zwar  gerade  von  dem  niedrigsten,  ausgehen;  da 
wäre  das  höhere,  die  Prophetie,  schon  besser;  aber  Paulus  weiß  einen  noch  vor- 
züglicheren Weg.  Damit  sind  wir  zu  der  letzten  Frage  gekommen.  Von  Harnack 
hält  es  für  möglich  xaö'  ü-epßoXifjv  mit  ocixvuat  zu  verbinden ,  lehnt  die  Deutung 
..zum  Überfluß"  ab,  weil  er  sprachwidrig  dies  schon  in  %a.\  l-n  findet,  kann  sich 
für  eine  andere  Deutung  „in  ausgezeichneter,  weil  ihres  Erfolges  sicherer  Weise" 
nicht  reclit  erwärmen  und  will  dann  lieber  eine  Ankündigung  der  hinreißenden 
hymnischen  Form  des  nächsten  Kapitels  darin  sehen ,  die  freilich  m.  E.  deren 
Wirkung  von  vornherein  aufheben  müßte ;  er  übersetzt  „in  hoher  Rede''.  Ich 
fürchte,  daß  xolW  jrspßoXrjV  das  nie  heißen  kann.  Nach  den  Rhetoren  ist  ürrep- 
ß&/.T|  eine  opaat;  y-cpaipo'jsa  ttjv  äX/jÖeiav  a'j;rj5£(u;  7,  LUtiosecu;  X^P'"'*  ^^^^  Paulus 
hier  wirklich  sagen:  den  Weg  will  ich  euch  in  Hyperbeln  zeigen?  Auch  v.  Har- 
nack meint  schließlich,  es  sei  wohl  besser  xaft'  ujtepßoXTjv  ö5ov  zu  verbinden;  aber 
eine  Deutung  bietet  er  nicht.  Wir  müssen  dafür  wohl  von  l-:t  ausgehen ,  das 
bisher  unerklärt  blieb ;  was  es  bei  Steigerungsbegriffen  (oeivo;  —  In  oeivorepo;)  be- 
deutet, ist  bekannt.  Und  •J::epßoXi^  enthält  ja  den  Steigerungsbegriff,  t6  xa&'  uTtep- 
ßo/.7]v  ist  die  Bezeichnung  des  Superlativs  bei  Aristoteles;  oj  xaTocXef-exat  ürepßoX^ 
u.  dgl.  ist  bekannt  Dem  Positiv  gegenüber  drückt  es  den  höheren  Grad  aus  (Dem. 
XIX  66  -il»;  yap  o'jx  «(aypov,  [j.ä?J.ov  o'  ei  -i;  ?3Ttv  üreppoXr)  tojtcj),  einem  Kompa- 
rativ gegenüber  hebt  es  die  noch  höhere  Steigerung  hervor,  vgl.  Euripides  fr.  494  N' 
tt);  [aIv  -AOLxf^i  xaxtov  oüoiv  yi^vETat  fj^iix^i,  i3&Xfj;  o'  oöo£v  £(;  'J-EpßoXrjv  -if^x 
afjLEivov,  und  wenn  derselbe  Dichter  fr.  282,4  sagt:  -üi;  Ydp  oaTt;  est  dvTjp  pdöo-j 
T£  ooüXo;  '/Tjojo?  8'  i?j337jjiivoc  -/.vfiaaiT^  av  oXßov  dz  unepßoXijv  itarpdc,  SO  werde  ich  kaum 
fragen,  ob  hier  oXßov  £{;  'jireppoXi^v  zu  verbinden  ist  (piEiCova  rXoürov,  natürlich  ohne 
Artikel)  oder  ob  tii  'jrEpßoXrjv  -atpo;  zu  dem  ganzen  Begriff  (oXßov  xrf^sai-o  aäW.ov 
-zo'j  r.'x-p6i)  gehört.  Es  ist  bei  Paulus  nicht  anders  (zu  --ta&' ürEpßoXrjv  ist  ein  Ge- 
netiv T(Lv  yaptsfxdxiuv  hinzuzuhören)  und  die  Deutung  gewiß  nicht  unbekannt ;  aber 
so  lange  uns  im  Neuen  Testament  noch  derartige  Interpretationen  vorgelegt  werden, 
die  sichere  Sprachbeherrschung  und  scharfes  Erfassen  der  Gedankenzusammen- 
hänge ganz  vermissen  lassen,  hat  der  Philologe  die  Pflicht,  auch  seine  Auffassung 
darzulegen.  Je  früher  der  allgemeine  Fortschritt  der  Methode  ihn  davon  entbindet, 
um  so  besser  für  ihn. 


400  K.  Reitzenstein, 

Liebe,  alle  Leistungen  vor  Grott  nichtig  ohne  sie.  Das  heißt 
also :  der  Nachsatz,  den  ich  oben  (S.  396)  nach  12, 28  erwartete 
(Sinn:  aber  Gott  allein  entscheidet,  wer  für  ihn  wertvoller  ist), 
wird  in  Kap.  13  gegeben:  aber  vor  Gott  hat  nur  die  Liebe  Wert. 
Der  äußeren  Verklammerung  durch  die  einführenden  Formeln  ent- 
spricht also  der  Gedankengang;  nie  kann  Kap.  13  an  dieser  Stelle 
gefehlt  haben.  Es  enthält  die  stärkste  Mahnung  oder,  wenn  man 
will,  Polemik  in  der  Form  begeisterter  Rede.  Der  Apostel,  der 
in  demselben  Zusammenhang  von  sich  sagt  (14,  19),  er  wolle  vor 
der  Gemeinde  lieber  fünf  Sätze  in  vernünftiger  Überlegung  als 
zehntausend  in  „Zungen"  reden,  wird  durchaus  nicht  willenlos  von 
der  starken  Empfindung  fortgerissen^);  er  will  seine  innerste  Über- 
zeugung in  einer  Form  ausströmen,  daß  sie  dem  Hörer  dem  Ein- 
druck der  Prophetie,  des  unmittelbar  von  Gott  Empfangenen, 
erweckt''^),  aber  er  behält  das  Ziel,  das  er  erreichen  will,  klar  vor 
Augen.  Damit  haben  wir  das  literarische  y^vo?^). 
Der  Text  lautet: 

(CiTjXoÖTs    ta   ycupia^iaza   xä    ^etCova,    xai   su  xa-ö-'  OTuepßoX'^jv  ö3öv 
ü(jIv  Ssixvoiii). 

I  (1 — 3)  'Eav  Tai?  fXa)OGatc  täv  äv^pwxwv  XaXw  xal  twv  aYYsXwv, 
(iY<5i7C7jV  8h  [lY]  ^x^t  T^TOVO'  yaXv.bi  Tj^^wv  t)  xö{ißaXov  aXa- 
XACov.  xal  lav  s^w  7rpo(pTf]Tsiav  xal  slSw  ta  [JLDOtYjpia  Tcavta 
xal  TTäoav  r^v  yvwoiv^),   xal  lav  l/w  juäoav  ttjv  Trtattv  wate 


1)  Er  sagt  in  demselben  Zusammenhang  (14,  32)  -/a\  7rve6[i.c(Ta  rpocpr^xdiv  -po- 
^T^xat;  ÜTTOTctaaeTat. 

2)  In  der  Gemeinde  folgt  auf  die  Prophetie,  die  pneumatische  oder  gottbegeisterte 
Kede  des  Einzelnen,  das  Staxpfvetv  oder  dvaxptveiv  oder  iTitxpfveiv  durch  andere  Pneuma- 
tiker (14,  29).  Auch  Paulus,  der  an  die  Verlesung  des  Briefes  denkt,  verlangt  es 
gegen  Ende  seiner  Darlegungen  für  sich,  14,  37  ei  Tt«  SoxeT  rpocp/j-o)?  elvai  r)  ttve-j- 
f/Laxtxo?,  dTrqtvüjax^tto  öt  Ypatptw  Ü[aIv  6'xt  xup^o'j  iaxfv,  s{  8^  xt;  äiyvoei,  öyvoei'xio.  Eine 
Instanz  gibt  es  ja  dann  nicht  mehr,  und  Paulus  vertraut  darauf,  daß  die  Hörer 
es  an  der  ganzen  Gewalt  der  Rede  spüren  müssen;  wer's  nicht  empfindet,  soll 
ihm  gleichgiltig  sein.  Die  Worte  gehen  nicht  auf  die  unmittelbar  vorausgehende 
Verordnung  über  die  Weiber,  sondern  auf  den  ganzen  geschlossenen  Teil  und 
besonders  auf  Kap.  13.  Was  Paulus  unter  Prophetie  versteht,  zeigen  die  beiden 
Kapitel.    Wir  dürfen  den  Begriff  nicht  bloß  aus  Ilermas  ableiten. 

3)  Weiß  S.  311  müht  sich  vergeblich  um  die  Bestimmung;  v.  Harnack  153,4 
bietet  nur  die  Definition :  es  ist  nicht  Poesie  in  strengem  Sinn ,  sondern  Rede, 
die  frei  hervorgesprudelt  ist,  „was  jedoch  die  Anwendung  einiger  einfachen  Kunst- 
mittel nicht  ausschließt", 

4)  Die  Versuche  v.  Ilarnacks  zwischen  „Mysterien Weisheit""  oder  ,,Mysterien- 
erkenntnis"  und  Gnosis  zu  unterscheiden,  hoife  ich  „Historia  tnon.  und  Hist.  Laus." 
8.  252  widerlegt  zu  haben ;  es  handelt  sich  nur  um  ein  Kennen  der  Geheimnisse ; 
zu  yvüatv  ergänzt  man  leicht  fx^* 


die  Formel  „Glaube,  Liebe,  Hoffnung"  bei  Paulus.  401 

6'pTj  {isdiotäveiv,  (XYaTCirjv  5s  jjltj  £Xo>,  oodsv  d^i.  xal  eav 
«l<(ö{tio(ü  iravta  ta  oTcap^^ovtcx  [xoo  %al  lav  «apaSw  tö  otöita 
{too   ?va   xaoO-Tfjoofiat ^),    afaTCYjv   8s    {iTj  ix**'    o^^s'-'    ö>»s- 

n  (4 — 7)  1^  a^anr]  {taxpodoji-si,  xp'i']a'C£ÖETai,  i^  a^axT]  oo  CTjXoi,  i^  otYajn]  oo 

irepTcspsöstai  ^),  oö  ^ooioötai,  oox  acsyrri^oyzl,  oh  CiQtsL  ta  lau- 
T^C^,  00  Tiapo^ovstai,  o6  Xo7tCeta'.  tö  xaxöv,  oö  -/a'lpsi  ItcI 
r^i  aSixi'c^,  oo7X«tpst  Ss  t^  aXirj^sicj,  ;:dvTa  ot£Y5'>>  ^tavia  ;ti- 
OTEÖsi,  Trdvta  IXiriCet,  reavta  oTCOfxsvei. 

TII(8 13)f^    «YaTTT]     O&SSTTOTS     6  XT:  t  TTT  6  l  *)  *     SITE    Sk    TTpOCpTjTEiat,     X«- 

TapfYj^T^oovTai,    SITE  YXwooai,  Tcaöoovtai,  eits  YVö'Jtc 


1)  Für  die  Variante  xa'j/T,<S(a[iai  tritt  v.  Harnack  ein,  indem  er  sie  bei  Clemens 
Alexandrinus  freilich  erst  gewaltsam  und  mit  Scheingründen  einsetzt,  bei  Clemens 
Romanus  aber  falsch  erschließt.  Ich  denke ,  sie  hat  hier  kein  Recht ,  auch  wenn 
das  Wort  xauyäaöat ,  wie  er  hervorhebt ,  55  mal  bei  Paulus  vorkommt.  Seine 
Gegengründe  gegen  die  Vulgata  scheinen  mir  schwach.  Es  soll  sich  dabei  um 
einen  Verbrennungstod  als  Aufopferung  für  andere  handeln.  Ich  verstehe  es  im 
Gegenteil  von  einer  Leistung  an  Gott;  denn  nur  um  die  Schätzung  bei  Gott 
handelt  es  sich  in  dem  Zusammenhang  (die  wieder  aufkommende  Deutung  „wenn 
ich  mich  als  Sklave  verkaufen  verließe"  ist  sachlich  und  sprachlich  unmöglich).  Wenn 
er  sagt,  die  Stelle  Daniel  3,  95  zap^otuxav  za  atöixaxa  a-j-wv  et;  iaruptafiov ,  7va  (atj 
XaTpeÜ5ü>ai  [irfil  -poax'jv/,atu3t  %i(ji  e-epu)  könne  gerade  dem  Interpolator  vorgeschwebt 
haben ,  Paulus  brauche  nicht  an  sie  zu  denken ,  in  der  Zeit  der  Martyrien  möge 
die  Interpolation  entstanden  sein,  so  ist  das  die  Argumentation,  die  Kötschau 
einst  gegen  Wendland  verwendete.     Der  Zusammenhang  muß  entscheiden. 

2)  Von  Harnack  interpungiert  nach  anderen  i,  iyiTzri  ixaxpo8y(XET,  /pTjSTe-kTat 
fj  ^YotTTi],  ou  CTi^ot  ^  d-fiirq  ou  TrEOTrepeüeTat ,  erklärt  in  der  Anmerkung  aber  auch 
obige  Interpunktion  für  möglich.  Ich  halte  den  Chiasmus  hier  nicht  für  „kräftig", 
sondern  für  geziert  und  das  Asyndeton  bimembre  im  Anfang  sogar  für  trefflich, 
habe  dagegen  große  Bedenken  gegen  die  nicht  besonders  bezeugte  Wiederholung 
des  Subjekts  vor  oö  Treprepe-jETai. 

3)  Die  schwach  bezeugte  Variante  oj  CtjTeI  tö  ar,  iaurf,;  verteidigt  v.  Harnack 
als  möglich ,  ja  eigentlich  besser  dadurch ,  daß  das  geläufige  za  eauTf^;  leicht  ein- 
gesetzt werden  konnte  und  xö  {atj  laurr,;  dem  Paulus  nicht  fremd  sei;  er  sage  ja 
II.  Kor.  12,  14  OJ  Yctp  t^r^-zG)  -rä  •jfx(i)v(!).  Vollständig  heißt  der  Satz  oü  ydp  ^t^-:(ü  -zi 
öfJKüv,  i}lä  'jfAcii ,  paßt  also  in  keiner  Weise.  Ebensowenig  der  Grund ,  daß  die 
andern  Verba  sämtlich  ein  Verhalten  der  Liebe  nach  außen,  bzw.  zu  andern,  aus- 
drücken. Entscheidend  ist  wohl,  daß  Paulus  gerade  in  der  Polemik  gegen  die 
Gnosis  I.  Kor.  10, 24  sagt  p-T^oeU  t6  eauToü  CTT^e^'t"  tind  10, 33 ,  wo  er  sich  als 
Muster  anführt,  xa8(b;  xd^w  rav-ca  -äsiv  äpesxtu  {xtj  C^j'^w^  fö  ifiauToO  sju^opov, 
dXXa  TÖ  T&v  -o}l(L\,  hoL  cu)8ö»3iv.  Nur  das  ist  wirklich  Beschreibung  der  Liebe 
(vgl.  auch  Kap.  8).     Negative  Tugenden  und  Charismen  kenne  ich  nicht. 

4)  Die  Argumente,  mit  denen  Job.  Weiß  die  Variante  riTrret  verteidigt,  sind 
gewiß  schwach;  das  Gegenargument  v.  Hamacks,  I-a-Attzzi  sei  „schwieriger",  freilich 
noch  schwächer.  Mir  scheint  es  den  Begriff  des  Verlierens  oder  Beraubtwerdens 
besser  zu  geben. 


402  ^-  Reitzenstein, 

v.cLzap'^rid-riOBxai^).  Ix  {Aspoo?  5s  Y^vwoxofiev  xal  Ix 
[jLspoo?  TcpofpYjTsoojisv,  otav  Ss  SX'&'J]  TÖ  TsXsiov,  TÖ  Ix  [A^pODi; 
v.azap'Cfid-rioezai.  ots  7J[i-7]v  vifjTCtoc,  IXdXoov  w?  vtjtcio?, 
I'f  pövoov  w?  VKjTrto?,  IXoYiCöP'T'jV  ü)?  VTjTrio?  •  OTE  Y^^ova  avT^p, 
xaTTf^pYYjxa  ta  tod  vyjtcioo.  ßXs7:o{i£v  y^P  ap^^  St'  koözzpon  Iv 
atviY[i.au^),  töte  Sfe  TcpöatöTrov  ;:pös  TcpöowTcov  apu  •^iv&ov.oa  Ix 
(jispooc,  TÖTE  Ss  sTciyvcboofiai,  xtt'&üx;  xal  iTrsYVwoO-Tjv.  vovl  Ss  [i^vst  ^) 
Tctattc,  sXTti'c,  ocYaTUY],  tä  tpi'a  taüta*  (xsiCwv  8h  todtwv  y]  aYaTTTj. 

(StcbXETS    TYjV    aYaTUYjV,    ClfjXoÖTS    Ss   TOC    TCVSDjJLaTlxd). 

Der  erste  und  zweite  Teil  bedürfen  weniger  Worte.  Um  di» 
7rv£0{iaTixa,  also  die  ^apto{iaTa,  handelt  es  sich.  Von  dem  seiner 
Ansicht  nach  kleinsten,  von  den  Korinthern  freilich  am  höchsten 
bewerteten  geht  er  aus ;  hätte  ich  es  in  höchster  Vollendung  — 
er  sagt  noch  nicht  „ich  wäre  nichts" ;  das  wäre  ungeschickt ;  son- 
dern bezeichnet  sich  dann  nur  als  lärmendes  Instrument  mit  wir- 
rem, eitlen  Schall;  erst  bei  der  nach  ihm  größten  Gabe,  der  Pro- 
phetie,  gibt  er  das  Urteil  od^sv  sljii.  Für  wen  gilt  das?  Sicher 
nicht  für  die  Gremeinde,  sondern  für  Grott;  der  Gredanke  schließt 
sofort  an  12,  23. 24 :  Grott  gibt  vielleicht  auch  in  dem  Leib  der 
Gemeinde  dem  innerlich  werteren  Glied  die  geringere  Hülle  und 
schmückt  das  für  ihn  wertlosere  äußerlich.  Trotz  aller  yjxpio'^azix 
kann  man  ohne  die  Liebe  ein  Nichts  für  ihn  sein'*).  Hiemach  be- 
stimmt sich  der  Sinn  des  dritten  Gliedes.  Es  kann  nicht  bedeuten, 
wenn  ich  um  der  andern  willen  meine  Habe  zerstückele  ohne 
Liebe  —  das  wäre  ein  seltsamer,  ja  für  Paulus  unnatürlicher 
Gedanke  — ,  sondern,  wenn  ich  um  Gottes  willen,  d.h.  um 
ein  Verdienst  vor  ihm  zu  haben,  die  äTcÖTaSi?  vollziehe^),  ja  selbst 

1)  Von  Harnack  erklärt  die  Variante  yvujaet;  7.aTapyrj»}i^aovTat  dem  Sinne  nach 
für  notwendig  und  erklärt  dies  später,  es  sei  durch  dx  fx^pouj  YtvwaxofAev  erfordert. 
„Von  der  yvöist?  hätte  der  Apostel  nicht  gesagt,  daß  sie  aufhört".  Das  hängt 
mit  seiner  sprachwidrigen  Deutung  des  Wortes  zusammen;  aber  in  der  Tat  muß 
aus  dem  Zweck  des  Ganzen  beurteilt  werden,  ob  Paulus  im  allgemeinen  die  Yvcüat; 
als  yotptOfAa  unter  die  Liebe  stellen  will,  oder  die  einzelnen  Offenbarungen.  Für 
ersteres  wird  wohl  schon  jetzt  Kap.  8  sprechen.  Auch  hier  bedaure  ich,  zunächst 
ihm  wegen  des  Plurals  irpocpTjxetai  gefolgt  zu  sein.  Hier  wäre  einmal  die  Frage, 
was  die  lectio  difficilior  sei,  am  Platz  gewesen. 

2)  Die  falsche  Verwendung,  die  v.  Harnack  S.  166  von  diBsem  Worte  macht, 
hoffe  ich  a.  a.  0.  S.  253  zurückgewiesen  zu  haben;  von  einer  Benutzung  des  he- 
bräischen Pentateuchs  kann  m.  E.  nicht  die  Rede  sein. 

3)  Über  die  Deutung  der  Worte  vuv(  und  (x^vet  siehe  unten. 

4)  Die  «rsten  beiden  Glieder  nennen  alle  wesentlichen  /api^f^ata.  Also  ist 
die  nfatt;  nicht  dasselbe  wie  in  v.  13,  sondern  das,  was  12,28  ojvajAi;  heißt,  vgl. 
12,  9.     Dort  gehört  sie  ja  zu  den  irveufiaTixct. 

5)  Daß  sie  bei  den  Juden,  wie  natürlich  auch  bei  den  Christen  schon  üblich 


die  Formel  „Glaube,  Liebe,  Hoffnung"  bei  Paxüus.  403 

wenn  ich  mein  Leben  für  ihn  und  seinen  Xamen  lasse,  vor  ihm 
habe  ich  keinen  Nutzen  davon.  Nur  auf  den  himmlischen  Lohn 
kann  sich  das  ooSev  (bfpsXoöjtai  beziehen.  Der  fromme  Jude  glaubt 
ja.  wer  „um  des  Namens  willen"  gestorben  ist,  erwerbe  größere 
Seligkeit,  und  die  Christen  der  ürgemeinde  glauben  es  auch  (vgl.  den 
nächsten  Aufsatz  in  diesen  Nachrichten).  So  haben  die  Mäuner  im 
feurigen  Ofen  für  Gott  leiden  wollen;  mit  Recht  wird  auf  den  Daniel- 
Spruch  verwiesen.  Die  Variante  Tva  x,aDyf^a(ö{j.ai  gibt,  selbst  wenn 
man  -/.aoyäad-ai  als  „mit  Grund  sich  rühmen''  erklärt,  neben  dem  ein- 
zig betonten  ä-fäTcr^v  Se  \i.r^  syo)  etwas  Überflüssiges,  ja  Störendes,  und 
der  Gedanke,  daß,  wer  gestorben  ist,  sich  brüsten  kann,  ist  wenig 
ansprechend  (dann  wäre  ein  Passivum  ,,um  gerühmt  zu  werden'" 
immer  noch  besser).  Handelt  es  sich  aber  um  den  Tod  als  Lei- 
stung an  Gott  (den  Bekennertod),  so  ist  von  Anfang  an  eine 
doppelte  Bedeutung  von  ö.fi■;rr^  sicher.  Der  zweite  Teil  freilich, 
der  nun  eine  mahnende  Schilderung  der  Liebe  gibt,  beschreibt  sie 
zugleich  als  Nächstenliebe;  sieben  positive  und  sieben  negative 
Aussagen  sind  mit  höchster  Kunst  in  einander  verwoben,  und  natür- 
lich enthalten  die  negativen  besonders  die  Anspielungen  auf  die 
früher  gerügten  Schäden  der  Gemeinde ').  Daß  in  den  Worten 
zavta  z'.OTäös'.,  ravta  IXriCs'-  ^ine  Erinnerung  an  die  Formel  „Glaube, 
Liebe,  Hoffnung"  liegt,  werde  ich  dabei,  gerade  wenn  hier  wieder 
von  der  Nächstenliebe  die  Rede  ist,  nicht  annehmen  dürfen.  Sie 
verhüllt  die  Fehler  des  Mitbruders,  glaubt  von  ihm  alles,  hofft 
von  ihm  alles  und  erträgt  von  ihm  alles.  Li  der  Formel  sollte 
ich  doch  mindestens  tciot'.?  und  zkz'k;  auf  Gott  und  Göttliches  be- 
ziehen dürfen. 

Die  Schwierigkeiten  beginnen  in  dem  dritten  Abschnitt.  Zwar, 
daß  in  dem  ersten  Satze  die  sich  entsprechenden  Verba  h.zizz&t 
oder   izlimi,   xatapYTj^TJaovtai,   icaooovtai,    xatapYT^OTjasTai  ^)    sich   auf 


ist,  habe  ich  a.  a.  0.  S.  104  erwiesen.  Bei  Phüo  in  der  Schüderung  der  Therapeuten 
erscheint  sie  wirklich  nur  als  Leistung  und  nicht  durch  die  Liebe  begründet. 

1)  Zu  oj  C^jXoI  vgl.  3,  3  oTTO'j  fip  iv  jfxtv  C^j'-o;  xai  Ipt;,  zu  o-j  cpuaioütat  vgl.  oben 
S.  395,  zu  d<T/Tj\j.o\tl  Kap.  14,  zu  TrepTTEpeieTat  ebenda,  zu  Ct^^tsI  tä  eaurf^;  6,1.  zu 
yatoci  T^  ö?ixta  6, 8.  Das  sind  nicht  „Beziehungen"  im  eigentlichen  Sinn ,  aber 
die  Erinerungen  an  die  Schäden  in  der  Gemeinde  bestimmen  die  Schilderung. 

1)  Von  Harnack  fällt  S.  148,3  das  harte,  seinen  sonstigen  Äußerungen 
widersprechende  Urteil:  „Feineres  griechisches  Sprachgefühl  fehlte  dem  Apostel  in 
hohem  Maße,  sonst  hätte  er  nicht  v.  8  xa-zcLpyr^^^ao^xT.i  .  .  .  raiiovrat  .  .  .  xaxappj- 
8T,aovT:o(i  schreiben  können  (dazu  die  Wiederholung  von  xa-ap7.  in  v.  10  u.  11). 
Sachlich  war  der  Wechsel  an  der  2.  und  die  Wiederholung  an  der  3.  Stelle  an- 
gezeigt und  das  genügte  ihm".  Ich  möchte  in  dieser  Sache,  bei  der  es  sich  nicht 
um  Sprachgefühl,  sondern  Rhetorik  handelt,  den  Apostel  verteidigen,  der  sie  sehr 


404  R-  Reitzenstein, 

den  Tod,  bezw.  die  Parusie^),  beziehen,  wird  man  kaum  bestreiten; 
zu  klar  sprechen  dafür  die  Worte  otav  zkd-^  xb  tsXsiov  und  töts  8k 
jupöotüTTOv  TzpoQ  TTpöowTuov.  Schon  die  Kirchenväter  deuten  so.  Dann 
aber  scheint  mir  unbedingt  notwendig,  daß  in  dem  Schlußsatz 
{tsvet  positiv  das  ausdrückt,  was  in  dem  Eingang  negativ  durch 
ODX  IxTctTCTst  wiedergegeben  war.  Von  hier  ging  von  jeher  meine 
Betrachtung  dieser  Stelle  aus,  und  ich  lese  mit  einigem  Erstaunen, 
daß  V.  Harnack  (S.  5)  ,, erstaunt  fragt",  ob  ich  denn  vergessen 
habe,  daß  der  Apostel  unmittelbar  vorher  das  aufgezählt  hat,  was 
,, vernichtet"  werden  wird,  also  notwendig  dem  gegenüber  auf  den 
Begriff  ,, Bleiben"  für  die  Gnadengaben  des  Glaubens,  der  Liebe 
und  der  Hoff'nung  geführt  war.  Ich  hatte  doch  gerade  für  den 
den  Gegensatz  von  xaTapYgiotl-at,  und  tisveiv  S.  250  auf  IL  Kor.  3, 11 
el  Y&p  xb  %aTapYo6[JLevov  8iä  Sö^ttjc,  7coXX(j)  jxäXXov  tö  [xdvov  Iv  Sd^if]  hin- 
gewiesen, denselben  Gegensatz  auch  hier  wiederfinden  wollen  und 
gegen  v.  Harnacks  Deutung  der  Stelle  polemisiert,  der  vuvt  auf 
das  diesseitige  Leben  bezieht  und  den  Gedanken  so  formuliert: 
,,von  allem,  was  wir  jetzt  besitzen  ist  die  Liebe  das  Wertvollste" 
(Sitzungsber.  S.  152)  ^)   und  hatte   diese   Deutung  verworfen,   weil 


kunstvoll  verwendet.  Der  Grundbegriff  ist  ■/.a.zapytXa^oci ,  auf  ihn  will  er  hinaus  •, 
aber  gerade  dies  Wort  wäre  bei  aylv-ri  mißverständlich  (bei  den  ^Xiöasai  streng 
genommen  auch).  So  läßt  er  in  dem  TeTpc(-/.ü)Xov  des  Eingangs  nur  das  zweite 
und  vierte  Glied  auf  dies  Wort  ausgehen  und  erwartet,  daß  seine  Hörer  entweder 
die  rhetorische  Figur  verstehen  oder  die  Wucht  dieser  Rede  empfinden  werden 
(es  steht  nur  bei  Trpo^rjTsTat  und  Yvtöat;,  auf  die  letztere  kommt  es  an ;  sie  ist  -b 
i-f.  fA^pou;).  Notwendig ,  und  zwar  sprachlich  wie  rhetorisch ,  ist  dann  im  Fol- 
genden die  Wiederholung  des  Grundbegriffes ,  ganz  besonders  sogar  nach  xä  i/. 
fji^pou;  --caxapYr^&i^ceTat  in  dem  Vergleich  -/.ar^pyrjxa  xd  xoü  vt^tt^ou.  Man  könnte  mit 
demselben  Recht  in  Teil  I  die  Wiederholung  der  Worte  dyaTrrjv  hl  [atj  Ijm  als 
Beweis  für  einen  hochgradigen  Mangel  an  Sprachempfinden  fassen  wie  diese 
Wiederholungen.  Wenn  v.  Harnack  auf  die  „Verbesserung"  bei  Clemens  Quis 
dives  sah.  38  weist,  so  zeigt  er  nur,  daß  er  die  durch  die  freie  Umgestaltung 
nnd  die  Auslassungen  bei  Clemens  geänderte  Satzkonstruktion  nicht  empfunden 
hat :  ^  äyctTiT)  ouoir.o'ze  IxTitTixet  •  rpocprjxetai  xaxapYoüvxai ,  •('kmaison  -a'iovtai ,  iaaei; 
itA  Y^i;  xaxaXetTrovxat,  jjiEvet  os  xa  xp(a  xaüta  ri'axtc,  iXizii,  dfdr.ri,  jjlei'Cwv  Se  ev  xo'jxot; 
7j  «xyctTiTj.  Das  erste  Sätzchen  ist  losgelöst;  die  drei  nächsten  Glieder  bilden  den 
Vordersatz  zu  [/.^vei  oi.  Daß  ein  xp{xu>Xov  unter  anderen  rhetorischen  Gesetzen 
steht  als  ein  xexpaxwXov  (und  ein  solches  empfand  Paulus),  dürfte  bekannt  sein. 
Interessant  ist,  wie  Clemens  dabei  vermeidet,  von  einem  xoxapYetaöat  der  Y'^'üst» 
zu  reden;  das  ginge  gegen  seine  Überzeugung,  nach  welcher  der  tlbergang  von 
der  Yvtöatc  im  Diesseits  zu  der  y^Aoic  im  Jenseits  keinerlei  Bruch  bedeutet. 

1)  Beides   steht  sich   gleich.     Ich   werde  wegen  Kap.  15   lieber   vom  Tode 
reden. 

2)  „In  dieser  unserer  Zeitlichkeit,   in  der  wir  nur  stückweise  und 
unsichere  Erkenntnisse  haben,  die  einst  abgetan  werden,  besitzen  wir  doch  etwas 


die  Formel  „Glaube,  Liebe,  Hoffnung"  bei  Paulus.  405 

sie  sprachlich  und  logisch  unlösliche  Schwierigkeiten  biete  (a.  a.  0. 
S.  101,2).  Ausdrücklich  hatte  ich  erklärt,  daß  {tsvs'.  nur  heißen 
könne  ,,sie  bleiben  im  Jenseits"  und  daß  vovt  den  logischen 
Gegensatz  bezeichne  (natürlich  zu  xaTapYTjO-T^oovTa'.).  Und  nun 
zitiert  mir  v.  Hamack  dieselbe  Stelle  II.  Kor.  3, 11  ^)  dafür,  daß 
der  Gedanke  von  dem  ,, Vernichtet  werden"  notwendig  auf  das 
,. Bleiben"  geführt  werde,  d.  h.  doch  wohl,  daß  beide  Begriffe 
Gegensätze  enthalten. 

Es  hilft  nichts,  wir  müssen  versuchen,  breit  und  ganz  nüch- 
tern den  Gedankengang  dieses  Teiles  zu  erläutern,  was  leider 
Weiß  und  auch  v.  Hamack  versäumt  haben.  ,,Die  Liebe  vergeht 
nicht  mit  dem  Tode,  wohl  aber  die  -/apioiiaTa".  Der  erste  Satz 
scheint  dem  Apostel  selbstverständlich,  statt  des  zweiten  tritt 
sofort  die  Ausführung,  nennt   das   höchste  und  niedrigste  der  den 

Unveränderliches,  also  auch  schlechthin  Wertvolles,  nämlich  die  Liebe"  (ebenda). 
Ausdrücklich  macht  v.  Harnack  darauf  aufmerksam,  daß  eine  Schwierigkeit  darin 
liege ,  daß  die  -/api'afjiaTa  in  dieser  Epoche  doch  am  h  bleiben.  Er  sucht  sie 
^.psychologisch"  zu  erklären.  Ein  Besitz,  der  nur  teilweise,  kindliche  Erkenntnis 
ermöglicht,  ist  kein  wirklicher  Besitz.  Ihm  gegenüber  ist  die  Liebe  etwas,  woran 
man  sich  halten  kann.  Gewiß  könne  von  Glaube  und  Hoffnung  nicht  gelten 
ouMr.ozt  ^-t-fTrro•Jalv,  wohl  aber,  daß  es  mit  ihnen  eine  andere  Bewandtnis  habe 
als  mit  den  -/ap^aiiata ;  denn  der  Übergang  von  Glaube  und  Hoffnung  zum  Voll- 
kommenen (also:  nach  dem  Tode)  sei  Erfüllung,  der  Übergang  von  der  stück- 
weisen Erkenntnis  (er  sagt:  Charismenerkenntnis)  zu  der  vollkommenen  ein 
Bruch:  jene  wird  abgetan,  diese  tritt  an  ihre  Stelle.  Ich  finde  darin  eine  dop- 
pelte Unklarheit;  zunächst  wird  ui^zi  gedeutet  „hat  Wert  im  Diesseits"  oder  „ist 
wahrer  Besitz",  was  es  sprachlich  nicht  heißen  kann  und  was  keinen 
Gegensatz  zu  exrt-TEi  bildet.  Dann  hat  mit  einem  male  [xf^et  wieder  die  Beziehung 
auf  den  Tod :  von  den  yapi3fxa-a  kann  man  in  diesem  Leben  nicht  sagen  [li- 
vouat,  weil  zwischen  der  Erkenntnis  im  Diesseits  und  jener  höheren  im  Jenseits 
ein  Bruch  ist;  und  man  sagt  dabei  fievousi  von  Glaube  und  Hoffnung  im  Dies- 
seits ,  weil  sie  im  Jenseits  aufhören  (nämlich  erfüllt  werden).  Das  ist  für  mich 
keine  Erklärung,  weder  eine  logische  noch  eine  psychologische.  Auch  geht  der 
rhetorische  Aufbau  des  ganzen  Stückes  zugrunde,  wenn  ich  den  Apostel  im 
Schluß  dieses  Teiles  von  etwas  ganz  anderem  reden  lasse  als  im  Anfang  („sie 
geht  nie  aus,  auch  im  Jenseits  nicht ;  im  Diesseits  aber  hat  Wert  Glaube,  Liebe,  Hoff- 
nung") —  und  dabei  lese  ich  kurz  vorher  S.  148  „der  dritte  Teil  des  Lobge- 
sanges  handelt  von  der  Ewigkeit  der  Liebe"  (wegen  sx-i— et).  Gegen  Sinn  und 
Tendenz  des  ganzen  Abschnittes  wird  femer  dem  Paidus  die  Lehre  zugeschrieben: 
die  Yvwci?  hat  im  Diesseits  keinen  Wert  (oj  fievei);  denn  sie  wird  im  Jen- 
seits ganz  anders  werden.  Widersprüche,  wohin  ich  sehe!  Und  dabei  noch  die 
grammatische,  allerdings  wohl  nicht  entscheidende  Schwierigkeit,  daß  ich  dann 
T^to?,  nicht  aber  vjv{  erwartete,  oder  bestenfalls  eine  Wiederholung  von  dtp-t  (aus 
V.  12). 

1)  Freilich  zusammen  mit  Stellen,  die  wenig  beweisen  (I.  Kor.  3, 14;  II.  Kor. 
9,9;  Rom.  9,11). 


406  ^-  Reitzenstein, 

Korintliern  zugänglichen  und  nacli  ihnen  schwer  die  yvö>oi<;.  Ihr 
gilt  von  nun  an  der  ganze  Beweis;  auf  sie  kommt  es  dem  Apostel 
hauptsächlich  an;  nur  noch  einmal  wird  die  Prophetie  neben  ihr 
erwähnt  ^).  Der  Beweis  beginnt  fast  spitzfindig :  sie  gibt  nur  Teile, 
nur  Stückwerk ;  tritt  die  Vollkommenheit  ein,  so  hört  das  Stückwerk 
auf.  Der  etwas  anfechtbare  Satz  genügt  noch  nicht;  ein  Ver- 
gleich muß  ihn  weiter  führen,  der  durch  das  "Wort  tsXsio?  nahe- 
gelegt wird:  so  legt  ja  auch  der  erwachsene  Mann  mit  Bewußtsein 
alles  kindhafte  Denken  ab.  Nicht  eine  Fortentwicklung  nimmt 
Paulus  an;  mit  klarem  Entschluß  macht  der  Mann  der  früheren 
Art  des  Denkens  ein  Ende.  Er  rechtfertigt  weiter  diesen  Ver- 
gleich (Yap):  denn  jetzt  ist  die  Yvwat?  wirklich  mit  dem  Denken 
des  Kindes  zu  vergleichen;  wir  schauen  nicht  einmal  das  "Wesen- 
hafte,  sondern  nur  ein  Spiegelbild  (etwas  Unwirkliches ;  darin  liegt 
der  gesuchte  Wesensunterschied),  nur  in  rätselhaften  Andeutungen ; 
dereinst  werden  wir  Grott  von  Angesicht  zu  Angesicht,  also  wie 
es  selbst  dem  Moses  bei  Lebzeiten  versagt  war,  schauen  und  ihm 
gegenüberstehen.  Erst  jetzt  glaubt  er  den  Gegensatz  von  1%  {jls- 
poo?  und  tsXsiov  in  seiner  ganzen  Bedeutung  klar  gemacht  zu  haben 
und  faßt  zusammen,  indem  er  jene  Herabsetzung  der  Yvwot?  auf 
die  eigene  yvcook;  überträgt:  also  jetzt  kann  ich  nur  sagen:  yivcooxw 
kv.  [ispou?,  einst  aber:  l;rtYVü)ao[Aai  —  das  neue  Verbum  soll  die 
Vollendung  und  die  Verschiedenheit  andeuten  und  ein  weiterer 
Zusatz  beides  noch  besser  zum  Bewußtsein  bringen:  xa^w?  xal  I;ce- 
^vwo'O-Tjv  ^).  Wenn  er  jetzt  abschließend  sagt  vovl  8k  {xsvsi  a.'fdnri,  so 
kann   das   überhaupt  nur  heißen:    dagegen  bleibt  im  Jenseits  die 

1)  Fvöiaic  ist  der  Zentralbegriff;  ist  doch  der  T:v£'j[xaTtxo;  seiner  himmlischen 
Natur  nach  yvajattxoj,  wie  umgekehrt  der  yvcuaTixo;  notwendig  das  rvejfxa  haben 
muß  (für  den  Beweis  muß  ich  auf  mein  Buch  verweisen),  und  Paulus  spricht  ja 
hier  von  den  zvEuiJ-atixa.  Freilich  ist  sie  der  Zentralbegriff  noch  aus  anderem 
Grunde.  Schon  in  Kap.  8  hat  er  die  yvüian  der  Liebe  gegenübergestellt 
(v.  1 — 3;  7;  10;  11).  Er  scheidet  dabei  eine  falsche  und  echte  yvOüst;  (ein  ifw(a- 
xevctt  öj;  Sei  YvÄvat).  Die  hellenistische  Zerlegung  der  yviLau  in  ein  Ytvioaxetv  Seov 
und  ein  yivwaxeaOat  üno  öeoü  schwebt  ihm  schon  dort  vor  (die  ■jy&'Sii  ist  ja  ein 
innerer  Zusammenhang,  der  die  wechselseitige  Schau  zur  Folge  hat,  ein  familia- 
rms  nosse,  wie  es  Minucius  zweimal  übersetzt).  Er  versichert  v.  3  ti  U  xt;  i-faizvj. 
Tov  ÖEi^v,  ouTo;  'iywDJxot.i  ür'aÜToO,  wenigstens  die  eine  Hälfte  beruht  auf  der  Liebe 
zu  Gott  und  sie  verlangt,  daß  die  yvötai;  nie  die  Nächstenliebe  verletze. 

2)  Der  Aorist  ist  nötig :  „wie  Gott  mich  von  Anfang  unseres  Verhältnisses 
an  geschaut  hat".  Wenn  v.  Harnack  151,2  den  Aorist  zeitlos  fassen  will  und 
übersetzt  „wie  Gott  mich  kennt",  80  übersieht  er,  daß  hier  zwei  verschiedene 
Tempora  beziehungsvoll  neben  einander  gestellt  sind  und  Anfang  und  Schluß 
einer  Entwicklung  dargestellt  wird.  Auch  8,  3  ist  der  Anfangspunkt  yiptöaxesl^ai 
öro  9eoü.    An  die  Bekehrung  speziell  darf  man  nicht  denken. 


die  Formel  „Glaube,  Liebe,  Hoflfnung"  bei  Paulus.  407 

Liebe;  die  yvwoi?  vergebt,  die  Liebe  besteht.  Sonst  ist  das  ganze 
„Hohe -Lied  von  der  Liebe"  wirkungslos  und  sinnlos,  weil  ein 
Schluß  fehlt.  Niemand  könnte  sagen,  warum  der  dritte  Teil  zu- 
gefügt ist.  Von  Hamacks  Worte  (S.  148)  „von  diesem  Punkte 
seiner  Ausführung  an  steigt  dem  Apostel  das  Erkenntnisprublem 
auf  und  läßt  ihn  bis  zum  Schluß  nicht  los"  geben  mir,  selbst  wenn 
ich  ihre  Richtigkeit  zugeben  wollte,  doch  über  den  Zusammenhang 
keinen  Aufschluß.  Er  scheint  fast  eine  Entgleisung  des  Gedankens 
anzunehmen,  was  ja  allerdings  notwendig  ist,  wenn  man  als  Ziel 
des  "Weges  den  in  Teil  II  angegebenen  Chor  der  positiven  und 
negativen  Tugenden  faßt.  Wir  müssen  uns  entschließen,  ji^vei  im 
Sinne  von  ,, Bleiben  im  Jenseits"  anzunehmen,  oder  aufhören  in  dem 
,.Hohen-Liede  von  der  Liebe"  überhaupt  eine  Gedankenent^vicklung 
zu  suchen  ^).  Selbstverständlich  muß  dann  zuletzt  afaTTTj  wieder 
wie  in  Teil  I  die  Gottesliebe  bedeuten;  die  Teil  II  geschilderte 
alles  duldende  und  langmütige  Nächstenliebe  hat  im  Jenseits  wirk- 
lich keinen  Platz. 

Freilich  beginnen  nun  die  Schwierigkeiten.  Geschlossen  wäre 
das  Kapitel  mit  den  Worten  vovl  Ss  jjlsvs'.  afdrif].  Paulus  fügt  über- 
raschend hinzu,  daß  sich  zu  ihr  noch  zwei  andere  Kräfte  gesellen 
müssen,  sie  aber  innerhalb  dieser  Dreiheit  die  gi'ößte  sei.  Er  hat 
sie  scheinbar  deßhalb  bisher  allein  erwähnt.  Wir  könnten,  wie 
mir  E.  Schwartz  bemerkt,  etwa  umschreiben  vovl  8k  {t^vsi  a74inj, 
[ist'  ahtfiQ  8s  y.al  ttiou?  %ai  kXzK;,  aXX'  a><;  IXaooovs?.  Sie  kommen 
gänzlich  überraschend"^),  und  zwar  bei  jeder  Deutung  von  "tevci. 
Gab  doch  auch  v.  Harnack  das  früher  (S.  152)  durchaus  zu  und 
bemerkte,  daß  „exegetische  Logiker"  in  solchen  Fällen  den  Vers 
einfach  zu  streichen  oder  vor  ihm  einen  Ausfall  anzunehmen  pflegen. 
Hier  hätten  sie  es  freUich  noch  nicht  getan.  Seltsam  ist  ferner, 
daß  sie  ausdrücklich  zu  einer  Einheit  verbunden  und  jede  Ver- 
mehrung der  Zahl  mit  den  Worten  ta  tpia  taüta  abgelehnt  wird'). 
Die  erzwungene  Deutung,  die  v.  Harnack  jetzt  gibt  „die  drei,  von 
denen  ich  euch  immer  gepredigt  habe",  befriedigt  mich  nicht.   Die 

1)  Seine  Einordnung  in  den  Gesamtzusammenhang  wird  bei  dieser  Deutung 
klar.  Die  yapiafJKZTst  sind  für  die  Gemeinde  da,  haben  Geltung  und  geben  Bedeu- 
tung nur  in  diesem  Leben.  Der  frühereu  Andeutung,  daß  Gott  sie  vielleicht  gar 
nicht  so  hoch  an  dem  Träger  wertet,  entspricht  zunächst  die  Versicherung,  ohne 
Liebe  sei  er  vor  Gott  ein  Nichts,  und  jetzt  die  Ausführung,  die  Liebe  (und  HoflF- 
nung  und  Glaube)  bleiben,  d.  h.  gehen  mit  in  die  Ewigkeit  über  und  üben  demzu- 
folge Einfluß  auf  das  Verhältnis  zu  Gott  und  die  Stellung  bei  Gott. 

2)  Nicht  einmal  durch  rav-ct  -i'j-t'jzi,  -avta  iXzt'Cet  sind  sie  eingeführt  (vgl. 
oben  S.  403). 

3)  Das  heißt  bei  der  Betonung  der  Zahl:  nur  diese  drei 


408  R-  Reitzenstein, 

Schriften  des  Paulus  zeigen  ja  auch  keine  besonders  häufige  oder 
auffällige  Verbindung  dieser  Begriffe,  und  ta  tpia  laöra  scheint 
vorauszusetzen,  daß  ein  oder  mehrere  andere  ausgeschlossen  werden 
sollen. 

Rätselhaft  bleibt  vor  allem,  warum  Paulus  sie  hinzufügt,  fast 
noch  rätselhafter,  warum  er  die  Yvwai?  ausdrücklich  ausschließt. 
Gerade  von  der  Grottesschau  ließ  sich  am  leichtesten  sagen,  daß 
sie  in  unvollkommenerer  Porm  vorausnimmt,  was  wir  im  Jenseits 
besitzen.  Für  die  eigentlichen  Grnostiker  und  die  späteren  Asketen 
ist  der  Unterschied  sogar  verwischt;  sie  glauben  schon  auferstanden 
zu  sein  oder  Engel  zu  sein,  weil  sie  Gott  schauen  7rp6ao);tov  irpö? 
TrpöowTTov.  Wenn  Paulus  das  auch  bestreitet,  so  kann  er  doch  für 
die  Schau  nach  dem  Tode  nicht  einmal  ein  anderes  Wort  finden; 
beide  Arten  heißen  ilim  ßXsTcsiv,  und  wenn  er  statt  Y^vwaxco  für  die 
zweite  iTiiYtvwoxto  sagt,  so  muß  er  doch  selbst  empfunden  haben, 
daß  sich  damit  nur  ein  gradueller  Unterschied  ausdrücken  läßt. 
Umgekehrt  ist  die  Behauptung,  die  IXtcic  bleibe  im  Jenseits,  durch- 
aus nicht  selbstverständlich,  und  am  wenigsten  für  Paulus  selbst- 
verständlich, der  Rom.  8,24  schreibt:  z^  ^ap  IXtciSi  lowd-rjfjisy  IXttI? 
ÖS  ßXs7co|isvYj  oüx  sottv  IXtc''?  '  6  Y^P  ßXsTCEt  Tt?,  zi  xal  iXTciCst.  Genau 
so  ist  es  mit  dem  Glauben.  Liegt  es  für  den,  der  die  Fortdauer 
der  Yvwot?,  also  der  Schau,  bestreitet,  wirklich  nahe,  als  selbstver- 
ständlich beizufügen:  „natürlich  bleibt  auch  der  Glaube  im  Jen- 
seits"? Paulus  sagt  II.  Kor.  5,7  öia  Tciatsüx;  Y^p  TrspiTcato'jjjLsv  oa 
Sta  eiSous  und  das  IvSyjijlsiv  Ttpbq  töv  xöpiov  ist  ihm  dabei  das  Ein- 
gehen zum  Schauen.  An  der  Gesamtauffassung  dürfen  diese 
Schwierigkeiten  nicht  irre  machen;  sie  verringern  sich  bei  v.  Har- 
nacks  Auffassung  nur  ganz  uübedeutend  ^). 

Nun  ist  ein  Anfang  der  Lösung  fast  selbstverständlich:  Paulus 
stellt  den  yapio^aza.  hier  nicht  Tugenden  oder  Eigenschaften  in 
unserm  Sinne  oder  abstrakte  Begriffe  im  Sinne  von  Rom.  8, 24 
entgegen,  sondern  Gotteskräfte,  die  wir  alle  von  oben  empfangen. 
Stellt  er  sich  vielleicht  den  Hergang  ähnlich  vor,  wie  Clemens  in 
der  schon  angeführten  Stelle  Strotn.  III  69, 3  Ivwoa«;  ttjv  f'^üifsiv, 
TctoTiv,  «YaTnrjv,  .el?  wv  Ivö-dvSs  .  .  .  vtal  7rv£0[i,aTixö(;  övtax;,  d.  h.  so,  daß 
die  Gotteskräfte  in  uns  die  ^sia  «pox'']  ^^^^  ^^^  7cv£U[iaux6<;  avö-pwTcog 
zusammensetzen,  der  dann  bei  Gott  und  in  Gott  weiter  lebt? 
Diese  allgemeinen  Suvä{iet(;  würden  ja  den  bloßen  yoLpio^ctza.  oder 
Sondergaben  richtig  entgegengestellt  (vgl.  oben  S.  397)  ^).    Clemens 

1)  Vgl.  Sitzungsber.  S.  152,  oben  S.  404,2. 

2)  Ich  verwies  dabei  schon  früher  auf  11168,1  ff.,  wo  anknüpfend  an  das 
Herrenwort  Matth.  18,  20  Clemens  die  Frage  aufwirft,  wer  die  5jo  xal  Tpeic  ajva- 


die  Formel  „Glaube,  Liebe.  Hoffnung"'  bei  Paulus.  409 

Alexandrinns  bietet  hier  eine  „echte  Formel",  die  er  in  dem  ganzen 
YII.  Buch  weiter  ausführt,  vgl.  VII  57, 4  xai  iiot  ooy.=l  irpwtif]  n? 
elvat  {tsraßoX-fj  a(äzf^plOi  i^  ii  ed'vwv  sl?  «lonv ,  a>?  Äposizov ,  Ssotspa  8k 
T^  1%  KtatscD?  et?  Yvwaiv*  Yj  6e,  elg  aY-ixT^v  7:=pa'.oo{j.£V7j ,  IvdevSs 
•j^Srj  «'.Xov  ctXtp  TÖ  •^'.'(v 0X37,0"^  T(p  Y'TV<*3*'''^{J'-^v<i>  zap'l<3TT,o'.v ,  xai  td^a 
6  TOtoÜTO?  iv^svSs  r^8T^  spoXaßwv  !*/*•  ''^°  ;,^oaY7£AO(;''  eivat.  Er  ver- 
weist hier  auf  VII 46, 3  xal  6  «isv  sc  idvwv  Iriotpi^JMv  njv  jriattv, 
6  5s  st?  Yvwotv  STravaßa'lvwv  „-c^?  äYaTCTj?  zf^v  TsXsiörrjta"  alnjosTa'.  (vgl. 
VII  55, 1  fF.  und  sonst).  Der  technische  Ausdruck  für  die  „Voll- 
endung- und  Vergottung  scheint  schon  bei  Philo  „zur  (Lovdc  werden", 
vgl.  Quaest  in  Exod.  zu  24,  2  unitaii  similis  est  und  qui  in  unitatis 
naturam  inhaescrit  mit  Vit.  Mosis  II  288  6?  aütöv  Suaca  ovta,  owjxa 
xal  ^oyTjV,  sl;  {lovaSo?  ävsatoi^Eto"  ^ooiv.  Das  weist  auf  neu- 
pythagoreische  Einflüsse  und  erinnert  an  die  Vorschrift  bei  Jam- 
blich Vit.  Pyth.  240  [ifj  Siaoräv  töv  sv  eaoroic  ö-eöv.  Das  von  der 
Zerreißung  und  Zergliederung  des  Dionysos  entnommene  Bild  for- 
dert in  dieser  religiösen  Verwendung  das  Gegenbild  von  der  Zu- 
sammensetzung und  Vereinigung  der  Glieder  des  Gottwesens  in 
uns  (vgl.  oben  S.  389);  wir  finden  es  auf  christlich  gnostischem 
Boden  in  dem  Philippus-Evangelium  (Epiphanius  Haer.  26, 13  p.  292, 14 
HoU):  Vorbedingung  für  die  Auffahrt  der  Seele  zu  Gott  ist,  daß 
sie  sagen  kann  aovsXs^a  ^{laufrjv  sx  :ravxayd^£V  und  oovsXssa  ta  [isXy] 
ta  Stsaxopxtajtsva.  Aber  wir  finden  es,  wie  zu  erwarten  war,  anch 
auf  heidnischem  Boden  bei  Porphyrius  Äd  Marcellam  cap.  10  ooXX§- 
70oaa  äzo  toO  aa)[j.aTOi;  irdcvta  ta  SiaaxsSaadevta  aoo  {isXt]  xai  elg 
?rX^^oc  xataxcpfiai'.oö-svta  dicö  r^c  tsw?  Iv  jtsYsd'St  Sovd{i=tO(;  lo^o- 
oüaTj?  svwosü)?')  und  dies  ooXXsysiv  wird  als  ouva^stv  xai  iviCeiv  td? 
£p.(p6"coo?  swoia?  erklärt^). 

Yoaevo»  sind,  in  deren  Mitte  Christus  ist.  Die  gnostische  Deutung  der  „zwei^  auf 
die  geistliche  Ehe  verwirft  er,  aber  läßt  zwei  andere  Deutungen  der  „drei"  als 
möglich  zu:  es  sind  &u!i.'i;,  inö'jii.tct,  /.oyisiLÖ^  oder  aap;,  'i/u/V;  und  TTycöua  (zu  ver- 
gleichen ist  Origenes  In  Matih.  Tom.  XIV  p.  277  Lommatzsch,  der  für  die  „zwei"* 
auch  3iü(ia  und  7r.e\ju.a  nennt ;  ähnliche  Spekulationen  lassen  sich  bis  in  byzanti- 
nische Zeit  verfolgen;  die  Grundvorstellung  ist  immer  die  Evwst;  der  verschiedenen 
Bestandteile).  Dann  folgt  die  oben  angeführte  Deutung  auf  -i^Tt;,  yvcüsu,  dYdrrj. 
So  scheint  69, 1  die  xXfjSt;  auf  die  fctsxpo^rj  und  daiiim  auf  die  -i3Tti,  die  i%>.oji\ 
dagegen  auf  die  Yvwst;  zu  beziehen.     Das  dritte  Gut  ist  dann  die  Liebe. 

1)  So  die  Überlieferung ;  die  Schlußworte  sind  mir  unverständlich ;  ouäoo; 
für  ouvcifjiEiui  hat  E.  Schwartz  wohl  richtig  vermutet  (vgl.  oben  Philo  Vita  Mos. 
II  288) ;  sollte  xfj;  ioxo-isTj;  evtüaew;  (die  von  der  evtusi;  abhält)  zu  schreiben  sein  ? 

2)  Auf  die  mystische  Deutung  der  Glieder  der  'AX/jöeta  oder  des  'Avapto-o; 
bei  dem  Gnostiker  Markos  (Irenaeus  I  14,3)  sei  beiläufig  verwiesen;  das  Haupt 
ist  das  a  xal  (u,  der  Hals  ^  xai  6  u.  s.  w.  Natürlich  haben  die  Zahlen  bestimmte 
mystische  Bedeutung;  sie  bezeichnen  in  ähnlichen  Schriften  bald  Gottesworte,  bald 


410  R-  Reitzenstein, 

Allein  nähere  Prüfung  muß  sofort  zeigen,  daß  wir  auf  diesem 
Wege  woM  ein  Stück  vorwärts ,  aber  nicht  zum  Ziele  kommen. 
Wohl  hat  Paulus  die  Vorstellung  „Christus  lebt  in  mir"  zu  Zeiten 
fast  sinnlich  gefaßt  und  kann  im  Bilde  Gal.  4, 19  sogar  sagen 
xexvta  [too,  ouc  TraXtv  wSivod,  a^pt?  o5  |iop(p(0'&^  Xpiatö?  Iv  ojtiv.  Aber 
jenes  doch  sicher  hellenistische  Bild  von  der  Zusammenfügung  der 
Grlieder  des  inneren  Menschen  ist  ihm  fremd;  Kol.  3,  das  es  für 
ihn  ja  wirklich  erweisen  würde,  dürfen  wir  nicht  ohne  weiteres 
ihm  zuschreiben.  Auch  ist  das  Bild  von  den  Gliedern  eines  Leibes, 
das  für  die  Stelle  I.  Kor.  13,  13  ja  nicht  einmal  ganz  passen  würde, 
so  verbreitet  es  offenbar  ist,  doch  nicht  das  einzige  Bild,  in  dem 
diese  Vereinigung  der  Gotteskräfte  Darstellung  findet.  Habe  ich 
Ignatius  Trall.  8, 1  richtig  gedeutet ,  so  dienen  auch  die  zwei 
Hauptbestandteile  des  lebendigen  Leibes,  Fleisch  und  Blut  dazu, 
und  Clemens  zeigt  uns,  daß  bei  einer  Dreiheit  der  Gotteskräfte 
die  platonische  Seeleneinteilung  oder  die  Einteilung  des  Menschen 
in  Leib ,  Seele ,  Geist  das  Bild  für  die  Herstellung  einer  Einheit 
verschiedener  Bestandteile  abgeben  kann. 

Ein  anderes  Bild  bietet  Porphyrius  Ad  3£arceUam  24:  tsooa- 
pa  Gzoiyßla.  [täXlara  xsxpaTÖvO-a)  ^)  Tcspl  d-Bob '  TciotK;,  aKrid-eta,  spw?,  hXiziq. 
TTtoTsöaat  Yocp  Sei  oxi  [tövY]  awTvjpia  ii  irpö?  töv  ■9-söv  iTCtorpo^TJ,  xal 
xtaisDoavta  o><;  svt  jiaXiota  OTrooSaaai  zaXfi^fi  Yvwvai  Tcspl  autoü ,  xal 
Yvövta  ipao'&^vat  tod  Yvtoo'ö-^vto? ,  ipao^svca  Ss  IXuiaiv  a.'^a^alq  tps^siv 
TY]v  «po^c/jv  Sta  Toö  ßtoo.  IXtcioi  "^aip  a.'';a.d-cä<;  oi  a.'^a.d'ol  täv  ^auXwv 
ü7cep^)(OD(3t.  azoiy^Bla.  pisv  ouv  TaÖTa  xal  Tooaöta  xexpaxuvdü)^).  Er 
bietet  damit  eine  „echte  Formel"  auf  heidnischem  Boden,  die  sich 
aus  den  früher  aufgezählten  (oben  S.  388  ff*.)  erläutert.  Selbst  ge- 
bildet kann  er  sie  nicht  haben;  das  zeigt  die  z.  T.  wörtliche  Über- 
einstimmung mit  der  „trinitarischen"  Formel  des  Clemens  (oben 
S.  409)^).      Aus    einer    philosophischen  Lehre    ist    sie    nicht    ent- 


Elemente, bald  Eigenschaften,  vgl.  Poimandres  S.  289  und  besonders  2G4,  3.    Ith 
gehe  nicht  näher  darauf  ein. 

1)  D.  h.  sie  seien  unverbrüchlich  festgestellt,  gesichert,  vgl.  etwa  Thukydides 
III  82,  6  Tct«  ii  acpaj  «Otou;  TzlcTtn  . .  .  ^xp«T6vovTO. 

2)  Das  übersetzt  v.  Harnack:  „diese  (vier)  so  großen  Elemente  sollen  in 
Kraft  stehen",  sprachwidrig,  soweit  ich  sehe,  und  könnte  man  von  den  vior 
Elementen  sagen :  sie  sind  groß  oder  klein  ? 

3)  Ich  gehe  auf  v.  Ilarnacks  Versuch  zu  beweisen,  Porphyrius  liabe  den 
Paulus  benutzt  und  frei  umgebildet ,  nicht  ein ;  mit  solchen  Gründen  kann  man 
alles  beweisen,  besonders  für  ein  weiteres  Publikum.  P^s  handelt  sich  hier  um 
eine  J>age  der  Methode  bei  Quellenuntersuchungen,  deswegen  wiederhole  ich  im 
Folgenden  andeutungsweise,  was  an  verschiedenen  Stellen  des  Buches  ausgeführt 
war,  V.  Harnack  aber  oifenbar  nicht  gelesen  hat,  denn  er  versichert  S.  3.  4,  ich 


die  Formel  „Glaube,  Liebe,  Hoffnung"  bei  Paulus.  411 

nommen,  sondern  aus  einer  religiös  -  mystischen ;  das  zeigt  der 
Wortgebrauch  von  Trtateöoai  und  •jziozK;.  Es  galt  zunächst  den 
Sinn  festzustellen.  Die  Idee  einer  Vereinigung  (ivojai?)  verschie- 
dener Kräfte  oder  Glieder  zu  einem  göttlichen  Organismus  kennt, 
wie  oben  gezeigt  ist,  aus  ähnlicher  Quelle  Porphyrius  cap.  10;  er 
spricht  von  einem  S'.ap^poöv ,  wie  die  Hermetische  Schrift  von 
einem  aovapdpoöv  töv  Xöyov,  und  gebraucht  das  Wort  oovaYstv  von 
ihnen.  Er  stimmt  weiter  mit  den  hellenistisch  -  mystischen  Vor- 
stellungen bei  Paulus  oft  überein,  wo  er  nicht  aus  ihm  schöpfen 
kann,  so  in  der  Formel,  die  in  aller  hellenistischen  Mystik  vor- 
kommt, ftvwoxsiv  ^eöv  xal  Yivwaxcodai  o;;'  aotoö.  Mehrfach  lassen  sich 
ferner  Vorstellungen  bei  ihm,  die  mit  Paulus  übereinstinunen,  als 
älter  als  Paulus  erweisen,  so  cap.  19  ff.,  das  mit  I.  Kor.  3.  16  zu  ver- 
gleichen ist :  o6x  oiSats  Zz:  vaö?  dsoö  feoTS  xal  tö  ;rv£Ö(ia  toö  d'soü  olxet  £v 
i){itv,  durch  Seneca  ep.  41,  und  cap.  13  die  Vorstellung,  daß  wir  uns 
in  Gott  spiegeln  und  dadurch  ihm  ähnlich  werden,  die  sich  bei  Paulus 

11.  Kor.  3,  18  findet,  durch  eine  Anschauung,  die  sich  deutlich  in 
einer  alchemistischen  Schrift,  unverstanden  oder  verblaßt  im  Jacobus- 
Brief,  dem  ersten  Clemens-Brief,  bei  Philo,  in  den  Oden  Salomos 
und  endlich,  wie  mir  Gillis  P:son  "Wetter  nachwies,  in  den  Ada 
Johannis  95  findet.  Ich  habe  sie  jetzt  in  der  Festschrift  für  Fr.  C.  An- 
dreas S.  48  auf  ihren  mythologischen  Ursprung  zurückführen  können  *). 

Das  alles  sichert,  wie  ich  auch  hier  wieder  betone,  nur  die 
3Iöglichkeit,  daß  schon  dem  Paulus  diese  oder  eine  ähnliche 
quatemarische  Formel  vorgelegen  hat.  Alles  Weitere  hat  die 
Interpretation  seiner  Worte  zu  leisten.  Sie  allein  muß  ent- 
scheiden, ob  ein  Verhältnis  zwischen  den  beiden  Formeln  besteht 
und  welcher  Art  dies  Verhältnis  ist. 

Paulus  geht  in  Teil  I,  wie  wir  sahen,  von  der  Aufzählung 
der  in  der  Gemeinde  eine  bevorzugte  Stellung  gebenden  -/apiojiara 

12,  28  aus ;  er  nennt  die  Glossolalie,  dann  die  Prophetie,  dann  die 
Wunderkraft  auf  Grund  besonderen  Glaubens  (früher  S'jvajxt?  ge- 
nannt); zwischen  die  letzteren  beiden  schiebt  sich  xal  (sav)  el5ü>  ta 
{tDatijpia  Tüdvxa  xal  Käaav  rfjv  yvwoiv,  Das  ist  insofern  befremdlich, 
als    die  Yvüot?  an  sich  der   allgemeinste  dieser  Begriffe  ist,    nicht 


hätte  keine  anderen  Argumente  beigebracht  als,  I.  Kor.  13,  13  komme  in  dem 
Hymnus  unerwartet  und  mache  in  der  Sicherheit  der  Behauptung  den  Eindruck, 
eine  dem  Leser  bekannte  Tradition  hinter  sich  zu  haben,  und  Porphyrius  biete 
die  von  mir  angeführten  Worte.  In  dem  Ausdruck  „Bleiben"  schimmere  bei  dem 
Apostel  der  Charakter  der  Elemente  noch  durch. 

1)  Sie  stammt  vielleicht  aus  Babylonien,    kehrt  bei  den  Mandäem  (auch  im 
Johannes-Buch)  wieder  und  wird  später  in  der  Alexander-Sage  erwähnt. 
Kgl.  Ges.  d.  Wiss.  Nachrichten.   Phil.-hist.  Klasse.   1916.  Heft  3.  '  28 


412  R.  Reitzen stein, 

eigentlich  eine  bestimmte  Stellung  oder  Obliegenheit  in  der  Gre- 
meinde  gibt')  und  daher  12,28  gar  nicht  erwähnt  ist  (12,  8  nur 
als  XÖYo?  fvcbaewc).  Dies  wird  aufgenommen  Teil  III;  nach  der 
Prophetie  und  Grlossolalie  finden  wir  slts  Yvwotc,  xatapYiTj^TjaeTat  ^). 
Noch  einmal  erscheint  dann  ganz  kurz  Yvcöaic  und  Prophetie  zu- 
sammen, dann  beschäftigt  sich  Paulus  ausschließlich  mit  der  Yvwat«; 
und  führt  jenen  sehr  spitzigen  und  gezwungenen  Beweis,  daß  sie 
„nicht  bleibt",  während  doch  die  Liebe  „bleibt".  Nur  die  beiden 
stehen  sich  noch  gegenüber.  Es  war  dies  der  Teü,  den  v.  Harnack 
als  eine  Art  Entgleisung  zu  empfinden  schien,  wenn  er  sagt  (S.  148): 
„von  diesem  Punkte  an  steigt  dem  Apostel  das  Erkenntnisproblem 
auf  und  läßt  ihn  bis  zum  Schluß  nicht  los''.  Eine  Entgleisung  ist 
es  nicht;  denn  er  hat  denselben  G-egensatz  schon  in  Kap.  8  be- 
handelt ;  auf  ihn  kommt  ihm  alles  an ;  die  yväok;  ist  der  Stolz  der 
Korinther  und  die  Grefahr  für  die  Gemeinde,  wenigstens  wie  Paulus 
urteilt;  selbst  in  Teil  II  erkennen  wir  jetzt  die  Polemik  gegen 
die  Yvwat?,  wie  sie  ihm  in  Korinth  entgegentritt.  Diese  ganze  Art 
der  Polemik  und  der  gezwungene  Beweis  für  das  Vergehen  der 
Yvwoii;  ist  nun  erklärt,  wenn  die  Korinther  sich  auf  eine  Anschauung 
oder  Eormel  stützen  können,  nach  der  die  Yvwat?  neben  der  ttiotk; 
und  a.^ÖL'K'fi  oder  neben  tciotk;,  aYa^Y]  und  iXTcig  als  eine  der  Grund- 
kräfte Gottes  in  uns  steht,  wobei  es,  wie  ich  jetzt  hinzufüge,  ganz 
gleichgültig  bleibt,  ob  diese  Formel  schon  von  ovoix^la.  sprach  (ein 
bei  der  Vierzahl  besonders  naheliegendes  Bild)  und  ob  sie  die 
Kraft  als  Yvwot?  oder  als  äXifj^sia  bezeichnete,  die  durch  die  Yvwotc 
vermittelt  wird.  Der  Bau  des  Kapitels  wird  mir  bei  dieser  An- 
nahme verständlich.  Verständlich  wird  aber  auch,  wie  Clemens 
dazu  kommen  kann,  eine  eigene  Formel  und  ein  eigenes  System 
TTiott?,  yvwok;,  ^'(a.TZ'fi  zu  bilden  und,  wenn  er  den  Paulus  wirklich 
zitieren  wiU,  dessen  drei  Tugenden  unter  die  yv^ok;  zu  ordnen. 
Er  folgt  damit  einem  verbreiteten  hellenistischen  System. 

Der  nächste  Anstoß  lag  darin,  daß  Tcion?  und  IXtci?  im  Schluß 
so  überraschend  und  eigentlich  gegen  den  Zweck  der  Hauptdar- 
legung, jedenfalls  aber  zum  leichten  Schaden  der  rhetorischen 
Wirkung  hereinkommen.  Auch  diesen  Anstoß  hat  ja  v.  Harnack  auch 
genommen  (oben  S.  407),  ihn  aber  nicht  recht  beseitigen  können. 
Er  ist  beseitigt,  wenn  wir  annehmen,  daß  eine  Formel  jene  vier 
G-otteskräfte  schon  verband;  wer  dann  nur  einer  von  ihnen  den 
Wert  und  „das  Bleiben"  absprechen  wollte,  konnte  nicht  wohl  le- 

1)  Der  Tvü>aTtx(5c  schließt  sich  ja  nur  zu  oft  von  ihr  ab. 

2)  Vielleicht  erklärt  dieser  Zusammenhang,  warum  ich  den  Singular  für 
nötig  halte. 


die  Formel  „Glaube,  Liebe,  Hoffnung"  bei  Paulas.  413 

diglich  eine  andere  ihr  gegenüberstellen,  besonders,  wenn  die 
andern  auch  ihm  schon  als  ebenfalls  wertvolle  Grotteskräfte  schienen. 
Er  hätte  dann  den  Eindruck  erweckt,  daß  er  auf  ici'ati?  und  k'Kiciz 
gar  kein  Gewicht  lege,  ja  auch  gegen  sie  polemisiere.  Er  mußte 
sie  miterwähnen  und  konnte  sie  in  dieser  Form  sogar  in  einer  ge- 
schickten, dem  Grriechen  verständlichen  Weise  erwähnen. 

Den  dritten  Anstoß,  den  wieder  auch  v.  Hamack  empfunden 
hat,  bot  die  Betonung  des  „Bleibens"  gerade  bei  r-lati?  und  sXt:''?. 
Sie  hängt  mit  der  Auffassung  als  Grotteskräfte  und  andrerseits  als 
notwendiger  Bestandteile  des  „inneren  Menschen"  in  uns  zusammen. 
Letztere  Vorstellung  ist  bei  Paulus  sonst  nicht  nachweisbar  ^). 
Aber  im  Augenblick  mußte  er  sich  darin  dem  von  ihm  bekämpften 
System  anbequemen  und  konnte  es  ohne  jede  Verleugnung  einer 
eigenen  Lehre.  Pedantisch  mochte  es  ihm  scheinen,  breit  auseinander- 
zusetzen, wie  er  sonst  über  die  von  ihm  ja  sehr  hoch  geschätzten 
Begriffe  Jitott?  und  iXicic  urteile  und  inwiefern  er  das  Bild  von 
den  konstituierenden  Bestandteilen  als  nicht  voll  geeignet  empfände. 
Die  ganze  rhetorische  "Wucht  und  der  Schwung  der  Darstellung 
wäre  zerstört  worden.  Daß  er  sich  gerade  hierin  der  Denkart 
seiner  Hörer  anpaßte ,  war  unter  jener  Voraussetzung  selbstver- 
ständlich. Befremden  könnte  nur  die  Annahme,  daß  er  selbst 
grundlos  die  von  seinen  sonstigen  Anschauungen  etwas  abwei- 
chende Vorstellung  geschaffen  habe. 

Die  letzte  Erage,  die  v.  Hamack  nicht  stellte,  weil  er  offenbar 
die  sprachliche  Bedeutung  der  Worte  ta  tpia  taöta  nicht  voU 
empfand,  ist:  warum  betont  wohl  Paulas  „diese  drei  allerdings, 
aber  nur  diese  drei ,  keine  weitere  mehr"  ?  Er  hebt  doch  sonst 
noch  manche  Tugend  hervor.  Wieder  ist  die  Antwort  leicht,  wenn  er 
gegen  eine  Formel  polemisiert,  die  vier  Grotteskräfte  in  einem 
System  vereinigt,  und  wenn  er  sonst  nach  eigenster  Überzeugung 
gegen  dieses  System  nichts  einwenden,  eine  aber  auf  jeden  Fall 
streichen  will.  Ich  fasse  zusammen :  eine  Polemik  gegen  eine  über- 
trieben hellenistische  Gnosis  in  der  Gemeinde  oder  bei  einzelnen 
Führern  beherrscht  den  ganzen  Brief;  schreiben  wir  ihnen  eine 
Formel  oder  ein  System  zu,  welches  dem  von  Porphyrius  sicher 
nicht  erfundenen,  sondern  aus  älteren,  mystisch -religiösen  Quellen 
entlehnten  ähnlich  ist,  und  lesen  das  „Hohe-Lied  von  der  Liebe^ 
unter  diesem  Gesichtspunkt,  so  entschwinden  mit  einem  male  alle 
Schwierigkeiten,    die   in  ihm  unlöslich   schienen.     Die  Möglichkeit 

1)  Wenigstens ,  wenn  wir  den  Kolosserbrief  ihm  absprechen.  Sprechen  wir 
ihn  ihm  zu,  so  erhalten  wir  ein  verwandtes,  aber  doch  verschiedenes  System 
bei  ihm. 

28* 


414  R.  Reitzenstein, 

einer  solchen  Annahme  war  erwiesen,  also  hat  sie  den  Wert  einer 
wissenschaftlichen  Hilfshypothese  wenigstens  so  lange,  bis  in  wirk- 
licher Interpretation^)    eine    andere  Lösung   der   von   allen  Seiten 
anerkannten  Schwierigkeiten  gefunden  ist.   Ohne  eine  solche  Inter- 
pretation haben  Einwände  wie,  es  sei  unwahrscheinlich,  daß  den  Ko- 
rinthern so  bekannt  gewesen  sein  sollte,  was  uns  völlig  latent  ge- 
blieben sei ;  so  schlecht  seien  wir  doch  sonst  nicht  unterrichtet  (v.Har- 
nack  S.  4),  für  mich  gar  keine  Bedeutung.    Als  Philologe  weiß  ich  ja 
auch  etwas  besser,  wie  außerordentlich  schlecht  wir  über  die  syn- 
kretistischen  religiösen  Anschauungen  in  den  hellenistischen  ^toXiteö- 
(iaia  der  damaligen  Zeit,  und  als  Leser  des  Neuen  Testaments  ge- 
nügend,  wie   völlig  unzulänglich  wir  über  Strömungen  und  Stim- 
mungen in  den  ersten  heidenchristlichen  Gemeinden  unterrichtet  sind. 
Zu  den  früheren  Darlegungen   über  Quasi-Formeln   und  echte 
Formeln   in   der    frühchristlichen  Literatur   und  über   die  geringe 
Neigung   der  Gremeinde   zu  scharfen  Begriffsbildungen  würde   das 
Ergebnis  ausgezeichnet  passen,  daß  sich  die  einzige  „echte  Formel ''^ 
die  wir  bei  Paulus  fanden^),   aus  der  Polemik  gegen   eine  helleni- 
stische Formel   auf  einem   hellenistischen  Boden  erklärt.      Es   ist 
wahrscheinlich,    daß   auch   die   angeführten  späteren  Systeme  und 
„Formeln"    in    Nachbildung   des  Hellenismus    oder  Polemik   gegen 
ihn  entstanden^).    Bei  der  Bildung  dieser  Formeln  haben  wir  Er- 
weiterungen früher  beobachtet   (oben  S.  389  über  die  Hermetische 
Schrift)   und    sehen  jetzt,    daß    auch  Verengerungen    vorkommen. 
Eine  solche  liegt  schon  in   der  Formel   des  Porphyrius    vor;    denn 
wenn  er,    genau   wie  Paulus,    schließt:    oxoiyßla.   ji^v  oov    zabza  xal 
Tooaöta  xsxpatDvdü),    also  „diese  Elemente,    und    zwar  nur  so  viel, 
sollen  unverbrüchlich  festgestellt  sein" ,   so   kennt   er ,    d.  h.   seine 
Quelle,  offenbar  Formeln  von  mehr  Gliedern,   wie  sie  uns  ja  auch 
in   der   nachpaulinischen   christlichen  Literatur   begegnen^).      Ein 


1)  In  den  Preußischen  Jahrbüchern  hat  v.  Harnack  eine  solche  nicht  ge- 
boten, sondern  spricht,  als  ob  keinerlei  Schwierigkeiten  vorlägen. 

2)  Ich  spreche  natürlich  nur  von  diesem  einen  Gebiet. 

3)  Letzteres  könnte  z.  B.  für  Ignatius  gelten,  dem  ich  gern  eine  Polemik 
gegen  die  Formel  rfati;,  yvüiot?,  iydmi  zutrauen  würde. 

4)  Ob  die  einzelnen  Kräfte  dabei  als  Elemente  bezeichnet  waren,  bleibt  un- 
sicher. Daß  orientalische  Religionen  auch  fünf  oder  sechs  Elemente  zugleich  mit 
Deutung  auf  moralische  Eigenschaften  oder  Gotteskräfte  bieten,  dürfte  bekannt 
sein.  Übrigens  ist  die  Bezeichnung  oxot^eta  nicht  streng  an  derartige  Systeme  ge- 
bunden. Das  zeigt  eine  Stelle  des  Clemens  {Strom.  1131,2),  auf  welche  mich 
W.  Bousset  gütig  verwies ;  nachdem  er  Barnab.  2, 2  angeführt  hat  (vgl.  oben  S.  389), 
fährt  er,  wiewohl  dort  eine  Enneade  von  Tugenden  aufgeführt  ist,  fort:  axot^^etcuv 
yoüv  <oüaüiv>  Tf^;  y^*"'*ws  "^^^  7:poe«pTj|A£vtov  äpeTuJv  atotj^e ttoSeOTepo v  elvai  aup.- 


die  Formel  „Glaube,  Liebe,  Hoffnung"  bei  Paulus.  415 

Satz  wie  „die  Vierzahl  gegenüber  einer  Dreizahl  ist  in  analogen 
Fällen  (welche  sind  das  wohl?)  selten  oder  nie  das  Ursprüngliche; 
daß  diese  also  durch  Subtraktion  entstanden  ist,  ist  ganz  unwahr- 
scheinlich" (v.  Hamack  S.  5)  paßt  mindestens  für  diese  späte  Zeit 
überhaupt  nicht. 

"Was  diese  Hypothese  für  Paulus  besagt,  sei  kurz  noch  ange- 
deutet. Zunächst  natürlich,  daß  für  ihn  die  einzelnen  Begriffe 
äfäzri,  rJ.aza;,  ja  auch  k'kTJ.z  in  ihrer  Bedeutung  und  Wichtigkeit 
schon  vorher  feststanden.  Fand  er  in  jener  hellenistischen  Formel, 
die  er  bekämpfen  will,  den  Ipw?  ^soö  oder  ipw?  ^eio?,  einen  Begriff, 
der  in  der  ganzen  hellenistischen  Mystik  herrscht  und  durchaus 
nicht  aus  Plato  entnommen  zu  sein  braucht^),  so  steht  für  ihn 
nicht  nur  fest,  daß  er  ihn  nur  durch  das  Wort  «if  a;rr]  wiedergeben 
kann,  sondern  er  empfindet  die  doppelte  Bedeutung,  die  das  Wort 


TOvoe  ßtoüvTt  rpö;  t6  Ctjv  tÖ  ivaTTvelv  •  wc  8'iveu  täv  Tcasctptuv  -j-oiy  tlwv  oiz 
eari  C^jv,  o65'  <zveu  -{jTetu;  Yvöiatv  £-axoXo'j&fj3at.  a-j-nj  Tot'vuv  xpr^-i;  ä).T(8e(oj.  Die 
Elemente  sind  nicht  nur  das,  woraus  wir  bestehen,  sondern  auch  das,  was  wir 
zum  Leben  beständig  notwendig  brauchen.  Daß  diese  Auffassung  älter  ist,  zeigt 
Lucilius  V.  786  ff.  Marx  öipyjxli  hominem  et  stoechiis  simul  privdbit,  ein  Fragment, 
das  nur  bei  dieser  Auffassung  vollen  Sinn  empfängt.  Daneben  gibt  es  noch  eine 
andere,  nach  welcher  aTor/elov  auch  das  Glied  eines  beseelten  und  lebendigen  Kör- 
pers bedeutet,  und  zwar  schon  in  den  Quellen  von  Varros  Antiquitates  rerum  divi- 
narum,  wo  die  a-ot/ela  toü  xo3|xo'j  ebensogut  die  Gestirne  wie  die  Elemente  in 
unserm  Sinn  bedeuten.  Daß  der  Ausdruck  im  Osten  volkstümlich  geworden  ist, 
zeigt  das  Neue  Testament.  Die  Vereinigung  der  Glieder  zum  lebendigen  Leibe 
ist  die  OTotxsiwsi; ,  vgl.  II.  Maccab.  7,  22  (Diels,  Elementum  46) ,  wo  die  Mutter 
sagt:  O'jx  oi5'  o-tu;  e(;  ttjv  larjv  etpavTjre  xotXi'av  o-joe  iyui  tö  rveüfia  xol  ttjv  Ctuijv 
•jfxiv  l/api3d[jLT]v  xctl  -rijv  sxaSTOu  3T0t5(E((uaiv  o-jx  ijm  8upu&fA{3a.  Toiyapoüv  ö  toj 
xoafiou  xTfsTTji  6  TzKdsai  dv&pw-ou  Y^ve3tv  xal  7:avt(uv  £$cupibv  yivcStv  xaiTÖ  -veüfia  xo? 
TTjv  C«>^'«  u{*'^  zaXtv  i-o5ß(u3tv.  Der  Verfasser  hätte  ebenso  gut  sagen  können 
dvaaTot7Etü)3et  üfiä;,  wie  das  Philo  von  Moses  sagt  (vgl.  oben  S.  409).  Es  ist  lehr- 
reich, zu  beobachten,  wie  oft  in  den  früher  angeführten  „echten  Formeln"  (S.  383  ff.) 
der  Begriff  des  Lebens,  und  zwar  eines  unvergänglichen  Lebens,  hervorgehoben 
wird  (vgl.  für  den  Hermetischen  Traktat  Poimandres  S.  344, 19  ff.).  Selbst  in  dem 
Kolosserbrief  (3,  3)  geht  voraus  Xpi3T^;  .  .  .  r^  Ca>T)  T-fxüiv  (vgl.  Ignatius  Magn.  1,  2 
mit  Eph.  14).  Doch  verwendet  der  Verfasser  stoiyeia  in  anderem  Sinn.  Seine 
Grundvorstellung  zeigt  Ilepl  u'iou;  40,  2 :  die  £7:t3Üv8e3i;  twv  fxeXÄv  und  der  oesfxö; 
cipfADv^a;  (die  Seele)  machen  das  süifia,  den  lebendigen  Leib. 

1)  Er  geht  nach  meiner  Erinnerung  vereinzelt  noch  in  die  spätere  christ- 
liche Mystik  über;  im  Hellenismus  tritt  die  ursprüngliche  sinnliche  Bedeutung 
noch  bisweilen  hervor.  Der  Lucius  des  Apuleius  wird,  indem  er  das  Bild  der 
Göttin  betrachtet,  von  unbeschreiblicher  Lust  erfüllt  (Met.  XI  25);  glühendste 
Sehnsucht  hält  ihn  bei  dem  Bilde  fest;  als  er  sich  losreißen  muß,  betet  er  unter 
Tränen,  von  beständigem  Schluchzen  unterbrochen:  divinos  tuos  vultus  numenque 
sanctissimum  infra  pectoris  mei  secrela   conditum  perpetuo   custodiens  imaginäbor. 


416      E-  Keitzenstein,  äie  Formel  „Glaube,  Liebe,  Hoffnung"  bei  Paulus. 

für  den  Christen  hat,  so  stark,  daß  er  die  ganze  Mahnung  zur 
Nächstenliebe,  auf  die  ihm  unendlich  viel  ankommt,  mithereinzieht  ^). 
"Was  der  „Glaube"  für  ihn  bedeutet  ist  allbekannt,  und  auch  den 
Wert  der  Hoffnung  hat  er  sicher  nicht  aus  der  Formel  erlernt. 
Nicht  daß  er  sie  teilweise  übernimmt,  sondern  daß  er  sie  dazu 
gebraucht,  um  gerade  gegen  die  Überschätzung  der  hellenistischen 
Gnosis  anzukämpfen,  ist  doch  wohl  das  Wichtige.  Gewiß,  er 
hat  diese  Gnosis  selbst  hoch  geschätzt,  er  fühlt  sich  oft  stolz  als 
Pneumatiker,  aber  wo  die  Gefahr  vorzuliegen  scheint,  daß  jenes 
höchste  Gut  der  neuen  Eeligion  verloren  geht,  empfindet  er  auch 
wieder,  daß  all  jener  hellenistische  Mystizismus  nie  als  ein  konsti- 
tuierendes Element  für  sie  gelten  darf  und  jene  in  ihm  über- 
schätzten Gaben  zurücktreten  müssen  vor  den  Kräften,  auf  die 
Gott  allein  Wert  legt.  Das  läßt  sich  freilich  nicht  beweisen;  so 
strömt  er  in  „prophetischem  Wort"  sein  tiefstes  Empfinden  aus, 
um  so  zugleich  mit  vollem  Bewußtsein  die  beste  Polemik  zu  üben. 
Es  ist  seltsam,  daß  gerade  der  Versuch,  das  nachzuweisen,  als 
schwere  Verletzung  der  Originalität  des  Christentums  betrachtet 
werden  kann.  Selbst  wenn  in  relativ  später  Zeit,  hauptsächlich 
wohl  durch  den  mächtigen  Eindruck  dieser  „Prophetie"  oder  Mahn- 
rede, die  Verbindung  „Glaube,  Liebe  und  Hoffnung"  zur  Quasi- 
Eormel  wird,  müßte  man  die  Frage  der  Originalität  wohl  mehr 
nach  dem  Sinn,  in  dem  die  Worte  gebraucht  und  empfunden  werden, 
als  nach  dem  letzten  literarischen  Ursprung  entscheiden.  Eine 
Formel  in  dem  ursprünglichen  Sinn  werden  sie  auch  jetzt  wohl  für 
für  Niemanden  bilden. 

Ich  bedaure  es  daher,  wenn  eine  solche  Polemik  ohne  Anlaß 
vor  „einen  größeren  Leserkreis"  getragen  wird  und  sich  besonders 
an  seine  Empfindungen  wendet.  Die  Argumente  kommen  dabei 
notwendig  zu  kurz,  und  die  Erregung  wird  erfahrungsmäßig  um 
so  größer,  je  geringer  die  eigene  Kenntnis  der  Literatur  und  der 
griechischen  Sprache  ist.  Dem  Angegriffenen  wird  die  Möglich- 
keit, sich  vor  demselben  Richter  wirksam  zu  verteidigen,  fast  ab- 
geschnitten. Wenigstens  sollte  dann  das  Material  mit  wissen- 
schaftlicher Sorgfalt  gesichtet  und  so  vorgelegt  werden,  daß  der 
Leser  wirklich  urteilen  kann.     Das  ist  nicht  geschehen. 

1)  Teil  II.  Daß  das  seinem  tiefsten  Empfinden  entspricht,  habe  ich  ver- 
sucht in  der  Historischen  Zeitschrift  näher  darzulegen.  Natürlich  müssen  wir  mit 
der  Möglichkeit  rechnen,  daß  schon  jene  Christen  Korinths,  an  die  er  sich  wendet, 
für  den  Ipcu«  deoü  das  christliche  Wort  eingesetzt,  es  aber  nur  auf  Gott  bezogen 
haben. 


Bemerkungen  zur  Martyrienliteratur. 

I.   Die  Bezeichnung  Märtyrer. 

Von 

R.  Reitzenstein. 

Vorgelegt  in  der  Sitzung  vom  11.  März  1916. 

Einige  Bemerkungen  zu  der  Literatur  christlicher  Martyrien 
sei  es  mir  vergönnt  zunächst  mit  einer  Besprechung  der  Bezeich- 
nung Märtyrer  zu  eröffnen,  da  eine  vielleicht  zu  knappe,  beüäufige 
Ausführung  in  meinem  soeben  erschienenen  Buche  „Uistoria  mona- 
chonim  und  Historia  Lausiaca,  eine  Studie  zur  Geschichte  des  Mönch- 
tums  und  der  frühchristlichen  Begriffe  Gnostiker  und  Pneumatiker  ** 
(Göttingen  1916)  bei  befreundeten  oder  nahestehenden  Forschern 
Befremden  hervorgerufen  hat  und  mir  Auseinandersetzungen  ange- 
kündigt sind.  Sollen  sie  so  fruchtbar  für  die  Sache  werden,  wie 
beide  Teile  wohl  herzlich  wünschen,  so  müssen  die  Grundfragen 
der  lexikalischen  Forschung  auf  diesem  Gebiet  zunächst  einmal 
klar  dargelegt  werden.  Selten  wohl  wird  sich  so  deutlich  wie  hier 
die  Bildung  der  Kirchensprache  erkennen  lassen. 

Seit  etwa  der  IVIitte  des  zweiten  Jahrhunderts  kann  jtapTop^aai 
bekanntlich  bedeuten  den  Tod  in  einer  Christenverfolgung,  und 
zwar  später  in  der  Regel  auf  Grund  einer  mehr  oder  weniger 
formellen  Gerichtsverhandlung,  erleiden.  Schon  Hegesipp  gebraucht 
den  Aorist  in  seinen  wenigen  Fragmenten  an  drei  Stellen  so,  vgl. 
Eusebius  K.  G.  III  32,  6  p.  270,  4  Schwartz  xai  kzi  TOXXai?  f/jispa'.«; 
aixtCöfJLEVoc  i{jLapTÖp-r]os  (vom  Kreuzestode)  und  noch  auffälliger 
II  23,  18  p.  170, 19  TÖ  ^oXov,  Iv  w  aTromsCs'-  ta  ijtaTia,  f^vsYxev  (ein 
Walker)  xata  t^c  xscpaXf^?  toö  Srxaioo  (des  Jacobus),  xal  ootio?  I  jt  a  p  - 
topTfjosv,  endlich  mit  Beziehung  hierauf  IV  22,4  p.  370, 9  {lexa 
t6    {JLapTop-^oat    'laxwßov    töv    Sixaiov    d>?    xai    6    xopto?    £;rl    T(j>    aozi^ 


418  R.  Reitzenstein, 

XöYtp^).  Dabei  heißt  bei  ihm  in  dem  gleichen  Zusammenhang  {tap- 
Topia  die  Aussage,  daß  Jesus  der  Christus  ist,  und  in  schneidendem 
Widerspruch  zu  dem  Gebrauch  von  (lapTop^oai  steht  bei  demselben 
Autor  der  weitere,  jeden  Anhänger  Jesu,  der  einmal  vor  einen 
Mächtigen  der  Erde  gestellt  ist  und  von  Jesus  gesprochen  hat, 
durch  den  Ehrennamen  [lapto«;  auszuzeichnen,  auch  wenn  er  nicht 
einmal  Foltern  erlitten  hat,  vgl.  Eusebius  III  32,  6  p.  268, 22  2). 
Sprachlich  verständlich  sind  nur  die  beiden  letzten  Verwendungen 
des  Wortes,  seltsam  die  erste.  Es  wird,  um  dies  zur  voUen 
Empfindung  zu  bringen,  gut  sein,  die  entsprechenden  Ausdrücke 
aus  dem  ältesten  erhaltenen  Martyrium,  dem  nachträglich  zum 
Buch  umgestalteten  Brief  der  Gremeinde  von  Smyrna  über  den 
Tod  des  Polykarp  herauszuheben.  Ich  schicke  voraus,  daß  sie  sich 
sämtlich  ihrem  Hauptsinne  nach  nicht  auf  irgend  ein  Zeugnis, 
sondern  ausschließlich  auf  den  Tod  beziehen.  Einige  Anmer- 
kungen richten  sich  schon  hier  gegen  Deutungsversuche,  die  im 
Folgenden  eingehender  besprochen  werden. 

1,1  'EYpa(|ja[iEV  Djtiv,  adsktpoi,  za  xatdc  tou?  {laptopTjaavcac 
xal  TÖv  [laxdptov  IloXöxapjtov,  oaziq  woTisp  iTriofppaYtaac  dia  t"^?  (lapto- 
pia(;  auToö  xatsTcaDoe  töv  Sicüyjiöv  .  .  .  Tva  t^ixiv  6  xupto?  avco'ö-sv  £;rt5sl'$TQ 
TÖ  xata  TÖ  eha.'{'(^\iov  jxap  top  to  v  '  ■3repts{isvsv  fap,  tva  TcapaSod-^ 
(ö?  xal  6  xopio?  ...  2,  1  [xaxdpia  [isv  ouv  xal  Ysvvaia  ta  [laptupta 
TT  a  V  T  a  ta  xata  tö  ^eXYjjia  toö  ■9-soö  '(B'^ovöza  .  .  .  tö  ^dp  '{svvcäov 
aDTwv  xal  67ro[j.ovirjTtxöv  xal  ^iXoSioTrotov  ziz  oox  av  •6-ao{i,dosL£V,  ol  {id- 
OTt^t  xata^av'&sv'cec  ...  2,  2  on  Ixsivtq  t'^  wpcf.  ßaaaviCö(i£Vot  f^c  oap- 
xo?  d7rs8i(]ji.oov  ot  {idptopec  toö  XptOTOö^),  (AäXXov  §1  ott  Trapsoto)? 
6  xoptoi;  wjjLiXei  aoTol?  ...*).     3,  2  =  Eusebius  p.  338,  2  toutoo  8'  ItcI 


1)  D.h.  nach  der  Fürbitte  für  seine  Mörder  (nicht  wie  Corssen,  Neue  Jahr- 
bücher f.  d.  klass.  Altertum  1915,  S.  496  meint:  auf  Grund  desselben  Wortes, 
Matth.  26, 64 ;  der  Vergleich  mit  Jesus  wäre  dann  ganz  unpassend).  Der  Schrift- 
steller empfindet  in  d|jiapT6p7](jev  also  nur  i^imvjazw,  wie  das  Evangelium  sagt,  oder 
wie  es  in  der  Apostelgeschichte  7,  60  von  Stephanus  nach  der  gleichen  Fürbitte 
heißt  -/.at  toüto  etewv  IxoijjLyjdTj.  Also  kann  ^fjidpT'jprjse  nicht  dem  Ursinne  nach  be- 
deuten „er  legte  Zeugnis  ab".    Sein  Zeugnis  ist  vorher  ausdrücklich  angegeben. 

2)  Es  ist  dabei  Titel,  vgl.  III  31, 8  p.  264,  18.  Also  kann  spiaprjpTjaev  an 
den  ersterwähnten  Stellen  auch  nicht  heißen  „er  wurde  {xccptu;",  denn  dies  könnte 
dann  nicht  den  Tod  notwendig  voraussetzen.  Es  ist  klar,  daß  der  Gebrauch  des 
Aorists  für  Hegesipp  eine  formelhafte  Wendung  bedeutet,  die  er  einer  Sprach- 
weise entnimmt,  die  [ia'pxu;,  [i-aptiptov  und  (Aoptupetv  nur  in  Fällen  verwendet,  wo 
der  Tod  wirklich  eingetreten  ist. 

8)  fjidpxuc  Toü  Xptatoü  oder  [*..  xoü  8eoü  ist  bis  weit  über  Cyprians  Zeit  der 
volle  Titel. 

4)  Die  Wendung  |i.äXXov  hk  zeigt,  daß  wenigstens  der  Verfasser  fxotpTup«;  xoü 


Bemerkungen  zur  Martyrienliteratur.  I.  419 

T(p  SiaÄpszst  ^avdtq)  tö  «äv  icX-^^o?  azodao{i,doav  tr^?  avSpsia? 
TÖvö-so^iX^lidpTopa...  13,  2lv  jravxl  fäp  xaXw  aYa^f^c  ivsxev 
TcoXiteiac  %al  rpö  t-^?  {j-apTopia?  (?  :roX'.ä?)  lx£XÖa(iY]TO  ...  14,  2  soXoyw 
0£,  Ott  -rj^iwoa;  jts  ttj?  ■f^ixspa?  xal  Spa?  taotT]?  toö  Xaßetv  jtspoc 
iv  apt^{i(j)  Twv  ji-apTupa>v  Iv  tö)  iron]pi({>  to'j  Xptaxoö  ooo  ^)  gI«; 
dvaoxaotv  C<ö^<;  a'wovioo  xtX.  15,  2  tö  ^ap  imp  .  .  .  zsp'.stsiytas  tö  awjta 
toö  {idptopo?.  16,2  wv  Eii;  xal  outo?  Yrfovsv  6  dao{iaaiü)taTO?  {xdpto<; 
üoXöxapTro?,  iv  toi?  xad'  T^{i.ä<;  ypövoic  S'.SdoxaXo?  äzoatoXtxö?  xal  ?rpo- 
<py]XiV.b(;  ^svöttsvo«;  feÄioxoiroi;  t^?  Iv  S|töpviQ  xaO-oXtx-^?  ixxXirjota?  *  TCäv 
7dp  pfj{j.a,  8  acpf;xsv  Ix  toü  atöjiato?  autoö,  xal  stsXsuüO-Tj  xal  tsXsuo- 
dijastai-}.  17,3  toötov  (Christus)  ^kv  y^P  ^'o^  ^'■''^^  "^^'^  ^=0'j  J^po^xo- 
voöpiev,  to'jc  6e  {jidptopa«;  ax;  iia^Tjtd?  xal  {iipLirjtd?  toö  xopioo  dYa3Cö>{i,sv *). 
18,2  Tcaps^e'.  6  XDpio?  iTT'.tsXsiv  tfjV  toö  {iaptopioo  aotoö  r,{ispav  7s- 
vsd'X'.ov  st?  te  vf^v  twv  TcpoTjdXirjxötwv  (ivT]{iT,v  xal  twv  ttsXXövttov  aoxirjoiv 
TS  xal  Itotjiaotav.  19,  2  oov  tot?  äxö  4>tXa5sX«cta?  8(o8=xdtoo  £v  SfiöpviQ 
jiaptopTJoavto?  jtovo?  o;rö  Tcdvtwv  |i.äXXov  jtvT/tiovsostai  ...  06  jxövov 
8tSdaxaXo?  7cVÖ{ievo?  lrt!37jji.o?,  dXXd  xal  {idpto?  I^oyo?*),  00  tö 
jxaptoptov   Trdvts?   SKtO-ojjioöoty   {j,t{ji=iodat   xatd    tö   söaYYsXtov  Xptotoö 

7£V6pLSVOV. 

Vergleicht  man  die  Häufigkeit  dieser  Ausdrücke  auf  den  we- 
nigen Seiten  der  Schrift,  so  gewinnt  die  bereits  von  anderen  be- 
obachtete Tatsache,  daß  sie  in  den  Briefen  des  Ignatius  vollständig 
fehlen,  einige  Bedeutung.  Er  nennt  sich  6£8={i=vo?  iv  'It^ooö  Xptotw 
und  knüpft  an  diese  Eigenschaft  hohe  Ansprüche,  den  Titel  {idprj? 
gebraucht  er  nicht,  so  wenig  wie  ttaptoptov  oder  {laptopta  von  dem 
Tode,  den  er  erwartet.  Seine  Gefangenschaft  ist  ihm  dpyr]  toö  jia^r^- 
tsöeoO^at  (Eph.  3, 1,  vgl.  Rom.  5,  3.  5,  1)  und  wo  der  Verfasser  des 
Polykarp-Martyriums  sicher  sagen  würde  kizizpi^avi  {lot  [laprjpf^oat 
oder  {idptopa  toö  ^soö  (1,00  Ysvsod-ai  sagt  er  kmrpif^'xzs.  {lot  iitinfir/jv  stvai 
TOÖ  irdd-oo?toö  -O-soö  {too  (Rom.  6,3).  Grar  nicht  selten  femer  gedenkt 


XpiSToü  nicht  so  deutete,  daß  die  Märtyrer  Gott  schauen  und  daher  Äugenzeugen 
Gottes  heißen. 

1)  Aus  der  Weissagung  des  Martyriums  der  Zebedaiden  Matth.  20,  22,  Mark. 
10,  38  zu  erklären.  Eine  jüdische  Parallelstelle  gibt  Schlatter,  Beiträge  ztir  För- 
derung christlicher  Theologie  1915  S.  286. 

2)  Die  Worte  erklären  die  Bezeichnung  d-oa-roXtxö;  xal  -po^r^Tixo;.  Ihre  Zu- 
fügung  beweist,  daß  der  Begriff  des  Propheten  sich  nicht  mit  dem  Worte  {xcfprj; 
verbindet. 

3)  Vgl.  Ignatius  Philad.  5,  2  xal  to-j;  7:po:pT,Ta;  oi  i•{Ci-ü)u.z'^  xt>,. 

4)  Vgl.  für  diese  Art  der  laudatio  z.  B.  Hegesipp  bei  Eusebius  p.  268,  22 
rpoTjYOÜvrat  -isr^;  ^xx)wT^afa;  w?  jiotpTjpe;  xal  dnö  fiwo'Ji  toü  x'jp(ou  und  Polykrates 
von  Ephesus  ebenda  p.  264,  18  Upsl»;  to  rftoXov  re^fopexw;  xat  [xio-ru;  xal  5toci- 
cxaXo;.    Das  Wort  ist  Standesbezeichnung  und  Titel. 


420  ^-  Reitzenstein, 

der  Hirt  des  Hermas  der  Märtyrer;  nie  gebraucht  er  einen  der 
besprochenen  Ausdrücke;  immer  heißen  die  Märtyrer  Tradövts?  si- 
vsxa  Toö  ovöjjiaxo?  oder  oTcsp  toö  övcfiato?  oder  5ia  xö  övojia  oder  ein- 
fach Ol  sjra^ov,  ja  diese  Wendungen  begegnen  bei  ihm  genau  so 
formelhaft  und  in  noch  dichterer  Abfolge  als  die  entsprechenden 
Wendungen  im  Polykarp-Martyrium.  Den  Anschauungs kreis  zeigt 
gut  ein  Vergleich  des  Stückes,  in  dem  sie  am  häufigsten  begegnen, 
Sim.  9,  28  mit  dem  entsprechenden  Abschnitt  Sim.  8, 1  &.  Er  be- 
ruht ganz  auf  einer  jüdischen  Quelle,  nur  ist,  was  von  den  Juden 
als  Volk  Grottes  gesagt  war,  auf  die  Christen  übertragen;  Michael 
ist  ihr  Schutzherr,  der  vöjjioc  ist  der  oiö?  d-zoö  XYjpo/^si?  slg  Tuspata 
f^C  7^?-  Hier  nun  begegnet  8, 3, 6.  7  ol  hnkp  toö  vöjjloo  dXißevts?, 
[XYj  Tca&dvTE?  Bk  {lYjSe  apv-rjoatisvot  töv  yö[xov  aoTwv.  Hermas  macht  oft 
zwischen  dXi'ßsc^at  und  izäoyBiv  einen  graduellen  Unterschied  M ; 
die  höchste  Stufe  des  zi.ayeL'^  wird  natürlich  ■0-V'i(joxsiv  sein,  und  in 
der  Tat  findet  sich  in  den  jüdischen  Martyrien  bei  Josephus  z.  B. 
Bell.  Ind.  1,  650  »jjrep  toö  ;raTptoo  vö{i-oo  •O-VTfjOxstv  (vgl.  ebenda  II  6, 
Gontr.  Ap.  1  43,  wo  der  Plural  vdjioi  Konzession  an  das  Empfinden 
der  griechischen  Leser  ist;  ähnlich  in  den  Anschauungen,  doch 
sprachlich  ganz  hellenisiert  ist  Änt.  XVII  152  fi".).  Die  G-rand- 
vorstellungen  sind  die  gleichen  wie  bei  Hermas;  der  Tod  für  das 
Gesetz  gibt  So'^a  auch  bei  Gott;  man  faßt  ihn  bald  als  die  einzige 
Gewähr  des  Fortlebens  (vgl.  Bell.  lud.  II  153  xa?  t{jo)(a(;  rj^isoav 
üx;  TrdXiv  %o[j.'.oöjJLevot)  bald  als  Sicherung  größerer  Seligkeit  (I  653 
oxi  icXsiövwv  (ifadcöv  areoXaooooai  jieta  tyjv  TsXeoTr^v);  die  Vereinigung 
liegt  offenbar  in  den  chiliastischen  Hoffnungen,  die  auch  bei  dem 
christlichen  Märtyrer  eine  Rolle  spielen.  Anschauungen  und  Sprach- 
gebrauch stammen  aus  dem  Judentum  ^),  Die  Gedankenverbindungen, 
in  denen  der  Terminus  Traa/etv  uns  später  begegnen  wird,  nimmt 
schon  die  Apostelgeschichte  9,15.16  voraus:  oxeöo?  lxXo7"^c  laxiv 
jtoi  ouTOc  TOÖ  ßaoTotaat  tö  6'vo(i,d  [xoo  kvüniov  Idvwv  ts  xai  ßaatXewv 
otÄv  TS  'lopaTjX.  £7(0  ifdcp  oTToSel^ü)  aoTtp  80a  Sei  aoTÖv  oTc^p  toö  6vö- 
jiaTÖc  [iOD  ;:a^stv  (vgl.  auch  5,40.41)'*).  Die  abgeänderte  For- 
mel wird  zunächst  im  Westen  übernommen;    daher  bleibt  bis  in 


1)  Ursprünglich  sind  es  Synonyma,  vgl.  z.  B.  II.  Thess.  1,  5—7,  Ich  gehe  auf 
die  mancherlei  anderen  Synonyma  (x^rro;,  ttovoc,  St'wSt;)  nicht  ein,  da  es  für  die 
Geschichte  des  Märtyrertitels  nur  auf  Ttaa^eiv  ankommt. 

2)  Auch  „für  den  Namen  Gottes  leiden"  wird  später  im  Judentum  fester 
Begriff,  vgl.  Schlatter,  Beiträge  zur  Förderung  christl.  Theologie  1916  S.  SOG. 

3)  Da  Polykarp  selbst  in  seinem  Briefe  meist  mit  Ignatius  übereinstimmt, 
verweise  ich  auf  8, 2    bei  ihm :    jxifxTjxal   oüv   Y^viufACÖa  tf^c  ynofiovr^;  a-jxoO,   xal  ^dv 


Bemerkungen  zur  Martyrienliteratur.  I.  421 

späteste  Zeit  neben  nmrtyrium  als  fester  Terminus  passio^),  und 
das  Verbum  pati  ist  in  seinem  Besitzstand  durch  das  griechische 
Lehnwort  nmrtyrizari  nur  ganz  wenig  beeinflußt  worden.  Nur  der 
Titel  bleibt  griechisch  martyr ,  oder  wird  wörtlich  übertragen, 
testis,  bezw.  testis  Christi,  testis  dei.  Anlaß  ist  offenbar,  daß  man 
von  pati  kein  Verbalsubstantiv  (wie  von  confiteri)  bilden  konnte, 
und  daß  die  Partizipia  sich  zu  dem  Ehrentitel  nicht  zu  eignen 
schienen.  Von  Anfang  an  ist  also  festzuhalten,  daß  es  sich  bei 
den  Worten  [tapto?  und  •taptopstv  nicht  um  einen  allgemeinen  alt- 
christlichen Sprachgebrauch  handelt.  "Wir  müssen  annehmen,  daß 
sie  in  jener  zuerst  besprochenen  technischen  Bedeutung  in  einer 
bestimmten  Literaturgattung  und  Stilart  aufgekommen  sind  und 
sich  dann  rasch  verbreitet  haben.  Daß  den  Anlaß  zu  dieser  Ver- 
breitung ein  anderer  Gebrauch  desselben  Wortes  geboten  hat, 
ist  an  sich  wahrscheinlich.  Ich  stelle  als  Inhalt  des  im  Polykarp- 
Martyrium  und  in  der  späteren  Martyrienliteratur  vorliegenden 
Sprachgebrauchs  fürerst  fest:  wer  um  des  Namens  Christi  willen 
gestorben  ist,  heißt  jtapto«;  toO  Xptatoö  oder  [xaprj?  toö  d-soö,  der 
Tod  ist  die  |j.apxopia  oder  das  {lapTopiov,  gestorben  sein  heißt  {lap- 
topfjoa'..  Die  Begriffsbildung  geht  hier  offenbar  von  dem  Verbum 
und  von  der  Vorstellung  einer  einmaligen  Handlung  aus,  daher 
der  Aorist*).  Ich  muß.  ehe  ich  das  weiter  verfolge,  zunächst  auf 
die  moderne  Literatur  eingehen,  also  polemisieren. 

Es  ist  ein  unbestreitbares  Verdienst  Kattenbuschs,  daß  er 
(Zeitschrift  f.  d.  neutestamentl.  Wissensch.  IV  111  ff.)  auf  das  Be- 
fremdliche dieses  Sprachgebrauches  nachdrücklich  hingewiesen  und 
zugleich  die  altchristlichen  Vorstellungen  vom  Märtyrer  (in  unserm 
Sinne)  feinfühlig  verfolgt  hat.  In  der  Worterklärung  gelangte  er 
zu  keinem  ihn  selbst  befriedigenden  Ergebnis.  Von  dem  Gesamt- 
begriff „Zeuge"  geht  er  aus,  freilich  ohne  ihn  voll  nach  dem  grie- 
chischen Wortgebrauch  zu  erschöpfen:  Zeuge  ist,  wer  für  die 
Wahrheit  von  irgend  etwas  eintritt  oder  angerufen  werden  kann, 
wer  selbst  dabei -gewesen  ist,  als  etwas  geschah,  wer  den  Rechts- 

1)  In  dem  Sinne  „Leiden,  das  zum  Tode  führt,  Tod".  Als  charakteristisch 
erwähne  ich,  daß  Tertullian  Scorp.  13  von  den  Leiden,  deren  sich  Paulus  II.  Cor. 
11,  23  ff.  rühmt,  sagt  quae  si  magis  incommoda  quam  martyria  videbuntur,  wie- 
wohl sie  ihm  für  die  wirklichen  Martyrien  vorbildlich  scheinen. 

3)  Um  den  Unterschied  fühlbar  zu  machen,  verweise  ich  schon  hier  auf  den 
ganz  abweichenden  Gebrauch  Apostelgesch.  23,11,  wo  Christus  in  einer  Traura- 
erscheinung  dem  Paulus  sagt :  Sspasi.  ü>;  -jap  8 1  e  }i  a  p  -  ü  p  o  j  -a  -tot  iixo'j  et« 
'lepou3a),T,tx,  ojTü);  se  oet  rat  et;  'Piüiitjv  ,a opr-jp ^3« t.  Selbst  bei  dem  Aorist  ist 
der  Sprachgebrauch  im  Urchristentum  nicht  einheitlich  (e{;  gebraucht  der  Ver- 
fasser meist  richtig). 


422  R.  Reitzenstein, 

grund  für  den  Anspruch  jemandes  kennt  und  andern  mitteilen 
kann,  wer  versichern  darf  in  einer  Angelegenheit  ein  Wissender 
zu  sein.  Aber  was  wissen  denn,  so  fragt  er  sofort,  die  Märtyrer 
vor  anderen  Christen?  Wem  sind  sie  Zeugen?  Etwa  dem  Richter? 
Was  könnten  sie  ihm  bezeugen,  was  die  confessores  ^)  nicht  auch 
bezeugten?  Sie  bezeugen  ja  nur  von  sich  selbst,  daß  sie  zur 
christlichen  Kirche  gehören^),  und  haben  dann,  wenn  sie  von  dem 
Richter  freigelassen  werden,  keinen  Anspruch  auf  den  Titel  Zeugen. 
Oder  sind  sie  Zeugen  für  die  Christen  selbst?  Aber  was  wissen 
sie  mehr  als  die  einfachen  TTtotot?^)  Da  eine  Antwort  unmöglich 
ist,  versucht  Kattenbusch  zunächst  zu  ermitteln,  welche  verschie- 
denen Personen  (Apostel,  Propheten,  Jesus  selbst)  im  Neuen  Testa- 
ment als  {laptope?  bezeichnet  werden  oder  wem  ein  {lapTÖpsa^at 
(S'.a{iapxDpso^at)  zugeschrieben  wird.  Natürlich  kommen  wir  dabei 
zu  all  den  verschiedenen  in  der  gesamten  Gräzität  üblichen  Ver- 
wendungen des  Wortes :  die  Apostel  sind  Zeugen  der  Taten 
und  Worte  oder  des  Leidens  Jesu,  wer  ihn  nach  der  Aufer- 
stehung gesehen  hat,  wird  Zeuge  der  Auferstehung  genannt,  was 
ja  wohl  niemanden  befremden  kann  und  keinerlei  technischen 
Sprachgebrauch  enthält.  Auch  bei  den  Propheten  werden ,  um 
sie  als  {laptopsc  zu  kennzeichnen ,  Stellen  angeführt ,  die  ganz 
außer  Zusammenhang  mit  dem  eigenartigen  Sprachgebrauch  der 
Martyrienliteratur  stehen  und  [lapiopeEv  einfach  als  verstärktes 
Xs^etv  bieten:  die  Propheten  „bezeugen",  daß  der  Messias,  d.h. 
Jesus,    die   Sünden    vergeben    kann    (Apg.  10,43)*).      So    kommt 


1)  Über  ihre  Scheidung  von  den  martyres  vgl.  später. 

2)  Ein  Teil  freilich  auch,  daß  bei  den  Christen  keine  Verbrechen  geschehen, 
doch  gehört  das  nicht  notwendig  zu  dem  Begriff  des  [Act'pTuj. 

3)  Gerade  die  wichtigste  Frage  fehlt  in  der  langen  Aufzählung,  nämlich 
wessen  Zeugen  sie  sind.  Die  von  Kattenbusch  selbst  erwähnte  Formel  [AapTupe; 
ToO  Xpia-coü  hätte  die  erste  und  entscheidende  Antwort  geben  müssen. 

4)  So  würde  man  durchaus  auch  im  Profangebrauch  sagen  können.  Wir 
können  in  vielen  Sprachen  (am  stärksten  wohl  in  der  lateinischen)  eine  fortschrei- 
tende Erweiterung  des  ursprünglich  sakralrechtlichen  Begriffes  verfolgen.  Daß 
der  Zeuge  bestätigen,  daß  er  feierlich  versieh  ern,  daß  er  auf  Grund 
eines  besonderen  Wissens  versichern  soll,  führt  zu  verschiedenen  Übertra- 
gungen. Die  Entwicklung  beginnt  schon  im  hebräischen  Sprachgebrauch,  die  volle 
Entfaltung  (und  zwar  in  einer  über  das  Profangriechische  hinausgehenden  Stärke) 
zeigt  das  Neue  Testament.  Nur  wird  man  aus  den  Stellen,  die  dem  allgemeinen 
Gebrauch  entsprechen,  kaum  Schlüsse  macheu  dürfen;  die  Nüanzen  bei  den  ein- 
zelnen Autoren  erklären  sich  aus  der  Tendenz,  so  im  vierten  Evangelium  die 
starke  Hervorhebung  des  besonderen  eigenen  Wissens,  das  Zurücktreten  der 
Worte  bei  Paulus  u.  a.  mehr.  Den  Anfang  eines  technischen  Gebrauches  empfinde 
ich   bei  ihm ,    wenn   (xaptüptov   schon  fast  für  «üaiyAtov  eintritt   (I.  Kor.  l,  6 ;  2,  1 


Bemerkungen  zur  Martyrienliteratur.  I.  423 

Kattenbusch  zunächst  zu  zwei  verschiedenen  Erklärungen,  die 
er  freilich  beide  selbst  als  zu  künstlich  bezeichnet:  der  Märtyrer 
heißt  vielleicht  danach,  daß  er  nach  allgemeinem  Glauben  sofort 
nach  dem  Tode  in  den  Himmel  kommt  und  dort  Christus  schaut 
(Grundbegriff:  Augenzeuge)^);  oder  er  heißt  vielleicht  danach, 
daß  der  Geist  ihm  zu  reden  gibt,  was  ort-  und  zeitgemäß  ist 
(Grundbegriff:  Verkündiger)-);  nicht  das  Prophetentum  macht 
dabei  nach  ihm  zum  Märtyrer,  wohl  aber  das  Märtyrertum  in  ge- 
wisser Weise  zum  Propheten.  Ein  methodischer  Fehler  liegt  offen- 
bar darin,  daß  für  einen  uns  befremdenden  technischen  Gebrauch 
der  Worte  {xaptTx;,  [taptupf^oai,  {laptopia,  {taprjp'.ov,  dersichspäter 
im  wesentlichen  an  Gerichtsverhandlungen  knüpft,  die 
Erklärung  ausschließlich  aus  Stellen  genommen  wird,  die  mit  solchen 
gar  nichts  zu  tun  haben  und  juristischen  Sinn  gar  nicht  verlangen, 
ja  zum  Teil  gar  nicht  zulassen,  aber  auch  überhaupt  nichts  von 
dem  allgemeinen  Sprachgebrauch  Abweichendes  bieten.  Der  zweite 
Fehler  liegt  in  der  Beschränkung  auf  die  christliche  Literatur, 
noch  dazu  in  der  Begrenzung  auf  die  ersten  beiden  Jahrhunderte. 
Weder  ist  die  Frage  aufgeworfen,  ob  der  befremdliche  Gebrauch 
allgemein  -  christlich  sei  ^),  noch  ob  er  allein  christlich  sei  *).  Die 
Beschränkung  auf  die  christliche  Literatur  und  hauptsächlich  auf 
das  neue  Testament  als  die  gegebene  Qaelle  für  allen  späteren 
christlichen  Sprachgebrauch  führte  notwendig  dazu,  daß  aus  der 
überwiegenden  Fülle  der  zur  Sache  überhaupt  nicht  gehörigen 
Stellen  bestimmt  wurde,  welches  die  technische  Bedeutung  in  diesem 
Falle  sei.     Hätte   man   wenigstens   versucht,   innerhalb   der  früh- 

xaxa•f(0^^ü'^  t6  {j.apTjpiov  Toü  Öeoü)  oder  wenn  (lapTjpofAai  6al.  5,  3  im  Wechsel  mit 
Xi^^a  sogar  für  den  Befehl  eintritt  (gesteigert  Eph.  4,  17  Xiyoi  xal  aapTjpopiat  £v 
xuptu)).     Doch  ist  auch  hier  die  Verbindung   mit   der  Grundbedeutung   noch  klar. 

1)  Das  scheitert  sprachlich  an  dem  regelmäßigen  Gebrauch  des  Aorists. 

2)  Einzuwenden  ist  sofort,  daß  nach  ältester  christlicher  Anschauung  der 
Geist  nicht  erst  in  den  [xapxu;,  sondern  schon  in  den  6(xoXopjTf,;  tritt,  den  gerade 
Kattenbusch  in  Gegensatz  zu  dem  [j.aprj;  stellt.  Zum  [lap-u;  macht  nach  ihm  nur 
der  Tod.  Wie  kann  der  Name  dann  von  der  Tätigkeit  hergeleitet  werden,  die 
nur  der  Lebende  übt? 

3)  Vgl.  oben  S.  419.  Daß  innerhalb  des  Christentums  selbst  im  Grebrauch 
von  fjLopTupfj3at  vollkommener  Widerspruch  herrscht  (oben  S.  418  und  421, 2),  wurde 
nicht  berücksichtigt. 

4) ,  Wenn  HoU  in  dem  gleich  zu  besprechenden  Aufsatz  Neue  Jahrb.  f.  d, 
klass.  Altertum  1914  S.  532  gegen  den  Philologen,  der  den  profanen  Gebrauch 
verfolgte,  mit  Recht  bemerkt,  dieser  Gebrauch  sei  den  Theologen  „vielleicht  schon 
vorher  nicht  so  ganz  unbekannt  gewesen",  so  würde  der  Fehler  und  Vorwurf  da- 
durch nur  schwerer.  Doch  möchte  ich  auf  solche  kleine  Äußerungen  von  Gereizt- 
heit nicht  weiter  eingehen. 


424  ^-  ßeitzenstein, 

christlichen  Literatur  eine  Entwicklung  nachzuweisen,  und  beob- 
achtet, an  welchem  Punkte  der  Gebrauch  der  profanen  Verwendung 
am  nächsten  kommt,  statt  aus  der  Summe  aller  Stellen  eine  allge- 
meine urchristliche  Anschauung  von  „dem  Märtyrer"  za  konstruieren 
und  dabei  diesen  Begriff  selbst  als  fest  und  gegeben  zu  behandeln, 
so  hätte  sich  eine  Erklärung  wohl  finden  lassen.  So  ist  es  von 
vornherein  klar,  daß  nur  für  die  Anschauung  Ergebnisse  gewonnen 
werden  konnten.  Der  Wortgebrauch  blieb  unerklärt,  und  Katten- 
busch  gibt  dies  in  seiner  besonnenen  Art  am  Schluß  selbst  zn. 

Der  reiche  Ertrag,  den  sein  Aufsatz  trotzdem  für  die  An- 
schauung bot,  hat  offenbar  K.  Holl  bestimmt,  in  einer  tiefdringenden 
und  ergebnisreichen  Untersuchung  „Die  Vorstellung  vom  Märtyrer 
und  die  Märtyrerakte  in  ihrer  geschichtlichen  Entwicklung"  (Neue 
Jahrbücher  f.  d.  klassische  Altertum,  1914,  S.  521)  auf  die  beiden 
Worterklärungen  Kattenbuschs  zurückzukommen,  sie  besser  zu  be- 
gründen und  zugleich  zu  verbinden.  Auch  ihm  ist  dabei  die 
Hauptsache  die  Anschauung  vom  Märtyrer.  Daß  sie  im  Wesent- 
lichen auf  judenchristlichem  Boden  erwächst,  soll  gegen  einen  phi- 
lologischen Versuch  ^),  Anschauung  und  Wort  auf  hellenistischem 
Boden  zu  verfolgen,  nachgewiesen  werden.  Ist  die  Anschauung 
jüdisch,  so  muß  sich  der  Wortgebrauch  aus  der  gleichen  Quelle 
erklären  lassen,  d.  h.  nach  meinem  Empfinden  mit  Gewalt  ihr  an- 
gepaßt werden.  Gerade  weil  ich  glaube,  daß  Holls  Aufsatz  wich- 
tige Anregungen  bietet,  die  uns  z.  T.  weit  über  das,  was  er  selbst 
behauptet,  hinausführen  können,  betone  ich  von  Anfang  an,  daß 
uns  hierbei  das  schönste  Ergebnis  lexikalischer  Untersuchungen 
von  vornherein  abgeschnitten  wird,  im  Wortgebrauch  den 
Kampf  und  das  Zusammenfließen  zweier  verschiedener  Denkarten, 
der  jüdischen  und  hellenistischen,  nachzuweisen^).  Wir  können 
nach  meiner  Überzeugung  hier  wirklich  das  Werden  wichtiger 
christlicher  Begriffe  historisch  verfolgen.  Eine  Dankesschuld 
möchte  ich  mit  meiner  Polemik  gegen  Holls  lexikalische  Aus- 
führungen abtragen  und  nicht  um  Worte  streiten,  wenn  ich  auch 
über  Worte  streiten  muß. 

Verhängnisvoll  für  den  lexikalischen  Teil  seiner  Untersuchung 
wurde,  daß  er  einfach  Kattenbuschs  Beobachtungen  zum  Ausgangs- 
punkt nahm  und  es  für  erwiesen  ansah,  daß  es  von  Anfang  an 
einen  einheitlichen  Begriff  „Märtyrer"'  gegeben  hat;  ihn  gilt  es 
aus  den  verschiedenen  Stellen  heraus  zu  entwickeln,  denn  er  muß 


1)  GeflFcken  Hermes  45,  493  ff. 

2)  In  der  Sache  versucht  es  Holl  selbst,  setzt  aber  den  hellenistischen  Ein- 
fluß zu  spät.  \ 


Bemerkungen  zur  MartjTienliteratur.  I.  425 

im  wesentlichen  die  Summe  von  all  dem  bieten,  was  vom  Zeugen 
in  der  altchristlichen  Literatur  gesagt  ist.  Solche  Harmonistik  in 
der  Lexikographie  ist  gerade  auf  diesem  Gebiet  am  gefährlichsten. 
Gern  erkenne  ich  dabei  an,  daß  Kattenbuchs  Untersuchungen  über- 
all berichtigt  und  erweitert  sind.  Hatte  Kattenbusch  für  die  Be- 
zeichnung der  Apostel  als  „Märtyrer"  nur  auf  Stellen  wie  Luk. 
24, 48  und  Apostelgesch.  1, 8  verwiesen,  in  denen  Christus  seine 
Jünger  auffordert  das  Evangelium  zu  predigen  und  seine  Zeugen 
zu  werden,  oder  gar  auf  Apostelgesch.  1,  22,  wo  von  dem  für 
Judas  zu  wählenden  Apostel  verlangt  wird,  daß  er  von  Jesu  Taufe 
bis  zur  Himmelfahrt  mit  diesem  zusammengewesen  ist  und  „Zeuge" 
der  Auferstehung  geworden  ist,  so  verwies  Holl  auf  eine  Stelle, 
in  welcher  jidpr)?  wirklich  scheinbar  juristischen  Sinn  hat,  I.  Kor. 
15,  12  ff.  sl  6s  Xp'.atö«;  XTjpöoosTao  Ix  vsxpwv  ozi  SYTjfsprai,  rö»?  Xe^ooo'.v 
£v  6{tiv  v.vet;  ov.  avaaraat?  vsxpwv  oox  sor.v;  sl  6e  avdataa'.c  vsxptöv 
oöx  loTcv,  ouSs  Xpiatö?  SYT^fsprai.  el  Se  Xp'.orö?  oox  ^Yij'j'sp'cat,  xsvöv 
^pa  xal  TÖ  XTjpoYjta  fj{i(üv,  xsvfj  5s  xal  "»j  Tttati»;  o|icöv  Eop'.oxö[is^a  Ss 
xal  (j>£oSo{i,dpTOps?  Toü  dsoö,  ou  £(tapTopT]oa{isv  xatd  toü 
<&eoö  Zzi  'JjYstpev  töv  Xptotöv,  8v  oox  -^Ysipsv.  Der  Schluß  scheint 
hiemach  notwendig:  (idpto«;  toö  dsoö  ist  in  christlichem  Sinne,  wer 
Gottes  entscheidende  Wundertat,  die  Auferweckung  Christi,  auf 
Grund  eigenen  unmittelbaren  Wissens  bestätigen  kann,  d.  h.  wer 
den  Auferstandenen  gesehen  hat^).  Also  heißen  auch  die  späteren 
Märtyrer  nur  danach ;  die  Art  und  Weise,  wie  das  möglich  wurde, 
erklärt  der  Bericht  der  Apostelgeschichte  über  Stephanus :  er  schaut 
im  Moment  des  Todes  Christus.  So  schildern  auch  die  älteren  Akten 
den  Märtyrer  als  im  Geiste  dieser  Welt  entrückt  und  in  unmittel- 
barem Verkehr  mit  Gott.  —  Der  erste  Einwand  ist  wohl  schon 
von  Kattenbusch  selbst  erhoben.  Eng  hängen  hier  die  Begriffe 
XTjpoaosiv  und  {lapropsiv  zusammen,  nie  aber  ist  die  Predigt  des 
Evangeliums  die  eigentliche  Aufgabe  des  Märtyrers ,  sodaß  er 
davon  den  Namen  tragen  könnte.  Ebensowenig  ist  das  Schauen 
des  Auferstandenen  und  der  Verkehr  mit  Gott  auf  die  Märtyrer 
(Blutzeugen)  beschränkt.  Der  Asket  genießt  die  gleichen  Vor- 
rechte; aber  nie  heißt  er  darum  jtdpro?^);  das  gleiche  Vorrecht 
ferner  genießt  der  ojjloXoyyjtiqc  ;  mit  dem  Moment  des  Bekenntnisses 
wird  er  Pneumatiker  und  hat,  genau  wie  der  Asket,  das  Recht 
auf  Visionen,    auch   auf  Visionen  Gottes    oder  Christi^);    dennoch 

1)  So  ist  der  Grundsinn  von  [ictptu;  Augenzeuge  (a.  a.  0.  S.  533,  2). 

2)  Nur  wenn  seine  rovoi  mit  den  Leiden  der  Märtyrer  verglichen  werden, 
kann  er  in  pointierter  Sprache  als  martyr  vivus  bezeichnet  werden. 

3)  Man  denke  an  Perpetua. 


426  ^-  Reitzenstein, 

wird  gerade  er  mindestens  seit  Ende  des  zweiten  Jahrhunderts 
streng  von  dem  Märtyrer  geschieden.  Dabei  fehlt  in  einer  Fülle 
von  Martyrien  gerade  der  nächsten  Zeit,  die  streng  auf  diese 
Scheidung  achtet,  jede  Erwähnung  der  entscheidenden  Vision, 
die  zum  {lapxo?  macht.  Endlich  ist  in  der  zagrunde  gelegten 
Stelle  des  Paulus  (oben  S.  425)  das  Wort  in  Wahrheit  eben  nicht 
in  juristischem  Sinne  gebraucht:  {lapropsiv  heißt  hier  nur  in  der 
Predigt  (dem  XTjpuY'ta)  etwas  von  Gott  aussagen,  nicht  aber  in 
einem  Prozeß  Zeuge  sein.  Die  Worte  s[jLapTOpT5aa{i.ev  xaxa  ^eoö  sind 
an  sich  nicht  juristischer  als  Hegesipps  Worte  über  die  Sektirer 
bei  Eusebius  IV  22,  6  ajcö  toötwv  (jJsoSö/p'.aTot,  (fjeoSoTrpofpf^xat,  tjjsoSa- 
Tcöaxokoi,  oiTtvss  l[i.sptaav  tyjv  ivwaiv  ttjc  IxxXTjaiaf  (pd-opi^cclon;  Xö^oi? 
xata  Toö  •O'soö  xal  xata  toö  Xptotoö  aötoö.  Den  (j^soSofiapTope?  toö 
-ö-Eoö  bei  Paulus  steht  die  Bezeichnung  Jesu  in  der  Apokalypse  als 
6  ttapTO(;  6  TctoTö'?  (1,5)  oder  6  {jiapTD?  6  «iotö?  xal  aXTj'O-tvöc  (3,14) 
gegenüber;  sie  bedeutet,  daß  Jesus  einen  Auftrag  Gottes  ausge- 
führt und  eine  Aussage  wahrhaftig  wiedergegeben  hat.  Gewiß  ist 
dabei  {lapTopslv  ein  feierliches  Reden  im  Bewußtsein  sicherer  Strafe, 
wenn  man  betrügt.  Insofern  mag  eine  Grundanschauung  mit  der 
unter  Eid  geleisteten  Zeugenaussage  die  Wahl  des  Wortes  be- 
stimmen (vgl.  oben  S.  422).  Aber  vom  Lebenden  allein  ist 
die  Rede.  Mit  dem  „Blutzeugen"  im  heutigen  Sinne  hat  dieser 
{Xapro?  überhaupt  nichts  zu  tun;  von  jenem  kann  man  sagen  erel 
sTra^sv,  jidprog  lariv,  von  diesem,  wenn  er  wegen  seines  Zeugnisses 
leiden  muß,  ItcsI  IjAapxöpirjaev,  Tzä.ayj^i. 

Diese  Vorstellung,  die  Kattenbusch  dabei  ganz  richtig  von 
der  ersten  gesondert  hatte ,  verbindet  HoU  entsprechend  seiner 
harmonistischen  Betrachtungsweise  mit  ihr,  weil  tatsächlich  das 
Judentum  in  neutestamentlicher  Zeit  ganz  von  der  Vorstellung 
beherrscht  wird,  daß  der  Prophet  als  Sendbote  Gottes  zu  den 
Menschen  kommt  und  um  seiner  Botschaft  willen  leiden,  ja  sterben 
muß ,  und  weil  sich  die  Schilderung  seines  Leidens  und  Sterbens 
auffällig  mit  der  Schilderung  in  der  christlichen  Martyrienliteratur 
berührt  ^).  So  wichtig  dies  tatsächlich  ist  und  so  groß  Holls  Ver- 
dienst ist,  die  Vorstellungen  sehr  viel  weiter  als  Kattenbusch  ver- 
folgt zu  haben ,  für  die  lexikalische  Betrachtung  bedeutete  die 
Verbindung  der  beiden  ganz  verschiedenen  Reihen  nur  Ge- 
fahren,  aber  keinerlei  Förderung,  ja  die  Erklärung  der  Märtyrer 

1)  Hierdurch  empfängt  die  Einzelfrage  für  mich  allgemeinere  Bedeutung  für 
die  Methode  lexikalischer  Forschung.  Ich  gestehe,  daß  mich  diese  Vermischung 
von  Vorstellung  und  Wort  zu  ihrer  Aufnahme  veranlaßt  hat.  Die  Folgerungen 
wären  ungemein  groß,  wenn  dies  Verfahren  richtig  wäre. 


Bemerkungen  zur  Martyrienliteratur.  I.  427 

als  einer  Art  von  Propheten  war  sprachlich  nicht  ein  wandsfrei, 
weil  die  christlichen  nporpfixai  diese  Rolle  des  Gesandten  Gottes 
an  die  Ungläubigen  nicht  zn  spielen  scheinen  ^),  und  selbst  für  die 
jüdischen  die  Bezeichnung  oder  Titulatur  als  {läptops?  nicht 
irgendwie  feststeht,  so  wenig  wie  etwa  für  die  Märtyrer  der  spät- 
jüdischen Literatur  die  Bezeichnung  als  zpo^f^rat  oder  auch  nur 
als  {idptopsc^j.  Eine  einzige  rätselhafte  Stelle  der  Apokalypse 
(11,3)  xai  5(000)  toi?  Soolv  [taptoaiv  {too,  xat  Tcpo^rj  t  soooooiv 
T^{j,ipac  yiXiac  Siaxoata?  i^ijxovta  KsptßsßXTjjJL^vot  odxxoD<;  genügt  zu  der 
Identifikation  der  Begriffe  nicht.  Wir  gewinnen  durch  sie  nichts. 
Und  wir  gewinnen  auch  nichts  durch  die  anhaltslose  Behauptung,  in 
der  Urgemeinde  sei  [tdpttK  der  Ehrennam  e  für  den  Apostel  gewesen 
(Holl  a.  a.  0.  S.  523)  ^) ;  zu  entscheiden  war  nur  die  Frage,  in  welchem 
Sinne  und  auf  Grund  welchen  Sprachgebrauches  kann  man  vom 
Apostel  oder  Propheten  {taptu?  und  {laptupet  sagen  ?  Völlig  unklar 
bleibt  bei  Holl,  wie  sich  die  beiden  Vorstellungsreihen,  die  wir  oben 
gesondert  haben,  verbinden,  wie  {lapTOpf^aat  zum  Synonym  von 
äTcod-avsiv  wird,  wie  im  Latein  passio  und  patl  für  jtapTopiov  und 
[xaptupsiv  eingesetzt  werden  können,  endlich  wie  sich  jtdpTO?  und 
&|i.oXo7rjTTj<;  scheiden,  wenn  doch  der  Grundbegriff  von  {jidp-nx;  in 
der  prophetischen,  d.h.  iu  der  Rede  sich  äußernden  Bezeugung 
der  Auferstehung  oder  Gottheit  Christi  liegt.  So  lehnen  denn 
die  beiden  durch  Holl  angeregten  Arbeiten,  Schlatter,  .,Der 
Märtyrer  in  den  Anfängen  der  Kirche"  (Beiträge  zur  Förderung 
christlicher  Theologie,  1915,  S.  225  ff.)  und  Corssen  „Begriff  und 
Wesen  des  Märtyrers  in  der  alten  Kirche'  (Jahrbücher  f.  d.  klass. 
Altertum,  1915,  S.  481)  diesen  Teil  seiner  Ausführungen  ab,  Schlatter, 
indem  er  in  dankenswerter  Weise,  wenn  auch  einseitig  und  über- 
treibend, die  jüdische  Martyrienliteratur  und  Vorstellungswelt 
weiter  verfolgt,  ohne  tiefer  auf  die  lexikalische  Frage  einzugehen, 
ja  offenbar,  ohne  ihre  Bedeutung  zu  empfinden*),  Corssen  in  einer 
etwas  hastigen  Verbindung  verschiedenster  Betrachtungsweisen^}, 

1)  I.  Kor.  12, 28  scheidet  dirocrcoXot  und  rpocp^xai   (vgl.  für  letztere  cap.  14). 

2)  IV.  Makk.  12,  16  oux  d-a'j-oixo\3>  tfji  -rüiv  d5e>.:pü)v  p.o'j  p-apTuofot;  würde  bei 
der  stark  philosophisch  beeinflußten  Sprache  des  Buches  nicht  viel  für  einen  rein 
jüdischen  Gebrauch  beweisen. 

3)  Eher  könnte  man  den  Satz  umkehren:  man  konnte  von  den  d-daxoXos 
sagen  {xaf-Tuper.  Der  Ehrenname  und  die  Standesbezeichnung  bleibt  dabei  dsdcToXo; 
(Vgl.  Patdus). 

4)  Knapp  und  besonnen  sind  die  Darlegungen  S.  296  und  244  (gegen  Holl). 

5)  Juristische  und  mysterienhafte  Vorstellungen,  Opfervorstellungen  u.  a. 
wechseln  rasch  miteinander;  eine  Untersuchung  des  Verhältnisses  von  .adp-ru;  und 
ö[xoXoyT,TT,s  fehlt  fast  ganz;   die  Einzelstelien  sind  recht  oft  mißverstanden.    Ich 

Kgl.  Ges.  d.  Wiss.    Nachriditen.    Phil.-hist.  Klasse.    1916.    Heft  3.  29 


428  ^-  Reitzenstein, 

indem  er  etwaige  Schwierigkeiten  mit  der  apodiktischen  Behaup- 
tung beseitigt,  das  Martyrium  sei  ein  einheitlicher  Vorgang,  also 
handle  es  sich  immer  um  verschiedene  Seiten  derselben  Sache. 
Der  doppelte  Gebrauch  von  [taptopsiv  z.  B.  ist  einfach  zu  erklären: 
„was  der  Mund  vor  Grericht  bekannt  hat,  das  bezeugt  sozusagen 
im  Tode  der  ganze  Leib".  Ein  später  Begriff  wird  auch  hier  vor- 
ausgesetzt unter  Verzicht  auf  jede  Sonderung  der  Strömungen, 
die  zn  seiner  Bildung  führten.  Doch  ist  die  Kritik  oft  richtig, 
und  ein  unbestreitbares  Verdienst  scheint  mir,  daß  er  die  juristi- 
sche Seite  schärfer  als  seine  Vorgänger  betont  hat.  Es  handelt 
sich  um  einen  Terminus,  der  im  späteren  Gebrauch  fast  nur  bei 
Gerichtsverhandlungen  (allerdings  in  weiterem  Sinne)  Verwendung 
findet.  Der  Angeklagte  wird  dabei  als  Zeuge  bezeichnet. 
Die  Erklärung  Corssens  (S.  489)  befriedigt  mich  freilich  nicht: 
„Für  den  Christen  handelte  es  sich  in  den  Christenprozessen  nicht 
nur  um  das  Interesse  des  einzelnen  Christen,  sondern  damit  zu- 
gleich um  den  Namen,  d.  h.  den  Namen  Christus.  Es  war  die 
Sache  Christi,  die  vor  Gericht  geführt  wurde.  Der  Christ  steht 
zu  Christus  in  dem  Verhältnis  des  Sklaven  zum  Herrn.  Der  Herr 
liefert  im  Altertum  vor  Gericht  seine  Sklaven  zum  Beweis  auf 
die  Folter".  So  soll  der  Bekenner  der  Zeuge  Christi  sein. 
Unbewiesen  scheint  mir  hier,  daß  sich  nach  Auffassung  der  Christen 
der  einzelne  Prozeß  gegen  Christus  richtet  ^),  unerklärt,  daß  der 
Bekenner  doch  gerade  dem  Märtyrer  entgegengesetzt  wird;  der 
Vergleich  mit  dem  Herren,  der  den  Sklaven  auf  die  Folter  gibt, 
scheint  nicht  schlagend  genug,  um  die  Bezeichnung  Märtyrer  für 
den  Getöteten  zu  erklären;  die  Sklavenfolterung  hat  nicht  den 
Tod  zum  Zweck  oder  gewöhnlichen  Ausgang  und  nicht  nur  Skla- 
ven sind  Zeugen.  Ob  sich  eine  bessere  Erklärung  bietet,  müssen 
wir  später  sehen.  Für  jetzt  stelle  ich  nur  fest:  es  handelt  sich 
um  zwei  ganz  verschiedene  Anschauungen,  die  man  streng  sondern 
muß:  ofJLoXoYEiv  und  6[jioXoYia  bezieht  sich  auf  eine  Aussage  über 
den  Redenden  selbst;  der  Gegensatz  ist,  wenn  es  sich  um 
Fragen  handelt,  apvsia^at;  {tapTOpsiv  und  {laptopia  bezieht  sich 
auf  die  Aussage  über  einen  andern  und  apvEtod-at  kann  zunächst 
gar  nicht  den  Gegensatz  bilden  (der  ist  vielmehr  immer  «j^suSe- 
oö-at).  Der  Unterschied  mußte  geradezu  entscheidend  werden,  sobald 
die  Zugehörigkeit   zum  Christentum  an  sich  als  strafbar  galt  und 

bemerke,   daß  wo  wir,   sei  es  in  der  Auswahl  der  Stellen,    sei  es   in  den  Argu- 
menten übereinstimmen,  ohne  daß  ich  zitiere,  meiner  Darstellung  Notizen  zugrunde 
liegen,  die  ich  mir  gemacht  habe,  ehe  ich  seinen  Aufsatz  kennen  lernte. 
1)  Bei  der  Verfolgung  wäre  es  begreiflich. 


Bemerkungen  zur  Maxtyrienliteratur.  I.  429 

daher  die  Formen  des  Prozesses  eintraten.  Die  dfioXo^ia  als 
Willenserklärung  für  die  Zukunft,  vor  Grlaubensgenossen,  z.  B.  in 
der  Taufe  oder  Weihe,  tritt  jetzt  zurück  gegenüber  der  Erklärung, 
einer  unter  Strafe  gestellten  Handlung  schuldig  zu  sein,  und  nur 
ans  der  eigenartigen  Natur  des  Christenprozesses  erklärt  sich,  daß 
man  von  Anfang  an  auch  die  Willenserklärung  darin  findet,  dabei 
zu  beharren  und  die  Strafe  auf  sich  zu  nehmen.  Gewiß  gilt  diese 
Willenserklärung  dann  als  verdienstlich,  aber  ihr  Versagen  gilt 
doch  als  schwerste  Sünde.  So  kann  sie  an  sich  auch  nicht  als 
vollgenügende  Leistung  empfunden  werden^).  Dagegen  kann  eine 
jjLapxup'la  dem  Christen  im  Prozeß  überhaupt  nicht  zugeschrieben 
werden,  nicht  nur,  weil  z.  B.  das  attische  Recht,  wie  mich  Prof. 
Busolt  unter  Berufung  auf  Lipsius  A.  R.  III  (1915)  S.  875  belehrt, 
eine  jiaprjpta  in  eigener  Sache  niemandem  gestattet  "^)  und  die  spätere 
Zeit  dies  durchaus  bestätigt,  sondern  weil  es  der  Logik  wider- 
streitet, daß  der  Angeklagte  zugleich  mit  dem  Bekenntnis  für  sich 
ein  Zeugnis  für  einen  andern  ablegt.  Die  wenigen  Sonderfälle,  in 
denen  sich  das  noch  begreifen  ließe,  passen  alle  nicht  auf  die 
Christenprozesse  ^).  Also  muß  der  Begriff  {laproc  toö  Xptotoö  be- 
reits festgestanden  haben  und  das  Verbum  [tapTOpr^oa'.  technisch 
geworden  sein,  ehe  die  Prozeß  form  das  Empfinden  über- 
haupt namhaft  beeinflussen  konnte.  Der  Begriff  des 
Sterbens  kann  sich  mit  dem  Verbum  überhaupt  nur  auf  Grund 
einer  Übertragung  aus  ganz  andern  Vorstellungen  verbunden 
haben. 

Ich  darf  das  zunächst  vielleicht  aus  der  ältesten,  sicher  juden- 
christlichen Legende^)  über  den  Tod  des  Herrenbruders  Jacobus 
belegen,  die  Hegesipp  uns  erhalten  hat  (Eusebius  K.  G.  II 23). 
Zu  Jakobus  dem  Gerechten  kommen  die  Schriftgelehrten  und 
Pharisäer  und  bitten  ihn,  da  alle  ihn  unbedingt  für  glaubwürdig 
halten  %  seine  Überzeugung,  ob  Jesus  der  Christus  ist,  dem  Volke 

1)  Sehr  gut  prägt  sich  dies  bei  Hermas  Sim.  IX  28  aus. 

2)  fj-aoTupei;  aauxiü  (Euripides  Jon  532)  ist  Hohnwort ;  solch  Zeugnis  ist  un- 
gültig. 

3)  Wenn  mein  Bekenntnis  einen  andern  Mitangeklagten  entlastet,  wäre  es 
z.B.  denkhar,  daß  was  für  mich  öfioXo^ta  ist,  für  jenen  (i-aprupi«  würde.  Femer 
kann  ich  natürlich  die  bit-dkofla  eines  andern  bezeugen,  in  welchem  Sinne,  zeigt 
Pa^.  Monac.  1  Z.  61  [iapTupöi  ttj  c»{i.oXoY(a  (auch  der  Akkusativ  kommt  vor)  äxojsac 
r.api  T(üv  öejaevcuv.  Die  Urkunde  ist  spät  (574  n.  Chr.) ;  in  älterer  Zeit  steht  fwp- 
Tuptü  meist  absolut,  ebenso  txaprjpe;  (gütige  Mitteilung  Prof.  Rabeis). 

4)  Ich  gebrauche  das  Wort  in  dem  Sinne  wie  E.  Schwartz  in  dem  gleich  zu 
erwähnenden  Aufsatz. 

5)  Dies  wird  mit  Berufung  auf  seinen  gerechten  (asketischen)  Wandel  immer 

29* 


430  R-  Reitzenstein, 

beim  Passafest  zu  sagen.  Feierlich  wird  er  befragt  und  gibt  mit 
lauter  Stimme  die  Antwort:  xi  {is  sTrepcDtäts  jrepl  toö  obö  toö  av- 
^pwÄOo;  v.cd  aoTÖ?  v.ä.^rizai  Iv  oöpav^  Ix  Ss^icbv  x-fii  ^B^6ikri<;  Sovocftso)? 
%al  {leXXei  sp^^sodat  IttI  twv  vs^sXwv  xoD  oopavoö.  Hierdurch  wurden 
viele  überzeugt  und  priesen  Gott  ItcI  t-^  jiapToptcj  toö  'laxwßoo, 
die  Schriftgelehrten  aber  jammerten  xaxw?  iTronfjoajtev  toiauTYjv 
{jiapxopiav  ffapao/övTs?  T(j)  'Iirjaoö.  Nachdem  dann  die  Ermordung 
des  Jacobus  berichtet  und  mit  der  für  Hegesipp  offenbar  formel- 
haften Wendung  ejtapTüpirjoev  geschlossen  ist  (im  Sinne  von  äzs- 
-ö-avsv)  *),  folgt  eine  Angabe  über  den  Begräbnisort  (vgl.  das  Poly- 
karp- Martyrium)  und  der  neue  Satz  {idpxD?  odto?  aXyjd-i]?  'louSaiotc 
TS  xal  "'EXXifjatv  YSY^virjTai  oTt  'Itjood«;  6  XpioTÖ?  loTtv.  Schwartz,  der 
seine  Ansicht  in  der  Zeitschr.  f.  neutestam.  Wissenschaft  IV  57 
begründet,  will  ihn  einem  Interpolator  zuschreiben.  Die  Ver- 
mutung ist,  besonders  in  der  dort  gegebenen  Fassung,  ansprechend 
genug;  nur  hätte  der  Interpolator  dann  den  Sinn  der  ganzen  Er- 
zählung wundervoll  wiedergegeben  und  die  Bedeutung  des  juden- 
christlichen Terminus  [xapTD?  toö  XpioTOö  gradezu  klassisch  zum 
Ausdruck  gebracht.  Die  {tapTopta  liegt  darin,  daß  ein  Mann,  dem 
alle  glauben  sollten,  feierlich  vor  allem  Volke  die  Überzeugung 
ausspricht,  daß  Jesus  der  Messias  gewesen  ist.  Wenn  Schwartz 
daran  Anstoß  nimmt,  daß  ja  eben  iiiapTop-rjoev  vorausgegangen  ist, 
80  hat  er  nicht  genug  bewertet,  daß  dies  Wort  für  Hegesipp  gar 
keinen  Hinweis  auf  ein  Zeugnis  mehr  enthält^),  sondern  nur  die 
Tatsache  des  Todes  feststellt.  Läßt  man  auf  IjjLapTÖpYjoev  mit 
Schwartz  unmittelbar  die  Worte  folgen  xai  eudöi;  OöeoTtaatavö?  tto- 
Xiopxei  auToöc,  so  wird  die  Zerstörung  Jerusalems  als  Strafe  lür 
die  Ermordung  des  Jacobus  hingestellt.  Ist  der  von  Schwartz 
beanstandete  Satz  richtig  überliefert^),  so  erscheint  sie  als  Strafe 

wieder  betont:  p.  168,14  Schwartz  aol  -jap  Tca'vxe;  TrttDcJfAsOa •  ^^fAetc  yoip  ,uapTupoüfj.ev 
ool  xal  rAi  ö  Xaö?  oxt  ot'xoctoi;  el  xai  7rpdau)7:ov  ov»  XafjißdvEn  (nicht  durch  die  Ver- 
wandtschaftsrücksicht bestimmt  wirst).  Ttelacv  ouv  xöv  d^^ov  ...  xal  ^dip  rä?  6  Xaoj 
xal  TioEvTe?  rei8(5[xe9a  aot,  168,  23  8(xate,  <u  TtavTEC  reföeaSat  (5cpe{Xo[A2v,  är.d-jyiiko-^  iF,|jitv. 
Nicht  auf  ein  Wissen  infolge  der  Verwandtschaft  und  gemeinsamen  Erziehung 
kommt  es  an.  Ein  durchaus  glaubwürdiger  und  frommer  Mann  soll  nach  seiner 
Überzeugung  befragt  werden.     Das  allein  wird  hervorgehoben. 

1)  Vorausgeht  xataßXTjöel;  oüx  ÖTi^Oavev.  Ihm  entspricht  ^üXov  .  .  f^vsy/.Ev 
xaxa  TTjs  xetpaXr,;  toö  otxafou  xal  out(u?  EfxopTÜpTjaev. 

2)  Daß  es  aus  einem  fremden  Sprachgebrauch  übernommen  ist,  habe  ich 
früher  gezeigt  (S.  418  und  421).  Die  [j.ap-up<a  liegt  voraus;  nichts  wäre  an  ihr  {ge- 
ändert, wenn  die  Schriftgelehrten  sich  ihr  gefügt  hätten.  Das  ra'öo;  ist  eine  Folge 
des  „Zeugnisses",  aber  nicht  das  „Zeugnis"  selbst. 

3)  Mit  Ausnahme  vielleicht  des  Hinweises  auf  die"EXXT)vEc,  wiewohl  mir  auch 
dieser  Anstoß  niclit  ganz  so  groß  erscheint. 


Bemerkungen  zur  Martyrienliteratur.  I.  431 

dafür,  daß  die  Führer  des  Volkes  auch  das  letzte,  von  ihnen  selbst 
als  vollwichtig  anerkannte  Zeugnis  für  die  Messianität  Jesu  und 
damit  die  letzte  Möglichkeit  der  Rettung  verschmäht  haben.  Ich 
ziehe  das  vor,  weil  die  Legende  mir  auf  die  Klage  Jesu  über 
Jerusalem  Matth.  23,  37 — 39  bezug  zu  nehmen  scheint,  in  der  Jesus 
hervorhebt,  die  Stadt  hätte  gerettet  werden  können,  wenn  sie  ihn 
angenommen  hätte.  Aber  wie  man  auch  hier  urteile,  von  einem 
Zeugnis  in  gerichtlichem  Sinne  ist  dabei  nicht  die  Rede.  Grerade 
das,  was  Jacobus  „bezeugt",  hat  er  nicht  mit  Augen  gesehen.  Den 
Sinn  zeigt  besser  die  Stelle  im  Johannes -Evangelium  1,  19  ff.,  die 
Corssen  unglücklich  mit  den  Prozeßformeln  in  Verbindung  bringt. 
Zu  dem  Täufer  kommt  eine  offizielle  Gesandtschaft  aus  Jerusalem 
und  fragt  ihn,  ob  er  der  Messias  sei:  xai  (üjjLoXÖYTjaev  xal  oöx  •rjpvTj- 
oato  ^)  xal  wjioXÖYTjoev  or»  oox  sljil  efü)  6  Xpiatö?.  Auf  weiteres  Be- 
fragen sagt  er  dann,  der  Xptoiö?  sei  schon  erschienen  und  weile 
mitten  unter  ihnen,  ja  bezeichnet  ihn  schließlich  direkt.  Dadurch 
wird  seine  6{JLoXoYia  zur  jtaptop-a  für  Jesus  (xai  oFdXT]  sotIv  f^  jiap- 
Tupi'a  toD  'Itoavvoo).  Ich  fasse  danach  auch  Apostelgesch.  22, 18  oo'j 
rfjv  {laptopiav  zspl  gjtoö  nicht  als  Bericht  der  Vision,  die  Paulus 
erlebt  hatte,  sondern  seiner  Überzeugung,  daß  Jesus  der  Messias 
sei,  und  sehe  noch  weniger  Grund  ebenda  22,  20  die  Worte  des 
Paulus  an  den  Herren  ots  I$s/övvsto  tö  at{ta  Sts^dvoo  toö  {tÄpxopöc 
coo  auf  die  Vision,  deren  Stephanus  gewürdigt  ist,  zu  beziehen. 
Kleinlich  und  ungenügend  würde  mir  diese  Erklärung  scheinen. 
Stephanus  hat  vor  den  Obersten  seines  Volkes  Zeugnis  abgelegt, 
d.  h.  seine  Überzeugung  aussprechen  dürfen,  daß  Jesus  der  Messias 
ist.  Dadurch  ist  er  jtapto?  toö  Xp'.otoö  geworden.  Das  ist  also  für 
den  Autor  schon  Ehrentitel.  Daß  dies  Zeugnis  wahrhaftig  sei, 
hätten  die  Hörer  aus  der  geistesgewaltigen  Rede  und  aus  den  be- 
gleitenden Umständen  schließen  können.  Sie  glauben  ihm  nicht, 
und  der  [taptopia  folgt  der  Tod  des  „Zeugen".  Aber  jiapttK  ist 
Stephanus  nicht  wegen  des  Todes,   sondern  wegen  der  Botschaft. 

Ich  glaube  das  beweisen  zu  können,  indem  ich  den  Sprach- 
gebrauch des  Verfassers  des  dritten  Evangeliums  und  des  Grund- 
stockes der  Apostelgeschichte  näher  verfolge^). 

Das  Markus-Evangelium,  von  dem  wir  ausgehen  müssen,  bietet 
als  Weissagung  Jesu  13,  9  ff.  jtapaSwooooiv  o^äQ  el?  oovsSp'.a  xal  et? 
ouva^w^a?  SapTjosoO-ö  xal  kici  i^eitövöiv  xal  ßaaiXstöv  (Tcad-TjasaO'S  evsxsv 

1)  Der  Sprachgebrauch  ist  gut  gewahrt:  die  itftakojia  bezieht  sich  auf  die 
Person  des  Redenden:  die  Verstärkung  durch  den  Gegensatz  ist  formelhaft  ge- 
worden.   Von  juristischer  Sprache  empfinde  ich  nichts. 

2)  Vgl.  „Historia  monachorum  und  Ristoria  Lausiaca"  S.  85. 


432  ^'  Reitzenstein, 

l|jioö  sl?  {lapTÖ'piov  aöioi?*  xal  sl?  Ttavta  ta  s^vy]  Sei  Trpwtoy 
%'ir]po)('0-^vat  TÖ  söaYY^^^ov. ^)  xal  otav  ocYwotv  ojtä?  TcapaSiSövts?, 
|XY]  7:po{Aepi{JLvävs  ti  XaXi^oTjte  [jnrjSs  {leXetäts,  aXX'  6  lav  5od-7j  6|xiv  Iv 
Ixsivifl  T'5  wpoj,  TOÖTo  XaXstTE"  00  Yap  iazs  ufisi?  ol  XaXoövts?,  aXXa  to 
TTVsöfta  TÖ  aYtov,  fast  ohne  Änderung  gleich  Matth.  10, 17  TcapaSw- 
aoooiv  YÄp  6[JLä(:  sl?  ooveSpia,  xal  Iv  xal?  oüva^cöYat?  aotwv  [laoTiYcoooootv 
0{jLäc*  xal  IttI  t^y^IJ'-ov*?  ^^  ^*^  ßao'.Xst?  a^^Tjaso^s  ivexsv  ifioö,  et? 
{laptöptov  aoTot?  xal  toi;  S'&vsotv.  otav  S^  TcapaSiSöJatv  b^d.(;,  {j,yj 
|iepf{i,v'if]0£'rE  TTwc  T]  zi  XaXTjoTjTs  •  So'ö'rioEtat  ^ap  ufttv  sv  Ixetvi;]  t"^  (üpc|.  xt 
XaXijosTs"  00  Yap  6[i,st(;  Iote  ol  XaXoövxsc,  aXXa  tö  7tV£Ö{ia  toö  Tiatpo; 
6{iö)V  TÖ  XaXoöv  Iv  oji-iv,  etwas  geändert,  verkürzt  und  in  anderen 
Zusammenhangt)  gerückt  Luk.  12,  11  otav  8k  ^^pwatv  ojiä?  im  tac 
oovaYWYac  xal  zolq  äpy^cnQ  xal  xa?  I^oooia?,  {xtj  iispijivätE  ttw?  t]  ti  aTuo- 
XoY'Jjo'/jO'ö'S  7]  zi  EiTCTjTE'  xö  Y^^P  ^Ytov  irvsö{xa  SiSd^ei  ojiä;  Iv  aox'^  x'^ 
wpo^  a  Sei  eItcsIv. 

Auszugeben  ist  von  der  Gestalt  des  Spruches  bei  Markus. 
Ich  muß  Bekanntes  wiederholen.  Das  Wort  mußte  dem  Griechen 
fast  unverständlich  sein ;  auf  semitische  Anschauung  und  semitischen 
Sprachboden  werden  wir  geführt.  Einer  Obrigkeit  oder  Volks- 
versammlung wird  der  Jünger  die  Kunde  von  Jesus  bringen;  er 
tritt  damit  als  dessen  oder  Gottes  Gesandter  oder  Herold  auf, 
wie  es  nach  Anschauung  dieser  Quelle  die  Propheten  waren  und 
wie  es  Jesus  selbst  gewesen  ist  (Mark.  12, 1).  Nimmt  das  Volk 
die  Botschaft  nicht  an,  so  wird  er  Zeuge  wider  es.  Den 
Sinn  der  Formel  zeigt  treiFlich  der  Koran,  der  ja  in  der  Auf- 
fassung der  Propheten  als  Gesandten  Gottes^)  und  in  der  Ver- 
wendung der  Worte  „Zeugnis,  Zeugen"  auffällig  mit  dem  frühsten 
christlichen  Gebrauch  übereinstimmt,   zugleich  aber  nur  die  natür- 


1)  Die  Ursprünglichkeit  des  Berichtes  zeigt  sich  in  dem  Anschluß  dieses  nur 
bei  Markus  hier  erhaltenen  Satzes.  Matthaeus  stellt  ihn  oder  vielmehr  eine  ähn- 
liche Fassung  an  andere  Stelle,  24,  14  xol  xTipu/O^aexai  toüto  tö  eüayy^tov  t^c  ßa- 
ciXeta;  Iv  oX^  ttj  o{xou|x^vt[)  tiz  fJiapTÜptov  Ttädtv  toi;  e&veatv,  xal  tote  r^£et  t6  teXo;. 
Richtig  weist  Schlatter  darauf,  daß  Luk.  9,  5  die  semitische  und  den  Griechen  un- 
verständliche Formel  eii  fAapTuptov  outoT?  umbildet  efc  fjiapTuptov  in'  aÜToö;.  Es  ist 
das  Zeugnis  wider  sie  (vgl.  Septuag.  Arnos  7, 15). 

2)  Es  ist  die  berühmte  Stelle  über  die  öii.oXofla,  Luk.  12, 8. 

3)  "Wenn  Henoch  als  Gesandter  Gottes  an  die  Engel  erscheint  und  auch  so 
bezeichnet  wird  (Irenaeus  IV  16,  2),  so  sagt  in  dem  Koran-Kommentar  des  Tabari 
I  365  Gott  zu  den  Engeln:  „Ihr  habt  euch  über  die  Menschen  und  ihr  ünrochttun 
und  ihren  Ungehorsam  gewundert;  aber  zu  ihnen  kommen  die  Propheten  und  die 
Richter  immer  nur  einzeln,  während  zwischen  mir  und  euch  kein  Gesandter  ist" 
(ähnlich  zweimal  S.  363,  vgl.  E.  Littmann,  Festschrift  für  Fr.  C.  Andreas,  S.  75  u.  78). 
Der  Gesandte  ist  der  Mittelsmann  ;  der  Sinn  von  maxie  pidipTuc  wird  hierbei  klar. 


Bemerkungen  zur  Martyrienliteratur.  I.  433 

liehe  Fortbildung  des  alttestamentlichen  Sprachgebrauches  zeigt  ^), 
Sure  78,15,  wo  Gabriel  sagt:  „Siehe  wir  sandten  zu  euch  einen 
Gesandten  als  Zeugen  wider  euch,  wie  wir  zu  Pharao  einen 
Gesandten  entsandten",  oder  Sure  5,117,  wo  Jesus  sagt:  „Nichts 
anderes  sprach  ich  zu  ihnen,  als  was  du  mich  hießest:  'Dienet 
Allah  meinem  Herren  und  euerem  Herren',  und  ich  war  Zeuge 
wider  sie,  so  lange  ich  unter  ihnen  weilte"  (vgl.  8.4,45 
u.  a.)^).  Die  gleiche  Vorstellung  finden  wir,  wie  erwähnt,  im 
späteren  Judentum  und  dürfen  einen  ähnlichen  Sprachgebrauch  bei 
ihm  voraussetzen;  so  erklärt  sich  bei  Markus  die  Gedanken- 
verbindung „zu  einem  Zeugnis  wider  sie;  denn  allen  Völkern 
muß  erst  das  Evangelium  verkündet  (durch  Boten  überbracht) 
werden".  Wenn  sie  als  Boten  Gottes  vor  einer  Obrigkeit  oder 
Volksversammlung  reden  dürfen,  heißen  die  Apostel  wie  die  Pro- 
pheten also  wirklich  {täptope?,  ihre  Tätigkeit  [laptopslv,  ihr  Amt 
pLapxopta  ^).  Nur  kann  natürlich  auch  jedem  andern  diese  Tätigkeit 
zufallen. 

Aber  Lukas  wiederholt  den  ganzen  Spruch  noch  einmal  in 
dem  ursprünglichen  Zusammenhang,  aber  in  freier  Umgestaltung 
des  Wortlautes  21,12  iTrißaXoöoiy  icp'  ojiä?  ta?  x=^P*'J  a-jtwv  xai  8>m- 
feODOtv,  ÄapaStSdvte?  ei?  oovaYWYai;  xai  ^oXaxd«;,  a7taYO[i-evoo<;  kzl  ßaoiXsic 

1)  Ich  zitiere  nach  Hennings  Ühersetzung ;  die  Stellen  habe  ich,  von  E.  Litt- 
mann beraten,  ganz  durchgesehen,  daneben  Lanes  Lexikon  benatzt.  Auszuscheiden 
hat  natürlich,  was  sich  sofort  als  Entlehnung  aus  dem  späteren  Christentum 
zeigt,  so  die  Bezeichnung  der  im  heiligen  Kriege  Gefallenen  als  Zeugen.  Für  den 
älteren  Sprachgebrauch  führe  ich  an:  Allah,  die  Engel  und  die  Wissenden  und 
Gerechten  bezeugen,  daß  es  keinen  Gott  außer  ihm  gibt  (3,16;  4,164;  9,108; 
59, 11 ;  63, 1).  Die  Schriftgelehrten  haben  dieselbe  Pflicht  (3,  63).  "Wer  mit  seiner 
Person  für  eine  Überzeugung  eintritt  und  sie  verkündet,  legt  Zeugnis  ab  (21,57; 
5,113).  Nicht  nentestamentlich  ist,  daß  selbst  im  abgeschwächten  Gebrauch 
Zeugen  für  Bekennen  eintritt  (63,1;  3,45;  5,  111  u.a.).  Eine  gewisse  Feierlich- 
keit und  religiöse  Bedeutung  der  Behauptung  bleibt  freilich  auch  da. 

2)  Gerade  für  diesen  uns  befremdlichen  Gebrauch  gibt  das  Alte  Testament 
wenigstens  die  Ausgangspunkte  der  Entwicklung.  Die  Anschauung  entspricht 
dabei  der  Anschauung  des  israelitischen  individuellen  Prophetentums  (Smend,  Lehr- 
buch d.  alttestamentl.  Religionsgesch.*  S.  254  ff.).  Arnos  wird  von  Gott  entsendet 
und  erhält  den  Auftrag  (7,  15)  zpo^Tj-reusov  itzi  xov  Xaov  jao-j  'bpa/Ä ,  das  heißt : 
wider  es. 

3)  Die  jüdischen  Berichte  über  Martyrien  verwenden  den  Terminus  nicht. 
Aber  sie  erzählen,  soweit  sie  uns  erhalten  sind,  ja  auch  nur  von  Leiden,  nicht 
von  einer  neuen  Botschaft  Gottes,  die  den  Gesandten  doch  erst  zum  Gesandten 
macht.  Die  einzige  Ausnahme  (oben  S.  427,  2)  wird  eher  auf  den  später  zu  be- 
sprechenden hellenistischen  Gebrauch  gehen.  Auffällig  ist,  daß  auf  die  Bildung 
der  Terminologie  die  Septuaginta  keinen  Einfluß  übt  (sie  verwendet  mit  Vorliebe 
ctafioprjpsaöat) ;  der  Gebrauch  stammt  direkt  aus  dem  Semitischen. 


434  ^-  Reitzenstein, 

xai  •fi'^s^6\icL(;  svsxev  toö  6vö[iaTÖ?  \loü.  aTcoßiijostai  ös  6{iiv  el? 
{taptöptov,  ■6-§TS  oov  Iv  Tcä<;  xapSiat?  ujtwv  {ti]  7rpo{isXETäv  aTcoXoYVj^'^vai * 
l^ö)  YO'P  Swow  ofJLiv  OTd{ia  xal  oo^tav,  -^  oo  SovTjoovTa!:  äv- 
Tto-c^vat  y)  avTstTTEiv  ocTravtec  oi  avtixs ({levoi  6(jilv.  Aus  dem 
einfachen  „zu  einem  Zeugnis  wider  sie",  in  dem  für  Griechen  aller- 
dings fast  unverständlichen  Sinne,  ist  hier  geworden  „euch  wird  es 
die  Ehre  der  Zeugenschaft  bringen",  die  Ehre  für  Christus  einzu- 
treten oder  eine  Botschaft  Gottes  zu  bringen  und  zwar  in  Worten, 
die  von  Gott  selbst  eingegeben  und  darum  unwiderlegbar  sind^). 
Ein  technischer  Gebrauch  wird  hier  vorausgesetzt,  nach  dem 
[laptoptov  nicht  Tod,  sondern  die  Verkündigung  bedeutet,  der  dann 
freilich  vielleicht  Leiden  oder  Tod  folgt  (vgl.  in  der  Fortsetzung 
■O-avaTcbaooacv  s^  opiwv).  Die  Worte  selbst  kann  ich  gar  nicht  von 
Apostelgesch.  6,  10  trennen  xal  oox  lo^^oov  avtiof^va'.  t-^  ooiptcj  xal 
T(p  TTVEÖjjiaTt,  (^  iXaXst.  Die  Erzählung  von  Stephanus  soll  die  Er- 
füllung der  Prophezeiung  Ev.  21,  13 — 15  geben.  Als  v.ripv>i  toö  Xpi- 
otoö  ist  Stephanus  also  [laptoc,  nicht  aber  wegen  des  Tudd-o?  oder  der 
Vision.  Hierzu  paßt  Apostelgesch.  1,  8  Xifjji^Ea^E  Söva{xiv  iTusX^övto? 
TOÖ  (XYtoo  TTVEÖjiaTO?  1^'  6[i,ä(;  xal  l'osaO-E  (jloo  jidcpTops?  iv  te  'IspoooaXTjjx 
xal  Iv  iraoijj  t-jj  'looSaioj  xal  Sapiapstcf  xal  ioD?  io/dToo  t-^?  y"^?-  End- 
lich erklärt  sich  von  hier  Ev.  24,  46  (Parallelbericht)  xal  eittev  aoToi? 
OTt  ooTco?  •^s'^pa'Kzai  Tua^ö-siv  töv  XpioTÖv  xal  avaoT'^vai  Ix  VExpwv  t^ 
TpiTi{]  i^fJLSpo^,  xal  xirjp  o/'9''^  vat  IttI  Ttp  6vö|JLati  auToö  (jisTävo'.av  xal 
acpsotv  («{lapTtwv  sl?  icavTa  Ta  s^vy],  ap^aji-Evov  OLizb  'lEpoooaXijfJL  ^).  6[tst? 
jjLapTops?  ToÖTCdv,  xal  ISoö  Iyo>  l^arcooT^XXto  t'^v  kittvcfskicLV  toö  jraTpö? 
|X0D  l(p'  Dfiä?  •  ofjiEii;  ÖS  xa^loaTE  Iv  z^l  "^öXei  so)?  oo  IvSöaTfjoO-E  ki  u«})00? 
2üvajj.'.v.  Bezug  darauf  nimmt  Apostelgesch.  10,  39 — 43,  wo  freilich 
daneben  der  Begriff  ji,dpTO<;  Augenzeuge  mit  einwirkt;  wichtig 
ist  die  Verbindung  der  Worte  XYjpö^ai  t<^  Xa^  xal  8ia|JiapTÖpa<3&ai '). 


1)  Von  dem  Sterben  ist,  wie  der  Zusammenhang  zeigt,  gar  nicht  die  Rede. 
Die  verschiedenen  andern  Erklärungsversuche  übergehe  ich.  Für  meine  Erklärung 
verweise  ich  schon  hier  auf  Apok.  6,  9  t^v  (Aapxupfav  V)v  elyov.  Hier  ist  das  Femi- 
ninum Amtsbezeichnung;  es  scheint  bei  Lukas  nur  der  Anknüpfung  an  die  alte 
Formel  halber  gemieden. 

2)  Vgl.  in  demselben  Gedankenzusammenhang  10,  43  toÜTtp  rrfvctc  ol  Trpofp^xat 
[xGtpTupoüatv  xtX. 

3)  Sprachgebrauch  der  Septuaginta.  Sicher  aus  derselben  Quelle  stammt 
ferner  Apostelgesch.  23,11  <o;  Ycip  Steixaprjpou  t4  Tiepl  ifxoü  ei;  'Itpo'jsaXi^fA ,  o'Jtu>; 
ae  oet  xoii  tk  'Pü)|j.7)v  |j.apTup^(Jat  (vgl.  oben  S.  421,  2).  Das  Wort  scheint  hierbei  ab- 
solut gebraucht;  es  bedeutet  „Sendbote  sein,  die  Verkündigung  bringen",  also  mit 
dem  neuen  Terminus  genau  das,  was  in  älterer  Terminologie  9,16  bezeichnet  wird 
als  ßaaxct'aat  tö  {Jvo{xd  |aou  £v«u3tiov  idvAv  xe  xtX  ßaatX^cuv.  Klar  ist,  daß  der  Tod 
dabei  nicht  irgendwie  Vorbedingung  ist. 


Bemerkungen  zur  Martyrienliteratnr.  I.  435 

Für  Lukas  verbindet  sich  also  mit  dem  Worte  {tiprj?  schon  der 
hellenistische  Begriff  des  Pneumatikers,  der  in  der  Quelle  iMarkns) 
noch  durchaus  nicht  zu  liegen  braucht^).  Das  {taptuptov  (die  {tap- 
Topia)  ist  eine  "Würde,  ein  Amt;  nur  wer  den  Geist  und  die  Kraft 
empfangen  hat,  kann  es  ausüben.  Berufen  dazu  sind  zunächst  die 
Apostel,  aber  weder  besteht  hierin  ihr  ganzes  Tun,  noch  ist  die 
{lap-copia  auf  sie  beschränkt.  Stephanus  soll  nicht  als  Apostel^) 
geschildert  werden,  und  mit  voller  Absicht  vermeidet  der  Verfasser 
von  einem  der  wirklichen  Apostel  (den  Zebedaiden.  Petrus  oder 
Paulus)  den  glorreichen  Ausgang  der  {lapropia  im  Tode  zu  schildern. 
Er  würde  dadurch  den  einen  über  alle  andern  hinausrücken.  So 
schaift  er  gewissermaßen  eine  neue  Kategorie. 

Den  gleichen  jüdisch  -  christlichen  Sprachgebrauch  zeigt  ganz 
die  Apokalypse  des  Johannes.  Die  Zahl  der  Stellen  gestattet  ein 
sicheres  Urteil.  Wenn  Holl  sich  auf  11,  3  die  Erwähnung  der 
beiden  {taptups«;  Gottes  berief,  die  1260  Tage  Buße  predigen  werden 
(Trpo^TjTEos'.v).  so  schclut  mir  gerade  diese  Stelle  gegen  ihn  zu  spre- 
chen. Erst  nach  einer  langen  Ausführung  heißt  es  v.  7  xal  otav 
xsXeawoiv  ttjv  {lap^opiav  a^tüv,  zb  Oifjpiov  .  .  .  ÄOifjOei  {ist'  aotwv 
zöXejJLOv  xal  vixtjos»  aoto-x;  xal  ötTroxtsvEi  aotoa?.  Der  Titel  |i.apTop£<; 
und  die  Bezeichnung  ihrer  Tätigkeit  als  tiaptopia  ist  von  dem  Tode 
ganz  unabhängig.  Danach  ist  12, 11  zu  beurteilen  xal  aotoi  Ivixr^ 
oav  aoTÖv  S'.a  tö  aijia  toü  äpvloo  xal  8». a  töv  Xd^ov  t"^?  {taptopia; 
aoTÄv,  xal  o6x  tjdmrjaav  ttjv  «|>oyrjv  aötcüv  a^pi  ^avatou  (bis  zum 
Tode  haben  sie  die  Botschaft  verkündet).  Noch  klarer  scheint  mir 
die  Bedeutung  6,  9  iSov  oKoxdto)  toö  ^oo'.aonjptoo  ta<;  «jra^^a?  t<öv  lo^a- 
7jj.sva)V  Sia  xov  Xöfov  toö  O'SoO  xal  Sta  tijv  (laptoptav,  f^v  el/ov. 
Das  kann  m.  E.  nur  heißen  ,,den  Auftrag  Jesu  Namen  zu  ver- 
kündigen"; weil  sie  {lAptops?  waren,  sind  sie  getötet  worden. 
Hiermit  verbindet  sich  sofort  20,  4  xal  ta?  «[»o^d?  twv  TrsTcsXexiajiivtov 
8id  TTjv  {laptopiav  'Irjaoö  xal  Std  töv  Xöifov  zob  ^soö  xal  orrtvs?  o6  i:po- 
osxövYjoav  TÖ  ^piov,  ferner  1,  9  Iy-^oM''  ^^  '^  vi^ocp  rfi  xa^oo{i£vx< 
IIdt[i,(p  Sia  TÖV  XÖYOv  toö  ^soö  xal  rfjv  [tapToplav  'Itjooö  (Variante  'Itjsoü 
XpioToö)  ^).    Schon  das  izä^oq  der  Verbannung  8ta  tö  ovo;j.a  gibt  ihm 


1)  Sie  sollen  vor  der  Verantwortung  nicht  erschrecken;  Gott  selbst  wird 
ihnen  die  Worte  geben:  nicht  sie  noch  er  sind  schuld,  wenn  die  Botschaft  er- 
folglos bleibt.   Wellhausen,  Das  Evangelium  Marci  S.  102  geht  mir  etwas  zu  weit. 

2)  Auch  nicht  als  Prophet.  Die  Neubildung  ist  fühlbar.  Wir  dürfen  sie 
uns  nicht  verdunkeln. 

3)  Vgl.  3,  8  ^TT,p7)3«i;  fiou  tov  Xoyov  (Gebot)  xaX  o\ix  T^pvi^sto  t6  ovofxa  fiov»  und 
3,  10  ^-nQprjsaj  xov  Xoyov  t^;  ürou.ovT;;  fiou.  Ich  deute  daher  aucli  in  den  oben  an- 
geführten Stellen  Xoyov  8eoü  als  den  Befehl  Gottes,  der  die  (xaorjpia  aufträgt. 


436  R.  Reitzenstein, 

einen  Ansprucli  auf  Visionen  und  gibt  ihm  Sö^a.  Der  Tod  ist 
also  für  den  Begriff  nicht  einmal  als  Folge  nötig.  Aus  6,  9  er- 
klärt sich  ferner  12, 17  aTi-^X^ev  Tcof^aai  ;töXs(Aov  jisxa  twv  Xot;rä)v  Toi> 
a7rsp[iaT0<;  auT-^i;  twv  TTjpoövtwv  ta?  svToXa?  O-soö  xai  l/övxcov  ttjV  [tap- 
Topiav  'Ivjaoö  und  19,  10  oüvSooXö?  ooo  sl{i,l  xat  twv  aSeXcpwv  ooo  twv 
l)(övT(öv  TTjv  [lap-Toptav  'Itjooö.  tcp  ■9'S(p  TrpooxövTQoov.  Y]  Yap  {j^aptopta 
'Iyjcjod  loTiv  TÖ  TTveöjta  x-^i;  TtpotpYjTsia?.  Wenn  ferner  an  zwei  Stellen 
Christus  selbst  als  jAdptoc  bezeichnet  wird,  1,5  xai  ättö  'Iyjooü  Xpi- 
otoö,  6  {laptu?  6  TCtatöc,  6  TrpwTÖröxoc  twv  vexpwv  xai  6  ap)(töv  twv  ßaat- 
Xiüöv  t"^?  Y"^?  ^)  und  3,  14  taSs  Xs^st  6  a[JL7]v,  6  {JiapxD«;  6  Tciatö?  xat 
dXiQ'ö-tvöi;,  1^  apx"»)  f^?  XTioew?  toö  ^soö,  so  zeigt  besonders  die  zweite 
in  den  Worten  mSs  Xs^st,  daß  Christus  dabei  als  Träger  der  Bot- 
schaft Gottes  einst  wie  jetzt  bezeichnet  wird.  Wohl  hat  er  wegen 
dieser  jiapTopia  den  Tod  erlitten  und  ist  zum  Lohne  wieder  erweckt 
worden,  aber  die  Botschaft  an  die  Welt  bestand  nicht  in  dem  Tode. 
Hiernach  ist  zu  beurteilen  1,  2  o?  ItiapxöpYjoev  töv  XÖ70V  toö  ■9-soö  xai 
TTjv  [taptopiav  'Itjooö  oaa  l'Ssv  (was  Jesus  als  Beauftragter  Gottes  ihm 
aufgetragen  hat,  nämlich  durch  Gesichte,  hat  er  sogar  in  einem 
schriftlichen  XT^pOTj^a  verzeichnet).  So  können  auch  die  beiden  ein- 
zig übrig  bleibenden  Stellen  2,  13  'AvTi'juac  6  [idpioc  (too  6  moTÖ?  ^00 '-) 
og  aTuexTav^Y]  Tcap'  ufjiiv  und  17,  6  Yovaixa  [ts^uoooav  Ix  toö  ai[JLaTO<; 
•cwv  aYiwv  xai  Ix  toö  atfiatos  twv  {iaptöpcov  'Itjooö  nicht  anders  gefaßt 
werden.  Nicht,  weil  sie  getötet  sind,  heißen  sie  {Jidpxops?,  sondern 
weil  sie  {läptope?  'Iyjooö  gewesen  sind,  sind  sie  getötet  worden''). 
Die  drei  Schriften  zeigen  deutlich  die  Entwicklung  eines  tech- 
nischen Sprachgebrauches  auf  judenchristlichem  Boden*).  Es  war 
ein  Großes,  wenn  Männer  aus  dem  Volk  plötzlich  vor  die  Schritt- 
gelehrten oder  die  Menge  treten  mußten,  um  ihre  Überzeugung, 
daß  Jesus  der  Messias  sei,  zu  rechtfertigen.  Sie  fühlten,  daß  sie 
es  nur  durch  den  Geist  Gottes   oder   der  Propheten  könnten  und 


1)  Bekannt  ist  der  Hinweis  auf  die  „raessianische  Weissagung"  Ps.  88,  20 
ü<3jiuiisa  ^/XexTov  iyt.  xoü  Xaoü  jxou  .  .  25  xai  ^  äXi^öeid  ijiou  xai  to  IXerf;  aou  fjiet'  a'jTOÜ  .  . 
28  xifui  7:ptuT»iTOXov  Oi^aofxat  aixo'v,  ütj^rjXov  Ttapd  toi;  ßaatXeüaiv  ttj?  y^?  •  •  ^8  xai  h 
[j-apTu;  h  oüpavtji  Tttaxo?.  Wie  trefflich  das  in  den  allgemeinen  Gedankenzusammen- 
liang  paßt,  wird  sich  später  zeigen. 

2)  Vgl.  für  den  ursprünglichen  Sinn  auch  I.  Kor.  7,  25. 

3)  Richtig  schon  hei  Cremer,  Schlatter  u.  a. 

4)  Daß  er  sich  nicht  in  allen  Kreisen  gleichmäßig  entwickelt,  habe  ich  frülier 
betont  (S.  419  ff.)  und  zeigt  z.  li.  der  erste  Bericht  über  die  Bekehrung  des  Paulus 
verglichen  mit  dessen  Rede  Apostelgesch.  22  und  mit  23,  oder  der  erste  Petrus- 
brief, der  Traayetv  beständig  verwendet,  ohne  je  an  eine  (xapTupfa  zu  denken  (5,  1 
ist  jxa'pTu;  täv  toü  Xpiatoü  Tra&TjaaTtuv  nicht  in  technischem  Sinne  gebraucht,  son- 
dern heißt  einfach  „der  bei  der  Passion  Christi  zugegen  war''). 


Bemerkungen  zur  Martyrienliteratur.  I.  437 

daß  sie  eine  gewisse  "Wärde  dadurch  erlangten;  aber  als  Apostel 
oder  Propheten  bezeichnet  haben  sie  sich  darum  nicht.  —  Noch 
ließ  der  Umstand,  daß  der  Christenglaube  wenig  bekannt  war,  ein 
xYjpoaosiv  zu.  Es  mußte  fast  unmöglich  werden,  als  das  Christentum 
rechtlich  verboten  war  und  die  bloße  6|ioXoYia,  also  die  Worte 
Xpiottavöc  eijjLi,  zur  Verurteilung  genügten.  Wohl  suchen  die  Be- 
richte noch  vereinzelt  eine  pLaptopta  im  alten  Sinne  hereinzubringen ; 
Versuche  mögen  auch  im  Leben  gemacht  und  ab  und  an  gelungen 
sein.  A  priori  läßt  sich  das  nicht  leugnen,  so  übel  der  Versuch 
auch  ausgefallen  ist,  sie  in  konkreten  Fällen,  wie  bei  Carpus  oder 
gar  bei  ApoUonius  nachzuweisen^).  Der  Anlaß,  den  die  Bericht- 
erstatter zu  derartigen  Einlagen  hatten,  liegt  in  der  erhofften 
Wirkung  auf  Leser  aus  heidnischen  Kreisen  ebenso  wie  in  dem 
Bestreben,  die  herkömmliche  Bezeichnung  des  {tiptoi;  zu  recht- 
fertigen ^).  Trotzdem  zeigen  unsere  besseren  Akten  selbst  und 
zeigt  jede  Erwägung  der  Rechtslage,  daß  es  nur  auf  die  ojJioXoYta 
noch  ankommt.  Eine  neue  Begründung  des  Titels,  an  den  so  hohe 
Vorstellungen  knüpften,  war  nötig  und  ein  neuer  Sprachgebrauch 
bildete  sich.  Ich  habe  ihn  neben  dem  alten  schon  bei  Hegesipp 
nachweisen  können.  In  ähnlich  widerspruchsvoller  Weise  erscheint 
er  auch  im  ersten  Clemensbrief. 

Ich  setze  die  Stelle  in  ihrem  vollen  Zusammenhang  her, 
um  die  rhetorische,  bezw.  philosophische  Färbung  der  Sprache') 
zur  Anschauung  zu  bringen,  auf  die  ich  später  zurückverweisen 
muß  (cap.  5) :  aXX'  Tva  twv  ap^^aicav  o;roSEiif{iaT(ov  irauowjjiäda,  eX^(ü{tsv 
ETtl  tooi;  SYY'.ata  Y£vo{ievoo?  ad'XirjTa?,  Xdßa){i£V  rffi  YSVsäc;  "f^itcäv  ta 
fevvaia  uxo6s'lY{i,axa.  Sid  C'^Xov  xai  (pO'övov  ol  {irj".aTO'.  xai  Sixatötato'. 
OTöXot  IS'.w^^O-TTjaav  xai  iw?  ^avaroo  "^^XYjcjav.  Xaß(ö{i£v  spo  ^daX- 
•löiv  f|{JLwv  Too?  aYadoo?  arooTöXoo<;,  üetpov,  o?  Sid  C^Xov  aStxov  oo^ 
Iva  oöSI  Söo,  aXXa  TcXetovac  otctjvsyxs  ttovoo?  xat  ootwc 
IxapTopiQoa?  eitopsö^  si?  töv  ö^eiXö{xevov  totcov  vr^  töirfi.  Sui  Ct^Xov 
xai  spiv  naöXo?  o:ro{jLOV^C  ßpaßsiov  s8e'4ev,  e7rcdxi<;  8£a{JLd  ©opdaa?,  ©u- 
1fa8£o^£i?,    Xtda3^£'l?,    XT]po?   f£VÖ|i.svoc   lvT£T^  avatoX-^  xai  Iv  t-g 

1)  Ich  verweise  für  das  erstgenannte  Martyrium  auf  meine  vorläufigen  Be- 
merkungen in  dem  Aufsatz  Die  Nachrichten  über  den  Tod  Cyprians,  Sitzungsber. 
d.  Heidelb.  Akademie,  1913,  XIX  S.  43,  3.  Über  ApoUonius  scheinen  die  Akten 
ja  endlich  geschlossen,  und  zwar  für  den  Philologen  rahmlich  geschlossen. 

2)  Man  arbeitet  eine  Art  x:^puY(Aa  hinein.  Es  ist  dieselbe  Erscheinung,  wenn 
aus  anderem,  gleich  zu  besprechendem  Sprachempfinden  die  Qualen  der  Folterung 
breit  ausgemalt  und  gehäuft  werden. 

3)  Vgl.  für  sie  auch  cap.  6, 2 — 4  (mit  ^f^loi  xat  Ipt;  -oXet;  jjleyoü.ci;  xaT£3xaJ»ev 
xoi  lövTj  \ixiiki  EcepiCcuaEv  vergleicht  man  sofort  CatuU  51,  13  otium  .  .  .  otio  .  .  . 
otium  et  reges  prius  et  heatas  perdidü  urbes). 


438  ^-  Reitzenstein, 

Soosi,  TÖ  YEVvaiov  t^c  Tziazeiüq  autoö  xXso?  sXaßsv,  SixaiooovYjv  StSdc^ac 
oXov  TÖv  xöo|AOV,  xal  IttI  tö  tspiia  f^?  Suascö?  IX^wv  xal  {AaptopTjoac 
kill  TÖV  "i^YODfiivwv  oüTox;  aTnrjXXäYT]  toö  xöojiou  %at  elc  töv  Syiov 
TÖTTov  iTTopso'ö'ir],  oTTOfiov^?  Y^^o^-^o?  ^sfiavoQ  67roYpa{i[iö?  ^).  Die  An- 
schauung ist,  wie  zu  erwarten  war,  im  wesentlichen  judenchrist- 
lich. Das  Zeugnis  von  Christus,  das  er  vor  den  Herrschern  der 
Erde  ablegen  durfte,  wird  an  Paulus  hervorgehoben  2),  dem  {lapto- 
pTjoa?  entspricht  hier  XTJpo^  ysvö|jlsvo<;  und  klar  wird  davon  der  Tod 
(aTCYjXXaYTQ  toö  xoojjloo)  abgehoben ;  freilich  wird  die  lange  Folge  der 
itäd-ri  auch  schon  betont.  In  der  entsprechenden  Würdigung  des 
Petrus  aber  bezieht  sich  {lapTop-rjoa?  auf  die  irövot  [iiäd-i])  selbst, 
deren  Ende  der  Tod  ist;  das  Tzad-oc;  ist  die^iapTopia.  Dem 
Verfasser  sind  beide  Ausdrucksweisen  schon  geläufig;  er  wechselt 
aus  stilistischen  Grründen. 

Ahnlich  und  doch  anders  ist  es  in  den  Pastoralbriefen,  vgl. 
I.  Tim.  6,  11  if.  Siwxe  Ss  StxaioaövYjv,  eoosßsiav,  TctoTtv,  otYaTCTjv,  OTtojAovifJv, 
TTpaüTra^etav.  ocYtoviCoo  töv  xaXöv  aY<öva  t^<;  TutoTsox;,  sTiiXaßoö  t^c  alw- 
vbo  C»^?,  sl?  ^v  sxXTfjö-Yjc,  xal  (öjioXö  Y"iQoa<;  TYjvxaXYjv  6{i.oXoYiav 
IvtöTCtov  ;roXXä)v  {xapTÖpwv.  TrapaYYsXXw  ao:  evwTriov  toö  •O-soö  toä 
CwoYOVoövTO?  Tot  Trdvta  xal  Xptatoö  'Iy]ooö  toö  {lapTopiQoavToc  kizl 
üovTtoo  IltXdToo   TYjv   XttXTjv   6[JLoXoYtav  TYjp^oai  OS  T7]v  IvtoXtjv 

aOTTlXoV  aVSTTlXTJfiTTTOV  {J-^XP^  '^^*»  iTTt^aVStaC  TOÖ  XOpiOO    fj(JL{J)V  'IlTjOOÖ  XpiOTOÖ. 

Der  Verfasser  entnimmt  dem  Paulus  die  Auffassung  des  Christen- 
lebens als  eines  beständigen  Erlebens  der  Passion  des  Herren  und 
einzelnen  Stellen  (vgl.  z.  B.  I.  Kor.  9,  24  ff.)  noch  besonders  den 
Anlaß,  den  Lebenslauf  des  Christen  als  den  xaXöc  otYwv  zu  be- 
zeichnen (II.  Tim  4,  7) ;  aber  er  versteht  ^y^v  auch  schon  von  der 
passio.  Er  gewinnt  sich  damit  die  Möglichkeit,  die  ©[AoXoYia  bei 
der  Taufe  (oder  Priesterweihe?)  dem  Bekenntnis  Jesu,  das  als 
Selbstbekenntnis  natürlich  auch  6|ioXoYta  heißt ,  gleichzustellen. 
Nur  wechselt  er  bei  der  entsprechenden  Wendung  mit  dem  Ver- 
bum  und  gebraucht  von  Jesus  eine  Wortverbindung,  die  ganz  un- 
griechisch und  gewollt  paradox  scheint,  toö  {jLapTopi^oavTo^STci  Hov- 
Ttoo  IltXATOo  TTjv  xaX-jjv  6{ioXoYiav  ^).  Scheinbar  ist  hier  ©{ioXoysiv  und 
{tapTopeiv  synonym  gebraucht,  aber  [lapTopeiv  hat  dabei  eine  be- 
stimmte Nebenbedeutung,  die  es  bei  Paulus  selbst  nicht  hat  und 
nicht  haben  kann,    nämlich  TtaO-eiv,    ajco^avsüv.     Ein  ähnliches  Spiel 


1)  Vgl.  Polykarp  Fhil.  8,  2. 

2)  Vgl.  Mark.  13,9  ItA  V)Yt(AOvu)v   xal    ßaatX^tuv   araö/jaeifte    Ivixev  i\i.o\i  »{« 
}>.  «pTupiov  aÜToiC  xa\  th  Travra  xa  ?8v7)  Sei  rpÄrov  xTjpu^^ft^vai  t6  t^iafjiXios. 

3)  Jeder  Versuch   der  Änderung  ist  durch   die  gewollte  Responsion  ausge- 
schlossen. 


Bemerkungen  zur  Martyrienliteratur.  I.  439 

liegt  11.  Tim.  1,8  vor  jit]  oov  iKaioxov^jC  xö  «lapTopiov  toö  xopioo 
rj|tö)v  {JLYjSe  £[ts  TÖv  S^opitov  aotoö,  aXXa  ouvxaxo-aO-r^oov  T(^  säa^YS^tV 
xata  Sövaiitv  *eoö.  Natürlich  ist  der  Hauptsinn  „deis  Evange- 
lium von  dem  Herrn",  das  Timotheus  hört  und  predigen  soll*); 
das  zeigt  schon  das  echt  -  paulinische  Vorbild,  das  nachgeahmt 
werden  soll,  Rom.  1, 16  oö  ^ap  IzaKr/övofiai  tö  eoaYfsXiov  (vgl.  I.  Kor. 
2,  1)  5Dvotjt'.<;  YÄp  Osoö  iar.v  xtX.  Aber  das  Wort  oovxaxo7rd^,aov 
und  die  Berufung  auf  die  Gefangenschaft  des  Paalus  zeigt,  daß 
zugleich  an  das  Leiden  des  Herrn  gedacht  werden  soll.  An  der 
zuerst  genannten  Stelle  hat  man  mit  Recht  seit  langem  an  die 
Benutzung  einer  alten  Bekenntnisformel  gedacht.  Den  Gegensatz 
zu  6  dsö?  6  CwoTOVwv  ta  Tidvta  kann  nur  Xptotöc  'ItjOoöc  6  itadwv 
kid  Ilovnoo  Il'.Xdtoo  bilden  (der  lebendige  und  lebenspendende  Gott 
und  der  unter  Pilatus  gestorbene  Heiland  bilden  den  Glaubens- 
inhalt und  sind  die  Zeugen)^).  Man  soll  wirklich  nicht  fragen, 
welches  Bekenntnis  gemeint  ist,  oder  gar  (mit  Corssen  S.  496)  auf 
eines  raten,  das  gar  nicht  vor  Pilatus  abgelegt  ist.  Christus  hat 
vor  Gericht  gestanden  und  sein  Bekenntnis  hat  zum  Tode  geführt; 
darum  ist  er  der  erste  Märtyrer  in  nnserm  Sinne.  Der  schon 
feste  Gebrauch  des  Wortes  [«.apTupTJoa?  für  O-avwv  ermöglicht  den 
schillernden  Ausdruck^). 

Allein  die  Stelle  ist  damit  noch  nicht  erledigt.     So  wenig  es 
meine  Aufgabe  sein  kann,  die  Frage  nach  Datierung  und  Tendenz 


1)  Vgl.  I.  Tim.  2,  6  ö  5ol)C  sauTÖv  dtvrO.utpov  üzip  rdvruiv,  -ö  actpT'jptov  xatooi; 
tSfoi?,  e{;  8  i-:i%r^'/  iyui  xr,p'j;  xai  dröstoXo;.  Die  Erlösung  (durch  die  Passion)  ist 
das  z^afiÜM-/,  Paulus  sein  xr,pu$  (das  Wort,  das  in  diesen  Briefen  so  besonders  oft 
erscheint) ;  anders  U.  Tim.  2,  2  a  ^xousa;  zap'  ^(loü  5iä  -oD.üiv  fiapriptov. 

2)  Vgl.  etwa  Ignatius  Trall.  9,  I  ä).T,t)«ü;  iSttü^ÖTj  £rt  Flovrio-j  üi).d-o'j,  ä\T^- 
d  ü)i  £3Tajptu&r|  xai  dreSavev. 

3)  Ähnliche  Spiele  mit  dem  durch  die  beiden  verschiedenen  Ausdrucks  weisen 
veranlaßten  Doppelsinn  kann  man  bis  in  junge  Zeit  verfolgen.  Cyprian  sagt  in 
einer  äußerst  gezierten  Briefstelle  (38,2)  er  habe  den  confessor  Aurelian  zum 
lector  gewählt,  quia  et  nihil  magis  congruit  vod,  quae  deum  (jloriosa  praedicatione 
confessa  est,  quam  celebrandis  divinis  lectionibus  personare ,  post  verba  divina, 
quae  Christi  martyrium  prolocuta  sunt,  evangelium  Christi  iegere,  unde 
martyres  fiunt.  Die  verba  divina  quae  Christi  martyrium  prolocuta  sunt  sind  na- 
türlich die  vom  Geiste  eingegebenen  Worte  der  6fjioXoYta,  die  als  Zeugnis  für 
Christus  gefaßt  werden.  Cyprian  folgt  sonst  einem  ganz  anderen ,  juristischen 
Sprachgebrauch.  Polykarp  schreibt  (7,  1)  -ä;  y^P  5;  av  jiTj  ^|jLoXoyfj  'Itj2güv  Xpi^töv 
£v  Sfzpxi  IJvTjXuöevai,  ävtr/ptSTo;  ijiiv,  xii  o;  av  [jltj  öfAoXoY^  t6  ijiaprjpiov  toO  STaupo-j 
^x  Toü  oiotßoXo'j  £3Tiv.  Er  will  der  Geburt  den  Tod  gegenüberstellen;  aber  heißt 
(Aopripcov  Toj  ffraupoj  das  Leiden  des  Kreuzestodes  (vgl.  Paulus  Phil.  2, 8  dovato; 
3Ta'jpoü)  oder  bedeutet  es  das  Zeugnis,  das  das  Kreuz  für  Jesu  Leiblichkeit  ab- 
legt, das  EjaYYEÄiov  xovi  staupoü  im  neuen  Sinne? 


440  ^-  Reitzenstein, 

der  Pastoralbriefe  ^)  hier  eingehend  zu  erörtern,  so  ist  es  doch 
Pflicht,  wenn  die  Geschichte  eines  Wortes  für  eine  solche  Frage 
Wichtigkeit  gewinnt,  wenigstens  nachdrücklich  darauf  hinzuweisen. 
Welcher  Anlaß  liegt  für  den  Verfasser  vor,  die  Passion  des  Herren 
als  {xapxüpia  in  dieser  pointierten  Weise  mit  dem  Leben  des  Christen 
als  6[ioXoYta  oder  [jiapTopta  zu  vergleichen?  Bedenkt  man,  daß  die 
Briefe  gegen  Gnostiker  sich  wenden,  welche  sagen,  die  Auferstehung 
sei  schon  geschehen  (11.  Tim.  2,  18),  daß  sie  in  nachdrücklichster 
Weise  gegen  die  Pneumatiker  (besonders  die  Asketen)  polemisieren^) 
und  nicht  dem  Geistesträger,  sondern  dem  Bischof  die  Rolle  des 
XTf^po^  zuschreiben,  so  kann  man  es  nicht  für  zufällig  halten,  daß 
im  zweiten  Jahrhundert  weite  Kreise  des  Christentums  das  Mar- 
tyrium als  Leistung  ablehnen:  Christus  verlangt  von  seinen  An- 
hängern nicht  die  6[j-oXoYta  oder  {ji-apTopia  Sidc  Xöywv  iv  SixaatTjptcp,  son- 
dern diä  TrioTstoc  Iv  oX(j)  t^  ßtcp.  Gewiß  werden  für  diese  Ansicht 
gerade  Gnostiker  zitiert^);  aber  auch  Ignatius  benutzt  gnostische 
Anschauungen,  um  Gnostiker  zu  bekämpfen.  Dem  Vertreter  der 
Bischofskirche,  der  hier  spricht,  sind  die  Ansprüche  der  ßekenner 
unerträglich.  So  deutet  er  das  wahre  Bekenntnis  auf  den  Priester. 
Von  hier  wird  ein  weiteres  Schriftstück  verständlich,  das  ich 
ganz  analysieren  muß,  weil  in  ihm  die  später  herrschende  Begriffs- 
bestimmung zum  ersten  male  voll  zu  Worte  kommt,  freilich  nicht 
als  Ansicht  und  nicht  im  Sprachgebrauch  des  Verfassers,  sondern 
nur  als  Äußerung  der  Bescheidenheit  der  Märtyrer.  Es  ist  der 
berühmte  Brief  der  gallischen  Gemeinden,  der  von  ihrer  Verfolgung 
berichtet,  ein  in  seinem  Stil  stark  rhetorisches  Schriftstück  (Euse- 
bius  K.  G.  V  1).  Die  Märtyrer  lehnen,  trotzdem  sie  schon  vielfach 
Qualen  erlitten  haben  und  im  Kerker  den  Tod  mit  Sicherheit  er- 
warten müssen,  den  Titel  liapTops?  für  sich  ab ;  nur  für  Verstorbene 
ist  er  zulässig  (p.  428, 18  Schw.) :  ixsivoi  y^Stj  [Adpiops«;,  ou?  sv  z'q 
6[JLoXoYtcf  XpioTÖ?  YjStwaev  avaXY]9ä"^vat,  STrtafppaYtodixsvoc  aotwv 
St a  f^c  l^öSoo  TYjv  {laptoptav,  i^jAeii;  8k  ojiöXoYOt  [xeTpioi  xai 
xaTistvoi.  Die  npoari'fopia.  f^c  {laptopiac  gebührt  vor  allem 
Christus  T(j)  ttiot^  xal  aXYjd'tvij)  jidpropi  xal  Tcptotoidxcj)  täv  vexpwv  xat 
ÄpxYjYV  T"^?  Cw"^?  Toö  ^eoö*).     Das  Wort  {laptopta  bedeutet  an  der 

1)  Und  zwar  der  persönlich  gewendeten  Stellen,  die  man  halten  will. 

2)  Vgl.  Wendland,  Die  urchristlichen  Literaturformen,  S.  305,  vgl.  339. 

3)  Vgl.  unten  S.  452.  Damit  ist  weder  gesagt,  daß  nur  Gnostiker  diese  An- 
sicht vertraten,  noch  daß  sie  erst  zu  Valentins  Zeiten  entstand.  Aber  jünger  als 
die  judenchristliche  Ansicht  ist  sie  jedenfalls,  setzt  die  feste  Form  der  Christen- 
prozesse voraus  und  ist  auf  hellenistischem  Hoden  entstanden. 

4)  Der  Verfasser  benutzt  liier  wie  auch  sonst  die  Apokalypse  (er  verbindet 
1,  5  und  3, 14),  gibt  der  Stelle  aber  einen  neuen  Sinn:  Christus  ist  der  erste  Mär- 


Bemerkungen  zur  Martyrienüteratur.  I.  441 

zweiten  Stelle  das  Märtyrer  -  Sein ;  an  der  ersten  kann  es  diese 
Bedeutang  allein  nicht  haben;  der  Zusammenhang  verlangt,  daß 
es  den  Begriif  öjioXoYia  aufnimmt  und  steigert;  sie  ist  das  Zeugnis. 
das  durch  die  Besiegelung  beweiskräftig  und  wirksam  wird.  Das 
ist,  wie  wir  sehen  werden,  genau  die  Auffassung  C\T)rians,  der 
danach  martyr  und  confessor  scheidet.  Der  Verfasser  des  Briefes 
denkt  anders ;  ihm  ist  {Aaprjpsiv  jedes  zaays'.v  in  der  Verfolgung, 
aber  seine  Helden  scheinen  ihm  gerade  darin  CTjXcatal  xal  jiijiTjtal 
Xp'.oToö,  also  echte  Märtyrer,  daß  sie  ihre  gottgleiche  Würde  nicht 
„wie  einen  Raub"  genießen,  sondern  voll  verdienen  wollen.  Sie 
gelten  ihm  selbst  nach  den  verschieden  Qualen  als  oo*/  azac  oo5e 
hiq,  aXXdc  icoXXax'.c  (laptupTjaavTSi;  (428,  9,  vgl.  I.  Clemens  5, 4  ohy  Iva 
oo5s  8öo,  aXXa  reXstova?  utctjvsyxs  xöroo?  xal  ooto)  jjiaprjpf^oa?  xtX. 
Hier  ist  »tapTOpT^oa?  gleich  ^adtov  im  weiteren  Sinne).  Unterschiede 
und  Grade  sind  möglich,  ja  notwendig;  wegen  seines  Todes,  aber 
auch  wegen  der  Fürbitte  für  die  Feinde  heißt  Stephanus  p.  430,  7 
6  xiXs'.o?  {idcpto?.  Alle  umschließt  ein  fester  Begriff,  der  xXf^po?  töv 
{laptöpcov  ^).  In  ihn  tritt  man  durch  die  oaoXoYta  ein,  vgl.  41'2, 8 
Xp'OT'.avtjV  iaorrjv  (»{loXö^ei  xai  tip  xXr^pü)  tdiv  (laprjpwv  irpooste^, 
420,  23  xal  ojioXoYOövTs?  rpoastidsvto  zü^  rwv  {laptopwv  xXrjpw,  endlich 
404,  27  in  einem  Falle,  in  dem  ich  nicht  zu  entscheiden  weiß,  ob 
von  einem  Fortleben  nach  dem  Martyrium  im  Himmel  oder  auf 
Erden  die  Rede  ist,  toö  6s  XajiTrpoTat-o  «ptöv^  oiioXoYTjoavto«;,  avsXijtp^ 
xal  aoTÖ?  el?  töv  xXiJpov  twv  jtaptopwv  ^).  Wie  in  dem  Briefe  an 
Timotheus  (I  6,  13  toö  {taptopf^aavto?  .  .  .  njv  xaXijv  opLoXo^iav,  vgl. 
oben  S.  438)  scheint  ferner  {laptupia  als  Synonym  für  b^oko^it  ein- 
zutreten p.  414, 6  aTTsSiSoo  rf;v  xaX-rjv  [laptupiav.  Aber  es  scheint 
wieder  nur  so ;  Pothinus,  um  ■  den  es  sich  handelt,  legt  gerade 
keine   6|i,oXoifta  ab,    sondern   zeigt  nur   seine  Tapferkeit,   indem  er 


tyrer,  weil  er  zuerst  von  Gott  wegen  des  raOo;  wiedererweckt  ist,  und  ist  darum 
auch  dpyTjYo;  des  Lebens  bei  Gott  und  als  Gott,  das  die  Märtyrer  genießen.  Tod 
und  Auferstehung  gehören  notwendig  zu  dem  Begriflf  iiipTu;. 

1)  Vgl.  im  Polykarp-Martyium  14,  2  (oben  S.  419)  Xaßeiv  jiipo;  £v  dptSfxci  täv 
{AotoTuptuv  (vgl.  für  den  Wechsel  Apostelgesch.  8,  21).  Wieder  schillert  der  Aus- 
druck; gemeint  ist  bald  das  himmlische  Erbteil  (Ignatius  Rom.  1,2),  bald  die  Ehre, 
der  Rang.  Cyprian  scheint  den  formelhaft  gewordenen  Ausdruck  in  letzterem 
Sinne  zu  verstehen  und  den  x)vfjpo;  -<üv  [x^pripoiv  (für  ihn  tüjv  6|jloXo7t,twv)  als 
Vorstufe  für  den  xXfjpo;  täv  Up^wv  zu  betrachten,  wenn  er  ep.  39, 1  von  dem  Be- 
kenner  Celerinus  sagt  clero  nostro  non  humana  suffragatione  sed  diiina  dignatione 
coniunctum. 

2)  Das  heißt  er  wurde  dazu  erhoben,  -a8eiv  iuEp  toO  öv^ii-axoc  Kattenbusch 
S.  118  wül  das  jedesmal  auf  die  Hinrichtung  beziehen.  Nichts  in  der  Erzählung 
berechtigt  dazu.  Dem  Bekenntnis  folgt  die  Hinrichtung  bei  den  meisten  erst  ganz  spät. 


442  ^-  Reitzenstein, 

den  Beamten  verächtlich  behandelt  (gemeint  ist  die  jxaptopia  Sia 
spYOöv).  Ahnlich  scheint  er  steigernd  zu  sagen  406, 8  TTpcoioiidpiu- 
psc  ^)  Ol  xal  [teta  TrdoTj?  Ttpod-ojxta?  avsTrXTjpoov  ttjv  ofioXo^iav  zy]<; 
t^apiopta?.  Aber  auch  dabei  ist  wohl  [laptopia  hauptsächlich  das 
Märtyrer -Sein,  tö  Trdoxetv,  wie  z.B.  412,29  8ia.  ttjv  lY^stjxsvirjv  ttj? 
jiaptDpia«;  Im^üjiiav  ^)  und  414,  24  y]  x^9^  '^^*^  {AapTopta?.  Beide  Be- 
deutungen gehen  in  einander  auch  428,23  über:  %ai  tyjv  Sövajtiv 
TT]?  ji-apToptas  iTceSsixvovTO  tcoXXtjv  ;:app7]aiav  aYovts?  Ttpö?  ta  i^vYj. 
Es  handelt  sich  um  die  Gabe  pneumatischer  Rede,  die  der  Bekenner 
und  also  auch  der  Märtyrer  empfängt  (der  Ausdruck  ist  ähnlich 
wie  Toc  OYjjieta  toö  aTcooxöXoo),  aber  sie  ist  zugleich  die  ,, Kraft  des 
Zeugnisses".  Das  Neutrum  {xapTÖptov  ist  der  Femininform  gegen- 
über selten;  es  bedeutet  das  Tiäiio?,  das  zu  dem  Tode  führt  416,12 
sl?  ;räv  sISo?  Sf^psiTO  Tot  [laptupta  f^c  l^öSoo  aütwv^).  Die  Sachlage 
ist  gerade  umgekehrt  wie  bei  Hegesipp  und  in  den  früher  ange- 
führten Stellen.  Dort  hing  im  Wesentlichen  die  Bedeutung  an 
der  Kundgebung  durch  das  Wort;  nur  in  einzelnen  Wendungen 
kam  ein  anderer  Sprachgebrauch  mit  hinein.  Er  überwiegt  hier; 
das  Zeugnis  liegt  nicht  in  dem  Wort,  sondern  in  dem  Werk,  in 
dem  Tcaoxstv  und  der  DTcojtov»].  Nur  vereinzelt  wirkt  der  andere 
Sprachgebrauch  noch  nach,  und  darüber,  ob  zu  dem  Begriff  {jLdpto? 
der  höchste  Grrad  des  Tcdtoxstv,  also  der  Tod,  erforderlich  ist,  gehen 
die  Meinungen  auseinander.  Daß  der  Verfasser  des  Polykarp-Mar- 
tyriums  der  strengeren  Auffassung  huldigt^),  habe  ich  früher  ge- 
zeigt; sie  dringt  allmählich  in  der  Kirche  durch. 

Etwa   seit  dem  Ende   des    zweiten  Jahrhunderts    scheint   der 


1)  Die  zeitlich  ersten  und  zugleich  die  vorzüglichsten  Märtyrer ;  das  Wort 
scheint  nach  uptutaYouvtaxT^;  gehildet;  wechselt  doch  auch  sonst  aocptu;  mit  äyu)vt:;r/,; 
ab,  vgl.  die  gezierten  Worte  408, 15  t\x\z  ?jv  xal  aüx'^  täv  [AopTupiuv  p.(a  dytuvfoTpia. 

2)  Von  hier  ist  Mart.  Pol.  13,2  oben  S.  419  zu  erklären,  falls  es  richtig  ist. 

3)  Ich  habe  damit  die  Stellen,  die  meines  Erachtens  technischen  Wortgo- 
brauch  zeigen,  sämtlich  angeführt,  wie  im  Eingang  beim  Polykarp-Martyrium.  An 
ihrer  Gesamtheit  bitte  ich  den  Leser  Holls  Worterklärung  nachzuprüfen.  Aus- 
geschieden habe  ich  408,  22  (xotprupeiv  =  X^yeiv  (noch  dazu  von  den  Heiden  gesagt) ; 
410,  14  TÖ  8^  aiufAd-rtov  p-ap-cu;  ■^jV  xdiv  aufAßeßifjxoTcuv ;  404,  16  o\i  xal  irX  xoaoüxov  i^,xpi- 
ßwTO  1^  noXixefa  tu;  xateep  i?vTa  v^ov  auve$t3oü<j&at  ^zf^  toü  TrpeaßuT^pou  Zoxapfou  [Aap- 
Tupfo  (wohl  guter  Leumund,  auf  Luk.  1,6  bezüglich,  vgl.  (jie(j.apTupr,pidvo;  bei  Ignatins 
Philad.  11, 1  oder  Hegesipp  bei  Eusebius  II  23, 17  p.  170, 16;  ähnlich  oft  bei  jün- 
geren Profan  Schriftstellern,  vgl.  auch  Deißmann,  Neue  Bibelstudien  1)3),  endlich 
418,24  •^-^r^'il^üz  iw  Tfj  Xpiaxtavfj  auvxa$et  Yeyup.va3fi^vo;  ^^v  xal  äel  (Jia'pxu;  i-fz-j[6\tt.  irap' 
Vjpitv  äXTjöei'a?  (wohl  nach  Ev.  Job.  18,37  tlz  xoüxo  ^XT,Xut)a  di  xov  xtJjfxov,  ha  p.ap- 
xupyjOü)  XTJ  dXirjtlcia"  Tiä«  ö  Tuv  ix  xtjc  dXrjöefa;  öxojei  iiou  x^c  cpuivr^i;,  jedenfalls  aber 
nicht  vom  Märtyrer  gesagt). 

4)  Ebenso  Pass.  Scilit  15  hodie  marlyres  in  caelis  sumus. 


Bemerknngen  zur  Martyrienliteratur.  I.  443 

Gebrauch  allgemein,  den  Christen,  der  vor  der  Obrigkeit  seinen 
Grlauben  bekannt  und  seine  Treue  mit  seinem  Herzblut  besiegelt 
hat,  {jiapTu?  zu  nennen,  denjenigen  aber,  der  trotz  seines  Bekennt- 
nisses am  Leben  gelassen  wurde,  als  öji.oXoYr^'n^i;  oder  confessor 
einen  erheblich  niedrigeren  Rang^)  anzuweisen^).  Die  Tatsache, 
die  um  so  befremdlicher  ist,  als  der  hingerichtete  Bekenner  doch 
keine  andere  Handlung  vollzogen  hat,  sondern  aufGrund  des 
Bekenntnisses  ganz  ohne  sein  Zutun  zu  etwas  Höherem  ge- 
worden ist  oder  einen  Titel  erhalten  hat,  der  das  Wesen  der 
Sache  nicht  ändert,  zeigt  sich  am  deutlichsten  bei  Tertullian  Ad 
mart.  1,  wo  er  die  gefangenen  Christen,  die  im  Kerker  der  Be- 
strafung entgegensehen,  also  die  confessores,  als  martyres  designati 
anspricht.  Ursprünglich  ist  ein  derartiger  Titelunterschied  nie. 
Natürlich  hat  sich  der  strenge  Sprachgebrauch  auch  im  Leben 
nicht  durchgesetzt.  Derselbe  Cyprian,  der  sonst  so  streng  zwi- 
schen beiden  Titeln  scheidet,  schreibt  an  die  Bekenner  einer  Ge- 
meinde als  an  die  martyres  et  confessores;  man  kann  ja  nicht  wissen, 


1)  Die  gallischen  Märtyrer  sagen  p.  428,  20  Schwartz  T^^fwi;  oe  öfioXoyot  fxirotoi 
yat  xazervof.  Eine  Standesbezeichnung  erscheint  hier  zum  ersten  mal,  so 
viel  ich  weiß,  und  die  Überlieferung  ist  leider  nicht  ganz  sicher  (öjxoXoyoufiivuic 
TeERM,  vermutlich  nach  falscher  Deutung  des  Wortes  öjaoXoy&i;  Rufin  verstand 
seinen  Text  nicht  und  gestaltete  die  Worte  nach  dem  Vorausgehenden ;  die  neueren 
Konjekturen  befriedigen  nicht).  Charakteristisch  ist,  daß  gleichzeitig  mit  dem 
Eindringen    des    neuen  Begriffes   p.ciprjpe;   der  unterscheidende  Titel  nötig  wird. 

2)  Wenige  Stellen  mögen  die  allbekannte  Tatsache  belegen  und  verdeut- 
lichen. In  der  Passio  Montani  c.  21  wird  ein  Bekenner,  den  der  Beamte  nicht 
hinrichten  will,  in  einer  Vision  getröstet  <bis>  confessor  es,  tertio  martyr  es<to> 
ad  gladium.  Von  einem  ähnlichen  Fall  spricht  Cyprian  ep.  38,  1 :  zweimal  hat 
Aurelius  seinen  Glauben  vor  dem  Richter  bekannt ;  das  erste  mal  ist  er  dafür 
verbannt  worden,  das  zweite  mal  sogar  gefoltert  und  vervmndet;  dennoch  ist  er 
nur  confessor:  gemino  hie  agone  certavit,  bis  confessus  et  bis  confessionis  suae 
Victoria  gloriostis,  et  quando  vicit  in  cursu  factus  extorris  et  cum  denuo  certamine 
fortiore  pugnavit ,  iriumphator  et  victor  in  praelio  passionis.  Nicht  einmal  der 
dyu)v ,  die  passio ,  macht  zum  (Asptu; ,  wenn  er  nicht  zum  Tode  führt ,  andrerseits 
macht  die  Todesart  nichts  aus ;  wer  im  Kerker  oder  in  den  Bergwerken  an  Krank- 
heit stirbt ,  ist  Märtyrer.  Bestätigung  bieten  die  Definitionen ,  z.  B.  Cyprian  ep. 
12,  1  cum  voluntati  et  confessioni  nostrae  in  carcere  et  vincttlis  accedit  et  moriendi 
terminus,  consummata  martyrii  gloria  est  und  ep.  36,  2  (Brief  der  römischen  Pres- 
byter) si  martyres  non  propter  aliud  martyres  fiunt,  nisi  ut  non  sacrificantes  teneant 
ecclesiae  usque  ad  effusionem  sanguinis  suipacem.  Wenn  Tertullian  Scorj».  8 
von  den  drei  Jünglingen  im  feurigen  Ofen  sagt  o  martyrium  et  sine  passione  per- 
fecttm,  so  zeigt  die  Pointe  in  der  Bildung  des  Oxymorons  nur,  daß  auch  für  ihn 
das  martyrium  sonst  den  Tod  voraussetzt.  Ähnlich  der  späte  Cassian,  wenn  er 
Conl.  XVIII  7,  7  den  Asketen,  der  im  Gehorsam  täglich  sich  selbst  kreuzigt  und 
die  eigene  <\i'r/[fi  verleugnet,  als  martyr  vivus  bezeichnet. 

Kgl.  Oes.  d.  Wiss.  Nachrichten.    Phil.-hist  Klasse.    1916,    Heft  3.  30 


444  R.  Reitzenstein, 

wen  Grott  zum  Märtyrer  erheben,  wen  als  confessor  belassen  wird  ; 
wenn  der  lapsus  sich  rühmt,  von  ihnen  das  Fürwort  erlangt  zu 
haben,  sagt  er  pacem  a  martyribus  in  carcere  exoravi;  der  Bischof 
spricht  dabei  von  confessores.  Eine  gewisse  Freiheit  ist  der  Devo- 
tion des  einzelnen  gelassen;  wenn  die  Scilitaner  nach  der  griechi- 
schen Fassung  sagen  ai^iispov  aXirjö-w?  jidcptopsi;  Iv  oupavol?  TDY/avo{X£V, 
so  setzt  der  Schreiber  voraus,  daß  sie  bisher  schon  mißbräuchlich 
so  genannt  worden  sind.  Die  passio  in  weiterem  Sinne  beginnt  mit 
dem  Eintreten  der  Haft,  jedenfalls  aber  mit  der  confessio,  und  es 
kann  nicht  befremden,  daß  solange  die  Haft  währt,  eine  Ent- 
scheidung, ob  sie  zum  Tode  führen  wird,  also  noch  nicht  gefallen 
ist,  der  Bekenner  fast  einen  Anspruch  auf  die  ehrerbietige  Anrede 
{j-apto?  hatte,  wenn  wir  bedenken,  daß  noch  gegen  Ende  des  zweiten 
Jahrhunderts  ein  Bischof  (?)  den  Brief  des  Serapion  von  Antiochia 
offiziell  unterzeichnen  kann  AopYjXioi;  Kopivio?  {JLapto?  Ippwadat  ojAäg 
Boyo\Lai  (Eusebius  K.  G.  Y  19,  3  p.  480,  8  Schwartz).  So  lange  die 
{iapTopia  darin  liegt,  daß  man  vor  der  Obrigkeit  oder  einer  Volks- 
menge seine  Überzeugung,  Jesus  ist  der  Christus,  aussprach,  ist 
eine  Scheidung  zwischen  ojJioXoYta  und  jiaptüpia  ja  überhaupt  nicht 
möglich,  da  es  eine  ojtoXoYta  in  juristischem  Sinne  noch  nicht  gibt. 
In  dem  römischen  Christenprozeß  nimmt  6[JLoXoYta  die  Bedeutung 
an,  daß  der  Sprechende  sich  zu  einer  unter  Strafe  gestellten  Re- 
ligion bekennt  und  seinen  Willen,  an  ihr  festzuhalten,  kund  gibt. 
Das  Wort  [laptopta  wird  jetzt  eigentlich  in  Fortfall  kommen  müssen. 
Man  rettet,  wie  schon  angedeutet,  den  alten  Begriff  der  {laptupta 
in  einer  Nebenkonstruktion,  die  zugleich  gestattet,  Grade  des  Tud- 
a)(stv  8ta  xö  6'vo{i,a,  die  längst  gemacht  waren  *),  zu  einem  schärferen 
Ausdruck  zu  bringen.  Aber  die  sakrale  Folgerung  knüpft  be- 
zeichnender Weise  an  die  o^toXoYta.  Sie  gibt  nach  allgemeiner 
Anschauung  den  Besitz  des  Greistes  (macht  zum  xveu^taTixö?)  und 
gibt  die  praerogativa  in  der  Gemeinde.  Das  «d^oi;  gibt  die  Sö4a 
bei  Gott,  und  da  er  gerecht  ist,  wird  er  sie  nach  der  Höhe  des 
Tud'O-o?  verschieden  bemessen.  Aber  selbst  hierbei  wirkt  der  Ge- 
danke ein,  daß  die  6[ioXoYia  schon  die  Willenserklärung  zum  Leiden 
enthielt,  das  Tcd^o?  nur  ihre  Bekräftigung  und  Vollendung  bringt'). 
So  ist  der  Wille  die  Hauptsache,  und  selbst  den  himmlischen  Lohn 
wird  Gott  nach   seiner  Stärke,   nicht   nach   dem   äußeren  Erfolge 


1)  Vgl.  Hermas  Sim.  9,  28  und  8, 1  ff. 

2)  Cyprian  cp.  6,  2  de  tormentis,  quae  martyres  dei  consecrant  et  ipsa  pa  s- 
sionis  probatione  sanctificant  (vgl.  die  Auffassung  des  Hermas,  daß  ndayti^ 
8ti  t6  5vo(xa  entsündigt) ;  ep.  6,  3  ne  minor  esset  confessionis  virttts  sine  testimonio 
passionis  (fast  etymologisches  Spiel:  äveu  p.opTup(at  |jLapTup(ou). 


Bemerkungen  zur  Martyrienliteratur.  I.  445 

bemessen^).  Jene  Scheidung  zwischen  jtipTOps«;  und  oitoXo-j-ijtai  gilt 
im  Grrunde  doch  nur  auf  Erden,  nur  für  die  Kirche,  die  ja  auch 
von  jener  Bezeugung  durch  die  Tat  (das  Leiden)  den  Vorteil  hat. 
So  hebt  sich  die  neue  Scheidung  für  den  folgerichtig  Denkenden 
von  selbst  wieder  auf.  Und  doch  ist  sie  von  ungeheurer  geschicht- 
licher Bedeutung  geworden. 

Zwei  Vorstellungen  scheinen  sich  bei  dieser  Umwertung  des 
BegriflPes  {j-aptopsiv  zu  verbinden.  Neben  dem  juristisch  gefaßten 
XÖ7(j)  {JLapTopciv  gibt  es  ein  ^P7(j)  {laptopelv  in  übertragenem  Sinne, 
ja  man  kann  sagen  ta  Ip^a  {laptopsi  Toi(;  Xöyo»?  (Grrundbedeutung : 
bekräftigen,  wirksam  machen).  So  sagt  Epiktet  von  dem  Philo- 
sophen, der  seine  Worte  durch  seine  Standhaftigkeit  bekräftigt 
(I  29,  26)  6  IpYCj)  (lapTOp-jjoöJV  tot?  Xö^oi?,  Porphyrius  Äd  Marc.  8  8s  i 
ODTCü?  ßioöv  oott?  IrciarsDOsv,  tva  xal  aoröc  Äiotö?  fj  ji-ipro^  zzpi  wv  \t{t'. 
Toi?  axpoa){iivoi(:  oder  der  Brief  an  Diognet  12,6  6  -j-ap  vojJLiCtov  sl- 
S^vat  Ti  avso  ^vtüaeoüe;  aXYjdoö?  xal  {tapTopoojiivrj?  oäö  t^?  Cw"»)?  oäx 
s'yvü).  Die  Wortverbindung  ist  dabei  lehrreich,  denn  in  der  Grnosis 
tritt  dieser  Gredanke  in  dieser  pointierten  Form  tatsächlich  be- 
sonders stark  zu  Tage.  In  Übertragung  liegt  er  schon  bei  He- 
rakleon  vor,  der  bekanntlich  (Clemens  Strom.  IV  71)  ein  6{ioXoY£tv 
iv  (pwv^  und  ein  ö{jLoXoY£tv  Iv  jciotct  xal  TroX'.teio^  scheidet  und  seine 
Ausführungen  an  Matth.  10,  32  knüpft,  wo  von  dem  Bekenntnis  vor 
einer  feindlichen  Welt  die  Rede  ist.  Schon  seine  ersten  Worte 
^ovavTai  8s  tauxTjV  ttjv  6{JLoXoYlav  xal  ot  oTroxpital  ojjloXoyeIv  zeigen,  daß 
er,  um  seine  These  durchzuführen,  die  ojJioXoifla  vor  den  Grlaubens- 
genossen  zvt  Hilfe  nehmen  muß.  Geprägt  ist  der  Begriff  für  die 
{xapTDpla,  und  so  versteht  seine  Ausführungen  auch  im  Folgenden 
Clemens  selbst  (IV  73 — 75,  vgl.  p.  282,  6  Stählin  oao-.  8s  sp^tf  {tsv 
3capd  töv  ßtov,  Xo^tj)  Se  Iv  6ixa(3T7;pi(p  iJiaprjpoöoiv),  Die  Gnostiker, 
oder  wenigstens  ein  Teil  von  ihnen,  stellen  dem  ftaptopsiv  vor  Ge- 
richt (8ia  ^avdtoo)  das  »lapTOpsiv  im  Lebenswandel  (8'.d  ßiou)  als  das 
größere  und  eigentliche  jtapxupiov  entgegen  und  das  spätere  Mönch- 
tum  schließt  sich  ihrer  Auffassung   an^).     Der  Gedanke   ist  noch, 

1)  Cyprian  ep.  10,  5  nee  contristetur  aliqui^  ex  vobis  (wie  Flavianus  in  der 
Passio  Montani)  quasi  Ulis  minor,  qui  ante  vos  iormenta  perpessi  v4cto  et  calcato 
saeculo  ad  dominum  glorioso  itinere  venerunt.  dominus  scrutator  est  renis  et  cordis. 
arcana  perspicit  et  intuetur  occuUa.  ad  coronam  de  eo  promerendam  sufficit 
ipsius  testimonium  solum  (Gegensa.tz  testimotiium passionis)  quiiudicatunis 
est  (vgl.  auch  die  Fortsetzung).  Die  Auffassung  kehrt  ganz  zu  der  früheren,  z.  B, 
bei  Hermas,  zurück,  der  ja  den  himmlischen  Lohn  allein  von  der  Größe  der  Trpo- 
8u(jL{a  abhängig  macht. 

2)  Natürlich  in  der  uns  vorliegenden  Form,  ohne  die  eigentlichen  Märtyrer 
herabzusetzen.    Dieselbe  Übertragung  findet  bei  bft.oXo-(ia  statt. 

30* 


446  R-  Reitzenstein, 

daß  sich  jenes  im  wesentlichen  Xö^cp,  dieses  lpY(p  vollzieht.  So 
mußte  ihren  Gegnern  der  andere  Gredanke  doppelt  nahe  liegen, 
daß  der  Christ  auch  vor  Grericht,  wenn  auch  die  öji-oXo^ta  nur  im 
Wort  besteht,  durch  den  oc^wv  und  durch  seine  Standhaftigkeit  in 
ihm  ein  Werk  vollzieht  und  eine  (laptopia  für  seinen  Glauben  und 
seinen  Gott  ablegen  kann,  eine  iiapxopia  gewiß  nicht  vor  dem 
Richter  und  dem  Gesetz,  wohl  aber  vor  den  ungläubigen  Zu- 
schauern. Man  denkt  daran,  daß  gerade  die  itä&ri  des  Christen 
sie  an  der  Macht  seines  Gottes  zweifeln  lassen  müssen :  non  vult 
aut  non  potest  opitulari;  ita  aut  invalidus  aut  miqaus  est  (so  Minucius 
12,  2 ,  der  damit  wörtlich  Epikurs  Fr.  374  Usener  widergibt). 
Durch  die  Art  desErtragens  zeigt  der  Christ  die  Kraft 
seines  Gottes  und  wird  [xdptoc  xoö  •8'soö.  Der  Gedanke  ist  weit 
verbreitet,  aber  ursprünglich  ist  er  nicht.  Wie  er  den  Begrijff 
des  afwv  vorauszusetzen  scheint,  so  setzt  er  andrerseits  voraus, 
daß  die  Zuschauer  nicht  über  die  Macht  eines  ihnen  unbekannten 
oder  verhaßten  Gottes ,  sondern  des  Gottes  schlechthin  sich  Ge- 
danken machen  oder  im  Zweifel  sind^).  Die  natürliche  und  darum 
ältere  Verbindung  der  Gedanken  zeigt  Epikur,  der  die  herrschende 
Überzeugung  von  dem  Walten  Gottes  mit  diesen  Erwägungen  er- 
schüttern will,  und  zeigen  seine  Gegner,  die  Stoiker.  Wenn  Seneca 
{Dial.  I)  die  Frage  quare  aliqua  incommoda  honis  viris  accidunt,  cum 
Providentia  sit  zu  lösen  versucht,  so  fühlt  er  sich  als  advocatus  deo- 
rmn  oder  dei  (1,  1  causam  deorum  agam).  Gott  wird  dabei  ange- 
klagt. In  ähnlichem  Sinne  ist  der  Weise,  der  die  Leiden  willig 
erträgt,  und  vor  allem,  der  mutig  dem  ungerechten  Richter  und 
Tyrannen  trotzt,  testis  dei^).  Die  spätere  christliche  Literatur 
macht  sich  durchaus  die  Argumente  der  Philosophen  dabei  zu 
nutze,  verwendet  ihre  Gleichnisse  und  Metaphern  und  spricht  ihre 
Sprache.  Ich  habe  die  Epiktet-Stellen,  die  zuerst  Geffcken  a.  a.  0. 
herangezogen  hat ,  in  meinem  Buche  (S.  85  ff.)  voU  ausgeschrieben 
und  hebe  hier  nur  aus  einem  Kapitel  (I  29)  die  typischen  Wen- 
dungen des  Gedankens  heraus.     Er  umfaßt  an  sich  jede  bedrängte 

1)  Nur  60  läßt  sich  auch  der  Begriff  der  Anklage  hereinbringen,  der  die 
Wahl  des  Wortes  (jictpTupetv  und  i^apTu;  &eoü  allein  natürlich  macht.  Die  ältesten 
Beispiele  bietet  die  Tragödie,  den  ältesten  Beleg  für  das  Wort  wohl  Cicero  De 
nat.  deor.  III  83  Diogenes  .  .  .  dicere  solebat  Harpalum  .  .  .  contra  deos  testimonium 
dicere,  quod  in  illa  fortuna  tarn  diu  viveret. 

2)  Der  Drang  zu  freimütigem  Zeugnis  ihm  gegenüber  ist  allgemein  und  nicht 
Äuf  die  Stoa  und  die  Kaiserzeit  beschränkt  (vgl.  für  die  Epikureer  früherer  Zeit 
jetzt  Diels  Abhandl.  d.  Berl.  Akad.  1915  VII  100).  Woher  IIoll  (S.  532,  3)  die  Be- 
hauptung entnimmt,  ich  hätte  Schriften  wie  itepl  ttj«  T«7iv  cpiXo<j(!«pu>v  civ5pc(a;  nur  als 
Unterhaltungsliteratur  bezeichnet,  habe  ich  nicht  finden  können. 


Bemerkungen  zur  Martyrienliteratur.  I.  447 

Lage  und  jede  Trspiataoii;  (irad'O«;),  nimmt  aber  als  klarstes  Beispiel 
zum  Ausgangspunkt  den  Fall,  daß  der  Philosoph  vor  den  Tyrannen 
oder  Beamten  gestellt  wird,  der  die  ISooata  über  seine  Freiheit 
und  seinen  Leib  hat  und  meint,  sie  auch  über  seine  Überzeugung 
(SÖYtJLa)  zu  haben.  Das  allein  bestreitet  ihm  der  Philosoph,  und  da 
der  Beamte  durch  Drohungen  seinen  Trotz  brechen  will,  kommt 
es  zum  Kampf,  in  dem  nach  Gottes  ewigem  G-esetz  der  Stärkere 
—  und  das  ist  immer  die  Überzeugung.  —  siegen  muß ;  selbst  die 
Verurteüang  xpivw  ae  aoeß*^  xal  otvöatov  slvai  kann,  da  sie  ein  fal- 
sches Urteil  enthält ,  dem  Philosophen  keinen  Eindruck  machen. 
Aber  der  Gedanke  greift  weiter  und  geht  über  zu  jeder  bedrängten 
Lage ,  Not  oder  Armut ;  eine  jede  ist  für  den  Philosophen  eine 
Berufung  (x^TjOr^vat)  zur  äitd^ziiiz  der  Schulung  seiner  Seele.  Sie 
muß  sich  in  seinem  ganzen  Verhalten ,  seiner  Gelassenheit  oder 
seinem  Mute  zeigen.  Gewiß  gehört  dazu  auch  der  rühmliche  Aus- 
spruch, die  xaXt]  ^wvt],  aber  nur  als  Teil  eines  einheitlichen  Ganzen. 
Denn  an  Worten  derart  (jetzt  Xoifdp'.a)  haben  wir  in  den  Büchern 
genug,  wir  bedürfen  Männer,  die  zu  dem  Wort  das  Zeugnis  der 
Tat  fügen  ^).  So  fordert  Epiktet :  übernimm  diese  Rolle  :  iva  [tijxitt 
iroXatoi?  Iv  r^  <3^o^t  'capaSstYjiaot  -/pcüULS^a ,  aXX'  l/<i){j.£v  z:  xal 
xaO-'  tjjj.ä?  TrapdSsiYiJLa  ^).  In  diesem  Zusammenhang  begegnen  die 
Worte :  tcw?  ouv  avaßaivet<;  vöv ;  w?  |i  a  p  t  o  ?  'j;rö  dsoö  X£xXt](1£voc  • 
epxoo  ou  xal  {laptopirjoöv  {tor  oo  '{o.p  a;io?  et  irpoa^d^vai  [laptoc 
6::'  IjjLoö.  Das  Tiado?  ist  eine  Auszeichnung ,  die  Gott  den  Seinen 
erweist.  Zeigt  er  sich  schwach,  so  schilt  ihn  Epiktet  taüta  jtiXXsi? 
^aptopeiv  xal  xataio^ovsiv  rijv  xX-^aiv  fjV  x^xXtjxsv  8ti  os  Itcji-yjasv 
TaÖTYjv  TTjV  T'{i,T(V  xal  a^tov  fjYTioato  TzpoooLfOi^ziv  el?  jtapTOpiav  tirjXtxaoryjv  ; 
Gott  ist  der  Angeklagte ;  ihm  wirft  man  vor,  daß  er  den  Menschen 
das  Übel  sendet;  der  Phüosoph  darf  durch  sein  Verhalten  und 
seine  Seelenverfassung  Zeugnis  ablegen,  daß  es  keine  Übel 
sind^).  Gewiß  ließen  sich  diese  Gedanken  leicht  ins  Christliche 
übertragen  und  fanden  Anknüpfungspunkte  in  der  christlichen  Vor- 
stellung der  {taptupia;  daß  sie  bei  Christen  unabhängig  entstanden 
sind ,   ist   wenig  wahrscheinlich.     Nicht  für  Christen ,   wenigstens 

1)  Vgl.  oben  S.  440  und  444,  2.  Ich  lege  höchstes  Gewicht  darauf,  daß  der 
Nebengedanke,  daß  die  Tat,  der  mutige  Kampf,  das  Wort  „bezeugt",  von  Anfang 
an  in  dieser  hellenistischen  Gedankenreihe  mitwirkt. 

2)  Vgl.  I.  Clemens  5,  1  •jzooeiyu.ata  (oben  S.  437).  Es  sind  die  [ia'pTjpe;  des 
Hebräerbriefes  (12,  1).  Auch  das  hätte  Anknüpfung  im  semitischen  Sprachgebrauch, 
vgl.  für  das  Arabische  Lane  p.  1061.  Ebenso  die  Bezeichnung  der  Zeugen  Gottes 
als  Zeugen  gegen  die  Ungläubigen  (Epiktet  IV  8,  32) ,  doch  liegt  natürlich  hier 
rein  griechischer  Gebrauch  zugrunde. 

3)  Vgl.  auch  Philo  De  Providentia  und  Weodlands  Schrift  über  ihn. 


448  ^-  Beitzenstein, 

nicht  für  die  Christen  jener  frühen  Zeit,  bedarf  Gott  gegenüber 
einer  allgemeinen  Anklage  derartige  Entlastungszengen.  Nur  aus 
den  religiösen  Verhältnissen  im  Hellenismus  ist  diese  Glrundan- 
schauung  verständlich;  sie  paßt  in  ihrer  Übertragung  auf  das 
Christentum  nicht  einmal  ganz,  da  hier  zu  der  ganz  anderen 
eigenen  Sache  des  Angeklagten,  die  zur  ofioXoifia  führt,  die  {xap- 
xopia  in  jener  allgemeinen  Anklage  der  Ungläubigen  gegen  Gott 
unorganisch  angefügt  wird.  Daß  übrigens  der  Christ  sich  gerade 
dabei  nicht  als  Sklave  Gottes  fühlt  (siehe  Corssen  oben  S.  428) 
zeigt  am  besten  der  Begriff  der  xX-^oic,  den  Epiktet  so  stark  be- 
tont; man  vgl.  etwa  Clemens  IV  13,  1  p.  254,  6  v.ctXob^evo<;  6  yvw- 
OTixöc  oiraxoDst  pcjöiw?  oder  die  neugefundene  pseudocyprianische 
Schrift  Zeitschr.  f.  d.  neutestam.  Wissensch.  1914  S.  88  Z.  400  ora 
ut  in  participatlonem  martyrum  reciferis.  Schon  vor  der  Geburt  be- 
stimmt Gott  dem  einzelnen  die  Ehre  eines  solchen  Rufes  ^) ;  aber  ihm 
zu  folgen  bleibt  eine  freiwillige  Leistung  und  ein  Verdienst  um  Gott. 
Wenn  HoU  (S.  532,  2)  gegen  Geffckens  Ausführungen  ein- 
wendet ,  Epiktets  Begriff  von  {idpro?  enthalte  gerade  das  nicht, 
was  das  Christentum  betonte ,  bei  Epiktet  bedeute  [Adpto?  nichts 
anderes  als  aY^eXo?,  d.  h.  Bote,  und  Leiden  und  Sterben  gehöre 
für  ihn  nicht  notwendig  dazu,  so  begeht  er  damit  neben  dem 
Grundfehler  seiner  Untersuchungsmethode,  überall  von  Gesamt- 
begriffen, nicht  aber  von  der  lexikalischen  Untersuchung  der  ein- 
zelnen Nüanzen  des  Wortes  auszugehen,  meines  Erachtens  einen 
doppelten  Irrtum:  auch  für  Epiktet  und  alle  Stoiker  wird  der 
Sendbote  Gottes  erst  durch  die  Leiden  zum  \idpzo<;,  und  andrer- 
seits ist  auch  im  Christentum  der  {lapto?  ursprünglich  nur  der 
Gesandte,  der  Bote;  selbst  bei  der  Umbildung  des  Begriffes  kann 
von  einer  Notwendigkeit  des  Sterbens  auch  beim  christlichen 
jj,dpTDc  zunächst  nicht  die  Rede  sein.  Es  ist  klar,  wie  die  juden- 
christliche und  die  heidnisch  -  hellenistische  Vorstellung  einander 
nahe  gekommen  sind.  .  Daß  die  erste  von  der  zweiten  wirklich 
beeinflußt  ist,  muß  endgültig  der  Gesamtton  der  Stellen,  in  welchen 
der  jüngere  christliche  Sprachgebrauch  zuerst  erscheint,  wenigstens 


1)  Vgl.  z.  B.  die  pseudocyprianische  Schrift  Zeitschr.  f.  d.  neutestam.  Wissensch. 
1914  S.  78  Z.  115  ideo  gaudium  in  caelo  Omnibus  protulü  quod  destinatus 
martyrio  proper avit  (orrejoetv  wird  bei  den  Heißspornen  regelmäßiger  Ruhmes- 
titel des  Märtyrers).  Auf  dem  Begriff  der  xXTjot;  beruht  in  der  Passio  Carpi  42  ff. 
die  Schilderung  der  Agathonike:  sie  sieht  den  Märtyrer  auf  dem  Holzstoß,  hört, 
daß  er  die  8<i$a  xoü  öeo5  schaut,  darf  sie  selbst  erblicken,  betrachtet  das  als  die 
xX^at?  oüpavto«  (freilich  zugleich  im  Sinne  einer  Einladung  zum  Mahle  im  Ilimmcl) 
und  stürzt  sich  in  die  Flammen. 


Bemerkungen-  zur  Martyrienliteratur.  I.  449 

dem  Philologen  beweisen.  Wie  hier  in  dem  ersten  Clemens-Briefe, 
den  Briefen  an  Timotheus,  dem  Polykarp  -  Martyrium  und  dem 
Briefe  der  gallischen  Gemeinden  alle  Bilder  und  Metaphern  der 
stoischen  Traktate  zusammenerscheinen  und  sich  wechselseitig  stei- 
gern (ä7ü)v,  äYwviOTTf.?,  a^MviCsa^a'-  ^),  adXov,  äO-Xr^Tf^?,  YO{i.vdCsa^ai  u.  a. 
mehr)  muß  man  empfinden,  indem  man  die  Schriften  der  früher  ge- 
nannten Reihe,  in  der  [iaptopiov  für  passio  nicht  vorkommt,  ver- 
gleicht. Es  fällt  mir  natürlich  nicht  ein,  zu  bestreiten,  daß  ein- 
zelne jener  Worte  und  Bilder  aus  dem  allgemeinen  Gebrauch  schon 
in  die  älteren  Schriften  (besonders  des  Paulus)  übergegangen  sind ; 
auf  ihre  Häufigkeit  und  Selbstverständlichkeit  und  auf 
den  rhetorischen  Gesamtton  der  Sprache  kommt  es  an;  sie  be- 
weisen zwingend:  die  hellenistische  Martyrienliteratur  und  die 
hellenistische  Vorstellung  hat  hier  das  Christentum  beeinflußt. 
Ihr  entstammt  zunächst  der  ganze  Gedanke,  daß  der  Christ  durch  das 
mutige  Verhalten  und  die  6xo|iov>^  Zeugnis  für  seinen  Gott  ablegt. 
Nicht  erklärt  ist  freilich  bisher  die  Bedeutung,  die  der  Tod 
dabei  für  das  Martyrium  gewinnt.  Von  vornherein  ist  klar,  daß 
sich  verschiedene  Erklärungsmöglichkeiten  bieten  und  die  lexika- 
lische Beobachtung  zur  Entscheidung  nicht  allzuviel  helfen  kann. 
An  sich  mußte  auch  für  den  rein  hellenistischen  Sprachgebrauch 
und  rein  hellenistisches  Denken  der  Tod  die  stärkste  aÄÖ5£'4t<;  sein. 
Peregrinus  Proteus  wird  aus  denselben  Gründen,  die  Epiktet  für 
das  Ertragen  der  Leiden  anführt,  zu  dem  Ehrgeiz  getrieben,  als 
rapd§£'.7{j.a  zu  erweisen,  daß  der  Tod  kein  Übel  ist;  der  Begriff 
{taptopia,  jjLaptopiov  ließ  sich  hier  durchaus  rechtfertigen-).  Andrer- 
seits ist  natürlich  auch  für  die  jüdische  und  judenchristliche  Be- 
trachtung der  Tod  das  höchste  Trido?,  das  zugleich  den  höchsten 
Lohn  verheißt.  Ich  habe  auf  Josephus  schon  verwiesen  (S.  420) 
und  trage  hier  nur  noch  einen  Hinweis  auf  die  Weisheit  Salomos 
3,  2 — 8  nach ,  weil  sie ,  selbst  übrigens  schon  griechisch  beeinflußt, 


1)  Auch  die  Verbindung  xoXo:  dyiuv,  xaXij  fnapropia  (vgl.  bei  Epiktet  xoXJ) 
ffia^-fi)  scheint  mir  charakteristisch.    Für  Paulus  s.  Wendland  Literaturformen  357, 1. 

2)  Selbst  den  Vorwurf  der  xr/o5o;ici  weist  sein  Lobredner  Theagenes  zurück 
(Lukian  c.  4),  hat  dies  also  offenbar  in  seiner  Schrift  auch  getan  (vgl.  über  sie 
„Hellenistische  Wundererzählungen "  S.  37  ff.) ;  er  vergleicht  ihn  mit  Herakles,  und 
an  Herakles  will  Seneca  in  seiner  Tragödie  besonders  zeigen,  wie  der  Weise  den 
Tod  erleiden  soll  und  daß  der  Tod  kein  Übel  ist  (vgl.  Lukian  c.  23,  c.  33).  Re- 
konstruiert man  sich  die  Schrift  des  Theagenes  und  ergänzt  sie  etwas  aus  Epiktet, 
so  gewinnt  man  in  der  Tat  ein  lehrreiches  Bild  eines  heidnischen  fj.ap-upiov. 
Lukian  37  o-j  700  ifyj  -ro  8^a[j.a  tuzTT^uevov  YcpovTiov  6p5v  mutet  direkt  wie  eine  Ver- 
höhnung stoischer  Deklamationen,  wie  Seneca  De  protid.  2,  8.  9  sie  bietet,  an. 


450  ^-  Reitzenst.ein, 

ihrerseits  auf  die  frühchristliche  Literatur  starken  Einfluß  übt^). 
Die  natürliche  Entwicklung  der  Gedanken  zeigt  am  besten  Hermas, 
der  Sim.  IX,  28  jedes  jrao/eiv  als  verdienstlich  und  Anspruch  auf 
86icL  bei  Gott  gebend  faßt;  eine  Steigerung  des  Anspruches  gibt 
das  irpo'ö-Dfi.ciD?  Traa/stv,  und  der  höchste  Beweis  der  'Kpo^n^ia  ist  der 
Tod.  Das  bloße  ofioXoYetv  ist  auch  dem  möglich,  der  geschwankt 
hat  (IX  28,  4 ;  es  wird  Sim.  VIII  3,  7  als  ein  •9-Xtß^vat  uTrep  toö  vd{ioo 
bezeichnet,  bei  dem  man  weder  leidet,  itaa/ei,  noch  verleugnet,  äp- 
vettat).  Der  himmlische  Lohn  wird  für  jeden  nach  der  Trpoä-oji-ia 
verschieden  sein.  Eng  stimmt  hierzu,  wie  oben  S.  444  gezeigt  ist, 
Cjrprian.  Auch  er  betont,  daß  die  Stärke  des  Willens  allein  entschei- 
det; der  Wille  selbst  tut  sich  in  der  o^xakofia.  kund,  seine  Stärke  erst 
im  Leiden  und  volle  Gewähr  für  sie  und  darum  für  den  Lohn  gibt 
erst  der  Tod  ^),  er  ist  das  [lapTÖpiov  t^Xeiov  ^).  Schon  hiernach  wäre, 
sobald  [laptopia  einmal  von  dem  Ertragen  des  Leidens  gesagt  wird, 
l[i,apTOp7]0£V  für  dwrsdavsv  einigermaßen  verständlich.  Allein  die 
Hauptsache  ist  doch  wohl  eine  Auffassung,  die  ich  im  Gegensatz 
zu  der  jüdischen  und  der  hellenistischen  einmal  eigentlich  christ- 
lich nennen  möchte;  sie  bietet  für  jene  beiden  immer  Ergänzung 
und  Korrektur.  Suchen  wir  einen  Terminus,  der  für  sie  bezeich- 
nend ist,  so  bietet  sich  (iiiJnrj'CTf^?  (CtjXwttqc)  und  [i.aO'YjtYj?  Iyjooö, 
Worte,  die  mit  besonderer  Betonung  bei  Ignatius,  bei  Polykarp 
(8,  2)  selbst,  in  dem  Martyrium  Polykarps  und  in  dem  Briefe  der 
gallischen  Gemeinden  begegnen  (vgl.  unten  S.  459).  Gewiß  be- 
ziehen sie  sich  ursprünglich  nicht  auf  das  Leiden  allein  —  der 
Wortgebrauch  bei  Ignatius  zeigt  das  besonders  klar  — ,  aber  zur 
Nachfolge  im  Leiden  hatte  Jesus  seine  Jünger  immer  wieder  er- 
mahnt; der  Schüler  hat  nichts  Besseres  zu  erwarten  und  zu  ver- 
langen als  der  Lehrer  ^),  und  mit  der  Mahnung,  ihm  nachzuahmen, 
hat  schon  früh  die  Kirche  die  Forderung  verbunden,  aus  Liebe 
selbst   das  Leben   für    die  Brüder  zu   lassen^).      Das  höchste  Ziel 


1)  Besonders  wichtig  ist,  daß  der  Opferbegriff  hier  schon  vortritt,  v.  6 
ü');  6XoxctpTicu(j.a  8'ja(ac  TrpoaeSiSaxo  (Gott)  aöto'jc 

2)  Daher  in  dem  Brief  der  gallischen  Gemeinden  (Eusebius  p.  428, 19)  o^c  iv 
T/j  ofxoXoyfa  Xpiatö«  i^Siiuasv  dvaXtjcp&fjvat  ij:ia({)paytaafi.evoc  aütiöv  8t'i  ttjc  i^öioM  t^^v 
jjiapxupiav. 

3)  Mysterienbegriffe  setzen  sich  später  an,  sind  aber  für  dies  kirchlich-ju- 
ristische Denken  kaum  entscheidend. 

4)  Matth.  10, 24  in  enger  Verbindung  mit  jenem  grundlegenden  Spruch  ini 
■?)Ye[i.'iva;  U  xal  ßaaiXel«  öx^i^aeadt  2vexev  ^(aoü  tii  fiap-rüpiov  aÜTol«. 

6)  Ephes.  5, 2  Yf''*'^«  fxipiTjToi  toü  ötoü  ...  xaöioc  xal  6  Xptatoc  Vja7n)a«v 
{>[t.äi  xal  7rap£ou>xtv  eautöv  bnip  ü(jiiüv  Ttpoa^opiv  xal  öuafav  dtöi  tiz  <5afx))v  tiu)8{a; 
(beeinflußt  von  Weish.  Sal.  3,  6,  vorbildlich  für  Hart.  Pol.  16,  2). 


Bemerkoogen  zur  Martyrienliteratur.  I.  451 

ist  Werden,  wie  Christxis  selbst  war,  ja  zu  Christas  werden.  Man 
kann  mhig  sagen:  in  dem  Moment,  wo  die  Bezeichnung  Jesu  als 
TciOTÖ?  xai  oXYjdivö?  {iäptü?  auf  die  Passion  gedeutet  wurde  — 
und  dies  ist  allerdings  erst  nach  dem  Eindringen  des  hellenisti- 
schen Sprachgebrauchs  mögKch  -  war  die  Forderung,  daß  der 
wahre  Märtyrer  sterben  müsse,  von  selbst  gegeben;  S|iapTi)p7)0£v 
heißt  jetzt:  er  ward  voll  wie  Christus,  er  starb  wie  Christus. 
Man  kann  verstehen,  daß  gerade  in  die  von  Hegesipp  berichtete 
Jacobas-Legende  das  "Wort  eindringt ;  sie  will  ja  beständig  an  die 
Passion  Jesu  erinnern  ^) ;  wo  er  es  außerdem  gebraucht ,  handelt 
es  sich  sogar  um  den  Kreuzestod  nach  Hohn  und  Mißhandlung. 
Die  tiefen  sakramentalen  Vorstellungen,  die  an  den  Tod  Jesu 
knüpften,  maßten  sich  jetzt  notwendig  auf  den  Tod  des  Bekenners 
übertragen.  Diese  individuell-christliche  Entwicklung,  die  ihrer- 
seits freilich  schon  hellenistisch  beeinflußt  war,  zeigt  sich  sofort 
als  hemmende  Schranke  gegenüber  einer  übertriebenen  Hellenisie- 
rung.  Nicht  weiter  soll  das  Martyrium  gehen,  als  es  Jesus  vor- 
gebildet hat. 

Ich  nehme  einen  Zug  voraus ,  auf  den  ich  in  anderem  Zusam- 
menhang eingehender  zurückkommen  werde.  Gerade  in  dem  Po- 
lykarp-Martyrium,  das  hellenistischen  Sprachgebrauch  und  Empfin- 
dungsart so  besonders  stark  zeigt,  tritt  das  lehrreich  hervor;  es 
berichtet  cap.  4  (Eusebius  IV  15,7—8),  ein  Phryger,  der  sich  zu- 
erst freiwillig  gemeldet  habe,  sei  beim  Anblick  der  wilden  Tiere 
ftig  geworden  und  habe  verleugnet.  Die  Gremeinde  schließt  daran 
die  nachdrückliche  Erklärung  Sia  toöto  ouv,  aSsX^oi,  oox  STraivoöftsv 
TG'j?  JTpoaiövta?  iaoTOi?  ^)  Izs'.Stj  ooy  ootax;  5t5a(3%='.  xö  soa^Y^Xtcv.  Nicht 
die  jüdische ,  wohl  aber  die  hellenistische  Auffassung  setzt  in  der 
Tat  das  Freiwillige  der  Leistung  voraus  oder  muß  es  doch  beson- 
ders schätzen,  und  selbst  Epiktet  wendet  sich  in  seiner  Mahnung 
zum  Heroismus  ganz  unbefangen  an  das  Empfinden  für  den  Ruhm 
(m  24, 111).  Die  Kirche,  die  außerdem  noch  einen  fast  unbegrenzten 
Lohn  im  Himmel  verheißt,  hatte  allen  Grund,  jetzt  vor  einem 
Herausfordern,  ja  Erzwingen  des  Martyriums  zu  warnen,  von  dem 
die  heidnischen  Autoren  gerade  in  der  zweiten  Hälfte  des  zweiten 
Jahrhunderts  zu  berichten  wissen.      Sie  prägt  den  Begriff  tö  xaza. 


*1)    Vgl.  bei  der  Wiederholung  Eusebius  p.  370,  9  luxa  xo  ftaprjpT,oai  laxwßov 
TÖv  Si'xatov,  üj;  xai  ö  x'jpio;,  i~\  xij»  aüttö  Xoytu. 

2)  Etwas  anders  Eusebius  in  der  freien  Inhaltsangabe  p.  338, 12  b1z6iv.^^x.<^ 
■zoli  Ttäaiv  Tiapaa/eiv  Zxt  iatj  o^ot  toi;  towjtoi;  ^'.iIioxivojvü);  xai  dvcjXaßüi;  ^ntoXfxiv, 
vgl.  Clemens  IV  17,  1  (l/iyo.aev  oi  xai  ^j|Aet;  to'j;  ennTjOr^savTa;  xt^i  Oavitw  und  Cyprian 
ep.  81  deua  .  .  .  nos  confiteri  tnagis  voluit  quam  profiteri. 


452  K.-  Reitzenstein, 

TÖ  sha^^iXioy  {jiapTupiov  aus  und  grenzt  ihn  gegen  die  Übertrei- 
bungen des  Hellenismus  ab.  Dieser  Auseinandersetzung  dienen 
die  beiden  teilweise  erhaltenen  Gemeindebriefe.  Sie  sind  Lehr- 
schriften, die  Ansicht  und  Forderung  von  Gremeinden ,  welche 
ein  besonderes  Recht  haben,  sich  in  dieser  Frage  zu  äußern,  an 
üTToSsiYiiata  erläutern '). 

Den  Streit  über  das  exoooio)?  Tupoaisvai,  das  mit  dem  helleni- 
stischen Begriff  der  Leistung  eng  verbunden  ist,  zeigt  sich  in 
den  Einwendungen  der  Gnostiker.  Sie  fühlen  sich  schon  als  Pneu- 
matiker, wozu  der  Bekenner  ja  erst  wird.  So  empfinden  sie,  daß 
die  äußere  Handlung,  sei  es  der  o^okofia,  sei  es  der  {jiapTopia, 
ihnen  nicht  mehr  geben  kann,  als  sie  schon  haben,  also  für  sie 
überflüssig  ist.  Wichtig  ist  die  Begründung  bei  Clemens  IV  16,  3 : 
[laptoptav  ^)  XsYOVTsc  aX'/]6"^  slvai  tyjv  toö  övtcö?  övto?  ^vwatv  ■ö'soö  .  .  , 
fpovia  Ss  slvat  aotöv  saotoö  %al  ao'&sv'CTjV  töv  Stdc  ■d'avatoo  6(JLoXoY7]aavta. 
Der  Gnostiker  ist  schon  gestorben  und  auferstanden ;  er  bat  den 
Tod  in  sich  vernichtet  (Valentin  bei  Clemens  IV  89, 1),  die  Leistung 
schon  vollzogen.      Wenn    er    das  Martyrium    sogar    als  Sünde   be- 


1)  Es  war  ein  seltsamer  Irrtum,  wenn  Harnack  Sitzungsber.  d.  Berliner  Aka- 
demie 1910  S.  114  flf.  den  Zweck  der  Briefe  in  einem  authentischen  Bericht  über  die 
Martyrien  sah,  der  als  eine  Art  Ergänzung  der  heiligen  Schriften  der  ganzen 
Christenheit  zugänglich  gemacht  werden  sollte.  Schon  E.  Schwartz  De  Pionio 
et  Polycarpo  p.  4  hätte  davon  abhalten  können.  HoU  verfällt  in  diesen  Fehler 
nicht,  hebt  aber  nicht  klar  genug  hervor,  daß  es  sich  um  Lehrschriften  handelt. 
Das  ist  für  den  Brief  der  gallischen  Gemeinden  ohne  weiteres  klar,  sobald  man 
die  Verhältnisse  bei  den  Empfängern  des  Briefes  und  die  Anlage  des  Schriftstückes 
beachtet.  Die  Montanisten  rühmen  sich  wohl  der  Zahl  ihrer  Märtyrer  und  sehen 
in  ihr  den  Beweis,  daß  „der  Geist"  bei  ihnen  ist  (ihn  empfängt  ja  jeder  Bekenner) ; 
aber  sie  nennen  p.apTu«  nach  weiterem  Gebrauch  jeden,  der  ins  Gefängnis  geworfen 
ist  (vgl.  Eusebius  aus  Apolinarius  von  Hierapolis  V  16,  20 — 22).  Selbst  wenn  er 
freigekommen  ist  —  die  Gegner  behaupteten  natürlich,  durch  unerlaubte  Mittel  aus 
Feigheit,  oder  gar  von  einer  Gefängnisstrafe  wegen  bürgerlicher  Verbrechen  — 
trägt  er  den  Ehrentitel,  fühlt  sich  den  Aposteln  gleich  und  schreibt  wie  sie,  frei- 
lich auch  wie  Peregrinus  Proteus,  Briefe  an  alle  Gemeinden.  Wir  erkennen  sofort, 
was  die  gallischen  Gemeinden  mit  der  Schilderung  der  Bescheidenheit  ihrer  Mär- 
tyrer bezwecken,  die  den  Titel  ablehnen,  weil  er  nur  den  Toten  gebülirt,  und  für 
sich  keinerlei  Recht  oder  Stellung  beanspruchen.  Natürlich  müssen  ihre  Leiden 
angegeben  werden;  sie  haben  viel  mehr  erduldet  als  die  phrygischen  Märtyrer, 
haben  also  auch  mehr  Anspruch  auf  Geltung;  die  Gemeinden  selbst  geben  einen 
Katalog  nach  Todesarten  gesondert,  um  sich  dadurch  eine  Stellung  den  Monta- 
nisten, aber  auch  Rom  gegenüber  zu  geben.  Eusebius  hat  ihn  weggelassen ;  ebenso 
die  meisten  Briefe  der  Märtyrer,  die  ganz  bestimmte  Zwecke  verfolgen.  So  er- 
weckt sein  Exzerpt  für  flüchtige  Leser  den  Eindruck,  als  ob  nur  eine  Martyrien- 
erzählung in  Form  des  Gemeindebriefes  vorläge.     Über  den  Polykarp-Brief  später. 

2)  Das  Märtyrer-Sein,  der  Besitz  der  Wirkung.    Clemens  gibt  das  zu. 


Bemerkungen  zur  Martyrienliteratnr.  I.  453 

zeichnet,  so  ist  es  offenbar  von  der  Gegenseite  als  Gott  wohlge- 
fällige Handlang  bezeichnet  worden^).  Ans  Tertullian  Scorpiace 
lernen  wir,  daß  anch  die  Opfervorstellong  geltend  gemacht  ist  und 
daher  bekämpft  wird  (Gott  verschmäht  selbst  Tieropfer),  ähnlich 
die  Mahnung.  Christi  Tod  für  uns  durch  unsem  Tod  für  ihn  zu 
vergelten  (er  hat  keine  Rechtsf orderung  oder,  wie  Irenaeus  III 
18,  5  zeigt,  er  hat  selbst  gar  nicht  tatsächlich  gelitten).  Daß  es 
sich  dabei  ursprünglich  um  den  freiwilligen  Tod  gebandelt  haben 
muß,  halte  ich  trotz  der  Polemik  Tertullians ^)  für  sicher'). 

Den  Gegensatz  bilden,  ebenfalls  ganz  auf  dem  Boden  des  Hel- 
lenismus stehend,  die  Marcioniten ,  die  den  Titel  {jidpio?  auch  an- 
genommen haben.  Den  Anspruch  darauf  gibt  bei  ihnen  nur  der 
Tod.  Clemens  IV  17, 1  p.  256, 12  StähUn  weist  wohl  sicher  auf 
sie  mit  den  Worten  nvs?  er/  i^jxstepoi ,  {jiövoo  toö  dvöji-atoc  xo'.voövo», 
ot  St]  aotoo?  zapaSiSöva'.  oreöSooo'.  t^  7:pö<;  töv  SrjUL'oopYÖv  a-£-/d='la, 

1)  euapexrot  öew  oder  euapesTTjXOTc;  öecL  heißen  die  nadövre;  fast  formelliaft 
bei  Hermas ,  und  selbst  im  Martyrium  der  Scilitaner  möchte  ich  nach  der  grie- 
chischen Fassung  Jr^fiepov  ä>.r,dä)c  fjLdf.rjpe;  Iv  oüpavot;  Tjy/[d\op.vj  rJapesTot  tw  %tv)  in 
der  lateinischen  statt  des  überflüssigen  zweiten  deo  graiias  vermuten  deo  gratiosi. 

2)  Sie  ist  gerade  in  dieser  Schrift  außerordentlich  gehässig  und  rabulistisch 
(vgl.  die  Polemik  gegen  die  Vorstellung  einer  fiap-rjoia  im  Himmel).  Hätte  er 
eine  einzige  klare  Aufforderung,  in  dem  Falle,  daß  der  Christ  ohne  sein  Zu- 
tun vor  Gericht  gekommen  ist,  zu  verleugnen,  vor  Augen,  so  würde  er 
anders  reden. 

3)  Völlig  aus  dieser  Reihe  muß  ich  Basilides  herausnehmen,  der  nur  deshalb 
von  Tertullian  in  sie  gestellt  ist,  weil  auch  er  den  Wert  des  Zeugentodes  herab- 
zusetzen scheint.  Er  geht  von  den  jüdischen,  bzw.  altchristlichen  Vorstellungen 
aus  und  verwendet  ihre  Terminologie.  Die  Worte  pi.aprjpeiv  und  [xapTypwv 
fehlen  ganz;  er  kennt  indem  berühmten  Fragment  Clemens  IV  81  ff.  nur  die  Worte 
rdtr/civ  (immer  wiederholt)  und  8>.i'|(t;  (charakteristisch  p.  284, 7  -ralj  Xe^op-evats 
öXi(}^e3tv).  Das  ist  also  der  Sprachgebrauch  des  Hermas  und  zu  ihm  stimmt  die 
Grundanschauung :  das  rctSo;  bewirkt  die  Vergebung  der  Sünden;  es  ist  an  sich 
Strafe ,  aber  eben  darum  W^ohltat.  Nur  fehlt  bei  ihm ,  was  Hermas  als  weitere 
Wirkung  des  tA^oz  angibt,  die  oo;a  rapd  Seuj.  Dabei  scheint  das  tAt/ivj  alle 
körperlichen  Leiden ,  nicht  nur  den  Tod  zu  umschließen.  Ist  das  -ä^;  größer 
als  die  Schuld  des  gegenwärtigen  Lebens,  so  scheint  er  einerseits  die  Möglichkeit 
einer  Schuld  in  einem  früheren  Leben  angedeutet  zu  haben  (Hilgenfeld,  Ketzer- 
geschichte S.  209),  andrerseits  zugegeben,  daß  das  zddo;  nicht  nur  die  Sünde  selbst, 
sondern  die  Disposition  zu  ihr  (das  iixaprrjTtxov)  tilgen  kann.  Offenbar  geht  von 
hier  die  Vorstellung  des  späteren  Mönchtums ,  daß  man  durch  die  rdÖT)  der  As- 
kese ,  durch  das  innere  ä-o8aveTv ,  die  ävap-apTTjaia  erwerben  kann ,  aus.  Völlig 
gleich  steht  dabei  die  passio  Jesu  und  seiner  Nachfolger.  Ich  bedaure  auf  die 
Zusammenhänge  der  asketischen  Vorstellungen  mit  den  gnostischen  Auffassungen 
des  Martyriums  früher  zu  wenig  geachtet  zu  haben.  Der  Zusammenhang  des 
Mönchtums  mit  dem  Gnostizismus ,  der  sich  schon  in  dem  Namen  lAOviCovre;  ver- 
rät, läßt  sich  an  ihnen  noch  deutlicher  machen. 


464  R-  Reitzenstein, 

ot  äd-Xtoi  •ö-avatÄVTs?.  Clemens  bestreitet  ihnen  das  Recht  auf  den 
Namen  oo  '{o.p  owCoooi  töv  ^apaxf^pa  toö  jiapTDpioa  toö  ziozob. 
(wohl  nach  {lapto«;  tciotö«;  gebildet).  Es  muß  aus  der  ocyätty]  ent- 
springen,  nicht  aus  der  Feindschaft  gegen  die  Materie  und  Welt. 

Trotz  dieser  kirchlichen  Gregenarbeit  bleiben  freilich  die  Ein- 
wirkungen des  Hellenismus  auch  innerhalb  der  Kirche  ungemein 
groß,  wie  ja  auch  Holl  zu  meiner  Freude  zugibt.  Man  muß  in 
der  Tat  literarische  Werke  aus  dem  letzten  halben  Jahrhundert 
der  Verfolgung  wie  die  Passio  Montani  oder  die  Fassio  Mariani 
et  lacobi  oder  die  rhetorische  Verherrlichung  der  palästinensischen 
Märtyrer  bei  Eusebius  unbefangen  mit  den  beiden  Gremeindebriefen 
vergleichen:  das  Erzwingen  des  Martyriums  durch  Herausforde- 
rung oder  selbst  Betrug  wird  bewundert;  der  Gredanke  an  den 
Ruhm  —  und  nicht  nur  an  den  Ruhm  bei  Grott  —  tritt  immer 
stärker  hervor.  Selbst  wenn  die  Wirklichkeit  der  rhetorischen 
Schilderung  nicht  entsprach,  zeigt  diese  das  Empfinden  der  Zeit, 
und  es  ist  hellenistisch.  Die  Fortsetzung  sehen  wir  im  Donatis- 
mus und  bei  den  Messallianern. 

Zum  Schluß  möchte  ich  noch  einmal  hervorheben,  wie  lebhaft 
ich  das  Verdienst  anerkenne,  daß  Holl  sich  durch  den  Nachweis 
der  Zusammenhänge  der  frühchristlichen  Anschauungen  mit  den 
spätjüdischen  erworben  hat.  Ich  verzichte,  so  lockend  manche 
Einzelnheit  ist,  auf  die  von  ihm  festgestellten  Tatsachen  einzu- 
gehen^); nur  Einiges,  was  er  übergangen  hat,  trage  ich  hier  nach. 
Die  älteste  christliche  Auffassung  des  Martyriums  liegt  uns  in  der 
Erzählung  von  der  Bitte  der  Zebedaiden  an  Jesus  Mark.  10,  35—40 
vor^).  Verschiedene  Stücke,  die  nicht  ursprünglich  zusammenzu- 
hängen brauchen,  sind  nicht ' ungeschickt  vereinigt:  Christus  ver- 
heißt seinen  Jüngern  Ersatz  und  Belohnung  für  alles,  was  sie  hier 
aufgegeben  haben,  und  prophezeit  sein  Leiden,  Sterben  und  seine 
Auferstehung.  Da  bitten  die  Zebedaiden:  gib,  daß  wir  bei  deiner 
Herrlichkeit  (Iv  t^  SöStq  ood)  zu  deiner  Rechten  und  Linken  sitzen. 
Jesus  fragt,  ob  sie  denn  denselben  Kelch  trinken  und  sich  mit 
derselben  Taufe   taufen  lassen  können,    wie   er.     Sie   bejahen   es, 


1)  So  ist  die  Anschauung,  daß  der  Märtyrer  die  Qualen  gar  nicht  empfindet, 
weil  er  schon  bei  Gott  oder  Gott  bei  ihm  ist,  in  der  Tat  jüdisch.  liier  paßt  sie 
zu  der  Grundanschauung,  daß  Gottes  Auftrag  für  den  txaptu;  das  Leiden  nach 
sich  zieht,  das  Gott  ihm  erleichtern  muß.  Dagegen  widerspricht  sie  geradezu 
der  hellenistischen  Anschauung,  daß  er  durch  seine  üitofxovi^  zum  „Zeugen"  Gottes  wird. 

2)  Vgl.  Wellhausen  zu  der  Stelle,  E.  Schwartz  Abhandl.  d.  Gott.  Ges.  d.  Wiss. 
N.  F.  VII  5,  Nachr.  d.  Gott.  Ges.  1907,  266,  Zeitschr.  f.  d.  neutestam.  Wissensch. 
1910,  89 ff.;  vgl.  besonders  S.  94. 


Bemerkungen  zur  Martyrienliteratur.  I.  455 

und  er  verheißt  ihnen ,  sie  sollen  den  gleichen  Kelch  trinken  und 
die  gleiche  Taafe  wie  er  erleben.  Aber  den  Platz  zur  Rechten 
und  Linken  könne  er  nicht  vergeben;  er  gehöre  denen,  für  die  er 
von  Gott  bestimmt  sei.  Unbestreitbar,  wenn  auch  bestritten,  ist 
die  Deutnng  von  Kelch  und  Taufe  auf  das  Martyrium,  ebenso, 
daß  die  Erzählung  sich  unter  dem  gewaltigen  Eindruck  des  Er- 
eignisses selbst  gebildet  hat ,  wie  ich  mit  Schwartz  glaube ,  also 
tatsächlich  schon  bald  nach  dem  Jahre  44  n.  Chr. ;  doch  macht 
das  Datum  zunächst  nichts  aus.  Wichtig  ist  mir,  daß  als  Vorbe- 
dingung für  die  gleiche  Verherrlichung,  wie  sie  dem  Messias  wider- 
fahren ist,  der  gewaltsame  Tod  bezeichnet  wird ;  der  Größe  des 
icd^o?  entspricht  die  Höhe  der  Entschädigung.  Das  ist  verständ- 
lich nur ,  wenn  in  der  Gemeinde  die  Überzeugung  verbreitet  i.st, 
daß  Jesus  selbst  seine  Erhöhung  dem  Trddo?  verdankt,  die  Bitte 
nur,  wenn  dies  Tcd^o?  zugleich  die  Auszeichnung  ist,  die  Gott  ihm 
widerfahren  läßt.  Das  kann  nicht  befremden;  es  ist  für  den 
frommen  Juden,  der  an  Jesus  glaubte,  ja  die  einzig  natürliche  Auf- 
fassung des  Kreuzestodes.  Er  war  durch  ihn  gezwungen,  den 
Messias  nicht  mehr  als  König,  sondern  als  Propheten,  aber  freilich 
als  den  größten  aller  Propheten  zu  fassen,  dessen  Vorläufer  nur 
alle  früheren  gewesen  sind  (vgl.  z.  B.  Mark.  12,  1).  Wie  sie  hat 
er  eine  Botschaft  Gottes  an  das  abtrünnige  Volk  übernommen  und 
ist  dafür  verfolgt  worden,  ja  hat  den  Tod  erlitten.  Für  dies  un- 
verdiente Leiden  muß  Gott  ihn  entschädigen,  erhöht  ihn  darum 
im  Himmel  und  macht  ihn  zum  Richter  seiner  Feinde.  Er  mußte 
leiden,  um  zu  seiner  Sö^a  einzugehen  ').  Damit  aber  erhebt  sich 
sofort  die  Frage:  ist  nach  dieser  Auffassung  der  Messias  nicht 
zunächst  notwendig  nur  Mensch?  Ein  Mensch  wie  die  Propheten, 
wenn  auch  der  {taptix;  kiotcx;  xai  aXr^divö?,  der  wegen  seines  beson- 
deren Gehorsams  und  besonderen  Leidens  zu  einem  Himmelswesen 
wird.  Der  Gedanke  wäre  an  sich  dem  Judentum  dieser  Zeit  sehr 
wohl  möglich.  Einen  tief  empfundenen  Abschnitt  seiner  alttesta- 
mentlichen  Religionsgeschichte   hat  R.  Smend  „Prophet   und  Mär- 

1)   Vgl.   in  der  Erzählung   von   den   Jüngern   in   Emmaus  Luk.  24,  26   oi^l 

-fTi-i  ioci  -aÖelv  -6v  Xpiatöv  xai  äiseJ.^elv  ei;  t7)v  c<5;5tv  tjtoO.  Das  Kausalitätsver- 
hältnis wird,  wie  so  oft,  durch  die  einfache  Anreihung  gegeben.  Die  Ausführungen 
von  Gillis  P:son  Wetter  (Beiträge  z.  Religionswissenschaft  II  32  ff)  gehen  nach 
etwas  anderer  Richtung  und  behandeln  einen  viel  komplizierteren  Sprachgebrauch. 
Für  das  Wort  oo^aCe'^ai  und  das  Johannes  -  Evangelium  mag  die  hellenistische 
Mysteriensprache  wohl  die  Erklärung  bieten ;  für  eine  vorausliegende  Epoche 
suche  ich  hier  die  Anknüpfungspunkte,  die  sie  in  der  Leidensmystik  des  echten 
Judentums  finden  konnte.  Diese  Leidensmystik  ist  in  ihm  ausschließlich  mit  der 
Vorstellung  von  der  Gerechtigkeit  Gottes  verbunden. 


456  R«  Reitzenstein, 

tyrer"  überschrieben.  Er  behandelt  hier  eine  Zeit ,  wo  diese 
Leidensmystik  sich  erst  in  dem  Bewußtsein  einzelner  bildet;  aus- 
gebildet und  verallgemeinert  liegt  sie  in  den  sogenannten  Ebed- 
Jahve-Stücken  des  Deutero-Jesaja  und  bei  diesem  selbst  vor  und 
hat  in  dieser  Verallgemeinerung  —  von  dem  Propheten  auf  den  Gre- 
rechten  —  weiter  gewirkt.  Von  dem  Grerechten  entwirft  die  Weis- 
heit Salomos  (cap.  2.  3)  das  gewaltige  Bild,  das  in  der  Ausführung 
des  ersten  Teiles  schon  griechisch  beeinflußt,  in  dem  zweiten  doch 
rein  jüdisch  ist^),  wie  die  Ungerechten  sich  gegen  den  Grerechten 
empören,  der  sich  Grottes  Sohn  nennt  und  Grott  kennen  will,  und 
wie  sie  schimpflichen  Tod  über  ihn  verhängen.  Aber  die  Seelen 
der  Grerechten  sind  in  Grottes  Hand ;  keine  Qaalen  berühren  sie  ^) ; 
wohl  mögen  sie  eine  kurze  Frist  tot  scheinen,  aber  das  ist  nur 
eine  Prüfungszeit;  herrlich  ist  ihr  Lohn;  sie  werden  herrschen 
über  die  Stämme  und  Völker  und  Grott  wird  ihr  König  sein  ewig- 
lich. Dieser  Lohn  gebührt  allen  aSixw?  Tcao/ovxs«;  ^),  also  natürlich 
besonders  den  irda^ovce?  Sia  xb  övojxa.  Notwendigerweise  mußten, 
als  im  Volk  wieder  Männer  erstanden,  die  sich  als  Boten  Grottes 
oder  als  seine  „Stimme"  fühlten  und  galten,  diese  Vorstellungen 
besonders  auf  sie  Anwendung  finden.  Mochte  man  das  Wort  Pro- 
phet dabei  vermeiden*),  für  die  Gläubigen  mußten  sie  als  Wieder- 
bringer und  Vollender  der  alten  Prophetie  erscheinen  und  nach 
dem  Tode  die  Verehrung,  die  der  Prophet  inzwischen  gefunden 
hatte,  noch  gesteigert  genießen.  Glerade  die  Grerechtigkeit  Gottes 
verlangt  ja,  daß  die  Wirkung  des  unverschuldeten  Tcddo«;  sich  an 
dem  besonders  zeige,  der  es  als  sein  Bote  und  dieser  Botschaft 
halber  freiwillig  auf  sich  genommen  hat.  Wir  können  es  begreifen^ 
daß  ein  Sprachgebrauch  sich  bildet,  der  die  {laprope?  als  oberste 
Kategorie  der  aStxw?  Trdo^^ovte?  oder  Sta  xb  ovojia  7:Ao-/ovxb<;  hervorhebt. 
Ich   möchte   einen  Nachklang   dieser  jüdischen  Leidensmystik 


1)  In  der  ersten  Hälfte  ist  nur  von  „dem  Gerechten"  im  Singular  gesprochen; 
ich  kann  das  Idealbild  aus  dem  Judentum  verstehen  und  werde  doch  die  Empfin- 
dung nicht  los,  daß  hier  wirklich  Plato  durch  stoische  Vermittlung  einwirkt;  wo 
der  Teil  einsetzt,  für  den  das  Griechentum  ein  Gegenbild  nicht  geben  konnte, 
setzt  sofort  auch  der  Plural  ein. 

2)  Gott  schützt  seine  Diener  vor  der  Empfindung  der  Qualen  (o'j  fATj  ä^rixai 
autdiv  ßdaavo;).  Die  Anschauung  beherrscht,  wie  HoU  nachweist,  die  Schilderung 
in  den  jüdischen  Martyrien. 

3)  Der  Be;?riff  tritt  im  ersten  Petrusbrief  besonders  stark  hervor,  wird  aber 
dabei  christlich  umgebildet.  In  dieser  Umbildung  wird  er  dann  Ausgangspunkt 
für  Basilides  (siehe  oben  S.  453,  2). 

4)  öchlatter  scheint  mir  mit  Unrecht  gegen  Holl  hierauf  besonders  Gewicht 
zu  legen. 


Bemerkungen  zur  Martyrienliteratur.  I.  4.57 

noch  in  den  gewaltigen  Worten  des  Paulus  ^)  wiederfinden  Phil.  2,  6 
6<;  h  {lop'ffj  ^soü  OTiap/wv  oo"/  ap;raY{iöv  r^i^aato  tö  sivai  laa  dscp, 
aXXa  saoTÖv  Ixsvwoev  |Aop<p'f]v  SoöXoo  Xaßwv,  Iv  6^om\ia.zi  av^pwjrwv 
7evd{iEV0(;  xai  ayri^azi  eops^cl?  w?  avdpwTCO?,  ItaretvcoocV  eaoTÖv  ^evö- 
jjLsvo?  üTn^xoo?  |J-£XP^  O-avdtoo,  Oavdtoo  8s  a^aopoü.  5iö  xai  6  ^söc  aotöv 
67:Epü<j;(üa£v  xal  i^^apioato  aortj)  övo{j-a  tö  oTcsp  Tcäv  övojta,  Tva  Iv  övö{iau 
'Itjooö  Ääv  fövo  xd{xt{;T(]  Iro'jpaviwv  xal  IfftYstcov  xai  xaTa-^O^ovicüv ,  xal 
wäoa  Y^wooa  £^o[i,oXo7Tj'3£Ta'.  oti  xopio?  'Irjaoö?  Xpiorö?  el?  Sd^av  dsoö 
Tcatpö?.  Zwei  Anschauungen  scheinen  sich  mir  hier  zu  verbinden, 
die  einander  angenähert  und  miteinander  verschmolzen,  doch  nicht 
ganz  restlos  in  einander  aufgehen,  eine  ältere,  überkommene,  wo- 
nach der  Mensch,  der  dem  Befehl  Gottes  bis  zum  Sklaventode 
am  Kreuze  treu  geblieben  ist,  darum  von  ihm  erhöht,  d.h. 
auferweckt  und  mit  Macht  im  Himmel  belohnt  ist,  und  ein  neuer, 
ganz  individueller  Glaube,  daß  es  der  präexistente  Messias 
ist,  der  schon  eine  gottgleiche  Stellung  hatte,  aber,  weil  er  diese 
Leistung  des  Menschen  auf  sich  genommen  hat,  eine  Übererhö- 
hung erfahren  hat,  die  ihn  über  alle  stellt,  die,  ohne  eine  solche 
Würde  vorher  zu  besitzen,  von  Gott  erhöht  sind  oder  die  irgend- 
welche himmlische  nie  aufgegeben  und  nie  versucht  haben,  sie  sich 
wahrhaft  zu  verdienen^).  In  dem  Djrsptxfxoaiv  liegt  das  Neue 
des  paulinischen  Messiasglaubens,  das,  was  den  Messias,  der  Prophet 
geworden  ist,  über  die  Propheten  erhebt  und  jedem  neuen  {idpTo<; 
(Propheten)  die  Möglichkeit,  eine  gleiche  Stellung  zu  erwerben, 
abspricht.  Aber  die  alte,  allgemein-jüdische  Anschauung,  die  von 
dem  jidptos,  der  gelitten  hat,  glaubt  8ib  xal  D<j^(oaEv  aotöv  6  ^söc, 
wirkt  auch  nach  Paulus  weiter;  der  neue  Märtyrer  wird  Christus 
gleich,  dieser  ist  nur  6  (idpiu?  6  icotö?  ,  6  xpoDtötoxo?  sx  vsxpüv 
und  als  TcpwTÖxoxo?  auch  6  ap/wv  töjv  ßao'.Xia)v  rf^?  T"^?^)-  Ist  doch 
jeder  neue  Märtyrer  {jLtjiYjrr]?  Xptotoü  oder  {jLadrjrfj?  Xpiotoö  (vgl. 
Mart.  Pol.  17,  3).  Schon  das  Wort  [li^tiztiq  hat  dabei  offenbar  so 
intensiven  Sinn,  daß  es  fast  Ehrenbezeichnung  wird,  vgl.  Ignatius 
Rom.  6,  3  izivp^azi  ^ot  [jLi[i,irjT-r]v   slvat  toö  nd^oo?  toö  deoö    |ioo  (vgl. 

1)  Wie  tief  Paulus  sie  empfindet,  zeigen  viele  Stellen,  am  deutlichsten  II.  Kor. 
11,  16  ff.  die  Schilderung  der  ~d^  vor  den  Offenbarungen.     Er  rühmt  sich  beider. 

2)  Den  Grundgedanken  empfindet  noch  der  Verfasser  des  Briefes  der  gal- 
lischen Gemeinden,  der  auf  diese  Stelle  verweist,  Eusebius  Y  2,  2,  p.  428,  8. 

3)  Apok.  1,5,  vgl.  Weisheit  Sal.  3,  8  xpivoüatv  ISvt]  xi\  xparr,-:ov)3iv  Xaüiv  xal 
ßasiXejaei  auTcüv  xjpioj  ef;  to'j;  a{üiva;.  Das  Gleiche  verheißt  Jesus  (Luk.  22, 30; 
Mattb.  19,  28)  den  (xa9T)xoi',  weil  sie  schon  jetzt  an  seinem  Leiden  Teil  genommen 
haben.  Daß  er  ihnen  auch  für  die  Zukunft  die  gleichen  Leiden  vorhersagt,  ver- 
anlaßt die  weitere  Vorstellung,  daß  sie  alle  im  Leiden  seine  fjLifj.T|Xai'  geworden 
sind.     Beide  Begriffe,  p-aÖTj-rri«  und  {xtjjirjTr,c,  hängen  eng  zusammen. 


458  ^-  Reitzenstein, 

Smyrn.  4,  2  xö  ao{Ji7cadetv  aotij)),  Polykarp.  Phil.  8,  2  {i.t[iY]tai  oov  ys- 
v(ü[ieda  f^?  DTCOjJiov^?  aotoö,  Brief  d.  gall.  Gremeinden,  Eusebius 
p.  428,  7  IttI  tooodtov  CiQ^wiai  xai  ^ijtyjial  Xpiotoö  Iysvovto  (echte  Mär- 
tyrer), Mart.  Pol.  1,  2.  Klar  wird  die  Titelbildung  in  der  Bezeich- 
nung [jia^YjTT]?,  weil  sie  ursprünglich  auf  einen  geschlossenen  Kreis 
beschränkt  ist,  und  hier  treten  in  der  Tat  Vorstellungen  zu  Tage, 
wie  sie  Holl,  ohne  in  dem  Sprachgebrauch  Berechtigung  zu  haben, 
mit  dem  Worte  jjLapto«;  verband.  Mit  der  Grefangenschaft  tritt  der 
Christ  in  ähnlich  unmittelbaren  Verkehr  mit  seinem  Meister,  wie 
einst  die  Jünger  standen ;  der  Tod  erhebt  zu  dem  vollen  Rang 
und  Lohn  des  jjia^Tj'n]?.  Wir  finden  die  Auffassung  am  klarsten 
bei  Ignatius  (and  zwar  nicht  nur  in  dem  Römerbrief),  vgl.  Eph. 
3,  1  vöv  Yocp  (als  Gefangener)  apx'^v  s^w  toö  jtaO-YjtEÖso^ai  (vgl.  Rom. 
1,  1.  2  TJ  cLpyri  . . .  TÖ  tsXoc),  Rom.  5,  3  vöv  8tp)^oji,ai  jtadrjtYj?  sivai  (vgl. 
5,  1 ;  auch  4,  3  vöv  {lavdavw  SsSsfi^vo?  {itjSsv  l7rt^o{islv  gehört  hierher ; 
es  ist,  wie  die  Mönchsliteratur  zeigt,  das  Kennzeichen  des  Tcveojta- 
ttxöc  und  aTcoatoXixd?,  Hist.  Monach.  und  Hist.  Laus.  S.  91  ff.),  Trall. 
5, 2  OD  xa^ÖTt  SeSejiai  . .  Tcapa  toöxo  tjötj  xal  iiadyjf»]?  d^i  (vgl.  Eph.  3, 1  st 
fap  xai  S^Ssftat  iv  tcjj  6vö(i.aTt,  oottcd  äntripzia^ai  Iv  'Itjooö  XptoTtp,  vgl.  die 
Fortsetzung),  Eph.  1,  2  iTcttu^eiv  Iv  Tw^iiq  ^ripio^ai.yriacf.i,  iva  8iä  toö 
iTCtTo^siv  (nämlich  Xptatoö  vgl.  unten  S.  460)  Sovrj^fi)  {Aa^Yjf/j?  slvai, 
Rom.  4,  2  TÖis  lao{i.ai  {jLa^YjtY]?  aXTjdfjg  toö  XpioToö,  ots  oö5s  tö  owpLd 
{toD  6  xöajio?  ötj^sTat.  —  Dann  aber  kann  die  Vorstellung  Holls,  daß 
unsere  Martyrienliteratur  so  spät  einsetzt,  weil  in  der  Urzeit  des 
Christentums  der  Prophet  den  Märtyrer  verdunkelte,  kaum  richtig 
sein  *).  Sie  verlangte  zunächst  den  Nachweis,  daß  des  Ignatius  Brief 
an  die  Römer  unecht  ist ;  denn  hier  schreibt  Ignatius  dem  Mär- 
tyrer zu,  daß  er  im  Tode  Xd^oi;  •ö-eoö  (2,  1)  und  TeXeto?  ävdpa)7tO(; 
wird  (6, 2,  vgl.  Smyrn.  4,  2)  ^) ;  sie  widerspricht  aber  auch  der  klaren 


1)  Hermas  Vis.  III  1,9,  von  dem  Holl  ausgeht,  beweist  nicht  recht. 

2)  Charakteristisch  für  das  Empfinden  des  Verfassers  ist  eine  Stelle  aus 
dem  Brief  der  gallischen  Gemeinden.  Als  Pothinus  vor  den  Legaten  geführt  wird 
(Eusebius  V  1, 30  p.  414, 5),  erschallen  aus  dem  Volke  allerlei  Zurufe  ök  aO-oü 
ÄvTo«  Toü  Xpiaxo-j.  Kahrstedt ,  der  die  Stelle  unlängst  (Rhein.  Mus.  68,  398)  be- 
sprochen hat,  erklärt ;  der  Pöbel  hielt  ihn  tatsächlich  für  den  Gründer  des  Christen- 
tums und  hatte  keine  Ahnung  davon,  daß  es  anderwärts  noch  Christen  gäbe.  Er 
sucht  darin,  etwas  überflüssiger  Weise,  die  Gewähr,  daß  die  Schilderung  zuver- 
lässig sei:  unmöglich,  daß  ein  christlicher  Literat  jemals  sich  eine  solche  Auffas- 
sung ausdenken  konnte !  Seltsam  allerdings,  daß  ein  christlicher  Literat  dann  den 
Unsinn  erwähnte.  Aber  bei  Eusebius  steht  auch  nichts  davou.  Die  Zurufe  des 
Volkes  sind  so,  daß  sie  auf  Christus  gepaßt  hätten,  trotz  ihrer  Gehässigkeit.  Wie 
PolyHarp  vorgeführt  wird,  läßt  der  Verfasses  das  Volk  rufen  (12,  2)  outoc  ^ütiv  f, 
T^C  Walai  SiSäaxaXo«,    6  nax^jp  täv  Xpiattaväiv,    ö    töjv  T^j[j.et£p(uv  öeiüv  xaOatp^TTj;,    6 


Bemerkungen  zur  Martyrienliteratur.  I.  459 

Entwicklung,  die  wir  von  jener  Erzälilnng  über  die  Zebedaiden 
bis  zu  dem  Martyrium  Polykarps  verfolgen  können.  Ich  muß 
hierauf  noch  etwas  näher  eingehen. 

Die  Smyrnäer  geben  im  Eingang  als  Begründung  dafür,  daß 
sie  den  Hergang  der  Verfolgung  haben  aufzeichnen  lassen,  an: 
o/e5öv  7  a  p  Tiavta  ta  jrpodYOVta  Sfevsto ,  tva  r^'^lv  6  xöpio?  avco^sv  k%i- 
SsiS'fl  tö  xata  TÖ  söaYYsXtov  [taptuptov.  W  ir  sahen  früher,  daß  in 
jener  Zeit  lebhafter  Streit  darüber  herrscht,  was  man  als  echt- 
christliches Martyrium  anerkennen  soll ;  die  Gemeinde  hat  es  an 
der  Verfolgung  gelernt  und  trägt  es  in  ihrer  Schilderung  der  Ge- 
meinde von  Philomelion,  also  einer  phrygischen  Gemeinde,  vor, 
weil  diese  danach  gefragt  hat;  auch  die  Xachbargemeinden 
sollen  davon  erfahren.  Lehrhaft  ist  die  Darstellung  von  Anfang 
an;  das  zeigt  der  nächste  auf  Polykarp  bezügliche  Satz  rteptspLsvsv 
•jfap  iva  TCapaSod-^  oj?  xal  ö  xopio?.  Sofort  wird  auf  dieselbe  Stelle 
des  Philipperbriefes  verwiesen,  die  auch  der  Verfasser  des  Briefes 
der  gallischen  Gemeinden  anführt  (oben  S.  441),  sogar  in  ähnlichem 
Gedankenzusammenhang:  Tva  ^'.^rizal  xal  i^fisi?  aotoö  7£Vü>[ts^a.  Die 
Flucht  in  der  Verfolgung  wird  abgelehnt;  sie  verstößt  gegen  das 
Evangelium.  Umgekehrt  wird  an  dem  Beispiel  des  Phrygers 
Quintus  (oben  S.  451)  dargetan  ^),  daß  der  Christ  sich  nicht  frei- 
willig melden  soll.  Nicht  zufrieden  mit  der  indirekten  Lehre,  die 
in  der  Erzählung  liegt,  ergreift  die  Gemeinde  selbst  zu  einer  dog- 
matischen Entscheidung  das  Wort:  „wir  mißbilligen  die  IxövtS!;". 
Als  Begründung  führt  sie  an  oo^  outw?  StSdoxst  tö  eoa^v^Xiov.  Da- 
gegen findet  die  Mannhaftigkeit  des  Märtyrers,  der  in  der  Arena 
seinen  doch  sicheren  Tod  rascher  herbeiführen  will,  uneinge- 
schränktes Lob ').    Wenn  wir  die  zehn  anderen  Martyrien,  die  bei 

roXXou;  5i8d3xü)v  {xifj  S-ietv  (itjSe  zpocxuvelv.  Er  will  seinen  Helden  damit  indirekt 
preisen.  Daß  Cyprian  im  Urteil  als  signifer  bezeichnet  ist,  findet  der  Verfasser 
der  Vita  et  passio  als  göttliches  Zeugnis  für  seine  Bedeutung.  Die  Empfindung 
des  Verfassers  des  Briefes  der  gallischen  Gemeinden  kennzeichnet  auch  seine 
Charakteristik  des  Vettius,  die  Kahrstedt  an  der  gleichen  Stelle  anführt,  freilich 
wieder  mit  falscher  Deutung:  rapaxXrjTo;  Xptattavwv  ^pr^iAatiaac,  e-^ftov  oe  tov  roo-i- 
xXtjtov  bt  ioMzv^  t6  TTiieüp-a  xoü  Zayaptou  (Eusebius  p.  406,  2). 

1)  Ob  er  wohl  absichtslos  gerade  hier  vor  der  Verleugnung  als  Phryger  be- 
zeichnet wird?  Gewiß  ist  der  Montanismus  damals  erst  im  Entstehen,  aber  die 
Schätzung  des  freiwilligen  Mart}Tiums  wird  in  diesen  Gegenden  älter  sein. 

2)  Vgl.  c.  3  ea-jT«)  i-fsrAzi-o  -6  &T|ptov  rpos^taactaevo;  ■ziyio^  roü  d5{xou  xai 
dv6(iou  ßi'ou  aÜTüiv  (Z7raXXaYf|vat  ßouX(5pLevo;  (fast  wie  bei  Marcioniten) ,  vgl.  Ignatius 
Rom.  5, 2  xav  aüri  6e  £x<>vTa  {atj  öe^aTj ,  jyoj  7:poaßia3ou.at.  Bei  Ignatius  ist  das 
jxujv  ÜTtep  %to'i  äroövT' axiu  (Rom.  4, 1)  in  etwas  anderem  Sinne  gebraucht ,  als  es 
meist  von  den  sxovxe;  wurde.  Dennoch  kann  man  verstehen,  daß  eine  spätere 
Zeit  Bedenken  gegen  diese  Stelle  und  den  ganzen  Brief  empfand. 

Kgl.  Ges.  d.  Wiss.    Nachrichten.    PhU.-hist.  Klasse.    1916,    Hefta.  31 


460  ^-  Reitzenstein, 

der  Umgestaltung  des  Briefes  in  ein  Buch  fortgelassen  sind,  noch 
hätten,  würden  wohl  weitere  lehrhafte  Züge  hervortreten.  Wenn 
Polykarp  10,  2  dem  Proconsul  sagt  os  ^kv  xal  Xöyco  Tj^twxa  •  S  s  8 1  - 
SdYfiS'ö-a  Y^P  apX°^^*J  ''^^^  l^oooiatc  dttö  •9-soö  TSTaYjJLSvai?  Ttji.-rjv  xata 
tö  irpoo'^xov  TYjv  piTj  ßXdTUTooaav  T^jiä?  aTcovsjtstv,  so  erklärt  sich 
mir  mindestens  die  vorsichtige  Umgrenzung  der  Pflicht  und  Deu- 
tung des  Grebotes  mehr  aus  dem  lehrhaften  Charakter  des  Briefes 
als  aus  der  Situation.  Für  die  Gresamtauffassung  ist  wichtig,  daß 
von  den  elf  kleineren  Märtyrern  gesagt  wird  (2,  3)  otirep  ^7iv.szi 
av^pwjrot,  aXX'  yjStt]  ocyysXoi  "^oav.  Es  fragt  sich,  wie  ihr  SiSaoxaXo? 
Polykarp  zu  ihnen  steht.  Die  Antwort  kann  nur  sein:  wie  Chri- 
stus. Oft  ist  ja  hervorgehoben,  mit  welcher  Beflissenheit  die  Einzel- 
züge der  Erzählung  und  selbst  die  Worte  dem  Passionsbericht  an- 
geglichen sind,  ja  der  Schriftsteller  macht  selbst  darauf  aufmerksam 
(6,  2).  Ein  gleiches  Streben  tritt  uns,  wenn  auch  minder  stark,  in 
der  Legende  von  dem  Martyrium  des  Jacobus  bei  Hegesipp  ent- 
gegen. Der  Märtyrer  soll  in  möglichst  viel  Zügen  als  pmJLTrjiTjc 
XptoToö  erscheinen.  Im  Polykarp  -  Martyrium  ist  das  auf  die  Ge- 
samtauffassung ausgedehnt:  da  mit  seinem  Tode  die  Verfolgung 
erlosch,  hat  er  sich  zum  Opfer  für  die  Seinen,  d.  h.  die  Gemeinde, 
gegeben.  Er  ist  für  die  Brüder  gestorben  (vgl.  1,  2).  Die  Ver- 
ehrung geht  außerordentlich  weit.  Sobald  der  Feuertod  beschlossen 
ist,  drängen  sich  alle  Gläubigen  um  ihn  ooti?  tcx/tov  toö  x?^'^^'^ 
aoToö  at{)7]tai  (13, 2).  Sie  erwarten  offenbar,  daß  von  dem  Leibe 
des  Märtyrers  wie  nach  dem  synoptischen  Bericht  von  dem  Leibe 
Christi,  eine  Kraft  ausgeht.  Selbst  von  dem  Leichnam  würde  dies 
noch  geschehen;  sie  begehren  xoivtov^oat  tcp  (xyi^  aotoü  oapxCcp.  Der 
Ausdruck  ist  seltsam,  kehrt  aber  in  anderer  Form  (6,  2)  von  dem 
Märtyrer  selbst  wieder  (Xptaroö  xoivodvö?  Ysvöfievoc).  Das  ist  das 
kziznyelv  'Iirjaoö  Xptotoö,  das  Ignatius  Rom.  5,  3  in  dem  Martyrium 
zu  erreichen  hofft  ^).  Als  der  Leichnam  dann  verbrannt  ist,  werden 
die  Gebeine,  die  als  Ti|j,i(i)tepa  Xidwv  tcoXotsXwv  xal  6oxt{JL(«)Tepa  bnkp 
yjpoaio^  bezeichnet  werden,  beigesetzt  otcoo  xal  axöXoo^ov  "^v,  und 
bei  jedem  Gottesdienst  versammelt  sich  die  Gemeinde  dort  mit 
Jubel  und  Frohlocken.  Gemeint  kann  nur  sein,  daß  sie  unter  dem 
Altax  oder  Abendmahlstisch  beigesetzt  sind,  wie  das  später  üblich 
ist.     Aber  der  Ausdruck  Sttoo  xal  axöXou^ov  -^v  gibt  zu  denken;  er 

1)  Übertragen  aufs  Geistige  ist  der  Ausdruck  in  der  Passio  Perpetuae  1,6 
ut  qui  nunc  cognoscitis,  per  aii4üu7n  communionem  habeatis  cum  sanctis  martyribus 
et  per  ülos  cum  domino  lesu  Christo  und  später  oft.  Das  xotvtuveiv  tcji  aapxU^ 
will  Ignatius  Rom.  4,  2  verhindern  xoXaxeuaate  xa  örjpfa,  Tva  fxot  tacpo;  7ivu>vxat  xol 
(AT^oJv  xaxaklniuai  x<i>v  xoü  au>(AaT<>(  jaou,  ?va  p.jj  xot[XJ)ö«U  ßapi«  xivt  j^vwjaoi. 


Bemerkungen  znr  Martyrienliteratur.  I.  461 

klingt  wie  eine  Rechtfertigung  oder  wie  eine  Mahnnng.  Hiermit 
verbindet  sich  ein  anderes  Bedenken:  die  Jaden  bitten  die  Be- 
hörden, den  Leichnam  nicht  den  Christen  zu  geben,  |jfr]  a^evts?  cöv 
sataopwpLsvov,  toötov  ap^cüvtai  a^ßsaO'ai.  Die  Sorge  für  die  Verehmng 
Christi  berührt  bei  ihnen  seltsam  genug,  doch  könnte  man  viel- 
leicht denken,  daß  nur  eine  ungeschickte  Nachbildung  des  Passions- 
berichtes vorliege,  wenn  nicht  der  Schreiber  fortführe:  iYvooövrs? 
oti  ooTs  xöv  Xp'.OTÖv  irote  xataXiffstv  SovYjaö'tc^a,  töv  OÄsp  t^c  zob  rav- 
TÖ?  xdojxoo  \)  Twv  oa)Co{JLSVü)v  owTTjp'lac  Tradövta  8c[ia>{iov  UÄsp  a[i.apTO)Xü>v, 
00T6  STEpöv  T'.va  asßeod-a'. '^).  toötov  jjlsv  YÄp  ot öv  ovta  toö  ^so5  zpo- 
oxDvoü(Lev,  tooc  8fe  {tdptopa«;  w?  (laO^jtac  xai  {iijtTjta;  toö  xopioo 
a7arw{iev,  a^tax;,  Ivsxa  sövoia?  avoTrspßXijtoo  t^c  el?  töv  iSiov  ßaoiXia 
xal  StSdaxaXov.  Wieder  hören  wir  den  lehrhaften  Ton  des  ganzen 
Briefes;  aber  wem  gilt  die  Belehrung?  Doch  nicht  den  Juden, 
sondern  den  Lesern.  Offenbar  soll  sie  entweder  die  Gemeinde 
von  Smyrna  von  dem  Verdacht  befreien,  da  sie  sich  regelmäßig 
um  Polykarps  Gebeine  versammelt,  einen  Polykarp-Kult  statt  des 
Christus  -  Kultes  einzuführen  —  dann  müssen  wir  annehmen,  daß 
die  Gemeinde  von  Philomelion  etwas  Derartiges  gehört  und  um 
Rechtfertigung  gebeten  hat  —  oder  sie  soll  der  anderen  Gemeinde 
vorhalten,  bis  wieweit  der  allgemein -kirchliche  Märtyrerkult  nur 
gehen  darf  auch  dem  größten  Märtyrer  gegenüber.  Die  indirekte 
Belehrung,  die  wir  in  kirchlichen  Schreiben  so  oft  wahrnehmen, 
ist  jedenfalls  unverkennbar.  Ich  selbst  möchte  mich  für  die  zweite 
Möglichkeit  entscheiden,  weil  16,  2  so  nachdrücklich  darauf  hinge- 
wiesen wird,  daß  Polykarp  nicht  nur  Märtyrer,  sondern  auch 
Prophet  war:  Iv  tot?  xaö-'  "^{tä?  ^pövot?')  StSdtoxaXo?  aTuooto- 
Xtxö?  xal  JCpO'fTjT'.xöc  7evö[xsvo(;,  Iäioxotto?  t^?  Iv  lu-upv-^  xaO-oXixf^C  £x- 
xXTjOta?.  izäv  7ap  pf;|xa,  8  afpr^xsv  £x  toö  ax6\L%xo<;  aotoö,  ItcXstwÖTr]  xal 
tsXetw^Tfjasta'..  Ich  fühle  hier  eine  Polemik  gegen  den  beginnenden 
Montanismus,  der  den  Propheten  und  Märtyrer  sich  direkt  als 
Paraklet  oder  Christus  bezeichnen  läßt. 

Aber  freilich  —  auch  die  Auffassung  der  Gemeinde  von  Smyrna 
ist  überschwänglich  genug.  Der  vollkommene  \ii^TizTi<;  ist  xoivwvöc 
XpioToö,  in  gewissem  Sinne  selbst  ein  Christus  für  die  Seinen  durch 
das   irddoc^).     Wenigstens   steht  er  als  Mittler  zwischen  Christus 


1)  Also  nicht  nur  für  die  aiü!irjiit\oi  einer  Gemeinde,  wie  Polykarp. 

2)  Als  Gott  verehren;  für  dyaräv  vgl.  oben  S.  419,3. 

3)  Der  Zusatz,    der  so  selbstverständlich   wäre,    hat   in  der  Polemik  gegen 
den  beginnenden  Montanismus  Zweck. 

4)  Freilich  ist  er  nicht  io  dem  neuen  christlichen  Sinne  olö;  8eoü  und  nicht 
sündlos. 


462  ^-  Reitzenstein, 

und  ihnen.  Nicht  Christi  Tcado?  unmittelbar,  sondern  sein  irad'oc 
werden  sie  nachahmen  wollen ;  sie  wünschen  xotvcovoi  te  xal  ao{jL{i,a- 
dirjTai  ihres  Märtyrers  zu  werden.  Das  wird  zunächst  in  jener 
lehrhaften  Scheidung  des  Christuskultes  und  der  „Liebe"  zu  den 
Märtyrern  offen  gesagt  und  noch  zweimal  betont,  zunächst  im  Ein- 
gang 1,  2  Tcsptsjtevev  Yap  tva  TcapaSo^'^,  w?  xat  6  xöptoc,  tva  jjLifiTjtal 
%al  %eii;  aotoö  Ysvwjie'O'a  und  wieder  voller  im  Schluß  (cap.  19)  ou 
TÖ  [laptöpiov  zavTsg  iTCi'&OfJioäotv  ]xi^eiod-a.i  v.ct.zä  zb  söa^YS^tov  Xpiatoö 
Yevöfisvov  (vgl.  die  Fortsetzung).  Das  liegt  noch  genau  in  der 
Linie,  die  mit  der  Erzählung  von  den  Zebedaiden  beginnt.  Jeder 
neue  {it^tTTj-cY]?  ist  seinerseits  wieder  Vorbild,  wie  Christus  es  war. 
Ist  die  Vermutung  richtig,  daß  der  Brief  gerade  dem  Übermaß 
der  Verehrung  wehren  will,  das  eine  noch  stärker  hellenistische 
Märtyrerauffassung  an  anderer  Stelle  im  Christentum  geschaffen 
hat,  so  werden  wir  die  Vorstellung  von  ihr  sehr  hoch  schrauben 
müssen. 

Was  mich  dazu  bestimmt,  ist,  daß  der  Brief  der  gallischen 
Gemeinden  offenkundig  die  gleiche  Tendenz  zeigt,  und  daß  sich 
aus  derselben  Tendenz  die  kirchliche  Neuschöpfung  des  Begriffes 
6^oko'(riz'fiq  am  besten  erklären  läßt.  Man  wollte  den  alten  Titel 
{tdpTOi;  nicht  ganz  beseitigen,  weil  zu  starke  religiöse  Vorstellungen 
mit  ihm  verbunden  waren,  Vorstellungen,  die  man  im  Kampf  mit 
den  Verfolgern  nicht  missen  konnte  und  wollte.  So  schuf  man 
neben  ihm  den  geringeren,  durch  keine  Tradition  geheiligten  Titel 
und  sprach  den  ursprünglichen  nur  noch  Verstorbenen  zu.  Es  ist 
eine  Entwicklung,  wie  sie  für  eine  hierarchisch  sich  ausgestaltende 
Kirche  fast  notwendig  war. 

Wie  sich  mit  dieser  Anschauung,  die  ich  zunächst  mit  aller 
Zurückhaltung  äußern  und  nur  zur  Erörterung  stellen  möchte,  die 
befremdlichen  Tatsachen  der  Überlieferung  z.  B.  des  Polykarp- 
Martyriums  in  Einklang  bringen  lassen,  möchte  ich  später  ver- 
suchen darzulegen.  Hier  lag  mir  nur  daran,  die  Entwicklung  des 
Wortgebrauches  zu  erklären  und  anzudeuten,  wie  wir  in  ihm  die 
vi^echselseitige  Beeinflussung  der  beiden  Geisteswelten  nachweisen 
können,  aus  denen  die  neue  Religion  ihre  Begriffe  nehmen  und 
deren  Kräfte  sie  sich  dienstbar  machen  mußte.  Die  Wortgeschichte 
bewahrt  die  unanfechtbaren  Dokumente  für  die  Entwicklung  der 
Anschauungen  und  die  Stärke  der  gegeneinander  wirkenden  Ein- 
flüsse; nur  darf  man  nicht  mit  einer  Konstruktion  der  Anschau- 
ungen  beginnen   und  danach  die  Wortgeschichte  meistern  wollen. 


Bemerkungen  zur  Martyrienliteratur.  I.  463 

Nachtrag. 

Ich  habe  den  Aufsatz,  dessen  Druck  sich  in  Folge  der  Zeit- 
umstände verzögert  hatte,  so  vorgelegt,  wie  er  im  März  dieses 
Jahres  gesehrieben  war,  und  selbst  bei  der  Korrektur  mich  auf 
die  Änderungen  beschränkt,  die  ich  mir  notiert  hatte,  bevor  Karl 
HoUs  Entgegnung  auf  mein  Buch  (Neue  Jahrbücher  1916  S.  253  ff.) 
in  meine  Hände  kam^).  Was  ich  zu  erwidern  habe  und  in  einer 
Sitzung  unserer  Gesellschaft  vom  20.  Mai  kurz  dargelegt  habe, 
sei  hier  nachgetragen.  Auf  Mißverständnisse,  die  durch  die  obigen 
Ausführungen  genügend  aufgeklärt  sind,  oder  unnötige  Schroff- 
heiten gehe  ich  nicht  ein.  Theologie  und  Philologie  können  sich 
hier  Hilfsdienste  tun  und  brauchen  nicht  zu  streiten. 

In  der  Besprechung  der  Paulus-Stelle  (oben  S.  9)  geht  HoU 
(S.  254)  von  der  Behauptung  aus,  <})so5ö{tapTO!;  sei  zusammenzustellen 
mit  t}>soS6/piaT0<;,  «{»sodazöoToXo?,  tlisoSoffpocpf/TTj?,  «{isoSaSsXco?  und  ähn- 
lichen Bildungen.  So  gewiß  tJ^soSd/ptato«;  nicht  ein  Christus  sei, 
der  lügt,  sondern  einer,  der  sich  den  Titel  des  Christus  lügen- 
hafterweise anmaßt,  «[»eoSoxpo^TfjTTjc  nicht  einer  der  Lügen  vorher- 
sagt, sondern  einer,  der  den  Namen  eines  Propheten  sich  er- 
schwindelt, so  gewiß  heiße  «}*so5o{i,aprJc  einer,  der  den  von  ihm 
beanspruchten  Namen  eines  (tdprj?  zu  Unrecht  führt.  Das  Kom- 
positionsglied ^so5o-  weise   immer  einen  Anspruch  auf  einen  ge- 


1)  Ich  lege  Wert  darauf,  festzustellen,  was  in  dem  Buch  über  Holls  ersten 
Aufsatz  gesagt  war  und  diese  „Entgegnung"  veranlaßt  hat.  Ich  mußte  die  An- 
schauungen von  dem  vollkommenen  Asketen  mit  denen  von  Märtyrer  und  Be- 
kenner  vergleichen  und  bemerkte  S.  79,  daß  ich  für  letztere  nach  der  schönen 
Abhandlung  Holls  auf  breitere  Darlegung  verzichten  könne  und  stärker  nur 
hervorheben  woUe,  worin  ich  glaube  von  ihm  abweichen  zu  sollen.  S.  85  war 
dann  gesagt,  seine  Erklärung  des  Titels  sei  mir  zu  künstlich  und  gehe  nicht  von 
den  ältesten  Belegstellen  aus,  sondern  von  Kattenbuschs  an  sich  sehr  dankens- 
werten, aber  lexikalisch  anfechtbaren  Beobachtungen,  endlich  S.  257  in  einem 
Nachtrag  verzeichnet,  daß  sich  inzwischen  auch  Corssen  (Neue  Jahrb.  1915  S.  481  ff.) 
gegen  diese  Erklärung  Holls  gewendet  habe.  Erwähnt  war  ferner  S.  80,  daß 
Holl  eine  TertuUian-Stelle  nicht  ganz  mit  Recht  für  die  Gleichsetzung  der  Pro- 
pheten und  Märtyrer  anführe,  und  S.  85,  daß  ich  für  die  Anschauung  vom  B  e  - 
kenn  er  von  Markus  13,  9  und  seinen  Fortbildungen  ausgehen  müsse,  I.  Kor.  15,  15 
aber  nicht  aus  dem  dort  bezeugten  Gebrauch  herleiten  könne;  'iEuoojxa'oTjpe;  toü 
öeoü  bedeute  nach  dem  Zusammenhange  hier  nur  „falsche  Aussagen  über  Gott 
machend"  (nicht  aber,  aber  ein  Zeugnis  in  technischem  Sinne  ablegend).  Schon 
damals  plante  ich,  wie  ich  in  der  Einleitung  andeutete,  in  ein  paar  Aufsätzen 
zur  Martyrienliteratur  auszuführen,  was  in  dem  Aufsatz  Die  Nachrichten  über 
den  Tod  Cyprians  (Sitzungsber.  d.  Heidelberger  Akademie  1913,  Abb.  14)  nur 
angedeutet  war;  den  Ausgangspunkt  sollte  der  Titel  „Märtyrer"  geben. 


464  R-  Reitzenstein, 

läufigen  und  vollwichtigen  Titel  zurück.  Ich  könnte  das, 
vsäe  der  Leser  aus  den  früheren  Ausführungen  ersieht,  an  sich 
ruhig  annehmen,  wenn  es  nur  richtig  wäre.  Aber  ich  nehme 
einen  technischen  Gebrauch  eines  Wortes  in  der  Urgemeinde  erst 
an,  wenn  das  Wort  im  allgemeinen  Griechisch  anders  gebraucht 
ist,  und  frage  daher  auch  bei  tjjsoSdjjLaptoc  zunächst:  was  heißt  es 
im  Profangebrauch  ?  Jedes  Lexikon  zeigt  mir,  daß  in  der  Rechts- 
sprache  (ffsoSotiapTupetv  und  (jjsoSojtaptopia  allgemein  üblich  sind,  und 
zwar  in  dem  Sinn  von  -ca  ({)eo8^  jiaptopetv,  wie  (jisoSoXoYsiv  bedeutet 
xä  t^Budi]  Xs^stv^).  Ich  greife  ein  paar  Steilen  aus  Anaximenes 
Rhetorik  c.  15  heraus:  otav  [jlsv  oov  tö  {jLapTopo6{j.svov  f^  ;rt^av6v 
xal  6  {idpto?  aXifj^ivöc  —  oiav  8k  hrzoTzzsbT^za.i  6  ;j-dpi:o<;,  ocTCoSet- 
xvöetv  Ssi  (i)i;  oots  yä.pizo<;  svexsv  .  .  6  Totoötc;  av  xa  «jiSoS"^  jiapTo- 
pi^aets,  Sei  8k  %al  StSäoxsiv  oxi  od  oojX(pspei  tö  (j^söSo?  |xaptopsöv 
—  xal  TÖv  Twv  4'£'i5o{iapTDpt(öv  vöjiov  ItcI  TOOTOt?  Ts^Eixsvai  (pifiao{isv  TÖV 
vojiodetTjv  —  (jisoSojiaptopTJoa?  (fisuSojiapToptoo  8ixir]v  oo)^  o^s^si.  Aristo- 
teles sagt  nach  den  Handschriften  bekanntlich  Pol.  II  9, 8  p.  1274^  & 
al  Sixai  twv  (})soöo[j,apTÖp(ov,  und  ich  zweifle  sehr,  ob  Skaligers  Kon- 
jektur tjiEoSo{jLapTopi{i)V  notwendig  ist,  wenn  ich  den  reizenden,  ganz 
der  Gerichtssprache  entnommenen  Abschnitt  bei  Plato  Gorg.  471  e 
— 472c  vergleiche  4'£o8o[xdpTopa<;  xoXXoo?  xat'  l[xoö  7rapao/ö[X£voc 
iTrtxsipEi?  IxßdXXetv  {le  Ix  t^?  oooia?  xal  toö  aXifj^oö?.  Holls  allge- 
meine Berufung  auf  die  Gesetze  der  griechischen  Sprache  war 
verfehlt;  die  neutestamentliche  Sprache  ist,  wie  zu  erwarten  war, 
hierin  nicht  anders,  vgl.  Matth.  26,  60  ICifJtoov  (JjEoSofiaptopiav  xatd. 
TOD  'Iyjooö,  ottox;  ttDTÖv  ^avaTcbooDotv,  xal  oö/  sopov  tcoXXwv  ItpOOEX^ÖV- 
Tcöv  ({»sDSojJiapTDpwv^).  Daß  nun  Paulus  an  jenen  Gebrauch 
knüpft  (oben  S.  422),  nach  dem  die  feierliche  Aussage  mit  dem  ge- 
richtlichen Zeugnis  verglichen  wird,  welches  unter  Anrufung  Gottes 
abgelegt  wird  und  dessen  willkürliche  Fälschung  ein  Frevel  gegen 
Gott  wäre,  habe  ich  nie  bestritten^),  bestreite  aber  noch  jetzt 
nachdrücklich,   daß  die  Stelle  uns  irgend  berechtigt,  innerhalb  der 

1)  Das  Substantiv  «j'euSdfAopTu?  scheint  hiervon  beeinflußte  jüngere  Bildung, 
die  der  Bedeutung  nach  zu  <};eu8o[i.apTupetv  so  steht  wie  ^'s^J^oXdyo;  zu  diEuSoXoyEiv 
und  in  umgekehrter  Entwicklung  t];eu8d[jLu8o;  zu  iL£u8o{iu&Eiv.  Auch  bei  •|i£u8f>|j.avrt;, 
<lz\ilor.nofffixrii  u.  dgl.  läßt  sich  Holls  Scheidung  kaum  durchführen. 

2)  Nach  Mark.  14, 56  rroXXoi  YÖtp  i4'*'^^°f^«P'^'^P°'^^  '^'^'^'  ^^"^^^  •  ■  •  ^<^^  '^'''S* 
ävaatavtec  ^jieu6o[iapT6pouv  xax'  oütoü.  Ein  Versuch  zwischen  den  Bedeutungen  des 
Substantivs  und  des  Verbums  zu  scheiden,  wird  hier  auch  Holl  gezwungen  und 
spitzfindig  erscheinen, 

3)  Über  xotA  toü  »toü  vgl.  oben  S.  426.  Ob  jener  semitische  Begriff  des 
„Zeugen"  oder  Gesandten  Gottes  mitwirkt,  entscheide  ich  nicht.  Notwendig  scheint 
es  mir  nicht. 


Bemerkungen  zur  Martyrienliteratur.  I.  466 

Urgemeinde  einen  festen  Titel  [tapro?  für  denjenigen,  der  den 
Auferstandenen  gesehen  hat,  anzunehmen.  Ich  weiß  nicht  einmal, 
ob  Paulus  hier  nur  von  sich  spricht,  noch  weniger  ob  er  sich  auf 
die  eigene  Vision  beruft.  Für  eine  allgemeinere  Verbreitung  der 
Anschauung,  daß  der  Visionär  schlechthin  „Zeuge  Gottes"  wird, 
fehlt  mir  jeder  Anhalt. 

Holl  behauptet  dann  weiter  in  der  Apostelgeschichte  hießen 
nebeneinander  die  Apostel  {laptups?  als  Zeugen  für  den  aufer- 
standenen und  lebendigen  Christus  und  hieße  zugleich  ^dprx  der 
Blutzeuge.  Das  letztere  bestreite  ich  unbedingt,  und  zwar  mit 
vielen  Theologen  aller  Richtungen;  die  Behauptung  gründet  sich 
auf  eine  einzige,  ganz  willkürlich  gedeutete  Stelle  (oben  S.  434)  und 
wäre  ohne  Holls  Überzeugung,  |jiapTo<;  habe  überall  im  Neuen 
Testament  eine  von  allen  Profangräzität  losgelöste  einheitliche 
Bedeutung,  gar  nicht  denkbar.  Das  erstere  ist  nur  halbrichtig; 
Holl  hat  wieder  versäumt  zu  fragen,  in  welchem  Sinne  die  Apostel 
an  den  einzelnen  Stellen  so  bezeichnet  werden,  und  ob  ein  Titel 
überhaupt  vorliegen  kann.  Wenn  z.B.  Petrus  2,32  sagt:  toötov 
TÖv  'It]ooöv  aveatTjasv  6  ^söi;,  oo  Tcavts?  T^ftefs  £a{t£V  {tdcptups?,  so  kann 
er  gar  nicht  meinen:  „danach  tragen  wir  alle  den  Titel  itaptups? 
Toü  ^eoö" ;  das  Relativum  oo  bezieht  sich  auf  das  Verbum  avaar-^oai 
und  der  Gebrauch  ist  ganz  allgemein  griechisch:  wir  haben  das 
alle  selber  gesehen  und  können  es  bezeugen.  Wenn  der  Aufer- 
standene selbst  1,8  die  Apostel  entsendet  mit  dem  Auftrag: 
losodt  jjLOD  iidpTOps«;  .  .  .  icD?  soydtoo  f^<;  "{ffi,  so  meint  er  wieder 
keinen  Titel,  wohl  aber  ist  diesmal  der  Sprachgebrauch  durch  das 
Semitische  mitbedingt;  man  vergleiche  die  oben  S.  434,  3  erörterte 
Stelle  jJLapTOpt^aav  sl?  Twjjltjv.  Nie  finde  ich  in  der  Apostelgeschichte 
{idpTopE?  als  Standesbezeichnung. 

Holl  bezeichnet  endlich  wieder,  und  zwar  auf  Grund  der  einen 
Stelle  der  Apokalypse  11,  3,  für  die  er  jüdischen  Ursprang  ver- 
mutet^), {idprj;  Toö  dsoö  als  die  spätjüdische  Bezeichnung  für  den 
Propheten,  ohne  auch  nur  zu  fragen,  ob  alle  Eigenschaften  und 
Tätigkeiten  des  zpo^pijtT;?  damit  bezeichnet  werden;  er  arbeitet 
immer  mit  festen  Begriffen,  die  ohne  weiteres  in  ihrer  Gesamtheit 
gleichgesetzt  werden,  wenn  sie  sich  an  einem  Punkte  zu  berühren 
scheinen.  Er  schließt  dann  aas  der  Paulus-Stelle,  die  Urgemeinde 
habe  diesen  jüdischen  Titel  auf  alle   diejenigen  übertragen, 


1)  Selbst  wenn  diese  Vermutung  richtig  wäre,  könnte  man  einen  allgemein- 
jüdischen Gebrauch  damit  allein  nicht  beweisen.  Aber  ich  bin  seit  Bolls  schönen 
Darlegungen  gegen  die  früheren  Zerlegungen  der  Apokaljrpse  mißtrauisch. 


466  R.  Reitzenstein, 

welche  den  Auferstandenen  geschaut  hätten^),  und  deutet  an,  daß 
er  aus  diesem  „unscheinbaren  sprachlichen  Vorgang"  einen  wichtigen 
Einblick  in  die  Ursprünge  des  christlichen  Enthusiasmus  gewinne  -). 
Ich  fürchte,  daß  der  sprachliche  Vorgang  überhaupt  nicht  erwiesen 
ist,  und  würde  es  bedauern,  wenn  aus  der  willkürlichen  Deutung 
zweier  herausgerissener  Stellen  dogmatische  Folgerungen  gezogen 
würden. 

Als  Titel  und  technische  Bezeichnung  kenne  ich  ttapto?  und 
Itaptopslv  in  der  älteren  Zeit  nur  für  den  Gesandten  Gottes,  der 
einer  Obrigkeit  oder  Volksmenge  die  Botschaft  der  neuen  Religion 
verkündet,  und  in  späterer  Zeit  für  den  Helden,  dessen  mutiges 
Auftreten  vor  Gericht  oder  einer  Volksmenge  und  dessen  Ertragen 
der  Leiden,  ja  später  sogar  des  Todes,  für  die  Wahrheit  seiner 
Religion  bürgt.  Für  ersteres  scheint  mir  ein  semitischer,  für 
letzteres  ein  in  bestimmten  Kreisen  ausgebildeter  griechischer 
Sprachgebrauch  bestimmend,  die  Entwicklung  von  dem  einen  zum 
andern  begreiflich.  Nicht  den  Ursprung,  wohl  aber  den  Gebrauch 
erläutert  richtig  Origenes  In  lohannem  II  206  ff,  vgl.  210  p.  93,  9 
Preuschen^)  irä?  8k  6  {i-aptopöv  t^  dcXTjdsic^  eite  "Kö^ok;  site  ip^oi?  svcs 


1)  Woher  ich  das  entnehmen  soll,  sehe  ich  ebensowenig  wie,  warum  es 
geschah.  Nach  Paulus  waren  es  nach  Überzeugung  der  Gemeinde  mehr  als  fünf- 
hundert; sind  sie  alle  wirklich  oder  vermeintlich  zu  Propheten  geworden? 

2)  Er  sagt  erklärend:  „Aus  der  Tatsache,  daß  es  Leute  gab,  die  einer 
Offenbarung  Gottes  gewürdigt  worden  waren,  ersteht  der  Glaube,  daß  es  Propheten 
in  der  christlichen  Gemeinde  gibt  und  der  Geist  in  ihr  wirksam  ist".  Sollten  wir 
diesen  von  niemand  bestrittenen  Glauben  wirklich  nur  aus  dem  angeblichen  sprach- 
lichen Vorgang  schließen  müssen?  Nicht  einmal  für  das  Judentum  hat  irgend 
jemand  den  Glauben  an  Visionen,  Träume  und  Prophetie  bestritten.  Nur  daß  die 
paulinische  und  gnostische  Vorstellung  von  dem  TrvsufxaTixd;,  der  seinem  Wesen 
nach  nicht  mehr  Mensch  ist,  sich  aus  dem  Judentum  erklären  läßt,  habe  ich  be- 
stritten und  bedaure  die  Verwendung  der  für  uns  vieldeutigen  Ausdrücke  Enthu- 
siasmus und  enthusiastisch  deswegen,  weil  sie  leicht  von  der  Analyse  der  grie- 
chischen Wörter  und  Begriffe  ablenken  und  zu  dem  Trugschluß  verführen,  weil 
dieser  oder  jener  Einzelzug  des  „Enthusiasmus"  wie  in  den  meisten  Religionen  so 
auch  im  Judentum  nachweisbar  sei,  sei  die  Erscheinung  des  Enthusiasmus  jüdisch, 
und  wenn  sich  an  irgend  einer  Stelle  und  in  irgend  einem  Sinn  „enthusiastisch" 
für  TTveufAaTtxrf;  einsetzen  lasse,  sei  dies  Wort  lexikalisch  als  jüdisch  erwiesen. 
Ich  möchte  meinerseits  dieser  irreführenden  Art  der  Wortforschung,  die  ich 
voraussehe,  keinen  Anhalt  bieten. 

3)  Voraus  geht  die  Darlegung,  daß  die  Propheten  in  einem  anderen  Sinne 
als  p-aprupe;  Xpioxoü  bezeichnet  werden  als  ol  iUioi  övo[jiaC^(xevot  p-apiupec  Xptotoü, 
daß  ferner  viele  (nicht  alle)  Jünger  ({AaOr^taO  diesen  Ehrentitel  als  besondere 
Gabe  Gottes  erworben  haben.  Die  Verschiedenheit  des  Gebrauches  soll  der  Ein- 
gang des  angeführten  Stückes  erläutern.  Ich  verdanke  den  Hinweis  auf  die  Stelle 
der  Güte  W.  Boussets. 


Bemerkungen  zur  Martyrienliteratur.  I.  467 

oTrcDOzoTs  taufd  ;rap'.OTd[i=vo?  [Aap  tu?  suXoycö?  av  /pr^^iaxiCoi.  äXX  •^örj 
xupi(0(;,  <a>?>  t6  it^c  aSsX^fÖTTjio?  Ido?,  sxrAaYsvTs?  Stadsaiv  twv  scöc 
ö-avdtoo  äYwviaajievcöV  oTcsp  aXr^O-Etai;  ■»)  avSpstac,  xopia)?  (tövoo?  {i  i  p  - 
T  0  p  a  ?  wvd[iaaav  too?  v^  Ix/oosi  toü  laoTwv  a-jiaTO?  {lapToprjaavta? 
T(})  T-^?  ^acasßsia?  [loorr^pitj),  zob  ocüf^po?  Trdvta  töv  {taptopoüvta  toi? 
«spl  ttDTOö  xataYYeXXofj.svoK;  [i,  d  p  t  o  p  a  övoftdCovTO?.  'f/jol  yoöv  avaXaft- 
ßavöjtsvo?  TOI?  aTTOOToXot«;  *  soso^s  [jloo  jtdpTops?  sv  ts  'Ispoo- 
aaXY]jj-  %al  Ivjcdafj  T-^'looSata  xal  Sa{jLapsio^  %ai  ico? 
loydcTOo  T-^cY^s  (Apg.  1,8).  sti  oe  wosep  6  v.adapO-si«;  Xs^pö?  tö 
iipoaT£TaY{i-£vov  6<:ö  Mwosco?  jrpoaaYäi  owpov  sl?  {laptöpiov  toöto 
TTotüiv  TOI?  {i-Tj  TC'.aTSOGaaiv  el?  töv  XpioTÖv  (Matth.  8,4),  ootwi;  sti; 
jtapTüptov  TOtc  aTrioTO'.  c  (Mark.  13, 9)  ol  [JLdpTupe«;  jxapTopoöa". 
xal  jrdvTE«;  ot  aYtoi ,  wv  Xd|jLKei  Td  Ip^a  laicpoo^sv  twv  dv^pcozcüv 
(Matth.  5,  16).  roXiTsöovTa'.  ^dp  KappTjOtaCo{i,£vo'.  Iv  t({)  aTaop(|)  toö  Xp'.OTO'J 
xal  [lapTDpoüVTs?  %spl  tob  dXTf]0".voö  ^(otöc.  Der  Schluß  zeigt,  daß 
Origenes  auch  die  gnostische  (und  später  asketische)  Deutung  nicht 
ablehnen  will. 

Weil  ich  von  einer  methodisch  betriebenen  Wortforschung 
reichen  Aufschluß  über  die  Urgeschichte  des  Christentums  erhoffe, 
sei  dieser  Versuch,  der  in  Wahrheit  also  kaum  Neues  bietet, 
meinem  Gegner  aber  freilich  wieder  ganz  unphilologisch  erscheinen 
wird,  der  Beurteilung  der  Fachgenossen  unterbreitet. 


Kgl.  Ges.  d.  Wiss.  Nachrichten.  Phil.-hist.  Klasse.   1916.    Heft  3.  32 


Die  Geschichte  eines  Wiedererkennungsmärchens. 

Von 
W.  Boasset. 

Vorgelegt  in  der  Sitzung  vom  15.  Januar  1916. 

Die  vorliegende  Arbeit  ist  ursprünglich  aus  meinen  Studien 
jcu  dem  pseudoclementinischen  Schriftenkreis  entstanden.  Ich  hatte 
vor  längerer  Zeit  den  Nachweis  geführt,  daß  in  den  pseudoclemen- 
tinischen Recognitionen  und  Homilien  eine  hellenistische  Ana- 
gnorii«men-Novelle  verwoben  sei  (Ztschr.  f.  neut.  Wissensch.  V  1904 
S.  18  ff.)  und  hatte  zugleich  auf  Plautus'  Menaechmen  und  Shake- 
speare's  Komödie  der  Irrungen  als  Parallelen  zu  dieser  hinge- 
wiesen. Je  mehr  ich  mich  von  dem  Recht  meiner  Behauptung 
überzeugte,  daß  die  Anagnorismen-Novelle  der  Pseudoclementinen 
in  diese  von  auswärts  eingedrungen  sei,  desto  mehr  wurden  mir 
die  aufgewiesenen  Beziehungen  unsicher.  Die  Erzählung  in  Plautus' 
Menaechmen  ist  derart  different,  daß  höchstens  Beziehungen  aller- 
fernster  Verwandtschaft  angenommen  werden  dürfen,  die  Berüh- 
rungen vielleicht  nur  zufällig  vorhanden  sind.  Sbakespeare's 
Komödie  der  Irrungen  liegt  zunächst  zeitlich  zu  fem ;  auch  könnte 
ihr  Stoff  vielleicht  doch  letztlich  aus  der  Anagnorismen-Novelle 
der  Pseudoclementinen  und  gewissen  Motiven  der  antiken  Komödie 
(Verwechselung  des  resp.  der  Briiderpaare,  vgl.  Plautus'  Menaechmen) 
stammen,  obwohl  mir  das  nicht  gerade  wahrscheinlich  ist.  —  So 
suchte  ich  weiter  nach  wirklichen  und  gesicherten  Parallelen.  Die 
Untersuchung  über  die  Anagnorismen-Novelle  der  Pseudoclemen- 
tinen wurde  dann  von  Werner  Heintze  (der  Clemensroman  S.  114ff.; 
23  ff.  1914),  wieder  aufgenommen  und  wesentlich  vertieft.  Noch 
reinlicher  und  sicherer  schälte  sich  deren  ursprünglicher  Kern 
heraus.     Was   aber    die   Frage    etwaiger   Parallelen    anbetraf,    so 

Kgl.  Ges.  d.  Wiss.    Nachrichten.    Phll.-hist.  KUsse.    1916.    Heft  *.  33 


470  W.  Bousset, 

wußte  auch  Heintze  (§  14.  Die  Beziehung  zu  den  griechischen 
Romanen)  nicht  mehr  beizubringen  als  den  Nachweis  der  Ver- 
breitung einzelner,  auch  sonst  sehr  beliebter,  Motive  im  griechischen 
Roman.  Die  Erzählung  von  Apollonius  von  Tyrus,  Xenophons 
ephesinische  Geschichte  der  Antheia  und  des  Habrokomes,  Helio- 
dors  äthiopische  Greschichten  geben  einige  Parallelen  ab  und  sind 
ja  auch  ihrerseits  Anagnorismen  -  Novellen  im  weitesten  Sinne. 
Aber  in  ihnen  allen  spielt  das  getrennte  und  wiedervereinigte 
Liebespaar  (resp.  Ehepaar)  die  Hauptrolle  und  so  sind  sie  in  dem 
Grundzug  von  dem  Familienroman  der  Clementinen  (Trennung  der 
Eltern  und  zweier  Knaben)  different,  wenn  auch  Berührungen  in 
geringfügigen  Einzelheiten  vorliegen.  So  stellte  ich  mir  die  Frage, 
wo  Anagnorismen-Novellen  zu  finden  seien,  deren  Haupthelden 
Vater,  Mutter  und  zwei  Söhne  sind.  Denn  daß  im  Clemensroman 
der  dritte  Sohn,  der  römische  Clemens,  erst  gewaltsam  ein- 
geschoben sei,  stand  mir  seit  Anfang  meiner  Untersuchung  fest 
und  wurde  durch  die  Arbeit  Heintzes  von  neuem  bestätigt. 

Bald  fand  ich  Parallelen,  wie  ich  sie  suchte.  Besonders  er- 
giebig erwies  sich  mir  dabei  die  Lektüre  von  1001-Nacht.  Doch 
waren,  was  ich  fand,  zunächst  disjecta  membra,  die  sich  nicht  recht 
zusammen  schließen  wollten.  In  diesem  Zusammenhang  wurde  ich 
dann  endlich  auf  die  berühmte  und  schöne  Placidas-Eustathius- 
Legende  und  die  ganze  Flut  von  bereits  erörterten  literarischen 
Problemen  aufmerksam.  Hier  fand  ich  —  in  deren  mittlerem  Teil  — 
die  Anagnorismen-Novelle  in  der  gewünschten  Form :  die  Wieder- 
vereinigung einer  aus  Vater,  Mutter  und  zwei  Söhnen  getrennten 
Familie.  Ein  Vergleich  mit  den  Novellen  in  1001-Nacht  machte 
mir  klar,  daß  zum  ehernen  Bestand  der  gesuchten  Wiedererken- 
nungsfabel  der  Flußübergang  gehört,  bei  dem  der  Vater  seine 
beiden  Kinder  verliert;  ein  Motiv,  das  freilich  gerade  in  den 
Pseudoclementinen  verschwunden  ist.  So  rückte  nun  die  Placidas- 
Legende  in  den  Mittelpunkt  meiner  Untersuchung.  Noch  stärker 
erregt  wurde  mein  Interesse,  als  ich  durch  Richard  Garbe  (über 
Indien  u.  d.  Christentum  1914  S.  86 fF.)  auf  die  vermutlichen  Be- 
ziehungen der  Placidas-Legende  zur  indischen  Literatur  hingewiesen 
wurde.  Durch  Garbe  wurde  ich  auf  die  Aufsätze  von  J.  S.  Speyer 
(Theologisch  Tijdschrift  Bd.  40.  1906,  S.  427—463)  und  M.  Gaster 
(Journal  of  Royal  Asiat.  Soc.  1893,  869—871  u.  1894,  345—350)  ge- 
wiesen und  den  hier  versuchten  Nachweis,  daß  sowohl  die  Erzählung 
von  der  Bekehrung  durch  den  Hirsch  wie  die  Wiedererkennungs- 
fabel  auf  indische  Erzählungen  zurückgehe.  Nicht  lange  nachher 
lernte  ich  Wilhelm  Meyers  Abhandlung  „Der  Ry Lhmus  über  den 


die  Geschichte  eines  Wiedererkennungsmärchens.  471 

H.  Placidas-Eustasius"  kennen  (Nachrichten  1915.  2.  Heft)  und 
wnrde  wiederum  durch  diesen  Aufsatz  auf  Monteverdis  fleißige 
und  gelehrte  Studie,  la  Leggenda  di  S.  Eustachio,  Studii  medievali 
in  1908—1911,  169—226 ;  392—498)  aufmerksam.  Monteverdi,  der 
sich  in  der  ersten  Hälfte  seines  Aufsatzes  mit  der  folkloristischen 
Parallele  der  Placidaslegende  ausgiebig  beschäftigt,  gab  mir  Gre- 
legenbeit,  das  von  mir  gesammelte  Material  auf  seine  Vollständig- 
keit hin  zu  prüfen  und  zu  ergänzen.  In  der  Beurteilung  der 
Abhängigkeitsverhältnisse  der  Placidaslegende  gegenüber  den  folk- 
loristischen Parallelen  greift  aber  das  Urteil  Monteverdis,  der  die 
Placidaslegende  als  die  alleinige  Quelle  der  weitverzweigten  Über- 
lieferang  annehmen  möchte,  so  vollständig  daneben  (s.  u.),  daß  die 
Notwendigkeit  einer  erneuten  Untersuchung  des  ganzen  Tatbestandes 
sich  mir  aufdrängte,  zumal  da  ich  aus  den  Untersuchungen  der 
gesamten  namhaften  Forscher,  die  sich  mit  den  in  den  Umkreis 
unserer  Untersuchungen  hineingehörenden  mittelalterlichen  Dich- 
tungen (s.  u.  Abschnitt  V)  beschäftigen,  ersah,  daß  diese  irrtüm- 
liche Annahme  der  Priorität  der  Placidaslegende  sich  seit  langer 
Zeit  fast  zu  einem  Dogma  verhärtet  hatte. 

Die  vorliegende  Arbeit  war  beinahe  abgeschlossen,  als  ich 
durch  einen  Hinweis  W.  Foersters  (Wilhelm  v.  England,  romanische 
Bibliothek  No.  20.  Halle  1911  p.  VIII)  auf  die  Dissertation  von 
Th.  Ogden  aufmerksam  wurden  „a  comparative  study  of  the  poem 
G-uillaume  d'Angleterre".  Baltimore  1900.  Diese  Arbeit  hat  im 
Grunde  meine  Untersuchung  vorweggenommen.  Ogden  verfügt 
etwa  über  dasselbe  Material  wie  ich;  er  bringt  einige  neue  In- 
stanzen (s.  u.  namentlich  zu  Abschnitt  IV) ;  nur  weniges  hat  er 
noch  übersehen.  Vor  allem  aber  stimmt  das  Gresamturteil  Ogdens, 
wie  namentlich  aus  dem  S.  22  gegebenen  Stammbaum  ersichtlich 
ist,  in  der  überraschendsten  Weise  mit  meinen  Ergebnissen  überein. 
Ogdens  Arbeit  ist  aber,  soweit  ich  weiß  und  wie  ich  mir  von  meinen 
Kollegen  des  betr.  Faches  habe  bestätigen  lassen,  eigentlich  ein  In- 
editum  geblieben.  Er  gibt  in  seiner  Dissertation  nur  die  Resultate 
ohne  alle  näheren  Nachweise.  So  halte  ich  mich  doch  für  berechtigt, 
auch  meine  von  einem  andern  Ausgangspunkt  aus  und  auf  anderm 
Wege  selbständig  gewonnenen  Resultate  vorzulegen.  Die  beider- 
seitigen Untersuchungen  bestätigen  sich  jedenfalls  in  erfreulicher 
Weise,  und  wie  weit  sie  von  der  bisherigen  allgemeinen  Beurteilung 
der  Sachlage  namentlich  hinsichtlich  der  Placidas-Legende  abweichen, 
vermag  ein  Blick  in  Ogdens  eben  erwähnte  Stammtafel  zu  zeigen. 
Die  Placidas-Legende  erscheint  hier  innerhalb  des  weitverzweigten 

33* 


472  W.  Bousset, 

Stammbaumes  an  einer  ganz  bescheidenen  Stelle,  während  ihr  früher 
die  beherrschende  Position  zugewiesen  wurde. 

Aus  einer  Untersuchung  zur  Anagnorismen-Novelle  des  Cle- 
mensromanes  ist  mein  Aufsatz  eigentlich  zu  einer  Untersuchung 
der  Placidas-Legende  geworden.  Und  ich  wage  nicht  mit  voller 
Sicherheit  zu  behaupten,  das  Problem,  von  dem  ich  ausging,  völlig 
gelöst  zu  haben.  Immerhin  glaube  ich,  es  sehr  wahrscheinlich  ge- 
macht zu  haben,  daß  auch  die  Wiedererkennungsnovelle  der  Pseudo- 
clementinen  in  den  hier  skizzierten  großen  Zusammenhang  hinein- 
gehört (Abschnitt  VII).  Daß  derartige  folkloristische  Unter- 
suchungen selbst  für  minutiöse  Fragen  der  Textüberlieferung  der 
einzelnen  Quelle  einigen  Gewinn  abwerfen,  möchte  ich  mit  dem 
Abschnitt  VIII,  einem  Beitrag  über  das  Verhältnis  der  griechischen 
und  der  lateinischen  Überlieferung  des  Textes  der  Placidas-Le- 
gende, zeigen. 

I. 

Die  Untersuchung  mag  mit  einer  Skizzierung  des  Hauptganges 
der  Placidas-Eustathius-  (Eustachius-,  Eustasius-)Legende  beginnen. 
Es  hat  das  freilich  seine  Schwierigkeit,  weil  auch  die  Überlieferung 
unserer  Legende  eine  weit  verzweigte  und  schwierig  zu  beurteilende 
ist.  Es  handelt  sich  dabei  wesentlich  um  eine  Grrundfrage.  Wäh- 
rend man  bisher  allgemein  überzeugt  war,  daß  die  ursprüngliche 
Überlieferung  der  Legende  in  dem  griechischen  Text  vorliege,  den 
zuerst  Combefis  1660  (Migne  Patr.  Grr.  94, 375)  und  dann  die 
BoUandisten  (A.  S.  September  Bd.  6.  2.  Aufl.  pag.  123  if.)  veröffent- 
lichten, und  dem  ein  (längerer)  lateinischer  Text  fast  vollständig 
parallel  läuft,  ist  neuerdings  Wilhelm  Meyer  in  seiner  schönen 
Untersuchung  „Der  Rythmus  über  den  Heiligen  Placidas-Eustasius" 
(Nachrichten  d.  Ges.  d.  Wiss.  1915  S.  226—287)  zu  einem  ganz 
andern  Resultat  gelangt.  Er  glaubte  in  der  kürzeren  Rezension 
der  lateinischen  Vita,  die  uns  bisher  nur  in  einem  Codex  Casinensis 
(ßibliotheca  Casinensis  III  Florilegium  351—354)  vorlag  und  zu 
deren  Text-Rekonstruktion  er  weitere  5  Handschriften  heranziehen 
konnte,  die  Urgestalt  der  Legende  entdeckt  zu  haben.  Ich  stelle 
diese  Erage  vorläufig  bis  zum  Ende  der  Untersuchung  zurück,  da 
sie  m.  E.  nicht  ohne  Eingehen  auf  die  folkloristischen  Verwandt- 
schaftsverhältnisse unserer  Legende  endgültig  gelöst  werden  kann 
und  skizziere  deren  Gang  im  wesentlichen  nach  dem  griechischen  Text 
(G.),  notiere  dabei  aber  der  Vorsicht  halber  alle  irgendwie  in  Betracht 
kommenden  Abweichungen  des  Lateiners  kürzerer  Fassung  (L.). 

In  den  Tagen  des  Kaisers  Trajan  lebte  ein  oberster  römischer 
Heerführer   aus   vornehmem  Geschlecht  mit   Namen  Placidas.     Er 


die  (geschieh te  eines  Wiedererkennungsmärchens.  473 

war  Heide,  aber  mildtätig  gegen  die  Armen  ^).  Er  hatte  eine  Frau 
nnd  zwei  Söhne  und  war  ein  leidenschaftlicher  Jäger.  Einst  ritt 
er  auf  die  Jagd  und  bei  der  Verfolgung  einer  Hirschherde  sieht 
er  plötzlich  einen  Hirsch  von  wunderbarer  Schönheit  und  Größe 
vor  sich.  Von  seinem  G-efolge  sich  ablösend  verfolgt  er  ihn, 
und  wie  der  Hirsch  sich  ihm  stellt,  erschaut  er  auf  dessen 
Hörnern  ein  lichtstrahlendes  Kreuz  und  zwischen  den  Hörnern  die 
Gestalt  des  Erlösers^).  Er  hört  eine  Stimme  „Placidas  warum 
verfolgst  du  mich?"  und  bekommt  den  Befehl  sich  taufen  zu  lassen. 
Heimgekehrt,  berichtet  er  seiner  Frau  sein  Erlebnis,  und  diese 
erzählt  ihm,  daß  sie  gleichzeitig  einen  Traum  gehabt,  welcher  die 
Vision  ihres  Gatten  bestätigt  (das  bekannte  Motiv  des  Doppel- 
traumes oder  der  Doppelvision.  durch  das  die  Wahrheit  des  vi- 
sionären Erlebnisses  über  allen  Zweifel  sichergestellt  werden  soll  ; 
vergl.  in  der  Apostelgeschichte  die  Erzählung  von  der  Bekehrung 
des  Paulus  und  des  Hauptmanns  Cornelius).  Nach  der  Unterredung 
mit  seiner  Frau  vollzieht  er  den  Befehl,  geht  zum  Priester  der 
Christen  und  läßt  sich  mit  seiner  Familie  taufen;  bei  der  Taufe 
erhält  er  den  Namen  Eustathius  (Eustasius);  sein  "Weib,  deren  ur- 
sprünglicher Name  nach  G.  Tatiane  war,  wird  Theopiste,  seine 
Söhne  Agapius  (L.  Agapet)  und  Theopistas  genannt.  Placidas- 
Eustathius  geht  darauf  zum  zweitenmal  —  man  sieht  nach  L.  nicht 
recht  ein.  wie  er  dazu  kommt  und  weshalb  er  das  tut,  während 
er  nach  G.  c.  5  den  ausdrücklichen  Befehl  dazu  schon  bei  der 
ersten  Vision  bekommt  — ,  an  den  Ort,  wo  ihm  der  Erlöser  er- 
schienen ist,  und  bekommt  nun  von  ihm  Aufschluß  über  sein  künf- 
tiges Geschick:  schwere  Leiden  werden  über  ihn  kommen,  er  soll 
alles  was  er  hat  verlieren,  die  Geduld  Hiobs  wird  ihm  von  Nöten 
sein,  aber  der  Herr  wird  ihn  gnädig  heimsuchen  und  ihm  alles 
wiederschenken.  L.  fügt  hier  eine  Weissagung  seines  zukünftigen 
Martyriums  ein.  Nach  G.,  der  diesen  Zug  nicht  teilt,  wird  ihm 
noch  die  Frage  gestellt,  ob  er  die  Versuchung  jetzt  oder  später^) 
erdulden  wolle,  er  wählt  das  erstere.  So  beginnt  nun  sofort  seine 
Leidensgeschichte.  Seine  Sklaven  und  sein  Vieh  werden  durch 
Krankheit  und  Seuchen  weggerafft,  ein  Motiv,  das,  wie  es  scheint, 


1)  Die  Parallele  mit  der  Gestalt  des  Hauptmann  Cornelias  in  der  Apostel- 
geschichte ist  in  G.  stark  hervorgehoben,  aber  auch  in  L.  angedeutet  (§  1  nach 
W.  Meyers  Text  S.  272) :  ita  ut  acceptabUis  fieret  coram  domino  deo  in  operibus 
suis.  Ag.  10,35. 

2)  G. :  TTiv  el-KOva  xov  ^fo^pogov  ««iafuero;,  iqv  dia  ri^»  earriQi'av  iifimv  ava- 
Xttßttv  yuiXiSf^azo. 

3)  G. :  vvv  7j  iitl  lexärav  räv  ^ßSQäv. 


474  "W.  Bousset, 

der  Hiobsgeschichte  entlehnt  ist,  wie  denn  auch  der  Vergleich  des 
Placidas  mit  Hiob,  sowohl  in  Gr.  wie  in  L.  (Kap.  VII)  ausdrücklich 
gezogen  wird.  Nach  Gr.  (Kap.  VIII)  zieht  er  sich  schon  jetzt  nach 
diesem  Verlust  an  einen  einsamen  Ort  zurück,  während  L.  davon 
nichts  erwähnt.  Räuber  plündern  darauf  alle  seine  übrige  Habe, 
ihm  bleiben  nur  Frau  und  Kinder  und  nur  das,  was  sie  auf  dem 
Leibe  tragen  (L.  ^et  quod  erant  induti",  Gr.  nlriv  wv  TCSQußißb^vto, 
man  beachte  schon  hier  diesen  kleinen  Zug,  den  übrigens  von  den 
Zeugen  L.'s  der  Codex  Casinensis  fortläßt).  Hier  flicht  Gr.  noch 
den  beachtenswerten  Zug  ein,  daß  damals  gerade  ein  großes  Sieges- 
fest über  die  Perser  (!)  gefeiert  wurde  und  daß  Placidas  als  Heer- 
führer hätte  dabei  sein  müssen,  aber  nirgends  zu  finden  war.  Weil 
sie  die  Schande  ihrer  Armut  unter  Bekannten  nicht  ertragen  zu 
können  meinen,  beschließen  Placidas  und  seine  Gattin,  nunmehr 
nach  Ägypten  zu  fliehen.  Sie  besteigen  ein  Schiff,  der  Schiffsherr 
wird  von  Gr.  als  Barbar  und  unbarmherzig,  nachher  auch  als  ein 
Mann  aus  fremdem  Stamme  (äXlöipvXos)  eingeführt,  während  L. 
etwas  allgemeiner  von  der  Bemannung  aussagt:  ubi  erant  barbari 
et  inrationabiles  homines.  Gr.  berichtet  auch  ausdrücklich,  daß  die 
Frau  sehr  schön  gewesen  und  der  Schiffsberr  in  Liebe  zu  ihr 
entbrannt  sei.  Beide  fahren  fort:  der  Schiffsherr  habe,  als  sie 
das  Schiff  verlassen  wollten,  das  Fahrgeld  gefordert,  und  als  dieses 
nicht  bezahlt  werden  konnte,  die  Frau  zurückbehalten.  Wehklagend 
wandert  der  Vater  mit  seinen  beiden  Söhnen  weiter.  ■  Er  kommt 
an  einen  breiten  Fluß,  nimmt  zunächst  den  einen  der  Knaben  auf 
seine  Schultern  und  trägt  ihn  hinüber.  Wie  er  den  zweiten  Sohn 
holen  will,  sieht  er  gerade,  wie  ein  Löwe  ihn  raubt  und  davon- 
trägt, er  wendet  sich  um  und  wird  gewahr,  daß  ein  Wolf  auch 
den  Knaben  ergreift,  den  er  über  den  Fluß  getragen  hat.  Die 
Knaben  werden  beide  durch  Hirten  und  Ackerbauer,  die  sich  in 
der  Nähe  aufhalten,  befreit  und  von  diesen  aufgezogen.  G.  cap.  11 
und  15  gibt  deutlich  an,  daß  es  dasselbe  Dorf  war,  in  dem  sie 
aufwuchsen ;  ganz  genau  erzählt  er  deshalb  auch  vorher,  daß  auch 
der  Löwe  mit  dem  geraubten  Kind  den  Fluß  weiter  oberhalb 
durchquert  habe,  so  daß  nun  beide  Knaben  auf  demselben  Ufer 
befreit  werden.  Placidas,  der  nur  mit  Mühe  der  Versuchung 
widerstanden  hat,  sich  das  Leben  zu  nehmen,  lebt  nunmehr  in 
einem  ägyptischen  Ort  (nach  G.  Badisson)  15  Jahre  lang  und  nährt 
sich  von  seiner  Hände  Arbeit.  Die  Frau  des  Placidas  wird  ihrer- 
seits von  dem  Schiffsherrn  aus  fremdem  Stamme  verschleppt  und 
in  dessen  Vaterland  entführt.  Doch  wird  sie  von  Gott  beschützt, 
so  daß  jener  sich  ihr   niemals  nahen  kann  (hier  führt  L.  die  Kr- 


die  Gtesdüchte  eines  "Wiedererkennungsmärchens.  476 

Zählung  gleich  um  einen  Schritt  weiter,  jedoch  nur  kurz  andeutend, 
ich  gebe  den  Zusammenhang  weiter  unten  nach  G.).  Mittlerweile 
plündern  fremde  Völker  (barbari)  die  Grenzen  des  römischen 
Keiches ;  schon  hier  berichtet  G.  genauer :  es  geschah  ein  Aufstand 
bei  jenen  Fremdstämmigen.  bei  denen  die  Frau  des  Eostathius 
weilte.  Da  entsinnt  sich  der  Kaiser  seines  Feldherrn  Placidas, 
er  schickt  zwei  Soldaten  aus  ^),  ihn  zu  suchen,  die  ihn  auch  finden 
und  an  einem  Zeichen  *)  auf  seiner  Schulter  erkennen.  Im  Triumph 
wird  er  vor  den  Kaiser  geführt  und  zum  Feldherrn  im  Kriege 
gegen  die  Barbaren  eingesetzt.  G.  berichtet  ausdrücklich,  daß  er 
zu  diesem  Zweck  eine  Rekrutenausschreibung  (tironatus)  gefordert 
habe.  Unter  den  so  in  sein  Heer  Eintretenden  befinden  sich  auch 
seine  beiden  Söhne.  L.  charakterisiert  diese:  et  erant  consimiles 
rofi  capillis  et  facie  supra  ceteros  pulchriores  (vergl.  auch  L.  c.  23 
die  Erzählung  des  einen  Bruders  in  der  Wiedererkennungsszene ') ; 
G.  erwähnt  nur,  daß  sie  schöner  als  alle  gewesen  sei).  Sie  ge- 
fallen dem  Vater,  der  sie  nicht  erkennt,  und  er  macht  sie  nach  L. 
zu  Centurionen.  während  G,  charakteristischer  erzählt:  er  befahl, 
daß  sie  an  seinem  Tisch  Teil  haben  sollten  und  machte  sie  zu 
Hausgenossen.  Nach  seinem  siegreichen  Feldzug  überschreitet 
Placidas  nach  G.  den  Fluß  Hydaspes  (L:  pertransivit  Danubiura) 
und  kommt  so,  wie  wenigstens  G.  ausdrücklich  betont,  gerade  zu 
dem  Ort,  an  welchem  seine  Frau  wohnt.  Hier  greift  G.  auf  das 
Geschick  der  Frau  zurück  und  holt  nach.  Nach  der  Fügung 
Gottes  sei  jener  Schiffsherr,  der  die  Frau  raubte,  sehr  bald  ge- 
storben. Diese  aber  habe  ihre  Wohnung  in  einem  Garten  eines 
der  Dorfbewohner  genommen,  dort  ihre  Hütte  aufgeschlagen  und 
die  Früchte  bewacht  (d.  h.  sie  wurde  als  Feldwächterin  angestellt). 
Auch  im  Folgenden  erzähle  ich  aus  Gründen,  die  weiter  unten 
deutlich  werden  sollen,  nach  G.  Als  der  Feldherr  an  den  Ort 
kommt,  beschließt  er  dort  eine  Rast  von  einigen  Tagen  zu  macheu ; 
er  schlägt  seinen  Feldherrnpavillon  gerade  in  der  Nähe  jenes 
Gartens  auf.  Die  Jünglinge,  die  in  seiner  unmittelbaren  Nähe 
weilen,  erhalten  Quartier  in  der  Hütte  der  Frau.  Sie  ahnen  na- 
türlich nicht,  daß  es  ihre  Mutter  sei,  lassen  sich,  als  es  Mittag 
geworden,    dort   nieder   und   beginnen   sich  ihre  Geschichte  zu  er- 

1)  Sollte  nicht  der  Name  Agarius  in  L.  Verstümmelung  aus  G.  'Jxdxtog 
sein  ?  (s.  u.  im  letzten  Abschnitt). 

2)  G. :  evGeTift,6v  rtra  ohlriv  iv  xä  rQaxi}i^  avtov  «Irjyftg  iv  xü  utoli'iup, 
L.  Signum  in  collo  suo  ex  plaga,  quam  nos  scimus,  quae  facta  est  illi  in  hello 
(nach  dem  besseren  Text  gegen  Casinensis  s.  Meyer  S.  271). 

3)  Frater  mens  rufus  capillis  et  facie  pulchra. 


476  W.  Bousset, 

zählen  und  zwar  so,  daß  (nach  Gr.)  der  ältere  Bruder  sich  noch 
deutlich  aller  seiner  Erlebnisse  selbst  erinnert,  während  der  jüngere 
Bruder  sich  bei  der  Erzählung  des  älteren  wenigstens  auf  da3 
besinnt,  was  ihm  seine  Retter  von  seinem  Greschick  erzählt  haben. 
Was  die  Brüder  so  von  ihren  früheren  Schicksalen  wissen,  genügt, 
daß  sie  sich  erfreut  als  Brüder  erkennen.  Die  Mutter  hört  das 
alles  von  der  Hütte  aus  mit  an  und  fragt  sich  verwundert,  ob 
das  wohl  ihre  Söhne  seien.  Am  andern  Morgen  (nach  L.  sogleich) 
geht  sie  zum  Römerfeldherrn,  um  ihn  um  ihre  Befreiung  aus  der 
Gefangenschaft,  in  der  sie  gehalten  werde,  zu  bitten  (künstliches 
Motiv,  denn  von  einer  Gefangenschaft  war  vorher  eigentlich  gar 
keine  Rede  gewesen).  Dabei  erkennt  sie  ihren  Gemahl  an  seinen 
körperlichen  Merkmalen  (s,  o.,  der  Zug  fehlt  hier  in  L.)  und  gibt 
sich  ihm  zu  erkennen.  Nach  G.  nennt  sie  ihm  dabei  seinen  (offen- 
bar geheim  gehaltenen)  Taufnamen.  Sie  betont,  daß  sie  von  dem 
Schiffsherrn  nicht  berührt  sei,  noch  von  irgend  jemand  anderem 
(L.  bietet  nur  den  Hinweis  auf  den  schnellen  Tod  des  Schiffsherrn). 
Hocherfreut  erkennt  Placidas  seine  Gattin  und  teilt  ihr  weklagend 
das  Geschick  ihrer  Söhne  mit.  Aber  seine  Frau  erzählt  ihm  von 
den  beiden  Jünglingen,  in  denen  sie  ihre  Söhne  vermutet.  Diese 
werden  geholt,  die  ganze  Familie  ist  wieder  vereint,  und  das  ganze 
römische  Heer  feiert  ihre  Freude  mit.  So  kehrt  denn  der  sieg- 
reiche Feldherr  nach  Rom  zurück.  Mittlerweile  ist  Trajan  ge- 
storben. Hadrian,  sein  Nachfolger,  zieht  ihm  entgegen.  Ein 
Siegesfest  wird  gefeiert,  es  soll  ein  Opfer  im  Tempel  des  Apollo 
(L.  der  Götter)  dargebracht  werden.  Da  weigert  sich  Eustathius, 
den  Tempel  zu  betreten,  bekennt  sich  als  getauften  Christen.  Nun 
läßt  der  Kaiser  sofort  den  Feldherrn  absetzen  und  ihn  mit  den 
Seinen  in  die  Arena  führen,  dort  erleidet  die  gesamte  Familie  das 
Martyrium,  dessen  nähere  Umstände  uns  nicht  mehr  interessieren. 
Man  sieht  deutlich,  daß  diese  ganze  Erzählung  sich  in  drei 
oberflächlich  zusammengeleimte  Bestandteile  auflöst:  1.  die  Be- 
kehrung des  Helden,  des  leidenschaftlichen  Jägers  durch  den  kreuz - 
tragenden  Hirsch  oder  den  Erlöser,  der  im  Geweih  des  Hirsches 
erscheint;  2.  den  Anagnorismenroman  von  den  Eltern  und  den 
beiden  Söhnen,  die  alle  von  einander  getrennt  werden,  um  sich 
alle  wiederzufinden,  oder  die  Erzählung  von  einem  angesehenen 
Mann,  der  alles  verliert,  was  er  besaß,  um  alles  wieder  zu  be- 
kommen (Hiobmotiv).  3.  das  eigentliche  Martyrium.  Daß  das 
letzte  nur  ganz  lose  angehängt  ist,  ergibt  sich  nicht  nur  aus  dem 
ganz  abrupten  Übergang  am  Schluß  —  der  eben  noch  siegreiche 
Feldherr  wird  auf  sein  Bekenntnis  zum  Christentum  hin  sofort  in 


die  Geschichte  eines  Wiedererkennungsmärchens.  477 

die  Arena  geführt  — ,  sondern  auch  daraas.  daß  im  Anfang,  als 
der  Erlöser  dem  Placidas  nach  der  Taufe  sein  zukünftiges  Geschick 
weissagt,  von  dem  Martyrium  garnicht  die  Rede  ist.  wenigstens 
nicht  in  Gr.,  während  die  hier  entschieden  sekundäre  lateinische 
Rezension  durch  Hinzufügung  des  Satzes:  donec  pervenias  ad 
martyrii  triumphalem  coronam  (c.  7)  offenbar  retouchiert  hat  (s.  n,). 
Auch  die  innere  Logik  spricht  für  diese  Annahme.  Mit  Fall  und 
Erhebung  des  Helden  ist  die  Erzählung  zu  Ende.  Das  darauf 
folgende  Martyrium  ist  offenkundiger  Stilfehler  im  Aufbau.  Aber 
auch  die  Erzählung  von  der  Bekehrung  durch  den  Hirsch  hat  ur- 
sprünglich mit  dem  späteren  Geschick  unseres  Helden  rein  garnichts 
zu  tun.  Man  beachte  wie  lose  und  unmotiviert  diese  zweite  Er- 
zählung an  die  erste  angehängt  ist.  Zufällig  —  man  weiß  nicht 
weshalb  —  kehrt  unser  Held  wieder  an  den  Ort  zurück,  wo  er 
das  Wunder  erlebt  hat,  und  nun  bekommt  er  die  Verheißung  über 
sein  künftiges  Geschick.  G.  hat  deshalb  auch  (c.  5)  am  Schluß  der 
Bekehrungsvision  den  direkten  Befehl  an  Placidas  eingeschoben, 
er  solle  nach  vollzogener  Taute  an  den  Ort  zurückkehren.  Nach 
der  hier  von  L.  erhaltenen  ursprünglichen  Anlage  der  Erzählung 
wird  die  Ligatur  ganz  deutlich. 

Die  folkloristische  Untersuchung,  die  ich  hier  anschließe,  be- 
stätigt diese  These  auf  das  beste,  denn  sie  zeigt  uns,  daß  wenigstens 
die  mittlere  Partie,  die  Anagnorismenerzählung,  tatsächlich  in  weit- 
verzweigter Überlieferung  als  Wanderanekdote  für  sich  allein 
existiert  hat.  Man  hat  das  auch  für  die  erste  Episode,  von  der 
Bekehrung  durch  den  Hirsch,  behauptet.  Speyer  und  Gaster,  nach 
ihnen  auch  Garbe  (s.  o.  S.  470)  haben  versucht  nachzuweisen,  daß 
das  Urbild  dieser  Legende  in  einer  buddhistischen  Erzählung  No.  12 
der  Pali  Jataka  Sammlung  (Nigrodha-miga-jätaka)  vorliege.  Ich 
gebe  an  diesem  Punkte  zu,  daß  der  Beweis,  den  man  in  den  an- 
gegebenen Aufsätzen  nachlesen  mag,  nicht  für  jedermann  schlecht- 
hin zwingend  sein  mag;  uns  fehlen  hier  noch  die  verbindenden 
Mittelglieder.  Ich  möchte  jene  Vermutung  meinerseits  dadurch 
stützen,  daß  ich  den  vollgültigen  Beweis  für  die  bisher  schon  von 
dieser  und  jener  Seite  behauptete,  weithin  aber  auch  noch  be- 
strittene orientalische  Herkunft  der  mittleren  Partie  erbringe. 

II. 

Bei  den  Parallelen  unserer  Erzählung  handelt  es  sich  zunächst 
um  eine  ganze  Gruppe  von  Erzählungen  orientalischer  Her- 
kunft, die  in  mehr  oder  minder  naher  Beziehung  zu  unserer 
Legende  stehen. 


478  W.  Bousset, 

1.  Die  erste  hier  in  Betracht  kommende  Parallele  steht  in 
der  Sammlung  der  lOOl-Nacht-Erzählungen  ^),  und  zwar  ist  sie 
innerhalb  dieser  in  einer  aufgenommenen  Sondersammlung  der  Ge- 
schichte des  Königs  Schah  Bacht  und  seines  Vesirs  Er-Rahwän  zu 
finden.  Ich  erinnere  an  die  Rahmenerzählung  dieses  Stückes : 
Schah  Bacht  träumt,  daß  sein  Vater  ihm  eine  Frucht  reicht,  nach 
deren  Genuß  er  stirbt;  ein  von  den  Feinden  des  Vesirs  bestochener 
Traumdeuter  deutet  den  Traum :  wenn  er  den  Vesir  nicht  binnen 
Monatsfrist  töte,  so  werde  dieser  ihn  umbringen.  Der  Vesir 
rettet  sich  von  einem  Tage  zum  anderen,  indem  er  dem  König 
jedesmal  für  den  folgenden  Abend  noch  eine  wunderbarere  Erzählung 
verheißt,  bis  er  ihm  schließlich  verkünden  kann,  daß  der  gefahr- 
volle Monat  abgelaufen  ist.  Wir  haben  in  dieser  Rahmenerzählung 
also  ein  kleines  Seitenstück  zu  der  bekannten  Gesamtkomposition 
der  1001-Nacht.  Es  ist  klar,  daß  diese  Sammlung  von  Anekdoten 
einmal  außerhalb  von  1001-Nacht  für  sich  bestanden  haben  muß 
und  erst  später  von  jener  Riesensammlung  verschlungen  ist.  Henning 
(XXIV  S.  236)  stellt  sie  auf  die  gleiche  Stufe  mit  den  Erzählungen 
vom  König  Dschaliäd  und  seinem  Vesir  Schimäs,  dem  Sindbäd- 
Nämeh  (Sindbad  oder  die  List  der  Weiber)  und  der  Geschichte 
der  zehn  Vesire.  Von  letzterer  und  der  von  uns  hier  behandelten 
urteilt  er:  „die  man  wohl  auch  als  ursprünglich  selbstständige 
Bücher  anzusehn  hat;  ihr  persischer  Ursprung  ist  schon  aus  den 
persischen  Namen  ersichtlich"  ^)  (über  die  zehn  Vesire  s.  außerdem 
u.  S.  490). 

1)  Ich  zitiere  die  1001-Nacht-Erzählungcn  nach  der  brauchharen  Übersetzung 
von  Henning  in  Reclams  Universal- Bibliothek  nach  Bänden  und  Seitenzahl.  Vergl. 
zum  Folgenden  auch  die  Einleitung  Hennings  über  die  Entstehung  und  Textüber- 
lieferung der  1001-Nacht-Sammlung  Bd.  XXIV  S.  206—244. 

2)  Die  Erzählungsreihe  ist  in  der  jüngsten  und  umfangreichsten  Redaktion 
der  1001-Nacht  der  modernen  ägyptischen  (Bulaker,  Calcuttaer,  Beiruter  Ausgabe) 
nicht  aufgenommen.  Sie  findet  sich  auch  nicht  in  der  ältesten  Rezension,  welche 
Zotenberg  (Notices  et  extraits  des  manusc.  de  la  Biblioth.  Nat.  tom.  28  Paris 
1887  p.  167—218)  die  Orientalische  nennt.  Sie  steht  in  einigen  der  Handschriften, 
welche  nach  Zotenberg  eine  Übergangsstufe  i'epräsentieren,  und  keiner  der  beiden 
großen  Redaktionen  angehören  (z.  B.  im  Codex  1491  an  zwei  Stellen,  Partie  XVII 
und  XXIV,  doch  nur  als  Fragment,  Zotenberg  185  f.,  sowie  in  der  Tuneser  Hand- 
schrift, auf  welcher  die  Breslauer  Ausgabe  beruht).  Zur  Charakterisierung  der 
Sammlung  möge  notiert  werden,  daß  eine  ihrer  Erzählungen,  die  von  dem  ein- 
fältigen Ehemann  (dem  Liebhaber  auf  dem  Baum,  die  bekanntlich  auch  in  \Vie- 
lunds  Oberen  erscheint),  Henning  XVIII  S.  164  in  der  indischen  Sammlung  Suka- 
saptati  als  No.  28  steht.  Eine  zweite  Erzählung,  die  Geschichte  von  der  reciit- 
schaffenen,  frommen  Frau,  Henning  XVII  187,  findet  sich  auch  in  dem  türkischen 
aus  dem  Persisrhen   stammenden  Tuti-Xameh  (Rosen  188  ff.)   und  wird  uns  noch 


die  Geschichte  eines  Wiedererkennungsmärchens.  479 

In  dieser  Sammlung  findet  sich  unsere  Geschichte  (Henning 
XIX  26  nach  der  Breslauer  Ausgabe)  unter  dem  Titel:  Die  Ge- 
schichte vom  König,  der  sein  Reich  und  Gut  und  Weib  und  Kinder 
verlor  ond  sie  von  Gott  wiedererhielt.  —  In  Indien  lebte  einmal 
ein  König,  der  war  huldsam  gegen  die  Gelehrten,  Enthaltsamen, 
Frommen  und  Religiösen.  Er  war  vermählt  mit  seiner  schönen 
Base,  die  ihm  zwei  Söhne  gebar.  Er  wird  von  einem  König  über- 
fallen, der  ihm  alle  seine  Streiter  erschlägt  und  rettet  sich  durch 
die  Flucht  mit  der  Frau  und  den  beiden  Söhnen.  Unterwegs 
werden  sie  von  Räubern  überfallen,  die  ihnen  alles  bis  aufs  Hemd 
und  ein  Paar  Hosen  für  einen  jeden  rauben ').  Die  Flüchtlinge 
wandern  weiter,  bis  sie  an  ein  Meeresgestade  gelangen.  Ein 
seichter  Meeresarm  stellt  sich  ihnen  als  Hindernis  entgegen.  Der 
König  trägt  seine  beiden  Söhne  hinüber  und  setzt  sie  am  jenseitigen 
Ufer  ab.  Als  er  dann  auch  seine  Frau  herübergeholt  hat,  findet 
er  die  beiden  Knaben  nicht  mehr  am  Platz.  Sie  waren  in  den 
Wald  gegangen,  um  Wasser  zu  machen-).  Der  Vater  sucht  seine 
Kinder  vergeblieh,  und  das  Ehepaar  bleibt  nun  bei  zwei  alten 
Leuten  auf  der  Insel.  Da  legt  an  der  Insel  ein  Schiff  an,  dessen 
Besitzer  ein  Magier  war.  Der  Scheikh  der  Insel  verrät  diesem 
die  große  Schönheit  der  Frau,  um  sich  ein  Stück  Geld  zu  ver- 
dienen, und  der  Magier  lockt  diese  durch  eine  List  auf  sein  Schiff 
und  fährt  mit  ihr  ab.  Verzweifelt  wandert  der  Gatte  nun  in  der 
Welt  umher,  wobei  eigentlich  vergessen  wird,  daß  die  Erzählung 
sich  auf  einer  Insel  abspielt.  Er  kommt  in  eine  Stadt,  dessen 
König  gerade  gestorben  ist,  ohne  einen  Sohn  zu  hinterlassen.  i\lan 
hatte   beschlossen,    den   znm    König   zu   machen,   den   sein   weißer 


weiter  anten  beschäftigen.  Eine  dritte:  der  König  und  die  Frau  des  Kämmerlings, 
Henning  XIX,  18,  kehrt  unter  dem  Titel:  König  und  Weib  des  Vesirs  im  Sindbad- 
Näme  (von  der  argen  Wsiberlist)  Henning  X  145  wieder.  Spezifisch  indisches 
Milieu  zeigt  die  Erzählung  von  dem  König,  der  das  innere  Wesen  der  Dinge  er- 
kannte (Henning  XVIII  142,  Parallelen  XXII  5 ff.,  12 ff.;  vgl.  auch  die  bekannten 
Rätselfragen  der  AcLikar-Legende  und  zu  dem  Ganzen  etwa:  Benfey,  Kleinere 
Schriften  II  156  ff.  „die  kluge  Dirne"). 

1)  Vgl.  in  der  Placidas-Legende  die  Räuber,  welche  der  in  der  Einsamkeit 
weilenden  Familie  alles  nehmen  mit  Ausnahme  ihrer  Kleider.  Nun  wird  uns  auch 
der  Zug  in  der  Placidas-Legende  (G.)  klar,  daß  Placidas  sich  —  dort  ganz  un- 
motiviert — ,  bevor  er  ausgeraubt  wird,  an  einen  einsamen  Ort  zurückzieht. 

2)  Daß  unsere  Erzählung  hier  den  charakteristischen  Zug  des  Raubes  durch 
wilde  Tiere  fortläßt,  fast  gegen  alle  übrigen  Parallelen,  erklärt  sich  vielleicht  aus 
einem  rationalistischen  Bedürfnis  des  Erzählers.  Auch  darin  ist,  wie  sich  deutlich 
zeigen  lassen  wird,  diese  Erzählung  wahrscheinlich  sekundär,  daß  sie  die  beiden 
Knaben  nicht  trennt. 


480  W.  Bousset, 

Elephant  erwählen  würde.  Der  Elephant,  dem  man  die  Krone  in 
seinen  Rüssel  gegeben,  setzt  sie,  sowie  er  den  wandernden  König 
erblickt,  diesem  auf  das  Haupt  und  kniet  vor  ihm  nieder,  und  so 
wird  dieser  König  in  der  fremden  Stadt.  Ihm  wird  zwar  das 
Ansinnen  gestellt,  eine  der  beiden  Töchter  des  verstorbenen  Kö- 
nigs zu  heiraten,  doch  weiß  er  sich  in  Treue  gegen  seine  Frau 
diesem  Verlangen  durch  eine  Ausrede  zu  entziehen.  Mittlerweile 
kommt  nach  einem  Jahr  der  Magier,  der  die  Frau  des  Königs 
geraubt,  mit  seinem  Schiff  zu  dieser  Stadt.  Sie  hat  tapfer  allen 
seinen  Überredungen,  ihn  zu  heiraten,  widerstanden,  dafür  hat  er 
sie  gefesselt  und  in  eine  Kiste  gesteckt.  Nun  war  es  Sitte,  daß, 
wenn  ein  Schiff  bei  jener  Stadt  landete,  der  König  einen  Pagen 
schickte,  um  die  Waren  unter  Obhut  zu  nehmen  und  sein  Vor- 
kaufsrecht zu  wahren.  Der  König  sendet  zwei  Pagen,  und  das 
waren  gerade  seine  eigenen  Söhne,  die  verirrt  in  jene  Stadt  ge- 
kommen, schon  in  den  Dienst  des  verstorbenen  Königs  getreten 
und  nun  von  dem  eigenen  Vater,  ohne  daß  er  sie  kannte,  über- 
nommen waren.  Wie  nun  der  Abend  hereinbricht,  beginnen  die 
Jünglinge  miteinander  zu  plaudern  und  sich  ihre  Erlebnisse  aus 
ihrer  Kindheit  zu  erzählen  (da  die  Brüder  in  dieser  Erzählung 
ungetrennt  geblieben  sind  und  sich  und  ihre  Lebensschicksale  doch 
kennen,  steht  dieses  ursprüngliche  Motiv  nun  schlecht  motiviert 
da,  auch  fehlt  natürlich  die  Wiedererkennung  der  Brüder).  Die 
in  der  Kiste  versteckte  Mutter  hört  ihre  Geschichte  und  ruft  aus 
der  Kiste  heraus:  ich  bin  eure  Mutter,  so  und  so  ist  mein  Name 
und  das  Kennzeichen  (!)  zwischen  uns  ist  das  und  das*).  Die 
Jünglinge  befreien  ihre  Matter,  der  Magier  kommt  darüber  zu 
und  schlägt  Lärm;  er  schleppt  sie  vor  den  König,  und  wie  die 
Angeklagten  vor  diesem  erscheinen  und  ihre  Geschichte  erzählen, 
erkennt  der  König  seine  Lieben  wieder^).  Er  gibt  sich  ihnen  je- 
doch noch  nicht  zu  erkennen,  läßt  sie  bis  zum  nächsten  Tage  ein- 
sperren^) und  führt  dann  in  großer  feierlicher  Versammlang  die 
Erkenntnisszene  und  die  Entlarvung  des  Magiers  herbei;  der 
Magier  wird  hingerichtet,   die  beiden  Prinzen   heiraten  die  beiden 


1)  Vgl.  in  der  Placidas-Legende  die  Rolle,  welche  das  Erkennungsmerkmal 
des  Vaters  spielt.  In  der  Erzählung  oben  ist  eine  Verkürzung  vorgenommen. 
Natürlich  war  das  Kennzeichen  ursprünglich  angegeben. 

2)  Die  Wiedererkennung  mit  dem  Vater  ist  hier  geschickter  herbeigeführt, 
als  in  der  Placidas-Legende.    Dort  war  der  Schiffsherr  ja  gestorben. 

3)  Nach  G.  der  Placidas-Legende  geht  die  Mutter  erst  am  nächsten  Tage 
zum  Feldherrn. 


die  Grescbiclite  eines  Wiedererkennungsmärchens.  481 

Töchter   des   verstorbenen  Königs,   und  alle  leben  von  nun  an  in 
Glück  und  Herrlichkeit. 

2.  Eine  zweite  Erzählung,  die  in  diesen  Kreis  hineingehört, 
ist  in  armenischer  Überlieferung  enthalten  und  findet  sich  bei 
Haxthausen  Transkaukasia  I  334.  Es  war  einmal  ein  König,  zu 
dem  trat  einst  ein  Genius  heran  und  stellte  ihm  die  Wahl,  ob  er 
in  der  Jugend  oder  im  Alter  glücklich  sein  wolle.  Der  König 
wählte  das  letztere  (vgl.  schon  hier  die  Parallele  zu  diesem  cha- 
rakteristischen Zug  im  Anfang  der  Placidas- Legende  nach  der 
Rezension  G.).  So  bricht  denn  über  ihn  das  Unglück  sofort 
herein,  der  König  verliert  sein  Reich  durch  einen  mächtigen 
Nebenbuhler,  seine  Frau  wird  durch  einen  Kaufmann  geraubt  und 
entführt.  Er  macht  sich  mit  seinen  beiden  Söhnen  auf  die  Wan- 
derschaft und  kommt  an  einen  Fluß.  Er  trägt  den  einen  Sohn 
über  den  Fluß  hinüber;  da  wird  der  am  Ufer  zurückgebliebene 
von  einem  Wolfe  geraubt,  und  der  Strom  entreißt  ihm  das  Kind, 
das  er  hinüber  tragen  will.  Er  wandert  allein  weiter  und  kommt 
in  ein  Land,  dessen  Volk  im  Begriff  ist,  sich  einen  neuen  König 
zu  suchen.  Ein  weißer  Adler  senkt  sich  auf  ihn  herab  und  offen- 
bart ihn  als  den  gesuchten  König  (der  weiße  Adler  übernimmt 
hier  also  die  Rolle  des  Elephanten  in  der  vorigen  Erzählung'); 
so  regiert  denn  der  König  in  dem  fremden  Reiche.  Nach  einiger 
Zeit  kommt  der  Kaufmann,  der  die  Erau  des  Königs  geraubt  hat, 
dorthin.  Er  hält  die  Frau,  die  er  geraubt,  in  einem  Kasten  ein- 
gesperrt und  erbittet  vom  König  zwei  seiner  Trabanten  zu  ihrer 
Bewachung.  Der  König  sendet  sie,  und  das  waren  gerade  seine 
Söhne,  die  nach  verschiedenen  Schicksalen  unerkannt  in  seinen 
Dienst  eingetreten  waren.  In  der  Nacht,  auf  der  Wache,  erzählen 
sich  die  beiden  Brüder  ihr  Geschick  und  finden,  daß  sie  Brüder 
sind;  das  Weib  hört  an  der  Tür  des  Kastens  der  Erzählung  zu 
und  erkennt  ihre  Söhne ;  sie  ruft  ihnen  zu,  sie  möchten  aufmachen. 
Sie  befreien  die  Mutter,  erzählen  sich  gegenseitig  ihre  Schicksale 
und  schlafen  zusammen  ein.  So  findet  sie  der  Kaufmann  und 
verklagt  die  Brüder  vor  dem  König;  es  kommt  zum  Verhör,  bei 
dem  natürlich  die  Glieder  der  Familie  sich  alle  wieder  zusammen- 
finden. Der  Kaufmann  erhält  seine  gebührende  Strafe,  er  wird 
enthauptet. 

3.  Eine  dritte  und  vierte  Parallele  sind  uns  in  jüdischen 
Erzählungen  erhalten.    Die  erste  derselben  findet  sich  im  Midrasch 

1)  Ein  weit  verbreitetes  Wandermotiv.  Vgl.  noch  die  Geschichte  wie  Ale- 
xander (neben  Narcissus)  Bischof  in  Jerusalem  wird.   Euseb.  Kii'chen-Gesch.  VI  11. 


482  W.  Bousset, 

zum  Dekalog  (den  Zunz  nach  Levi,  in  dem  gleich  zu  nennenden 
Aufsatz  in  das  X.  Jahrh.  datiert).  Aus  diesem  hat  sie  Levi 
(contes  juives,  Revue  des  Etudes  Juives  XI 1885  p.  228  ff.)  übersetzt. 
Ein  jüdischer  Kaufmann  hat  seinem  Vater  an  dessen  Sterbebett 
das  Versprechen  gegeben,  daß  er  niemals  einen  Eid  schwören 
wolle.  Da  seine  Umgebung  diese  Situation  ausnutzt  und  fort- 
während ungereohte  Anforderungen  an  ihn  stellt,  denen  er  vor 
Gericht  nicht  mit  einem  Eide  begegnen  kann,  so  gerät  er  in  Be- 
drängnis und  Armut  und  wandert  schließlich  sogar,  da  er  angeb- 
liche Schulden  nicht  bezahlen  kann,  ins  Schuldgefängnis.  Er  hat 
eine  Frau  und  zwei  Knaben;  die  Frau  ist,  um  die  Familie  zu 
erhalten,  als  Wäscherin  tätig  und  wäscht  namentlich  den  Schiffern 
ihre  Wäsche.  Ein  Schiffsherr  lockt  sie  durch  ein  Goldstück, 
das  er  ihr  als  Lohn  verspricht,  auf  sein  Schiff;  die  Frau  nimmt 
das  Goldstück  in  Empfang  und  sendet  ihren  ältesten  Knaben  da- 
mit aus,  den  Vater  aus  der  Schuldhaft  zu  befreien;  mittlerweile 
wird  sie  von  dem  Schiffsherrn  geraubt.  Vater  und  Söhne  begeben 
sich  auf  die  Wanderschaft,  um  die  Mutter  zu  suchen;  sie  kommen 
an  einen  großen  Fluß,  und  der  Vater  schwimmt  mit  dem  jüngeren 
hinüber.  In  der  Mitte  des  Stromes  läßt  er  den  Knaben  fallen,  da 
jener  ihm  zu  stark  geworden  ist;  das  Kind  findet  Rettung  auf 
einer  Planke.  Der  Vater  wird  an  das  Ufer  getrieben  und  wird 
in  der  Gegend,  wo  er  sich  gerettet  hat,  Viehwächter;  vor  Ver- 
zweiflung will  er  sich  einmal  in  den  Fluß  werfen,  da  erscheint 
ihm  eine  Art  Engel  (ein  Genius !)  und  offenbart  ihm,  daß  im  Fluß 
ein  großer  Schatz  verborgen  läge;  er  erwirbt  von  dem  König  des 
Landes  den  Fluß  auf  eine  Strecke  seines  Laufes,  hebt  den  Schatz, 
erbaut  sich  einen  Palast  uiid  wird  König.  Nach  einiger  Zeit 
kommen  seine  beiden  Söhne  auf  einem  Schiff  in  das  Reich,  er  er- 
kennt sie,  gibt  sich  ihnen  aber  nicht  zu  erkennen  und  behandelt 
sie  nur  besser  als  die  übrigen  Sklaven  in  seinem  Dienst.  Dann 
kommt  auch  der  Schiffsherr  mit  der  entführten  Frau  auf  seinem 
Schiff  an  das  Land;  auch  hier  kann  der  vom  König  geladene 
Schiffsherr  das  Schiff  nicht  verlassen,  weil  er  seine  Frau  bewachen 
muß,  auch  hier  schickt  der  König  seine  beiden  Söhne  auf  das  Schiff 
als  Wächter  der  Frau.  Wie  die  Knaben  den  Schiffsherrn  sehen, 
glauben  sie  in  ihm  den  Räuber  der  Mutter  zu  erkennen.  Die 
Mutter  fragt,  weshalb  sie  betrübt  seien.  Die  Söhne  erzählen  ihre 
Geschichte  und  so  erkennen  sie  sich  gegenseitig.  Nun  braucht  die 
Mutter  eine  List.  Sie  beschuldigt  ihre  Söhne,  daß  sie  sich  un- 
passend gegen  sie  betragen  haben.  So  bringt  der  Scbiffsherr  die 
Sache   vor  den  König;   die  Mutter   bittet  den  König,   die  Knaben 


die  Geschichte  eines  Wiedererkennongsmärchens.  483 

ihre  Geschichte  erzählen  za  lassen,  so  erfolgt  die  große  Er- 
kennungsszene, der  König  zwingt  den  Schiffsherrn  zum  Geständnis 
und  entläßt  ihn. 

4.  In  starker  Abwandlung,  aber  doch  so,  daß  die  ursprüng- 
liche Identität  ganz  klar  bleibt,  erscheint  dieselbe  jüdische  Erzählung 
in  1001-Nacht.  Sie  findet  sich  hier  in  einer  Sammlung  von  Le- 
genden, die  in  deren  späteste  und  vollständigste  Redaktion  (Aus- 
gaben von  Kairo,  Bulak,  Calcutta ;  Henning  IX  5—52)  aufgenommen 
ist^).  Diese  Sammlung  von  Legenden  ist  folkloristisch  und  reli- 
gionsgeschichtlich außerordentlich  interessant.  Ihre  Grundlage 
nämlich  ist  wie  es  scheint  eine  ältere  jüdische  Legendensammlung. 
Ich  bringe  das  Beweismaterial  im  Folgenden,  nach  dem  Aufsatz 
von  Perles,  rabbinische  Agada's  in  lOOi-Nacht,  Monatsschrift  für 
Geschichte  und  Wissenschaft  des  Judentums  Bd.  22  S.  14—34. 
61 — 85.  116 — l'i4  (vergl.  auch  den  Aufsatz  von  Gaster,  Beiträge 
zur  vergleichenden  Sagen-  und  Märchenkunde,  in  derselben  Zeitschr. 
Bd.  29  S.  218-219).  Nur  hat  Perles  nicht  gesehen,  daß  das  Material, 
welches  er  zum  Beweis  seiner  These  für  das  Vorhandensein  jüdi- 
scher Tradition  in  1001-Nacht  beibringt,  ganz  überwiegend  gerade 
unserer  Sammlung  entlehnt  ist,  während  jüdische  Einflüsse  in  dem 
übrigen  Bestand  von  1001-Nacht  nur  sporadisch  und  oft  ungesichert 
bleiben. 

No.  1 — 3  dieser  Sammlung  behandeln  alle  dasselbe  Thema: 
die  Legende  von  dem  Engel  des  Todes,  der  dem  stolzen  and 
reichen  König  seine  Seele  nimmt.     Dabei  trägt  No.  3   schon  die 


1)  In  dem  Vorbericht  des  12.  Bandes  der  Übersetzung  von  1001-Nacbt, 
Breslau  1825,  findet  sich  eine  Vergleichung  der  damals  bekannten  Handschriften 
der  jüngeren  ägyptischen  Rezension,  auf  denen  die  Bulaker  und  die  Calcuttaer 
Ausgabe  beruhen.  Es  sind  hier  die  Erzählungen,  wie  sie  sich  in  den  Handschr. 
Clarkes  und  von  Hammers  bieten,  der  Reihe  nach  aufgezählt.  Man  sieht,  daß 
diese  beiden  sich  fast  vollständig  decken.  Daneben  ist  bei  den  172  Nnmmern 
der  Handschrift  Clarke  durch  Sterne  angegeben,  welche  von  diesen  sich  in  einer 
Handschrift,  die  der  Neflfe  W.  Montague's  besaß  (nicht  zu  verwechseln  mit  der 
berühmten  und  ganz  singulären  Handschrift  Montague)  ebenfalls  tinden.  Die 
Zus:immenstellung  ergibt  das  m.  E.  sehr  wichtige  Resultat,  daß  in  der  verglichenen 
Handschrift  (Nefle  Montague's)  die  Sammlungen  von  Tierfabeln,  Legenden,  Anek- 
doten spezifisch  arabischen  Milieus,  die  in  der  jüngeren  Rezension  von  1001-Nacht 
einen  so  großen  Raum  einnehmen,  noch  nicht  vorhanden  waren.  Sie  gehören 
wahrscheinlich  innerhalb  1001-Nacht  zur  spätesten  Schicht.  In  der  Handschrift 
Par.  Nat.  1491  erscheinen  ganz  am  Schluß  (Partie  XXYI  Zotenberg  186)  Anek- 
doten und  Apophthegmata.  Im  türkischen  Text  von  1001-Nacht  (Par.  Nat.  356) 
erscheinen  zum  Schluß  Fabeln  (Zotenberg  189).  Zu  diesen  spät  in  die  1001-Nacht 
eingetretenen  Stücken  gehört  auch  unser  Legendenkranz. 


484  W.  Bousset, 

für  unsere  These  sprechende  Überschrift  „Der  Engel  des  Todes 
tind  der  König  der  Kinder  Israel".  No.  2  „Der  Engel  des  Todes 
und  der  reiche  König"  zeigt  auffallende  Berührung  —  jedoch  bei 
völliger  Selbständigkeit  —  mit  der  Parabel  Jesu  von  dem  reichen 
Manne,  der  sich  Schätze  sammelt  (Luc.  12, 16 — 21)  ^).  Perles  S.  123 
vsreist  auf  verwandte  Motive  in  der  Überlieferung  des  Talmud  hin : 
Der  Todesengel  erscheint  auch  hier  als  Bettler  und  wartet,  wie 
er  die  Seele  des  Frommen  einholt,  auf  dessen  Wunsch  mit  dem 
Vollzug  seiner  Sendung.  No.  4  der  Sammlung  ist  eine  Alexander- 
iegende,  die  ebenfalls  sehr  wohl  in  einer  jüdischen  Sammlung  ge- 
standen haben  könnte.  Die  Person  Alexanders  hat  ja  die  jüdische 
Phantasie  sehr  lebhaft  beschäftigt.  No.  6  und  7  „Der  israeli- 
tische Kadi  und  sein  frommes  Weib"  und  (den  Motiven  nach 
verwandt)  „Das  schiffbrüchige  Weib"  sollen  uns  weiter  unten  noch 
näher  beschäftigen.  No.  8  „Der  fromme  Negersklave",  ist  die 
wunderbare  Greschichte  eines  Regenmachers,  in  der  besonders  die 
freimütige  Art,  die  der  Fromme  in  seinem  Gebet  Grott  gegenüber 
zur  Schau  trägt,  hervorgehoben  wird:  „Ich  beschwöre  dich  bei 
deiner  Liebe  zu  mir,  laß  deinen  Regen  unverzüglich  auf  uns  her- 
nieder strömen".  Perles  S.  122 — 123  hat  darauf  hingewiesen,  daß 
die  Erzählungen,  die  Talmud  Taanith  20  a — 23  a  vorliegen,  ganz 
Ahnliches  von  jüdischen  Rabbinen  und  Wundertätern  zu  erzählen 
wissen,  bis  auf  die  Formulierung  des  Grebetes  hin  (vergl.  nament- 
lich die  Erzählungen  von  Nikodemus  ben  Gorion  und  Choni  dem 
Regenmacher).  Als  speziell  jüdische  Traditionen  lassen  sich  die 
einzelnen  Motive  nachweisen,  die  in  No.  9  ;,Der  fronune  israelitische 

1)  Ich  kann  mir  nicht  versagen,  zum  Beweise  des  oben  angedeuteten  Pa- 
rallelismus den  Anfang  der  1001-Nacht-Legende  im  Auszug  zu  skizzieren.  Ein 
König  hatte  einst  zahlloses  Geld  aufgehäuft,  und  viele  Dinge  allerlei  Art  ge- 
sammelt. Um  nun  in  seinen  Mußestunden  seine  Seele  an  all  dem  unermeßlichen 
Gut  zu  weiden,  erbaute  er  sich  ein  hohes  in  den  Himmel  ragendes  Schloß.  Eines 
Tages  befahl  er  dem  Koch,  ihm  ein  Mahl  von  den  feinsten  Gerichten  zu  bereiten, 
und  versammelte  seine  Angehörigen  und  sein  Gefolge,  daß  sie  mit  ihm  speisten. 
Wie  er  nun  auf  dem  Throne  seines  Königreiches  saß,  redete  er  zu  seiner  Seele 
und  sprach:  „0,  Seele,  du  hast  dir  alles  Gut  der  Welt  aufgehäuft,  und  nun  gib 
dich  ihm  hin  und  lasse  dir  diese  Schätze  gut  schmecken,  in  langem  Leben  und 
reichem  Glück."  Kaum  aber  hatte  der  König  sein  Selbstgespräch  beendet,  da 
kam  draußen  vor  dem  Schloß  ein  Mann  in  zerlumpten  Kleidern  herangeschritten, 
der  Todesengel,  der  die  Seele  des  Königs  holen  will.  —  Ich  erwähne  noch,  daß 
zum  Schluß  der  lang  ausgesponuencn  Legende  sein  Geld  und  Gut  den  König  an- 
redet :  „Du  aber  scharrtest  mich  zusammen  und  speichertest  mich  in  deinen 
Schatzkammern  auf  . . .  darum  mußt  du  mich  nun  deinen  Feinden  hinterlassen 
und  nichts  als  Bedauern  blieb  dir  und  Reue".  Hierauf  nahm  der  Engel  des 
Todes  seine  Seele,  während  er  auf  dem  Throne  saß. 


die  Geschichte  eines  Wiedererkennungsmärchens.  485 

Tablettflechter  und  sein  Weib''  znsammengewoben  sind.    Das  erste 
Motiv :  ein  frommer  Israelit  entgeht  den  lüsternen  Xachstellnngen 
einer    vornehmen  Dame,    indem    er    sich    vom    Dache    des   Hauses 
hinunterstürzt,  erscheint  in  ähnlicher  Weise  Kidduschin  40  a  in  einer 
Erzählung   von  R.  Kahana  (Perles  S.  19).     Die   zweite  Erzählung 
von   dem  Brotwunder  im  Backofen  wird  Taanith  24  b,   25  a,   auch 
von  R.  Chanina  ben  Dosa  und  seinem  Weibe    erzählt   (Perles  21). 
Hier  wie  dort  verbindet  sich  damit  das  dritte  Motiv :  Einem  armen 
Frommen  wird   ein  Edelstein  (Rubin)   vom  Himmel   her   zum   Ge- 
schenk gesandt.    Wie  aber  dieser   erfährt,   daß  dafür  sein  himm- 
lischer Thron,  der  ihm  einst  in  der  Ewigkeit  zu  Teil  werden  soll, 
eines  Edelsteins  ermangele,   bittet  er  Gott,   sein  Geschenk  zurück 
zu  nehmen.     Nur  daß  in  der  Talmud-Erzählung  von  einem  golde- 
nen Tischbein  die  Rede   ist,   während  wiederum,   in  einer  anderen 
jüdischen  Erzählung  von  R.  Simeon  ben  Chalafta   (Exod.  Rabba 
e.  52,  Perles  22)  das  Edelsteinmotiv  wiederkehrt  (vgl.  andere  Par- 
allelen bei  Perles  23—28).     No.  10  „El  Hadschdschädsch  und  der 
fromme  Mann"  —  in  jüdischer  Tradition    sonst  bisher  nicht  nach- 
weisbar —  erinnert  bis  zu  einem  gewissen  Grade  an  die  ja  sicher 
legendarische    und    in    den    ursprünglichen    Bericht    der    Apostel- 
geschichte eingeschobene  Erzählung  von  der  Befreiung  des  Paulus 
aus   dem  Kerker  in  Philippi.     No.  11   ist  die  Geschichte  von  dem 
Schmied,  welcher  Kohlen   anfassen  konnte:   Ein  Schmied  benutzt 
die  Not  einer  Frau,    zu   der  er  in  Liebe  entbrannt  ist,    nicht,  um 
sie  seinen  Wünschen  gefügig  zu  machen,  sondern  gibt  ihr  freiwillig 
Almosen  und  bekommt  dafür  die  Gabe,    feurige  Kohlen   anfassen 
zu  können.     In  talmudischer  Überlieferung   kehrt  das  Motiv  viel- 
fach wieder  (Perles  83  ff.  116  ff.),   nur  daß  hier  der  fromme  Rabbi 
zum  Lohne  mit  einem  Strahlenkranz,  der  sich  um  sein  Haupt  legt, 
oder  mit  dem  Feuerschein  bedacht  wird.    Es  scheint  also  hier  ur- 
sprünglich ein  persisches  Motiv  vorzuliegen,   die  Vorstellung  von 
dem  Hvareno,   dem  Lichtglanz,   der   das  Haupt   des  Frommen  um- 
^i^ibt,  und  in  der  Erzählung  von  dem  Schmied,  der  feurige  Kohlen 
anfassen   konnte,    scheint    sich   dies   Motiv   vergröbert    zu   haben. 
Übrigens   kennt   auch    der  jerusalemische    Talmud.     Sabbat   XIV 
(Perles  85),    die   Geschichte   von   dem   Schmiede,    der   sich   in  ein 
junges   Mädchen   leidenschaftlich   verliebte,    und    diese    wird   wohl 
identisch  mit  der  unsrigen  in  1001-Nacht  sein.     Sehr   interessant 
ist  No.  12  in  dieser  Sammlung  „Der  Wolkenmann".     Ein  heiliger 
Mann   besitzt   eine  Wolke,    die    ihm    Regen    spendet    und    die   ihn 
überall  hin   begleitet.     (Vielleicht   ein  Mißverständnis   des  in  der 
vorhergehenden  Erzählung  erwähnten  Motivs  von  dem  strahlenden 

Kgl.  Ges.  d.  Wiss.    Nachrichten.    Phil.-hist  Klasse.    1916.    Heft  4.  34 


486  W.  Bousset, 

Kranz,  der  das  Haupt  des  Frommen  umgibt).  Durch  eine  Sünde 
verliert  er  das  Grnadengeschenk  der  Wolke  und  bekommt  Befehl, 
zu  einem  König  zu  gehen,  der  ihm  die  Wolke  wieder  verschaiFen 
wird.  Er  findet  an  dem  König  nichts  sonderlich  Frommes  ^),  erfährt 
aber  bei  genauerem  Nachforschen,  daß  dieser  tagsüber  seine 
Regierungsgeschäfte  verwaltet,  um  sein  Volk  nicht  verkommen  zu 
lassen,  nachts  aber  mit  seinem  frommen  Weibe  im  Büßergewande 
asketischen  Übungen  obliegt.  Auf  die  Bitte  des  Königs,  namentlich, 
wie  es  scheint,  seiner  Frau,  erhält  der  Fromme  seine  Wolke  zurück. 
Es  wäre  sehr  wertvoll,  wenn  für  diese  Greschichte,  die  ihrem  ganzen 
Charakter  nach  indisches  Milieu  deutlich  zeigt  (der  König  als  Büßer 
und  Asket!),  ebenfalls  der  Durchgang  durch  jüdische  Tradition  nach- 
gewiesen werden  könnte.  Aber  die  Parallele,  die  Gaster  a.  a  0. 
S.  215  ff.  in  der  Greschichte  des  Abba  Chilkija  bringt  (Taanith  23), 
ist  nicht  gerade  sehr  überzeugend.  Immerhin  beachte  man  die 
Rolle,  die  in  beiden  Erzählungen  die  fromme  Frau  spielt,  No.  15 
Der  Prophet  und  die  göttliche  Grerechtigkeit,  eine  Geschichte, 
in  der  Personen  von  rätselhaften,  scheinbar  unverdienten  Schicksalen 
betroffen  werden,  die  sich  nachher  doch  als  gerecht  herausstellen, 
hat  spezifisch  jüdischen  Charakter  und  mehrere  jüdische  Parallelen 
(Perles  S.  123 ;  vgl.  auch  den  Hinweis  auf  Koran,  Sure  18 ;  Gesta 
Romanorum  c.  80).  No.  16  „Der  Fährmann  und  der  Eremit"  führt 
uns  freilich  in  asketisch- mönchisches  Milieu  hinein,  doch  ist  eine 
derartige  asketische  Legende  auch  innerhalb  jüdischer  Überlieferung, 
keine  Unmöglichkeit.  Schon  bei  Josephus  finden  wir  bekanntlich 
die  Erzählung  von  dem  Eremiten  Banns.  Als  vorletzte  Nummer 
(17)  steht  unsere  Erzählung,  die  wir  sogleich  behandeln  werden. 
Interessant  und  merkwürdig  ist  endlich  auch  No.  18  von  dem 
Wunderwesen  Abu  Dschaafar,  dem  Aussätzigen,  bei  dessen  Namen 
man  um  Regen  bittet,  unter  dessen  Segen  die  Gebete  erhört  werden. 
Wir  erinnern  uns  daran,   daß  in  späterer  jüdischer  Überlieferang 


1)  Wir  stoßen  hier  auf  ein  bekanntes  Motiv,  das  ausführlich  von  Reitzen- 
stein  in  seinem  neusten  Werk  Historia  Monachonim  und  Historia  Lausiaca  1916, 
Kap.  3,  S.  34  ff.  behandelt  ist :  Die  Erzählung  vom  scheinbaren  Weltmenschen, 
der  insgeheim  die  Asketen  an  Frömmigkeit  übertrifft.  Dasselbe  Motiv  entdecken 
wir  übrigens  bereits  in  der  Geschichte  vom  Schmied,  der  feurige  Kohlen  anfassen 
konnte,  (s.o.)  Der  Fromme,  der  den  Schmied  kennen  lernt,  um  hinter  das  Geheimnis 
seiner  wunderbaren  Gabe  zu  kommen,  wundert  sich,  daß,  obwohl  er  ihn  Tag  und 
Nacht  beobachtet,  er  doch  keine  Zeichen  besonderer  Frömmigkeit  an  ihm  zu  ent- 
decken vermag,  und  läßt  sich  endlich  von  diesem  die  Geschichte  seiner  Vergangen- 
heit erzählen.  Bei  Wege  lang  verweise  ich  noch  auf  eine  jüdische  Parallele  bei 
Wünsche,  aus  Israels  Lehrhallen  IV  133  ff.  (Dreizehn  ethische  Erzählungen  IV.): 
die  Geschichte  von  dem  frommen  Mann  und  dem  Fleischhauer. 


die  Geschichte  eines  Wiedererkennungsmärchens.  487 

der  Name  des  „Aussätzigen"  für  den  jüdischen  Messias  anftaucht. 
Von  den  noch  nicht  behandelten  Nnmmem  enthalten  13  nnd  14 
echt  islamitische  Bekehrungsgeschichten ,  die  vielleicht  an  Stelle 
jüdischer  Bekehrungsgeschichten  traten,  jedenfalls  auf  eine  isla- 
mitische Bearbeitung  unseres  Legendenkreises  hinweisen.  Und  dieser 
Bearbeitung  mag  denn  auch  die  Anekdote  von  dem  Perserkönig 
Kosroes  Nusherwan  (zweite  Hälfte  des  6.  Jahrhunderts),  die  sich 
(Nr.  4)  zur  Alexanderlegende  in  unserer  Sammlung  hinzugefunden 
hat,  entstammen.  Die  Behauptung  aber,  daß  in  diesem  Stück  von 
1001-Nacht  eine  jüdische  Geschichtensammlung  vorliegt, 
scheint  mir  durch  das  vorliegende  Beweismaterial  außer  allen 
Zweifel  gestellt  zu  sein. 

Als  vorletzte  dieser  interessanten  Reihe  von  Erzählungen  steht 
die  uns  interessierende  ,,Ein  frommer  Israelit,  der  Weib  und  Kinder 
wiederfand".  Ein  frommer,  angesehener  Israelit  läßt  auf  dem  Toten- 
bett seinen  Sohn  schwören,  daß  er  niemals  einen  Eid  ablegen  wolle. 
Der  Sohn  hält  den  Schwur,  aber  seine  Umgebung  macht  sich  das 
in  der  schon  bekannten  Weise  zu  nutze,  bis  jener,  in  der  Befürchtung 
gänzlich  zu  verarmen,  mit  seiner  Frau  und  seinen  zwei  Knaben 
auszuwandern  beschließt.  Sie  besteigen  ein  Schiff,  aber  das  Schiff 
geht  zu  Grrunde,  und  die  gesamte  Familie  wird  getrennt.  Der  Mann 
wird  vom  Meer  an  das  Ufer  geschleudert;  er  bittet  Gott  dreimal 
nm  Hilfe  in  seiner  Not,  jedesmal  bei  seinem  Gebete  steigen  Tier- 
erscheinungen aus  dem  Meere  auf,  schließlich  offenbart  ihm  ein 
Engel,  daß  auf  der  Insel  reiche  Schätze  zu  heben  seien.  Der  Kauf- 
mann hebt  den  Schatz,  läßt,  als  Schiffe  bei  der  Insel  landen,  Leute 
kommen,  welche  die  Insel  besiedeln,  und  wird  dort  König.  Die 
Frau,  die  an  einen  anderen  Strand  getrieben  war,  kommt  zu  einem 
Kaufmann,  der  ihr  sein  Hab  und  Gut  anvertraut  und  mit  ihr 
einen  Bund  macht,  daß  er  nicht  Verrat  an  ihr  üben  und  sie  mit 
Liebesanträgen  belästigen  wolle.  Die  beiden  Brüder,  die  ebenfalls 
von  einander  getrennt  waren,  treten  unerkannt  und  sich  unter- 
einander nicht  bekannt,  nach  einander  in  den  Dienst  des  Vaters. 
Auch  der  Kaufmann  hört  von  dem  Inselkönig,  rüstet  ein  Schiff 
aus  und  fährt  mit  der  Frau  dorthin,  überbringt  dem  König  ein 
Geschenk  und  erzählt  ihm  von  der  frommen  Frau,  deren  Gebete 
ihm  Segen  gebracht  haben.  Der  König  erklärt  sich  bereit,  zuver- 
lässige Leute  zu  senden,  welche  die  Frau  auf  dem  Schiffe  be- 
wachen sollen;  er  schickt  die  beiden  jungen  Männer,  die  bei  ihm 
in  den  Dienst  getreten  sind.  Diese  lassen  sich  auf  dem  Schiffe 
nieder  und  beginnen,  um  sich  die  Müdigkeit  zu  vertreiben,  ihre 
Geschichte  zu  erzählen ;  die  Erzählung  führt  zum  Wiedererkennen 

34* 


488  W.  Bousset, 

der  Brüder,  die  Mutter  hat  ebenfalls  alles  mit  angehört;  sie  gibt 
sich  ihnen  zunächst  aber  nicht  zu  erkennen,  erdichtet  vielmehr 
eine  falsche  Anklage  gegen  die  beiden  Brüder  ^) ;  der  König  läßt 
alle  vor  sich  kommen  und  die  Mutter  verlangt,  daß  die  Brüder 
noch  einmal  ihre  Greschichte,  die  sie  in  der  Nacht  erzählten,  vor- 
bringen. Da  erkennt  der  König  seine  Söhne,  und « auch  die  Mutter 
gibt  sich  zu  erkennen. 

5.  Eine  mit  der  jüdischen  Erzählung  in  ihrer  ersten  Form 
eng  verwandte  Geschichte  hat  sich  in  mündlicher  Überlieferung 
bei  einem  algerischen  Kabylenstamm  erhalten ;  sie  findet  sich  unter 
dem  Titel  „Die  Erzählung  von  dem  Holzhacker  und  dem  Mozabi- 
ten"  bei  Graltier,  contribution  ä  l'ötude  de  la  litterature  arabe- 
copte  im  Bulletin  de  l'Institut  fran9ais  d'archöologie  Orient.  IV 
1905  pag.  170 — 173  (dort  ganz  ohne  Beweis  als  Abkömmling  der 
Placidas-Legende  behandelt).  Ein  armer  Holzhacker  hat  eine  Frau 
und  zwei  Söhne.  Seine  Frau  verkauft,  als  Negerin  bemalt  und 
verkleidet,  um  ihrerseits  Unterhalt  für  die  Familie  zu  verschaffen, 
Artischocken.  Ein  mozabitischer  Handelsherr,  der  ihre  Schönheit 
trotz  ihrer  Maske  erkennt,  lockt  sie  mit  List  auf  sein  Schiff  und 
fährt  mit  ihr  von  dannen ;  der  Vater  begibt  sich  mit  seinen  Söhnen 
auf  die  Suche;  wie  sie  an  einen  Fluß  kommen,  trägt  er  den  einen 
Sohn  herüber,  wird  aber,  wie  er  zurückkehrt,  um  den  zweiten  zu 
holen,  von  den  Fluten  fortgerissen  und  an  einer  anderen  Stelle 
ans  Land  getrieben.  Die  beiden  durch  den  Fluß  getrennten  Söhne 
nehmen  von  einander  Abschied  und  gehen  jeder  seinen  eigenen 
Weg.  Der  Vater  kommt  in  eine  fremde  Stadt  und  wird  dort 
König.  Als  er  sich  gezwungen  sieht,  einen  Kadi  abzusetzen,  und 
einen  Ersatz  für  diesen  sucht,  werden  ihm  zwei  geeignete  junge 
Leute  herbeigeführt,  einer  vom  Osten  und  einer  vom  Westen;  er 
setzt  sie  beide  in  die  Würdestellung  ein,  ohne  daß  er  seine  beiden 
Söhne  erkennt.  Mittlerweile  kommt  auch  der  Mozabit  mit  der  ent- 
führten Frau,  auch  hier  weigert  sich  dieser  trotz  Einladung  des 
Königs,  seine  Barke  ohne  Bewachung  zu  verlassen,  auch  hier 
werden   die  beiden  Brüder  aufs  Schiff  gesandt,   erzählen  sich  ihre 


1)  Infolge  der  Ueberarbeitung  des  ursprünglichen  Typus  ist  dieser  Sonder- 
zug schlecht  motiviert.  Das  hängt  damit  zusammen,  daß  der  Kaufmann  in  dieser 
Variante  die  bösen  Züge  des  Schiffsherrn  in  der  Placidas-Legende  und  des  Magiers 
in  der  vorigen  Erzählung  verloren  hat.  So  kann  der  natürliche  Abschluß  der 
ursprünglichen  Erzählung,  die  Herbeiführung  einer  Gerichtsverhandlung  vor  dem 
König,  durch  List  und  der  dadurch  erfolgende  Anagnorismos  nebst  Entlarvung 
des  Bösewichts,  nicht  erzielt  werden.  An  Stelle  der  Anklage  des  Magiers  ist  die 
schlecht  motivierte  Anklage  der  Söhne  durch  die  Mutter (I)  getreten. 


die  Geschichte  eines  Wiedererkennungsmärchens.  489 

Geschichte  und  erkennen  sich  gegenseitig,  während  ihre  Mutter 
alles  hinter  der  Tür  ihres  Gemaches  gehört  hat  und  bitterlich  zu 
weinen  beginnt.  Währenddessen  kehrt  der  Mozabit  zurück,  die 
Mutter  beschuldigt  die  Brüder  listig,  daß  sie  die  Pforte  zu  ihrem 
Gemach  haben  sprengen  wollen.  So  kommt  auch  hier  die  Sache 
vor  den  König  und  es  folgt  die  große  Wiedererkennungsszene. 

6.  Des  vollständigen  Überblicks  halber  bringe  ich  unter  den 
Nummern  6 — 8  noch  einige  Erzählungen  aus  der  lÜOl-Nacht-Über- 
lieferung,  in  denen  allerdings  der  gemeinsame  Grundt\'p  bereits 
arg  entstellt  ist,  so  daß  man  an  ihrer  Zugehörigkeit  zu  unserer 
Gruppe  starke  Zweifel  hegen  kann.  Durch  Viktor  Chauvins  vor- 
treffliches Werk,  Bibliographie  des  ouvrages  arabes  (Bd.  VI  p.  165) 
wurde  ich  auf  die  Geschichte  Cogia  Muzaffer,  deren  Erhaltung  wir 
Galland  verdanken,  aufmerksam.  Diese  hat  zunächst  einen  voll- 
ständig fremden  Anfang,  welcher  seinerseits  in  Übereinstimmung 
mit  der  Erzählung  vom  Prinzen  von  Carizme  (Chauvin  VII  p.  74) 
steht.  Cogia  Muzaffer  kommt  in  ein  Land,  dessen  König  gerade 
gestorben  ist  und  wird  als  das  erste  Individuum,  das  sich  darbietet, 
zum  König  eingesetzt  (vgl.  o.  S.  474,  475).  Er  bekommt  eine  Frau,  und 
als  diese  stirbt,  wird  er  der  Landessitte  gemäß  in  einem  unter- 
irdischen Verließ  eingesperrt  und  dort  ernährt :  er  findet  dort  eine 
Frau,  welche  ebenfalls  dort  eingeschlossen  ist,  weil  sie  ihren 
Gatten  überlebt  hat,  heiratet  sie  und  bekommt  mit  ihr  zwei  Söhne. 
Es  gelingt  ihm,  sich  mit  seiner  Familie  aus  dem  Verließ  zu  be- 
freien, und  damit  sind  wir  an  dem  Punkt  angelangt,  wo  die  Pa- 
rallele mit  dem  Prinzen  von  Carizme  aufhört  und  der  Einfluß 
unseres  Wiedererkennungsmärchens  sichtlich  beginnt.  Seine  Frau, 
die  am  L'^fer  des  Meeres  Kleider  wäscht,  wird  von  Piraten  geraubt. 
Muzaffer  macht  sich  mit  seinen  zwei  Knaben  auf  die  Suche,  ein 
Wolf  raubt  ihm  den  einen  der  beiden  Kjiaben,  als  er  mit  dem 
anderen  einen  Fluß  überschreiten  will,  wird  ihm  dieser  vom  Strom 
entrissen.  Der  eine  Knabe  wird  von  Hirten,  die  ihn  dem  Wolfe 
entreißen,  aufgezogen;  der  andere  von  einem  Fischer  aus  dem 
Strome  aufgefischt.  Der  König  irrt  lange  Zeit  elend  umher,  bis 
er  in  eine  Stadt  kommt,  wo  er  sich  in  den  Dienst  eines  Kauf- 
manns stellt.  Dieser  Kaufmann  aber  ist  gerade  seine  Frau,  die 
sich  als  Mann  verkleidet  und  einen  Handel  begonnen  hat.  Seine 
Söhne  sind  mittlerweile  Gouverneur  und  Kadi  in  derselben  Stadt 
geworden.  —  Man  sieht,  am  Ende  weicht  die  Erzählung  wieder 
stark  ab,  sie  wird  auch  hier  durch  die  Geschichte  des  Prinzen  von 
Carizme  beeinflußt  sein,  in  welcher  der  Mann  ebenfalls  nach  langen 
Irrfahrten  zu   einem  Reiche  kommt,   dessen  Königin   seine  Frau 


490  W.  Bousset, 

geworden  ist.  Endlich  weise  ich  noch  auf  die  Geschichte  aus  der 
Sammlung  der  40  Vesire  hin,  die  Chauvin  VII  76  als  Parallele 
neben  die  des  Prinzen  von  Carizme  stellt.  Wer  sich  dafür  inter- 
essiert, mag  dort  selbst  nachsehen,  wie  in  dieser  aus  den  ver- 
schiedensten Motiven  zusammengewobenen  Erzählung  hier  und  da 
auch  die  uns  bekannten  Motive  wieder  anklingen. 

7.  Eine  weitere  Parallele  findet  sich  wiederum  innerhalb  eines 
für  sich  stehenden  Stückes  der  1001-Nacht-Uberlieferung,  nämlich 
in  der  Greschichte  von  den  10  Vesiren  und  dem  König  Asäd  Bacht, 
auf  das  bereits  als  auf  ein  Seitenstück  zu  der  Greschichte  des 
Königs  Schah  Bacht  und  seines  Vesirs  hingewiesen  wurde  ^).  Ich 
erinnere  auch  hier  zunächst  kurz  an  den  Gang  der  Rahmenerzählung. 
Ein  König,  dessen  Name  Asäd  Bacht  war  und  dessen  Reich  sich 
von  den  Grenzen  Hindustans  bis  zum  Meer  erstreckt,  wird  von 
seinem  Yesir  vertrieben.  Er  flieht  mit  seiner  Frau  in  die  Wüste 
und  dort  gebiert  sie  ihm  auf  der  Flucht  ein  Knäbchen,  das,  nach- 
dem die  Mutter  ihn  in  einen  Rock  aus  golddurchwirktem  Brokat 
gewickelt  hat,  in  der  Wüste  zurückgelassen  und  von  Räubern  ge- 
funden und  aufgezogen  wird.  Später  nimmt  der  König  sein  Reich 
wieder  ein.  Eine  Schar  von  Räubern  wird  in  seinem  Reich  auf- 
gegriffen und  niedergemacht,  dabei  wird  auch  der  Prinz,  der 
bei  ihnen  weilt,  gefangen  und  zum  König  gebracht.  Dieser  ge- 
winnt Wohlgefallen  an  ihm  und  setzt  ihn  über  seine  Schatz- 
kammern, zum  Arger  und  Neide  der  Vesire  des  Königs.  Da  ver- 
irrt sich  der  Jüngling  in  der  Trunkenheit  in  das  Schlafgemach  der 
Königin,  in  der  Abwesenheit  dieser,  und  wird  vom  König  hier 
entdeckt.  Nun  fordern  die  Vesire  seinen  Tod;  und  einer  nach 
dem  anderen  tritt  gegen  ihn  auf.  Der  Jüngling  aber  rettet  sich 
von  einem  Tag  zum  anderen  durch  eine  amüsante  Geschichte,  bis 
schließlich,  in  dem  Augenblick,  da  er  ans  Kreuz  hinaufgezogen 
werden  soll,  der  Räuberhauptmann,  der  ihn  in  der  Wüste  fand, 
erscheint  und  so  die  Wiedererkennung  (Erkenntnismerkmal  der 
brokatene  Rock,  in  den  der  Knabe  gewickelt  war)  herbeiführt. 


1)  Die  Geschichte  von  den  10  Vesiren  steht  in  der  „orientalischen"  Rezen- 
sion Zotenbergs  (s.o.S.  472  A.  2)  (im  Codex  Paris.  Bibl,  Nat.  2522,  23  Suppl.  arabe  — 
vgl.  auch  Codex  1716  —  als  vorletzte  Nummer  vor  dem  großen  Ritterroman  'Omar 
al-Na'män;  Zotenberg  a.  a.  0.  204.  206),  dagegen  nicht  in  der  jüngeren  ägyptischen 
Rezension.  Wir  begegnen  ihr  außerdem  als  No.  1  in  dem  ganz  singulären  Codex 
der  Pariser  National-Bibliothek  1723  (Zotenberg  a.  a.  0.  205,  als  No.  2  folgt  die 
bekannte  Achikar-Legende),  endlich  auch  in  der  Breslauer  Ausgabe  Vol.  X.  Gaster 
(Journ.  R.  As.  Soc.  1893  p.  870)  erklärt  sie  für  nachweisbar  indischen  Ursprungs. 
Ueber  weitere  Bearbeitungen  s.  ebendort. 


die  Geschichte  eines  Wiedererkennungsmärchens.  491 

Innerhalb  dieser  Rahmenerzählung,  die  ja  selbst  eine  Wieder- 
erkennungs-Xovelle  ist  und  deren  eines  Motiv,  der  brokatene  Rock, 
uns  noch  in  einer  mittelalterlichen  Novelle  wiederbegegnen  wird, 
findet  sich  eine  Geschichte,  die  in  unseren  Kreis  hinein  zu  gehören 
scheint.  Sie  steht  bei  Henning  XVIII  S.  48  unter  No.  2  der  Samm- 
lung: „Die  Greschichte  vom  Kaufmann  und  seinen  Söhnen",  und 
wird  hier  (nach  der  Breslauer  Ausgabe)  etwas  anders  erzählt  wie 
in  dem  Überblick  bei  Chauvin  I  VI  166  f.  Ich  gebe  den  Gang  der 
Erzählung  nach  den  beiden  Rezensionen  (A.  gleich  Breslauer  Aus- 
gabe; B.  gleich  Chauvin).  Es  war  einmal  ein  reicher  Kaufmann 
(nach  B.  ein  Javelier),  dessen  Weib  schwanger  war.  Er  nimmt 
nach  A.  Abschied  von  seiner  Frau  und  durchreist  die  Lande,  bis 
er  zu  einem  König  kommt,  der  ihn  in  Staatsgeschäften  anstellt, 
während  er  nach  B.  von  einem  König  an  den  Hof  gerufen  wird, 
um  den  Einkauf  seiner  Juwelen  zu  überwachen,  und  dort  acht  Jahre 
bleibt.  Mittlerweile  gebiert  die  Frau  Zwülinge;  nach  ß.  schreiben 
die  Zwillinge,  als  sie  herangewachsen  sind,  dem  Vater  einen  so 
netten  Brief,  daß  die  Sehnsucht  nach  seiner  Familie  bei  ihm  er- 
wacht. Da  der  König  ihn  nicht  entlassen  will,  bekommt  er  die 
Erlaubnis,  Weib  und  Kinder  holen  zu  lassen,  fährt  ihnen  jedoch 
heimlich  entgegen.  Nach  A.  bekommt  die  Frau  Sehnsucht  nach 
ihrem  Manne  und  beschließt,  da  sie  seinen  Aufenthaltsort  erfahren 
hat,  ihn  aufzusuchen,  während  gleichzeitig  der  Kaufmann  sich  vom 
König  Urlaub  geben  läßt,  um  seine  Familie  zu  holen.  Sie  treffen 
sich  unerkannt  auf  einer  Insel.  Nach  B.  badet  der  Kaufmann  im 
Meer  und  verliert  dabei  seine  Börse,  er  beschuldigt  zwei  Knaben, 
die  in  der  Nähe  sind,  des  Diebstahls,  und  das  sind  natürlich  seine 
Söhne.  Nach  A.  schickt  die  Mutter,  wie  sie  auf  der  Insel  erfährt, 
daß  ein  Schiff  aus  jenem  Lande,  in  dem  der  Vater  weilt,  ange- 
kommen sei,  ihre  beiden  Knaben  aus,  um  sich  nach  diesem  zu  er- 
kundigen. Die  Knaben  fangen  an,  beim  Schiff  zu  spielen  und  Lärm 
zu  machen.  Der  Vater  erhebt  sich,  aus  dem  Schlafe  gestört,  um 
Ruhe  zu  gebieten  und  verliert  dabei  seinen  Geldbeutel  in  dem 
Warenballen.  Er  beziehtet  die  Knaben  des  Diebstahls.  Jedenfalls 
ist  beide  mal  das  Resultat,  daß  er  die  Knaben  (nach  A.  an  ein 
Ilohrbündel  gebunden)  ins  Meer  wirft.  Wie  nun  die  Frau  kommt, 
um  ihre  Kinder  zu  suchen,  erkennen  Mann  und  Frau  sich  gegen- 
seitig und  machen  sich  klagend  auf  die  Suche  nach  den  verlorenen 
Kindern.  Das  eine  der  beiden  Kinder  wird  an  einen  Strand  ge- 
trieben, von  einem  König  an  Sohnes  statt  aufgenommen  und  folgt 
diesem  nach  dessen  Tod  auf  den  Thron.  Den  zweiten  Knaben 
findet    der  Vater    eines   Tages   auf   dem   Markt,    im  Besitz  eines 


492  W.  Bousset, 

Sklavenhändlers,  erkennt  und  befreit  ihn.  Dieser  zweite  Sohn  be- 
gibt sich  dann  auf  Reisen  und  kommt  eines  Tages  in  die  Stadt, 
wo  sein  Bruder  König  ist.  Dieser  zieht  ihn,  durch  die  Bande  des 
Blutes  geleitet,  an  den  Hof  und  gibt  ihm  einen  hohen  Rang.  Es 
gelingt  aber  Neidern,  ihn  bei  seinem  Bruder  zu  verdächtigen,  als 
trachte  er  ihm  nach  dem  Leben;  er  wird  zum  Tode  verurteilt, 
aber  der  Bruder  schiebt  seine  Hinrichtung  von  einem  Tage  zum 
anderen  auf.  Endlich  hören  die  Eltern  von  dem  Greschick  ihres 
Sohnes  und  begeben  sich  an  den  Hof,  der  Vater  warnt  den  König, 
doch  nicht  unbedacht  zu  handeln,  er  habe  in  seiner  Unbedachtsam- 
keit eins  seiner  beiden  Kinder  verloren.  So  erzählt  er  dem  König 
seine  ganze  Greschichte,  und  die  Wiedererkennung  ist  herbeigeführt. 
Man  kann  in  der  Tat  zweifelhaft  sein,  ob  die  Greschichte  in  den 
Umkreis  dieser  Erzählungen  überhaupt  hineingehört.  Immerhin 
kann  man  mit  einiger  Wahrscheinlichkeit  vermuten,  wie  sie  etwa 
aus  jenem  zugrunde  liegenden  Urtyp  entstanden  sein  könnte.  Die 
Geschichte  hat  eine  bestimmte  Tendenz,  die  sie  mit  allen  in  jene 
Rahmenerzählung  verwobenen  gemeinsam  trägt;  sie  will  eine 
Warnung  sein  für  ein  allzu  rasches  und  unbedachtes  Handeln.  So 
können  wir  begreifen,  daß  der  bekannte  Zug  von  dem  Vater,  dem 
seine  Kinder  durch  den  Strom  entrissen  werden,  hier  in  das  Motiv 
umgewandelt  erscheint,  daß  der  Vater  seine  beiden  Söhne  selbst 
ins  Meer  wirft.  Das  Motiv,  daß  die  beiden  Söhne  unerkannt  in 
den  Dienst  des  Vaters  als  Pagen  treten,  ist  hier  durch  das  andere 
ersetzt,  daß  der  eine  Bruder  unerkannt  Hofbeamter  des  anderen 
wird.  Während  in  dem  Urbild  der  ins  Elend  geratene  Vater  den 
Königsthron  wunderbar  gewinnt,  ist  es  hier  der  Sohn,  der  zu  dieser 
Ehre  aufsteigt.  Das  Geschick  •  der  Frau  hat  das  Interesse  des  Er- 
zählers nicht  mehr  erregt  und  ist  ganz  und  gar  in  den  Hintergrund 
getreten.  So  könnte  man  diese  Erzählung  aus  dem  gemeinsamen 
Urbild  ableiten,  es  soll  darauf  jedoch  kein  Gewicht  gelegt  werden. 
8.  In  der  Sammlung  der  Geschichte  der  zehn  Vesire  steht 
seltsamer  Weise  neben  der  eben  beigebrachten  Erzählung  eine 
andere,  die  ebenfalls  in  diesen  Kreis  gehören  könnte.  Sie  handelt 
von  dem  Dorfschulzen  Abu  Sahir  (Geduldsvater).  Sie  ist  von  hier 
aus  auch  übergegangen  in  den  Giami-ul  hikayat  (Hammer,  Rosen- 
oel  II  281 — 283)  und  in  die  türkische  Redaktion  der  Erzählung 
von  den  40  Vesiren  (genauere  Literaturangaben  bei  Gaster,  Jour- 
nal of  royal  Asiatic  soc.  1893  p.  869  f.,  dem  ich  diese  Parallele  ver- 
danke). Ich  erzähle  nach  Hennings  Übersetzung  (aus  der  Breslauer 
Ausgabe  XVIII  55  if.)  Abu  Säbir  ist  ein  Dorfschulze,  der  alle 
Ereignisse   seines  Lebens   mit  Ruhe  und  Geduld   hinnimmt.     Sein 


die  Geschichte  eines  Wiedererkennungsmärchens.  493 

Vieh  vdrd  von  Löwen  zerrissen.  Der  Sultan  läßt  sein  Dorf  plün- 
dern, sein  Hab  und  Gut  wird  ihm  geraubt,  schließlich  wird  er  aus 
dem  Dorf  vertrieben.  Er  flieht  mit  seiner  Frau  und  seinen 
beiden  Knaben  in  die  Steppe.  Hier  werden  sie  von  Räabem 
ausgeraubt,  die  ihnen  ihre  Sachen  vom  Leibe  ziehen  und  die  beiden 
Knaben  rauben.  Seine  Frau  wird  von  einem  Reitersmann  entführt. 
Er  bleibt  bei  alledem  geduldig  und  ergeben,  bis  er  nach  ver- 
schiedenen unglücklichen  Zwischenfällen,  die  uns  hier  nicht  weiter 
angehen,  infolge  einer  Verwechselung  durch  die  Ähnlichkeit  mit 
dem  Bruder  des  Königs  selbst  König  wird.  Er  bekommt  Frau  xind 
Kinder  wieder  und  vermag  sich  an  seinen  Feinden  und  Übeltätern, 
die  zu  gegebener  Zeit  alle  in  sein  Reich  kommen,  zu  rächen.  Es 
läßt  sich  nicht  leugnen,  auch  diese  Greschichte,  bei  der  ein  einziges 
Motiv,  nämlich  das  der  unbezwingbaren  Geduld  (vgl.  das  Hiobsmotiv 
in  der  Placidas-Legende),  das  allein  herrschende  geworden  ist,  zeigt 
doch  eine  gewisse  Verwandtschaft  mit  unserem  Typus.  Wir  werden 
eine  solche  überhaupt  überall  da  anzunehmen  geneigt  .sein,  wo  Vater. 
Matter  und  zwei  Söhne  als  Träger  der  Erzählung  erscheinen. 


in. 

Es  wird  sich  nun  darum  handeln,  das  Verhältnis  zwischen  der 
Placidas-Legende  und  den  orientalischen  Erzählungen,  namentlich 
No.  1  bis  5  festzulegen.  Monteverdi,  dem  wir,  wie  gesagt,  die 
fleißige  Sammlung  des  Stoffes  mit  wenigen  Ausnahmen  verdanken, 
hat  die  erstaunliche  und  durch  keine  wirklich  ernsten  Beweise  ge- 
stützte Behauptung  aufgestellt,  daß  nicht  nur  die  noch  weiter 
unten  zu  besprechenden  vielen  mittelalterlichen  Erzählungen, 
sondern  auch  diese  sämtlichen  orientalischen  Stücke  ihre  einzige 
und  letzte  Wurzel  in  der  Placidas-Legende  hätten.  Es  wird  meine 
Aufgabe  sein,   den  Beweis  für  das  strikte  Gegenteil  zu  erbringen. 

Von  einem  Punkt  wird  man  bei  dieser  Untersuchung,  wie  über- 
haupt bei  derartigen  folkloristischen  Abhängigkeits-Erwägungen, 
nicht  ausgehen  dürfen,  nämlich  von  der  Frage  nach  der  äußerlichen 
Bezeugung  des  Alters  der  einzelnen  Erzählung.  Monteverdi 
freilich  argumentiert  p.  185  seiner  Untersuchungen  etwa  folgender- 
maßen: Die  Placidas-Legende  stamme  spätestens  aus  dem  8.  Jahr- 
hundert, denn  sie  sei  schon  von  Johannes  Damascenus  bezeugt,  der 
jüdische  Dekalog-Midrasch  datiere  aus  dem  zehnten  Jahrhundert, 
noch  beträchtlich  jünger  seien  die  1001  -  Nacht  -  Erzählungen,  und 
damit  sei  die  Priorität  der  Placidas-Legende  wahrscheinlich  gemacht. 


494  W.  Bousset, 

Solche  Erwägungen  beweisen  rein  garnichts.  Ich  verweise  hier 
zum  Beweise  auf  ein  besonders  markantes  Beispiel  für  die  Torheit 
derartiger  Alterserwägungen :  die  jüngst  bekannt  gewordene  Über- 
lieferung der  Achikar-Legende.  Mit  deren  Überlief erungs Verhält- 
nissen hat  es  eine  ähnliche  Bewandtnis  wie  mit  dem  orientalischen 
Zweig  unserer  Erzählung.  Sie  ist  uns  in  einer,  resp.  zwei  Recen- 
sionen  von  1001-Nacht  erhalten,  dann  in  einem  syrischen,  in  einem 
armenischen  und  slavonischen  Text.  Keinen  dieser  Texte  können 
wir  mit  Sicherheit  vor  dem  ersten  christlichen  Jahrtausend  an- 
setzen. Allerdings  läuft  daneben  noch  eine  stark  abweichende 
griechische  parallele  Überlieferung,  die  unter  die  Texte  des  Aesop 
geraten  ist  und  die  nach  einem  rein  äußerlichen  Altersbeweis  un- 
bedingt als  die  ältere  anzusehen  wäre.  Nun  aber  hat  es  sich  in 
der  Untersuchung  herausgestellt,  daß  nicht  nur  die  griechische  Über- 
lieferung gegenüber  der  orientalischen  entschieden  sekundär  ist, 
sondern  auch,  daß  jenes  orientalische  Märchen  bereits  dem  Ver- 
fasser des  jüdischen  Tobit-Buches  bekannt  war;  ja  neuerdings  so- 
gar, daß  wir  es  hier  mit  einer  Erzählung  zu  tun  haben,  die  in 
ihren  Grundzügen  schon  den  ägyptischen  Juden  in  Elephantine  im 
fünften  vorchristlichen  Jahrhundert  bekannt  war!  Man  sieht  aus 
diesem  Beispiel,  was  für  falsche  Schlüsse  bei  einer  rein  äußerlichen 
Betrachtung  der  Überlieferungszeit  derartiger  Erzählungen 
heraus  kommen  können.  Es  wird  sich  vielmehr  rein  unter  dem 
Gesichtspunkt  der  äußeren  Überlieferung  a  priori  sagen  lassen,  daß, 
wenn  eine  Erzählung  sich  einerseits  in  einer  christlichen  Legende 
—  sagen  wir  einmal  ruhig  des  fünften  oder  sechsten  Jahrhunderts  — 
findet,  andererseits  in  mehreren  Erzählungen  von  1001-Nacht  in 
einer  doppelten  jüdischen,  in  armenischer  und  kabylischer  Über- 
lieferung, es  dann  sicher  ist,  daß  die  christliche  Legende  nicht  der 
gemeinsame  Ursprungspunkt  für  eine  derartige  weitverzweigte 
Überlieferung  ist.  Es  kommt  noch  die  Erwägung  hinzu,  daß  sich 
unsere  Erzählung  in  kleineren  Sammlungen  findet,  die  älter  sind 
als  die  1001 -Nacht-Redaktion,  die  von  dieser  als  ganze  aufgenommen 
wurden  und  nach  übereinstimmendem  Urteil  der  Forscher,  was  we- 
nigstens die  Rahmenerzählung  und  auch  die  große  Menge  der  Einzel- 
erzählungen betrifft,  aus  dem  persisch-indischen  Orient  stammen.  Wir 
stießen  auf  nicht  weniger  als  drei  derartige  Sammlungen:  die  Er- 
zählung vom  Schah  Bacht,  von  den  zehn  Vesiren  und  endlich  jene 
ältere  jüdische  Legendensammlung. 

Wir  werden  also  jene  äußere  Führung  des  Altersbeweises,  wie 
ihn  Monteverdi  noch  ganz  naiv  zu  geben  versucht,  unbedingt  auf- 
geben müssen.    Bei  derartigen  Untersuchungen  kann  nur  die  innere 


die  Geschichte  eines  "Wiedererkennungsmärchens.  495 

Wahrscheinlichkeit,  die  Anlage  der  Erzählung  ihrem  ganzen  Ver- 
laufe nach,  wie  auch  in  ihren  Einzelzügen  und  Einzelmotiven,  ent- 
scheiden, und  sie  entscheidet  hier  tatsächlich.  Von  einfach  durch- 
schlagender Bedeutung  ist  es,  daß  wir,  wie  schon  nachgewiesen 
wurde,  in  der  Placidas -Legende  eine  Kombination  von  drei  Er- 
zählungen vor  uns  haben,  deren  mittlere  unser  Wiedererkennungs- 
märchen  darstellt.  In  allen  übrigen  Parallelen  tritt  diese  mittlere 
Partie  rein  und  losgelöst  heraus.  Auch  nicht  der  Schatten  einer 
Parallele  zu  den  übrigen  Bestandteilen  der  Placidas-Legende  be- 
gegnet uns  in  irgend  einer  der  hier  zusammengestellten  Nummern. 
Damit  allein  ist  schon  der  Beweis  für  den  sekundären  Charakter 
der  Placidas-Legende  geliefert.  Neuerdings  hat  Cosquin  (le  Prologue- 
cadre  de  mille  et  une  nuits,  Paris  1909)  in  einer  vortrefflichen  Unter- 
suchung den  Nachweis  geführt,  daß  die  berühmte  Rahmenerzählung 
der  1001 -Nacht  aus  drei  verschiedenen  Erzählungen  zusammen- 
gewoben sei,  die  sich  sämtlich  einzeln  als  Erzählungen  von  letztlich 
indischer  Herkunft  nachweisen  lassen.  Niemand  wird  bei  der  Dar- 
legung dieses  Tatbestandes  zweifeln,  daß  die  Einzelerzählungen  das 
ursprüngliche  Material  darstellen  und  die  Kompilation  der  1001- 
Nacht  sekundären  Charakter  haben;  genau  so  liegen  auch  bei  uns 
die  Verhältnisse.  Man  kann  ja  letztlich  eine  abstrakte  Möglichkeit 
nicht  abweisen,  daß  durch  Zufall  aus  der  kompillierten  Placidas- 
Erzählung  sich  die  mittlere  Partie  losgelöst  hätte  und  in  den  Orient 
gewandert  sei,  aber  man  müßte  sehr  starke  Gründe  haben,  um  aus 
dieser  leeren  Möglichkeit  eine  auch  nur  irgendwie  erwähnenswerte 
Wahrscheinlichkeit  zu  machen. 

Diese  Gründe  aber  hat  Monteverdi  nicht  beigebracht,  er  argu- 
mentiert bei  seiner  Untersuchung  in  einer  höchst  oberflächlichen 
Weise  jedesmal,  als  wäre  die  Sache  schon  entschieden,  und  seine 
Argumente  bestehen  meistens  darin,  daß  sich  ein  charakteristischer 
Zug  der  Placidas-Legende  hier  und  da  zerstreut  auch  in  einer  der 
anderen  Erzählungen  wiederfindet.  Als  wenn  sich  diese  Betrach- 
tung nicht  einfach  umkehren  ließe,  und  als  wenn  auf  der  anderen 
Seite  behauptet  würde,  daß  die  Placidas-Legende  aus  einer  einzigen 
jener  beigebrachten  orientalischen  Parallelen  abzuleiten  sei  und 
nicht  aus  der  allen  gemeinsamen  Urquelle. 

Trotzdem  die  Sache  eigentlich  bereits  klargestellt  ist, 
wollen  wir  gegenüber  der  abweichenden  Meinung  Monteverdis  auf 
den  Vergleich  im  einzelnen  eingehen.  Wir  fassen  zunächst  die 
Figur  des  Helden  und  Trägers  der  Novelle  ins  Auge.  In  der  g- 
samten  orientalischen  Überlieferung  herrscht  hier  das  Königsmotiv. 
Es   ist    ein   König,    der    sein  Reich  verliert,    oder  wenigstens    ein 


496  W.  Bousset, 

jüdischer  Kaufmann  oder  ein  armer  Holzhacker,  der  in  wunder- 
barer Weise  König  wird.  Nur  in  der  Legende  ist  der  Held 
ein  Feldherr  des  römischen  Kaisers,  erst  Trajans,  dann  Hadrians. 
Gesetzt  den  Fall,  in  der  Legende  läge  die  ursprüngliche  Erzählung 
vor,  wie  wäre  es  dann  zu  erklären,  daß  das  Motiv  des  in  die  Fremde 
wandernden  und  in  der  Kriegsnot  wiederaufgefundenen  Feldherrn 
in  sämtlichen  Parallelen  so  ganz  und  gar  verschwunden  wäre? 
Bei  der  umgekehrten  Annahme  ist  die  Erklärung  eine  höchst  ein- 
fache. Die  Figur  des  Feldherrn  Trajans  und  Hadrians  ist  durch 
das  christliche  Martyrium  gegeben.  Diese  Figur  hat  in  der  Le- 
gende den  orientalischen  Märchenkönig  verdrängt.  Ferner  ist  die 
Motivierung  des  Sturzes  des  Helden  im  orientalischen  Märchen  eine 
höchst  einfache.  Der  König  wird  eben  von  seinem  Nebenbuhler 
gestürzt  und  verliert  auf  der  Flucht  alles,  was  er  hat,  sein  Grut, 
sein  Weib  und  seine  Kinder.  In  der  jüdischen  Legende  ist  immer 
noch  mit  ausreichend  guter  Motivierung  an  Stelle  des  Königs  der 
Kaufmann  getreten,  der  seinem  Vater  verspricht,  keinen  Eid  zu 
schwören  und  darüber  verarmt.  In  der  kabylischen  Erzählung  ist 
der  Anfang  gestrichen ;  sie  beginnt  einfach  mit  der  Erzählung  von 
dem  armen  Holzhacker.  Wie  künstlich  ist  demgegenüber  die  Moti- 
vierung des  Sturzes  des  Placidas  von  seiner  Höhe.  Aeußerliche 
Unglücksfälle  führen  zunächst  die  Verarmung  des  Helden  herbei 
und  den  Verlust  seiner  Grüter.  Darauf  beschließt  er,  weil  er  sich 
schämt,  sich  nach  seiner  Verarmung  in  seiner  alten  Umgebung 
sehen  zu  lassen,  mit  Weib  und  Kindern  auszuwandern,  und  nun 
erst  erfolgt  der  eigentliche  ßuin.  Das  ist  eine  Kompilation  von 
Motiven  und  nicht  mehr  der  einfache  Märchenstil  des  Orients.  Das 
wird  noch  deutlicher,  wenn  wir  auf  einen  einzelnen  Zug  in  der 
Erzählung  achten.  In  mehreren  unserer  orientalischen  Parallelen 
wird  berichtet,  daß  der  fliehende  König  unterwegs  mit  den  Seinen 
von  Räubern  bis  aufs  Hemd  ausgeraubt  wird.  Diesen  Zug  hat  der 
Verfasser  der  Placidas-Legende  wörtlich  in  seine  Erzählung  auf- 
genommen; er  hat  ihm  aber  nur  sehr  künstlich  eine  Stelle  zu 
schaffen  gewußt,  indem  er  recht  unmotiviert  annimmt,  daß  Pla- 
cidas nach  seinen  ersten  Unglücksfällen  sich  nach  einem  einsamen 
Wohnsitz  —  der  tritt  hier  an  Stelle  der  Wüste  oder  Steppe  des 
orientalischen  Märchens  —  zurückzieht,  um  dort  von  den  Räubern 
ausgeplündert  zu  werden.  Dann  erst  beginnt  die  eigentliche  Flucht 
des  Helden.     Komplikation  über  Komplikation  der  Motive! 

Wir  fassen  weiter  das  Geschick  der  Frau  ins  Auge.  In  dem 
Hauptstrang  der  ursprünglichen  Überlieferung  spielt  der  Schiffs- 
herr, der  Magier  oder  Mozabit,  der  die  Frau  raubt,  eine  dämonische 


die  Geschichte  eines  Wiedererkennungsmärchens.  497 

Rolle;  er  hält  sie.  weil  sie  sich  seinen  Wünschen  nicht  gefügig 
erzeigt,  in  eine  Kiste  eingesperrt,  er  verklagt  die  Brüder,  die  sie 
befreien,  mit  frecher  Stirn  vor  dem  König,  als  hätten  sie  sich  an 
seinem  Eigentum  vergriffen,  und  muß  so  selbst,  als  die  Kraft,  die 
das  Böse  will  und  das  Grute  schafft,  seine  eigene  Entlarvung  und 
die  Wiedererkennung  der  Familie  herbeiführen.  In  der  Placidas- 
Legende  ist  die  Figur  des  Kaufmanns  und  das  Geschick  der  in  die 
Bjste  gesperrten  Frau,  wohl  weil  es  dem  Verfasser  zu  wild  und 
zu  orientalisch  war,  abgemildert.  Der  Schiffsherr  stirbt  sehr  bald, 
und  die  Frau  befindet  sich  bei  der  Wiedererkennung  in  relativ 
günstiger  und  freier  Lage.  Darüber  ist  aber  auch  die  Geschlossen- 
heit in  dem  Aufbau  der  Wiedererkennungsszene  verloren  gegangen. 
Vor  allem  bedarf  es  nunmehr  einer  ganz  neuen  Motivierung  dafür, 
daß  die  ganze  Familie  sich  endgültig  um  den  Vater  sammelt  und 
die  große,  abschließende  Wiedererkennungsszene  erfolgt.  Der  Ver- 
fasser der  Placidas-Legende  muß  sich  dadurch  helfen,  daß  er  erzälilt, 
die  Mutter  habe  sich  zunächst  den  Söhnen  nicht  zu  erkennen  ge- 
geben, sie  sei  dann,  aus  einem  Grande,  der  mit  dem  bisherigen 
gamicht  zusammenhängt,  nämlich  um  sich  ihre  Freiheit  zu  er- 
bitten, zum  römischen  Feldherrn  gegangen  und  habe  nun  zufällig 
in  diesem  ihren  Mann  an  seinen  Narben  entdeckt.  Man  sieht  auf 
den  ersten  Blick,  auf  welcher  Seite  der  verschiedenen  Überlieferun- 
gen die  straffe  und  einfache  Motivierung  der  Erzählung  ist,  und 
wo  durch  künstliche  Motivation  ein  nachträglicher  Znsammenhang 
hergestellt  ist.  Wir  können  zur  Illustration  des  Gesagten  auch 
noch  darauf  hinweisen,  daß  noch  ein  weiterer  Erzähler  unseres 
Märchens  durch  derartige  willkürliche  Abänderungen  an  diesem 
Punkt  in  Verlegenheit  geraten  ist.  In  der  zweiten  jüdischen  Quelle 
ist  die  Figur  des  dämonischen  Kaufmanns  ganz  und  gar  ins  freund- 
liche, biedere  umgezeichnet.  Infolgedessen  fehlt  hier  auch  die 
Motivierung  des  letzten  Anagnorismos.  Allerdings  ist  der  Ver- 
fasser mit  dieser  Schwierigkeit  noch  sehr  viel  schwerer  fertig 
geworden,  als  der  Verfasser  der  Placidas-Legende.  Er  hat  ganz 
sinnlos  die  Rolle  des  falschen  Anklägers  gegen  die  Brüder,  die  in 
der  ursprünglichen  Erzählung  dem  bösen  Kaufmann  zufielen,  auf 
die  Mutter  der  beiden  Brüder  übertragen  I 

Ich  meine,  damit  sollte  die  Sekundarität  der  Placidas-Erzählung 
nach  jeder  Seite  hin  bewiesen  sein.  Ich  bleibe  aber  bei  diesen  Ver- 
gleichen der  Parallelen  unter  einander  noch  ein  wenig  stehen  und 
ziehe  auch  Punkte  heran,  bei  denen  der  Vergleich  nicht  gerade  zu 
Ungunsten  der  Placidas-Legende  ausschlägt.  Ich  tue  das,  um  von 
neuem  an  einem  Beispiel  zu  erhärten,  mit  welcher  Sicherheit  man 


498  W.  Bousset, 

durch  fortgesetzte  Erwägung  der  inneren  Wahrscheinliclikeit  den 
ursprünglichen  Typus  der  Erzählung  und  damit  auch  den  Wert 
der  einzelnen  Überlieferungen  und  ihre  gegenseitigen  Abhängigkeits- 
verhältnisse der  einzelnen  Erzählungen  feststellen  kann.  Ich  hebe 
noch  folgende  Punkte  heraus :  1.  Der  Gang  der  ursprünglichen 
Erzählung  ist  ein  ganz  klarer,  sie  ist  beherrscht  von  dem  soge- 
nannten Hiobsmotiv.  Der  Held  verliert  alles,  was  er  hat,  um 
alles,  so  wie  er  es  hatte,  wieder  zu  gewinnen.  Von  hier  aus  stellt 
es  sich  heraus,  daß  nur  die  Schäh-Bacht-Erzählung,  das  armenische 
Märchen  und  hier  einmal  auch  die  Placidas-Legende  den  ursprüng- 
lichen Charakter  bewahrt  hat.  Es  stellt  sich  ferner  heraus,  daß 
die  beiden  jüdischen  Erzählungen  abgeändert  sind,  denn  hier  ge- 
winnt der  Kaufmann  nicht  nur  was  er  hatte  wieder,  sondern  er 
steigt  darüber  hinaus  zur  Königswürde  empor.  Auch  ist  ja  das 
neue  Motiv  des  verbotenen  Eidschwur s  ein  echt  jüdisches,  und 
einigermaßen  jüdisch  ist  es  auch,  wenn  der  Held  der  Erzählung 
dadurch,  daß  er  einen  Schatz  ausgräbt,  zur  Königswürde  und 
Königsmacht  emporsteigt.  Noch  weiter  entfernt  sich  die  kaby- 
lische  Erzählung  vom  Haupttypus,  denn  sie  setzt  einfach  die  Armut 
des  Helden  der  Erzählung  als  gegeben  voraus.  2.  Die  ursprüng- 
liche Erzählung  ist  auf  die  Idee  angelegt,  daß  sämtliche  Mitglieder 
von  einander  getrennt  werden,  um  sich  sämtlich  wiederzufinden. 
Man  sieht,  daß  unter  diesem  Gresichtspunkt  sofort  die  Schäh-Bacht- 
Erzählung  eine  zur  Tendenz  des  Ganzen  nicht  passende  und  damit 
sekundäre  Fassung  aufweist.  In  ihr  bleiben  die  beiden  Knaben 
ungetrennt.  (Damit  mag  es  auch  wohl  zusammenhängen,  daß  hier 
nicht  wie  in  allen  übrigen  Erzählungen  der  Held  erst  sein  Weib 
und  dann  seine  Kinder  verliert,  sondern  daß  die  Erzählung  in 
umgekehrter  Reihenfolge  verläuft.)  Auch  hier  rächt  sich  die  Will- 
kür in  der  Abweichung  sofort,  und  die  Erzählung  verliert  an  einem 
Punkt  ihre  Durchsichtigkeit  und  Klarheit,  nämlich  da,  wo  die 
Brüder  nun  in  Gegenwart  ihrer  Mutter  sich  ihr  Geschick  zu  er- 
zählen beginnen.  Das  erklärt  sich  gut  nur  unter  der  Voraus- 
setzung, daß  die  Brüder  von  einander  getrennt  waren,  nicht  aber 
unter  der  anderen,  daß  ihr  Geschick  ein  gemeinsames  war.  3.  Sehr 
variabel  ist  die  Behandlung  der  entscheidenden  Erzählung  von  dem 
Verlust  der  beiden  Knaben  in  unseren  Parallelen.  Am  weitesten 
ab  und  für  sich  allein  steht  hier  die  zweite  jüdische  Erzählung. 
Hier  ist  das  Motiv  des  Flußübergangs,  das  sonst  geradezu  ein 
Charakteristikum  unserer  ganzen  Erzäblungsreihe  ist,  vollkommen 
verschwunden  und  durch  das  bekannte  Motiv  des  Schiffbruches  ersetzt. 
Ich  erwähne  das  ausdrücklich,  weil  gerade  unsere  Erzählung  dadurch 


die  Geschichte  eines  Wiedererkennungsmärchens.  499 

eine  Brücke  abgeben  wird,  um  zu  einer  anderen  Erzählung  hinüber- 
zuführen, die  uns  im  Verlauf  unserer  Untersuchung  noch  ausführ- 
lich beschäftigen  soll.  Am  märchenhaftesten  und  deshalb  scheinbar 
am  ursprünglichsten  ist  hier  ausnahmsweise  die  Placidas-Legende, 
Raub  des  einen  Knaben  durch  den  Löwen,  des  anderen  durch  den 
Wolf.  Das  Motiv  des  Raubes  durch  den  "Wolf  ist  der  armenischen 
Überlieferung  erhalten,  die  dann  ihrerseits  den  anderen  Knaben 
durch  den  Fluß  fortreißen  läßt.  In  zwei  anderen  Relationen  spielt 
nur  noch  der  Fluß  die  verhängnisvolle  Rolle  und  in  der  Schäh- 
Bacht- Erzählung  war,  wie  wir  sahen,  das  Motiv  gänzlich  rationa- 
lisiert und  das  eigentlich  Wunderbare  und  Märchenhafte  ganz  ver- 
schwunden. Wir  können  an  diesem  Punkte  die  Vermutung  aus- 
sprechen, daß  die  Placidas-Legende  uns  hier  aus  einer  älteren 
Urform  einen  Zug  der  Erzählung  aufbewahrt  hat,  der  sich  in 
keiner  der  bisherigen  Formen  sonst  so  gut  erhalten  hat.  Und  wir 
werden  sehen,  daß  sich  diese  Vermutung  uns  bestätigen  wird. 
4.  Auch  wenn  wir  noch  einmal  auf  das  Schicksal  des  Helden  in 
der  Erzählung  zurückgreifen,  so  gruppieren  sich,  wie  wir  zum 
Teil  schon  gesehen  haben,  die  Erzählungen  ganz  deutlich,  und  das 
ursprüngliche  Urbild  tritt  klar  zu  Tage,  nur  die  Schäh-Bacht-Er- 
zählung  und  das  armenische  Märchen  haben  das  ursprüngliche 
getreu  erhalten:  ein  König,  der  sein  Reich  und  alles  andere  ver- 
liert und  alles  wiedergewinnt.  Die  Erzählung,  wie  der 
umherirrende  König  durch  die  Kundgebung  eines  Tieres, 
des  Elefanten  oder  des  Adlers  die  Regentschaft  eines  frem- 
den Landes  gewinnt,  ist  echt  orientalisch  märchenhaft.  Wir  sahen, 
wie  dem  gegenüber  die  Figur  des  Feldherm  in  der  Placidaslegende, 
die  des  Kaufmanns,  der  keinen  Eid  zu  schwören  versprochen  hat, 
in  den  jüdischen  Varianten  und  die  des  armen  Holzhackers  in  der 
kabylischen  Erzählung  sekundäre  Bearbeitungen  oder  Nebenein- 
flüsse aus  anderen  Quellen  darstellen. 

So  gliedern  sich  uns  die  verschiedenen  Varianten  unserer  Er- 
zählung, so  daß  wir  einen  genauen  Stammbaum  herstellen  können. 
Dem  ursprünglichsten  am  nächsten  steht  das  armenische  Märchen 
und  die  Schäh-Bacht-Erzählung ;  wiederum  einen  besonderen  Typ 
vertreten  die  jüdischen  und  die  kabylische  Geschichte.  Weiter  ab- 
seits steht  die  Placidas-Legende,  noch  weiter  die  übrigen  aufge- 
zählten Nummern,  bei  denen  wieder  ganz  neue  Motive  von  zum 
Teil  noch  nachweisbarer  Herkunft  eingeflossen  sind.  Allen  voran 
an  Wert  steht  aber  die  armenische  Überlieferung,  Diese  hat  im 
Großen  und  Ganzen  den  eigentlich  ursprünglichen  Gang  der  Er- 
zählung,   wie    der    fortgesetzte   Vergleich   erwies,    abgesehen    von 


500  W.  Bousset, 

Kleinigkeiten,  von  Anfang  bis  zu  Ende  getreu  bewahrt.  Es  mögen 
in  dieser  kurzen  Erzählung  einige  Motive  verschwunden  sein, 
z.  B.  der  Zug,  den  die  Schäh-Bacht-Erzählung  erhalten  hat,  daß 
auch  der  Mann,  wie  die  Frau,  die  diese  Rolle  fast  in  sämtlichen 
Erzählungen  spielt,  die  eheliche  Treue  während  der  Trennung  be- 
wahrt und  die  Heirat  mit  den  Prinzessinnen  des  fremden  Landes 
in  treuem  Angedenken  an  seine  Frau  unter  allerlei  Vorwänden 
ständig  aufschiebt  —  ein  Motiv,  das  uns  weiter  unten  noch  beschäf- 
tigen wird.  —  Nebenbei  mag  übrigens  auf  den  seltsamen  Zufall 
hingewiesen  werden,  daß  sich  bei  dem  Vergleich  der  verschiedenen 
Varianten  der  Achikar-Über lieferung  ein  ähnliches  Resultat  heraus- 
stellt. Auch  hier  hat  die  armenische  Rezension,  wie  ich  seiner  Zeit 
nachwies  und  auch  allen  Widersprüchen  gegenüber  aufrecht  erhalte  ^), 
den  ursprünglich  heidnischen  Charakter  der  Erzählung  am  besten 
bewahrt. 

Und  in  diesem  Zusammenhang  möge  noch  auf  eine  Einzelheit 
hingewiesen  werden.  Die  armenische  Variante  erzählt  zum  Anfang, 
daß  dem  König  ein  Grenius  erschienen  sei,  der  ihn  gefragt  habe, 
ob  er  lieber  in  seiner  Jugend  oder  in  seinem  Alter  glücklich  sein 
wolle.  Nachdem  der  König  sich  für  das  Letztere  entschieden,  be- 
ginnt sein  Geschick  sich  abzurollen.  Aus  dem  Vergleich  der  Er- 
zählung ist  zu  ersehen,  daß  sich  dieser  Zug  nur  noch  in  Recension 
G  der  Placidas-Legende  wiederfindet.  Monteverdi  hat  fälschlich 
daraus  den  übereilten  Schluß  gezogen,  daß  hier  die  Abhängigkeit 
der  orientalischen  Erzählung  von  der  Placidas-Legende  besonders 
deutlich  heraustrete.  Das  ist,  wie  gesagt,  eine  gänzlich  unerwiesene 
Behauptung.  Man  wird  auch  nicht  zum  Beweise  darauf  hinweisen 
dürfen,  daß  ein  derartig  süpranaturaler  Zug  ursprünglich  in  der 
Legende  und  nicht  im  Märchen  seinen  Platz  hatte.  Ich  wüßte 
nicht,  weshalb  ein  Grenius,  der  dem  König  sein  künftiges  Geschick 
mitteilt,  weniger  im  Märchen  seinen  Platz  hätte,  als  die  beiden 
wilden  Tiere,  welche  gleichzeitig  die  Kinder  rauben,  oder  das 
wunderbare  und  kluge  Tier,  daß  in  seiner  Weisheit  einen  Fremd- 
ling zum  König  macht.  Aber  das  wird  allerdings  zugestanden 
werden  können,  daß,  wie  wir  es  oben  schon  einmal  beobachteten, 
die  Placidas-Legende  auf  einen  sehr  alten  Typ  unserer  Erzählungen 
zurückweist,  da  doch  von  einer  direkten  Berührung  zwischen  ihr 
und  der  armenischen  Überlieferung  nicht  die  Rede  sein  kann,  viel- 
mehr nur  diese  beiden  Zeugen  gemeinsam  jenen  Zug  aus  dem  Ur- 
bild der  Erzählung  erhalten  haben. 

1)  Vgl.   meinen  Aufsatz   ü.   Beiträge   zur  Achikarlegende,   Ztsclir.   f.   neut. 
■Wissensch.  VI  1905  S.  180—193;  dazu  theolog.  Rundschau  XII  19  418  fif. 


die  Geschichte  eines  Wiedererkennungsmärchens.  601 

IV. 

Der  bisherige  Gang  unserer  Untersuchung  wird  dadurch  auf  das 
erfreulichste  bestätigt,  daß  wir  nunmehr  eine  deutliche  Spur  un- 
seres Erzählungskreises  auch  in  indischer  Überlieferung  aufzuweisen 
in  der  Lage  sind.  Es  ist  das  Verdienst  der  obengenannten  For- 
scher, Gaster  und  Speyer,  daß  sie  uns  auf  diese  Parallelen  auf- 
merksam gemacht  haben,  die  selbst  dem  Sammelfleiß  von  Monte- 
verdi  noch  entgangen  sind. 

9.  Auf  die  erste  dieser  Erzählungen  hat  Gaster  a.  a.  0.  869 
hingewiesen.  Es  ist  die  buddhistische  Legende  von  der  Schülerin 
Buddhas  Patäcära.  Diese  findet  sich  in  dem  Paliwerk  des  Buddhi- 
stischen Kommentators  Buddhagosha  (5.  Jahrh.  n.  Chr.),  dem  Mano- 
ratha  Purani,  einem  Kommentar  zum  Anguttara  Nikäya.  Letzteres 
Werk  nennt  in  einer  Sektion  des  ersten  Nipäta  eine  Liste  von  13 
Schülerinnen  des  Buddha.  Der  Kommentar  bringt  die  Heiligen- 
legenden dieser  13  Frauen.  No.  4  ist  Patäcära.  Mabel  Bode  hat 
(Joum.  of  royal.  Asiat.  Soc.  1893,  517  fP.)  einige  der  Erzählungen 
veröffentlicht  und  übersetzt.  Die  Übersetzung  der  Geschichte  der 
Patäcära  findet  sich  p.  556  ff. 

Patäcära  ist  die  Tochter  eines  vornehmen  Hauses  in  Sävatthi. 
Weil  sie  einen  ungeliebten  Mann  heiraten  soll,  flieht  sie  mit  dem 
Mann  ihrer  Liebe,  einem  einfachen  Arbeiter.  Sie  bekommt  in  der 
Fremde  zwei  Kinder.  Darauf  macht  sie  sich,  von  Sehnsucht  ge- 
trieben, mit  ihrem  Mann  und  den  beiden  Kindern  auf,  um  in  ihre 
Heimat  zurückzukehren.  Sie  werden  auf  der  Reise  von  einem 
furchtbaren  Unwetter  überrascht.  Der  Mann  baut  seiner  Frau 
eine  Hütte,  aber  wie  er  Gras  für  ein  Lager  holen  will,  wird  er 
von  einer  Schlange  gebissen  und  stirbt  sofort.  Die  Frau  wandert 
mit  den  Kindern  weiter.  Sie  kommt  an  einen  Fluß  und  trägt  zu- 
nächst den  jüngeren  Knaben  (ganz  ebenso  wie  in  der  Placidas- 
Legende,  Recension  G.,  zuerst  der  jüngere  Knabe  hinüber  getragen 
wird,  während  der  ältere  Sohn  am  Ufer  bleibt)  zum  anderen  Ufer 
hinüber.  Aber  wie  sie  zurückkehrend,  um  den  älteren  ebenfalls 
hinüber  zu  holen,  mitten  im  Strome  ist,  fliegt  ein  Adler  herbei, 
um  das  jüngere  Knäbchen  zu  rauben.  Sie  sucht  diesen  durch 
Handbewegungen  zu  verscheuchen.  Der  ältere  Knabe  glaubt,  daß 
sie  ihm  winke,  steigt  in  den  Fluß  und  ertrinkt.  Der  Adler  raubt 
das  jüngere  Kind.  Nun  kommt  Patäcära  ganz  allein  zu  ihrem 
Heimatsort  und  findet  das  Haus  ihrer  Familie  durch  einen 
Wirbelwind  zerstört.  Ihre  Verwandten  in  der  Heimat  aber  sind 
alle  erschlagen ;  ihre  Leichen  brennen  eben  noch  auf  dem  Scheiter- 
haufen.  Wie  sie  die  Botschaft  vernimmt,  wird  sie  wahnsinnig  und 

Kgl.  Ges.  d.  Wiss.    Nachrichten.    Phü.-hist.  Klasse.    1916.    Heft  4.  -  35 


502  W.  Bousset, 

durcheilt  nackt  die  Lande,  bis  Buddha  sich  ihrer  erbarmt  und  sie 
zur  Vernunft  bringt,  und  so  wird  sie  seine  getreue  Schülerin. 

Man  erkennt  den  Typus  unserer  Erzählung  kaum  wieder,  so 
stark  ist  sie  hier  verwandelt.  Aber  doch  sind  auch  hier  die  Per- 
sonen Mann,  Frau  und  zwei  Knaben,  und  alle  werden  durch  Un- 
glücksfälle von  einander  getrennt,  so  freilich,  daß  das  glückliche 
Wiederfinden  nicht  erfolgt,  die  Geschichte  vielmehr  nur  zur  einen 
Hälfte  aufbewahrt  ist ;  aber  der  Zug,  wie  die  Frau  ihre  beiden 
Knaben  verliert  ist  so  typisch  —  man  beachte,  daß  die  Katastro- 
phe sich  auch  hier  gerade  in  dem  Augenblick  ereignet,  da  die  Frau, 
die  hier  an  Stelle  des  Mannes  getreten  ist,  sich  mitten  im  Strome 
befindet,  —  daß  es  unmöglich  ist,  hier  einen  Zufall  anzunehmen . 
Sonst  ist  die  Erzählung  allerdings  überall  durch  die  aufgetragene 
buddhistische  Tendenz  in  ihr  Gegenteil  verkehrt.  Nicht  der  Mann, 
sondern  die  Frau  ist  Schülerin  Buddhas,  ist  die  Trägerin  der  Le- 
gende. Und  die  Geschichte  endet  nicht  mit  den  Wiedererkennungs- 
szenen  und  der  Wiederherstellung  alles  dessen,  was  verloren  ge- 
gangen war,  sondern  mit  dem  völligen  Ruin  und  der  Verzweiflung 
und  der  daran  sich  anschließenden  Bekehrung  zur  buddhistischen 
Askese.  Der  Entdecker  der  hier  vorliegenden  Beziehungen,  Gaster, 
bat  daher  mit  Recht  bereits  die  Vermutung  ausgesprochen,  daß  die 
buddhistische  Erzählung  tendenziös  abgeändert  sei  p.  869:  the 
buddhist  tale  has  undoubtedly  changed  and  been  adapted  to  the 
circumstances,  in  order  to  explain  the  conversion  and  preeminence 
obtained  by  Patäcära.  Wir  stoßen  hier  in  unserer  Untersuchung 
auf  ein  besonders  interessantes  Resultat.  Die  Parallele,  die  wir 
in  der  buddhistischen  Quelle  nachweisen  konnten,  ist  nicht  etwa 
die  ursprüngliche  Quelle  unserer  ganzen  Überlieferungsreihe,  son- 
dern offensichtlich  sekundär  und  abgeleitet.  Wir  werden  also  an- 
zunehmen haben,  daß  ein  altes,  indisches,  volkstümliches  Märchen 
existiert  hat,  das  einerseits,  getreulich  erhalten,  nach  Westen 
wanderte  und  dort  nun  in  den  verschiedensten  Variationen  er- 
scheint, während  es  andererseits  schon  eine  verhältnismäßig  alte, 
tendenziöse,  buddhistische  Bearbeitung  erfahren  hat.  Wenn  unsere 
Vermutung  richtig  ist,  so  wäre  damit  von  neuem  erwiesen,  daß 
eine  christliche  Legende  des  5.  oder  6.  Jahrhunderts  unmöglich  der 
Ursprungspunkt  für  eine  derartige  weit  verzweigte  Überlieferung 
sein  kann  ^). 


1)  Eine  beinahe  völlig  übereinstimmende  Erzählung  scheint  in  einer  tibeta- 
nischen Version  vorzuliegen,  deren  Kenntnisse  ich  Ogden  p.  24,  der  die  genauere 
Quelle  dort  nicht  angibt,  verdanke.    Ogden  erwähnt  als  Hauptpunkte  der  Überein- 


die  Geschichte  eines  Wiedererkennungsmärchens.  503 

10.  Auf  eine  weitere  Parallele  hat  I.  S.  Speyer  (Theologisch 
Tijdschrift  40  p.  451  ff.)  hingewiesen,  nämlich  die  buddhistische  Er- 
zählung von  Visvantara  (Vessantara).  Sie  findet  sich  als  ein  Erleb- 
nis Buddhas  in  einer  seiner  früheren  Inkarnationen  als  letztes  Stück 
(No.  547)  der  Pali-Sammlung  der  Jätakas  und  als  Xo.  1  der 
Sanskrit-Übersetzung  der  Jätakamälä  des  Aryasüra^). 

Die  Erzählung  lautet  folgendermaßen :  Visvantara,  die  vorletzte 
Inkarnation  des  Bodhisattwa,  ist  Sohn  eines  Königs  des  S'ibilandes 
Jayturä.  Er  führt,  um  sich  würdig  für  das  nächste  Dasein  vor- 
zubereiten, ein  frommes,  asketisches  Leben,  sucht  jedermann  seinen 
Wunsch  zu  erfüllen  und  schenkt  einem  fernen  Königreich,  in  wel- 
chem Dürre  herrscht,  einen  weißen  Elefanten,  ein  Wundertier,  das 
den  Hegen  herbeiführen  kann.  Damit  unzufrieden  empört  sich  das 
Volk  gegen  ihn.  Er  wird  auf  den  Vafikaberg  verbannt,  seine 
Gattin  und  zwei  Kinder  teilen  sein  Los.  Er  verteilt  seinen  ge- 
samten Besitz  unter  die  Bettler,  (die  hier  also  etwa  die  Stelle  der 
Räuber  einnehmen,  die  dem  fliehenden  König  im  orientalischen 
Märchen,  oder  dem  kaiserlichen  Feldherrn  in  der  Placidaslegende 
sein  Hab  und  Gut  nehmen)  und  lebt  mit  seiner  Familie  auf  dem 
Berge  Vanka  ein  Asketenleben.  Ein  widerwärtiger  alter  Brahmane 
erbettelt  sich  von  ihm  die  beiden  Kinder  und  treibt  sie  mit  Stock- 
scblägen  davon.  Und  um  seine  himmlische  Geduld  auf  die  letzte 
Probe  zu  stellen,  nimmt  Indra  selbst  die  Gestalt  eines  Brahmanen 
an  und  fordert  von  ihm  auch  sein  Weib.  Nachdem  der  Prinz  auch 
diese  Geduldsprobe  überstanden  hat,  gibt  Indra  sich  ihm  zu  er- 
kennen und  schenkt  ihm  das  Weib  zurück.  Der  Brahmane,  der  die 
Kinder  dem  Prinzen  geraubt,  ist  mittlerweile  an  den  Hof  von 
dessen  Vater  gekommen  und  wird  gezwungen,  diese  wieder  heraus- 


stimmung  dieser  Erzählung  mit  unserem  Kreise :  die  Answandemng  des  Helden  und 
der  Heldin  aus  der  Heimat,  die  Geburt  eines  (!)  Kindes,  die  Trennung  des  Mannes 
von  der  Frau,  Verlust  und  Tod  des  Kindes;  zum  Schluß  skizziert  0.,  mir  nicht 
ganz  klar:  the  violation  of  the  heroine.  Ogden  urteilt  mit  Recht  über  das  Verhält- 
nis zum  Gesamtkreis:  „The  story  is  the  same,  except  that  the  outcome  in  each 
instance  is  infortunate  instead  of  satisfactory,  and  only  tili  the  unhappy  heroine 
takes  refuge  in  reügion.  does  she  find  rest.  I  should,  therefore,  consider  this  version 
modeled  on  the  general  type,  but  intentionally  perrerted,  to  convey  a  moral  lesson". 
Dasselbe  Urteil  gilt  natürlich  auch  von  dem  Archetypus  der  Pali-Erzählung. 

1)  Jätakamälä  (Vorgeburts-Geschichtenkranz)  ist  im  Jahre  434  n.  Chr.  bereits 
ins  Chinesische  übersetzt;  R.  Garbe,  Indien  und  das  Christentum  S.  83,  setzt  daher 
äIs  terminus  ad  quem  des  Jätakamälä  den  Anfang  des  nerten  Jahrhunderts.  Die 
Pali-Sammlung  muB  dann  bedeutend  früher  angesetzt  werden.  Der  Inhalt  unserer 
Erzählungen  ist  ausgiebig  bei  Spencer  Hardy,  Manuel  of  Buddhism  16  ff.,  und  H. 
Kern,  der  Buddhismus  und  seine  Geschichte  in  Indien  1388  ff.,  wiedergegeben. 

35* 


504  W.  Bousset, 

zugeben.  Mittlerweile  ist  auch  der  weiße  Elefant  zurück  gesandt^ 
der  Grund  der  Verbannung  des  Prinzen  ist  damit  aufgehoben.  Der 
alte  König  holt  mit  den  beiden  Kindern,  nebst  einem  großen  Ge- 
folge, den  Prinzen  vom  Vankaberge  und  dieser  hält  unter  dem 
Jubel  der  Bevölkerung  seinen  Einzug. 

Es  könnte  zweifelhaft  erscheinen,  ob  man  berechtigt  ist,  auch 
diese  Erzählung  in  unseren  Zusammenhang  einzureihen.  Doch  auch 
hier  sind  die  Träger  der  Erzählung  Mann,  Frau  und  zwei  Kinder, 
und  gerade  dieses  Erkenntnismerkmal  hat  uns  bis  jetzt  überall 
gut  und  sicher  geführt.  Die  zwei  Kinder  haben  allerdings,  wie  es 
hier  scheint,  verschiedenes  Geschlecht.  Aber  zu  unserer  Über- 
raschung ist  in  einer  Variante  der  Erzählung,  auf  die  Speyer  S.  452 
hinweist,  tatsächlich  von  zwei  Söhnen  die  Rede.  Also  auch  hier 
werden  Vater  und  Mutter  und  zwei  Knaben  von  einander  durch 
mannigfaltige  Schicksale  getrennt  und  schließlich  alle  wiederver- 
eint. Der  Held  der  Erzählung  verliert  alles,  was  er  besitzt  und 
findet  alles  wieder.  Die  Gottheit  selbst  beteiligt  sich,  wie  in  der 
Placidas-Legende,  an  der  Prüfung  des  Heiligen. 

Will  man  aber  diese  Geschichte  in  unseren  Zusammenhang 
einreihen,  so  wird  man  jedenfalls  nicht  mit  Garbe  S.  291  diese  als 
das  Urbild  der  Placidas-Legende  ansehen  dürfen,  vielmehr  an- 
nehmen müssen,  daß  in  dieser  Erzählung,  ebenso  wie  in  der  Patä- 
kära-Legende  eine  tendenziöse  buddhistische  Übermalung  einer 
naiven  älteren  Volkserzählung  vorliegt.  Aus  dem  Helden,  der  eine 
Menge  widriger  Schicksale  erleidet,  ist  hier  der  buddhistische  Muster- 
asket geworden,  der  alles  wegzugeben  bereit  ist  und  durch  seine 
wunderbare  Opferfreudigkeit  den  ganzen  Götterhimmel  in  freudiges 
Erstaunen  versetzt.  Anders  als  in  der  Patäkära-Legende  ist  dabei 
wenigstens  der  Zug  des  ursprünglichen  Märchens  gewahrt,  daß  der 
Held  schließlich  zur  Belohnung  alles,  was  er  verloren  hatte,  wieder 
gewinnt.  Man  kann  demgemäß  sagen,  daß  eine  jede  der  beiden 
buddhistischen  Legenden  etwa  die  Hälfte  unserer  Märchenerzählung 
im  Rudiment  einigermaßen  bewahrt  habe. 

11.  Auf  eine  weitere  indische  Parallele  bin  ich  durch  die  in 
der  Einleitung  erwähnte  Arbeit  Ogdens  aufmerksam  geworden. 
Sie  findet  sich  in  dem  Werke  des  Dancjin  in  dem  Da^akumära- 
saritam  (Abenteuer  der  zehn  Prinzen)  aus  dem  6.  nachchristlichen 
Jahrhundert.  Die  Rahmen-Erzählung  dieses  Werkes  gebe  ich  kurz 
nach  der  Einleitung  der  Übersetzung  von  M.  Haberlandt  1903  8.  5. 
Rädschahansa,  König  von  Magadha,  wird  von  einem  benachbarten 
König  mit  Krieg  überzogen  und  flieht  in  den  Vindhya-Wald,  wo 
ihm  seine  Gemahlin  einen  Sohn  gebiert.   Der  Prinz  wird  mit  neun 


die  Geschichte  eines  Wiedererkennungsmärchens.  505 

andern  Knaben  gleichen  Alters  erzogen,  die  sich  in  höchst  wunder- 
barer Weise  an  jenem  Zufluchtsort  zusammen  gefunden  haben.  Nach- 
dem ihre  Erziehung  mit  dem  ]  6.  Lebensjahr  vollendet  ist,  wandern 
sie  alle  in  die  Welt  aus,  trennen  sich  wieder  und  finden  sich  all- 
mählich wieder  zusammen.  Die  Erzählung  ihrer  Abenteuer  bildet 
den  Inhalt  des  Werkes.  Einer  dieser  Knaben,  Pushpodbhava,  ist 
der  Träger  einer  indischen  Anagorismen-Novelle,  die  uns  in  der 
Übersetzung  von  Haberlandt  S.  16  und  S.  32  ff.  in  den  Zusammen- 
hang des  Ganzen  verwoben,  vorliegt :  Weit  hinten  im  Mohrenlande 
lebte  ein  trefflicher  reicher  Kaufmann  mit  einer  schönen  Tochter 
Namens  Suvrtta.  Ein  fremder  Kaufherr,  von  vornehmer  Abkunft, 
der  Sohn  eines  Ministers  des  Magadha-Königs,  hält  um  sie  an.  Er 
hieß  Ratnodbhava.  Mit  der  Zeit  wurde  die  junge  Frau  guter  Hoff- 
nung; ihr  Mann  aber  sehnt  sich,  seinen  Bruder  wiederzusehn,  und 
verläßt  mit  seinem  Weibe  die  Heimat.  Das  Schiff,  auf  dem  sie 
fahren,  erleidet  Schiffbruch,  die  junge  Frau  wird  durch  ihre  Diene- 
rin gerettet  und  treibt  mit  ihr  ans  Land.  Das  Schicksal  ihres 
Mannes  bleibt  zunächst  unbekannt.  Nach  dem  Schiffbruch  schenkt 
die  Suvrtta,  mitten  im  Walde,  einem  Söhnlein  das  Leben  und  bleibt 
ohnmächtig  liegen.  Ihre  Dienerin  eilt  fort,  um  Hülfe  zu  «holen, 
und  nimmt  das  Kind  mit.  Sie  begegnet  einem  alten  Büßer,  er- 
zählt ihm  ihr  Geschick  und  bittet  ihn,  den  Kleinen  aufzubewahren. 
Da  taucht  plötzHch  ein  Elefant  aus  dem  Dickicht  auf  und  nimmt 
den  Knaben  auf  seinen  Rüssel.  Doch  auf  den  Elefanten  stürzt 
sich  ein  Löwe.  Jener  schleudert  das  Kind  hoch  in  die  Luft  und 
beginnt  mit  dem  Löwen  den  Kampf.  Das  Kind  wird  von  einem 
Affen  aufgefangen,  der  es  fein  säuberlich  unter  einem  Baume 
niederlegt.  Mittlerweile  hat  der  Löwe  dem  Elefanten  den  Garaus 
gemacht  und  entfernt  sich  stolz.  Der  Büßer  nimmt  das  wunder- 
bar bewahrte  Kind  (vgl.  o.  S.  528)  und  bringt  es  an  die  Zufluchtsstätte 
des  Königs  von  Magadha,  wo  es  mit  dem  Prinzen  und  den  übrigen 
Gefährten  zusammen  erzogen  wird.  Herangewachsen,  zieht  dann 
der  Knabe,  der  den  Namen  Pushpodbhava  behalten  hat,  in  die  weite 
Welt,  trennt  sich  von  diesen  und  erlebt  sein  eigenes  Abenteuer. 
Er  flüchtet  sich  eines  Tages  vor  der  unerträglichen  Sonnenliitze, 
da  fällt  plötzlich  ein  Mann  vom  Felsenrande  herunter,  so  daß  er 
ihn  gerade  noch  mit  seinen  Armen  auffangen  kann.  Es  ist  Rad- 
nodbhava,  der  Vater  des  Helden  unserer  Geschichte.  Er  erzählt 
seinem  Sohne  sein  Schicksal  und  schließt  damit,  daß  er  nach  16 
Jahren  unerträglichen  Leides  beschlossen  habe,  seinem  Leben  durch 
einen  Sturz  von  der  Bergwand  ein  Ende  zu  machen.  Kaum  ist 
so  die  erste  Wiedererkennungsszene   erfolgt,    so   läßt  sich  in  der 


506  W.  Bousset, 

nnmittelbaren  Nähe  der  Beiden  das  klagende  Geschrei  einer  Frau 
vernehmen.  Es  ist  die  Stimme  der  alten  Dienerin,  der  Suvrttä, 
die  ihre  Herrin  abzuhalten  versucht,  sich  in  der  Verzweiflung  über 
den  Verlust  von  Mann  und  Kind  das  Leben  zu  nehmen.  Der  Sohn 
stürzt  ins  Dickicht,  findet  dort  schon  ein  gewaltiges  hochlodern- 
des Feuer  und  ein  Weib  im  Begriff,  sich  in  dieses  zu  stürzen. 
Aus  der  Erzählung  der  Dienerin  erfährt  er,  daß  es  seine  Mutter 
ist;  er  wirft  sich  ihr  zu  Füßen,  erzählt  ihr  seine  Lebensschicksale 
und  holt  den  Vater.  Vater  und  Mutter  erkennen  sich  nun  eben- 
falls, die  Kennzeichen  waren  ja  alle  vorhanden,  und  die  Familie 
ist  wieder  vereinigt. 

Offenbar  ist  hier  eine  ältere,  in  sich  zusammenhängende  Ana- 
gorismen-Novelle in  den  Zusammenhang  der  Rahmen-Erzählung 
künstlich  verwoben.  Ob  freilich  diese  Erzählung  mit  den  bisher 
behandelten  verwandt  ist,  muß,  wie  mir  scheint,  doch  dahin  gestellt 
bleiben.  Schon  das  erweckt  Bedenken,  daß  es  sich  hier  um  ein 
Ehepaar  mit  nur  einem  Sohne  handelt.  Man  könnte  vielleicht 
vermuten,  daß  aus  den  zwei  Söhnen  einer  älteren  Erzählung  hier 
der  eine  geworden  wäre,  weil  das  Motiv  zweier  Brüder  nicht  in 
den  Gang  der  Rahmen-Erzählung  hineinpaßt.  Und  man  könnte 
für  diese  Vermutung  anführen,  daß  bei  dem  Raub  dieses  einen 
Kindes  ja  mehrere  Tiere  beteiligt  sind,  und  daß  dieser  Zug  da- 
rauf hinweisen  könnte,  daß  ursprünglich  mehrere  Brüder  durch 
verschiedene  Tiere  geraubt  sind.  Aber  auch  sonst  sind  die 
Einzelzüge  des  Berichtes  gar  zu  sehr  von  den  uns  bisher  bekannt 
gewordenen  different.  Man  wird  also  gut  tun,  die  Frage  der  Zu- 
gehörigkeit dieser  Erzählung  zu  unserem  Kreise  in  Zweifel  zu 
lassen.  Immerhin  ist  es  beachtenswert,  an  wie  vielen  Orten  in- 
discher Überlieferung  das  Anagorismenmotiv  im  allgemeinen  auf- 
taucht. 

11  a.  Die  ganze  Frage  nach  dem  Ursprung  unserer  Anago- 
rismen-Erzählung wäre  übrigens  entschieden,  wenn  wir  die  jetzt 
noch  zu  erwähnenden  zwei  Erzählungen  als  altindisch  ansprechen 
dürfen.  Es  handelt  sich  um  eine  Erzählung  aus  Kaschmir  (K)  und 
eine  zweite  aus  dem  Pendschab  (P),  welche  Ogden  in  seiner  Disser- 
tation als  Parallelen  beibringt.  Sie  stehen  ihrer  Verwandtschaft 
nach  in  nächster  Nähe  der  im  vorigen  Abschnitt  behandelten 
orientalischen  (arabisch-jüdischen)  Gruppe.  In  dem  großen  Stamm- 
baum, den  Ogden  über  das  Abhängigkeitsverhältnis  sämtlicher 
Glieder  unseres  Erzählungskreises  gibt  (Tabelle  z.  S.  6),  stellt  er 
die  beiden  Erzählungen  in  unmittelbare  Nähe  der  Schäh-Bacht- 
Legende   und   läßt   diese    sämtlichen    Glieder   freilich    von    einem 


die  Geschichte  eines  Wiedererkennungsmärchens.  507 

arabiscilen  Archetypus  abhängig  sein.  —  Wahrscheinlicher  will  mir 
die  Annahme  eines  gemeinsamen  altindischen  Ursprungs  erscheinen ; 
es  würde  dann  hier  die  in  der  vorhergehenden  Untersuchung  postu- 
lierte altindische  Volkserzählung  tatsächlich  noch  vorliegen. 

Nach  den  Andeutungen,  die  Ogden  S.  24  und  in  der  Tabelle  bei 
S.  6  bietet,  konstruiere  ich  die  Erzählungen  etwa  folgendermaßen : 
Deren  Held  ist  ein  König,  seine  Gemahlin  hat  ihm  zwei  Knaben 
geschenkt.  Die  Ursache  des  Unglücks  ist  nach  K.  ein  Krieg,  nach 
P.  steht  am  Anfang  das  bekannte  Motiv  der  göttlichen  Warnung. 
Schiffer  resp.  ein  Schiffsherr  rauben  die  Frau.  Die  Kinder  ver- 
lieren ihren  Vater  dadurch,  daß  dieser,  wenn  ich  richtig  verstehe, 
durch  einen  Fisch  (K)  oder  durch  einen  Alligator  (P)  verschlungen 
vdrd.  Die  Knaben  werden  nach  K  durch  einen  Fischer,  nach  P 
durch  einen  Wäscher  aufgezogen.  Der  wunderbar  aus  dem  Innern 
des  Fisches  errettete  Vater  wird  in  märchenhafter  Weise  König,  nach 
K  dadurch,  daß  ein  Elefant  ihn  zum  König  erkürt,  nach  P  durch 
Erbschaft.  IVIittlerweile  kommt  der  Schiffer,  wenn  ich  recht  kon- 
struiere, mit  der  geraubten  Frau  in  das  Land  des  Königs.  Nach 
K  ist  es  Grewohnheit  des  Königs,  daß  er  von  jedem  Schiff,  das 
landet,  das  Beste  und  Schönste  als  sein  Eigentum  beanspruchen 
darf.  Die  beiden  Söhne,  die  unerkannt  in  den  Dienst  des  Königs 
getreten  sind,  werden  zur  Bewachung  auf  das  Schiff  gesandt.  Die 
Mutter  hört  im  verborgenen  die  Söhne  sich  ihr  Schicksal  erzählen 
und  erkennt  sie  daran.  Nach  K  gibt  die  Mutter  sofort  sich  den 
Söhnen  zu  erkennen.  Nach  P  erst  später,  bei  der  allgemeinen 
Wiedererkennungsszene.  Die  Mutter  ersinnt,  nach  K  unter  Ver- 
abredung mit  ihren  Söhnen,  nach  P  allein,  eine  List,  um  vor  das 
Tribunal  des  Königs  zu  kommen.  So  wird  die  Wiedervereinigung 
der  gesamten  Familie  herbeigeführt  und  die  Rache  an  den  Räubern 
vollzogen.  Man  sieht,  daß  auch  diese  beiden  Erzählungen  mit 
vollkommener  Sicherheit  dem  orientalischen  Erzählungskreis  zuzu- 
weisen sind.  Der  einzige  Zug,  der  sich  in  keinem  der  übrigen 
Grlieder  nachweisen  läßt  und  K  und  P  gemeinsam  ist,  ist  der,  daß 
der  Held  unserer  Erzählung  von  einem  Fischungeheuer  verschluckt 
wird.  Hier  ist  also  ein  sonst  wohlbekanntes  und  weitverbreitetes 
Motiv  in  unseren  Typus  eingedrungen.  ^) 


1)  Auf  der  vergeblichen  Suche  nach  der  Quelle  dieser  Erzählung  fand  ich  übrigens 
im  Katä-Sarit-Sägara  des  Somadaeva  c.  65  translated  by  Tawney  Calcutta  1884 II 101  ff. 
folgende  Parallele :  Der  Sohn  eines  Kaufmanns,  dessen  Vater  gestorben  ist,  begibt 
sich  vor  den  Nachstellungen  seines  Bruders  mit  seiner  Frau  auf  die  Flucht.  Sie 
irren  in  der  Waldeinsamkeit  umher  und  müssen  Hunger  leiden.  Der  Mann  ernährt 
seine  Frau  mit  seinem  Fleisch  und  Blut  (echt  indisches  MotiT).   Sie  finden  unter- 


508  W.  Bousset, 


T. 

Es  wird  nötig  sein,  in  diesem  Zusammenhang  auf  eine  Reihe 
mittelalterlicher  Erzählungen  und  Dichtungen  genauer  einzugehen, 
vor  allem  um  der  hier  immer  wieder  erhobenen  Behauptung  eines 
weitgehenden  und  überall  eindringenden  Einflusses  der  Placidas- 
legende  entgegenzutreten  und  nachzuweisen,  daß  diese  nur  ein 
einzelnes  dlied  in  der  Kette  und  nicht  das  Fundament  ist,  auf 
dem  die  ganze  Überlieferung  sich  aufbaut.  Es  kommen  hier  zu- 
nächst vier  oder  fünf  eng  mit  einander  verwandte  Erzählungen 
und  Dichtungen  des  Mittelalters  in  Betracht.  Das  meiste  ist  hier 
bereits  von  W.  L.  Holland  in  seinem  Chrestien  von  Troies  (Tü- 
bingen 1854)  in  vorzüglicher  Weise  zusammengestellt.  Ich  schließe 
mich  im  großen  und  ganzen  seinen  Angaben  an. 

12.  Die  erste  der  hier  in  Betracht  kommenden  Dichtungen 
ist  der  "Wilhelm  von  England  des  Chrestien  von  Troies  (geb.  etwa 
1140 — 1150,  Ausgabe  von  "W.  Foerster,  Christian  von  Troies  IV, 
1899,  der  Karrenritter  u.d.  Wilhelmsleben;  s.  auch  o.S.  571).  —  In  Eng- 
land lebte  vor  Zeiten  ein  frommer  König,  der  hieß  Wilhelm.  Er  hatte 
eine  schöne  und  sehr  christliche  Frau  mit  Namen  Gratiana.  Aber  sein 
Grlück  sollte  nicht  lange  dauern,  er  hörte  plötzlich  des  Nachts 
auf  seinem  Bette  liegend  eine  Stimme,  die  ihm  befahl,  außer  Landes 
zu  gehen.  Als  der  Ruf  sich  zum  zweiten  und  dritten  mal  wieder- 
holt, verläßt  Wilhelm  mit  seiner  Gemahlin,  nachdem  sie  ihre 
kostbarste  Habe  weggeschenkt,  die  königliche  Wohnung ;  sie  durch- 
irren einen  Wald,  bis  sie  in  die  Nähe  eines  Meeres  kommen.  Hier 
in  der  Einsamkeit  gebiert  die  Königin  zwei  Knaben,  die  der  König 
in  die  beiden  abgeschnittenen  Schöße  seines  Rockes  wickelt,   weil 


wegs  einen  Krüppel,  dem  Hände  und  Füße  fehlen,  pflegen  und  ernähren  ihn.  Zu 
ihm  entbrennt  das  Weib  in  ehebrecherischer  Liebe.  Sie  veranlaßt  ihren  Mann, 
sich  an  einem  Strick  vom  Felsen  herab  zu  lassen,  um  an  einem  Bach  eine  Pflanze 
zu  pflücken,  nach  der  sie  begehrt.  Sie  schneidet  den  Strick  durch.  Der  Mann 
wird  erfaßt  und  vom  Strome  fort  getrieben.  Er  kommt  in  ein  Land, 
dessen  König  gerade  gestorben  ist  und  wird  von  einem  Elephanten  zum 
König  erkürt.  Das  Weib  kommt  mit  dem  Krüppel  an  den  königlichen  Hof 
und  erhält  seine  verdiente  Strafe.  Kaum  wird  man  diese  Erzählung  in  den  vor- 
liegenden Zusammenhang  einordnen  wollen,  doch  sind  ja  immerhin  einige  verwandte 
Motive  vorhanden  (Mann  und  Frau  in  der  Einsamkeit;  der  Mann  vom  Strome  fort- 
gerissen; der  I^lephant,  der  den  König  erwählt).  Will  man  die  Zugehörigkeit  der 
Erzählung  zu  unserem  Kreise  behaupten,  so  müßte  man  annehmen,  daß  auch  hier 
indische,  pessimistische  Tendenz  den  Grundzug  der  Erzählung  in  sein  Gegenteil 
verkehrt  und  an  Stelle  der  Treue  die  Untreue  der  Frau  gesetzt  hätte. 


die  Geschichte  eines  Wiedererkennungsmärchens.  509 

er  nichts  anderes  hat^).  Kaufleute  erscheinen  mit  ihrem  Schiffe 
am  Strande,  entfuhren,  durch  deren  Schönheit  überrascht,  die 
Frau  und  werfen  dem  König  dafür  einen  Beutel  mit  zwei  Besanten 
(byzantinischen  Goldmünzen)  zu,  der  in  den  Zweigen  der  Bäume 
hängen  bleibt.  Der  König  plant,  sein  Land  zu  verlassen,  nimmt 
das  eine  Kind  und  legt  es  in  ein  Boot  nieder,  das  er  am  Strande 
findet.  Während  er  zurückkehrt,  um  das  andere  zu  holen,  sieht 
er  gerade  noch,  wie  ein  Wolf  dieses  raubt;  und  wie  er  von  der 
Verfolgung  ermüdet  sich  dem  Kahne  zuwendet,  so  ist  auch  das 
andere  Kind,  das  er  dort  niederlegte,  verschwunden.  Kaufleute 
jagen  den  ersten  Knaben  dem  Wolfe  ab  und  haben  mittlerweile 
auch  den  andern  im  Boote  gefundenen  mitgenommen.  Wühelm 
will  jetzt  wenigstens  das  früher  verschmähte  ihm  zugeworfene 
Geld  an  sich  nehmen,  doch  wie  er  die  Hand  danach  ausstreckt, 
stößt  ein  weißer  Adler  vom  Himmel  herunter  und  entreißt  ihm 
den  roten  Beutel  mit  dem  Gelde.  Planlos  irrt  der  König  hin  und 
her,  bis  ihn  Kaufleute  finden  und  ihn  zu  einem  begüterten  Bürger 
bringen,  dem  er  von  nun  an  dient.  Sein  Weib  Gratiana  wird  von 
den  Schiffern,  die  sie  geraubt,  nach  Surclin  gebracht  und  wird 
dort  den  um  sie  sich  streitenden  Kaufleuten  von  dem  Herrn  des 
Landes  Gliolas  fortgenommen,  der  sie,  da  seine  Gemahlin  inzwischen 
verstorben  ist,  zur  Ehefrau  erheben  will.  Sie  weiß  den  Eingang 
der  Ehe  um  ein  Jahr  hinauszuzögern,  währenddessen  der  Ritter 
stirbt,  nachdem  er  sie  bereits  als  Nachfolgerin  eingesetzt  hat.  So 
wird  Gratiana  die  Herrin  des  Landes.  Die  beiden  Knaben,  von 
denen  der  eine,  der  vom  Wolf  geraubte,  den  Namen  Louel,  Wolf- 
lein, bekommen  hat,  während  der  andere  als  im  Meer  gefunden 
Marin  genannt  wird,  entlaufen  ihren  Pflegevätern,  weil  diese  sie 
zwingen  wollen,  ein  Handwerk  zu  lernen.  Sie  führen  im  Walde 
ein  abenteuerliches  Leben,  bis  sie  zu  dem  König  von  Catanaise 
kommen,  der  sie  in  seinen  Dienst  nimmt.  König  Wilhelm  gelangt 
nach  verschiedenen  Abenteuern,  die  ihn  vorübergehend  wieder  in 
sein  Reich  zurückführen,  in  das  Land,  dessen  Herrin  seine  Frau 
geworden  ist  (vgl.  dies  Motiv  bei  Nr.  6).  Hier  war  es  Sitte,  daß 
der  Herr  oder  die  Herrin  des  Landes  von  den  Gütern,  die  jeder 
Kaufmann  in  den  Hafen  brachte,  sich  das  schönste  auswählen 
durfte^).  So  kommt  die  Königin  zum  Schiff  ihres  Mannes,  sie 
glaubt  ihn  sofort  zu  erkennen  und  vor  allem  heftet  sich  ihr  Auge 


1)  Vergleiche   zu   dem   Motiv   der   in   den  Mantel  gewickelten  Knaben  die 
oben  skizzierte  Rahmen-Erzählung  der  Geschichte  der  10  Vesire  (Xr.  7). 

2)  Zu  diesem  Motiv  vergl.  oben  die  Erzählung  unter  Nr.  1. 


510  W.  Bousset, 

auf  ein  Hörn,  das  der  König  bei  seinem  letzten  Aufenthalt  im 
Heimatlande  als  sein  altes  Eigentum  mitgebracht  hat.  Sie  begehrt 
von  ihm  den  Ring,  den  er  am  Finger  trägt  und  lad  ihn  mit  seinen 
Leuten  zu  sich  aufs  Schloß.  Hier  erkennen  sich  Wilhelm  und 
Gratiana.  Als  der  König  dann  bei  einer  Jagd  das  Gebiet  des 
Reiches  seiner  Frau  überschreitet,  wird  er  von  seinen  beiden 
Söhnen,  die  im  Dienst  des  fremden  Königs  stehen,  angegriffen 
und  kann  sich  nur  dadurch  retten,  daß  er  sagt,  er  sei  der  König 
von  England,  und  seine  Geschichte  erzählt.  In  dem  Augenblick, 
da  er  die  Episode  vom  Raube  des  Geldes  durch  den  Adler  erzählt, 
erscheint  dieser  wieder  und  läßt  den  roten  Beutel  mit  dem  Golde 
dem  König  zu  Füßen  fallen.  Darauf  beginnen  auch  die  Söhne 
ihre  Erzählung  und  weisen  vor  allem  die  Rocklappen  vor,  in 
welchen  man  die  Knaben  eingewickelt  gefunden  hat.  So  erfolgt 
nun  die  allgemeine  Wiedererkennung  und  die  Heimkehr  der 
vereinten  Familie  in  das  Reich  ^). 

13.  Eng  verwandt  mit  der  Sage  von  Wilhelm  von  England 
ist  das  Gedicht  „Die  gute  Frau".  (Ausgabe  von  E.  Sommer,  Zeit- 
schrift f.  deutsches  Altertum  II  1842  S.  392—481),  das  nach  fran- 
zösischem Vorbilde,  wahrscheinlich  von  einem  Schwaben,  zwischen 
1230  und  1240  verfaßt  worden  ist  (vergl.  Holland  S.  77).  Der  Held 
der  deutschen  Erzählung  entschließt  sich  aus  eigenem  Antriebe, 
Macht  und  Ansehen  aufzugeben,  um  ein  unstetes  Leben  zu  führen^ 
weil  er  es  für  sündig  hält,  länger  in  Ehren  und  Überfluß  zu  leben. 
Mit  seiner  Frau,  der  Tochter  des  Grafen  Ruprecht,  verläßt  er  des 
Nachts  seine  Burg  und  irrt  in  der  Fremde  umher,  in  der  ihnen 
zwei  Söhne  geboren  werden.  Da  sie  in  die  größte  Not  geraten, 
läßt  sich  die  Frau  für  zwei  Pfunde  als  Leibeigene  verkaufen,  die 
der  Gatte  in  einer  roten  Börse  empfängt.  Er  irrt  mit  seinen 
Kindern  weiter  und  kommt  an  das  Ufer  der  angeschwollenen  Seine. 
Er  läßt  das  eine  Kind  am  Ufer  sitzen,  während  er  das  andere 
über  die  Brücke  hinüberträgt.  Als  er  bei  der  Rückkehr,  um  das 
zweite  Kind  zu  holen,  sich  mitten  auf  der  Brücke  befindet,  reißt 
der  angeschwollene  Fluß  die  Brücke  fort.  Mit  Mühe  rettet  er 
sich  an  das  Land.  Mittlerweile  ist  der  eine  der  Knaben  von  dem 
Bischof  von  Rheims  und  der  andere  von  dem  Grafen  von  Orleans 
aufgefunden  und  mitgenommen.  Der  Vater  läßt  sich  ermüdet  und 
von  Kummer   überwältigt   unter   einem  Baume  nieder  und  schläft 


1)  Über  das  französische:  Dit  de  Guillaume  de  Angleterre,  das  nur  ein  ein- 
facher Auszug  seines  Vorbildes  ist,  sowie  über  die  abhängigen  spanischen  Dich- 
tungen s.  Foerster,  Karrenritter  und  Wilhelmsleben  CLXXI  und  CLXXVIIIf. 


die  Geschichte  eine«  Wiedererkennungsmärchens.  511 

ein.  Währenddessen  raubt  üun  ein  Adler  den  roten  Sack  mit  dem 
Grelde  und  der  Ritter  verläßt  in  Verzweiflung  das  Land,  wo  er 
alles,  was  er  besaß,  verloren  hatte.  Mittlerweile  verdient  sich 
seine  Frau  in  Treis  (Troyes)  ihren  Lebensunterhalt  durch  künst- 
liche Stickereien  aus  Silber  und  Gold.  Der  Ruf  ihrer  Schönheit 
dringt  bis  zum  Herrn  des  Landes,  dem  Grafen  Diebalt,  der  sie  zu 
sich  holt  und  dessen  Erbin  sie  nach  dessen  baldigem  Tode  wird. 
Ja  sie  steigt  nach  verschiedenen  Erlebnissen  noch  zu  höherer  Ehre 
auf  und  wird  Gemahlin  des  Königs  von  Paris,  der  noch  vor  Ab- 
lauf des  Jahres  stirbt  und  ihr  das  Reich  hinterläßt  Wie  ihr  Ge- 
mahl nach  langen  Irrfahrten  als  Bettler  in  ihr  Reich  kommt, 
erkennt  sie  ihn  an  einem  krummen  Finger,  den  er  durch  eine 
Verwundung  behalten  hat.  Sie  gibt  sich  ihm  zunächst  nicht  zu 
erkennen,  läßt  den  Bettler  in  ein  Bad  führen  und  in  köstliche 
Gewänder  kleiden.  Und  als  die  Großen  des  Reiches  von  ihr 
fordern,  daß  sie  sich  einen  Mann  wähle,  der  nunmehr  die  Regent- 
schaft führe,  erwählt  sie  den  ins  Land  gekommenen  Bettler  und 
gibt  sich  ihm  als  seine  frühere  Gattin  zu  erkennen.  Die  Gatten 
erzählen  sich  ihre  Schicksale.  Der  Mann  berichtet  von  dem  Ver- 
lust seiner  Söhne  und  wie  der  Adler  ihm  den  Sack  mit  dem  Gelde 
geraubt  habe.  Da  ruft  die  Gattin  aus:  daß  der  Adler  ihr  den 
Sack  mit  dem  Gelde  bereits  gebracht  habe.  Sie  hat  damals  ge- 
meint, daran  den  Tod  ihres  Mannes  zu  erkennen,  und  faßt  nunmehr 
nach  diesem  wunderbaren  Zusammentreffen  die  Hoffnung,  daß  sie 
auch  ihre  Söhne  wiederfinden  werden.  Und  schon  melden  auch 
Bürger  des  Landes,  daß  sie  von  Knaben  gehört  haben,  die  beim 
Bischof  von  Rheims  erzogen  werden;  die  Knaben  werden  geholt, 
und  die  Famüie  ist  wieder  vereinigt. 

14.  Die  dritte  hier  in  Betracht  kommende  Erzählung  ist  die 
vom  Ritter  Ysambrace  (Literatur  vergl.  bei  Holland  S.  81).  Das 
englische  Gedicht  erzählt:  Der  Ritter  Ysambrace,  der  ob  seines 
Glückes  hochmütig  geworden  ist,  hört  einen  VogeP)  auf  einem 
Baum  ihm  sein  Geschick  verkünden.  Er  habe  nur  die  Wahl, 
ob  er  in  seinem  Alter  oder  in  seiner  Jugend  großes 
Wehe  ertragen  würde.  Der  Ritter  dankt  Gott  dafür,  daß 
ihm  Gelegenheit  gegeben  sei,  noch  in  der  vollen  Kraft  der  Jugend 
Buße  zu  tun.  So  bricht  das  Unglück  sofort  über  ihn  herein.  Wie 
er  daheim  ankommt,  findet  er  das  größte  Elend.  Alle  seine  Habe 
ist  durch  Feuer  vernichtet,   und  so  entschließt  er  sich,   mit  seiner 


1)  Nach  der  anderen  Redaktion  des  Gedichtes  wird  dem  Ysambrace  die 
Botschaft  durch  einen  Engel  zuteil.  Vergl.  Holland  S.  81  ff.  und  dazu  die  Ausgaben: 
E.  Halliwell,  The  Thornton  Romances  1844  p.  88—120 ;  G.  Schleich,  Sir  Ysumbras  1901. 


512  W.  Bousset, 

Frau  und  seinen  drei  Kindern  zur  Sühne  seiner  Sünden  nach  Je- 
rusalem zu  pilgern.  Auf  der  Wanderung  kommen  sie  in  einen 
Wald,  wo  sie  durch  ein  Gewässer  am  Weiterschreiten  gehindert 
werden.  Der  Ritter  nimmt  seinen  ältesten  Sohn  und  bringt  ihn 
ans  andere  Ufer.  Während  er  zurückkehrt,  um  das  zweite  Kind 
zu  holen,  wird  das  erste  von  einem  Löwen  ergriffen  und  in  das 
Dickicht  geschleppt,  während  der  zweite  Knabe  die  Beute  eines 
Leoparden  wird.  Der  Ritter  wandert  mit  seiner  Frau  und  einem 
Kinde  weiter  und  so  kommen  sie  an  die  See,  wo  die  Flotte  eines 
heidnischen  Königs  liegt,  der  gegen  die  Christen  zu  Felde  zieht. 
Da  der  Ritter  sich  weigert,  sich  seine  Frau  auf  den  Vorschlag 
des  Sultans  für  eine  große  Summe  Goldes  abkaufen  zu  lassen, 
nimmt  man  ihm  die  Frau  gewaltsam  und  zählt  ihm  den  Kaufpreis 
auf  den  Mantel  hin.  Der  Sultan  erwählt  die  Frau  zu  seiner  Braut, 
verschiebt  jedoch  die  Vermählung  bis  nach  Vollendung  des  Kriegs- 
zuges und  schickt  diese  zu  Schiff  voraus.  Der  Ritter  wandert 
mit  seinem  dritten  Sohne  weiter  und  setzt  sich  unter  einem  Baume 
nieder.  Da  stürzt  sich  ein  Adler  herab  und  raubt  das  in  den 
Mantel  gewickelte  Gold  des  Ritters,  das  er  soeben  empfangen 
hatte.  Während  der  Vater  dem  Adler  nachjagt,  raubt  ein  Ein- 
horn den  dritten  Sohn.  Der  Ritter  begibt  sich  nun  in  eine 
Schraiedewerkstätte  und  weilt  dort  als  Handwerker  sieben  Jahre 
lang,  währenddes  er  sich  eine  vollständige  Rüstung  schmiedet. 
Nach  sieben  Jahren  gelingt  es  ihm,  an  einer  Schlacht  teilzunehmen, 
die  ein  christlicher  König  den  Ungläubigen  liefert,  und  dabei  den 
König,  der  ihm  seine  Frau  entführt  hat,  zu  erschlagen.  Er  gibt 
sich  aber  noch  nicht  zu  erkennen  und  nimmt  weitere  sieben  Jahre 
der  Buße  auf  sich,  bis  ihm  ein  Engel  die  Vergebung  seiner  Sünden 
verkündigt.  Nun  wandert  er  weiter  und  kommt  zu  einem  Lande, 
wo  eine  freigiebige  Königin,  eben  seine  Gattin,  regiert.  Er  nimmt 
an  einem  Turniere  teil,  so  daß  die  Königin  Interesse  an  ihm  ge- 
winnt. Da  findet  er  eines  Tages  in  einem  Adlernest  seinen  Mantel 
mit  dem  Golde  wieder,  und  die  Erinnerung  versetzt  ihn  in  tiefe 
Traurigkeit.  Die  Königin  forscht  der  Sache  nach,  und  wie  sie 
von  dem  Funde  hörte  und  das  Gold  ihr  gezeigt  wird,  erfolgt  die 
Wiedererkennungsszene.  Die  beiden  nun  vereinigten  Gatten  ge- 
raten aber,  weil  sie  die  Sarazenen  zum  Christentum  bekehren 
wollen,  in  Zwist  mit  diesen.  Und  wie  sie  beide  gewappnet  dem 
Sarazenenheer  gegenüberstehen,  erscheinen  ihnen  plötzlich  zu  Hülfe 
drei  Ritter  in  „Engelskleidung",  der  eine  auf  einem  Leoparden, 
der  zweite  auf  einem  Einhorn,   der  dritte  auf  einem  Löwen,   und 


die  Geschichte  eines  Wiedererkennungsmärchens.  513 

führeii    den   Sieg  des   Tages    herbei.     Freudig   feiern   Eltern   und 
Kinder  ihre  Wiedererkennung. 

15.  Das  vierte  in  diesen  Kreis  gehörige  Stück  ist  der  Meister- 
gesang vom  G-rafen  von  Savoyen  (in  Regenbogens  Ton  gedichtet). 
Die  Geschichte  erzählt:  Es  lebte  einst  ein  edler  Graf,  gewaltig 
und  reich,  der  sich  vermaß,  daß  es  in  aller  Welt  seines  Gleichen 
nicht  gäbe.  Er  hatte  eine  hochgeborene  Frau,  die  Schwester  des 
Königs  von  Frankreich.  Diesem  Ehepaar  erscholl  einst  eine 
Stimme  von  Gott  her,  welche  ihnen  die  Wahl  stellte,  ob  sie 
lieber  in  der  Ewigkeit  Not  und  Leid  erdulden  woll- 
ten, oder  in  dieser  Zeit.  Sie  wählen  natürlich  das  letztere. 
So  bricht  denn  sofort  Kriegsnot  über  sie  herein,  und  sie  verlassen 
das  Land,  um  sich  ins  Land  der  Heiden  übersetzen  zu  lassen.  Die 
Frau  gibt  dem  Grafen,  der  über  seinen  Verlust  von  Hab  und  Gut 
untröstlich  ist,  zwei  edle  in  Gold  gefaßte  Steine,  1200  Kronen 
wert.  In  dem  Augenblick  stößt  ein  Adler  vom  Himmel  herunter, 
der  die  Steine  in  dem  sie  enthaltenden  Säcklein  raubt.  Vergebens 
verfolgt  der  Ritter  den  Adler  und  kehrt  traurig  zu  seiner  Frau 
zurück.  Dem  Strande  nähert  sich  ein  Schiff  mit  vielen  Kaufleuten, 
und  da  diese  planen,  den  Grafen  in  das  Meer  zu  versenken  und 
die  Frau  allein  wegzuführen,  rät  die  Gräfin  ihm  selbst,  daß  er  sie 
jenen  Männern  verkaufe.  Er  bekommt  600  Kronen  für  sie  als 
Kaufpreis,  die  ihm  jedoch,  als  er  aus  dem  Schiff  gestoßen  wird, 
in  das  Meer  fallen.  Er  bleibt  allein  am  IJfer  zurück  und  begibt 
sich  schließlich  bei  einem  Herrn  im  Lande  Lampart  in  Dienst. 
Der  Gräfin  nimmt  sich  ein  alter  Mann  an,  der  den  Kaufleuten 
rät,  die  Frau  dem  König  von  Frankreich,  der  ein  schönes  Fräulein 
zur  Heirat  sucht,  zu  übergeben.  Der  König  nimmt  sie  mit  Freuden 
auf  und  bestimmt  sie  zu  seiner  Gemahlin.  Sie  bedingt  sich  aber 
ein  Jahr  Frist  aus,  bis  sie  ihn  heiratet.  Da  lad  der  König  zum 
Turnier  ein,  wer  Preis  und  Ehre  erwerben  wolle,  solle  zu  ihm 
kommen.  Mit  dem  Herrn  von  Lampart  kommt  der  Graf  zum 
Turnier.  Die  beiden  Gatten  erkennen  sich,  und  der  König  von 
Frankreich  gibt  ihnen  alles  Land,  Silber  und  Gold,  das  sie  ver- 
loren, und  noch  viel  mehr  zurück.  Es  ist  klar,  daß  diese  Geschichte 
mit  den  bisher  skizzierten  auf  das  engste  verwandt  ist,  obwohl 
in  ihr  die  beiden  Kinder  garnicht  mehr  erwähnt  werden  und  so 
der  ursprüngliche  Typus  des  Wiedererkennungsmärchens  arg  ent- 
stellt ist  (vergl.  den  Überblick  bei  Holland  S.  87 — 90;  dort  weitere 
Literaturangaben). 

16.  Ein  direkter  Abkömmling  von  Wilhelm  von  England  ist  end- 
lich der  Wilhelm  von  Wenden  des  Ulrich  von  Eschenbach.     Auch 


514  W.  Bousset, 

hier  ist  der  Held  König  und  trägt  den  Namen  Wilhelm,  doch  ist 
er  Heide.  Er  wandert  aus,  um  Christus  kennen  zu  lernen.  Unter- 
wegs gebiert  ihm  seine  Frau,  von  der  er  sich  eigentlich  insgeheim 
hatte  fortschleichen  wollen,  in  der  "Wildnis  Zwillinge.  Wie  dort 
wickelt  auch  hier  der  Vater  die  Knaben  in  seine  Rockschöße,  um 
sie  eben  an  diesem  Zeichen  später  wieder  zu  erkennen.  Dann 
verläuft  die  Erzählung  etwas  anders.  Wilhelm  verkauft  seine 
Knaben,  verläßt  seine  Gattin  und  geht  ins  heilige  Land,  um  sich 
dort  taufen  zu  lassen  und  gegen  die  Heiden  zu  kämpfen.  Die 
Gattin  ist  mittlerweile  Herzogin  geworden  und  bei  ihr  finden  sich 
die  Familienmitglieder  wieder.  (Vergl.  die  Inhaltsangaben  bei 
W.  Foerster,  Der  Karrenritter  des  Wilhelmsleben  p.  CLXXV  und 
Leo  Jordan  in  seinem  gleich  zu  erwähnenden  Aufsatz  im  Archiv 
für  das  Studium  der  neueren  Sprachen  Bd.  121  1908  S.  366.) 

Es  ist  auf  den  ersten  Blick  klar  und  längst  erkannt,  daß  die 
in  diesem  Abschnitt  behandelten  fünf  Erzählungen  auf  das  engste 
unter  einander  zusammen  gehören  und  gegenüber  der  gesamten 
übrigen  Überlieferung  eine  geschlossene  Einheit  darstellen.  Ich 
hebe  diejenigen  Züge,  die  für  diesen  Kreis  charakteristisch  sind, 
noch  einmal  besonders  hervor. 

a)  Das  stärkere  Hervortreten  der  Frau  in  der  Erzählung. 
Dies  Hervortreten  ist  ein  so  starkes,  daß  die  Frau  beinah  an 
Stelle  des  Mannes  die  eigentliche  Trägerin  und  Heldin  der  Er- 
zählung wird.  Immer  verläuft  die  Erzählung  so,  daß  die  Frau  es 
ist,  welche  zuerst  wieder  zu  Ehre  und  Würde  gelangt  und  Herr- 
scherin oder  Königin  des  betreffenden  Landes  wird,  in  dem  sie 
verweilt.  Immer  kommt  dann  der  Mann  unerkannt,  oft  als  elen- 
der Bettler,  an  den  Hof  seiner  Frau  und  wird  von  ihr  zur  könig- 
lichen Würde  erhoben.  In  dieser  Vertauschung  der  Rollen  von 
Seiten  der  beiden  Figuren  der  Erzählung  macht  sich  wohl  schon 
die  abendländische  mittelalterliche  Wertschätzung  der  Frau  und 
mittelalterliche  Romantik  geltend.  In  keiner  der  orientalischen 
Erzählungen  (abgesehen  von  der  buddhistischen  Legende  der  Pa- 
täcära,  doch  sind  hier  ganz  andere  Motive  maßgebend)  wird  in 
dieser  Weise- die  Frau  als  Heldin  verherrlicht.  Der  Orient  kennt 
allerdings  ein  anderes  Motiv,  dem  wir  später  noch  in  verwandten 
Erzählungen  begegnen  werden,  nämlich  das  der  verkleideten  Frau. 
Die  verlassene  Frau  zieht  Männergewand  an,  erlebt  in  dieser  Ver- 
kleidung allerlei  Schicksale  und  wird  so  zur  Heldin  der  Erzählung. 
Das  ist  wiederum  echt  orientalisch  gedacht.  Jordan  hat  in  dem 
oben  zitierten  Werk  diesen  fundamentalen  Unterschied  auf  die 
Formel  gebracht,  daß  in  den  orientalischen  Erzählungen  die  Schein- 


die  Geschichte  eines  Wiedererkennungsmärchens.  515 

ehe  des  Mannes,  in  den  abendländischen  Erzählungen  die  Scheinehe 
der  Frau  das  Zentrum  aller  Verwickelangen  bildet.  Aber  so  ist 
der  Unterschied  nicht  richtig  formuliert.  Die  Formulierung  bleibt 
vielmehr  an  einem  mehr  zufälligen  Einzelzuge  hängen.  Es  ist 
allerdings  richtig,  daß  fast  in  sämtlichen  genannten  mittelalter- 
lichen Erzählungen  die  Scheinehe  der  Frau  ein  besonders  markan- 
ter Zug  ist.  Dem  gegenüber  kann  man  darauf  hinweisen,  daß 
z.  B.  die  Schäh-Bacht- Erzählung  die  Scheinehe  des  Mannes  erwähnt. 
Aber  in  der  orientalischen  Überlieferungskette  spielt  im  großen 
und  ganzen  die  Scheinehe  des  Mannes  überhaupt  keine  besondere 
Rolle.  Andererseits  wird  auch  in  ihnen  Wert  darauf  gelegt,  daß 
die  geraubte  Frau  vor  der  Ehe,  die  ihr  aufgezwungen  werden  soll, 
bewahrt  bleibt  Zu  welchen  falschen  Folgerungen  die  Betonung 
des  Motivs  der  Scheinehe  bei  Jordan  führt,  zeigt  seine  Behandlung 
der  Placidas-Legende.  Er  stellt  sie  in  die  Reihe  der  abendländi- 
schen Erzählungen  (Scheinehe  der  Frau).  Aber  von  einer  Schein- 
ehe der  Frau  ist  hier  garnicht  die  Rede,  und  was  hier  von  der 
Frau  erzählt  wird,  daß  sie  von  dem  Zwang  der  Ehe  wunderbar 
bewahrt  bleibt,  führt  nicht  über  den  allgemeinen  Typ  der  orienta- 
lischen Märchen  hinüber,  Freüich  ist  das  Motiv  der  Scheinehe 
des  Mannes  hier  gänzlich  verschwanden,  wie  auch  in  anderen  Er- 
zählungen des  orientalischen  Überlieferungckreises.  Es  bleibt  doch 
dabei,  daß  in  der  Placidas-Legende  der  eigentliche  Held  der  Er- 
zählung der  Mann  ist,  daß  dieser  zuerst  zu  seiner  früheren  Würde- 
stellung wieder  erhoben  wird  und  daß  die  Frau  sich  zu  ihm  zurück- 
findet. Die  Placidas-Legende  steht  also  mit  ihrer  GrundaufPassung 
auf  Seite  der  orientalischen  Erzählungen,  gegenüber  dem  mittel- 
alterlichen Dichtungskreis. 

b)  Gemeinsam  verbunden  erscheinen  auch  die  unserem  Kreis 
angehörigen  Erzählungen  durch  das  Motiv,  durch  welches  die  ganze 
Handlung  in  Bewegung  gesetzt  wird.  Überall  drängt  sich  hier 
die  religiös  moralische  Betrachtung  stärker  hervor.  Der  König 
Wilhelm  von  England  erhält  durch  eine  dreimalige  Stimme  vom 
Himmel  her  den  Befehl,  Reich,  Hab  und  Gut  zu  verlassen.  Dem 
Ritter  Ysambrace  wird  durch  einen  Engel,  in  einer  zweiten  Rezen- 
sion durch  die  Stimme  eines  Vogels  sein  künftiges  Geschick  ver- 
kündet. Zum  Grafen  von  Savoyen  kommt  eine  Stinmie  von  Gott. 
In  den  Erzählungen  vom  Ritter  Ysambrace  und  dem  Grafen  von 
Savoyen  wird  ausdrücklich  der  Hochmut  des  Helden  als  der  Grund 
seines  späteren  traurigen  Geschickes  angesehn.  Er  wird  diesem 
unterworfen,  damit  er  sich  bessere  und  Buße  tue.  In  dem  Gedicht 
von  der  guten  Frau,   welchem  der  Zug  von  der  vom  Himmel  er- 


516  W.  Bousset, 

schallenden  Stimme  fehlt,  wandert  der  Held  aus  eigenem  Antrieb 
aus,  weü  er  sein  bisheriges  weltliches  Leben  für  Sünde  hält  und 
Buße  tun  will.  Wilhelm  von  Wenden  zieht  in  die  Fremde,  um 
Christus  zu  suchen.  Genug,  überall  sind  wir  bei  unseren  Er- 
zählungen im  religiös-moralischen  Milieu  des  Mittelalters.  Zwei 
von  unseren  Erzählungen  stimmen  noch  in  dem  merkwürdigen  Zug 
überein,  daß  dem  Helden  bei  der  Verkündigung  seines  Schicksals 
die  Wahl  gelassen  wird,  ob  er  lieber  im  Alter  oder  in  der  Jugend, 
lieber  in  der  Ewigkeit,  oder  im  Diesseits  Strafe  und  Leid  auf  sich 
nehmen  wolle.  —  Es  läßt  sich  nicht  leugnen,  daß  an  diesem  Punkte 
die  Placidas-Legende  die  nächsten  Parallelen  aufweist.  Auch  hier 
oiFenbart  der  dem  Eeldherrn  erscheinende  Christus  diesem  am  An- 
fang der  Erzählung  sein  künftiges  Geschick.  Auch  hier  wird  ihm 
die  Wahl  gelassen,  ob  er  dieses  in  der  Jugend  oder  im  Alter  auf 
sich  nehmen  wolle.  Doch  ist  eine  beachtenswerte  Differenz  bei 
alledem  zu  notieren.  In  der  Placidas-Legende  weissagt  Christus 
dem  Feldherrn  nur  sein  Geschick  und  dieses  bricht  von  sich  aus 
über  ihn  herein.  In  unserem  mittelalterlichen  Erzählungskreis 
wird  die  göttliche  Stimme,  oder  ein  religiöses  Motiv  direkt  die 
Veranlassung,  daß  der  Ritter  sein  Heim  verläßt  und  in  Elend 
und  Not  gerät.  Nur  die  Erzählung  vom  Ritter  Ysambrace  zeigt 
hier  eine  unmittelbare  Parallele  mit  der  Placidas-Legende;  sie 
könnte  in  der  Tat  nebenbei  von  dorther  beeinflußt  sein,  zumal  sie 
auch  an  anderen  Punkten,  vor  allem  in  der  Erzählung  vom  Ver- 
lust der  Kinder,  in  überraschender  Weise  mit  dieser  übereinstimmt. 
Andererseits  wird  man  mit  der  Annahme  einer  direkten  Beziehung 
zwischen  der  Placidas-Legende  und  unserem  ganzen  Erzählungs- 
kreis, wie  weiter  unten  noch  genauer  hervorgehoben  werden  soll, 
sehr  vorsichtig  sein  müssen.  Gerade  in  den  eben  hervorgehobenen 
Zügen  der  Himmelstimme  und  der  dem  Ritter  frei  gelassenen  Wahl 
der  Zeit  seiner  Geschickserfüllung  zeigt  sich  die  Placidas-Legende, 
wie  wir  sahen,  verwandter  mit  dem  armenischen  Märchen,  das  doch 
sicher  unabhängig  von  ihr  ist,  als  mit  dem  mittelalterlichen  Dichtungs- 
kreis. Es  bleibt  daher  sehr  wohl  möglich,  daß  jene  charakteristischen 
Züge  aus  irgend  einer  anderen  Quelle  als  der  Placidas-Legende 
selbst  in  die  Dichtung  vom  Ritter  Ysambrace  übergegangen  sind, 
c.  Auch  darin  stimmen  alle  Glieder  unseres  Kreises  überein, 
gegenüber  den  uns  bisher  bekannt  gewordenen  Erzählungen,  daß 
die  Geburt  der  Kinder  (hier  Zwillinge)  erst  nach  der  Flucht  des 
Ehepaares  in  der  Einsamkeit,  im  wilden  Walde,  erfolgt.  Damit 
nähern  sich  unsere  Erzählungen  dem  nur  noch  teilweise  hier  her 
gehörigen  und   daher   von  uns  nicht  mehr  ausführlich  behandelten 


die  Geschichte  eines  Wiedererkennungsroärchens.  517 

Märchenkreis,  in  welchem  die  unschuldig  vertriebene  fromme  Frau 
in  der  Einsamkeit  des  Waldes  mit  einem  Söhnchen,  oder  mit  Zwil- 
lingen, niederkommt.     (Genoveva-Motiv). 

d.  Ein  weiteres  charakteristisches  Motiv  unserer  Erzählungen 
ist  das  vom  Verkauf  der  Frau.  Auch  dieses  findet  sich  in  ihnen 
allein,  gegenüber  allen  uns  bisher  bekannt  gewordenen  Erzählungen. 
Es  ist  in  allen  Erzählungen  mehr  oder  minder  verschleiert.  Dem 
Wilhelm  von  England  rauben  die  Schiffer  die  Frau  und  werfen 
ihm  dafür  5  Byzantinen  zu.  Der  Ritter  Ysambrace  wird  gewalt- 
sam zum  Verkauf  gezwungen  und  ihm  der  Kaufpreis  auf  den 
Mantel  dargezählt.  Aber  auch  die  „gute  Frau"  läßt  sich  frei- 
willig zur  Leibeigenen  verkaufen  und  der  Graf  von  Savoyen 
verkauft,  um  seinem  grausamen  Geschick  zu  entgehen,  seine  Frau 
in  Übereinstimmung  mit  ihr.  Nur  im  Wilhelm  von  Wenden 
ist  dies  Motiv  gänzlich  verschwunden.  Wenn  wir  es  genauer  be- 
trachten, so  sieht  gerade  dies  Motiv  des  Verkaufes  der  Frau  durch 
den  Mann  sehr  ursprünglich  und  sehr  orientalisch  aus.  Es  wäre 
möglich,  daß  uns  hier  der  mittelalterliche  Dichtungskreis  das  ur- 
sprüngliche Motiv  der  Erzählung  gegenüber  allen  anderen  Über- 
lieferangsgliedem  noch  am  reinsten  erhalten  hätte.  Auch  in  den 
uns  bekannt  gewordenen  orientalischen  Erzählungen  scheint  übrigens 
dies  Verkaufsmotiv  hie  und  da  noch  hindurch  zu  schimmern^). 
Ebenso  möglich  bleibt  es  allerdings  auch,  daß  ein  fremdes  Motiv, 
das  freilich  kaum  im  abendländischen  Milieu  entstanden  ist,  in  die 
Erzählung  eindrang.  Das  Motiv  des  Verkaufes  der  Frau  oder  der 
Geliebten,  ist  uns  bekanntlich  aus  lÜOl-Xacht  geläufig^). 

e.  Wohl  die  hervorstechendste  Eigentümlichkeit,  durch  die 
letztlich  unsere  Erzählungen  miteinander  verbunden  sind,  ist  das 
des  Raubes  durch  den  Adler  (oder  einen  Vogel):  Ein  Adler  raubt 
dem  Helden,  nachdem  dieser  alles  verloren  hat,  endlich  auch  noch  seine 
Börse  mit  den  Kaufpfennigen.  In  wunderbarer  Weise  bringt  er 
dann  seinen  Fund  zurück,  etwa  genau  in  dem  Moment,  wo  die 
Wiedererkennungsszenen  beginnen,  oder  der  Ritter  findet  auch 
sein  Geld  im  Nest  des  Adlers.  Jedenfalls  spielt  Erstattung  dieses 
Verlustes  fast  immer  eine  wesentliche  Rolle  bei  den  Wiederer- 
kennungsszenen.    Nur   im    Grafen   von    Savoyen    steht    der   Zug 


1)  Vgl.  z.  B.  Die  jüdische  Erzählung  Nr.  3  und  die  berberische  Xr.  5,  in 
denen  berichtet  wird,  daß  die  Frau  beginnt,  die  niedrigsten  Dienste  zu  verrichten, 
um  sich  und  ihre  Familie  zu  ernähren,  oder  den  Mann  aus  dem  Gefängnis  los- 
zukaufen. 

2)  Vgl.  z.  B.  die  Erzählung  in  1001 -Nacht  von  Ali  Nur  ed-Din  und  Enis 
el-Dschelis.     Henning  II  104  flf. 

Kgl.  Oes.  d.  Wiss,    Nachrichten.    Phil.-hist.  Klasse.    1916.    Heft  4.  '  36 


518  W.  Bousset, 

ziemlich  zusammenhangslos  da.  Nicht  der  Kaufpreis  wird  dem 
Ritter  durch  den  Adler  geraubt,  sondern  die  Frau  schenkt  ihm 
zwei  wertvolle  Steine,  die  der  Adler  ihm  dann  nimmt.  —  Hier 
ist  offenbar  ein  der  ursprünglichen  Erzählung  fremder  Zug  in  diese 
eingedrungen.  Auch  dieser  Zug  mag  aus  der  orientalischen  Märchen- 
welt stammen.  Bereits  Holland  a.  a.  0.  S.  97  hat  hier  auf  die  schöne 
1001-Nacht-Erzählung  von  dem  Prinzen  Kamar  es-Samän  und  der 
Prinzessin  Budür  hingewiesen:  Dem  Prinzen  wird  ein  kostbarer 
Edelstein,  den  er  bei  der  Prinzessin  Budür  gefunden  hat,  durch 
einen  Vogel  geraubt.  Bei  der  Verfolgung  verirrt  er  sich  in  ferne 
und  fremde  Gregenden,  verliert  die  Prinzessin  und  erst  nach  mannig- 
fachen Schicksalen  erfolgt  die  Wiedervereinigung  des  Paares,  bei 
welcher  der  geraubte  Stein  eine  wesentliche  Rolle  spielt  ^).  In  der 
Erzählung  von  der  schönen  Magelone  (K.  Simrock,  Volksbücher  I 
S.  87)  hat  Holland  diesen  orientalischen  Märchenzug  übrigens  in 
einer  ursprünglicheren  und  an  1001-Nacht  viel  stärker  anklingenden 
Form  nachgewiesen. 

An  diesem  Punkt  haben  wir  eins  der  Hauptprobleme  un- 
serer Untersuchung  zu  behandeln.  Nämlich  die  Frage  nach  dem 
Verhältnis  der  Placidas-Legende  zu  unserem  mittelalterlichen  Sagen- 
kreis. Auf  gewisse  Berührungen  zwischen  beiden  wurde  ja  bereits 
hingewiesen  und  dabei  schon  hervorgehoben,  daß  diese  Parallelen 
uns  vor  der  Hand  keineswegs  zwingen,  eine  direkte  Beziehung 
zwischen  der  Legende  und  den  mittelalterlichen  Dichtungen  anzu- 
nehmen. Nun  ist  es  freilich  in  den  Kreisen  derjenigen  Forscher, 
die  sich  mit  der  einen  oder  anderen  der  mittelalterlichen  Dichtun- 
gen beschäftigt  haben,  soweit  ich  sehe  seit  den  trefflichen  Unter- 
suchungen Hollands,  fast  zum  Dogma  erhoben,  daß  jene  mittel- 
alterlichen Dichtungen  sämtlich  im  Verhältnis  der  Abhängigkeit 
zur  Placidas-Legende  stünden.  So  urteilt  z.  B.  der  verdiente  For- 
scher auf  dem  Gebiet  des  Wilhelmslebens  W.  Foerster:  „Sicher  ist, 
daß  alle  diese  Erzählung  ;n  aus  der  alten  Eustachius-Legende  sich 
gerades wegs  entwickelt  haben".  (Wilhelmsleben  und  Karrenritter. 
CLXXVI).  Jordan  in  seiner  oben  (S.  514)  angegebenen  Untersuchung 
setzt  ebenfalls  dies  Urteil  als  gegeben  voraus  und  wagt  nur  zaghaft  für 
einige  andere  weiter  unten  zu  besprechende  Erscheinungen  eine 
andere  Beurteilung  einzuführen.  Monteverdi  hat,  wie  im  Anfang 
bereits  hervorgehoben  wurde,  sogar  jenes  Dogma  zu  der  Behauptung 
gesteigert,    daß   die  Eustachius-Legende  überhaupt,    als  die  letzt 


1)    Auch  in  der  Kamar  es-Samän-Erzählung  wird  der  Edelstein  das  Mittel, 
durch  welchen  die  Prinzessin  Budur  den  Aufenthalt  ihres  Gemahls  entdeckt. 


die  Geschichte  eines  Wiedererkennungsmärchens.  519 

erreichbare  Instanz  aller  eng  verwandten  Parallelen  auch  der 
orientalischen  anzusehen  sei.  Diese  Meinung  entstand  offenbar  in 
einer  Zeit  (vgl.  die  Ausführung  von  Holland),  in  der  die  weite  Ver- 
breitung unseres  Märchenstoffes  noch  nicht  bekannt  war  und 
man  nur  einen  ganz  kleinen  Teil  des  Materials  übersah.  Auch  der 
Umstand,  daß  die  Eustachius-Legende  äußerlich  betrachtet  nach- 
weisbar ein  älteres  Datum  trägt,  als  die  meisten  uns  bekannt 
gewordenen  Parallelen  und  vor  allem  als  die  mittelalterlichen 
Dichtungen,  hat  jener  Meinung  offenbar  Stütze  und  Halt  gegeben. 
Und  so  hat  diesse  sich  in  den  Köpfen  der  Forscher  zum  Dogma 
verhärtet.  Sie  ist  trotz  aUedem  eigentlich  durch  nichts,  aber  auch 
durch  garnichts  begründet,  und  man  sucht  vergeblich  bei  sämt- 
lichen Forschern,  die  sie  so  zuversichtlich  aufstellen,  auch  nur 
nach  dem  Schatten  eines  Beweises.  Auch  hier  steht  vor  allem  die 
schon  hervorgehobene  Tatsache  dieser  These  entgegen,  daß  die  Pla- 
cidas-Legende  eine  Kombination  von  drei  Motiven  darstellt,  von 
denen  nur  das  eine  weiter  gewandert  wäre.  Es  ist  aber  methodisch 
falsch,  das  Einfache  aus  dem  Komplizierten  abzuleiten.  Und  wenn 
man  auch  allenfalls  einwenden  könnte,  daß  das  dritte  Motiv  der 
Placidas-Legende,  das  Martyrium  des  Helden,  in  der  Sagen-  und 
Märchenüberlieferung  des  Älittelalters  hätte  wieder  verschwinden 
können,  so  wäre  es  doch  völlig  unbegreiflich,  daß  das  schöne 
Hirschmotiv  in  allen  besprochenen  Parallelen  restlos  verschwunden 
wäre.  Was  vor  allem  den  mittelalterlichen  Dichtungskreis  anbe- 
trifft, so  wäre  noch  hervorzuheben,  daß  die  beiden  Motive  des 
Frauenverkaufs  und  des  Raubes  der  Groldbörse  durch  den  Vogel 
aus  der  Placidas-Legende  nicht  abzuleiten  sind,  und  daß  das  erstere 
wahrscheinlich,  das  zweite  sicher  orientalischen  Ursprungs  ist; 
daß  also  hier  sicher  der  mittelalterliche  Dichtungskreis  direkt  und 
ohne  Vermittelung  durch  die  Placidas-Legende  mit  dem  Orient  ver- 
bunden ist. 

17.  Das  vorliegende  Problem  kompliziert  sich  aber  noch  in  inter- 
essanter und  schwieriger  Weise  durch  eine  Frage,  die  mit  der 
Überlieferung  der  Placidas-Legende  zusammenhängt.  Die  Placidas- 
Legende  findet  sich  bekanntlich  auch  in  dem  Vulgärtext  der  Gresta 
Romanorum  c.  110.  Aber  sie  hat  dort  in  der  ursprünglichen  An- 
lage der  Gesta  keine  sichere  Stelle.  Es  muß  in  diesem  Zusammen- 
hang nämlich  auch  die  Überlieferung  der  anglolatinischen  Gesta 
und  ihrer  englischen  Übersetzung  herangezogen  werden.  Über 
die  schwierigen  Fragen  der  Entstehung  und  Überlieferung  des 
Sammelwerkes  der  Gesta  haben  die  Untersuchungen  von  H. 
Oesterley  (Gesta  Romanorum  Berlin  1872)  erst  volle  Klarheit  ge- 

36* 


W.  Bousset, 

schaffen.  Danach  ist  die  ursprüngliche  Sammlung  am  Ende  des 
13.,  höchstens  am  Anfang  des  14.  Jahrhunderts  entstanden.  (Wir 
besitzen  bereits  eine  Handschrift  der  Gesta  aus  dem  Jahr  1326) 
Ihr  Entstehungsort  ist  wahrscheinlich  England,  jedenfalls  repräsen- 
tieren die  anglolatinischen  Handschriften  (Hauptvertreter  Harl.  2270) 
und  die  ihnen  entstammende  englische  Übersetzung  den  ältesten 
und  besten  Zweig  der  Überlieferung.  Durch  eine  Erweiterung 
dieser  Sammlung  entstand  diejenige  Form,  welche  in  den  in  Deutsch- 
land vorhandenen  Handschriften  und  einer  germanischen  Ueber- 
setzung  vorliegt.  Aas  dieser  Redaktion  entwickelte  sich  durch 
eine  Auswahl  von  150  Nummern  die  Editio  princeps.  Erst  eine 
zweite  Erweiterung  von  181  Erzählungen  repräsentiert  den  Vulgär- 
text. Sehen  wir  uns  nun  den  besten  Zweig  dieser  Überlieferung, 
den  durch  die  englische  Übersetzung  repräsentierten  anglolati- 
nischen an,  so  finden  wir  in  der  Ausgabe,  die  Sidney  I.  H.  Herrtage 
(Early  english  Text  Society  Extra-Serie  33:  The  early  english 
versions  of  the  Gresta  üomanorum)  nach  drei  Handschriften  heraus- 
gegeben hat,  p.  87  unter  No.  XXIV  (nur  nach  einer  englischen 
Handschrift  Harl.  7333,  vgl.  anglolatin  Harl.  2270),  die  Placidas- 
Legende  ohne  den  Namen  ihres  Helden  in  einer  völlig  anderen 
Form.  Der  Bericht  lautet:  Averyus,  ein  römischer  Kaiser,  lud 
einst  alle  Welt  zu  einem  großen  Turnierfest  ein  und  versprach 
dem  Sieger  seine  Tochter  zur  Frau.  Da  war  ein  Ritter,  der  hatte 
ein  Weib  und  zwei  kleine  Kinder,  und  als  der  Ritter  den  Ruf  des 
Königs  vernommen  hatte,  ging  er  in  den  Wald  und  hörte  eine 
Nachtigall  einen  wunderbar  süßen  Gesang  singen.  Ein  alter  Mann 
deutete  ihm  den  Inhalt  dieses  Sanges.  Er  soll  nach  dreien  Tagen 
zum  Fest  des  Kaisers  ziehen,  aber  dann  große  Not  und  Sorge  er- 
leben. Aber  wenn  er  geduldig  bleibe,  solle  sein  Leid  in  Freude 
verkehrt  werden.  Der  Greis  verschwindet  und  der  Vogel  fliegt 
davon.  Der  Ritter  teilt  seiner  Frau  sein  Erlebnis  mit.  Sie  be- 
schließen, dennoch  zum  Hofe  des  Königs  zu  ziehen.  Als  sie  gerade 
im  Begriff  sind  zu  reisen,  bricht  ein  Feuer  aus  und  beraubt  sie 
aller  ihrer  Habe.  Sie  besteigen  ein  Schiff,  und  als  das  Schiff  sie 
ans  Land  gebracht  hat,  behält  der  Schiffsherr,  da  der  Ritter  ihm 
den  Fahrpreis  nicht  zahlen  kann,  die  Frau  als  Pfand  zurück.  Er 
hätte  sie  gerne  geheiratet,  aber  die  Frau  weigert  sich  bis  auf  den 
Tod,  und  in  kurzer  Zeit  starb  jener  Schiffsherr,  und  die  Frau  be- 
ginnt, ihr  Brot  von  Tür  zu  Tür  zu  erbetteln.  Der  Held  setzt  mit 
den  beiden  Knaben  seinen  Weg  fort,  es  erfolgt  die  bekannte  Szene 
des  Stromüberganges.  Das  eine  Kind  wird  hier  durch  einen  Löwen, 
das  andere  durch  einen  Bären  geraubt.    Der  Ritter  kommt  an  den 


die  Geschichte  eines  "Wiedererkennungsmärchens.  521 

kaiserlichen  Hof  zum  Tnmier,  gewinnt  dort  den  Sieg  und  wird 
vom  Kaiser  zum  Feldherm  seines  Heeres  ernannt.  Eines  Tages 
findet  er  in  einer  Stadt,  in  die  er  kommt,  einen  kostbaren  weiß, 
rot  und  schwarz  gefärbten  Stein;  ein  Steinkundiger,  dem  er  den 
Stein  zur  Prüfung  vorlegt,  sagt  ihm,  daß  der  Stein  die  Eigenschaft 
habe,  jemandem,  der  alle  Dinge  verloren  habe,  diese  wieder  zu 
verschaffen.  Der  Ritter  ist  hocherfreut  darüber,  und  schon  beginnt 
sich  sein  Geschick  zu  wenden.  In  seinem  Heer  befinden  sich  zwei 
junge  Ritter,  die  sich  gemeinsam  in  allen  Kämpfen  auszeichnen, 
sie  werden  bekannt  mit  einander  und  beginnen  sich  ihre  Geschichte 
zu  erzählen.  Der  jüngere  Bruder  beginnt  mit  der  Erzählung  seiner 
uns  bekannten  Erlebnisse  und  fügt  hinzu,  daß,  wie  er  vom  Löwen 
geraubt  sei,  ein  Bürger  aus  einer  benachbarten  Stadt  ihn  gerettet 
und  aufgezogen  habe.  Der  ältere  Bruder,  der  nun  beginnt,  weiss 
noch  mehr  aus  seiner  Jugend  zu  erzählen  und  schließt  seine  Er- 
zählung mit  dem  Bericht,  wie  Dorfbewohner  ihn  aus  den  Klauen 
des  Bären  befreit  haben.  Und  während  sie  so  erzählten,  hörte 
eine  schöne  Frau,  die  zufällig  in  demselben  Gasthaus  wohnt,  ihre 
Erzählung,  erkennt  ihre  Söhne  und  umarmt  sie  unter  Freuden- 
thränen.  Die  ganze  Nacht  bleiben  sie  froh  zusammen.  Am  anderen 
Morgen  begegnen  sie  auf  der  Straße  dem  Feldherm  des  Heeres, 
der  die  ihm  wohlbekannten  Jünglinge  begrüßt  und  sie  fragt,  was 
sie  für  eine  schöne  Dame  bei  sich  haben.  Da  erkennt  die  Frau 
ihren  Mann  an  einem  Kennzeichen  an  seiner  Stirn,  fällt  ihm  um 
den  Hals  und  küßt  ihn.  So  haben  sich  Vater  und  Mutter  und  die 
beiden  Söhne  wieder  zusammen  gefunden. 

Die  Überlieferung  in  dem  anglolatinischen  Zweig  der  Gesta 
verdient  das  allerhöchste  Interesse.  Sollten  wir  in  ihr  vielleicht 
eine  höchst  interessante  Vorstufe  der  Placidas-Legende  gefunden 
haben?  Auf  den  ersten  Blick  zeigt  sich  die  außerordentliche  und 
enge  Verwandtschaft  mit  dieser,  auf  der  anderen  Seite  aber  auch 
die  Selbstständigkeit  unserer  Erzählung.  Denn  in  der  vorliegenden 
Erzählung  fehlt  in  der  Tat  die  Bekehrung  durch  den  Hirsch  am  Anfang 
und  das  Martyrium  am  Schluß.  Man  würde  also  vielleicht  anzunehmen 
haben,  daß  die  ursprünglichen  Gesta  in  ihrer  Sammlung  noch  nicht 
die  eigentliche  Placidas-Legende  aufgenommen  haben,  sondern  daß 
ihnen  auf  irgend  einem  Wege  noch  deren  Vorstufe  zugänglich 
gewesen  sei.  Die  festländische,  germanische  Bearbeitung  würde, 
dann  an  Stelle  der  älteren  Legende,  die  mit  ihr  eng  verwandte 
und  weit  verbreitete  Placidas-Eustachius- Legende  erst  eingefügt 
haben.  Das  scheint  auch  die  Ansicht  von  P.  H.  Ogden  zu  sein. 
Der  in  dem  auf  S.  22  seiner  Abhandlung  entworfenen  Stammbaum 


522  W.  Bousset, 

unserer  gesamten  Märchenüberlieferung  den  anglolatinischen 
Gesta  eine  Stelle  vor  der  gesamten  anderen  Placidas-Über- 
lieferung  in  den  Acta  Sanctorum  etc.  gibt,  sie  direkt  von  dem 
arabischen  Zweig  der  Gresamtüberlieferung  ableitet  und  von  hier 
aus  die  Linie  hinüberzieht  zu  dem  mittelalterlichen  Dichtungskreis, 
während  Placidas-Legende  und  mittelalterlicher  Dichtungs kreis  nach 
ihm  gar  keine  direkte  Beziehung  zu  einander  haben, 

Granz  so  einfach  liegen  die  Dinge  hier  allerdings  kaum.  Auch 
die  Erzählung  in  den  anglolatinischen  Gesta  kann,  so  wie  sie  vor- 
liegt, die  unmittelbare  Vorstufe  der  Placidas-Legende  nicht  dar- 
stellen, Sie  ist  mit  sekundären  Zügen  vermischt  und  zeigt  in  sich 
Unstimmigkeiten,  die  an  ihrem  ursprünglichen  Charakter  irre  machen. 
Eine  greifbare  Unstimmigkeit  ist  es,  wenn  unser  Held  mit  Frau 
und  zwei  Kindern  sich  zu  einem  Turniere  aufmacht,  bei  welchem 
der  König  seine  Tochter  dem  Sieger  zum  Weibe  versprochen  hat. 
Überhaupt  ist  das  Motiv  des  Turniers  und  der  Zug,  daß  der  Ritter 
durch  den  Sieg  im  Turnier  sich  eine  angesehene  Stellung  wieder- 
erringt, durchaus  mittelalterlich,  uns  auch  schon  in  einigen  mittel- 
alterlichen Parallelen  begegnet.  Immerhin  mag  es  ursprünglich 
sein,  daß  der  Held  der  Erzählung  zu  einem  Fest,  das  der  Kaiser 
in  Rom  gibt,  zieht,  auf  dem  Wege  dahin  alles,  was  er  besitzt, 
verliert,  dafür  aber  von  dem  Kaiser  zunächst  zum  Feldherrn 
befördert  wird.  Es  scheint  sogar,  als  wenn  in  der  Rezen- 
sion Gr  der  Placidas-Legende  (s.  o.)  ein  Rudiment  dieser  Er- 
zählung stehen  geblieben  ist.  Hier  ist  ganz  unmotiviert  von 
einem  großen  Siegesfest,  das  der  römische  Kaiser  gibt^ 
die  Rede,  bei  dem  man  den  Placidas  vergeblich  sucht.  Auch  der 
Zug,  daß  der  Ritter  den  wunderbaren  Stein  findet,  dessen  Eigen- 
schaft ihm  den  Wiedergewinn  alles  dessen,  was  er  verloren  hat, 
verheißt,  mag  späteren  Datums  sein.  (Vgl.  das  Motiv  des  geraubten 
Goldes  oder  Edelsteins  im  mittelalterlichen  Dichtungskreis.)  Eine 
andere  Unstimmigkeit  in  der  Erzählung  meint  Ogden  gefunden  zu 
haben.  Er  weist  darauf  hin,  daß  die  Frau  hier  ihre  Söhne  sofort 
nach  deren  Erzählung  wiedererkennt,  ohne,  daß  erst  die  Wieder- 
erkennung mit  dem  Gatten  erfolgt,  und  ist  der  Meinung,  daß  das 
im  Widerspruch  stehe  mit  dem  Anfang  der  Erzählung,  nach  wel- 
chem der  Raub  der  Frau  vor  dem  Verlust  der  Söhne  erfolgte. 
Ogden  meint  daraus  schließen  zu  können,  daß  in  dem  Urbild  der 
anglolatinischen  Version  in  ähnlicher  Weise,  wie  z.  B.  in  der  Schah- 
Bacht-Erzählung  der  Raub  der  Frau  hinter  dem  Verlust  der  Söhne 
erzählt  sei,  und  daß  die  Umstellung  vielleicht  eine  Beeinflussung 
der   anglolatinischen  Version  durch   die  spätere  Placidas-Legende 


die  Geschichte  eines  Wiedererkennangsmärchens.  523 

verrate.  Ich  halte  diese  Vermutung  nicht  für  ganz  gesichert.  Aus 
dem,  was  der  ältere  Sohn  von  seinen  Lebens  Schicksalen  dem  Bruder 
erzählt,  konnte  die  Mutter  sehr  wohl  die  Gewißheit,  daß  sie  ihre 
Kinder  vor  sich  habe,  entnehmen,  auch  wenn  sie  bei  dem  Raub 
der  Kinder  durch  die  Tiere  nicht  mehr  dabei  gewesen  war.  Siche- 
res wird  hier  bei  den  ständig  sich  kreuzenden  Einflüssen  und  Über- 
arbeitungen nicht  ausgemacht  werden  können.  Als  Resultat  er- 
gäbe sich  demgemäß,  daß  die  anglolatinischen  Gesta  zwar  nicht 
die  direkte  Quelle  der  Placidas-Eustachius-Legende  darstellen,  aber 
daß  sie  doch  diejenige  Form  des  orientalischen  Märchens  am  besten 
wiederspiegeln,  das  in  der  Placidas-Legende  mit  Hirschmotiv  und 
Martyrium  vereinigt  wurde.  Andererseits  scheinen  von  dieser  Form 
der  Erzählung  aus  wiederum  Linien  zu  jenem  mittelalterlichen 
Kreis  von  Dichtungen,  der  wir  in  diesem  Abschnitt  unsere  Auf- 
merksamkeit zuwandten,  hinüber  zu  laufen  (die  Vogelstimme  am 
Anfang,  das  Motiv  des  Turniers,  der  wunderbare  Stein). 


VI. 

18.  Eine  besondere  Stellung  für  sicli  nimmt  in  dieser  ganzen 
Überlieferung  die  spanische  Romanze  vom  Cavallero  Cifar^)  ein. 
Cifar  wandert  mit  Frau  und  zwei  Söhnen  aus,  weil  ihn  der  König, 
in  dessen  Dienst  er  steht,  nicht  seiner  Gewohnheit  gemäß  im 
Kriege  verwandte.  Nach  einigen  kriegerischen  Erlebnissen  kommt 
er  in  die  Ebene  Falac.  Dort  wird  der  älteste  Sohn  Garfin,  wäh- 
rend die  Eltern  schlafen,  von  einer  Löwin  entführt.  Gleich  darauf 
verlieren  sie  in  einer  Stadt  den  zweiten  Sohn,  der  sich  verläuft. 
Cifar  will  sich  mit  seiner  Frau  nach  Orbin  einschiffen.  Da  nehmen 
ihm  die  Schiffer,  vom  Teufel  verblendet,  die  Frau  fort  und  lassen 
ihn  allein  zurück,  während  sie  jene  zu  Schiff  entführen.  Die  See- 
leute erschlagen  sich  gegenseitig,  und  sie  wirft  einer  göttlichen 
Stimme  folgend  alle  Leichen  ins  Wasser.  So  kommt  sie  unbehelligt 
nach  Orbin  und  gründet  mit  den  Reichtümern,  die  ihr  durch  das 
Schiff  zufielen,  dort  ein  Nonnenkloster,  in  dem  sie  neun  Jahre 
verbleibt^).  Während  dieser  Zeit  kommt  der  Gatte  mit  seinem 
Knappen  Ribaldo  zum  König  von  Menton.  Er  besiegt  dessen  Feind, 
dessen   beide  Söhne   er   tötet.     Lafolgedessen  gibt  der  König  ihm 

1)  Ausgabe:  Michelant  Historia  del  Cavallero  Cifar.  Tübingen  1872.  Vgl. 
W.  Foerster,  Karrenritter  u.  Wilhelmsleben  CXXIVf. 

2)  Eine  beachtenswerte  Parallele  zu  diesem  Sonderzug  wird  weiter  unten 
im  Abschnitt  VII  behandelt  werden. 


524  W.  Bousset, 

seine  Tochter  zur  Frau  und  stirbt  bald  darauf,  so  daß  Cifar  König 
wird.  Er  gedenkt  aber  in  Trauer  seiner  geraubten  Frau  und 
schiebt  bei  seiner  zweiten  Frau  ein  G-elübde  vor,  das  ihn  zu  zwei- 
jähriger Keuschheit  verpflichte.  Die  Grattin  willigt  ein,  die  Buße 
mit  ihm  zu  tragen.  Abermals  auf  eine  göttliche  Stimme  hin  hat 
die  rechtmäßige  Gattin  Orbin  verlassen  und  ist  nach  Menton  ge- 
kommen. Die  beiden  Söhne  sind  mittlerweile  von  einem  Bürger 
aufgenommen  und  erzogen  worden,  der  sie  nun  nach  Menton  sendet, 
um  sie  zu  Rittern  schlagen  zu  lassen.  Cifar  und  seine  Frau  er- 
kennen sich  sehr  bald,  nachdem  diese  an  den  Hof  gekommen  ist, 
wagen  aber  wegen  der  Doppelehe  nicht,  sich  gegenseitig  zu  ent- 
decken. Durch  einen  merkwürdigen  Umstand  wird  die  Mutter 
zur  "Wiedererkennung  mit  ihren  Söhnen  geführt.  Eine  ihrer  Die- 
nerinnen belauscht  folgende  Szene.  Zwei  Jünglinge  lehnen  an 
einem  Hause,  an  dem  sich  ein  steinerner  Löwe  befindet ;  da  erinnert 
einer  den  andern,  wie  er  von  einer  Löwin  entführt,  aber  von 
seinem  Pflegevater  gerettet  worden  sei.  Die  Mutter,  von  der 
Dienerin  herbeigeholt,  erkennt  ihre  Söhne,  und  da  der  Vater  be- 
reits seine  Frau  erkannt  hat  und  mittlerweile  die  zweite  Gattin 
des  Ritters  zur  rechten  Zeit  gestorben  ist,  steht  der  glücklichen 
Wiedervereinigung  der  ganzen  Familie  nichts  mehr  entgegen.  (Der 
Inhalt  der  Erzählung  ist  skizziert  nach  Jordan,  die  Eustachius- 
legende,  Christians  Wilhelmsleben,  ßoeve  de  Hanstone  und  ihre 
orientalischen  Verwandten,  Archiv  für  das  Studium  der  neueren 
Sprachen  Bd.  121  1908  S.  350,  357,  359). 

Auf  den  ersten  Blick  zeigt  sich,  daß  diese  Erzählung  ganz 
und  gar  von  dem  in  dem  vorhergehenden  Abschnitt  behandelten 
Kreise  abseits  steht.  Keine  der  speziellen  Züge  jener  Sippe  findet 
sich  hier  wieder.  Der  Hauptheld  bleibt  in  dieser  Erzählung  der 
Mann.  Das  Motiv  der  Scheinehe,  das  in  dem  Roman  stark  betont 
wird,  fällt  dem  Manne  zu.  Die  Frau  kommt  an  den  Hof  des 
Mannes,  der  mittlerweile  zu  königlichen  Ehren  erhoben  ist.  Die 
beiden  Knaben  des  Paares  werden  nicht  erst  während  der  Wan- 
derung geboren.  Die  religiöse  Motivierung  der  Flucht  oder  des 
Rückzugs  des  Helden  (Himmelsstimme,  Vogelstimme)  fehlt  gänz- 
lich. Ebenso  das  Motiv  des  Börsenraubes  durch  den  Adler  und 
das  des  Verkaufes  der  Frau.  Gegenüber  jenem  Kreise  steht  also 
unsere  Erzählung  völlig  selbständig.  Auch  hier  behaupten  nun 
freilich  die  meisten  Forscher  (auch  Michelant  in  seiner  Ausgabe 
358)  die  Abhängigkeit  von  der  Placidaslegende.  Und  zum  Beweise 
dafür  konnte  sich  Foerster  (Wilhelmsleben  CLXXIV)  auf  S.  70 
der  Ausgabe  von  Michelant  berufen,  wo  der  Erzähler  in  der  Tat 


die  Geschichte  eines  Wiedererkennungsmärchens.  525 

auf  diese  Legende  anspielt  und  die  christlichen  Namen  sämtlicher 
Mitglieder  der  Placidasfamilie  nennt,  also  deutlich  seine  Bekannt- 
schaft mit  ihr  in  der  uns  vertrauten  Form  verrät.  Diese  Zitierung 
der  Legende  beweist  nun  aber  doch  keineswegs,  daß  auch  die 
Cifar-Erzählung  direkt  aus  dieser  Quelle  stammt,  ja  man  könnte 
fast  eher  das  G-egenteil  daraus  schließen.  Außerdem  will  die 
Cifar-Legende  nach  ihrer  Einleitung  aus  dem  Chaldäischen,  d.  h. 
aus  dem  Arabischen  (nicht  wie  Michelant  meinte  dem  Griechischen) 
ins  Lateinische  und  vom  Lateinischen  ins  Romanische  übersetzt 
sein.  Daher  wird  das  Urteil  von  Chauvin  zu  Recht  bestehen,  der 
bei  seiner  Besprechung  des  Märchens  vom  König,  der  alles  verloren 
hat,  bemerkt:  „Cette  forme  pourrait  bien  etre  derivee  de  celle 
qui,  plutot  que  Thistoire  de  saint  Eustache,  a  donne  naissance  au 
conte  du  chevalier  Cifar''  (1.  c.  VI  348).  Diesem  Urteil  hat  sich 
auch  Jordan  a.a.O.  S.  348 ff.  in  einer  weit  ausholenden  Unter- 
suchung im  großen  und  ganzen  angeschlossen,  in  der  er  sich  freilich 
noch  immer  zu  sehr  durch  die  allgemein  verbreitete  Behauptung 
der  Abhängigkeit  der  meisten  mittelalterlichen  Dichtungen  und 
Erzählungen  von  der  Placidaslegende  imponieren  läßt.  So  kommt 
er  nur  zu  dem  Resultat,  daß  für  den  Cifar  neben  seiner  Haupt- 
quelle, der  Placidaslegende.  noch  eine  orientalische  Nebenquelle 
angenommen  werden  müsse,  ein  L^teil,  das  ich  nach  allem  Voraus- 
gegangenen mit  Bezug  auf  Haupt-  und  Nebenquelle  geradezu  um- 
kehren möchte. 

19,  Neben  den  Cifarroman  möchte  ich  endlich  noch  die  Boeve- 
Sage  stellen.  Obwohl  sich  nicht  mit  Sicherheit  erkennen  läßt,  in 
welchen  näheren  Zusammenhang  sie  hineingehört.  Von  dieser  Sage 
urteilt  Deutschbein  (Studien  zur  Sagengeschichte  Englands,  I.  Teil. 
Die  Wikingersagen  1906  S.  181):  „Freilich  ist  eine  Untersuchung 
dieser  Sagen  mit  großen  Schwierigkeiten  verbunden  —  sie  ist  nicht 
nur  in  zahlreichen  literarischen  Versionen  bei  fast  allen  Völkern 
Europas  überliefert,  sondern  die  Sage  selbst  erscheint  als  ein 
buntes  Grewebe :  der  ursprüngliche  Kern .  muß  starke  Zusätze  er- 
fahren haben."  Deutschbein  S.  13  verweist  uns  auf  die  Aufstellung 
des  Stammbaums,  den  Stimming  in  seiner  Untersuchung  des  anglo- 
normannischen  Boeve  (Bibliotheka  Normannica  VII,  Einleitung)  für 
die  Überlieferungsgeschichte  des  Boeve  gegeben  hat.  Er  gibt  da- 
nach einen  ÜberbKck  über  den  Inhalt  der  Sage,  auf  GTrund  der 
ihre  älteste  Stufe  repräsentierenden  englischen  und  der  ebenfalls 
eine  ältere  und  gute  Überlieferung  darstellenden  anglonormanni- 
schen  Version.  Für  unsere  Zwecke  kommt  nur  ein  kleiner  Teil 
der  Sage  in  Betracht,  nämlich  der  Abschnitt,  den  man  als  Boeves 


526  W.  Bousset, 

zweites  Exil  zu  bezeichnen  pflegt.  Deutschbein  hat  S.  206  ff.  einen 
Überblick  über  diesen  Teil  der  Erzählung  geboten  und  daneben 
zum  Vergleich  die  Erzählung  des  Wilhelmslebens  gestellt.  Die 
Erzählung  lautet:  Nach  der  glücklichen  Heimkehr  Boeves  nach 
England  kommt  ein  neues  Unglück  über  ihn,  sein  Roß  hat  den 
Königssohn  erschlagen,  er  wird  zum  zweitenmale  gezwungen,  die 
Heimat  zu  verlassen.  Weib  und  Kinder  begleiten  ihn.  Auf  der 
Reise  wird  sein  Weib  Josiane  von  Geburtswehen  ergriffen,  er  und 
sein  Grenosse  Tierri  bringen  sie  in  eine  Hütte,  sie  gebiert  in  Ab- 
wesenheit der  Männer  zwei  Knaben  und  wird  sogleich  nach  der 
Geburt  von  Sarazenen  geraubt.  Die  beiden  Männer  suchen  die 
Erau  vergeblich,  wickeln  die  von  den  Sarazenen  zurückgelassenen 
Neugeborenen  in  ihre  Mäntel  (resp.  nach  der  anderen  Rezension 
in  Tücher).  Später  vertraut  er  sie  einem  Förster  und  einem  Fischer 
als  Pflegekinder  an.  Die  beiden  Helden  kommen  nach  Civile  (Se- 
villa), das  von  einem  feindlichen  Heer  belagert  wird,  und  beteiligen 
sich  am  Kampfe.  Die  Herrin  des  Landes,  die  vom  Turme  zu- 
geschaut hat,  bietet  Boeve  ihre  Hand  an,  Boeve  erklärt  sich  nur 
zu  einer  Scheinheirat  bereit,  bis  er  sieben  Jahre  hindurch  auf 
Josiane  gewartet  habe.  Inzwischen  ist  Josiane  durch  den  alten 
Erzieher  Boeves,  Sabaot,  aus  den  Händen  der  Sarazenen  befreit 
und  kommt,  als  Mann  verkleidet,  in  Spielmanns-Tracht  nach  Civile 
bettelnd  an  den  Hof.  Boeve  erkennt  seinen  Erzieher  Sabaot,  und 
Josiane  wird  herbeigeholt.  Tierri  heiratet  die  Herrin  von  Civile, 
die  beiden  Kinder  des  Boeve  werden  nebst  ihren  Pflegeeltern  her- 
beigerufen. 

Die  Erzählung  ist  hier  teilweise  fast  bis  zur  Unkenntlichkeit 
entstellt;  vor  allem  ist  das  charakteristische  Motiv  des  Verlustes 
der  Kinder  (nicht  nur  der  Flußübergang,  sondern  auch  der  Raub 
durch  die  Tiere)  verloren  gegangen.  Die  Kinder  gehen  dem  Vater 
überhaupt  nicht  mehr  verloren,  sondern  werden  nur  Pflegeeltern 
anvertraut  und  später  einfach  herangeholt.  Doch  kann  an  der 
Zugehörigkeit  der  Erzählung  zu  unserem  Gesamtkreise  kein  Zweifel 
sein.  Durch  einige  Motive  ist  in  der  Tat  unsere  Erzählung  mit 
dem  Wilhelmsleben  eng  verbunden.  Hier  wie  dort  werden  die 
Zwillinge  auf  der  Flucht  in  der  Wildnis  geboren.  Hier  wie  dort 
schließt  sich  unmittelbar  an  deren  Geburt  der  Raub  der  Frau 
durch  Kaufleute  oder  Sarazenen  an.  Besonders  überzeugend  ist, 
daß  sich  auch  hier  das  Motiv  wiederfindet,  daß  der  Vater  die 
Kinder  in  seinem  Mantel  resp.  in  die  Schöße  seines  Rockes  ein- 
wickelt. Und  zwar  findet  sich  in  der  Boevesage  das  Motiv  als 
herübergenommenes  Rudiment  und  verschwindet  deshalb  in  einer 


die  Geschichte  eines  Wiedererkennungsmärchens.  527 

Eezension  ganz.  Was  aber  den  Hauptgang  der  Erzählung  an- 
betrifft, so  sind  die  Übereinstimmungen  zwischen  Boeve  und  Cifar 
sehr  viel  stärker  als  zwischen  Boeve  und  Wilhelmsleben,  denn 
hier  wie  im  Cifar  bleibt  der  Mann  der  Held  der  Erzählung,  er 
tritt  in  die  Scheinehe  ein  und  nicht  die  Frau  und  die  Frau 
kommt  an  den  Hof  des  Mannes.  Da  nun  endlich  andererseits  der 
Boeve  gewisse  Erweiterungen  des  Cifar,  so  die  Schicksale  der 
Frau  auf  dem  Schiff  und  die  Gründung  des  Nonnenklosters  Orbin, 
nicht  kennt,  so  wird  man  diesen  nicht  etwa  als  eine 
Xombination  aus  Cifar  und  dem  Wilhelmsleben  resp.  diesen  ganz 
ähnlichen  Varianten  betrachten  dürfen,  sondern  ihm  eine  eigene 
Wurzel  zusprechen  müssen,  die  uns  schließlich  wohl  wieder  in  den 
Orient  hineinführen  dürfte. 

20.  Unter  dieser  Nummer  stelle  ich  der  Vollständigkeit  halber 
noch  eine  Sippe  von  Erzählungen  zusammen,  die  ich  eigentlich  am 
liebsten  von  der  Untersuchung  ganz  ausschließen  möchte,  da  in 
ihr  bereits  ein  ganz  anderes  Motiv  in  den  Vordergrund  rückt. 
Dieses  hier  herrschende  Motiv  ist  das  der  unschuldig  verfolgten 
fälschlich  angeklagten  Frau.  Eine  edle  Frau  wird  des  Ehebruchs 
oder  einer  anderen  Schuld  angeklagt,  in  die  Einsamkeit  verbannt, 
gebiert  dort  Zwillinge  oder  einen  Knaben.  Auch  ihre  Kinder 
gehen  ihr  verloren,  aber  schließlich  wird  sie  mit  ihrem  Mann  und 
ihren  Kindern  wieder  vereinigt.  Ich  zähle  kurz  die  hier  in  Be- 
tracht kommenden  Dichtungen  und  Erzählungen  auf.  a)  Die  Er- 
zählung von  der  schönen  Helena,  die  uns  bei  Matthaeus  Paris 
Chronika  major,  Ausgabe  von  Wats  p.  965 — 968  erhalten  ist. 
b)  Die  Dichtung  La-Manekine  (H.  Suchier  oeuvre  po^tique  de 
Beaumanoir  I  Paris  1884).  c)  Die  Sage  vom  Kaiser  Octavian  (alt- 
französischer Roman,  herausgegeben  von  K.  Vollmöller,  Heübronn 
1883.  Davon  abhängig  ein  englisches  Gredicht  und  das  deutsche 
Volksbuch.  Inhaltsangabe  und  Näheres  bei  Sarrazin,  altenglische 
Bibliothek  von  Kölbing  III  1885  Octavian),  d)  Die  Erzählung 
von  Torrent  von  Portugal,  die  nach  Ogden  S.  16  etwa  der  mitt- 
leren Partie  der  schönen  Helena  entspricht  (vergl.  Early  english 
Text  Society.  Extra  Serie  51 ;  Torrent  of  Portyngale  von  E.  Adam). 
-e)  Die  Sage  vom  Ritter  Eglamour  von  Artois,  nach  Ogden  etwa 
der  mittleren  Partie  von  Manekine  entsprechend  (Halliwell,  Thorn- 
ton  Romanzes  121  ff. ;  Überblick  bei  Adam  p.  XXVIII).  Dazu  ver- 
gleiche man  den  Stammbaum,  den  H.  Ogden  für  diese  sämtlichen 
Olieder  und  noch  einige  andere  mehr  p.  18  entwirft. 

Zur  Vergleichung  skizziere  ich  kurz  nur  noch  zwei  von  diesen 
Erzählungen,    soweit  sie  für  uns  in  Betracht   kommen.     Zunächst 


628  W.  Bousset, 

die  vom  Kaiser  Octavian.  Kaiser  Octavians  schöne  Gemahlin  ist 
mit  Zwillingen  niedergekommen,  schon  diese  Geburt  erweckt  Ver- 
dacht. Durch  eine  schändliche  Machination  gelingt  es,  die  Königin 
in  den  Verdacht  des  Ehebruches  zu  bringen.  Schon  vorher  träumt 
der  Frau,  daß  ihr  die  Kinder  durch  einen  Adler  geraubt  werden, 
sie  selbst  von  einem  Löwen  oder  Leoparden  zerrissen  wird.  Sie 
wandert  mit  ihren  Kindern  in  die  Waldeinsamkeit.  Hier  wird  ihr 
der  eine  Sohn  Florens  durch  eine  Affin  geraubt,  der  wiederum 
Diebe  es  abjagen,  bis  später  ein  Pilger  sich  des  Kindes  annimmt  und 
es  erzieht  (eine  auffällige  Parallele  in  der  indischen  Erzählung  unter 
Nr.  11).  Das  andere  Kind  Lion  wird  durch  eine  Löwin  fort- 
geschleppt. Auch  hier  haben  wir  dasselbe  Motiv,  wie  im  Wilhelms- 
leben, daß  die  beiden  Kinder  von  ihren  Pflegeeltern  für  bürgerliche 
Beschäftigung  gewonnen  werden  sollen.  Sonst  aber  entwickelt 
sich  die  Sage  von  den  sämtlichen  bisherigen  Varianten,  die  wir 
kennen  lernten,  derartig  divergent,  daß  eine  weitere  Vergleichung 
sich  kaum  lohnt.  Daß  schließlich  die  getrennten  Glieder  der 
Familie  sich  sämtlich  wiederfinden,  ist  naturgemäß  und  gehört 
zum  ehernen  Bestand  dieser  Erzählungen. 

Auch  die  mittlere  Partie  des  Torrent  von  Portugal  möge  kurz 
skizziert  werden.  Die  Tochter  des  Königs,  Desonelle,  die  ihr 
Geliebter,  nachdem  er  sie  durch  verschiedene  Abenteuer  gewonnen 
hat,  vor  dem  Eingang  einer  wirklichen  Ehe  verläßt,  um  auf  neue 
Abenteuer  auszuziehen,  gebiert  Zwillinge.  Zu  erwähnen  ist  viel- 
leicht noch,  daß  ihr  Ritter  ihr  zwei  goldene  Ringe  hinterlassen 
hat,  die  sie  dann  ihren  Söhnen  gibt  und  die  bei  der  Wieder- 
erkennung dieser  eine  Rolle  spielen.  Desonelle  wird  von  ihrem 
erbitterten  Vater  in  einem  Boote  ausgesetzt  und  treibt  aufs  Meer 
hinaus.  Sie  gelangt  nach  Palästina  und  dort  werden  ihr  die  beiden 
Kinder,  das  eine  von  einem  Drachen,  das  andere  von  einem  Leo- 
parden, geraubt.  Der  König  von  Jerusalem  findet  den  Leoparden- 
knaben, der  den  Namen  Leobert  erhält.  Das  Drachenkind  wird 
von  einem  Eremiten  gefunden,  einem  Sohn  des  Königs  von  Griechen- 
land, der  es  seinem  Vater  zur  Erziehung  bringt.  Desonelle  ge- 
langt an  den  Hof  eines  Königs  von  Nazareth.  Torrent  von  Por- 
tugal, der  Rache  an  seinem  Schwiegervater  genommen  hat,  zieht 
zur  Fehde  in  das  heilige  Land,  wird  von  seinem  Sohn  besiegt, 
gefangen  gesetzt  und  wieder  befreit.  Schließlich  erfolgt  die 
Wiedererkennung  der  ganzen  Familie  bei  dem  Turnier,  das  der 
König  von  Nazareth  auf  Wunsch  der  Desonelle  veranstaltet. 

Man  sieht,  ganz  unabhängig  sind  auch  diese  Erzählungen  von 
dem  von  uns  behandelten  Erzählungskrei«   in  der  Einzelausgestal- 


die  Geschichte  eines  Wiedererkennungsmärchens.  529 

tnng  nicht.  Es  erinnert  bald  dieser  bald  jener  Zug  an  schon  Be- 
kanntes und  Vertrautes.  Besonders  beachtenswert  ist,  daß  auch 
hier  das  Motiv  des  Raubes  der  Kinder  durch  Tiere  eine  derartige 
Rolle  spielt.  Kreuzungen  von  Einflüssen  sind  hier  also  keineswegs 
ausgeschlossen,  aber  es  muß  festgehalten  werden,  daß  das  Haupt- 
motiv der  Erzählung,  das  der  unschuldig  verfolgten  Frau,  ein 
anderes  und  für  sich  besonderes  ist,  wenn  freilich  auch  der  von 
uns  behandelte  mittelalterliche  Dichtungskreis  dadurch  schon  ein 
wenig  in  dieses  Motiv  hinübergleitet,  daß  in  ihm  die  Frau  als  die 
Hauptheldin  erscheint. 

Auch  das  hier  vorliegende  Motiv  wird  übrigens  uralt  sein. 
Wir  finden  eine  gewisse  Parallele  bereits  in  dem  siebenten  Buch 
des  indischen  Heldenepos  Ramayana'),  auf  das  ich  durch  Ogden 
p.  20  aufmerksam  geworden  bin.  Rama,  der  Held  dieser  Erzählung, 
wird  zweifelhaft  an  der  Tugend  seines  Weibes  Sita  und  verbannt 
sie  in  den  Wald,  wo  ein  Eremit  sie  aufnimmt  und  für  sie  Sorge 
trägt.  Die  Königin  gebiert  in  der  Einsamkeit  zwei  Söhne,  die 
berühmte  Rhapsoden  werden.  Diese  kommen  an  den  Hof  ihres 
Vaters,  dem  sie  zufällig  ihre  Erlebnisse  erzählen.  Der  überraschte 
Vater  erkennt  sie  und  holt  seine  Gattin  heim.  Man  sieht  auch, 
daß  das  uns  bekannte  Genoveva-  oder  Crescentia  -  Motiv  seine 
eigenen  Wurzeln  tief  in  der  Vergangenheit  hat.  Man  wird  aber 
wie  gesagt  gut  tun,  um  den  Gang  der  Untersuchung  klar  und 
einfach  zu  gestalten,  den  Typus  dieser  Erzählungen  ganz  auszu- 
schalten oder  nur  vorübergehend  heranzuziehen. 

VII. 

Aber  noch  einen  anderen  berühmten  Anagnorismen-Roman 
möchte  ich  in  diesen  Zusammenhang  hineinzustellen  versuchen, 
nämlich  die  Erzählung,  welche  dem  Pseudo  -  Clementinischen 
Schriftenkreis  (Homilien  und  Recognitionen)  zu  Grunde  liegt. 
Wie  schon  gesagt,  ist  mir  die  ganze  im  Vorhergehenden  vorgelegte 
Sammlung:    allmählich    aus    der    Suche    nach  Parallelen    zu    dem 


1)  Wie  Ogden  S.  21  zu  seinen  fabelhaften  Ansätzen  für  die  Zeit  des  Ra- 
mayana  kommt,  ist  mir  gänzlich  unklar.  Danach  soll  unser  Gedicht,  weil  es  bereits 
dem  Mahabharata  bekannt  ist,  schon  im  11.  Jahrhundert  v.Chr.  existiert  haben!! 
Auch  der  Ansatz  von  M.  Williams  für  das  Kamayana  (bei  Ogden  ebendort, 
5.  Jahrhundert  v.  Chr.)  ist  noch  viel  zu  hoch  gegriffen.  Man  wird  mit  dem 
ältesten  Bestand  des  Ramayana  nach  dem  mir  freundlichst  mitgeteilten  Urteil 
Herrn  Professor  Oldenbergs  nicht  über  das  zweite,  höchstens  das  dritte  vorchrist- 
liche Jahrhundert  hinausgehen  dürfen. 


530  W.  Bousset, 

Clemens-Roman  erwachsen,  bis  diese  schließlich  zu  einer  eigenen 
Untersuchung  auswuchs  und  vor  allem  das  Problem  der  Placidas- 
legende  mich  zu  interessieren  begann.  Ich  kehre  jetzt  noch  einmal 
zum  Clemens- Roman  zurück,  zumal  ich  zu  meiner  Freude  sehe,  daß 
auch  Gaster  (Journal  of  R.  Asiat.  Soc.  1893  p.  870)  die  Pseudo- 
Clementinen  in  diesen  Zusammenhang  eingestellt  hat. 

Es  wird  doch  vielleicht  notwendig  sein,  zunächst  den  Gang 
des  Romanes,  der  uns  in  den  Pseudoclementinen  ja  bekanntlich 
nur  bruchstückweise  enthüllt  wird,  noch  einmal  darzulegen  ^).  Der 
Vater  des  römischen  Clemens,  ein  vornehmer  Mann  aus  consulari- 
scher  Familie,  mit  Namen  Faustus,  hat  eine  Gattin  Mattidia,  die 
ihm  zunächst  zwei  ältere  Söhne,  Faustus  und  Faustinianus, 
gebiert,  ein  Zwillingspaar,  dessen  überraschende  Ähnlichkeit  her- 
vorgehoben wird,  und  als  dritten  den  Clemens.  Eines  Tages  er- 
zählt die  Frau  dem  Gatten,  sie  habe  ein  Traumgesicht  erhalten  ^ 
sie  solle  mit  ihren  zwei  ältesten  Söhnen  auswandern,  sonst  werde 
die  ganze  Familie  dem  Untergang  verfallen.  In  Wahrheit  gibt 
die  Frau  selbst  später  dem  Petrus  als  eigentlichen  Grund  ihres 
Fortgangs  an,  daß  ihr  Schwager  zu  ihr  in  Liebe  entbrannt  sei 
und  daß  sie,  um  dessen  Nachstellungen  zu  entgehen,  jenes  Traum- 
gesicht erdichtet  habe.  Nach  ihrem  Fortgang,  so  erzählt  wenig- 
stens Faustus  dem  Petrus,  verleumdet  dann  der  boshafte  Schwager 
die  Mattidia  bei  ihrem  Manne,  daß  sie  eine  ehebrecherische  Neigung 
zu  ihm  gefaßt  habe,  daß  er  aber  seinerseits  auf  ihre  Wünsche 
nicht  eingegangen  sei,  und  daß  sie  aus  Scham  und  Furcht  darüber 
geflohen  sei.  Noch  komplizierter  wird  die  Erzählung  dadurch,  daß 
Faustus  selbst  behauptet,  er  wisse  aus  einem  seiner  Frau  gestellten 
Horoskop,  daß  ihr  das  Schicksal  bestimmt  gewesen  sei,  sich 
in  ihren  eigenen  Sklaven  zu  verlieben,  das  Lager  mit  ihm  zu 
teilen  und  schließlich  elendiglich  umzukommen,  und  daß  dies 
Schicksal  sich  an  ihr  erfüllt  habe.  Man  sieht  auf  den  ersten  Blick, 
wie  auch  der  neueste  Bearbeiter  des  Clemens-Romanes  Werner 
Heintze  (s.  u.)  gut  hervorgehoben  hat,  daß  die  Motive  hier  auf- 
einander gehäuft  und  verwirrt  sind.  Doch  wir  folgen  zunächst 
dem  Geschicke  der  Frau  weiter  nach.  Auf  ihrer  Reise  nach  Athen 
erleidet  diese  Schiffbruch  und  wird  von  ihren  beiden  Söhnen  ge- 
trennt. Sie  selbst  wird  bei  der  Insel  Arados  ans  Land  getrieben. 
Dort,  von  einer  armen  und  kranken  Witwe,  die  ihren  Mann  durch 

1)  Ich  gebe  den  Inhalt  meist  ohne  Quellenanjjabe  und  verweise  für  alle 
Einzelheiten  auf  meinen  Aufsatz  „Die  Wiedererkennungsfabeln  in  den  pscudo- 
klenientinischen  Schriften",  Ztschr.  f.  neut.  Wissensch.  V  1904  S.  18  ff.  und  die 
genauen  Untersuchungen  von  W.  Heintze,  Der  Klemensroman  1914,  S.  114  ff. 


die  Geschichte  eines  Wiedererkennangsmärchens.  531 

Schiffbruch  verloren  hat,  aufgenommen,  sucht  sie  mit  dieser  zu- 
sammen ihren  kümmerlichen  Lebensunterhalt.  Die  beiden  Söhne 
werden  aus  den  Trümmern  des  geborstenen  Schiffes  von  Seeräubern, 
die  ihre  Namen  Faustinus  und  Faustinianus  mit  Nicetas  und 
Aquila  vertauschen,  aufgefischt  und  auf  den  Markt  von  Caesarea 
geschleppt.  Sie  werden  als  Sklaven  an  eine  Witwe  Justa  ver- 
kauft, die  sie  (mit  Simon  Magus  zusammen)  in  den  Künsten  und 
Wissenschaften  unterrichten  läßt.  Der  unglückliche  Vater  wartet 
nun  vergeblich  auf  Nachricht  von  Frau  und  Kind,  Boten  die  er 
aussendet,  kehren  nicht  zurück.  Er  schickt  im  dritten  Jahr  neue 
Boten  aus,  die  im  vierten  zurückkehren,  aber  von  Mattidia  nichts 
wissen.  Endlich  läßt  er  seinen  Sohn  Clemens  in  Rom  zurück  und 
reist  ab,  um  seine  verlorene  Familie  zu  suchen. 

Nach  der  Trennung  sämtlicher  Familienmitglieder  erfolgt 
etappenweise  ihre  Wiedererkennung  und  Wiedervereinigung.  Cle- 
mens kommt  in  Begleitung  des  Petrus  zur  Insel  Arados.  Während 
die  übrigen  alle  in  einem  Tempel  die  dort  sich  findenden  Wein- 
stocksäulen bewundem,  trifft  der  zurückgebliebene  Apostel  am 
Tempelportal  eine  alte  Bettlerin,  die  ihm  ihr  Geschick,  allerdings 
unter  falscher  Angabe  der  Ortsnamen,  erzählt.  Petrus,  der  schon 
geglaubt  hatte,  die  Mattidia  in  ihr  zu  erkennen,  erwidert,  dadurch 
irre  geführt  und  betrübt,  daß  er  soeben  von  einem  römischen  Jüng- 
ling eine  ganz  ähnliche  Greschichte  gehört  habe.  Bestürzt  fragt 
die  Mutter  nach  dessen  Namen  und  ehe  Petrus  noch  antworten 
kann,  spricht  sie  ihn  bereits  aus:  „Clemens".  Wie  Petrus  mit  der 
Bettlerin  Hand  in  Hand  zum  Strande  geht,  wird  er  von  Clemens 
zu  dessen  Verwunderung  in  dieser  Situation  betroffen.  Doch  bald 
fällt  die  Mutter  ihm  aufschluchzend  um  den  Hals,  und  Petrus  sagt 
ihm,  daß  das  seine  Mutter  sei.  Drei  Tage  später  kommen  Petrus, 
Clemens  und  Mattidia  nach  Laodicea.  Nicetas  und  Aquila  wundern 
sich  über  die  Frauen  in  Begleitung  des  Petrus.  Während  Petrus 
ihnen  der  Reihe  nach  ihre  Erlebnisse  erzählt,  brechen  Nicetas  und 
Aquila  plötzlich  iu  den  Ruf  aus,  sie  seien  Faustinus  und  Fausti- 
nianus. Zu  unserer  größten  Verwunderung  ist  aber  die  Mutter 
jetzt  plötzlich  nicht  mehr  anwesend,  während  sie  in  den  Recogni- 
tionen  wenigstens  (VII  27)  ausdrücklich  als  anwesend  vorausgesetzt 
war.  Vielmehr  hören  wir  nun,  daß  Mattidia  sich  in  ihr  Schlaf- 
gemach zurückgezogen  hatte,  um  zu  ruhen.  Die  Brüder  wollen 
sogleich  in  das  Schlafgemach  dringen,  aber  Petrus  wehrt  ihnen, 
er  wül  erst  die  Mutter  auf  das  Wiedersehen  vorbereiten,  geht  zu 
ihr  hinein  und  beginnt  mit  einem  langen  Vortrag  über  die  christ- 
liche Lehre.     In  einem  gegebenen  Moment  stürzen  dann  die  Jung- 


532  W.  Bousset, 

linge  auf  Geheiß  des  Petrus,  zur  Tür  hinein,  umarmen  die  Mutter 
und  erzählen  ihre  Greschichte.  Und  schon  am  folgenden  Tage  trifft 
Petrus  am  Meeresstrande  den  als  Bettler  im  Lande  herumziehenden 
Faustus ;  dieser  erzählt  ihm  seine  Greschichte  als  Erlebnis  einer 
dritten  Person,  weil  er,  wie  wenigstens  die  Homilien  XIV  6  an- 
geben, sein  Inkognito  wahren  will.  Er  befürchtet  nämlich,  daß 
man  ihn,  da  er  aus  kaiserlichem  Geschlecht  stammt,  sobald  er  sich 
zu  erkennen  gäbe,  nach  Rom  bringen  und  in  seine  früheren  Ehren- 
stellungen wieder  einsetzen  werde.  Das  aber  will  er,  gebeugt  vom 
Kummer,  vermeiden.  Diesmal  durchschaut  Petrus  die  Maske  des 
Faustus  und  führt  nach  den  Homilien  sofort,  nach  den  Recogni- 
tionen  erst  nach  dreitägiger  Disputation,  hier  in  außerordentlich 
eindrucksvoller  und  feierlicher  Weise,  in  voller  Öffentlichkeit,  vor 
versammeltem  Volke,  die  Wiedererkennung  herbei.  Die  Einzel- 
züge des  letzten  Anagnorismos  habe  ich,  weil  sie  sehr  weit  von 
dem  uns  bekannten  Typus  abstehen  und  sehr  singulär  sind,  nur 
kurz  angedeutet. 

Wir  stellen  uns  die  Frage  zur  Beantwortung,  ob  auch  diese 
Erzählung  in  den  von  uns  behandelten  Kreis  hineingehört.  Auf 
den  ersten  Blick  scheinen  die  Abweichungen  ganz  wesentlich  die 
Übereinstimmungen  zu  überwiegen.  Es  handelt  sich  auch  hier 
allerdings  um  eine  Familie,  deren  Glieder  alle,  oder  fast  alle  von 
einander  getrennt  werden,  um  sich  schließlich  wieder  zu  vereinigen. 
Aber  nicht  einmal  die  Zahl  der  Familienmitglieder  scheint  überein 
zu  stimmen,  denn  wir  haben  es  hier  mit  Vater,  Mutter  und  drei 
Söhnen  zu  tun.  Aber  hier  kann  nun  darauf  hingewiesen  werden, 
daß  von  mir  und  dem  auf  diesem  Gebiete  so  verdienten  Forscher 
Werner  Heintze,  schon  lange  und  ehe  uns  die  oben  aufgewiesenen 
Parallelen  zugänglich  waren,  der  Beweis  geführt  ist,  daß  die  Per- 
son des  Petrus-Schülers  Clemens,  erst  künstlich  in  die  Anagorismen- 
novelle  eingeschoben  ist^).  Die  Faustus-Familie,  die  Trägerin  der 
Novelle  bestand  also  wirklich  ursprünglich  aus  Vater,  Mutter  und 
zwei  Söhnen.  Freilich  sind  hier  die  beiden  Brüder  Zwillinge, 
deren  wunderbare  Ähnlichkeit  außerdem  ausdrücklich  hervorge- 
hoben wird.  Auch  wurden  sie  in  der  ursprünglich  zu  Grunde 
liegenden  Novelle,  wie  es  scheint,  nicht  von  einander  getrennt. 
Aber  das  sind  nicht  so  wesentliche  Varianten,  daß  sie  uns  irre 
machen  könnten,  und  auch  in  andere  Glieder  unseres  Kreises  sind 
diese  Motive  (ZwiUinge,  Ähnlichkeit  der  Brüder,  vgl.  die  Placidas- 
Legende)   eingedrungen.     Vielleicht  handelt   es   sich  hier  um  ein 


1)    Vg].  die  vorige  Anmerkung. 


die  Geschichte  eines  Wiedererkennungsmärchens.  533 

Motiv,  das,  wie  Werner  Heintze  treffend  hervorhebt,  von  Seiten 
der  griechischen  Komödie  (lustige  Verwechselung  der  Zwillinge, 
vgl.  die  Menächmen  des  Plautus  und  Shakespeares  Komödie  der 
Irrungen  ^))  eingeflossen  ist. 

Allerdings  ist  in  unserer  Novelle  die  charakteristische  Art, 
wie  die  beiden  Knaben  verloren  gehn,  gänzlich  verschwunden. 
(Flußübergang,  Raub  durch  Tiere).  An  Stelle  dieses  Motives  ist 
das  der  griechischen  Novelle  geläufigere,  der  Schiffbruch  getreten. 
Wir  sahen  aber  doch,  wie  in  einer  der  sicher  in  unseren  Kreis 
gehörigen  Erzählungen  (s.  o.  Nr.  4)  genau  dieselbe  Veränderung 
eingetreten  ist,  so  daß  auch  hier  ein  Schiffbruch  alle  Glieder  der 
Familie  von  einander  trennt.  Und  es  ist  sehr  beachtenswert,  daß 
diese  Erzählung  eine  spezifisch  jüdische  war.  Denn  wir  dürfen 
vermuten,  daß  die  letztlich  aus  Juden- christlichen  Kreisen  stam- 
mende Komposition  der  Clementinen,  die  auch  sonst  nachweisbar 
vielfach  jüdisches  Material  verarbeitet  hat^),  eine  jüdische  helleni- 
stische Novelle  aufgenommen  haben  dürfte.  Überdies  ähnelt  der 
weitere  Verlauf  des  Geschickes  der  beiden  Knaben  (Verkauf  durch 
Seeräuber  und  Erziehung  bei  der  frommen  Wittwe  Justa)  dem, 
was  wir  sonst  in  unserem  Erzählungskreis  vom  Geschick  der  Ver- 
lorenen hören,  bis  zu  einem  gewissen  Grade. 

Sehr  schwierig  ist  es,  über  das  Anfangsmotiv  der  Erzählung 
ins  Klare  zu  kommen,  durch  welches  das  gesamte  Geschick  der 
Familie  ins  Rollen  gebracht  wird.  Wir  haben  schon  oben  darauf 
hingewiesen,  wie  hier  die  Motive  sich  kreuzen  und  in  Verwirrung 
geraten  sind.  Heintze  hat  in  seiner  außerordentlich  scharfsinnigen 
Untersuchung  nachzuweisen  gesucht,  daß  das  Motiv  der  Schwager- 
ehe und  Schwagerverleumdung  der  ursprünglichen  Anagnorismen- 
fabel  nicht  angehört  haben  könne.  Er  konstruiert  die  ursprüng- 
liche Erzählung  (S.  122)  folgendermaßen:  „Faustus  und  Mattidia 
leben  beide  in  glücklicher  Gemeinschaft.  Mattidia  sieht  sich  durch 


1)  Damit  möchte  ich  meine  dereinstigen  Aufstellungen  über  spezielle  Be- 
ziehungen des  Clemensromanes  zum  mindesten  zu  den  Menächmen  des  Plautus  als 
erledigt  zurückziehen.  Auch  meine  Vermutungen  über  die  Beziehungen  zwischen 
Clemens-Roman  und  Shakespeares  Komödie  der  Irrungen  würden  sich  in  dieser 
Form  kaum  halten  lassen. 

2)  Es  ist  das  Verdienst  von  W.  Heintze  erwiesen  zu  haben,  daß  eine  um- 
fangreiche jüdische  Apologie,  die  sich  mit  der  griechischen  Götterlehre,  mit  der 
Frage  der  Vorsehung  und  mit  den  Lehren  des  astrologischen  Fatalismus  beschäf- 
tigte, den  Pseudo-Clementinen  einverleibt  ist.  Aber  auch  die  apologetische  Predigt 
des  Petrus  in  Recognitionen  IV  flF.  und  Hom.  VIII  ff.  ist  wahrscheinlich  jüdischen 
Ursprungs.  Und  endlich  weist  auch  das  verarbeitete  juden-christliche  Material 
letztlich  auf  jüdische  Traditionen  hin. 

Kgl.  Oes.  d.  Wiss.    Nachrichten.    Phil.-hist.  Klasse.    1916.    Hdt  4.  -  37 


534  W.  Bousset, 

ein  Traumgesicht  gezwungen,  mit  ihren  zwei  Söhnen  in  Begleitung 
von  Sclaven  auszuwandern.  Der  Gatte,  von  Sehnsucht  verzehrt, 
reist  wenige  Jahre  später  ab,  um  seine  seitdem  verschollene  Fa- 
milie zu  suchen.  Fern  im  Ausland  erfährt  er  von  einem  Astro- 
logen das  Schema  seiner  Grattin,  verzichtet  in  seiner  Verzweiflung 
auf  die  Heimkehr  und  führt  das  elende  Dasein  eines  Proletariers. 
Endlich  findet  er  seine  Familie  wieder".  Ich  möchte  die  scharf- 
sinnige Untersuchung  Heintzes  nur  in  einem  Punkte  ergänzen.  Mir 
will  erscheinen,  daß  als  späteste  Schicht  des  ganzen  Gefüges  das 
astrologische  Motiv  und  alles,  was  damit  zusammenhängt,  anzu- 
sehen sei,  und  daß  dieses  recht  eigentlich  vom  Verfasser  der  letzten 
Hand,  der  mit  der  Novelle  die  große  anti-astrologische  Disputation 
verband,  stammt^).  Aus  dieser  Annahme  würde  sich  mir  am  besten 
erklären,  wie  in  dem  Gespräch  zwischen  Clemens  und  Faustus 
(Ho.  XIV  7  und  Eec.  IX  33)  der  grobe  Widerspruch  zu  Stande  ge- 
kommen ist,  daß  Faustus  auf  die  Frage,  woher  er  denn  wisse, 
daß  das  astrologische,  die  Sola  venliebe  seiner  Frau  weissagende 
Schema  eingetroffen  wäre,  mit  der  Erzählung  antwortet,  wie  sein 
Bruder  ihm  von  ihrer  ehebrecherischen  Liebe  zuihm(demBruder) 
erzählt  habe.  Ein  Widerspruch,  der  in  der  Darstellung  der  Reco- 
gnitionen  künstlich  verdeckt  ist,  in  den  Homilen  noch  klar  heraus- 
tritt (Heintze  116).  Meines  Erachtens  hätte  also  dem  Verfasser 
des  Clemens-Romanes  die  Anagnorismennovelle  schon  in  der  durch 
das  Motiv  der  Schwagerliebe  komplizierten  Form  vorgelegen.  Aber 
darin  hat  nun  Heintze  unbedingt  recht  gesehen,  daß  hier  keine 
einheitliche  und  unüberarbeitete  Überlieferung  vorliegt.  Man  kann 
es  sich  in  keiner  Weise  erklären,  daß  Faustus  so  verzweifelt  nach 
seiner  verloren  gegangenen  Frau  hätte  suchen  sollen,  wenn  sein 
Bruder  ihm  die  Überzeugung  von  ihrem  ehebrecherischen  Treiben 
beigebracht  hätte.  Scheiden  wir  aber  dieses  Motiv  der  Schwager- 
liebe und  Schwagerverleumdung  aus,  so  erhalten  wir  zu  unserer 
Verwunderung  dafür  in  aller  Klarheit  ein  uns  aus  unserem  Er- 
zählungskreis vertrautes  Anfangsmotiv  der  Novelle.  Mattidia  ver- 
läßt mit  ihren  Söhnen  die  Heimat  auf  Grund  eines  Traumgesichtes, 
das  ihrer  Familie  Vernichtung  droht,  falls  sie  nicht  auswandert. 
Das  ist  das  Motiv,  das  uns  namentlich  aus  dem  mittelalterlichen 
Er zählungs kreis  wohlbekannt  ist  und  auch  an  den  Anfangszug  der 
Placidas-Legende  und  des  armenischen  Märchens  (himmlische  Offen- 


1)  Was  W.  Heintze  S.  121  für  seine  These  von  der  ursprünglichen  Zuge- 
hörigkeit des  astrologischen  Motivs  zum  Anagnorismen-Roman  der  Clementinen 
beibringt,  vermag  mich  nicht  zu  überzeugen. 


die  Geschichte  eines  Wiedererkennungsmärchens.  535 

barimg,  Stimme  eines  Genius)  stark  erinnert.  Freilich  bleibt  in 
unserer  Novelle  der  Mann  in  der  Heimat,  nur  die  Frau  wandert 
aus,  man  darf  wohl  vermuten,  daß  hier  die  Sekundarität  auf  Seiten 
unserer  Novelle  liegt,  und  daß  diese  A  bweichung  vielleicht  mit  der 
Einfügung  des  dritten  Sohnes,  des  Clemens,  zusammenhängt.  Fau- 
stus  muß  notwendig  noch  eine  Weile  bei  diesem  dritten  Sohne  in 
Rom  bleiben.  Denn  nur  so  kann  dieser  die  Hauptfigur  der  Er- 
zählung werden,  durch  die  schließlich  direkt  oder  indirekt  die 
Wiedererkennung  sämtlicher  Familienglieder  herbeigeführt  wird. 
Das  Traumorakel  resp.  die  göttliche  Offenbarung  gewinnt  übrigens 
einen  viel  besseren  Sinn,  wenn  es  sich  auf  die  Auswanderung  der 
ganzen  Familie  bezieht  und  nicht  auf  die  der  Frau  mit  ihren  Söhnen 
allein. 

Aber  damit  nicht  genug,  wir  dürfen  vielleicht  auch  noch  eine 
Vermutung  aussprechen,  woher  der  Kompilator  der  Anagnorismen- 
novelle,  die  in  den  Clemensroman  eingearbeitet  wurde,  das  neue 
Motiv  der  Schwagerehe  und  Schwagerverleumdung  entlehnt  haben 
mag.  Heintze  S.  130  weist  zwar  seinerseits  darauf  hin,  daß  die 
Liebe  zum  Schwager  der  Gattin  ein  im  griechischen  Roman  sehr 
bekanntes  Motiv  sei.  Aber  hier  kommt  doch  noch  das  zweite 
Motiv  der  frechen  Verleumdung  der  unschuldigen  Frau  durch  den 
schuldigen  Teil  hinzu.  Der  Nachweis  dieses  Doppelmotivs  ist 
Heintze  nicht  gelungen,  während  natürlich  das  andere  Einzelmotiv, 
die  Verleumdung  des  unschuldigen  Teües  durch  den  abgewiesenen 
Liebhaber  seine  zahlreichen  Parallelen  hat,  von  der  Erzählung 
vom  Weibe  des  Potiphar  an  bis  zu  dem  Knemon  in  Heliodors 
äthiopischer  Geschichte,  der  durch  seine  von  ihm  nicht  erhörte  Stief- 
mutter fälschlich  bezichtigt  wird.     (Heintze  S.  131). 

Dies  gesuchte  Duppelmotiv  ist  aber  wiederum  in  einigen 
Geschichten  von  1001-Nacht  nachweisbar.  Und  zwar  finden  wir 
€s  zunächst  gerade  in  jener  ursprünglich  jüdischen  Legenden- 
sammlung (Henning  IX,  14  ff.),  von  der  oben  gehandelt  wurde,  in 
derunmittelbarenNähejenerjüdischenAnagnorismen- 
novelle,  die  wir  unter  No.  4  besprochen  haben.  Die  Er- 
zählung lautet:  Ein  israelitischer  Kadi  unternahm  einst  eine 
Pilgerfahrt  nach  Jerusalem;  er  setzt  seinen  Bruder  als  Stell- 
vertreter ein  und  befiehlt  ihm  sein  Weib.  Dieser  stellt  seiner 
Schwägerin  mit  Liebesanträgen  nach,  und  als  es  ihm  nicht  gelingt, 
sie  zu  verführen,  stiftet  er,  um  der  Rache  seines  Bruders  zu  ent- 
gehen, falsche  Zeugen  gegen  sie  an,  die  sie  des  Ehebruchs  beschul- 
digen. Die  Frau  wird  gesteinigt  und  bleibt  unter  den  Steinen 
liegen,   ein   Wandersmann    findet    sie   und   nimmt    sich   ihrer   an. 

37* 


536  W.  Bousset, 

Dieser  gibt  ihr  sein  Kind  zur  Pflege,  aber  ein  ßänber,  dessen 
Verlangen  nach  ihr  sie  abweist,  macht  einen  Tötungsversuch 
gegen  sie  und  trifft  dabei  den  Knaben.  Die  Frau,  in  falschen 
Verdacht  gekommen,  muß  fliehen  und  kommt  an  eine  Stätte,  wo 
gerade  ein  Mensch  gekreuzigt  werden  soll.  Da  ihr  kund  getan 
wird,  daß  sie  den  Verbrecher  durch  ein  Lösegeld  erlösen  kann, 
so  zahlt  sie  dieses  für  ihn  und  läßt  sich  dann  als  Asketin  in  einer 
Zelle  nieder,  während  der  von  ihr  befreite  Verbrecher  als  Diener 
für  sie  sorgt.  Der  Schwager  der  Frau,  der  nach  der  Rückkehr 
des  bekümmerten  Gatten,  diesem  die  Verschuldung  seiner  Frau 
mitgeteilt  hat,  bekommt  als  Strafe  einen  Krebsschaden  im  Gesicht, 
und  da  sich  der  Ruf  der  frommen  Wunderfrau  mittlerweile  aus- 
gebreitet hat,  rät  der  betrogene  Ehemann  seinem  Bruder,  zu  jener 
Frau  zu  gehen,  um  Heilung  zu  finden.  Die  Frau  zwingt  ihn  dann, 
in  Gegenwart  des  Gatten  sein  Vergehen  zu  bekennen,  so  wie  sie 
auch  ihre  übrigen  ungerechten  Verleumder  entlarvt. 

Auch  diese  Erzählung  ist  weit  verbreitet  und  hat  mannigfaltige 
Varianten,  auf  die  ich,  obwohl  uns  das  aus  unserem  gegenwärtigen 
Zusammenhang  herausführt,  noch  etwas  näher  eingehe,  zumal  uns 
eine  Form  dieser  Erzählung  wieder  zu  einem  Seitenzweig  der  Ana- 
gnorismenüberlieferung,  dem  spanischen  Cifar-Roman  zurückführt, 
wie  denn  ja  überhaupt,  im  weiteren  Sinn,  auch  unsere  Erzählungen 
dem  Anagnorismentyp  angehören. 

Eine  zweite,  der  eben  skizzierten  sehr  ähnliche  Geschichte 
findet  sich  bemerkenswerter  Weise  in  einer  zweiten  Sammlung, 
die  uns  schon  einmal  beschäftigt  hat,  nämlich  der  Erzählung  von 
dem  König  Schäh-Bacht  und  seinem  Vesir  Er-Rahwän.  Der  Haupt- 
gang der  Erzählung  (die  Geschichte  von  der  rechtschaffenen  Frau, 
die  von  dem  Bruder  ihres  Gatten  der  Unzucht  beschuldigt  wurde, 
Henning  XVIII  187)  ist  auch  hier  derselbe,  nur  ist  der  Ehemann 
kein  israelitischer  Kadi  mehr,  sondern  ein  Mann  aus  Nischäbür, 
der  eine  Pilgerfahrt  unternimmt  und  seinem  Bruder  Geschäft  und 
Frau  anvertraut.  An  Stelle  des  Beduinen  steht  ein  Wandersmann, 
der  die  Frau  in  sein  Haus  aufnimmt.  Die  Intrige  gegen  die  Frau 
wird  hier  von  dem  Sohn  des  Hauses  angezettelt,  der  einen  Dieb 
besticht,  die  Aussage  zu  machen,  daß  die  Frau  mit  ihm  sich  in 
das  Komplot  eines  Diebstahles  eingelassen  habe.  Die  Frau  befreit 
einen  Menschen,  der  seine  Steuer  nicht  bezahlen  kann,  vor  Miß- 
handlung. Dieser  wiederum,  mit  seinen  Liebesanträgen  von  ihr 
abgewiesen,  erhebt  gegen  sie  die  falsche  Anklage  einer  Spionin. 
Um  den  vielfachen  Plackereien  zu  entgehen,  legt  die  Frau  das 
Gewand  eines  Gottesmannes  an,   kommt  an  den  Hof  eines  Königs 


die  Geschichte  eines  Wiedererkennungsmärchens.  537 

und  scUießt  Freundschaft  mit  der  Tochter  des  Königs,  die  darüber 
in  ungerechten  Verdacht  kommt  und  nach  dem  Tode  ihres  Vaters 
ermordet  wird.  Die  verkleidete  Asketin.  der  es  natürlich  leicht 
gelingt,  ihre  Unschuld  zu  beweisen,  macht  man  dann  aus  Reue  zur 
Herrscherin  des  Landes.  Dann  kommen  zufällig  ihre  sämtlichen 
Verfolger  und  die  Königin  vollzieht  ihre  Entlarvung.  Die  Er- 
zählung scheint  sich  hier  bereits  reichlich  kompliziert  zu  haben. 
Das  Motiv  von  dem  verkleideten  Mädchen,  in  das  sich  eine  Prin- 
zessin verliebt,  ist  bekanntlich  weit  verbreitet.  Man  vergleiche 
auch  hier  z.  B.  die  Erzählung  von  Kamar  es-Samän  und  der 
Prinzessin  Budür.  Daß  die  Frau  schließlich  Königin  wird,  er- 
innert wieder  an  den  von  uns  verfolgten  Anagnorismenroman. 

Eine  dritte  Erzählung  dieser  Sippe  erscheint  in  der  türkischen 
Bearbeitung  des  Papageienbuches  (Tuti-Nameh)  als  Geschichte  der 
Merhüma  (übersetzt  von  Rosen  I  89,  vgl.  dazu  auch  Parallelen  aus 
einigen  Handschriften  und  Ausgaben  von  1001-Nacht  bei  Chauvin 
VI  155).  Sie  stimmt  mit  der  ersten  gegen  die  zweite  überein, 
doch  zeigt  sie  wiederum  neue  Züge.  Ein  Sclave  des  Beduinen 
schlachtet,  um  sich  für  die  Abweisung  seiner  Liebesanträge  zu 
rächen,  das  Söhnchen  des  Beduinen  und  beschuldigt  die  Merhüma 
des  Mordes.  Ein  Jüngling  soll,  weil  er  die  Kopfsteuer  nicht  zah- 
len kann,  gehängt  werden  und  wird  durch  die  Frau  vom  Tode 
befreit.  Er  folgt  ihr  als  unerhörter  Liebhaber  und  —  hier  nimmt 
die  Geschichte  eine  andere  Wendung  —  verrät  und  verkauft  sie 
an  einen  Schiffsherm  (Motiv  des  ungerechten  Schiffsherrn)  als 
dessen  Sclavin.  Von  dessen  unsittlichen  Anträgen  rettet  sie  ein  Schiff- 
bruch. Die  ganze  Besatzung  des  Schiffes  kommt  um.  Die  Frau  wird 
mit  dem  Schiff  und  seiner  Goldlast  ans  Land  getrieben,  übergibt 
ihre  Schätze  dem  dortigen  König  und  läßt  sich  von  diesem  eine 
Klosterzelle  bauen.  Zur  Heiligen  im  Kloster  kommen  schließlich 
Gatte,  Schwager  und  alle  anderen,  die  übel  an  ihr  gehandelt  haben, 
und  beichten  ihr.  Ein  Beamter  des  Königs  protokolliert  verborgen 
deren  Beichte  und  so  wird  die  Unschuld  der  Frau  ans  Licht  ge- 
bracht. Wir  sehen  nunmehr  also  ganz  deutlich,  woher  in  dem 
spanischen  Cifar-Roman  die  Erzählung  von  der  Gründung  des 
Klosters  Orbin  durch  die  Frau  des  Ritters  stammt,  und  daß  auch 
hier  die  mittelalterliche  Novelle  nicht  frei  erfunden,  sondern  ein 
neues  orientalisches  Motiv  eingefügt  hat.  (Zu  der  Erzählung  wäre 
außerdem  vielleicht  noch  als  Parallele  die  Geschichte  „das  schiff- 
brüchige Weib"  Henning  IX  18  heranzuziehen,  die  wiederum  in 
dem  jüdischen  Legendenkreis  unmittelbar  neben  der  hier  an  erster 
Stelle  behandelten,  ihren  Platz  einnimmt). 


538  W.  Bousset, 

Als  vierte  Erzählung  stelle  ich  die  von  der  schönen  Repsima 
hierher,  die  in  einigen  Ausgaben  von  1001 -Nacht  Aufnahme  ge- 
funden hat,  ohne  doch  bisher  handschriftlich  bezeugt  zu  sein  und 
deren  Kenntnisse  ich  Chauvin  VI  159  verdanke.  Ein  Kaufmann 
von  Basra  verheiratet  seine  Tochter  an  einen  Kaufmann,  der  eine 
Reise  nach  Indien  macht  und  seine  Frau  seinem  Bruder  anempfiehlt. 
Da  dieser  mit  seinen  Liebesanträgen  von  ihr  abgewiesen  wird, 
schaiFt  er  heimlich  einen  Mann  in  ihre  Kammer,  überrascht  sie 
scheinbar  mit  herbeigeholten  Zeugen  und  beschuldigt  sie  des  Ehe- 
bruchs (vgl.  den  Anfang  der  Sage  vom  Kaiser  Octavian).  Man 
verurteilt  die  Frau  zum  Tode  und  vergräbt  sie  bis  zur  Brust  in 
die  Erde,  an  einer  großen  Straße.  Ein  arabischer  Räuber  befreit 
sie  und  vertraut  ihr  die  Fürsorge  seines  kleinen  Sohnes  an.  Ein 
von  ihr  zurückgewiesener  Schwarzer  tötet  das  Kind  und  beschul- 
digt die  Repsima  des  Mordes.  Aus  dem  Hause  getrieben,  wandert 
sie  weiter,  befreit  einen  Sclaven,  den  man  gerade  verkaufen  will, 
dieser  verrät  sie,  wie  in  der  Erzählung  des  Tuti-Nameh.  Ein  Un- 
wetter rettet  sie  und  wirft  sie  an  den  Strand  eines  Landes,  wo 
eine  Königin  regiert.  Sie  wird,  als  diese  stirbt,  zur  Herrscherin 
des  Landes  erwählt,  und  zugleich  verbreitet  sich  ihr  Ruf  als  der 
einer  großen  Wundertäterin.  An  ihren  Hof  kommen  schließlich 
alle  ihre  Verfolger,  die  durch  das  göttliche  Strafgericht  von  irgend 
einem  Leiden  getroffen  sind,  und  müssen  ihre  Schuld  bekennen. 
Repsima  wird  mit  ihrem  Gatten,  der  ebenfalls  dorthin  gekommen 
ist,  schließlich  wieder  vereinigt. 

Somit  hätten  wir  das  Motiv  der  Schwagerliebe  und  Schwager- 
Verleumdung,  durch  das  die  Einheitlichkeit  des  clementinischen 
Anagnorismen- Romans  gestört  erscheint,  in  einer  Reihe  von  Er- 
zählungen nachgewiesen,  deren  Wurzel  bei  ihrer  weiten  Verbreitung 
recht  tief  hinab  zu  reichen  scheint.  Freilich  hätte  der  Kompilator 
des  clementinischen  Anagnorismen-Romans  sich  nur  die  ersten  An- 
fänge der  Geschichte  für  seine  Erzählung  angeeignet,  da  er  weiteres 
für  den  Verlauf  derselben  nicht  gebrauchen  konnte.  Und  so  muß 
zugestanden  werden,  daß  für  unsere  Vermutung  sich  der  über- 
zeugende Nachweis  nicht  erbringen  läßt.  Immerhin  mag  darauf 
hingewiesen  werden,  daß  die  beiden  Erzählungen  von  dem 
jüdischen  Kaufmann,  der  sein  Weib  und  seine  beiden  Söhne  verlor 
(s.  0.  Nr.  4),  und  der  Frau,  die  von  ihrem  Schwager  unschuldig  ver- 
leumdet wird,  sich  neben  einander  in  demselben  jüdischen  Legenden- 
kreis finden,  und  daß  gerade  in  der  jüdischen  Anagnorismen-Novello 
das  Motiv  des  Flußüberganges  und  des  Raubes  der  Kinder  durch 
die  Tiere,  mit  dem  geläufigeren  des  Schiffbruchs  vertauscht  ist  (s.o.). 


die  Geschichte  eines  Wiedererkennungsmärchens.  539 

Dürfte  man  annehmen,  daß  jene  jüdische  Legendensammlung,  die 
uns  in  1001 -Nacht  erhalten  ist,  mit  ihren  zahlreichen  Parallelen 
in  der  tJberliefemng  der  jüdischen  Midraschim  und  des  Talmud  (s.  o.) 
in  ihrer  Grundlage  bereits  in  den  ersten  christlichen  Jahrhunderten 
existierte  und  von  einem  jüdisch-hellenistischen  Novellisten  bei 
der  Erzähinng  eines  Anagnorismen-Romans  benutzt  wurde,  der  dann 
in  die  Clementinen  aufgenommen  ist? 

Es  kann  immerhin  noch  auf  einige  weitere  Verwandtschaften 
zwischen  dem  von  uns  behandelten  Erzählungskreise  und  der  Wieder- 
erkennungs-Fabel  der  Clementinen  hingewiesen  werden.  Die  Figar 
des  Faustus,  eines  Mannes  aus  kaiserlichem  Hause,  der,  nachdem 
er  Weib  und  Kinder  verloren  hat,  in  der  Welt  als  Bettler  uner- 
kannt umherzieht  und  sich  fürchtet,  seinen  wahren  Namen  zu 
nennen,  um  nicht  wieder  zu  der  alten  Ehrenstellung  emporgehoben 
zu  werden  (Hom.  XIV  10),  erinnert  in  der  Tat  sehr  stark  an  die 
Gestalt  des  Feldherrn  in  der  Placidas-Legende.  In  dem  von  uns 
behandelten  Erzählungskreis  spielte  fast  überall  das  Motiv  der 
von  der  Frau  bewahrten  Keuschheit  eine  große  Rolle.  Auch  in 
der  clementinischen  Erzählung  hält  Petrus  (vgl.  Hom.  XIII)  eine 
lange  Lobrede  auf  die  Sophrosyne  der  Mattidia  und  preist  sie,  daß 
sie  ihre  Keuschheit  nicht  nur  gegenüber  den  Nachstellungen  ihres 
Schwagers,  sondern  auch  späterhin  als  arme  Bettlerin  gewahrt 
habe.  Auch  in  den  Clementinen  beginnt  die  Wiedervereinigung 
der  Familie  damit,  daß  die  Söhne  sich  mit  der  Mutter  zusanmien 
finden.  Und  selbst  der  Zug  ist  hier  erhalten,  daß  Faustinus  und 
Faustinianus  der  Mutter  ihre  Geschichte  erzählen,  obwohl  aller- 
dings die  Wiedererkennung  nicht  mehr  durch  die  Erzählung  herbei 
geführt  wird.  Freilich  ist  in  unserer  Schrift  diese  ganze  Wieder- 
erkennungsscene  arg  kompliziert  und  entstellt.  Aus  dem  einen 
Anagnorismos  sind  in  Folge  der  Einschiebung  der  Person  des  Clemens 
zwei  geworden:  einmal  die  Wiedererkennung  des  Clemens  durch 
seine  Mutter  auf  der  Insel  Aradus  und  dann  die  Wiedererkennung 
der  beiden  anderen  Brüder  in  Laodicea.  Doch  hat  bereits  Werner 
Heintze  in  trefflicher  Weise  klar  gestellt  (S.  126  ff.),  daß  die  beiden 
Anagnorismen  eine  Dublette  sind  und  daß  in  der  ursprünglichen 
Erzählung  nur  eine  Wiedererkennungsscene  zwischen  der  Mutter 
und  den  beiden  Söhnen  auf  der  Insel  Aradus  stattgefunden  hat. 
Vielleicht  können  wir  durch  diesen  Vergleich  auch  noch  ein  wei- 
teres Rätsel  in  der  Komposition  der  Clemens-Erzählung  lösen.  Es 
fiel  bei  der  Darstellung  von  dessen  Gang  bereits  auf,  daß  in  der 
zweiten  Wiedererkennungsscene  in  dem  Augenblick,  als  Nicetas 
und  Aquila   sich   als   Faustinus   und  Faustinianus   kundgeben,    die 


540  W.  Bousset, 

Mutter,  die  vorher  als  anwesend  gedacht  wurde,  plötzlich  sich  in 
ihr  Schlafgemach  zurückgezogen  haben  soll.  Erst  nach  längeren 
Vorbereitungen  des  Petrus  stürzen  die  Brüder  dann  in  das  Gremacb 
hinein  und  geben  sich  zu  erkennen.  Hier  scheint  in  der  Tat  in 
der  Komposition  ein  Fremdkörper  vorzuliegen.  Nun  erinnern  wir 
uns  des  charakteristischen  Zuges  bei  vielen  Grliedern  des  von  uns 
behandelten  Erzählungskreises,  daß  die  Mutter  in  einem  Gemach 
resp.  in  einer  Kiste  eingeschlossen  die  Erzählung  der  beiden 
Brüder  draußen  vor  der  Tür  mit  anhört,  und  daß  die  Brüder  dann 
die  Tür,  die  zum  Gemach  ihrer  Mutter  führt,  erbrechen,  oder  zu 
erbrechen  suchen.  Sollte  jene  Unstimmigkeit  in  der  Erzählung 
des  Clemens-Romanes  darauf  hindeuten,  daß  dem  Verfasser  des- 
selben noch  eine  derartige  Erzählung  als  Vorbild  vorgeschwebt 
hätte?  Auch  läßt  sich  darauf  hinweisen,  daß  in  der  Tat  bei  dem 
ersten  Anagnorismos  (Clemens  und  Mattidia)  die  Wiedererkennung 
durch  die  einfache  Erzählung  des  Geschickes  der  Familienmitglieder 
herbeigeführt  wird.  Nur  ist  hier  nicht  der  Zug  erhalten,  daß  die 
Mutter  im  Verborgenen  der  Erzählung  ihrer  Söhne  lauscht,  son- 
dern hier  ist  die  Figur  des  großen  Wundermannes  Petrus  einge- 
schoben, der  sich  zuerst  von  Clemens  und  dann  von  Mattidia  ihre 
Geschichte  erzählen  läßt  und  so  Mutter  und  Sohn  zusammenführt. 
Endlich  mag  noch  darauf  hingewiesen  werden,  daß  wenigstens  nach 
der  Darstellung  der  Recognitionen  die  letzte  Wiedererkennungs- 
scene  zwischen  dem  Vater  und  den  Seinen  in  großer  öffentlicher 
Versammlung  und  mit  feierlichem  Gepränge  erfolgt.  Ein  Zug,  der 
auch  in  dem  von  uns  behandelten  Erzählungskreise  sehr  häufig 
wiederkehrt. 

Somit  kann  in  der  Tat  mit  einer  gewissen  Wahrscheinlichkeit 
behauptet  werden,  daß  auch  die  Anagnorismen-Novelle  der  Clemen- 
tinen ein  allerdings  sehr  entartetes  Glied  unserer  Erzählungssippe 
darstellt.  Wir  konnten  fast  Punkt  für  Punkt  den  Gang  der  Er- 
zählung aus  jenem  älteren  Typus  ableiten.  Es  wäre  dieses  Resul- 
tat ein  sehr  wesentliches  für  die  Bestimmung  der  Zeit,  in  der  das 
orientalische  Märchen  im  Westen  wirksam  geworden  wäre.  Eins 
aber  mag  noch  zum  Schluß  hervorgehoben  werden.  Ihrer  ganzen 
Art  und  allgemeinen  Haltung  nach  unterscheidet  sich  die  Novelle 
stark  von  den  meisten  übrigen  Gliedern  unseres  Erzählungskreises, 
namentlich  den  älteren  und  sicher  dem  Orient  angehörenden.  Die 
Erzählung  ist  dort  viel  einfacher,  schlichter  und  kürzer,  hier  viel 
stärker  mit  Einzelzügen  ausgestattet  und  viel  kunstvoller  behandelt. 
Es  zeigt  sich  deutlich  in  ihr  der  Geist  der  hellenistischen  Novellistik. 
Wir  sagten  schon  oben,  es  wird  ein  jüdisch-hellenistischer  Novellist 


die  Geschichte  eines  Wiedererkennungsmärchens.  541 

gewesen  sein,  der  von  griechischem  Geisteseiofluß  berührt,  aus 
dem  Schatz  jüdischer  orientalischer  Volksüberlioferung  den  clemen- 
tinischen  Anagnorismen-Roman  zusammengewoben  hat. 


Wir  stehen  damit  am  Ende  der  langen  Untersuchung.  Die 
Wanderung  unseres  Wiedererkennungsmärchens  von  Osten  nach 
Westen  hat  sich  uns  in  ihren  einzelnen  Etappen  enthüllt.  Wir 
konnten  mit  aller  Wahrscheinlichkeit  ihren  Ursprung  bis  nach 
Indien  zurückverfolgen.  Hier  fanden  wir  in  Erzählungs-Sammlungen, 
die  dem  fünften  und  wohl  schon  dem  vierten  nachchristlichen  Jahr- 
hundert angehören  —  also  einer  Zeit,  die  viel  früher  ist.  als  bei 
sämtlichen  andern  Gliedern  unserer  Gruppe  nachgewiesen  werden 
konnte  — ,  unsere  Erzählung  und  zwar  bereits  in  einer  Umarbeitung, 
die  deutlich  asketisch-buddhistische  Tendenz  verrät.  So  wird  es  sehr 
wahrscheinlich,  daß  die  von  Ogden  nachgewiesenen  Märchen  aus 
Kaschmir  und  dem  Pendschab,  die  den  Charakter  des  ursprüng- 
lichen Märchens  viel  getreuer  erhalten  haben,  mit  leichter  Um- 
wandlung direkt  der  alten  indischen,  vorbuddhistischen  Volks- 
erzählung entstammen.  Dann  ist  die  Erzählung  durch  das  Medium 
der  persischen  Literatur  zu  den  Arabern  gewandert  und  taucht 
so,  wie  so  vieles  andere  indopersische  Gut  in  1001-Nacht  an 
mehreren  Stellen  auf.  Ob  sie  aus  der  persischen  Literatur  direkt 
nach  Armenien  kam,  oder  ob  hier  die  spätere  syrische  Literatur, 
in  der  sie  bisher  nicht  nachgewiesen  wurde,  die  vermittelnde  Rolle 
spielte,  mag  dahin  gestellt  bleiben.  Mit  dem  Islam  (oder  dem 
Judentum?)  ist  sie  dann  über  Nordafrika  gewandert,  wir  finden  sie 
hier  in  den  Volkserzählungen  der  berberischen  Stämme  wieder.  So 
ist  sie  auch  nach  Spanien  gekommen,  der  Roman  des  CavaUero 
Cifar  will  seinen  Stoff  aus  dem  chaldäischen  (arabischen)  entlehnt 
haben.  Wahrscheinlich  ist  es  dann  auch  der  Islam  gewesen, 
dessen  Einfluß  die  Verbreitung  der  Erzählung  in  den  mittelalter- 
lichen Dichtungen  französischer,  englischer,  deutscher  Sprache  zu 
verdanken  ist.  Um  andere  aus  l(X)l-Nacht  wohlbekannte  Motive 
(Raub  des  Goldes,  Edelsteines  durch  den  Vogel,  Verkauf  der  Frau 
als  Sklavin)  vermehrt,  spielt  unser  Wiedererkennungsmärchen  eine 
hochbedeutende  Rolle  und  hat  die  Literatur  weithin  beeinflußt 
und  befruchtet. 

Es  muß  aber  von  der  indopersischen  Literatur,  schon  bevor 
der  Islam  sie  übernahm,  eine  frühere  große  Welle  nach  dem  Abend- 
land gedrungen  sein.  Vermutlich  war  der  Hauptträger  dieses 
Wanderungsprozesses  das  Judentum,  das  sich  in  Babylon  mit  dem 


542  W.  Bousset, 

Orient  berührte.  Beweis  dafür  ist  vor  allem  die  Achikarlegende^ 
die  sicher  bereits  im  vierten  vorchristlichen  Jahrhundert  dem 
ägyptischen  Judentum  bekannt  war,  die  aber  ebenso  sicher  nicht 
im  Judentum  heimisch  ist,  sondern  aus  dem  Orient  stammt  und 
nach  den  Nachweisen  Benfeys  (kleinere  Schriften  II  156  fF.)  und 
Cosquins  (Revue  Biblique  VIII)  Motive  in  sich  enthält,  die  sich 
ursprünglicher  in  der  indischen  Literatur  wiederfinden.  Auch  im 
Tobit-Buch  ist  eine  der  bekanntesten  Wanderlegenden,  diejenige 
vom  dankbaren  Toten,  aufgenommen  und  vom  Standpunkt  jüdisch- 
monotheristischen  Empfindens  bearbeitet.  So  begegnet  uns  auch 
unsere  Anagnorismen-Fabel  in  jüdischer  Überlieferung ;  einmal  selb- 
ständig im  späten  Dekalog-midrasch,  dann  in  einem  in  die  1001- 
Nacht  aufgenommenen,  ursprünglich  jüdischen  Legendenkreis,  dessen 
Alter  dadurch  bestimmt  wird,  daß  fast  alle  seine  Glieder  bereits 
in  der  Überlieferung  der  Mischna  und  des  Talmud  nachgewiesen 
werden  können  und  daß  eins  der  Stücke,  die  Legende  vom  Tod 
und  dem  König  (dem  reichen  Mann),  in  das  Zeitalter  unserer 
Evangelienliteratur  zurückzureichen  scheint.  So  erst  erklärt  sich, 
daß  unsere  Wiedererkennungsfabel  in  einer  christlichen  Märtyrer- 
erzählung, der  Placidas-Legende  erscheint,  die  mit  Sicherheit  in 
das  vorislamische  Zeitalter  gehört.  Und  hier  ist  nun  unser 
Wandermärchen  kompiliert  mit  der  wohl  ebenfalls  aus  dem 
Orient  stammenden  schönen  Hirsch-Legende  und  einem  Mar- 
tyrium, das  in  der  Zeit  der  römischen  Kaiser  Trajan  —  Hadrian 
gespielt  haben  soll.  Eine  ähnliche  Erscheinung  liegt  nun  wahr- 
scheinlich endlich  auch  in  den  Pseudoklementinen  vor.  Auch  in 
ihnen  finden  wir  unsern  Anagnorismen- Roman  in  einer  stark  abge- 
änderten komplizierten  Form.'  Dafür,  daß  hier  Einfluß  jüdisch- 
hellenistischer Überlieferung  vorliegt,  spricht  erstens  der  allgemeine 
Charakter  des  pseudoklementinischen  Schriftenkreises,  zweitens,  daß 
die  beiden  Erzählungen  (Anagnorismen-Novelle;  Schwagerliebe  und 
Schwagerverleumdung),  die  hier  mit  einander  verwoben  zu  sein 
scheinen,  in  jenem  jüdischen  Legendenkreis  der  1001-Nacht  tat- 
sächlich nebeneinander  stehen,  drittens,  daß  der  Wegfall  des 
charakteristischen  Motivs  des  Flußübergangs  und  sein  Ersatz  durch 
das  des  Schiffbruches  sich  gerade  auch  in  der  jüdischen  Legende 
jenes  Erzählungskreises  vorfand.  Die  Umwandelung  des  Haupt- 
helden in  einen  vornehmen  römischen  Patrizier  in  der  Novelle  der 
Pseudoclementinen  erinnert  endlich  an  die  Gestalt  des  römischen 
Feldherrn  Placidas,  so  daß  auch  hier  verborgene  Beziehungen  vor- 
liegen könnten. 

So  stellte   sich  uns  nach  allen  Seiten  unsere  Fabel  und  ihre 


die  Geschichte  eines  Wiedererkennungsmärchens.  543 

Wanderong  als  ein  Musterparadigma  dar  für  allgemeine  Gesetze 
der  Wanderung  von  Erzählungen  vom  fernen  Osten  zum  Westen, 
von  der  vorbuddliistischen-indischen  bis  in  die  mittelalterlich  euro- 
päische Literatur. 

VUI. 

Von  unserer  Untersuchung  fällt  endlich  auch  ein  Licht  auf 
die  von  Wilhelm  Meyer  erhobene  Frage  nach  dem  Verhältnisse 
der  griechischen  Rezension  der  Placidas -Legende  in  den  Acta  Sanc- 
torum  (September  Bd.  6)  zu  der  durch  sein  Verdienst  erst  recht 
eigentlich  bekannt  gewordenen  kürzeren  lateinischen  Rezension 
im  Codex  Casinensis  und  den  verwandten  Zeugen  (s.  o.  S.  472). 

W.  Meyer  tritt  in  seinem  Aufsatz  mit  aller  Energie  für  die  Pri- 
orität dieser  kurzen  lateinischen  Rezension  ein.  Er  führt  zu  Gunsten 
dieser  Annahme  zunächst  den  allgemeinen  Grund  ins  Feld,  daß 
wir  es  in  der  Placidas-Legende  mit  einem  lateinischen  Martyrium 
zu  tun  haben,  das  auf  lateinischem  resp.  römischem  Boden  spiele, 
und  daß  deshalb  schon  a  prirori  die  Wahrscheinlichkeit  groß  sei, 
daß  die  Legende  zuerst  in  lateinischer  Sprache  aufgezeichnet  und 
dann  ins  Griechische  übertragen  sei.  Dieser  Grund  scheint  mir 
aber  doch  nur  stichhaltig  zu  sein  bei  wirklich  historischen  Marty- 
rien oder  bei  solchen,  in  denen  ein  erreichbarer  historischer  Kern 
steckt.  Die  Placidas-Eustachius- Erzählung  aber  trägt  den  aus- 
gesprochenen Charakter  der  Legende  und  der  Wander-Novelle. 
Man  könnte  dagegen  einwenden,  daß  das  bestimmte  Datum  des 
Martyriums  und  die  Erwähnung  der  Erbauung  eines  evxri^oiov 
oder  einer  Basilica  am  Schluß  der  Legende  doch  auf  einen  solchen 
historischen  Kern  hinzudeuten  scheint  oder  wenigstens  auf  den  Kultus 
eines  Märtyrers,  an  den  sich  dann  —  eben  in  Rom  —  die  Legende 
angehängt  hätte.  Doch  das  kann  bezweifelt  werden.  In  Rom  ist 
wenigstens  eine  Basilica  resp.  ein  Kult  unseres  Heiligen  erst  nach 
dem  achten  oder  nennten  Jahrhundert  (vgl.  Zöckler,  Artikel  in  der 
theol.  Realenzyklopädie  s.  v.  Eustachius  und  die  Ausführungen 
der  Bollandisten- Ausgabe  Sept.  VI  p.  122  No.  72-75).  Andererseits 
war  unser  griechisches  Martyrium  im  Osten  bereits  dem  Johannes 
Damaskus  bekannt.  Überdies  schwankt  das  Datum  des  Martyriums, 
die  griechische  Rezension  bietet  in  Übereinstimmung  mit  sämtlichen 
älteren  griechischen  Menologien  (vgl.  Einleitung  der  Bollandisten- 
Ausgabe  p.  1 14)  den  20  September ;  gerade  im  Abendland  schwan- 
ken die  Ausgaben  beträchtlich  (s.  ebendort) ;  die  kürzere  lateinische 
Rezension  des  Casinensis  hat  den  20.  Mai.  —  Es  wäre  durchaus  mög- 
lieb, daß  erst  aus  einer  im  kirchlichen  Osten  entstandene  Legende  eines 


544  W.  Bousset, 

erdichteten  römischen  Märtyrers    der  Kult  der  heiligen  Eustachius 
in  Rom  entstanden  sein  könnte. 

Ja,  es  könnte  selbst  die  Frage  erhoben  werden,  ob  in  der  ur- 
sprünglichen Placidas-Eustachius-Legende  das  Martyrium  des  Helden 
überhaupt  in  Rom  stattgefunden  habe.  In  L.  heißt  es  freilich 
ausdrücklich:  regressi  sunt  cum  magno  triumpho  in  patriam  Ro- 
manorum (c.  27),  aber  der  Satz  fehlt  in  G,  wo  nur  —  wie  in  L  — 
erwähnt  wird,  daß  der  römische  Kaiser  dem  siegreichen  Eeldherrn 
—  es  bleibt  undeutlich,  wohin  und  von  wo  aus  —  entgegen  ge- 
zogen sei.  In  G  findet  sich  andererseits  allerdings  der  Satz : 
djg  £&og  iötlv  'Pco^aCovs  inivlKiov  ioQtijv  riyav,  der  seinerseits  in  L 
fehlt.  Sonst  bleibt  man  völlig  im  Unklaren  darüber,  wo  die  ganze 
Begebenheit  sich  abspielt.  Außerdem  lesen  wir  zu  unserem  Er- 
staunen zum  Schluß  in  Gr  (20),  daß  beim  Martyrium  des  Helden : 
6vvriQi8To  Ttäv  tö  Tckfjd-og  XGJV  jtiöT&v  xal  tS)v  '^Ekkrjvav  (!)  d'ed- 
Gaö&ai.  —  Die  Auffassung,  daß  der  siegreiche  Feldherr  eines 
römischen  Heeres  auch  in  Rom  im  Triumph  eingezogen  sei  und 
dort  sein  Martyrium  stattgefunden  habe,  konnte  sich  natürlich 
leicht  in  eine  Erzählung  einschleichen,  die  urspünglich  im  Osten 
spielt. 

Doch  will  ich  hierauf  kein  Grewicht  legen  und  nur  noch  ein- 
mal betonen,  daß  wir  durchaus  keinen  Grrund  haben,  irgend  ein 
historisches,  römisches  Martyrium  als  G-rundlage  unserer  Legende 
anzunehmen. 

Wir  werden  jedenfalls  die  Texte  der  beiden  Rezensionen  selbst 
auf  ihre  Priorität  zu  prüfen  haben  unter  der  Voraussetzung,  daß 
sich  hier  apriorisch  gar  nichts  entscheiden  läßt.  Nun  hat  W.  Meyer 
aus  diesem  Vergleich  den  Gesamteindruck  erhalten,  daß  der  kürzere 
lateinische  Text  wohlgeordnet  und  gut  erzählt  sei,  und  daß  der 
griechische  Text  erweitert  und  mit  den  üblichen  rhetorischen 
Mitteln  aufgeputzt  sei.  Ich  will  nicht  leugnen,  daß  G.  in  der 
Tat  an  vielen  Stellen  im  Vergleich  mit  L.  den  Eindruck  hervor- 
ruft, den  W.  Meyer  so  bestimmt  formuliert,  und  will  meinerseits  keines- 
wegs demgegenüber  für  die  unbedingte  Priorität  von  G.  eintreten. 
Aber  ich  möchte  doch  verschiedene  Bedenken  erheben  und  nach- 
weisen,   daß  L.   an   einer  Reihe  von  Punkten  sicher  sekundär  ist. 

1.  Ich  beginne  mit  einem  m.  E.  entscheidenden  Punkt.  Nach  G. 
(s.  0.  S.473)  richtet  der  ihm  erschienene  Christus  au  Placidas  die  Frage, 
ob  er  sein  ihm  geweissagtes  trübes  Geschick  vvv  t)  knl  iöxccTcov  t&v 
'fj^EQ&v  auf  sich  nehmen  wolle.  Placidas  entscheidet  sich  für  das 
vvv,  und  so  beginnt  das  Unglück  sofort  hereinzubrechen.  W.  Meyer 
275  hält  auch  diesen  Sonderzug  für  sekundär  und  rechnet  ihn  der 


die  Geschichte  eines  Wiedererkennungsmärchens.  545 

„geschwätzigen  U.  Fassung"  zn.  Sicher  mit  Unrecht.  Denn  wir 
haben  hier  einen  Zug,  der  in  der  gesamten  Überlieferung  unserer 
Wanderlegende  eine  gewisse  Verbreitung  zeigt.  Er  fand  sich  nicht 
nur  in  der  Sage  vom  Ritter  Ysambrace  und  im  „Grafen  von 
Savoyen"  wieder  —  auch  hier  könnte  man  ja  kaum  mit  einem  Einfluß 
der  Placidas-Legende  in  ihrer  griechischen  Form  rechnen  — , 
sondern  auch  in  einer  ganz  selbständigen  armenischen  Erzählung. 
Der  Zug  gehörte  also  der  ursprünglichen  Legende  an,  und  (r,  der 
ihn  erhalten  hat,  erweist  damit  seine  Priorität  an  diesem  Punkt 
in  unzweifelhafter  Weise.  Oder  sollte  man  wirklich  annehmen, 
der  ursprünglichen  Placidas-Legende  habe  jener  Zug  gefehlt  und 
er  sei  erst  aus  irgend  einer  verwandten  Überlieferung  in  Gc.  wieder 
eingedrungen?   Das  wäre  doch  ein  merkwürdiges  Spiel  des  Zufalls! 

2.  Ich  füge  gleich  einen  zweiten  wichtigen  Beweis  für  die 
Überlieferung  von  Gr.  hinzu,  auf  den  ebenfalls  schon  in  der  vorher- 
gehenden Untersuchung  hingewiesen  wurde.  In  G.  c.  7.  schließt  die 
Weissagung  des  dem  Placidas  zum  zweiten  Mal  erscheinenden 
Christus  (unmittelbar  vor  der  eben  besprochenen  Scene)  mit  den 
Worten:  orav  yag  taTisivco&fig,  iXavcoyLui  Ttgög  6s  xul  TcäXiv  dnoxara- 
etijöGj  6B  SV  tri  Tigozigu  Gov  öötri.  L.  hat  hier  noch  hinzugefügt: 
donec  pervenias  ad  martyrii  triumphalem  coronam.  Auch  hier  ist 
L.  sicher  sekundär.  Wir  sahen  oben  bereits,  wie  an  die  Anagno- 
rismen-Novelle  der  Legende  das  Martyrium  des  Placidas-Eustachius 
ganz  oberflächlich  angehängt  ist.  G.  läßt  die  äußerliche  Kompi- 
lationsarbeit noch  deutlich  erkennen.  Der  Kompilator  hat  selbst 
an  dieser  Stelle,  wo  wir  einen  solchen  Hinweis  notwendig  erwarten 
sollten,  die  Erwähnung  des  Martyriums  vergessen.  G.  repräsentiert 
also  den  ursprünglichen  Text.  L.  hat  den  Mangel  bemerkt  und 
die  Unebenheit  ausgeglichen  (während  er  die  folgende  ihm  ganz 
unverständlich  und  überflüssig  erscheinende  Scene  [s.  o.  Nr.  1]  weg- 
ließ). Oder  wie  wollte  man  es  umgekehrt  erklären,  daß  der  im 
Zusammenhang  so  notwendige  Satz  L's,  wenn  er  ursprünglich  der 
Legende  angehörte,  in  G.  fortblieb? 

Ich  gehe  nun  der  Reihenfolge  der  Erzählung  nach  und  notiere 
noch  folgende  Instanzen  für  die  Priorität  von  G. 

3.  L.  charakterisiert  im  Anfang  nach  dem  besseren  Text  den 
Placidas  mit  den  Worten:  natus  secundum  camem  gloriorissimus ; 
die  Casinenser  Handschr.  (über  ihr  Verhältnis  zu  den  übrigen  s.  W. 
Meyer  270  f.)  ersetzt  den  ungefügen  Text  durch  einfaches  nobi- 
lissimus.  Sollte  in  L.  nicht  eine  ungeschickte  Übersetzung  von  G. 
yivovg  Tot)  '/caxä  öügxa  inidöi,ov  vorliegen? 


546  W.  Bousset, 

4.  L.  fügt  §  5  zu  dem  Satz :  „et  veniens  magister  militum 
indicavit  haec  mulieri"  noch  vel  filiis  suis  hinzu.  Gr.  hat  den  Zu- 
satz nicht,  und  schwerlich  ist  der  Erzähler  der  Legende  so  unge- 
schickt gewesen,  daß  er  annahm,  der  Vater  habe  bei  der  Be- 
sprechung mit  seiner  Grattin  seine  im  zartesten  Alter  befindlichen 
Kinder  hinzugezogen. 

5.  Sollte  der  Grieche  zu  L.  §  6  den  Namen  der  Frau  vor 
der  Taufe  Taxiavri  aus  freier  Erfindung  hinzugefügt  haben?  Warum 
erfand  er  dann  nicht  auch  Namen  für  die  Söhne? 

6.  Gr.  erwähnt  ausdrücklich,  daß  Placidas  sich  nach  den  ersten 
Unglücksfällen  Big  dvaxsx(OQi<3^£vov  xönov  zurückzieht,  nnd  daß 
Räuber  ihn  daselbst  ausplündern.  L.  läßt  den  Rückzug  in  die 
Einsamkeit  fort  und  erwähnt  nur  die  Räuber.  Der  von  G.  erhal- 
tene Zug  steht  im  Zusammenhang  der  Placidas-Legende  ziemlich 
ungeschickt  da.  Er  wird  aber  bestätigt  durch  die  parallelen  Er- 
zählungen, in  denen  die  Räuber  den  in  die  Steppe  oder  Wüste 
geflohenen  König  ausrauben  (s.  o.  S.  479).  Der  gemeinsame  Grandstock 
der  Wanderlegende  hat  sich  hier  gerade,  wie  wir  bereits  nachwiesen, 
bis  in  die  Einzelheiten  erhalten. 

7.  Zu  dem  Sonderzug  in  G.  (9),  daß  Placidas  bei  einem  großen 
Siegesfest  hätte  zugegen  sein  sollen  ara  6rQccT7]lccTtjv  ovto;  xul 
TCQciTov  rfjg  evyxktjtov  (fehlt  in  L.),  vergleiche  man  das  oben  S.  522 
über  die  anglolatinische  Version  der  Legende  Ausgeführte. 

8.  Das  Motiv  in  G,  daß  der  Schiffsherr  wegen  der  großen 
Schönheit  der  Frau  in  Liebe  zu  ihr  entbrennt,  läßt  L.  ganz  fort, 
es  ist  aber  im  Zusammenhang  beinahe  unentbehrlich. 

9.  L.  §  20  beginnt  (nach  der  Textkonstruktion  von  W.  Meyer) 
mit  dem  ungefügen  unverständlichen  Satz  (quo  dicto)  haec  omnia 
nota  facta  sunt  in  bis  locis  (ex  eo  vel  de  jussione  imperiali).  Der 
Casinensis  hat  die  eingeklammerten  Worte  fortgelassen.  W.  Meyer 
urteilt  aber  selbst  von  den  letzten  Worten:  „Sie  sind  die  verderbten 
Reste  eines  Satzes,  den  die  n.  Fassung  erhalten  hat"  und  stellt 
die  Worte  aus  G.  daneben.  Aber  ist  nicht  damit  das  Zugeständnis 
gegeben,  daß  L.  den  ursprünglichen  Text  —  hier  bis  zur  Unver- 
ständlichkeit  —  gekürzt  habe? 

10.  Daß  der  Vater  seine  Söhne,  bevor  er  sie  wiedererkennt, 
nach  G.  c.  16  zu  Tischgenossen  macht,  (ixeksvösv  ainovg  ^srexsiv  tfig 
TQUTti^rjg  ciVTOv  övvsöriovg  avtov?  xaraöttjöag)  während  sie  nach 
L  §  20  Centurionen  werden,  dürfte  das  Ursprüngliche  sein.  In 
mehreren  der  Nebenüberlieferungen  erscheinen  die  beiden  Knaben 
als  Pagen  und  Vertraute  des  Königs.  L.  hat  die  Erzählung  dem 
Milieu  entsprechend  umgestaltet  und  wahrscheinlicher  gemacht. 


die  Geschichte  eines  Wiedererkennungsmärchens.  547 

11.  Von  der  Mutter  heißt  es  L.  16  nur,  daß  sie  an  ihrem 
neuen  Aufenthaltsort  nach  dem  Tode  des  Schiffsherm:  absoluta 
est  ad  faciendum,  quod  illi  placeret.  In  G.  c.  16  wird  erzählt,  daß 
sie  in  dem  Garten  eines  der  Dorfbewohner  sich  in  einem  Zelt 
niedergelassen,  um  dort  die  Früchte  zu  bewachen.  Davon  hat  L. 
nichts  erhalten.  Ihm  war  wohl  der  zu  einer  orientalischen  Er- 
zählung so  passende  Zug  von  dem  Wächter  (der  Wächterin)  im 
Felde  (Jesaia  I  s :  Eine  Hütte  im  Weinberge,  eine  Nachthütte  im 
Gurkenfelde)  nicht  mehr  durchsichtig,  so  ließ  er  ihn  fort.  Aber 
Zelt  und  Garten  werden  nun  in  L  §  22  doch  wieder  erwähnt  und 
zwar  ohne  alle  nähere  Erklärung:  et  ecce  illi  duo  juvenes  ingressi 
sunt  in  quendam(?)  hortum,  qui  erat  juxta  tabernaculum,  in  quo 
assistebat  mulier.  Wie  unklar  ist  hier  die  Erzählung  in  L !  Und 
die  ganze  Unklarheit  rührt  daher,  daß  L.  durch  die  Kürzung  in 
§  16  keine  klare  Vorstellung  von  der  Art  und  Weise  gibt,  in  der 
die  Mutter  der  beiden  Söhne  an  dem  betreflPenden  Orte  wohnt. 

12.  Überhaupt  ist  die  ganze  Wiedererkennangsscene  zwischen 
der  Mutter  und  den  beiden  Söhnen  bis  zur  vollkommenen  Un- 
verständlichkeit  gekürzt.  Ich  habe  die  Erzählung  oben  S.  475 
nach  G.  gegeben.  Hier  ist  alles  deutlich  und  klar.  L.  vermerkt 
zunächst  nicht,  daß  Placidas  auf  seinem  Feldzuge  gerade"  an  den 
Ort  kommt,  an  dem  seine  Frau  weilt.  Er  erwähnt  ferner  nicht, 
daß  der  Feldherr  im  Dorfe  Rast  macht,  seinen  Pavillon  in  der 
Nähe  des  Gartens  der  Frau  aufschlägt,  daß  die  beiden  Jünglinge 
als  seine  Tischgenossen  (s.  o.)  in  seiner  Nähe  Quartier  bekommen, 
eben  in  dem  Zelte  ihrer  Mutter.  Er  speist  uns  mit  folgenden 
mageren  Andeutungen  ab:  donec  pervenit  (sc.  Placidas)  in  vicum 
...  et  erat  in  ipso  loco  mulier  eins  adsistens  ad  fenestram  tabernaculi(?), 
ut  videret  exercitum  applicantem,  et  ecce  illi  duo  juvenes,  qui  erant 
centuriones,  ingressi  sunt  in  quendam  hortum  (?),  qui  erat  juxta 
tabernaculum (?),  in  quo  adsistebat  (?)  mulier,  quae  per  fenestram 
intuebatur  eos.  So  schreibt  kein  erster  Erzähler  einer  frischen 
und  ursprünglichen  Legende.  Hier  hat  ein  Redaktor  bis  zur  voll- 
kommenen Unverständlichkeit  gekürzt. 

13.  Der  Ort,  an  dem  der  Anagnorismos  stattfindet,  liegt  nach 
G.  am  Fluß  Hydaspes,  nach  L.  kommt  der  Feldherr  zur  Donau. 
W.  Meyer  sieht  hier  eine  Änderung  der  II.  Fassung.  Aber  wie 
sollte  selbst  ein  griechischer  Redaktor  auf  den  Einfall  gekommen 
sein,  den  indischen  Hydaspes-Fluß  in  die  Erzählung  hineinzu- 
bringen, wenn  ursprünglich  der  bekannte  Donaufluß  in  der  Legende 
genannt  war?! 


548  W.  Bousset, 

Dem  Herausgeber  des  Bollandisten-Textes  hat  jene  geogra- 
phische Aufgabe  übrigens  großes  Kopfzerbrechen  gemacht.  Er 
kann  sich  nicht  denken,  daß  der  römische  Feldherr  zum  indischen 
Hydaspesfluß  (Horaz  Oden  I  22,8:  quae  loca  fabulosus  lambit 
Hydaspes)  gelangt  sei.  Daher  will  er  lieber  einen  medischen  Hy- 
daspes  annehmen  (Vergil  Georg  IV.  211,  Medus  Hydaspes),  den  es 
jedoch  kaum  —  im  Unterschied  vom  indischen  —  gegeben  haben 
dürfte.  Man  sieht  aus  diesen  Überlegungen,  wie  schwierig  die 
Annahme  ist,  daß  ein  griechischer  Abschreiber  den  fernliegenden 
Fluß  Hydaspes  in  die  Legende  hineingebracht  haben  könnte.  Wir 
werden  doch  besser  tun,  wenn  wir  den  Hydaspes  der  ursprüng- 
lichen Legende  belassen  und  in  dieser  Notiz  eine  Andeutung  auf 
den  orientalischen  Ursprung  ihrer  Anagnorismen-Novelle  vermuten. 

14.  In  der  Wiedererkennungsscene  der  beiden  Brüder  wird 
Gr.  17  ein  Unterschied  zwischen  dem  älteren  und  dem  jüngeren 
Bruder  gemacht.  Der  ältere  Bruder  hat  die  genaueren  Erinnerun- 
gen ;  er  erzählt  daher  ausführlicher ;  der  jüngere  Bruder  weiß  sich 
nur  noch  zu  erinnern,  daß  die  Dorfbewohner  erzählten,  sie  hätten 
ihn  von  einem  Wolf  errettet.  (Hier  muß  übrigens  wahrscheinlich 
der  Text  von  Gr.  aus  dem  Text  des  längeren  sonst  mit  G.  eng 
verwandten  Lateiners  ergänzt  werden.  Nach  L.^  erzählt  nämlich 
der  ältere  Bruder,  daß  er  gesehen  habe,  wie  der  jüngere  von  einem 
Wolf  geraubt  sei,  bevor  er  selbst  vom  Löwen  ergriffen  wurde. 
Denn  nun  erst  gewinnt  die  Antwort  des  jüngeren  Bruders  in  G. 
ihren  Sinn  und  Zusammenhang :  xal  ol  £{i£  yccQ  avad-Qsxpd^svoL  ravta 
iioi  sXsyov,  ort  ix  Xvxov  6£  SQovöd^sd-a.  Freilich  stimmt  mit  alle- 
dem nicht  genau  G.  10,  wo  der  Vater  zuerst  sieht,  wie  der  eine  Sohn 
vom  Löwen,  dann  wie  der  andere  vom  Wolf  geraubt  wird).  —  L^  hat 
nun  bei  der  Wiedererkennungsscene  alle  diesen  kleinen  Züge  fort- 
gelassen. Aber  er  muß  sie  in  seiner  Quelle  gelesen  haben.  Denn 
nur  so  erklärt  sich,  daß  er  §  13  von  dem  vom  Löwen  geraubten 
Bruder  sagt:  ignorans,  quid  actum  esset  de  patre  eins,  —  dagegen 
von  dem  andern  Bruder :  ignorante  puero,  quid  actum  sit  d  e 
patre  vel  fratre. 

15.  Nachdem  die  Mutter  die  Wiedererkennungsscene  der 
beiden  Brüder  belauscht  hat,  geht  sie  nach  L.  sofort  (cito)  zum 
Feldherrn,  nach  G.  erst  am  folgenden  Tage.  Ich  glaube,  daß  L. 
auch  hier  sekundär  ist.  Der  Redaktor  von  L.  war  wahrscheinlich 
der  Meinung,  daß  zwischen  beiden  Ereignissen  ein  ersichtlicher 
Zusammenhang  bestehe.  Er  konnte  es  nicht  begreifen,  weshalb 
die  Frau  noch  einen  ganzen  Tag  wartet,  ehe  sie  die  endgültige 
Wiedererkennung  herbeiführt.    Tatsächlich  soll  nach  dem  Ursprung- 


die  Geschichte  eines  Wiedererkennungsmärchens.  549 

liehen  Sinn  der  Erzählung  das  Kommen  der  Frau  ein  zufälliges 
sein.  Sie  begibt  sich  (so  gibt  auch  L.  an)  zum  Feldherm,  xun  ihre 
Befreiung  aus  der  Gefangenschaft  zm  erbitten.  Dabei  findet  sie 
dann  zufällig  in  jenem  ihren  Mann  wieder.  Wie  diese  ganze  nicht 
sehr  geschickte  Erfindung  entstanden  ist,  wurde  oben  bereits  er- 
örtert. Damit,  daß  zwischen  der  ersten  Wiedererkennungsscene 
und  dem  abschließenden  Anagorismos  eine  längere  Frist  verstreicht, 
stimmt  Gr.  mit  einer  Reihe  der  übrigen  Parallelen  überein. 

16.  Das  Gebet,  das  die  Märtyrer  vor  ihrem  Tode  beten, 
(G.  21,  L.  32)  ist  in  L.  (W.  Meyer  284)  in  weitgehender  Überein- 
stimmung mit  G.  erhalten.  Aber  der  eine  Zeuge  für  L.,  der  Codex 
Casinensis,  läßt  das  ganze  Stück  fort.  Darf  man  nicht  urteilen, 
daß  dieser  letztere  Zeuge  uns  hier  einmal  ein  Beispiel  bietet,  wie 
im  lateinischen  Zweig  der  Überlieferung  fortwährend  gekürzt  ist  ? 
Und  wird  man  nicht  doch  vielleicht  vorsichtig  mit  der  Annahme 
sein  müssen,  daß  eine  Reihe  von  Gebeten  und  ähnlichen  Aus- 
führungen in  G.  nur  rethori scher  Aufputz  des  griechischen  Be- 
arbeiters seien.  (Vgl.  z.  B.  G.  4  u.  7 ;  ich  mache  nebenliei  auf  die 
interessante  Ansprache  Jesu  an  Placidas  G.  4  mit  dem  wiederholt 
einzusetzenden  iya  aufmerksam). 

Allen  diesen  Instanzen  gegenüber,  die  für  die  Priorität  von  G. 
gegen  L.  sprechen,  will  ich  nicht  verfehlen,  auf  eine  eventuelle 
Gegeninstanz  hinzuweisen.  Es  wurde  bereits  oben  darauf  hinge- 
wiesen, daß  nach  G.  Placidas  am  Anfang  seiner  Geschichte  auf 
Grund  einer  vorherigen  Aufforderung  nach  der  Taufe  an  die  Stelle 
zurückkehrt,  wo  er  das  Bekehrungswunder  erlebte.  In  L.  fehlt 
der  betreffende  Passus  und  das  Zurückkommen  des  Placidas  bleibt 
völlig  unmotiviert.  Bei  L.  scheint  die  künstliche  Nat,  die  hier 
vorliegt,  noch  deutlicher  sichtbar  zu  werden  als  in  G.  Und  so 
könnte  hier  eine  spätere  Bearbeitung  in  G.  ausgeglichen  haben. 

So  will  ich  mit  allen  vorgetragenen  Erwägungen  nicht  die 
unbedingte  Priorität  des  Textes  von  G.  behauptet  haben.  Es  mögen 
(t.  and  L.  zwei  Zeugen  eines  gemeinsamen  Archetypus  repräsen- 
tieren.   Aber  ich  glaube  doch,  daß  G.  diesem  näher  steht  als  L. 


Nachtrag. 


Während   der  Drucklegung   dieser  Arbeit   wurde    ich   von    meinem   hiesigen 
Kollegen  Herrn  Professor  Behrens  freundlichst  auf  die  letzte  Arbeit  von  Wendelia 
Foerster,    Kristian  von   Troyes,   Wörterbach   zu   seinen  sämtlichen  Werken,    Eo- 
Kgl.  Ges.  d.  Wiss,  Nachrichten.    PhU.-hist.  Klasse.    Heft  4.  38 


5B0  W.  Bousset, 

manische  Bibliothek  21,  Halle  1914,  S.  71,  verwiesen.  Hier  nennt  Foerster  neben 
der  Arbeit  Ogdens  („nur  zwei  Kapitel  aus  einer  großen  nie  erschienenen  Arbeit") 
die  Abhandlung  von  G.  H.  Gerould  in  den  Publications  of  the  Mod.  Language  Assoc. 
America  XII  (1904)  335—448. 

Die  vortreffliche  und  eindringende  Arbeit  Geroulds  gibt  mir  zu  wesentlichen 
Änderungen  meiner  Aufstellungen  keine  Veranlassung.  Auch  sehe  ich  aus  einem 
Vergleich  der  beiden  Arbeiten  mit  Freuden,  daß  das  Material  von  mir  ziemlich 
vollständig  zusammengebracht  ist.  Es  bleibt  nur  eine  verhältnismäßig  unbedeu- 
tende Nachlese.  Abgesehen  von  zahlreichen  Literaturangaben  im  einzelnen  ver- 
weise ich  namentlich  auf  das  von  G.  p.  369—371  unter  Nr.  9 — 11  zusammengestellte 
Material.  Hier  findet  man  noch  zwei  oder  drei  weitere  Ausläufer  unseres  Märchen- 
kreises :  1.  Die  dänische  Ballade  von  Sakaris  (Dannmarks  gamle  Folkeviser  II 
605 — 607,  das  einzige  mir  bekannte  Beispiel,  in  welchem  sich  das  Hirschmotiv 
mit  dem  Wiedererkennungsmärchen,  wie  in  der  Placidas-Legende  verbindet, 
die  letztere  also  als  Quelle  anzusehen  sein  wird.  2.  u.  3.  Eine  brettonische  Ballade 
in  doppelter  Form.  (Luzel,  Chants  populaires  de  la  Basse-Bretagne  1868  I  179  flf.), 
das  mit  einzelnen  Motiven  (Vogelstimme  im  Anfang,  drei  Söhne,  von  denen  zwei 
durch  Tiere  geraubt  werden,  einer  ins  Wasser  fällt)  am  meisten  an  Ritter  Ysam- 
brace  erinnert.  (Von  der  von  Gerould  ebenda  S.  370  erwähnten  Hubertus-Legende 
glaube  ich  in  diesem  Zusammenhang  ganz  absehen  zu  können).  Außerdem  hat 
Gerould  seine  Aufmerksamkeit  auf  einige  Nebenmotive,  das  des  geraubten  Schatzes 
(p.  392  fi".,  Stammbaum  der  in  Betracht  kommenden  Erzählungen  405)  und  das 
der  Wahl  zwischen  dem  Unglück  in  der  Jugend  oder  im  Alter  (p.  424  ff.  s.  hier 
von  neuem  die  Verschlingungen  dieses  Motivs  mit  anderen)  gerichtet  und  bringt 
hier  reiches  und  interessantes  Material  bei,  das  aber  für  die  Hauptuntersuchung 
kaum  in  Frage  kommt. 

Was  die  Beurteilung  des  Ganzen  betrifft,  so  freue  ich  mich  in  dem  Haupt- 
punkt, mit  G.  zusammenzutreffen.  Auch  er  nimmt  an,  daß  die  gesamte  orientalische 
Überlieferung  unabhängig  von  der  Placidas-Legende  sei,  daß  diese  ihre  ursprüng- 
liche Heimat  in  Indien  habe,  und  daß  also  die  Placidas-Legende  nur  ein  Schößling 
des  gesamten  Märchenstammes  ist.  Andererseits  besteht  er  mit  Nachdruck  darauf, 
daß  die  occidentalischen  (mittelalterlichen)  Erzählungen,  Romanzen  und  Balladen 
sämtlich  von  der  Placidas-Legende  abhängig  seien.  In  Übereinstimmung  mit  Wagner 
(Sources  of  El-Cavallero  Cifar)  nimmt  er  an,  daß  auch  der  spanische  Cifar  im 
wesentlichen  direkt  aus  der  Legende  geflossen  sei  (unter  Betonung  eines  Nebenein- 
flusses von  Seiten  Wilhelms  von  Englands  p.  363,  417  ff.).  Endlich  behauptet  er 
die  Abhängigkeit  der  anglolatinischen  Gesta  (s.  o.  Nr.  17)  von  der  gewöhnlichen 
Form  der  Placidas-Legende.  Ich  will  gern  zugeben,  daß  hier  noch  nicht  alle 
Einzelfragen  gelöst  sind.  Auch  fällt  es  nicht  in  meine  Kompetenz,  sie  zu  lösen. 
Was  aber  die  Hauptsache  betrifft,  die  These  von  der  Abhängigkeit  sämtlicher 
occidentalischen  Erzählungen  aus  der  Legende,  so  muß  ich  nach  wie  vor  an  meinen 
Erwägungen  und  Resultaten  festhalten.  Es  mag  hier  und  da  das  eine  oder  andere 
Glied  des  ganzen  Kreises  bereits  von  „Placidas"  beeinflußt  sein,  aber  es  wird 
nicht  möglich  sein,  diesen  als  die  Wurzel  der  gesamten  occidentalischen  Über- 
lieferung anzusehen.  Die  Gründe,  die  G.  p.  406  f.  für  seine  Haupt-These  beibewegt, 
haben  mich  nicht  überzeugen  können  und  sind  m.  E.  bereits  im  Voraus  durch 
meine  Darlegungen  erschüttert.  Ich  erwähne  nur  noch  (gegen  G.  p.  407),  daß  die 
Erzählung  vom  Raub  der  Söhne  durch  die  Tiere  keineswegs  ein  Zug  ist,  welcher 


die  Geschichte  eines  Wiedererkennungsmärchens.  551 

der  Placidas-Legende  mit  dem  mittelalterlichen  Kreis  allein  gemeinsam  ist.  Viel- 
mehr findet  er  sich  (wenigstens  bei  dem  einen  Knaben)  auch  in  der  indischen 
Legende  (Nr.  9)  and  im  armenischen  Märchen  (Nr.  2). 


Inhalt. 

Einleitung S.  469—472 

I.  Die  Eustachius-Placidas-Legende S.  472—477 

IL  1.  Die  Schäh-Bacht-Erzählung  in  1001-Nacht.  2.  Ein  armenisches 
Märchen.  3.  u.  4.  Zwei  jüdische  Erzählungen  (1001-Nacht,  Deka- 
log-Midrasch).  5.  Ein  algerisches  Märchen.  6.  Andere  Parallelen 

in  1001-Nacht.   7.  Die  10  Vesire.    8.  Abu  Sahir S.  477—493 

III.  Der  orientalische  Kreis  und  die  Placidas-Legende S.  493—500 

IV.  Die  indischen  Parallelen :  9.  Patäcära.  10.  Visrantara.  11.  Da?a- 
kumärasaritam.  IIa.  Märchen  aus  Kaschmir  und  Pendschab.  .  S.  501 — 507 

V.  Der  occidentalische  Kreis:  12.  Wilhelm  von  England.  13.  Die 
gute  Frau.  14.  Ritter  Ysambrace.  15.  Der  Graf  von  Savoyen. 
16.  Wilhelm  von  Wenden  —  Die  Placidas-Legende  und  der 
occidentalische  Kreis.  —  17.  Die  anglolatinische  Rezension  der 

Gesta  Romanorum S.  508 — 523 

VI.  Nebenzweige:  18.  Cavallero  Cifar.  19.  Die  Boere-Sage.  20.  Die 
schöne  Helena.  La  Manekine.  Kaiser  Octavian.  Torrent  von 
Portugal.  Ritter  Eglamour.  —  Episode  im  indischen  Ramayana.    S.  523—529 

VII.  Die  Anagorismen-Novelle  der  Pseudo-Clementinen S.  529 — 543 

VIII.  Die  doppelte  Textform  der  Eustachius-Placidas-Legende      .    .   S.  543—549 


38' 


Haussa  -  Sänger, 

mit  Übersetzung  und  Erklärung. 

II. 
Lieder  des  „Heimchens". 

Von 

Rudolf  Prietze. 

Vorgelegt  vom  Torsitzenden  Sekretär  in  der  Sitzung  vom  25.  März  1916. 

IX. 

Wönnan   wäka-r       gax^       '*^- 
Dies      Lied  das  Heimchens  ist. 

A. 

1      Gare     ya-na    ddka      mälam, 

Heimchen  es  tut  hausen  Geistlicher, 
in      yä-fitö       woäe,     näma   ne. 

wenn  es  kommt  heraus,  Fleisch  ist. 
J2       Käria-r         Jcädo       ta     fuwä     de, 

Ausflucht  die  Krokodils  die  Wassers  ist, 

in  yä-ßö  wo£e,  näma  ne. 
3       Käria-r         nid- ja       öiki    sai    kogo, 

Ausflucht  die  Schleppers  Bauch  nur  Höhle, 
in      yä-fitö       WQäe,    si  he  naü. 

wenn  er  kommt  heraus,  es  ist  hier. 


1  Heimchen,  garS,  PI.  gdfuna,  nennt  sich  der  Sänger,  weil  das  kleine  rot- 
liche Insekt  mit  seiner  feinen,  weitbüischallcnden  Musik  für  ein  Vorbild  seiner 
Kunst  gilt.  Ddka  s.  I  73 ;  ^O'^o-  mälam  etwa :  ein  verborgenes  Gelebrtendasein 
führen.  Das  Heimchen  hält  sich  in  Erdritzen  versteckt,  weil  Kinder  und  Tiere 
ihm  nachstellen.  Vielleicht  wird  auch  an  die  Seßhaftigkeit  des  Sängers  gedacht, 
▼gl.  Einl.  —  M  schreibt  hier  mälimi  ne;  in  I  hörte  ich  vorwiegend  mäl^m.   In  ist  arstb. 


Badolf  Prietze,  Haussa- Singer.  553 


11. 

Dies  ist  das  Lied  des  Heimchens. 


A. 

Selbsteinschätzung  des  Heimchens:   Jedes  Wesen  hat 
ein  Mittel,   sich  zu  behaupten;   das   seinige  ist  die  ihm 
eigne  Gewalt   über   den  Ruf  der  Leute  und  sein  mäch- 
tiger Gönner  Baki. 

1  Wie  ein  Geistlicher  hütet  das  Heimchen  Haus; 
es  wird  zum  "Wildpret,  kommt  es  heraus. 

2  Im  "Wasser  birgt  sich  das  Krokodil; 

es  wird  zum  "Wildpret,  kommt  es  heraus, 

3  Des  Schleppbauchs  Hort  ist  die  Höhle, 
denn  kommt  er  heraus,  ist  es  mit  ihm  aus. 


2  Die  Bedeutung  von  karia,  das  Mi.  und  R  mit  Lüge,  Falschheit  wieder- 
geben, ist  offenbar  allgemeiner,  etwa  Trick,  Ausflucht,  Zuflucht.  Mi.  unterscheidet 
freüich  von  karya  Lüge  ein  kariya  Schutz,  Beschützung,  Verteidigung ;  doch  auch 
hier,  wo  dieser  Sinn  unzweifelhaft  vorliegt,  schreiben  sowohl  A  als  M  karia. 

3  Ma-ja  ciki  steht  poetisch  für  Schlange.  Die  hier  vorliegende  2.  Halbzeile 
fehlte  bei  A  und  wurde  bei  M  aus  4  ergänzt.  Si  ke  nan  heißt  wie  das  Bomuwort 
däzi  bald  so  steht  es,  bald  es  ist  zu  Ende. 


554  Rudolf  Prietze, 

4  Kdria-r      Haruna  ta    düzi, 
Ausflucht  die  des  „        die  Felsens, 
in  yd-fitö  ivoäe,  si  Joe  naii. 

5  Karia-r  kurege       rämi  — 
Ausflucht  die  Erdeichhoms  Loch  — 

]{,aria-r        mutün  da      abi-n  Jcai-nes. 

Ausflucht  die  des  Menschen  mit  Ding  dem  Kopfs  seines. 

6  Äbi-n         fidi      na      fadd       ne, 
Ding  das  Geredes  das  der  Rede  ist, 

ba       zä-§n  käsa      fadd  ha. 

nicht  gehe  daß  ich  ermangeln  Rede. 

7  Ni  zäbia-r  Bahi  mai-gdtari, 
Ich  Sangmeister  der  des  „  habend  Axt, 
da  kümya,    ha      zoro. 

mit  Scham,  nicht  Furcht. 

8  üba-n      Kürumhe   da  Damfirö, 
Vater  der  der    „         und         „ 
JBaleri     baba-n       Gdmii, 

„       Oheim  der  des   „ 

9  liba-n-su        Zdruma, 
Vater  von  ihnen         „ 
IxUo   ne  sai    gaiyd. 
stark  ist  nur  Heerbann. 


B. 

10      Sa-diika,  dxi-n  asali-n      gangd, 

Trink  Prügel,  Sohn  der  Ursprungs  des  der  Trommel, 
ivonde    ya-fi  ^igege ! 

welcher  er  übertrifft  Pfuscher! 


4  Schon  hier  wird  auf  das  Hauptthema  des  „Diwans",  Haruna  in  seiner 
Felsenburg  Ningi,  angespielt,  s.  Einl. 

5  a)  Das  Erdeichhorn  entspricht  in  der  Sudan-Tierfabel  wegen  der  Notaus- 
gänge seines  Baus  unserm  Fuchs;  vgl.  Pfl.  u.  T.  121.  —  h)  Kai-nes  für  kai-na-say 
prosaisch  ka-n-sa.    Des  Verses  halber  steht  hier  kai  für  Icdi,  vgl.  I  23. 

6  a)  Abi-n  fidi  ist  der  Leumund,  namentlich  im  üblen  Sinne.  —  b)  Für  kä^a 
(nach  Mi.  unfähig  oder  nicht  vollzählig  sein)  setzt  M  fäsa.   Zu  za-§n  vgl.  I  60  flf,  63. 

7  a)  Über  zdhia,  das,  obwohl  hier  einen  Mann  bezeichnend,  den  weibl.  Ar- 
tikel aufweist,  s.  Einl.  Der  Eigenname  Bdki  kam  sch«n  I  95,  99  als  B&k*  ▼or. 
Mai-gdlafi  ist  wie  das  ähnliche  inai-?itaka  „Herr  der  Streitaxt"  ein  beliebtes  Epi- 
theton ornans.  —  b)  Kumya  lautete  I  140  kunya,  wie  gewöhnlich  in  Kano. 

8  a)  Kürumbe  weiblicher  Name.  Da-n-firo  hat  nach  M  zum  2.  Bestandteil 
das  auch  im  H  bekannte  ßomuwort  ßro  Mädchen,  heißt  also  Jungfernsohn,  un- 


Hanssa- Sänger.  555 

4  Haruna's  Hort  ist  das  Bergland; 

denn  kommt  er  heraus,  ist  es  mit  ihm  aus. 

5  Erdeichhoms  Halt  ist  das  Erdloch  — 
des  Menschen,  was  er  im  Kopf  hegt 

6  Den  Leumxind  schafft  man  durch  Hede, 
und  an  Rede  wird  mir's  nicht  fehlen. 

7  Sangmeister  von  Mohr,  dem  Axtmann, 
bin  ich  bescheiden,  doch  furchtlos. 

8  Mohr,  Kunwibes,  Ddmfiro'B  Vater, 
BaUri,  Oheim  des  Gdmäij 

9  ist  Vater  von  Kindern  wie  Zdrutna, 
ist  einem  Heerbann  gewachsen. 

B. 

Nach  lobender  Apostrophierung  seines  Gefährten,  des 
Trommlers  (vgl.  T  15f.),  und  Betonung  der  eignen  Ge- 
fährlichkeit (vgl.  I5f.)  erfolgt  ein  Angriff  auf  seinen 
einheimischen  Nebenbuhler  i?araM,  für  den  das  Singen 
nach  der  neu  aufgekommenen  Tanz  weise  Mdgara  (s.  Einl.) 

ein  einträgliches  Gewerbe  sei. 

Nicht  nur  gegen  ihn  selbst,  auch  gegen  die  Eltern  und  den  Brotherrn  Sa- 

raw's   werden   wüste   Ausfälle    gerichtet,    während   der   Sänger   sich   gegen 

solche  für  gefeit  erklärt 

10  Prügelknab,  Sproß  vom  Trommlergeschlecht, 

erhaben  über  dem  Pfuscher! 


eheliches  Kind.  —  b)  Baleri  ist  Baki  ins  Folfulde  übersetzt,  and  zwar  mit  dem 
Artikel  einer  Tiere  bezeichnenden  Klasse.  Zu  baba  vgl.  121.  Gamzi  ursprünglich 
laut  Mi.  breitblättriger  Kautschuk. 

9  a)  Vgl.  HL.  40  uha-n-si  Yaküdima  {si  aus  su  assimiliert).  Beidemal  ist 
der  Name  eine  Apposition  zum  Plur.  su  als  Erstgeborenes  mehrerer  Kinder  —  eine 
nach  M  auf  die  Poesie  beschränkte  Konstruktion.  Zu  Zäruma  vgl.  Mi.  jarumi, 
Fem.  jaruma ,  tapfer ;  doch  besteht  M  darauf,  daß  es  ein  männlicher  Name  sei.  — 
b)  Mi.  übersetzt  käto  mit  wohlgenährt,  R  mit  strong  male  or  female  slate.  Nach 
M  ist  es  ursprünglich  der  Mann  in  den  besten  Jahren  wie  görzo  (I  168)  und  wird 
gern  prägnant  in  der  Verbindung  käto  sai  gaiya  (s.  I  69)  gebraucht:  so  stark, 
daß  nur  eine  ganze  Schar  ihm  gewachsen  ist.  Sai  gaiyä  ist  hier  von  M  aus  sti- 
listisch-rhythmischen Gründen  eingefügt;  es  findet  sich  auch  65. 

10  a)  Sa-duka  scherzhafter  Beiname  dessen,  der  von  Kind  auf  gewohnt  ist, 
einen  Klaps  zu  bekommen,  ohne  sich  darum  zu  grämen,  vgl.  I  15,  auch  I  75,  Er 
entstammt  einer  alten  Trommlerfamilie.  Asali  Lehnwort  vgl.  1  28.  Sigege  ur- 
sprünglich Part.  Prät.  v.  iiga,  sige  hineingehn,  eindringen,  sich  einschleichen  (et- 
was abweichend  gebildet,  da  man  sigegge  erwarten  müßte) :  Eindringling,  Böhnbase, 
Pfuscher. 


656  Rudolf  Prietze, 

11      Sa-düka,        äika-m       JBdusi, 
Trink  Prügel,  Enkel  der  des  „ 
i/ärä      su-hi  -  ka      su-sä  gangä ! 

Kinder  sie  folgen  dir  sie  trinken  Trommel! 
13  Ni    ne  kiinu-m      baurere, 

Ich  bin  Abkochung  die  der  Sykomore, 
yäro     ye- sä-  ni  mürde-si. 

Knabe  er  trinkt  mich  verdrehen  ihn. 

13  Ni    ne  nä     Kande        rüa-n        ääkara, 
Ich  bin  der  der  „       Wasser  das  von  „ 

a  -  sä  -  ni  a-na    zoro. 

man  trinkt  mich,  man  tut  Furcht. 

14  Mageduä  daga  käi 
Entzündung  von  Kopf 

ba       sä-ta     bar        da-n     yaza     ba. 
nicht  geht  sie  lassen  Kind  das    der    Zehen. 

15  Mageduä-r        mai-täba 
Entzündung  die  des  Tabaksherrn 

ba       sä-ta      bar     ma-sa    yäza  ba. 
nicht  geht  sie  lassen  zu  ihm  Zehen. 

16  Gosi-n         obä-n       mai-täba 
Stirn  die  Vaters  des  Tabaksherrn 
sai    ka-ce       dakali-n       Gar§ki. 
nur  du  sagst  Mauer  die  von   „ 

17  Gdto-n  üa-r        mai-taha 
Scham  die  Mutter  der  des  Tabaksherrn 

kabri  kania-r  Jifidi-n         Gar§ki. 

Dicke  Gleichheit  die  Wattenpanzers  des  von  „ 

18  Da    ni    da  göyo-m        mäye 
Und  ich  und  Wartekind  das  Werwolfs 

köa        ya-fäsa  scge       ne. 

wer  auch  er  verfehlt  Schandkerl  ist. 


11  Zur  ersten  Zeile  s.  I  19. 

12  a)  Kunü  an  sich  eine  dicke  Hirsesuppe,  mit  Tamarinde  gesäuert,  vgl. 
St.  426;  hier  die  Durchfall  erzeugende  Abkochung  von  Sykomorenrinde.  Baurere 
ist  nach  M  die  weibliche  Sykomore  neben  bdure  der  männlichen ;  so  auch  ka^änye 
männlicher  neben  kaddnya  weiblicher  Schibutterbaum,  dabino  männliche  neben  da- 
blnowa  weibliche  Dattelpalme,  vgl.  HL.  23.  —  b)  Der  Schluß  ist  nach  A  des  Verses 
halber  zusammengezogen  aus  murda  da  si,  Umdrehung  mit  ihm.  M  setzt  in- 
mur^e-si,  daß  ich  ihn  umdrehe.  Es  ist  ein  Bohren  im  Magen  gemeint.  Mi.  hat 
murje  drehen ,  R  murda  und  mufje ;  die  Vertretung  von  4  durch  j  ist  bemer- 
kenswert. 


Haossa  -  Sänger.  567 

11  Prügelknab,  Enkel  vom  Bogenbaum, 

die  Jugend  folgt  dir,  der  Trommel  zu  lauschen. 

12  Ich  bin  Sykomorenbrühe : 

Der  Bub,  der  mich  trinkt,  verrenkt  sich  den  Leib. 

13  Ich,  Randes  Bruder,  bin  Kanos  Pfuhl: 
Man  trinkt  mich  und  gerät  in  Angst. 

14  Ein  Übel,  das  vom  Kopf  beginnt, 

wird  auch  die  kleine  Zeh'  nicht  schonen. 

15  Und  wenn's  den  Tabaksmann  ergreift, 
wird's  keine  Zehn  ihm  übrig  lassen. 

16  Die  Stirn  des  Vaters  vom  Tabaksmann 
könnt'  man  für  Garki's  Mauer  halten. 

17  Die  Scham  der  Mutter  vom  Tabaksmann 
ist  dick  wie  Garki's  Wattenpanzer. 

18  Hab'  ich's  mit  dem  Hexenpflegling  zu  tun, 
ein  Hunsfott,  wer  den  kurzem  zieht ! 


13  M  bestreitet  A's  Ansicht,  daß  na  hier  Sohn  bedeute ;  es  könne  nur  Bruder 
heißen.  Kunde  wird  ein  nach  2  oder  3  Knaben  geborenes  Mädchen  genannt.  Der 
rüa-n  iakara  ist  ein  Teich  voll  übelriechenden  Wassers  inmitten  der  Stadt  Eano, 
in  dem  jährlich  Leute  ertrinken.  Er  gilt  nach  A  für  ungesund,  nach  M.  für  un- 
heimlich.   A-na  für  a-na  ü. 

14  a)  Mi.  R  mageduua  Krankheit,  welche  die  kleine  Zehe  zerstört,  nach  M 
auch  die  übrigen  Zehen  und  die  Finger.  Mit  dieser  Kranheit  vergleicht  er  sich 
selbst :  Wenn  ich  die  Großen  vornehme,  werde  ich  auch  die  Kleinen  nicht  schonen. 
Zu  käi  vgl.  I  23.  —  b)  Kind  der  Zehen  =  kleine  Zehe. 

15  Durch  mai-täha  wird  der  Gegner,  der  ehedem  schlecht  über  ihn  gesungen 
hat,  bereits  deutlicher  bezeichnet,  mit  Namen  jedoch  erst  V.  23.  Der  Tabak  wird 
in  jenen  Ländern  geraucht,  geschnupft  und  gekaut.  Tabakbau  und  Tabakhandel 
gilt  für  armselig ;  vgl.  die  nämliche  Bemerkung  in  dem  von  E.  Littmann  in  Bd. 
XXVII  der  Zeitschr.  für  Assyriologie  veröffentlichten  nordabessinischen  Heldenlied, 
Vers  48,75  (=  Publications  of  tbe  Princeton  Expedition  to  Abyssinia,  Vol.  IV, 
No.  75). 

16  Zu  Jia-ce  vgl.  I  143c).  Mi.  däkali  niedrige  Mauer;  M  vermutet  dankäli 
Batate,  doch  schwerlich  mit  Recht,  vgl.  d.  folg.  —  Gareki  ist  eine  Stadt  zwei  Tage- 
reisen zu  Pferd  nordöstlich  von  Kano,  berühmt  wegen  ihrer  dicken  Wattenpanzer ; 
sie  steht  unter  einem  Fulbefürsten. 

17  Zu  der  ünflätigkeit  vgl.  I  143. 

18  a)  Göyo,  PI.  göyuna,  weder  bei  R  noch  bei  Mi.,  soll  nach  A  die  mütter- 
liche Tante  bezeichnen ,  doch  scheint  mir  M's  Deutung  als  Subst.  zu  göya  „ein 
Kind  auf  dem  Rücken  tragen"  zutreffender.  Mäye  (vgl.  I  162),  männlich  und  weiblich, 
bedeutet  Werwolf,  Hexenmeister ,  Hexe ,  Träger  des  bösen  Blicks ,  göyo-m  mäye 
wohl  Tragkind  der  Hexe.  —  b)  Fäsa  wie  Icäsa  in  6 :  nicht  mehr  können,  ablassen, 
nämlich  im  Schimpfwettstreit.     Zu  sege  vgl.  I  121. 


558  Rudolf  Prietze, 

19  Ni    ne     demi-n       gtiäia, 
Ich  bin  Grarbe  die  der  Erdnuß, 

mai  -   lüuye  -  n        sifi      na      gida-n    Mail. 
habend  Schwierigkeit  die  Ordnung  der  Hauses  des      „ 
^0  A     Tiwänahi-n      aba     st    kan      yi, 
In  Tagen  denen  Dinges  es  pflegt  machen, 
hmi     yä-ivuce,  iconi      kan    nema. 

wenn  es  ging  vorbei,  anderes  pflegt  suchen. 
^1  A     kwänahi-n      hadiri 
In  Tagen  denen  Unwetters 
hvänaki-n      rua,  ea-m      mägard. 

Tage  die  Wassers,  Kinder  die  der  Tanzweise. 

22  A     kwanaki-n      iska 
In  Tagen  denen  Windes 

kan      ci    iinäimi,         ea-m      mägard. 
pflegt  essen  Eeiher,  Kinder  die  der  Tanzweise. 

23  Mägara    ta-zama    ääri: 
Tanzweise  sie  ward  Barschaft: 
Bardii,  Jca-daina  zua      kogi. 

„         höre  auf  Gehn  Gewässer. 

24  Mägara     tä-zama       kanwa-r  ubd, 
Tanzweise  sie  ward  jüngre  Schwester  die  Vaters, 
ka-ce  md-sa:   häbani. 

sage    zu  ihm :      „ 

25  Kaddn  kidd  yä-sdke, 
Wenn    Trommelschlag  er  wechselt, 

rdua    yä-säke,  ed-m      ivasa. 

Tanz  er  wechselt,  Kinder  die  Spiels. 

26  Batüre,  kai     nä-sdn-ka, 
Weißer    du    ich  kenne  dich, 

waldi       ha        zd-n    ma-ka  tväka  ha. 
bei  Gott  nicht  gehe  ich  zu  dir  Lied. 

27  Zamdndani       kaskö      ne, 
Hausknecht    Tonbecken  ist, 

kan    yä-fdSe,        wqni     kdn    nenia. 
wenn  es  zerbricht,  andres  pflegt  suchen. 


19  a)  Da  es  eine  Garbe  von  Erdnüssen  nicht  gibt,  meint  der  Sänger:  Ich 
bin  nicht  zu  fassen.  Vgl.  denselben  Ausdr.  im  13.  Il-Sprichwort  in  Mi's  Lehrbuch 
der  H-Sprache  S.  118.  —  b)  Na  bezeichnet  den  Sänger  als  den  Neffen  MaiVs^ 
in  dessen  Hause  er  aufwuchs,  vgl.  I  4,21. 


Haassa  -  Sänger.  669 

19  Ich  bin  die  Garbe  der  Erdnuß; 

schwer  kramt  sich's  mit  dem  vom  Hause  Maife. 

20  Fiin  Ding  hat  Tage,  wo  man's  übt, 

und  ist's  vorbei,  geht  man  andrem  nach. 

21  An  Tagen,  wo's  Gewitter  gibt, 
kommt  Regenfall,  ihr  Tanzgenossen. 

22  An  Tagen,  wo  der  Wind  weht, 
gibt's  ßeiherbraten,  Tanzgenossen. 

23  Das  Tanzlied  ward  wie  bares  Geld : 
Barau,  nun  geh  nicht  fischen  mehr! 

24  Es  ward  wie  Vaters  Schwester  dir, 
nun  sag'  zu  ihm  auch  Muhme. 

25  "Wird  andrer  Takt  getrommelt, 

so  tanzt  man  anders,  Spielgesellen. 

26  Dich,  du  Weißer,  kenne  ich ! 
Bei  Gott,  nie  sänge  ich  für  dich! 

27  Der  Hausknecht  ist  ein  Tongeschirr; 
zerbricht's,  holt  man  ein  anderes. 


20  Das  2.  kan  steht  für  kadän  wenn,  vgl.  I  HO,  158,  das  2.  u.  3.  ist  Hilfs- 
verb; in  Prosa  stünde  a-kan  man  pflegt.     Zu  yi  ist  si  das  Objekt. 

21  j^a  (vgl.  I  69)  steht  hier  weder  im  eigentlichen  noch  in  diminutivem  Sinn, 
sondern  für  die  Teilnehmer  an  der  mägara  (s.  Einl.), 

22  Unter  Sinzimi,  PI.  nach  A  zinzima,  wird  ein  schwarzer  Reiher  mit  weißer 
Brust  verstanden,  der  auf  Bäumen  innerhalb  der  Stadt  nistet;  seine  Jungen,  die 
der  Sturm  häufig  aus  den  Nestern  wirft,  gelten  für  Leckerbissen.  Mi.  gibt  jift- 
jimi  irrig  durch  Pelikan  wieder,  vgl.  I  67. 

23  a)  Nach  A  ist  fön  Kapital,  nach  Mi.  Vermögen,  Reichtum,  nach  M  ge- 
nauer Darlehn.  —  h)  Barau  s.  195.  Er  ist  der  Tabaksmann  von  15  if.,  leistet 
laut  27  fF.  Dienste  im  Hause  des  Makdu  und  sucht  nebenbei  seinen  Unterhalt  mit 
der  Angel  (A  fd^a,  PI.  fd?o?i).  Daß  er  auch  in  seinen  Liedern  nach  der  neuen 
Tanzweise  nicht  erfolglos  war,  ist  aus  dem  Ingrimm  seines  Nebenbuhlers  ersichtlich. 
Nach  A  wären  sie  ehedem  Freunde  gewesen.     Kogi  s.  63. 

24  Babani  ist  das  der  kamca-r  uba  entsprechende  Kanüriwort,  das  in  H  auch 
durch  häba  vertreten  wird.  Auifallend  ist  md-sa  statt  tnd-ta,  vielleicht  ein  Ver- 
sehen des  Schreibers. 

26  Dieser  Vers  ist  eine  eingestreute  Anrede  an  einen  Weißen  (Europäer 
oder  Araber,  vgl.  I  58,  106) ,  der  wohl  seinen  Obolus  verweigerte ,  als  für  den 
Sänger  gesammelt  wurde  vgl.  Einl.  Wdlai  statt  des  arab.  icallälti  (so  I  68)  bei 
Gott.     Hinter  za-n  fehlt  in  poetischer  Kürze  yi  machen. 

27  a)  A  zamdn  da  ni,  M  zamd  da  ni  „bleib  bei  mir"  ist  gleichbedeutend 
mit  bara  d,  h.  Jemand,  der  für  Kost  und  Kleidung  arbeitet,  weil  er  für  Feldarbeit 
zu  schwach  ist.  —  b)  Das  1.  kan  für  kadän,  das  2.  für  a-kan  wie  20. 


560  Rudolf  Prietze, 

2^  Segi-m  hära     na      gidd-ni     Makäu 

Schandkerl  der  (v.)  Diener  der  Hauses  des       „ 
yä-ci      rögo      yä-i  haukä. 

er  aß  Kassada  er  machte  Tollheit. 

29  Ni      nä-fi  l-är§fi-in       häwa, 

Ich  ich  übertreffe  Stärke  die  des  Sklaven, 
hätva  amd-n        iaka,  da-m  farkd! 

Sklave  Erbrechen  das  des  Sacks,  Sohn  der  wilder  Ehe. 

30  Nä-fi  tihangiäi-n-ka  mä, 
Ich  übertreffe    Herrn  deinen    auch, 

tülitüli        häsi-m      Makäu ! 
häufchenweise  Kot  der  des  „ 

31  Tun  da     säfe     ya-s6ma-si, 
Seit  nait  Morgen  er  beginnt  es, 

zakd-n      dere  mu-ka  türe-si. 

Mitte  die  der  Nacht  wir  haben  weggestoßen  ihn. 

32  Ni     nä-sa        y§zäicaka       nä-kosi, 
Ich  ich  trank  Zauberzettel  ich  bin  satt, 
bäbii       nä  zoro-m       bäki, 
nichts  ich  habe  Furcht  die  Mundes, 

55  kaddngari-m        häki-n       tuht, 
Eidechse  die  Mundes  des  Kruges, 

a-kas-ni  a-kas      tnhi. 

man  tötet  mich  man  tötet  Krug. 


c. 

34  Ku-i    hdnkali,  ea-m       mägara, 

Macht  Verstand,  Kinder  die  der  Tanzweise, 

kar  hu-dösi        icoäe-n    Daufd. 

daß  nicht  ihr  wandelt  Seite  die  v.   „ 


28  a)  Malcdu  ist  ein  von  mdkara  zu  spät  kommen  abgeleiteter  Name,  also 
„Spätling".  Eine  ebenso  hartnäckig  verfochtene  wie  dem  Naturgesetz  widerstrei- 
tende Anschauung  im  Sudan  und  weit  über  seine  Grenzen  hinaus  ist  der  übrigens 
sehr  wohltätige,  zahllose  Zerwürfnisse  verhütende  Glaube,  ein  Embryo  könne  nach 
den  ersten  Monaten  seiner  Entwicklung  im  Schoß  der  Mutter  ,,schlummern",  ohne 
weitere  Fortschritte  zu  machen,  und  zwar  nicht  nur  Monate,  sondern  Jahre,  ja 
Jahrzehnte  lang,  um  dann  von  selber  sein  Wachstum  wieder  aufzunehmen  und 
nach  Ablauf  der  ihm  noch  fehlenden  Monde  geboren  zu  werden.  Ein  Kind,  das  als 
Embryo  kürzere  Zeit  gesäumt  hat,  also  etwa  nach  10—12  Monaten  zur  Welt  kommt, 
wird  Makäu  genannt,  wenn  weiblich,  Makarerria;  handelt  sich's  aber  um  Jahre, 
so  heißt  es  äekardu,  Fem.  äekara  „Jährling".     Hiernach  ist  Mi's  Erklärung  der 


Haussa  -  Sänger.  561 


28  Der  Luinp  von  Diener  in  Spätlings  Haus 
aß  Maniok,  ist  übergeschnappt. 

29  Wohl  bin  ich  stärker  als  so  ein  Sklav, 
solch  Sackbrechmittel,  solch  Hurensohn! 

30  Ich  bin  auch  mehr  wert  als  sein  Herr, 
solch  Bröckelkot  von  Spätling! 

31  Frühmorgens  legt  er  damit  los, 

um  Mitternacht  störte  ihn  unser  Stoß. 

32  Ich  trank  an  Zauberzetteln  mich  dick, 
hab  nichts  zu  fürchten  vom  bösen  Blick, 

33  bin  wie  der  Eidechs  vorn  im  Krug: 

wer  nach  mir  schlägt,  zerschlägt  den  Krug. 


c. 

Warnung    vor    dem    wegelagernden    Werwolf   Naküra^ 
der  samt  seiner  Mutter  beschimpft  wird. 

84  Ihr  Tanzgenossen,  hütet  euch  fein, 

schlagt  nicht  den  Weg  nach  Daura  ein! 


letztgenannten  Wörter  zu  ergänzen.  —  b)  Laut  Pfl.  u.  T.  12  ist  rögo  sonst  eine 
angesehene  Kost,  vgl.  I  136.  Die  ihm  hier  zugeschriebene  Wirkung  ist  die  der 
Sykomorenbrühe  s.  12  und  der  doröa  Pfl.  u.  T.  33. 

29  Zu  nä-fi  vgl.  I  80.  Baräu  wird  spöttisch  Sklave  genannt,  weil  seine 
Eltern  Sklaven  waren ;  daher  ama-n  iaka  aus  amai  na  zaJcd  Ausspeien  des  Geld- 
beutels, weil  ein  Sklave  viel  Geld  kostet. 

30  Der  1.  Halbvers  wurde,  da  bei  A  ersichtlich  eine  Lücke  vorlag,  durch  M 
ergänzt.  Zu  tülitüU  vgl.  HL.  27  u.  29.  Mi.  tuli,  R  tulK,  tilli  Haufen.  Der  Sänger 
wendet  seinen  Spott  gegen  BaräWs  Brotherrn,  dessen  Hartleibigkeit  verhöhnend, 
die  ihm  die  Verrichtung  der  Notdurft  zum  Tagewerk  mache.     Vgl.  I  146. 

31  Ob  das  Hilfsverb  ka  hier  Vergangenheit  oder  Gewohnheit  ausdrückt,  habe 
ich  nicht  feststellen  können ;  vgl.  I  86. 

32  a)  Y^zätca^a,  PI.  y§zaicakoki,  ist  ein  Zettel,  auf  den  eine  Koransure  ge- 
schrieben ist^  Man  wirft  ihn  ins  Wasser  und  trinkt  dies  als  Mittel  gegen  Zauber 
oder  bösen  Blick.  —  b)  Der  mit  dem  bösen  Blick  behaftete  behext  auch  durch 
das  falsch  gemeinte  Lob  seines  Mundes ;  daher  bezeichnet  haki  auch  geradezu  wie 
hier  den  bösen  Blick.  Eine  andre  Wendung  dafür  s.  HL  16:  jStt-n  gani  idanu 
„sie  sahen  Augen"  d.  h.  übten  bösen  Blick,     .^ä  poetisch  für  nä-ü. 

33.  Sinn  des  Gleichnisses:  Wer  mich  angreift,  muß  fürchten,  meinen  Be- 
schützer zu  treffen,  vgl  7  ff.  Zu  kos  vgl.  I  75. 

34  a)  Der  Vers  knüpft  an  das  Vorhergehende  an:  ihr,  die  ihr  nicht  so  ge- 
feit seid,  hütet  euch  u.  s.  w.  Hankali  ist  das  arab.  'aql,  dem  H-Lautstande  ange- 
paßt, vgl.  I  28.  Zu  ea  vgl.  21.  —  b)  har  für  kada  s.  I  20.  BöH,  dösa  =  gehn 
(nicht  bei  Mi.  u.  R). 


562  Rudolf  Prietze, 

35  A-säce  baica-n      maJcäfo, 
Man  stiehlt  Sklaven  den  des  Blinden, 

si    nia,    makäfo,       a  -  doke  -  si. 
ihn  auch,  Blinden,  man  schlägt  ihn. 

36  Nahura     hahhä-m      maye, 

„         großer  der  Werwolf, 
sege         ma-kdria  kasi-n        yard. 

Schandkerl  zerbrechend  Knochen  den  der  Knaben. 

37  üa-r       Nakiira  da      hahhd-n       ciki 
Mutter  die  des  „        mit  großem  dem  Bauch 

kamd-r      rumhu        diisd ! 
Gleichheit  die  der  Scheuer  Kleie. 

38  TJa-r    Naküra  da      äa-ür       idö 
Mutter  die        „        mit  hochrotem  Auge 

kamd-r  gautd-n        kaäi ! 

Gleichheit  der  Melansane  der  der  Hühner. 


D. 

39  Ba      dun         abi-n     hure         ha 
Nicht  wegen  Sache  der    des   Fremdseins 

mai-dogo      kam  na     gari       ne. 
Mann  weither  wie  der  der  Stadt  ist. 

40  Grafünu  yä-san     danga, 
Schlingpflanze  kennt  Zaun, 

zä-ya        reim  dumd  wayö. 

geht  sie  verachten  Flaschenkürbis  Schlauheit. 

41  Mägafa     ha   .  noma  ha, 
Tanzweise  nicht  Feldarbeit, 

kdria    ha       na-i         md-ta    JÖko  ha. 
Lüge  nicht  ich  mache  zu  ihr  Stützstock. 

42  Mdgara        hd-ta    da        dya, 
Tanzweise  nicht  sie  mit  Schlußpunkt, 

komi       ka-ce      md-ta:  H  ke  ndü. 
was  auch  du  sagst  zu  ihr:  es  ist  hier. 

43  Köwa      ye-ke    mi-ni      Segantaka 
"Wer  auch  er  tut  zu  mir  Nichtsnutzigkeit 

in  -  sd  -  si      a    mdgafa. 
daß  ich  setze  ihn  in  Tanzweise. 


35  Doki,  döka  schlagen,  mundartliche  Variante  zu  düka  Prügel  20. 

36  Na-küra  konnte  Bruder  der  Hyäne  (kufa)  bedeuten;  doch  glaubt  M, 


Haussa  -  Sänger.  563 

35  Da  wird  dem  Blinden  der  Sklave  geraubt, 
ja  selbst  den  Blinden  prügelt  man. 

36  Nakura,  großer  Werwolf  du, 
Schandkerl,  der  Kindern  die  Knochen  bricht! 

37  Sakui'a'B  Mutter  mit  dickem  Bauch 
gleich  einer  Scheuer  voll  Kleie! 

38  Nakilra'B  Mutter  mit  brandrotem  Aug' 
gleich  einer  Huhnmelansane! 

D. 

Preis  der  neuen  Tanzweise  Jtfä^ara,  die  er,  der  fremde 
Sänger,  besser  zu  handhaben  wisse  als  einheimische 
(nämlich  Bardti  s.  o.  B),   und  Einladung,   ihm  zu  lauschen 

39  Stünde  der  Fremdling  nicht  so  allein, 

er  •würde  so  gut  wie  das  Stadtkind  sein. 

40  Doch  kennt  die  Kletterpflanze  den  Zaun, 
Wird  an  Witz  herab  auf  den  Kürbis  schaim. 

41  Das  Tanzlied  ist  nicht  Feldarbeit, 
ihm  heuchle  ich  keine  Müdigkeit. 

42  Das  Tanzlied  macht  keine  Pause, 

so  viel  du  ihm  sagst:  Nun  ist's  genug. 

43  Und  wer  mir  kommt  mit  Hunsfötterein, 
den  brins"  ich  ins  neue  Tanzlied  hinein. 


heiße :  Der  ans  Kura,  einem  südlich  Ton  Kano  gelegenen  Ort.    Mäye  s.  18,  I  162. 
Zu  sege  vgl.  I  121. 

37  Eine  Scheuer  für  Kleie  (Pferdefutter  nach  St.  296)  ist  größer  als  eine 
Hirsescheuer. 

38  Zu  za-ur  vgl.  meine  Spezif.-Verstärkungsadverbien  im  Haussa  imd  Kanuri 
Jahrg.  XI  der  Mitt.  d.  Orient.  Seminars :  trur  Verstärkung  zu  :o  rot  =  hochrot. 
Gauta  ist  eine  Art  Melansane,  Eierpflanze;  die  gautd-n  kaU  „Hühnennelansane" 
wird  nicht  wie  die  eigentliche  gauta  gegessen. 

39  a)  Mi.  bare  geteilt,  getrennt  sein;  hier  die  Vereinzelung,  das  AUeinstehn 
ohne  Angehörige.  —  b)  Des  Verses  wegen  steht  hier  kam  für  kama  bezw.  katna-r. 

40  A  gräfünu,  PL  garäfuna,  Epheu  mit  kurzen,  yädia,  PI.  yädioi,  Epheu 
mit  langen  Blättern,  vgl.  Mi.  garafüni,  R  garafnii  Pflanze  nüt  bittereu,  zu  Suppen 
verwerteten  Blättern.  Mit  dieser  Schlingpflanze  wird  der  Fremde  verglichen,  der 
sozusagen  über  den  Zaun  klettert  und  auf  den  von  der  Innenseite  sich  aufran- 
kenden einheimischen  Flaschenkürbis  [^duma,  vgl.  I  75)  herabblickt. 

41  Mi.  R  löko  Stützstock  für  Lasten,  die  man  nicht  auf  die  Erde  legt,  daher 
auch  Ruhepause  =  fütu.  Hier  also :  Ich  unterbreche  mein  Singen  nicht  mit  vor- 
geschützter Müdigkeit,  wie  der  Uauer  seine  Arbeit. 

42  Mit  dya  ist  die  arabische  Schlußbezeichnung  gemeint.   Zu  si  ke  nan  vgl.  4. 

43  In  Prosa  dürfte  yi  machen  nach  ye-ke  nicht  fehlen.  §egantaka  ist  Nomen 
actionis  zu  sege  s.  30.     In-sä-si  Konjunktiv,  vgl.  1  63. 


564  Rudolf  Prietze, 

44  A  hdnkali    he    magara, 
In  Verstand  tut  Tanzweise, 

ba    güdu  na    faräuta  ba. 
nicht  Lauf  der  der  Jagd. 

45  Mai-baeä  da-m  möa        ne^ 
Habend  Tanzrock  Sohn  der  Lieblingsfrau  ist, 

märas-bazd         da-m  bora  ne. 

ohne  Tanzrock  Sohn  des  Vernachlässigten  ist. 

46  Ku-sd  safu,   ku-H  sance 

Setzt    Reihe,    hört    Rede 
na       Amadü,     na         gidd-m     Maäi, 
dessen  des   „         dessen  Hauses  des       „ 

47  Ku-sd   safü    ya    kabewa-r       kufdi, 

Setzt    Reihe  wie  Kürbis  der  der  Ruine, 
safü    ye  düma-n       rafi. 

Reihe  wie  Flaschenkürbis  der  Baches. 

E. 

48  iVi      howa      ya-fena  göida-td, 
Ich  wer  auch  er  verachtet  Mägdlein  mein, 
yanzü      ya-siga       magard. 

jetzt  er  geht  hinein  Tanzweise. 

49  Käda        ku-rSna  göida, 
Daß  nicht  ihr  verachtet  Mägdlein, 
sabulii-n         ivanka-n        sarniai. 
Seife  die  Waschens  des  des  Burschen. 

50  KÖwa      ya-rena  göida, 
Wer  auch  er  verachtet  Mägdlein, 

da     cäfi    uwa-fd-sa       göida      cef 
einst  dort  Mutter  seine  Mägdlein  war. 

51  Yäro       aböki-n        yaro, 
Knabe  Freund  der  des  Knaben, 

yäro      ba        zd-i       kl      ta      yäfo        ba. 
Knabe  nicht  geht  er  hassen  das  des  Knaben. 


44  Hankali  s.  34.  Für  ke  müßte  in  Prosa  stehn  a-ke  yi  man  macht.  Vor 
na  setzt  M  kama  Gleichheit. 

45  Den  Zusammenbang  dieses  Verses  mit  dem  vorhergehenden  und  nachfol- 
genden habe  ich  nicht  ergriinden  können ;  er  ist  wohl  ein  an  einen  Anwesenden 
gerichtetes  Einschiebsel  wie  26.  Bazä,  PI.  bazozi,  ist  nacli  AM  der  aus  den  Fa- 
sern der  rama  (Mi.  rdma  R  ramma  Pflanze,  aus  der  Stricke  gemaclit  werden) 
gewebte  Tanzrock,  Er  reicht  vom  Gürtel  bis  auf  die  Füße,  ist  weiß,  auch  rot 
oder  grün  gefärbt,  hat  unten  rote  Fransen,  ist  mit  Muscheln  {tcgda,  arab.  Lehn- 
wort, nicht  bei  Mi.  u.  R)  besetzt  und  gilt  für  wertvoll.  Von  fern  ähnelt  sein  Stofli 


Haassa- Sänger.  565 

44  Solch  Tanzlied  macht  man  mit  Bedacht, 
er  ist  kein  Rennen  wie  auf  der  Jagd. 

45  Wer  Tanzrock  trägt,  ist  der  Lieblingsfrau  Sohn, 
wer  keinen  ti'ägt,  der  Verschmähten  Sohn. 

46  Setzt  euch  in  Reihen  und  lauscht  dem  "Wort 
von  AnmdiCs  Bruder  aus  Mails  Haus. 

47  Reiht  euch  wie  Kürbis  auf  Trümmerfeld, 
reiht  euch  wie  Flaschenkürbis  am  Bach. 

E. 

Preislied  auf  die  kleinen  Mädchen  im  allgemeinen  und 
auf   eins    im   besondern;    ohne   sie   fehle   dem   Fest   die 

Freude. 

48  Wer  da  verachtet  mein  Mägdelein, 
ä&r  kommt  ins  Tanzlied  flugs  hinein, 

49  Verachtet  nicht  das  Mägdlein, 

die  Seife  zum  Waschen  des  Burschen. 

50  Wer  da  verachtet  die  kleine  Maid: 
einst  war  auch  seine  Matter  klein! 

51  Der  Knabe  ist  des  Knaben  Freund, 
er  wird  nicht  hassen,  was  knabenhaft, 


der  Seide.  Bei  Mi.  u.  R  haza  nur  =  ausbreiten,  bei  Mi.  außerdem  bdzä  =  Schnalle 
zar  Befestigung  des  Steigbfigelriemens  am  Sattel.    Bora  s.  I  122  f. 

46  a)  Mi.  sdfu  Reihe,  Linie,  R  saffu  Reihe  z.  B.  beim  gemeinsamen  Gebet. 
Obwohl  "im  Arab.  ?aff',  wird  es  von  AM  mit  s  geschrieben.  Hier :  Kreis  der  Zu- 
hörer. —  Zu  b)  vgl.  19,  I  4,  21.  Er  berühmt  sich  des  Amadu  (aus  Mo^ammadu), 
eines  bekannten  Sängers,  als  seines  Bruders  und  des  Maü  als  seines  Oheims. 

47  Kdbewa  nach  AM  Kürbis  (nach  B  Cucurbita  pepo),  am  besten  auf  Rainen 
(Ä  Mi.  kufdi,  PI.  kufäifai)  gedeihend,  wie  duma  am  Bache.  "Wie  das  Wachstum 
dieser  Wucherpflanzen,  so  lebendig  soll  die  Teilnahme  der  Zuhörer  sein. 

48  AM  goida,  PI.  goidoü,  bei  Mi  u.  R  nicht  angegeben,  ist  das  junge  noch 
unentwickelte  ^lädchen,  etwa  7— 8  jährig. 

49  A  sähülu,  PI.  säbule,  M  sahüli,  R  sabttni,  Mi.  sabülu  und  sabüni  Seife. 
Mit  ihr  wird  das  kleine  Mädchen  verglichen  als  Reinigungsmittel  für  den  Jungge- 
sellen, sei  es  nach  A,  weil  es  sein  Zeug  wäscht,  sei  es  nach  M  als  "Vorbild, 
weil  es  mehr  badet  und  Henna  auflegt  als  die  erwachsenen  Frauen  und  weil  er 
schließlich  um  ihretwillen  bei  der  Verlobung  ein  Bad  nehmen  muß.  AM  sarmai 
oder  sarmayi,  Mi.  sdmrayi,  PI.  sdmari,  ist  der  Jüngling,  Junggesell. 

50  Ich  schreibe  hier  wie  52  da,  nicht  da,  weil  beide  etymologisch  zu  scheiden 
sind:  da  ist  stets  unbetonte  Partikel,  <iä  bedeutet  eine  ferne  Vergangenheit  und 
steht  adverbial,  dem  Satz  den  präteritalen  Sinn  gebend,  i!er  der  Kopula  c'e  fehlt. 
Der  Zusatz  can  „dort"  verstärkt  den  Begriff  der  Entlegenheit. 

51  f.  Ta  steht  hier  als  Demonstrativ  in  neutraler  Bedeutung.  Es  könnte 
magdna  vertreten,  das  nicht  nur  für  Wort,  sondern  auch  abstrakt  für  Sache, 
Eigenschaft  gebraucht  wird. 

Kgl.  Oes.  d.  Wiss.   Nachrichten.  Phil.-hist.  Klasse.   1916.    Heft  4.  39 


566  Rudolf  Prictze, 

52  Ni  ma  ha  m-n  hi  ta  göida  ha, 
Ich  auch  nicht  gehe  ich  hassen  das  des  Mägdleins, 
don     da     caii      uwa-ta  göida       ce. 

weil  einst  dort  Mutter  meine  Mägdlein  war. 

53  Mügu       ha        za^i       M       ta      mügu  ha, 
Schlechter  nicht  geht  er  hassen  das  des  Schlechten, 
sai   ko    Sil  -  tarü,              su-Iälace. 

nur  ob  sie  sich  sammeln,  sie  verderben. 

54  Aiyafe  ke     göida     ke    ce, 

Heißa    du  Mägdlein  du  bist, 
ta  da-n     AU      mai-wäyo. 

die  Sohnes  des     „    habend  Klugheit. 

55  Ni     iväsa-n  da  ke  zirdra, 
Ich  Spiel  welches  (man)  tut   nackt, 
häria    ha       ne-i          ma-sa   ivöndo  ha. 
Lüge  nicht  ich  mache  zu  ihm  Hose. 

56  Domin   ahi-n    da      hd-si     da  roho, 
"Wegen  Dinges  das  nicht  es  mit  Lust, 

ni    ma     hu       sa-m      ma-sa   roho  ha. 
ich  auch  nicht  gehe  ich  zu  ihm  Lust. 

57  Biki  kadän    ha      göida, 
Fest    wenn  nicht  Mägdlein, 

ni    ma      ha        ea-n       lya     murna  ha. 
ich  auch  nicht  gehe  ich  können  Freude. 


F. 

58  A  dünia  ke   wdlatva, 
In    Welt  (man)  tue  Behagen, 

ea-n      sämari    na     mdgard. 
Kinder  die  Jünglinge  die  der  Tanzweise. 

59  Dünia  gi^efi  ce: 

Welt      Salz    ist: 

da     ddndatid  kan       kdfe-ta. 

mit  Schmecken  (man)  pflegt  endigen  sie. 

60  Dunia  md-dunäna, 

Welt      versinkend, 

kare    ye-ce,  ea-m      ntdgaro. 

Hund  er  sagt,  Kinder  die  der  Tanzweise. 


54  Äiyare  ist  eine  aufmunternde,  dem  Tanzlied  angehörige  Interjektion  (nicht 
bei  Mi.  u.  R).  Ta  bedeutet  hier  Schwester,  wie  na  46  und  an  andern  Stellen 
Bruder. 


Haassa  -  Sänger.  567 

52  noch  werd'  ich  hassen,  was  mädchenhaft, 
weil  meine  Mutter  einst  Mägdlein  war. 

53  Selbst  der  Schuft  ist  der  Sache  des  Schufts  nicht  feind, 
nur  gehn  sie  vereint  auch  zu  Grunde. 

54  Juchheißa,  das  Mägdlein,  das  bist  du, 
Schwester  des  Sohnes  Älta  des  klugen! 

55  Dem  Spiele,  das  mau  nackt  begann, 
dem  lüge  ich  keine  Hose  an. 

56  Was  keinen  Frohsinn  in  sich  trägt, 
das  will  auch  ich  nicht  heiter  machen. 

57  Wenn  einem  Fest  das  Mägdlein  fehlt, 
da  kann  auch  ich  nicht  Freude  schaffen. 


F. 

Lebensweisheit:    Man  genieße  das  flüchtige  Dasein  in 
dieser  schlechten  Welt  und  gebe  sich  keiner  Täuschung 

hin. 

58  Man  lasse  sich's  wohl  sein  auf  der  Welt, 
Jungmannschaft,  die  sich  zum  Tanzlied  hält! 

59  Das  Leben  ist  ein  Kliunpen  Salz, 
mit  Naschen  wird  es  aufgezehrt, 

60  Die  Welt  sinkt  tiefer  immerdar, 

so  spricht  der  Hund,  du  Tanzliedsschar. 


55  Dem  Vers  zuliebe  steht  ke  für  a-Jce  yi  wie  44.  Sowohl  firäfa  als  tcöndo 
sind  Konjekturen  von  M  an  Stelle  der  ihm  unbekannten,  auch  bei  Mi.  und  R  nicht 
angegebenen  Lesarten  A's :  seräre  wenig  besucht  und  gondo  Frohsinn.  Letztere 
würden  auch  für  das  folgende  eine  Tautologie  ergeben.  Karia  ist  wohl  hier  wie 
in  I  159  adverbial  aufzufassen. 

56  Ä  roho,  M  röfo  (nicht  bei  Mi.  u.  R)  Freude,  Lustigkeit.  Za-m  für  za-n, 
■das  wieder  in  poetischer  Kürze  für  za-n  yi  steht  vgl.  I  12. 

57  Mi.  bukt  Fest,  R  bukt,  biki  Hochzeit. 

58  Wie  55  ke  für  a-ke  (yi).  Ä  tcälatca  Lustwandeln,  vgl.  Mi.  wäla  in  Frieden 
leben,  R  icala,  walatca  reichlich  Platz  zum  Sitzen  haben.  Zu  ea-n  sdmari  vgl. 
I  69  Anm. 

59  Der  Vergleich  des  Lebens  mit  dem  Salz  als  einer  schon  vom  Kosten  hin- 
■sch windenden  Sache  steht  auch  in  IV  41  meiner  Bornulieder.  Kan  steht  poetisch 
für  a-kan. 

60  Nach  M  kommt  mä-dunäna  von  duna  zurückgehn,  sich  verschlechtem. 
Dies  findet  sich  bei  Mi.  u.  R  nicht;  doch  vgl.  Mi.  dunane  Untertauchung,  wozu 
■nia-dundna  Adjektivbildung  mit  weiblicher  Endung  sein  könnte.  Das  pessimistische 
Urteil  wird  sprichwörtlich  dem  alten  blinden  Hunde  ins  Maul  gelegt,  weil  er  in 
der  Jugend  Liebkosung  und  später  nur  Prügel  erfuhr.  Ähnlich  in  IV  51  meiner 
Bornulieder:  Dünia  dunand,  dünia  dunani.    Vgl.  arab.  dün  niedrig. 

39* 


568  Rudolf  Prietze, 

61  Ko  dilnia    tä-kare. 

•         •       •       ? 

Ob    "Welt  sie  endete, 
Itazd      ha      fä-dau   tdiki  ha. 
Henne  nicht  sie  hebt  Sack. 

62  Ko  dünia  tä-häfe, 

küsü     ha        za-i      häka    rämi  ha. 
Maus  nicht  geht  sie  graben  Loch. 
03   Kmi  faddma  tä-käre, 

Wenn  Überschwemmung  sie  endete, 

kddo      ye-ie  habhä-n         köyi, 

Krokodil  es  geht  (zu)  großem  dem  Gewässer, 

64  domin      dabo      karid  ne, 

weil     Gaukelei   Lüge  ist, 

ea-n      samari     na     mägara! 
Kinder  die  Jünglinge  die  der  Tanzweise. 

o. 

65  Gorwjozi      ilka-n       Gambo 

„         Enkel  der  des  „ 
do-m         Bawangdra  sdi    gaiyd! 

Sohn  der  Frau  aus  Wangara  nur  Heerbann. 

66  Ga    bdra    ya-san   dufe. 
Sieh  Diener  er  fand  Heirat, 

da-n       gidd      ha     i-sämu  ha. 
Sohn  der  Hauses  nicht  er  findet. 

67  Mai-gidd  da     gidd-n-sa 
Hausherr  mit  Hause  seinem 

kuliin    a-daure    ■        kamd-r    Mki. 
immer  man  band  Gleichheit  die  Esels. 

68  Gdgardu      da-m       mdlem 

„  Sohn  der  des  „ 

ha    i-yi  hali-m        niäl^m  ba. 

nicht  er  macht  Charakter  den  des  ,, 


61  Tempus  wie  in  Bedingung»-  und  Folgesatz. 

62  Mi.  küsü,  PI.  küsä  (A  PI.  hisuna),  Maus  (so  nach  M  in  Sokoto,  Marä^ij 
Gdbir  und  Kebbi,  dagegen  in  Kano,  Bauet,  Kafena :  4(^mbaria  „Kind  des  Rauch* 
fangs")  und  Penis.    Sollte  hier  die  letztere  Bedeutung  vorliegen? 

63  Kan  ist  aus  kaddn  verkürzt.  Koiji  ist  jede  große  VVasserinasse,  See 
und  Strom,  faddma  das  (ibersdiweramungsgebiet  der  Regenzeit,  in  welchem  das 
Krokodil  günstigere  Lebensbedingungen  sucht,  um  beim  Schwinden  der  Sümpfe, 
gewissermaßen  enttäuscht,  zum  tieferen  Wasser  als  dem  verlaßlicheren  Aufenthalt 
zurückzukehren. 

64  a)  däh6  oder  dibg,  PI.  debuna,  Taschenspielerei,  auch  übertragen:    Et- 


Haussa  -  Sänger.  669 

61  Und  mag  die  Welt  vergehen, 
nie  heben  Hühner  Säcke  auf. 

62  TJnd  mag  die  Welt  vergehen, 

nie  höhlt  die  Maus  den  Felsen  aus. 

63  Sobald  die  Überschwemmung  schwand, 
geht's  Krokodil  zum  Strom  zurück, 

64  weil  kein  Verlaß  auf  Blendwerk  ist, 
Jungmannschaft,  die  das  Tanzlied  liebt! 

G. 

Im  Anschluß   an   den  letzten  Vers  Hinweis   auf  einen 

vorliegenden  Fall,  wo  der  arme,  wackere  Goragözi  eine 

Fraufand,  sein  reicher,  windiger  Patron  öa^ard«  aber 

nicht,  vielmehr  noch  als  Pferdedieb  entlarvt  ward. 

65  Ggragqh,  Enkel  Gamb&s, 

Der  Wangdrerin  Sohn,  wie  ein  Heerbann  stark! 

66  Sieh,  wie  der  Diener  zur  Heirat  kam; 
des  Hauses  Sohn  erlangt  sie  nicht. 

67  Des  Hauses  Sohn  mit  samt  seinem  Haus, 
man  band  sie  wie  Esel  immerfort 

68  Gixgardu,  des  Geistlichen  Sohn, 
zeigt  keine  geistliche  Sinnesart. 


was  sein  wollen,  ohne  es  zu  können.  Vgl.  ML  dabo,  PI.  dabunbüna,  Beschwörung, 
Magie,  Hexerei;  der  vorliegende  Vergleich  mit  faddma  spricht  indeß  für  die 
Richtigkeit  von  A's  Angabe.  —  b)  Dieser  Halbvers  schon  58. 

65  a)  Zur  Erklärung  des  Namens  GnragnSi  nennt  M  das  bei  Mi.  u.  R  nicht 
angeführte  göra  =  kätra  Lust,  Freude,  und  vermutet  eine  Entlehnung  des  Bomu- 
wortes  gaü  (im  H  autd  Jüngster),  also  etwa:  jüngster,  kleinster  Schatz.  Oder, 
wenn  man  Mi.  gora  Sperling  herbeizieht:  Jungspatz.  Doch  auch  Mi's  gorgoaji 
männliche  Eidechse  mit  rötlichem  Kopf  könnte  bei  Annahme  einer  Metathese  zu 
Grunde  liegen.  Gemeint  ist  ein  junger  Bursche,  Freimd  und  Diener  des  reichen 
Gagaräu,  der  zwar  eines  Geistlichen  Sohn,  aber  ein  mai-debo  (s.  64),  d.  h.  ein 
Blender,  Schwätzer,  Schwindler  ist.  Gambö  wird  laut  M  ein  Knabe  genannt,  der 
nach  2  oder  mehreren  Mädchen  geboren  wird;  der  entsprechende  Mädchenname 
ist  Kunde  s.  13.  Nach  Mi.  würde  der  Name  Gambo  einem  Kinde  gegeben,  das 
auf  Zwillinge  folgt.  —  b)  Baicangära,  Fem.  zu  Bawahgdre,  ist  die  Frau  aus  Wan- 
gdra,  einer  Stadt,  die  im  fernen  Westen  außerhalb  des  eigentlichen  Haussagebiets 
liegt.  So  laut  M;  da  jedoch  auch  der  Wohnsitz  des  Sängers  (vgl.  Einl.)  gleichfalls 
JVangära  heißt  rmd  unfern  Kano  liegt,  so  ist  wohl  eher  an  dieses  zu  denken. 
Sai  gaiyä  s.  schon  9. 

66  Bara  s.  27  f.  Hier  ohne  verächtlichen  Sinn.  Sah  ist  des  Verses  wegen 
redtiziert  aus  sämu.  Aure  ist  wie  daure  in  67  dem  Kanodialekt  eigen;  die  west- 
licheren Mundarten  haben  amre,  damre,  die  östlicheren  arime,  dantne. 

67  ff.  beziehen  sich  auf  den  Diebstahl  einer  Stute,  den  Gagaräu  (aus  gagara. 


570  Rudolf  Prietze, 

69   Gödia-r     Gugdre 
Stute  die  des   „ 

ta  -  hana  yärd     iväsä. 

sie  hat  verhindert  Knaben  Spiel. 


H. 

70  Kaddn    ka-sämu      Jcudi-n-ka, 

"Wenn    du  erlangst  Geld  dein, 
kdda        Ica-häi    wa  damfirö. 
daß  nicht  du  gibst  zu  Bankert. 

71  Ka-äe  ka-bai  wa        möa, 

Geh       gib       zu   Lieblingsfrau, 
ko     tä-fiye         nia-ka  gance! 
ob  sie  übertrifft  zu  dir  Rede! 


I. 

72  Mai-gari-n    Dahigel 
Herr  Stadt  der        „ 

ba    midüm  ba  ne,      iemdge     ne. 
nicht  Mensch      ist,      Fledermaus  ist. 

73  Mai-gari-n  Dabigel 

yä-ci  kuikuyö  da        baki-m      bäht. 

er  hat  gegessen  Hündchen  mit  schwarz  dem  Maul. 

74  Mai-gafi-m  Binöno 

ba     sd-ya      goi     mardya  ba, 
nicht  geht  er  warten    Waise, 

75  sai    ko  mardya-n  da-n       zakö; 
außer  ob  Waise  die  Kindes  des  Kükens; 
domin  ya-girma,     su-  yanka  -  si. 

weil     es  wächst,  sie  schlachten  es. 

76  Seg^-n      gari    da  kdß-n        dofda, 
Hurkind  das  Stadt  mit  Schanzzeug  dem  v.  „ 
§egti-ü  gafl  da  kdß-n  dasi! 


nach  Mi.  bezwingen,  bewältigen,  nach  R  heftigen  Widerstand  leisten),  der  SohD 
eines  Geistlichen,  begangen  hatte  und  um  dessentwillen  viele  junge  Leute  einge- 
sperrt waren,  bis  der  Täter  überführt  wurde. 

69  Zu  Gugäfe  vgl.  R  yugara,  gugari  mächtiger  Mann. 

70  a)  Hier  setzen  A  u.  M,  entgegen  ihrer  sonstigen  Regel  für  Bedingungs- 
sätze, den  Aorist  ka-  statt  des  Prät.  kä-sämu.  —  b)  Das  zu  8  als  Name  erklärte 
4afnfiro  steht  hier  in  seiner  generellen  Bedeutung  wie  sege,  vgl.  18,  I  121. 


Haussa  -  Sänger.  571 


69  Die  Stute  des  Gugare, 

die  hat  den  Knaben  das  Spiel  gestört. 


H. 

Rat,  wem  man  am  zweckmäßigsten  schenkt. 
(Einschiebsel  wie  45.) 

70  Wemi  du  dir  etwas  Geld  erwirbst, 
gibs  nicht  dem  ersten  besten  Strolch. 

71  Geh  hin  und  gib's  der  Lieblingsfrau, 
ob  sie  mit  holderm  Wort  dir  lohnt! 


I. 

Ausfälle  auf  die  geizigen  Fulbe-Stadtherren  von 
Dahigel  und  B  inono  und  auf  ihre  Städte. 

72  Der  Stadthauptmann  von  Dabigel 

ist  gar  kein  Mensch,  ist  'ne  Fledermaus. 

73  Der  Stadthauptmann  von  Dabigel 

hat  ein  schwarzschnäuziges  Hündlein  verzehrt 

74  Der  Stadthauptmann  von  Binono 
wird  keine  Waise  auferziehn  — 

75  es  sei  denn  ein  verwaistes  Küchlein; 
denn  wird  das  groß,  so  schlachtet  man's. 

76  Das  Lumpennest  mit  der  Wehr  von  Wurmholz, 
das  Lumpennest  mit  dem  Dornverhau! 


72  Dabigel,  von  M  Danh^ngil  geschrieben ,  ist  wie  Binöno  der  Fulbename 
einer  Stadt  östlich  von  Kano.  Ihr  Herr  wird  Fledermaus  genannt,  weil  seine  Wege 
dunkel  sind. 

73  Kuikuyo,  PI.  nach  A  Jcuyäkuyei,  nach  Mi.  kuyakuj/i,  bedeutet  nach  A 
und  HL  11  nur  Hündchen,  nach  Mi.  aucli  Junges  von  wilden  Tieren. 

74  Goi,  goyi  und  goya  bedeutet  ursprünglich :  sich  ein  Kind  auf  den  Rücken 
binden,  dann:  es  warten,  aufziebn  vgl.  göyo  18. 

75  I)a  gibt  hier,  wie  so  oft,  dem  folgenden  Worte  diminutiven  Sinn. 

76  Zu  sege  vgl.  I  121.  Kofi,,  PI.  nach  A  köfuna,  nach  Mi.  kafekafe,  ist 
nach  A  Holzbefestigung,  nach  Mi.  Barrikade,  im  Vergleich  mit  der  Stein-  und  Lehm- 
mauer anderer  Städte  (gani)  eine  dürftige  Schutzwehr,  zumal  wenn  sie  aus  dem 
weichen,  wurmstichigen  Holz  der  doroa  (nach  Mi.  Parkia  biglobosa)  besteht.  Dasi 
(vgl.  Pfl.  u.  T.  24,  wo  er  wegen  seiner  Unausrottbarkeit  mi-rai-götna  d.  h.  zehn- 
lebig  genannt  wird),  PI.  däsuna,  mag  durch  seine  Stacheln  an  sich  eine  gute  Be- 
festigung abgeben ;  doch  der  Sänger  verhöhnt  eine  so  primitive  Verschanzung. 


672  Rudolf  Prietze, 

K. 

77  Mai-Kümurya^  mai-Lamlre, 
mai-Aciha,  tnai-Dausari ! 

78  Mai-Kümufya,     ha    don  Mi  ba, 
Herr  v.      „  nicht  um   dich, 
da    mü-n  ga      doki-n      gabd. 
und  wir  sahen  Pferd  das  Streites. 

79  Mai-Kümufya    lau£e-ti    delma  — 
Herr  v.     „  Sichel  die    Blei  — 
rauni     ha       kdria  ha. 

biegen  nicht  brechen. 
SO  Mai-Lamire,  täsi, 
Herr  v.    „          steh  auf, 

zafe     ma-na  gahd! 

hindere  zu  uns  Streit! 

81  Ni  Jcadan   güdu     yä-täsi, 

Ich   wenn    Laufen  es  stünde  auf, 

ba        sä  -  in         £e       Fdf^gai  ba. 
nicht  daß  ich  gehe  gehn  nach  „ 
8J2     Masu-wäwa-m  hQr§ci 

Herren  des  törichten  Schlafs 

ga-su    da         tväwa-n  zoro! 

sieh  sie  mit  törichtem  dem  Schrecken! 

83  Wäce    säwara    zä-liu        i? 
Welchen     Plan     geht  ihr  machen? 

ha      n-ii  ahi-n-da      kii  ke        i      ba. 

nicht  ich  höre  Ding  welches  ihr  tut  machen. 

84  Kaddn  ivuri  y^-i  würki, 
Wenn      Ort  er  macht  Kampflärm, 
ku-nsmi    ivastri  hahbd-m  hera. 

sucht  den   Wesir  groß  die  Maus. 


77  Mai  nimmt  hier  den  Sinn  von  Stadtvorsteher  an.  Die  4  genannten  klei- 
neren Städte  liegen  südlich  von  Kano,  Kümurya  in  der  Nähe  von  Oarko. 

79  a)  Lauze,  PI.  läuzuna,  Sichel  heißt  bei  Mi.  lame,  PI.  lausüna.  —  b)  Bau/ni 
heißt  hier  biegen;  bei  Mi.  ist  r^uni  P^lastizität,  bei  jB  hin-  und  herschwanken. 
Der  mai-Kumurya  wird  bleierne  d.  h.  biegsame  Sichel  genannt ,  weil  er  sich  und 
seine  Leute  mit  heiler  Haut  durch  alle  Kährlichkeiten  hindurchzuretten  weiß. 

81  a)  Güdu  bezeichnet  liier  die  Flucht  der  Landleute  vor  einem  Raubzug 
nach  einem  festen  Punkte.  —  I))  Fdfggai  ist  eine  kleine  Stadt  im  südlichen  Kano- 
gebiet. 

84  a)  Das  sonst  nicht  belegte  würki  ist  nach  A  Kriegslärm.    M  schlägt  au 


Haussa  -  Sänger.  573 

K. 

Die  Haltung  einiger  Stadthäupter  während  dieser 
gefahrvollen  Zeit  anerkennend  und  eine  in  Fargai 
eingetretene  Panik  rügend,  weist  der  Sänger  auf 
den  Wesir  genannten  wilden  Statthalter  von  Gar  ho 

als  den  starken  Mann  hin. 
Von  ihm  samt  seiner  ebenfalls  mit  den  besten  Zaubennitteln  versehenen 
Gefolgschaft  dürfe  man,  so  übel  auch  sein  Verhältnis  zur  Geistlichkeit  sei, 
ein  erfolgreiches  Vorgehen  gegen  den  mehr  gefürchteten  als  mächtigen  Ha- 
rana  (s.  Einl.)  erwarten.  Freilich  sei  des  Wesirs  Angriff  durch  seinen  Ober- 
herm,  den  Kanokönig,  gehemmt  worden,  der  von  seinem  Vertrauten  Da- 
nyäya  erfahren  habe,  daß  Haruna  in  seinem  schwer  zugänglichen  Felsennest 
Niiügi  weile.  Obwohl  der  Feind  hierdurch  nur  das  Gefühl  seiner  Schwäche 
verrate,  werde  sich  die  Ungeduld  des  Wesirs  vor  der  Hand  mit  einem 
kleineren  Streifzuge  begnügen  müssen,  zu  dem  der  Sänger  ihn  nach  Kräften 

aufzuhetzen  sucht 

77  Ihr  Herren  von  Kthuurya,  von  Laimre, 
von  Acika  und  von  Dausnn! 

78  Herr  Kumuri/crs,  wärst  du  nicht, 
das  Kriegsroß  kam'  uns  zu  Gesicht. 

79  Herr  Kumitrya's,  du  Sichel  von  Blei  — 
sie  biegt  sich,  aber  sie  bricht  nicht  entzwei. 

80  Herr  von  Lamire,  mach  dich  auf 
und  wehre  uns  den  Streit  ab! 

81  Wenn  eine  Flucht  entstünde, 

dann  möcht'  ich  nie  nach  Fargai  gehn. 

82  Sieh  nur  die  närrisch  Verschlafenen, 
wie  sie  vor  Angst  jetzt  närrisch  sind! 

83  Wodurch  gedenkt  ihr  Rat  zu  schaffen? 
Das,  was  ihr  tut,  versteh'  ich  nicht. 

84  Sobald  ein  Ort  von  Kriegslänn  schallt, 
sucht  den  Wesir,  die  große  Maus. 


Stelle  des  ihm  unbekannten  Wortes  tcuyä  Schwierigkeit  vor  oder  auch  yä-dace  ward 
leer  statt  ys-i  tcurki.  —  b)  Der  Wesir  wird  babba-m  bera  genannt,  weil  die  Maus 
alles  zerstört.  Er  ist  der  unter  dem  König  von  Kano  stehende  Gebieter  von  Garko, 
einer  lebenslustigen,  2  Tagereisen  südlich  von  Kano  liegenden  Stadt.  Im  Besitz 
der  stärksten  Zaubermittel,  ist  er  ein  für  kriegerische  Unternehmungen  sehr  ge- 
suchter Führer.  Seine  Herkunft  ist  dunkel;  man  schimpft  ihn  sege  {s.  I  121)  und 
seine  Tochter,  eine  Sängerin  von  leichten  Sitten,  die  Spottlieder  auf  ihn  singt, 
segia.  Bekleidet  ist  er  mit  einem  netzartig  durchbrochenen,  Lachen  erregenden 
Frauengewand. 


674  Rudolf  Prietze, 

85  Jßahi  mal  -  dögo  -  n        cds§bi 
Schwarzer  habend  langen  den  Rosenkranz 

ha       dun     tüo-fi-ku    ya-zö    ha, 
nicht  wegen  Brei  eures  er  kommt, 

86  ha     dum      fufä-r-Jcu      ya-26     ha, 
nicht  wegen  Kloßes  eures  er  kommt, 

mai-hana    kwanä-n  zamne. 
verhindernd  Tag  den  Sitzens. 

87  Wasiri    gdwa-r        nidta, 
Wesir    Leiche  die  der  Frauen, 
ha      gawa-r        mäl§m  ha. 

nicht  Leiche  die  des  „ 

88  Kadan  waztri    yä-fädl, 

"Wenn     Wesir  er  ist  gefallen, 

Jcada       mälemi  ya  -  tdha  -  si ! 
daß  nicht         „        er  berühre  ihn! 

89  A-  Jxdi  -  si         hdya-n       ddki, 
Man  bringe  ihn  Rücken  den  v.  Gemach, 
can  dn-da    mala     ke    sai. 

dort     wo     Weiber  tun  Urin. 

90  Kdda  a  -  Mi  -  si       kuSei, 
Daß  nicht  man  bringe  ihn  zu  Gräbern, 

koda     mälemi  ya  -  tdha  -  si. 
obgleich        „        er  berührt  ihn. 

91  Zöfo-n  ciko-n       alzena 
Altes  das  Füllen  das  Paradieses 

ha     ne      siga  wuta    ne  ha. 

nicht  das  Eingehüs  (in)  Feuer  ist. 

92  Kai  ne     sdriki-n     Gdrko, 

Du   bist  König  der  v.   „ 
ha       n-ii  abi-n  da       kd-ce    ha. 

nicht  ich  höre  Ding  welches  du  sagst. 

93  Waziri,  lai  ne  yäro, 
Waziri,  kai  ne  hahbd. 


86  a)  Bdki  ist  hier  nicht  Name  wie  I  95 ,  sondern  gilt  der  Hautfarbe.  .\ 
casg&t,  PI.  cashuna,  Rosenkranz  ist  aus  dem  Arab.  entstellt.  M.  schreibt  taz^M, 
Mi.  tasbaha.  Der  Wesir  trägt  aus  Heuchelei  einen  Rosenkranz  von  mehreren 
Metern  Länge,  steht  aber  infolge  seines  lockeren  Wandels  und  seiner  Gewalttätig- 
keit, die  vielen  das  Leben  kostete,  mit  der  Geistlichkeit  auf  so  schlechtem  Fuße, 
daß  sie  ,  wie  der  Sänger  spöttisch  empfiehlt ,  seinem  Begräbnis  am  besten  fern- 
bliebe. —  b)  Dun  für   don  durch  Angleichung  an  den  folg.  Vokal,  wie  dum  86. 


Hanssa  -  Sänger.  675 


85  Der  Mohr  mit  langem  Rosenkranz, 
er  kommt  nicht  eurem  Brei  zulieb, 

86  er  kommt  nicht  eurer  Klöße  halb, 
der  Störenfried  der  Ruhezeit. 

87  Sein  harrt  Bestattung  durch  Weiber, 
nicht  durch  die  Geistlichkeit. 

88  Sank  der  Wesir  dahin, 
berühre  kein  Geistlicher  ihnl 

89  Man  bette  ihn  hinter  der  Hütte, 
dort,  wo  die  Weiber  pissen. 

90  Man  trage  ihn  nicht  zu  Grabe  — 
ein  Geistlicher  könnt'  ihn  berühren. 

91  Was  von  jeher  das  Paradies  gefüllt, 
kommt  nicht  ins  Höllenfeuer  hinein. 

92  Du  bist  der  König  von  Garko, 

und  was  du  denkst,  vemehm'  ich  nicht 

93  Wesir,  du  bist  ein  Knabe, 
Wesir,  da  bist  auch  groß. 


86  Zu  tüo  und  fufa  vgl.  Anm.  zu  1  165  f.  Dem  Wesir  ist  es  um  die  Kriegs- 
steuer zu  tun,  die  er  seinen  Schützlingen  auferlegt  und  mit  der  er  auch  die  Lust- 
barkeiten des  Feierabends  (ktcand-n  zamne)  belastet. 

87  A  gäwa,  PI.  gäu-aye,  Leiche.  Des  Wesirs  Leiche  wird  dermaleinst  von 
Frauen  gewaschen  und  eingehüllt  werden,  nicht  vom  Mäletn,  dem  dies  sonst  bei 
Männern  obliegt. 

89  An  der  Hinterwand  der  einzelnen  Behausungen  (däki,  vgl.  1 121),  die  der 
Hof  umschließt,  befindet  sich  der  dazu  gehörige  Abtritt.  Sai  Urin  für  das  ge- 
wöhnliche fi?ari  steht  nicht  bei  Mi.  u.  R. 

90  a)  Zu  kiisei  vgl.  I  75.  Der  Plur.  steht  wohl  für  Friedhof.  —  b)  Sollte 
nicht  koda  versehentlich  für  kdda  stehn? 

91  Auch  dieser  Vers  gibt  Rätsel  auf.  Es  scheint  der  groteske  Scherz  vor- 
zuliegen, daß  der  Wesir  deshalb  vor  der  Verdammnis  sicher  sei,  weil  er  mit  seinen 
Erschlagenen  das  Paradies  bevölkert  habe.  Oder  wird  gar  die  durch  den  Wesir 
begünstigte  Liederlichkeit  der  Stadt  Garko  mit  dem  Paradiese  verglichen?  Ne  ist 
das  dem  folgenden  Vokal  genäherte  demonstrative  na  vor  dem  Genetiv. 

92  Zu  ba  n-zi  vgl.  I  18,  zu  abi-n  da  17.  Oft  wird  ce  für  das  innere  Sagen 
das  Denken,  gebraucht,  ebenso  zi  für  das  innere  Hören,  das  Erfassen.  Man 
wußte,  daß  der  Wesir  sich  zu  einem  Zuge  gegen  Haruna  aufgemacht  hatte,  aber 
von  seinem  Oberherrn  veranlaßt  war  davon  abzustehn.  Der  Sänger  erführe  gern, 
wie  er  sich  daraulhin  verhalten  wird. 

93  Sinn:  Du  bist  in  zwiespältiger  Lage,  gegenüber  dem  König  von  Kano 
klein,  als  Herr  von  Garko  groß. 


576  Rudolf  Prietze, 

94:  Ana      samurl-n      nä-l'a? 
Wo    Burschen  die  deinigen? 
Ga-si,   wuya     tä-samu. 
Sieh  es,    Not    sie  hat  gefunden. 

95  Ku-nemi  Kize  va     särlk'i-n        fäwa, 

Sucht      Fett    den  Königs  des  der  Schlächterei, 
mal  -  citnki  -  n       när§kewa  ! 
Herrn  Gewerbes  des  des  Schmelzens! 

96  And       Karäu,       na     sdriki-n      Gdrko, 

Wo    Glasarmband,  der  Königs  des  v.  „ 

mal  -  ciniki  •  n       kdriewa  ? 
Herr  Gewerbes  des  des  Zerbrechens? 

97  Ku-nemi     katdnga,      si  kua 

Sucht      Tonkrughals,  er  auch 
kama-r-su      Babdndiäe 
Gleichheit  ihre  „ 

98  hl     ku-n  ie,  ku-ce  wa  Harüna : 
Wenn  ihr  geht,    sagt    zu  „ 

Gaiyd      ba       fa-i  wa-sa    yahi  ha. 

Landwehr  nicht  sie  macht  zu  ihm  Krieg. 

99  Domtn      kuäahlm        kiira-n-sa 
Wegen  winzig  kleiner  Ponys  seiner 

don    ivonnan    ba      ya-i         ma-na      foma    ha. 
wegen     dieses    nicht  er  macht  zu  uns  Gepränge. 

100  Ga        mai-rigd-n     ragd, 
Sieh  Herr  Tobe  der     „ 

haki         mai-huzn-m        mage, 
schwarzer  Herr  Fells  des  der  Katze, 

101  ana      samari-n       nä-ka, 

wo    Burschen  die  deinigen, 

mai-lidna      yörd     tvasd? 

Verhinderer  Knaben  Spiel? 

102  Kaddn     waziri      yä-fädi, 
Wenn    der  Wesir    er  fiel, 

mätä      ne       zä-su  fufi-^i. 

Frauen  sind  gehn  sie  bedecken  ihn. 


94  Es  ist  die  Bande  von  150  zauberkundigen  Spießgesellen  gemeint,  mit  der 
er  Raubzüge  ausführt.  Der  Ruhm  der  hier  genannten  Helden  besteht  laut  ihren 
Beinamen  hauptsächlich  darin,  daß  sie  Wunden  zu  vermeiden  wissen. 

95  Der  nom  de  guerre  Fett  bezeichnet  den,  der  schmilzt,  verschwindet,  wenn 
man  ihn  fassen  will.    Na  wird  hier  niciit  Bruder,  sondern  Gefolgsmann  sein. 


Haussa  -  Sänger.  577 

94  Wo  sind  sie,  deine  Gesellen? 
Sieh,  es  ward  Ernst  für  sie! 

95  Sacht  Fett,  des  Fleischerobersten  Mann, 
ihn,  der  die  Kunst  des  Schmelzens  liebt ! 

Ö6  "Wo  ist  Glasring,  des  Königs  von  Garko  Mann, 
der  im  Zerbrechen  so  geübt? 

97  Sucht  auch  den  Tonkrughals,  den  Mann, 
der  Leuten  wie  Bahamliie  gleicht 

98  Und  geht  ihr,  sagt  Hnrnna  an: 

Es  käunpft  mit  ihm  kein  Bürgerbann. 

99  Mit  winen  Ponys,  den  winzigen  Tieren, 
da  kann  er  uns  nicht  imponieren. 

100  Schau  hin,  du  Mann  im  Netzgewand, 
du  schwarzer  Träger  des  Katzenfells, 

101  wo  sind  sie,  deine  Gesellen, 

du  Störenfried  des  Jugendspiels? 

102  Sinkt  einst  der  Wesir  in  die  letzte  Ruh, 
dann  kommen  Frauen  und  decken  ihn  zu. 


96  „Glasring"  ist  ebenfalls  nicht  zu  fassen,  weil  er  in  kleine  Stücke  zer- 
bricht. 

97  Mi.  und  R  geben  katdnga  ungenau  durch  Scherbe  wieder.  Es  ist  die 
Mündung  des  großen  Tonkrugs  tulu  (vgl.  33),  die  ganz  bleibt,  auch  wenn  dieser 
zerbricht.  Wegen  solcher  Festigkeit  ist  kaiahga  Spitzname  des  dritten  Spießge- 
sellen, der  mit  dem  sagenhaften  Babdndize  („Oheim  der  Hirsewurzel")  verglichen 
wird.  Von  letzterem  heißt  es  sprichwörtlich :  Jcusarua-r  (die  Ecke,  PI.  kusaruowi) 
danga  (Wand,  PI.  dangogi)  mai-kama-r  mutün  d.  b.  Mauerecke,  die  (im  Dunkeln) 
wie  ein  Mann  aussieht,  also  unerschütteriich.     Zu  su  vgl.  9. 

93  Gaiyd  (vgl.  9»,  das  .Aufgebot  seiner  Untertanen  wird  nach  seiner  Schlag- 
fertigkeit, im  Vergleich  zu  dieser  Gefolgschaft,  gering  gewertet. 

99  a)  Nach  A  bedeutet  das  bei  Mi.  und  R  nicht  genannte  küie,  PL  kuidküzay 
ganz  klein.  Kora  ist  PI.  oder  Nebenform  des  in  Pfl.  u.  T.  152  vorkommenden 
kuru  Pony.  —  b)  Na  ist  eine  dem  Arab.  entsprechende  Nebenform  von  rnu  wir. 
Mi.  R  föma  stolz,  Hochmut. 

1(X)  a)  Nach  A  dient  rogd  kleines  Netz ,  PI.  regogi,  (vgl.  Mi.  räyä  Hänge- 
matte, Tragnetz)  hier  zur  Bezeichnung  des  netzartigen  Waffenrocks  des  Wesirs. 
Das  große  Netz  heißt  nach  A  kömo,  PI.  komomi,  (so  auch  R;  Mi.  dafür  foma), 
das  M  als  Baumart  bezeichnet.  Für  ragd  setzt  M  hier  ragga  Lumpen  (=  Mi.j. 
—  b)  Baki  s.  86.  Büzu,  PI.  btizaye,  sonst  ein  Fell,  auf  dem  man  sitzt,  ist  hier 
der  ausgestopfte  Pelz  einer  Katze  (A  mage,  PI.  mägogi,  R  maggi),  in  den  ein 
Zaubermittel  eingenäht  ist. 

101  a)  Hier  schließt  der  94  mit  derselben  Frage  eingeleitete  Passus,  und  der 
Sänger  variiert  in  den  nächsten  3  Versen  das  87 — 90  Gesagte.  —  b)  Ähnlich  86  b. 

102  Die  Bestattung  ist  bei  den  H  ähnlich  wie  bei  den  Arabern  Nordafrikas  • 
nur  wird  die  Orabkammer  mit  Holz  statt  mit  Steinen  zugedeckt. 


578  Rudolf  Prietze, 

lOS         Kuma-r  ma-auna-n      GdrJco 

Gleichheit  die  Wiegeplatzes  des  v.   „ 
SU    ne       zä-su  riifc-si. 

sie  sind  gehn  sie  bedecken  ihn. 

104  Ma-su  mänya-mänya       döka 
Habend     große  große     Haartracht 
sa  ne         za-su  tahä-si. 

sie  sind  gehn  sie  berühren  ihn. 

105  Mai-lakaiece-m       hälci, 
Habend  Wulst  den  Mundes, 
Harütia     hahhd-n         sege ! 

„         großer  der  Hurensohn! 

106  Ba    domin       abi-n       hanzd  ha 
Nicht  wegen  Dings  des  umsonst 

mai-hafa     dea  na    langd. 
habend  Bein  eins  tut  Humpeln. 

107  Ba    domin       ahl-n        ivöfi  ha 
Nicht  wegen  Dings  des  Leeren 

mai-ido        de    na    Icdnne. 
habend  Auge  eins  tut  Blinzeln. 

108  Mai-kdr^ß     ko   da  kam 
Habend  Kraft  ob  mit  Rohr 

ye-i  köre,        hahi       hahhd-n     hera! 

er  macht  Verjagen,  schwarz  Großer  der  Maus ! 

109  Wd       sa-i     harui     ma-na     langd? 
AVer  geht  er  hindern  zu  uns  Hink  spiel? 
Sdriki    yä-hana  langd. 
König   er  hat  gehindert  Hinkspiel. 

110  Kaddn  a-n     hdna       langd, 

Wenn    man  hindert  Hinkspiel, 
sege      ka-hana         sehi ! 
Lump  du  hinderst  Haschen. 

111  Wazvri   yä-tafi  Gonid, 
Wesir    er  ist  gegangen       „ 

ha     i    -    käivo  göro   ha. 

nicht  er  bringt  heim  Guronuß. 


103  Ma-auna  ist  nacli  A  wörtlicli  ein  Getreidemaß  in  Gestalt  eines  V»  Liter 
fassenden  Kürbispcfäßes,  wie  das  gleich  große,  vermdgo  einer  Handhabe  als  Löffel 
benutzte  lüde,  Tl.  ludea.  Nach  Mi.  ist  mu-auna  der  Ort,  wo  vermessen  oder  ver- 
wegen wird,  mä-atml  Wage,  Maß,  Hier  wird  mn-auna  für  Kuppelei  gebraucht; 
es  gibt  in  Garko  Frauen,  die  dem  Fremden  für  Korn  und  sonstige  Ware  in  ihrem 
Hause  Obdach  und  ein  Mädchen  verschaffen. 


Haassa  -  Sänger.  679 

103  Der  Weiberbörse  von  Garlo  gleich 
'n'erden  sie  nahn  und  decken  ihn  zu. 

104  Die  mit  der  riesigen  Haarfrisur, 
die  werden  die  Hand  an  ihn  legen. 

105  Du  Mann  mit  dem  wulstigen  Maule, 
Haruna,  alter  Hunsfott! 

106  Es  spielt  nicht  ohne  Ursach, 

wer  bloß  ein  Bein  hat,  Hinkefuß. 

107  Es  ist  nicht  ohne  guten  Grund, 
wenn  der  Einäugige  blinzelt. 

108  Wer  Kraft  hat,  obsiegt  mit  dem  Rohrhalm  im  Strauß, 
unser  Schwarzer,  die  große  Maus. 

109  Wer  will  uns  hindern  am  Humpelspiel? 
Der  König  hemmte  das  Humpelspiel! 

110  Und  hemmte  man  das  Humpelspiel, 

ein  Hunsfott,  hemmst  du  ein  Haschen  auch! 

111  Nach  Gonla  zog  der  Wesir  hinaus, 
bringt  keine  Guronuß  nach  Haus. 


104  Doka,  PI.,  dokoki,  ist  nach  A  und  Mi.  die  aufgetürmte  weibliche  Haar- 
tracht im  Sudan,  nach  Mi.  dem  früheren  bayrischen  Raupenhelm  ähnlich. 

105  In  diesem  und  den  folgenden  Versen  macht  der  Verdruß  über  die  Ver- 
hinderung des  Feldzugs  sich  in  Schimpf  und  Spott  gegen  Haruna  Luft,  der  so 
wenig  Kraft  zeige.  Lakacece,  bei  Mi.  und  R  nicht  angegeben,  ist  ein  dicker  Wulst, 
namentlich  der  der  Unterlippe,  wie  am  Kamel.  Daß  die  Bewohner  des  Sudan  sich 
ihre  wulstigen  Lippen  vorzuwerfen  lieben,  zeigt  Nr.  24  meiner  Bornulieder,  wo 
der  Kanuri  dem  H  zusingt :  Dein  Maul  ist  wulstig  wie  das  des  Kamels. 

106  Langd,  ursprünglich  ein  Bomuwort,  dem  im  H  dfaia  entspricht  (nicht 
bei  Mi.  u.  R),  ist  ein  Kinderspiel,  bei  dem  man  seinen  einen  Fuß  mit  der  Hand 
rückwärts  emporhält  und  auf  dem  andern  zu  einem  Ziele  humpelt. 

107  Wenn  hier  das  dea  des  letzten  Verses  zu  de  verkürzt  ist,  so  zeigt  dies, 
wie  auf  Forderungen  des  Rhythmus  Rücksicht  genommen  wird. 

108  Diese  wohl  mit  dem  ähnlichen  Klang  von  kafd  und  köre  spielende  Wen- 
dung s.  auch  HL.  37.    Zu  bdki  s.  85,  zu  hdbba-m  bera  84. 

109  Zu  ma-nn  vgl.  99.  Der  Vergleich  mit  longa,  der  106  dem  Verhalten 
Haruna's  galt,  wird  hier  auf  die  vom  Wesir  begonnene,  vom  Eanokönig  verwehrte 
Unternehmung  gegen  jenen  bezogen. 

110  Dem  laiigd  wird  ein  andres  Kinderspiel,  das  Haschen,  stlü  (nicht  bei 
Mi.  u.  R.)  gegenübergestellt  als  Bild  für  einen  kleineren  Beutezug  (H  hari,  dem 
Kanuri  entlehnt),  dessen  Verbot  geradezu  eine  Gemeinheit  sein  würde.  Kä  du 
kann  im  Sinne  von  man  verstanden  werden ;  die  Keckheit  jedoch,  mit  welcher  der 
Kanoköuig  in  den  Versen  161  flf.  angegriffen  wird,  rechtfertigt  die  Annahme,  daß 
hier  eine  direkte  .Anrede  vorliegt. 

111  Aus  Gonia  beziehn  die  H  ihre  vielbegehrten  Kola-  oder  Guronüsse  vgl. 
1  52.  Mit  einer  mißglückten  Handelsreise  dorthin  vergleicht  der  Sänger  den  un- 
ausgeführten Feldzug  des  Wesirs,  um  diesen  gegen  die  Weisung  seines  Oberherm 
scharf  zu  machen. 


580  Rudolf  Prietze, 

112  Sankara      tä-kan  ei, 
Kolamade  sie  hat  gepflegt  essen, 

iska  iä   -   huse  -  sL 

Windsbraut  sie  hat  geblasen  es. 

113  Kan    a-n     hana     mä-na    langä, 
"Wenn  man  hinderte  zu  uns  Hinkspiel, 

göhe        maa    -    äe  selü! 

morgen  wir  werden  gehn  Haschen! 
IM    Ba     hnka  ne  ha, 
Nicht     so     ist, 

ha    hdka      a-ke       Iduni-m  ha. 
nicht     so     man  tut  Farbe  die. 

115  Mai-Küniurija,  M-ka  Kümurya, 
nmi-Dar§ki,  komd  Dar§ki! 

116  Gama      könii      Harüna   ya-äika, 
Weil    was  auch         „         er  arbeitet, 
du     da        sina-m       Ddnyaya. 

alles  mit  Wissen  dem  des  „ 

117  Komi     Ningi     ta-bunne, 
Was  auch       „       sie  vergräbt, 
üanyaya    yä  -  töne  -  si. 

„  er  giub  aus  es. 


L. 

118  Da    ni    da  yaye       -      r         Mao 
Und  ich  und  ältere  Schwester  die  des  „ 
wanene       zd-i     •  feha-mu  ? 

Wer  ist  geht  er  trennen  uns? 

119  Yäye  -  r  Mao,  Ipauna  ya^inya  ee, 
Ältere  Schwester  die  des  „  Liebe  Mädchen  ist, 
a   hankali              kam         hi-ta,       ta-girma. 

in  Klugheit  (man)  pflegt  folgen  ihr,  sie  wird  groß. 

120  Mata-r       mutün  kabari-n-sa, 
Weib  die  des  Menschen    Grab  sein, 
bäbu  mi-hünce-Si. 

nichts    lösend  ihn. 


112  Sankara  und  iska  sind  die  beiden  Feinde  der  Guronüsse.    Zum  Schutz 
gegen  Austrocknung  werden  diese  einzeln  in  Blätter  gewickelt  und  in  einen  Leder- 
koffer verpackt,  der  nur  wöchentlich  einmal  geöffnet   wird,   weil  sie  der  Anfeuch- 
tung bedürfen.     Sankara  und  iska  versinnbildlichen  den  königl.  Befehl,   der  den 
ndel"  verdarb. 


Haassa-  Sänger.  581 

112  Es  hat  ein  Wurm  an  ihr  gezehrt, 
es  hat  ein  Glutwind  sie  versehrt, 

113  TJnd  wehrte  man  uns  das  Humpelspiel, 
60  wollen  wir  morgen  haschen  gehn ! 

114  Auf  solche  Art  nicht! 

So  spielt  man  diese  "Weise  nicht  I 

115  Herr  Kümiirya'a,  geh  nach  Kümurya^ 
Herr  Darki's,  kehre  nach  Darki  zurück, 

116  weil  alles,  was  Harnna  treibt, 
Danyaya  nicht  verborgen  bleibt. 

117  So  viel  auch  Hingi  vergraben  mag, 
Danyaya  bringt  es  an  den  Tag. 

L. 

Von  dem  festen  Bande,  das  den  Sänger  an  diejenige 
knüpft,  die  er  sich  zur  Frau  ausersehn  hat  (vgl.  E  54). 

118  Mich  und  des  Mao  Schwester, 
wer  möchte  je  uns  trennen? 

119  Kind,  Lieb'  ist  eine  kleine  Maid, 
man  hegt  sie  klüglich,  und  sie  wächst. 

120  Die  Gattin  ist  des  Mannes  Grab, 
nichts  kann  ihn  davon  lösen. 


113  Maa-ie  ist  das  Fut.,  dessen  Präfixvokal  zweigipflig,  unter  Erhöhung  des 
ersten  Gipfels,  betont  wird.    Sslu  s.  110. 

114  Launi  aus  dem  Arab.,  mit  Artikel  launi-n,  heifit  hier  Tanzweise. 

115  Kiimurya  s.  77  ff.  Sein  Herr  war  wie  der  von  Darki,  das  ebenfalls  zu 
dem  Kreise  kleiner  Städte  südlich  von  Kano  gehört,  in  Begriff  gewesen  den  Kriegs- 
zug des  Wesirs  mitzumachen,  und  erhielt  nun  Gegenbefehl.  Ze-Tca,  altertüml. 
mit  Suff,  statt  Präf.,  geh.     Koma  kehre  zurück. 

116  Danyaya,  wörtl.  Sohn  des  älteren  Bruders  oder  der  älteren  Schwester 
{yaya  in  dieser  Bed.  ist  dem  Kanuri  entlehnt),  ist  der  Name  eines  .Mannes ,  der 
infolge  verwandtschaftlicher  Zwistigkeiten  von  Ningi  auf  Kanogebiet  übergesiedelt 
war.  Dank  alten  Beziehungen  konnte  er  den  König  über  das  Treiben  Haruna's 
in  Kenntnis  erhalten. 

117  Für  bünne  hat  Mi.  hizne,  K  bisne.    Ningi  ist  als  Stadt  Fem. 

118  Yäya  s.  116.  Mäo  ist  vielleicht  der  54  genannte  Sohn  Ali's ,  dessen 
Schwester  dort  angeredet  wird. 

119  MK  kamna  Liebe,  Verlangen,  Mi.  katnna  Hoffnung,  kam  s.  20. 

120  Ein  beliebtes  Sprichwort:  Die  Frau  ist  das  Sclücksal  des  Mannes,  von 
dem  er  nicht  loskommt.  Kabari  zeigt,  wie  bei  Entlehnungen  aus  dem  Arab. 
dessen  velares  k  durch  k  wiedergegeben,  also  nicht  mit  dem  k  des  H  wesensgleich 
gefunden  wird,  ebenso  alkali  Richter  u.  a.  Den  2.  Halbvers  hat  M  hinzugefügt, 
daher  seiner  Mundart  entsprechend  mi-  statt  mai-. 

Kgl.  Oes.  d.  Wiss.  Nachrichten.    Phil.-hist  Klasse.    1916.    Heft  4.  40 


582  Rudolf  Prietze, 


M. 

121  Wota    uyä    sai  nä-ha! 
Welche  Not  außer  deiner! 

Sare  ha      yä-jüre    ha. 

Nichtverwandter  nicht  er  ertrüge. 

122  Mai-Gär§hi   yä-yi  l^äri, 
Herr  v.  „       er  machte  Räudiges, 

ha      i-san  ahi-n       Jcunya     ha. 

nicht  er  wußte  Ding  das  der  Scham. 

123  Mai'Gdr^hi,  harJca   dduya! 
Herr  v.  „        Segen  mit  Not! 

yä   -   i  raua   a    gu-n-su     Haruna! 

Er  hat  gemacht  Tanz  in  Ort  ihrem  „ 

124  Yä  -  i,  su-n  yenke-§i! 
Er  hat  gemacht     sie    schlachteten  ihn. 
Mai-Gar§bi,     ha      don      hai  ha, 
Herr  v.  „        nicht  wegen  deiner, 

125  wa       sä-i       ii  zorq-n         oß, 

wer  geht  er  fühlen  Furcht  die  des  Leeren, 
da  Alla    yä-bd-ka       saräuta! 
und  Gott  er  gab  dir  Königswürde! 

126  Dära     abi-n        yard  ne, 
Spiel  Ding  das  der  Knaben  ist, 

gemu    ha     sd-ya       iya    ha! 
Bart    nicht  geht  er  können. 

127  Gemu    ha    ya-gnje  gemu  ha, 

Bart    nicht  er  läuft    Bart, 
ni     ha     na-guje     arne  ha. 
ich  nicht  ich  laufe  Heide. 

128  Mai-Gdr§bi,     hä-läldce  — 

Herr  v.  „        du  bist  verdorben  — 
wakd-r-ha    mu-ü         gane-ta! 
Lied  dein   wir  haben  gesehn  es. 


121  a)  Statt  nä-lca  würde  man  tä-Tca  erwarten.  —  b)  Bare  s.  39:  Selbst  der 
gänzlich  Unbeteiligte  wäre  empört.  Yä  Tempus  der  Folge  nach  einem  zu  ergän- 
zenden Bedingungssatz.  A  jüle,  jure  erdulden,  aushalten  =  Mi.  jure,  daure,  R 
dauri,  M  zimre. 

122  GarH  liegt  3  Tagereisen  südlich  von  Kano.  Lfäri  ist  das  arab.  el'arr, 
dem  Lautcharakter  des  H  angepaßt,  vgl.  I  8,  177. 


Haossa  -  Sänger.  583 


M. 

Unwille  über  das  schmachvolle  Verhalten  des  Stadt- 
herrn von  Garbi,  der  Haruna's  Grebiet  mit  Krieg 
überzogen  hatte,  aber  gefangen  wurde  und  sich  von 
den  Leuten  Haruna's  zum  Tanzen  zwingen  ließ,  be- 
vor sie  ihn  erschlugen. 

121  Welch  Elend  vergliche  dem  deinen  sich! 
Dem  {^remden  selbst  wär's  ungeheuerlich. 

122  Mit  Schmach  belud  sich  Garbi's  Herr, 
er  wußte  nicht,  was  sich  nicht  schickt! 

123  Stadtherr  von  Garbi,  wohl  bekomm's! 
Er  tanzte  vor  Haruna's  Volk! 

124  Er  tat's  —  und  es  hat  ihn  geschlachtet! 
Stadtherr  von  Garbi,  wer  sonst  als  du 

125  verspürte  je  so  feige  Furcht, 

wo  Gott  dir  Herrscherwürde  gab! 

126  Das  Spielen  konunt  den  Knaben  zu; 
Wer  einen  Bart  trägt,  darf  das  nicht! 

127  Und  kein  Bart  läuft  vor  andenn  Bart! 
Ich  laufe  selbst  vor  Heiden  nicht 

128  Stadtherr  von  Garbi,  du  verdarbst! 
Genug  mit  unserm  Lied  von  Dir! 


123  a)  Däuya  ist  zusammengezogen  aus  da(tD)uya;  barka  höhnisch:  sei  ge- 
grüßt in  der  Not.  —  b)  Gu-n  aus  guri-n  s.  I  30.  Zu  su  mit  folgendem  Namen 
s.  9,  hier:  Haruna  und  seine  Leute. 

124  Nach  yä-i  ist  raua  aus  dem  vorigen  zu  ergänzen.  Ba  don  kai  ba  bat 
den  Sinn  des  englischen  but  for  thee.  Hier  liegt  der  seltene  Fall  eines  Enjambe- 
ments vor. 

125  Oft  für  Kofi,  wie  121  uya  für  wuya.    Sarauta  ist  eine  Ergänzung  RTs. 

126  A  dära  PL  ddrori,  ein  bestimmter  Tanz.  Dagegen  ist  nach  M  dära  ein 
Spiel,   bei  dem  Muscheln  in  kleine  Erdlöcher  geworfen  werden.    So  auch  bei  R. 

127  Cruje  ist  bei  R  als  Nebenform  von  gudu  laufen  angegeben.  Von  ihm 
2U.  unterscheiden  ist  goce  ausweichen  135, 


40^ 


584  Rudolf  Prietze, 

N. 

129  Mai-duzi         si  zomö  ne! 
Herr  des  Felsen  er  Hase  ist! 

Sünä-n-sa     yä-taß  har  Gonää. 

Name  sein  er  ist  gegangen    bis         „ 

130  Koiva     düka   yä-sän-7ca, 
Wer  auch  jeder  er  kannte  dich, 

säriki-n     Käno    ya-sö- ha, 
König  der  v.  „       er  liebte  dich, 
yanzü  yä-här  wöfi. 

jetzt     er  ließ  leer. 

131  Mazd-n       hwarei  kamd-r  da-n     Wdir§ 
Männer  die  der  Güte  Gleichheit  die  Sohnes  des       „ 
SU      köiva      ke   Tcamnd. 

sie  wer  auch  tut  Lieben. 

132  Domin  zomöie        mai-duzi. 

Weil      Hase     Herr  des  Felsen, 
ha        a  -  kdi  -  si      guri-n     gabd. 
nicht  man  bringt  ihn  Ort  des  Kampfes. 

133  Sai  kainä-r       sariki-n     Gongmi 
Nur  Gleichheit  die  Königs  des  v.   „ 
Düna     ha-ka     da     zorö. 

„       nicht  du  mit  Furcht 

134  Kama-r-su      mai-Kdrae ; 
Gleichheit  ihre  Herr  v.  „ 

babd-n       Ämadu    hd-iya    zorö, 
Oheim  der  des   „   .     nicht  er  Furcht, 

135  bahd-m        Bellö    ha      ya-göce    ha, 
Oheim  der  des  „      nicht  er  weicht, 
kaddn  icufi  ye-i  ivdrki, 

136  ku-nemi      huha-n        Güntö, 

sucht     Oheim  den  des   „ 
häwa  har      ka-m        häwa. 
Sklave   bis    Kopf  den  des  Sklaven. 


129  Gemeint  ist  Bdlo,  der  Fulbefiust  von  Dü^i  Gadaur ,  einer  umfang- 
reichen Feste,  4  Tagereisen  östlich  von  Kano  im  Gebirge,  der,  seit  er  vor  Haruna 
floh,  verspottet  wird.  Ob  der  2.  Halbvers  und  130  ihm,  wie  die  Vorrede  sagt, 
einen  ehemaligen  guten  Ruf  zuschreiben  oder  seiner  jetzigen  Unehre  gelten ,  läßt 
sich  nicht  sicher  erschließen ;  die  Liebe  des  161  ff.  bitter  geschmähten  Kanokönigs 
entscheidet  die  P'rage  nicht. 

131  a)  Das  meist  zum  Verstärkungsadv.  „sehr"  abgeblaßte  kwarii  zeigt  hier 


Haussa  -  Sänger.  585 

Der  Sänger  rügt  die  Haitang  des  Herrn  von  Duzt  Ga- 
ddur,  der,  sehr  unähnlich  anderen  Herrschern,  letzt- 
hin durch  Feigheit  ehemalige  Sympathien  eingebüßt 
habe,  bezweifelt,  daß  ein  neuerdings  große  Erwar- 
tungen erregender  Günstling  eines  Kano-Großen  sich 
bewähren  werde,  und  preist  dafür  den  Würdenträger 
Kuduhe  in  Marma  unter  der  Hoheit  des  Königs  von 
JTadeJa  als  erprobt. 

129  Der  Herr  vom  Fels  ist  ein  Hase! 
Sein  Name  drang  bis   Gonia  hin. 

130  Du  warst  in  aller  Welt  bekannt, 
und  Kano's  König  hat  dich  geliebt 
hat  jetzt  dich  aufgegeben. 

131  Nur  tapfre  Männer  wie  Wäire's  Sproß, 
sie  hat  ein  Jeder  gem. 

182  Doch  weil  der  Felsherr  ein  Hase  ist, 
bringt  man  ihn  nicht  zum  Kampf. 

133  Nur  ein  Mann  wie  du,  Fürst  von  Gongon, 
IHina,  du  fürchtetest  nichts! 

134  Nur  Leute  wie  Kdrae'B  Herrscher, 
Ohm  Amadu's,  fürchteten  nichts. 

135  Der  Oheim  Bello's  wich  nicht, 
wenn  Kriegslärm  sich  erhob, 

136  sucht  nach  dem  Oheim  Gonto's, 
dem  Sklaven,  ja  Übersklaven! 

wie  in  Mi's  da-n  kwarai  seinen  ursprünglichen  Charakter  als  Sahst.  Der  tapfere 
Sohn  der  südlich  von  Kano  gelegenen  Stadt  Wairs,  Abu  Bdkar  zur  Zeit  des  Kö- 
nigs Alü  von  Kano,  fiel  im  Kampf  gegen  Haruna.  —  h)  Das  Obj.  su  ist  hier, 
weil  hetont,  vorangestellt;  ke  für  ye-fcc,  vgl.  122.     Kamna  s.  kauna  119. 

132  Um  den  Ausfall  gegen  einen  Fulbefürsten  als  solchen  zu  kennzeichnen, 
steht  zomöze,  d.  h.  das  H-Wort  zomo  mit  demjenigen  Suffix,  mit  dem  die  Falbe 
die  dem  H  entlehnten  Wörter  zu  versehn  pflegen  (z.  B.  kudaku-:e  Batate  für  H 
kudaku,  takantd-ze  für  H  takanda  Zuckerrohr ;  nur  dürfte  dies  le  oder  je  eigentlich 
Pluralendang  sein).     Das  eigentliche  Fulbewort  für  Hase  ist  böjel. 

133  Gongon  kleine  zu  Kano  gehörige,   eine  Tagereise  westl.  gelegene  Stadt. 

134  In  der  Nähe  von  Gongon,  westlich  davon,  liegt  Kdfae,  ein  größerer  Ort, 
der  30Ö  Berittene  stellt.  An  seiner  Spitze  stehn  die  Brüder  Amadu  und  BtUo 
(135),  dieser  als  Fürst,  jener  als  Thronfolger  (galadima).  Ihr  Oheim  aud  Vor- 
gänger fiel  mit  Düna  (133)  im  Kampfe  gegen  Haruna. 

135  Bello  s.  vorige  Anm.  Der  2.  Halbvers  fand  sich  schon  84  und  steht 
hier  anscheinend  &7t6  %oivov,  da  sich  dieselbe  Wendung  wie  34  anschließt 

136  Obwohl  das  Wort  bäwa  Sklave  an  sich  nicht  verächtlich  ist,   vielmehr 


586  Rudolf  Prietze, 

137  Bawa-n        Abdu  nä     sage 

Sklave  der  des  „      der  der  Kostbarkeit 
si  ne  ye-ke      alwdsi. 
er  ist  er  tut  Versprechen. 

138  Alwdsi        ha     yäki  ha, 
Versprechen  nicht  Krieg 

sai         a-n  yi        Jean      sdn       gask§. 

außer  man  hat  gemacht,  pflegt  wissen  Wahrheit. 

139  Amd  Kuduhe  na     sdfiJci-n     Marma 
Aber         „         der  Königs  des  v.   „ 

yä-i  mü  -  n  gani,      ha        woi      ne  ha, 

er  hat  gemacht,  wir  haben  gesehn,  nicht  Gerücht  ist. 

140  Arm  Kuduhe,      da-m      Fdnna, 
Aber          „  Sohn  der  der  „ 

sard       ahi-n        rufa  söras, 

Balken  Ding  das  Deckens  Lehmhäuser, 

141  Hnge  na     sdr§M-n     Marma 
Zaun  der  Königs  des  v.  „ 
düzi       ciki-n         rud     ne  si, 
Stein  Bauch  der  Wassers  ist  er, 

14^    ha    i-san     dna   rand  ha, 
nicht  er  weiß    wo    Sonne, 
hd    i-san     dna   iska  hd. 
nicht  er  weiß   wo   Wind. 

143  Alkama-r        ka-n      düzi  — 
Weizen  der  Kopf  des  Felsen  — 
Alla     ka-hä-ta         rüa, 
Gott,  du  gibst  ihm  Wasser, 

144  räni  ha-iya  hone-ta, 
Trockenzeit  nicht  sie  verbrennt  ihn, 
md-hudi,       haha-n     Ai§e! 
Schlüssel,  Oheim  der     „ 

145  Yafd  su-n  göde  nta,  nianyd  su-n  göde  ina, 
Knaben  sie  haben  gedankt  dir.  Große  sie  haben  gedankt  dir, 
md-hudi,                   jtgo-m    Mdfma. 

Schlüssel,  Brunnenbalken  der  v.   „ 


oft  Kriegsknecht  bedeutet,  gibt  ihm  doch  die  Steigerung  har  Ica-m  bäwa  spöttische 
Färbung,  weil  der  Betreffende  prahlerisch  auftrat.  Har  dürfte  auf  arab.  hatta 
zurückgehen,  wie  das  feminine  r  auf  t. 

137  a)  Abdu  war  ein  Würdenträger  in  Kano.  Na  wie  91,  106.  Mi.  zdge 
kostbar  aufgeschirrtes  Pferd,  das  im  Zuge  hinter  dem  König  geführt  wird  (A  = 
B  zagt),    A  tagi,  PI.  zägogi,  Prunkstück  (döifct-n  zage  Staatspferd),  hier  ironisch, 


Hanssa- Sänger.  587 

137  Abdu's  Sklave,  das  Kleinod, 

er  ist's,  der  Versprechungen  macht 

138  Versprechen  ist  nicht  kämpfen; 

an  der  Tat  nor  erkennt  man  das  Echte. 

139  Doch  des  Fürsten  von  Manna  Mann,  Kudube, 
hat  gehandelt,  wir  sahn's,  es  war  kein  Geröcht 

140  Doch  Kudube,  der  Fanna  Sohn, 

er  ist  ein  Balken,  der  Häuser  deckt, 

141  der  Zaun  des  König  von  Manna, 
ein  Felablock,  der  im  Wasser  liegt: 

142  er  spürt's  nicht,  wenn  die  Sonne  scheint, 
er  spürt's  nicht,  wenn  der  "Wind  weht. 

143  Ein  Weizen,  der  auf  Felsen  wächst  — 
du,  AUah,  gibst  ihm  Wasser, 

144  kein  Sommer  kann  ihn  sengen  — 
ist  Aischa's  Ohm,  der  Kammerherr. 

145  Es  sind  dir  dankbar  Jung  und  Alt, 
du  Brunnenbalken  von  Marma! 


weil  auf  einen  Renommisten  bezüglich.    Nach  M  ist  auch  der  Ausdruck  bmca-n 

zaye  Elitesklav  gebräuchlich. 

138  Sai  hier  unterordnend.  Kan  für  a-ltan  s.  20.  San  für  sani.  AMR 
haben  gaske  neben  gaskia  Wahrheit. 

139  a)  M  schreibt  amma  wie  im  Arabischen.  A  ludubi  (M  küd^)  war  der 
zuverlässige  Führer  der  Sklaven  in  der  Stadt  Marma,  deren  Oberhaupt  der  Sohn 
des  Königs  von  Hadeza  war.  K  hat  tapfer  gegen  Haruna  gekämpft,  ohne  ver- 
wundet zu  werden.  Marma  im  JJadeia-Gebiet  heißt  bei  A  Mantnan.  —  b)  A  M 
tcoi  leeres  Gerücht  ist  wohl  identisch  mit  Mi.  R  toat,  dem  Aasdruck  der  Ungewiß- 
heit: „man  sagt"*. 

140  Fanna  weiblicher  Bomuname,  vgl.  1 147.  A  zara,  des  Verses  halber 
für  äzara,  PI.  azaröri,  Deckbalken.  Sorae  ist  Plur.  von  söro  Lehmhaus,  das  mit 
Balken  gedeckt  wird,  auf  die  man  nach  Mi.  eine  fußdicke  Schicht  Erde  legt.  Ein 
Oberstock  darüber  heißt  nach  M  sörö-m  bina,  und  zwar  sollen  beide  Worte  aus 
Bornu  stammen.  Mi.  nennt  es  söro-n  bene  und  deutet  dies  als  „Haus  des  kleinen 
Vogels  bene",  der  mehrere  Nester  übereinander  baut. 

141  A  singe,  PI.  singogi,  Hecke,  Zaun  =  Mi.  simgi,  simge. 

142  Bild  einer  unanfechtbaren  Stellung,  nämlich  in  der  Gunst  seines  Herrn. 

143  Zu  der  Lautgestalt  des  dem  Arab.  entstammenden  alkama,  das  durch 
seine  neue  Endung  Fem,  wurde,  vgl.  das  zu  kabari  120  gesagte.  Das  Bild  hat 
eine  ähnliche  Bedeutung  wie  das  vorige:  Wie  der  Weizen  auf  dem  Felsen  nur 
Gott  sein  Dasein  verdankt,  so  Kudube  seinem  König. 

144  Ma-budi  „Öffner",  Schlüssel,  ist  derjenige,  der  an  Fürstenhöfen  die  Leute 
zur  Audienz  führt  (in  Bornu  c^goram).  Daher  nachher  der  Vergleich  mit  dem 
Brunnenbalken,  während  der  Fürst  der  Brunnen  sein  würde,  vgl.  I  132. 

145  Ma  soll  hier  des  Verses  halber  für  md-ka  stehn  wie  I  109.  Da  ein 
Halbvers  md-ka  vertrüge,  scheint  mir  obige  Gliederung  beabsichtigt  zu  sein,  wobei 


588  Rudolf  Prietze, 

146  Ydro     hä-iya      käi        gaiyd, 
Knabe  nicht  er  führen  Landwehr, 
sai   da   manya    sii-na        tare. 
nur  mit  Großen  sie  sind  zusammen. 

147  Ymo    ha-iya       daii        yäro  ha, 
Knabe  nicht  er  aufheben  Knabe, 
sai  Tcö     SU  -  tarü  su-laläce. 
nur  ob  sie  sich  sammeln  sie  verderben. 

148  Tüsa         ha     ta-fura  wutd  ha, 
Bauchwind  nicht  er  bläst  Feuer 
sai  ho  kdria       3ä-a  yi. 

nur  ob   Lüge   geht  man  machen. 

0. 

149  Wonda       isa-i      ze    Ningi, 
Welcher  geht  er  gehn       „ 

in      yä-äe,      ya-ce    wa  Haruna: 
wenn  er  geht,  er  sage  zu          „ 

150  Ya-i  Mro  da         bdwa-n       sdrJci, 
Er  hat  gemacht  Widderstoß  mit  Sklaven  dem  Königs, 

bd     kua       dd-n       sariki   ne  ha. 
nicht  auch  Sohn  dem  Königs  ist. 

151  Yä-sam      da-n         dwnhü-n-sa, 
Er  fand  Sohn  den  der  Million  sein, 

ya-sdke        wäsa-H ! 
er  wechsle  wetzen  ihn! 

152  Wqnnan     ha     i-kdma  ha, 

Dies       nicht  es  faßt, 
ye-nemi     sdf>o-n    ddrto. 
er  suche  neue  die   Feile. 


dann  wohl  göde  zu  betonen  wäre.  Zu  ma-budi,  jigo  s.  144  Anm.  Bei  Mi.  ist 
jlgo  Galgen  und  Pfosten,  an  dem  geschlachtetes  Vieh  aufgehängt  wird,  bei  R  so- 
wohl letzteres ,  als  auch  Stützbalken  für  das  Dach  (wie  azara  140)  und  Brunnen- 
balken. 

146  Auch  dieser  und  die  folgenden  Verse  sollen  die  Bedeutung  des  erfah- 
renen Kammerherrn  hervorheben.  Gaiya  s.  9.  Nach  M  bliebe  8u-na  hier  besser 
fort;  tafi,  ist  Adverb. 

147  a)  Das  nach  ha-iya  überflüssige  2.  ha  steht  wohl  als  Reim  auf  146  a). 
Dau  ist  eine  Kurzform  für  dauka  heben,  tragen,  wie  ga  für  gani  sehen.  —  b)  Im 
Text  steht  a  man  für  su  sie ;  doch  M  empfiehlt  letzteres,  weil  a  vor  dem  passiven 
tafu  und  dem  intransitiven  laläce  ungewöhnlich  wäre.  Übrigens  steht  dieser  Halb- 
vers schon  53. 


Haussa«  Sänger.  589 

146  Kein  Knabe  steht  dem  Heerbann  vor, 
55U  Großen  nur  schart  sich  die  Runde. 

147  Kein  Knabe  hebt  den  Knaben  empor, 
vereint  selbst  gehn  sie  zu  Gmnde. 

148  Ein  Bauch  wind  bläst  kein  Feuer  hervor  — 
man  führe  denn  Lügen  im  Munde ! 

0. 

In  der  Erwartung  neuer  Kämpfe  mit  Haruna  werden 
den  etwa  des  Weges  Ziehenden  Botschaften  aufge- 
tragen, einmal  an  den  Feind,  diesem  einen  schwe- 
reren Streit  als  den  mit  dem  eben  gerühmten  Ku- 
dube  au  sgef  ochtenen  verkündend,  darauf  an  Kudube, 
ihn  zum  Erwerb  neuer  Zaubermittel  zu  veranlassen, 
da  die  vorigen  unwirksam  gemacht  seien,  dann  wie- 
der an  Harüna  mit  dem  Hinweis  auf  Städte  und  Land- 
schaften, gegen  die  sein  Angriff  nichts  vermöge. 
Nur  Kano  sei  infolge  der  Weichlichkeit  seines  zum 
Kinderspott  gewordenen  Herrschers  Bello  wehrlos, 
wogegen  Fürsten  wie  der  von  Mafwa  sich  nie  ähn- 
liches bieten  lassen  würden. 

149  Wenn  Jemand  sich  nach  Ningi  begibt, 
so  mag  er  Haruna  berichten: 

150  Mit  dem  Sklaven  hat  er  den  Bockstoß  geübt, 
mit  dem  Sohn  des  Königs  mit  nichten ! 

151  Er  prüfte  sein  Millionenschwert, 
nun  schaff'  er  ihm  neue  Schneide! 

152  Denn  diese  alte  faßt  nicht  mehr, 
er  suche  die  neuste  Feile! 


148  Der  Inhalt  dieses  Verses,  einschließlich  des  Zusatzes,  findet  sich  als 
Nr.  358  in  meinen  Bornusprichwörtem. 

149  In  (aus  dem  Arab.)  yä-ze  dürfte  nach  dem  ersten  Halbvers  nur  vers- 
füllendes  Flickwort  sein. 

151  Tä-sam  steht  für  yä-sämu:  Er  (Haruna)  hat  sein  Schwert  gefunden, 
d.  h.  entdeckt,  wie  es  durch  den  Kampf  mit  Kudube  zugerichtet  ist.  Dumbu,  von 
A  dunbu  geschrieben,  ist  soviel  wie  dübudübu  d.h.  1000  mal  1000.  Der  Sohn 
der  Million  (nämlich  von  Kaurimuscheln,  deren  etwa  1000  auf  1  Mark  gehn)  ist 
Harunas  Schwert.  Auch  andre  Dinge  von  hohem  Wert,  z.  B.  ein  kostbares  Pferd, 
werden  bisweilen  so  genannt. 

152  R  darto  Feile. 


590  Rudolf  Prietze, 

153  Ye-nemi     mä-^eri-n       Jcirki 
Er  suche  Schmied  den  der  Güte 
mai'wäsi  da    iyawa. 
schleifend  mit  Können. 

154  Wa     za-si       Kürkuäe  ho    gübe? 
Wer  geht  er  nach   „  ob  morgen? 

Ni       isa-n     md-sa      sako,       in     yä-ie, 
Ich  gehe  ich  zu  ihm  Auftrag,  wenn  er  geht, 

155  ya-ce    tca  Kiidiihe      da-m         Fanna: 
er  sage   zu         „         Sohn  dem  der     „ 

ya-sake      äiki,    ivonnan    su-m  häta-si. 

er  wechsle  Werk,     dieses     sie  haben  vernichtet  es. 

156  Ye-nBmi      säho-n       mälem, 
Er  suche  neuen  den  Gelehrten, 
ye-nemi      sabo-n      böka; 

er  suche  neuen  den  Arzt; 

157  siri        ha      yä  -  kdre      ha. 
Rüstung  nicht  sie  ward  fertig. 
Ku-ce  iva  Harima: 

Sagt     zu         „ 

158  Bduci   fjari-n    Nyamnyäm  ne, 

„       Ort  der  „  ist, 

si  Jcua     ha      sä-ya       iya   ha. 
es  auch  nicht  geht  er  können. 

159  Zdusaii    su-na     da   duazu, 

„         sie  sind  mit  Felsen, 
ndm  ma     ha     zä-ya       iya    ha. 
dort  auch  nicht  geht  er  können. 

160  Gqmhe  na  da      hahhd-n         Jcogi, 

„       ist  mit  großem  dem  Gewässer, 
ndm    ma      ha      zä-ya  hdye       ha. 

dort    auch  nicht  geht  er  durchdringen. 

161  Sai  Kano     rehsi  iäll-n        Ddho 
Nur       „       schlaffe  Familie  die  des   „ 
gafi-n-su     hd-s-sa    yähl. 

Stadt  ihre  nicht  sie  Krieg. 


154  Kürkuze  ist  eine  kleine  tapfere  Stadt  im  Gebiete  von  HadUa,  in  der 
Kuduhe  damals  weilte.  Ko  =  ob  auch,  sogar.  So  bei  Mi  kö-yau  sogar  heute; 
sein  ko  „schon"  dürfte  von  diesem  kö  nicht  zu  trennen  sein.  Hinter  der  Futur- 
umschreibung zär-n  ist  yi  machen  oder  ha  geben  zu  ergänzen.  Zä-si  in  der  1. 
Zeile  für  za-i  ie  (s.  149)  ist  auffallend ;  st  statt  ya  oder  »  ist  im  Sokoto-Dialekt 
üblich.    Zu  in  yä-ze  vgl.  149. 


Haassa  -  Sänger.  691 

153  Er  suche  einen  bewährten  Schmied, 
der  wohl  versteht  zu  schleifen. 

154  "Wer  will  nach  Kürkuie  morgen  schon? 

Ihm  geh'  ich  den  Auftrag,  er  möge  dem  Sohn 

155  der  Fanna,  Kt'tduhe,  sagen: 

Er  wechsle  den  Zauber!     Diesen  verdarb  man! 

156  Er  such'  einen  neuen  Geistlichen, 
er  such'  einen  neuen  Arzt! 

157  Er  ist  nicht  fertig  gerüstet!  — 
Und  dem  Haruna  meldet: 

158  Sauci  ist  Kannibalenstadt, 

sie  wird  er  nicht  zwingen  können. 

159  Zäiuau,  wo  man  auf  Felsen  haust, 
auch  dort  wird  er's  nicht  können. 

160  G(}rnbe  hat  große  Wasserflut, 

auch  dort  erzwingt  er  nicht  Zugang. 

161  Nur  die  Stadt  von  Däbo^B  weichlichem  Stamm, 
nur  Kano  mag  nicht  kämpfen. 


155  Äiki  bedeutet  hier  Zaubennittel;  die  Torigen  haben  sie,  nämlich  Haruna 
und  Genossen,  inzwischen  unwirksam  gemacht;   es  gilt,    sich  neue  zu  verschaffen. 

156  Der  Geistliche  oder  Gelehrte  schreibt  die  Zauberzettel,  der  Arzt  sucht 
Kräuterzauber. 

157  M  setzt  hier  ba-iya  kdretca  statt  ba  yä-hdre  ba,  vgl.  I  5. 

158  Nyamnyam  ist  generelle  Bezeichnung  für  menschenfressende  Völker. 
Der  Haussakönig  von  Bauet  hielt  in  seiner  Hauptstadt  Ydkubu  eine  gefürchtete 
Truppe  aus  einem  Heidenstamm,  der  dem  Kannibalismus  ergeben  war. 

159  Zaüzau,  auch  Zäria  genannt,  ist  ein  Haussastadt,  westlich  von  Bauci; 
südlich  von  Kano. 

160  a)  Gotnbe,  nicht  zu  verwechseln  mit  Gomba  am  Niger,  soll  südlich  von 
Kano  an  einem  großen  Gewässer  liegen,  das  in  der  Trockenzeit  versiegt.  —  b) 
JSdye  ist  bei  Mi.  herausfordern,  bei  R  überfallen,  bei  A  hindurchgehn ,  nach  M 
Parallelstamm  zu  hatca  absteigen;  hier  wäre  jede  dieser  Bedeutungen  anwendbar. 

161  a)  Bsbsi  =  tabsi  weich,  kraftlos.  In  Kano  herrschte  damals  der  trotz 
seiner  Fulbeabkunft  sehr  weichliche  König  Billo,  Sohn  des  Ahdu,  der  zu  I  57  er- 
wähnt wurde ,  Enkel  des  Dabo.  Er  starb  vor  etwa  27  Jahren  ;  sein  Nachfolger 
war  der  kräftigere  Alu,  den  die  Engländer  entthronten.  —  b)  Hier  ist  ba  Nicht- 
sein Subst.  wie  in  ba-n-na  I  120;  bd-s-sa  aus  ba-n-sa.  Sa  bezieht  sich  auf  die  Stadt: 
Krieg  ist  nicht  ihre  Sache. 


592  Rudolf  Prietze, 

162  SariJcl-n-sii  yä  -  sigd  zorö. 

König  ihr  er  ging  ein  (in)  Furcht. 
yärd      su-nt        md-sa   waka: 
Kinder  sie  haben  für  ihn  Lied: 

163  W&i     si       da-n        latdmbale, 
Gerücht  er  Sohn  der  der  Trägheit, 
si  ne  mai-Fänisdu. 

er  ist  Herr  v.   „ 

164  Bello    ha-iya    yähi, 

„       nicht  er  Krieg, 
sai    süa     Fänisdu. 
nur  Gehen  „ 

165  Ku-ce  iva  Harima: 
B§llo  na  Fänisdu. 

166  Beini-n        da      kan    iva  Bello, 
Verachtung  welche  pflegt  zu        „ 
Mdrma    ha        a-soma     ha. 

„         nicht  man  beginnt. 

167  Takitake-n  r^ini 
Fußtritte  die  der  Verachtung 
Mdrma    ha         sn-i        kdrba    ha. 

„         nicht  geht  er  empfangen. 

168  >Sa§-§ae-n         da      a-kan      wa      räkua, 
Trinken  Trinken,  das  man  pflegt  zu  Schlupfwespe, 
swna     ha      tä-kdrba     ha. 

Biene  nicht  sie  empfängt. 

169  Sae-sae-n  da       a  -  kan       wa   alSwa, 
Trinken  Trinken  welches  man  pflegt  zu  Konfekt, 
mddi     ha      yä-karba    ha. 

Syrup  nicht  er  empfängt. 

170  Dehe-debe-n  da       kdn  wa     sü      gind, 
Holen  Holen  welches  pflegt  zu  ihnen  Termite, 

goano  ho      yä-karba     ha. 

gr.  Ameise  nicht  sie  empfängt. 


162  a)  Sapki  ist  Subjekt.  —  b)  Su-m  aus  su-n  mit  poetischer  Auslassung 
von  yi:  sie  haben  gemacht. 

163  Woi  s.  139.  A  schreibt  katdmale ,  M  katdnbale  =  ragönci  Trägheit. 
Vgl.  hierzu  Mi.  katambdri  kleiner  Strauch,  dessen  Wurzel  als  Abfuhrmittel  dient 
und  aus  dessen  Blättern  eine  schwarze  Tinktur  hergestellt  wird,  mit  welcher  die 
Frauen  ihren  Nasenrücken  bestreichen.  Fänisau  ist  eine  Stadt  in  der  Nähe  von 
Kano,  der  Lustort  des  Königs. 

164  M  schreibt  Ballo,  A  Binlo.     Ba-iya  s.  I  32. 


Haussa  -  Sänger.  593 

162  Ihr  König  ist  in  Angst  versenkt; 
die  Kinder  singen  ein  Lied  axif  ihn : 

163  Es  heißt,  er  ist  ein  Faulpelz, 
ist  Herr  von  Fanisdu. 

164  Bello  führt  keine  Kriege, 
geht  nur  nach  Fänisdu. 

165  So  sagt  auch  zu  Harüna: 
B§Uo  von  Fänisdu. 

166  Verachtung,  die  man  Sello  zollt, 
versucht  man  nicht  bei  Marina. 

167  Fußtritte  der  Verachtung 
wird  Murina  nie  empfangen. 

168  Ein  Naschen,  wie  man's  bei  Schlupfwespen  macht, 
das  ist  bei  Bienen  nicht  angebracht. 

169  Fit»  Naschen,  wie  man's  mit  Zuckerwerk  macht, 
das  ist  mit  Syrup  nicht  angebracht 

170  Lese,  die  man  mit  Termiten  macht, 

ist  mit  Kampfameisen  nicht  angebracht. 


165  Na  kann,  wie  ich  annehme,  Demonstrativ  sein,  zu  dem  Fänisau  im  Gre- 
netiv  zu  denken  ist;  es  kann  aber  auch  das  um  sein  Präfix  ya  poetisch  verkürzte 
Hilfsverb  na  sein:  Bello  ist  in  Fänisau. 

166  Mi.  schreibt  reni.  Kah  ist  verkürzt  aus  a-kan  yi  man  pflegt  zu  machen. 
Marmä,  139  u.  141  Name  der  Stadt,  wird  hier  und  im  folgenden  für  ihren  Ge- 
bieter gebraucht;  es  ist  davor  aus  dem  vorigen  Jean  wa  zu  ergänzen. 

167  Mi.  täki  Auftreten,  Schritt,  PI.  take-take,  vgl.  168  saye-saye. 

168  a)  Mi.  saye-sdye,  PI.  von  m  trinken,  vgl.  167  u.  Pfl.  u.  T,  8.  Nach  kah 
ist  yi  machen  zu  ergänzen.  A  räJcua,  PI.  rakuotci,  Schlupf wespe ,  die  sich  in 
hohlen  Bäumen  oder  im  Boden  ansiedelt  und  in  diesem  Fall  rakua-r  kos  (für  kasa 
des  Bodens),  PI.  rakuotci-n  kos,  genannt  wird.  Man  gewinnt  ihren  Honig,  ohne 
wie  von  der  Biene  gestochen  zu  werden ,  und  manche  ziehn  ihn  vor.  —  b)  Der 
H-Bienenkorb  ist  ein  zwischen  Baumzweigen  befestigtes  tütenartiges  Strohgeflecht. 
Um  den  Honig  zu  bekommen,  treibt  man  die  Bienen  durch  Feuer  in  die  Enge  der 
Tüte,  so  daß  man  ihn  vom  ungestört  herausschneiden  kann. 

169  Alewa  ist  nach  Mi.  Honigstange,  nach  M  allgemein  Süßigkeit,  wie  das 
arab.  el^ltca ,  aus  dem  es  entstanden  ist.  Dagegen  ist  madi  (vgl.  I  72)  nach  R 
eine  Art  Melasse  aus  den  Früchten  der  dumnia  (einer  Ficusart,  vgl.  I  15)  der 
taura  und  der  kaitcä  oder  kainya  (St.  312  Diospyros  mespiliformis) ,  nach  M 
auch  der  adüa  (Balanitis  aegyptiaca,  vgl.  St.  642),  welch  letzterer  Extrakt  leicht 
Durchfall  erzeugt  —  daher  mutmaßlich  der  vorliegende  Vergleich. 

170  In  debMebe  von  deha  pflücken,  herausziebn  wie  in  säesae  veranschaulicht 
die  Verdopplung  die  Wiederholung.  M  schlägt  vor:  tabd-tabe  immer  von  neuem 
berühren.  Zu  su  mit  folgendem  Sing,  als  Apposition  vgl.  9,  wo  eine  Name  folgt. 
A  M  gind,  PI.  ginoni,  nicht  bei  Mi.  u.  R.,  weiße  Termite,  vgl.  Pfl.  u.  T.  64.  Man 
fängt  sie  während  der  Regenzeit,  indem  man  ein  Feuer  neben  einer  kleinen  Grube 
anzündet,   in  die  sie  hineinfallen.     Sie  werden   dann  im  Topf  geröstet  und  gelten 


594  Rudolf  Prietze, 

171    Kan  mciä  tä-iüre, 
Wenn  Herz  es  ausharrt, 

ganga-n       äiJd     bawa    ne. 
Trommel  die  Leibes  Sklave  ist 


P. 

173  Namaddt§l,     sarM-n        döJci, 

y,  '  König  der  der  Hast, 

zagi-n       gahd-n        sagt! 
Vorläufer  der  Brust  des  Vorläufers! 
173  Namadot^l  Guaid, 

me     zd-ya    fddi      ha  -  zintd  ? 
was  geht  es  fallen  du  hebst  auf? 
174:       Mai-abu-n     na  mutua 
Herr  Dinges  des  des  Todes 
Guaäa      a-m         bunne-si! 
„        man  hat  begraben  ihn! 

175  Wäsa    du        a-n       deina  — 
Spiel    alles  man  hat  beendet  — 
Guaza    ba     i-deina  ba. 

„        nicht  er  endete. 

176  Namadot§l  sanü  da    aiki, 

„  Heil  mit  Arbeit, 

Guaäa  na  sdfiki-n  Garko! 

177  Doroa  ka§e        mai-zäri, 

„        töte    Herrn  der  Gier, 
funtü     käse       .  mai-riga ! 
Nackter    töte   Herrn  der  Tobe! 

178  K§lik§li-n  zäda, 

keau-n       gani    daga   bdya! 
Schönes  das  Sehens    von    Rücken! 


für  einen  schmackhafteren  Leckerbissen  als  Heuschrecken.  A  guanö,  PI.  guanuna, 
große  schwarze  Ameise,  Pfl.  u.  T.  62.  Nach  A  sariki-n  yaki  König  des  Krieges 
genannt.    Man  rührt  sie  nicht  an,  denn  sie  beißt. 

171  Kan  für  kadtm.  Zu  iure  vgl.  121.  Hier  gilt  Trommel  in  weiterem 
Sinne  als  Instrument,  Werkzeug.    Der  Vers  ist  die  Moral  obiger  Vergleiche. 

172  a)  Namadöt^l,  eine  nur  von  A  bezeugte,  rätselhafte  Benennung,  soll 
einen  übereifrigen  Menschen  bezeichnen ,  der  überall  eine  leitende  Rolle  spielen 
will,  besonders  bei  Festen,  selbst  bei  Leichenzügen.  Döki  (nicht  bei  Mi  u.  R) 
Eile,  Hast.  Sarkin  döki,  König  der  Hast,  ist  eine  wortspielende  Parallele  zu  sa- 
riki-n doki  König  des  Pferdes,  Stallmeister.  —  b)  Zu  zagt  vgl.  zage  137,  hier 
Läufer  vor  dem  reitenden  König. 


Haassa  -  Sänger.  595 


171  Ist  ein  Herz  im  Beharren  brav, 

dient  ihm  dea  Leibes  Maschine  als  Sklav. 


P. 

Scherzhafter  Nachruf  auf  Guäio,  den  übergeschäftigen 
Gefolgsmann  des  in  K  besungenen  "Wesirs  —  ein  Fakto- 
tum, das,  obwohl  beständig  ein  Stichblatt  des  Witzes, 
seinem  Herrn,  z.T.  natürlich  durch  Zauberkraft,  die 
größten  und  gewagtesten  Dienste  geleistet  hatte. 

172  Hans  Immervorauf,  du  Hastregent  I 
Läufer,  der  vor  dem  Vorläufer  rennt! 

173  G^uuid,  Hans  Immervorauf, 

hebst  du,  was  künftig  fallen  wird,  auf? 

174  Ihn,  der  der  Begräbnisse  Leiter  war, 
Grmiia  hat  man  begraben! 

175  Ein  jedes  Spiel  ist  zu  Ende  nun  — 
Guaäa  fand  kein  Ende! 

176  Hans  Immervorauf,  Glück  auf  zum  Werk! 
Guaia,  des  Herrschers  von  Garko  Mann! 

177  Doroa,  die  den  Fresser  verschlingt! 
Nackter,  der  den  Gewappneten  zwingt! 

178  Frucht  der  zdda,  so  lachend  schön, 
trefflich,  wenn  von  ferne  gesehn! 


174  a)  In  äbu-n  statt  des  gewohnten  abi-n  hat  sich  das  ursprüngliche  u  er- 
halten. —  b)  Banne  s.  117. 

175  Dsina  s.  I  74.  A  schreibt  ya-diina;  M  erklärt  a-n  deina  für  richtiger. 
Mit  tcäsa  ist  das  Tanzvergnügen  gemeint,  bei  dem  Cruaza  maitre  de  plaisir  war. 
Ich  bin  nicht  sicher,  den  Sinn  richtig  getroffen  zu  haben ;  vielleicht  wäre  zu  über- 
setzen:   Ein  jedes  Spiel  hat  seinen  Schluß,  Guaid  nur  fand  kein  Ende. 

176  Sanu  da  aiki  ist  der  Gruß,  den  der  H  an  Arbeitende  richtet  Na  deutet 
hier  wohl  nicht  auf  den  Bruder,  sondern  wie  schon  96  auf  den  Gefolgsmann. 

177  a)  Doroa  Parkia  biglobosa  vgl.  Pfl.  u.  T.  33,  wo  sie  wegen  der  Gefähr- 
lichkeit ihrer  Frucht  makasiya  tödlich  genannt  wird.  Zur  Konstruktion  von  kose 
vgl.  I  75.  Da  Cruaza  mit  verborgenen  Amuleten  versehn  ist,  merken  viele  nicht, 
wie  gefährlich  er  ist,  und  erliegen  ihm.  —  b)  G.  hat  so  schwere  Zaubertränke 
gegen  eiserne  Waffen  eingenommen,  daß  er  eine  Rüstung  weder  nötig  hat  noch 
tragen  kann,  da  sie  zerreißen  würde.     So  ist  er  dem  Bekleideten  überlegen. 

178  a)  KsliksU  nach  A  PI.  von  ksli  Juwel,  glänzender  Schmuck,  nach  M 
etwas  Hartes  und  Glänzendes.  Es  steht  nicht  bei  Mi.,  bei  R  vgl.  kaikili  Freude. 
7äda  ist  Acacia  nilotica.  Über  die  Frucht  s.  Pfl.  u.  T.  31.  Sie  soll  oft  voller 
Würmer  sein.  —  b)  Daga  häya  von  hinten,  hier  nach  M  von  ferne. 


596  Rudolf  Prietze, 

179  Dantnia  na     sdriki-n     Garko, 

Spuk       der  Königs  des  v.   „ 
mai-hadda     wäwa-n       bakq! 
Verleiter     Nan'en  des  Fremden! 

180  Tümya  mäkanta  idanü, 
Kaktus  blendend  Augen, 
wdwa    ka  -  sdfa  -  ta! 

Tor     du  reibst  ein  ihn. 

181  Zararid  mai-rikici, 

Bohne     betrügend, 
wonca      hä-ta     nuna! 
welche  nicht  sie  reifen. 

182  Gaydm-gayam  na     sdriki-n     Gdrko 

„  die  Königs  des  v.  „ 

wqnda   hd-iya        täro. 
welche  nicht  es  einsammeln. 


183  Ni     ha       n-ce  farta        ha, 
Ich  nicht  ich  sage  Vermessenheit; 

mai-farta    dölo  ne, 
Vermessener  Tor  ist, 

ha     i-san      ta      dunia   ha. 
nicht  er  weiß  das  der  Welt. 

184  Amd  kaddn  Uarima   yä-kära, 
Aber     wenn  „         er  wiederholt, 
daga  tvönnan     ha      yä  -  koma       ha. 
von      diesem    nicht  er  kehrt  wieder. 

185  Kai,  mai-tafia  nan, 

Du     Wanderer  dort, 
kam       Boldre     zä-ka, 
wenn  nach   „        gehst  du, 


179  a)  Das  nur  A  bekannte  dantnia,  PI.  danlnioi,  soll  ein  unheimliches 
Wesen  bezeichnen,  das  gegen  alles  gefeit  ist.  —  b)  M  badda  entspricht  dem  ba- 
tasda  bei  Mi.  Wärca-n  baJcö  generell:  Der  törichte  Fremde.  Nach  A  bezieht  es 
sich  auf  die  Leute  Haruna's,  während  M  daraus  schließt ,  Guaia  habe  u.  a.  das 
weitverbreitete  Geschäft  betrieben,  Fremde  irrezuführen,  um  sie  in  die  Sklaverei 
zu  verkaufen. 

180  A  makanta,  M  makabta,  makabci  blind  machend,  Mi.  makabta,  R  nia- 
kamci,  makamta  Blindheit  von  makäfo  blind.  Der  Kaktus  (A  tinia)  ist  den  Augen 
besonders  durch  seine  kleinen  vom  Winde  verwehten  Stacheln  gefährlich ;  bei  den 


Haussa  -  Sänger.  597 


179  Des  Garkohäuptlings  Höllenzwang, 
des  dummen  Fremdlings  Bauernfang! 

180  Kaktus,  der  die  Augen  verseucht  — 
ein  Tor,  wer  sie  damit  bestreicht ! 

181  Bohne  von  jener  trügenden  Art, 
die  niemals  reif  befunden  ward ! 

182  Schote  des  Garkohäuptlings,  die  springt, 
daß  keine  Bohnenlese  gelingt! 


Nochmaliger  Ausblick  auf  einen  neuen  Krieg  mit 
Harun a.  Der  Sänger  weissagt  ihm  den  Untergang, 
zugleich  versichernd,  daß  ihm  selber  vorzeitige 
Ruhmredigkeit  fern  liege,  die  schon  dem  Zare  übel 
bekommen  sei.  Es  sei  um  so  mehr  Pflicht  der  Jung- 
mannschaft von  G-arko,  sich  ernsthaft  zu  rüsten, 
als  die  Blüte  der  Stadt  durch  die  politische  Tren- 
nung von  dem  früher  mit  ihr  verbundenen  Duzi  Ga- 
ddur  (s.  N  129 flp.)  sehr  zurückgegangen  sei. 

188  Ich  bringe  nie  Vermessenes  vor; 

denn  wer  da  prahlt,  der  ist  ein  Tor, 
er  keimt  sich  nicht  im  Leben  aus. 

184  Doch  finge  Haruna  nochmals  an, 
er  kehrte  nimmer  wieder  dann. 

185  Du,  o  Wanderer  dort, 

führt  dich  der  Weg  nach  Boldre, 


H  aber  wird  die  Zerstörung  der  Sehkraft  in  erster  Linie  seinem  milchweißen  Saft 
zugeschrieben. 

181  a)  A  farafia  (nicht  bei  Mi.  u.  R),  PI.  fafarioi,  eine  Bohnenart,  die 
nie  reift  oder  nach  M  nie  gar  wird.  —  b)  M  schreibt  hier  wönda  bä-ta  nana. 

182  Gayätngayam,  PI.  v.  gaydtn  (gleichfalls  nicht  bei  Mi.  u.  R),  Bohnenart, 
deren  reife  Schote  bei  der  Berührung  aufspringt  und  ihren  Inhalt  zerstreut;  sie 
wird  daher  grün  als  Ziegenfutter  verbraucht.  Sinn  dieses  wie  des  vorigen  Ver- 
gleichs: Man  kann  seiner  nicht  habhaft  werden. 

183  A  M  farta  (nicht  bei  Mi.  u.  R) ,  PI.  färioi,  Prahlerei,  Übermut,  vßgig. 
Wer  z.  B.  etwas  in  Aussicht  stellt,  ohne  insallah  hinzuzufügen ,  begeht  eine 
faria.  Ta  steht  hier  in  einem  allgemeinen,  neutralen  Sinn  vor  dem  als  Genetiv 
zu  denkenden  dünto;  man  kann  es  auch  als  Hinweis  auf  magana  Wort,  Wesen, 
Sache  auffassen. 

185  Kam   für  Kaddn.     Bdläre  ist   eine  zu  Kano   gehörige  Stadt.     Zä-ka, 
sonst  zur  Futurumschreibung  mechanisiert,  steht  hier  in  seinem  ursprünglichen  Sinne. 
Kgl.  Oes.  d.  Wiss.  Nachrichten.  Phil.-hist.  Klasse.  1916.  Heft  4.  41 


598  Rudolf  Prietze, 

186  düba   arewa    da      küka, 
blicke  Norden  mit  Brotbaum, 
Zare  ne  a   konce. 

„      ist  in  Liegen. 

187  Zare    yä  -  ce  faria, 

„      er  hat  gesagt  Vermessenheit, 
faria  ta-ci-si, 

Vermessenheit  sie  aß  ihn, 

188  ha     i-san        ta  ea-n     Adam  ha, 
nicht  er  wußte  das  der  Kinder  der  Adams, 
faräuta     tduofi. 

Jagd     die  des  Leeren. 

189  Su-n  so  su-kds       ma-na    yäro, 
Sie  haben  gewollt  sie  töten  zu  uns  Knaben, 
Tanko      da-ni      ma-kera. 

„       Sohn  den  der  Schmiede. 

190  „Ba  girin-girin  ha, 
Nicht  Geklimper, 

ddmd   da     kize-n      dei?" 
rechts  mit  Fett  dem  etwas? 

191  Ea-n        samari-n      Garkö, 
Kinder  die  Burschen  die  v.  „ 

ku-i  siri  da    gäskid! 

macht  Vorbereitung  mit  Wahrheit! 


186  Zare,  ein  Mann  des  Fürsten  von  Boläre  (s.  vor.  Anm.),  hatte  sich  ohne 
Hinzufügung  von  insalläh  anheischig  gemacht,  Gamzi,  einen  Gefährten  Haruna's 
zu  erschlagen.  Er  wurde  von  Gamzi  unter  dem  Brotfruchtbaume  getötet  und  liegt 
nördlich  davon  begraben.    Zu  konce  vgl.  Mi  Tcwanci  Lage,  Liegen. 

187  Hier  mit  Emphase  das  Perfektum  yä-ce,  während  man  sonst  dem  Aorist 
ye-ce  (das  ya  hier  ständig  angeglichen)  begegnet.  Doch  vgl.  155  den  Adhortativ  ya-ce. 

188  Zu  ta  vgl.  183.    Das  ta  in  tduofi  aus  td-wofi  geht  natürlich  auf  faj-duta. 

189  So  wollen  dient  auch  phraseologisch,  unser  „beinahe"  auszudrücken. 
Kas  für  käse  s.  I  75.  Ma-na  statt  mü-mu,  vgl.  99.  Tahko  ist  der  Name  eines 
Knaben,  der  nach  mehreren  Mädchen  geboren  wird.  Mit  su  sind  die  Leute  Ha- 
runa's gemeint.  Ma-kera  kann  die  Schmiede  sowohl  im  Sinne  von  Werkstatt,  als 
der  Mehrheit  von  ma-keri  Schmied  bedeuten.  In  beiden  Fällen  ist  es  ein  selt- 
samer Ausdruck  statt  des  zu  erwartenden  ma-keri. 

190  f.  Angesichts  dieses  neuen  Übergriffs  der  Bande  Haruna's  ermahnt  der 
Sänger  die  Jungmannschaft  von  Garko  unter  Anspielung  auf  eine  bekannte  Fabel, 


Haussa- Sänger.  599 


186  Schau  nach  Norden  rom  Brotbaum  I 
Zare  ist's,  der  dort  ruht! 

187  Vermessen  hat  ec  sich  gerühmt, 
Vennessenheit  tötete  ihn. 

188  Er  wußte  nicht,  was  dem  Menschen  ziemt, 
es  war  ein  eitles  Bemühn. 

189  Fast  hätte  man  uns  einen  Knaben  erlegt, 
Tanko  der  Schmiede  Sohn. 

190  „Nur  kein  bloßes  Geklimper! 
Nicht  lieber  etwas  Fett?"  ' 

191  Ihr  jungen  Leute  von  Garko, 
auf,  rüstet  euch  mit  Ernst! 


es  nicht  beim  bloßen  Geklimper  (zu  gijingirin  vgl.  hxirumbürum  I  77)  bewenden 
zu  lassen,  sondern  sich  ernstlich  in  Bereitschaft  zu  halten.  Die  Fabel  erzählt  M 
folgendermaßen : 

Woniuin  ta?unia-l  küfä  ce. 
Ita    ie    kud      wöta     fäna      ta-Jcan  zö  ciki-n  gari 

Sie  war  auch  manchen  Tag  sie  pflegte  kommen  Bauch  den  der  Stadt 
da  dere        ta-kan      dauki        da-n        aküya      ga  kowatie 

mit  Nacht  sie  pflegte  nehmen  Sohn  den  der  Ziege  zu  welchem  auch  immer 
ffidd.      Sai    rätiä-n      ta-z6-ta  gidd-m  mi-gürimi. 

Haus.    Nur  Tag  den  sie  kam  sie  Haus  dem  des  Herrn  der  Laute. 
Ta-dauki  gürimi,  gürimi    ye-ce :       kirth-kirih.     Kura 
Sie  nahm  Laute,  Laute  sie  sagte:      „        „        Hyäne 

ta-ce:        Ba    kifihkifin  ha    ka-i    mai! 
sie  sagte:  Nicht     „        „  mache  Fett. 

Dies  ist  das  Märchen  von  der  Hyäne. 

Sie  pflegte  dann  und  wann  nachts  in  die  Stadt  zu  kommen  und  bald  aus 
diesem  bald  aus  jenem  Haus  ein  Zicklein  zu  holen.  Doch  an  dem  Tage  (von  dem 
die  Rede  ist)  kam  sie  zum  Hause  eines  Lautenspielers  und  nahm  die  Laute.  .Kirring- 
kirring",  sagte  die  Laute.    „Kein  Kirring-kirring",  sprach  die  Hyäne,  „schaflfe  Fett!" 

NB.  Der  Zindir-DiaAekt  M's  kennzeichnet  sich  durch  den  weiblichen  Artikel 
l  für  das  westliche  r  und  7ni  für  mai-gurimi.  Ta-z6-ta  mit  dem  Personalelement 
vorn  und  hinten  ist  eine  Übergangsform ;  in  der  Vorgeschichte  der  Sprache  wurde 
es  suffigiert,  wie  sich  aus  einigen  Resten  ergibt.  Die  Beschreibung  von  güfimi 
s.  Einl. 

Däma  ist  ursprünglich  die  rechte  Seite,  dann  übertragen  der  bessere  Teil 
(daher  auch  wohl  die  Muße).  R  führt  in  diesem  Sinne  an:  da  dama  etwas  mehr, 
ya-yi  dama  es  wäre  besser.  Das  hier  hinter  dem  durch  n  determinierten  kize 
stehende  dö  ist  ein  Flickwort,  etwa  „wirklich,  gibt  esT-"^ 

191  Zu  ga-n  samari  s.  I  69  Anm. 


41' 


6ÖÖ  Rudolf  Prietze, 

192  Gari  da  yawa     made-n-sa 

Ort    mit    viel    Gepränge  sein 
yä-fesa  JDüsi  Gadäur. 

er  stand  zurück  vor  „  „ 

193  Büzi  tun  da     ta    -    hi    -    si, 

„      seitdem  sie  verschmähte  ihn, 
bähu    saura-n     wayö, 
nichts  Kest  der  der  Kunst, 

194  ivayo-m      hanza  ne, 
Kunst  die  des  Nichtigen  ist, 

aM-n  da       ba-iya        sobö. 
Ding  welches  nicht  es  Gewöhnung. 

R. 

195  Bäha-n       ZidoSi  ciröma, 
Oheim  der  des  „  „ 

häha-n     Wqrde,     ubd-na, 
Oheim  des       „        Vater  mein, 

196  ciröma,  kaddn  Jcai  särki, 

„  wenn    du   König, 

Negele  galadtma  ne. 

„        Thronfolger  ist. 

*  * 

* 

197  Mai-kduna-r     Älla,    Jcar      ya  -  käfa 

Herr  Liebe  der  Gottes,  daß  nicht  es  wiederhole 

zagi-n       gäye      ma-dellesa, 
Schimpfen  das  Krätze  der  abstumpfenden, 

198  hu-bä-ni  äro-n  ksso, 
gebt  mir  Darlehn  das  Lumpenmatte, 

m  -  in    simfidäwa    gäye     ma-dellesa! 
gehn  daß  ich   ausbreiten  Krätze  abstumpfende. 


192 ff.  Vielleicht  sind  diese  Verse  nicht,  wie  in  der  Vorbemerkung  geschah, 
als  zu  Q  gehörig,  sondern  als  selbständige  Betrachtung  anzusehn.  Ganz  außer 
dem  Zusammenhang  scheinen  mir  folgende  Zeilen  zu  stehen,  mit  denen  A  hinter 
194  diesen  „Diwan",  ungleich  dem  vorigen,  im  Sande  verlaufen  läßt:  Yd-ie  yawc 
Gafiki,  Berebiri  su-n  köne  Maraki  er  ist  nach  Gajiki  spaziert,  die  Bomuleute 
haben  Maraki  verbrannt.  Gafiki  ist  eine  fern  im  Osten  in  der  Nähe  von  Gttmel 
liegende  Stadt;  unter  den  Bornuleuten  ist  Tanlman  von  Damägaram  zu  verstehn, 
ein  unruhiger  Vasall  des  Bornukönigs. 

192  Zur  Erklärung  von  wo^e  (vgl.  Mi.  mädai  Ansehn,  Zusehn,  Betrachtung) 
nennt  A  als  Synonym  göfi  (bei  Mi.  Prahlerei) ;  ma^e  sei  „fantasia",  also  hier  etwa 
Üppigkeit,  Gepränge,  munteres  Treiben.    Düfii  Gaddur,  auch  kurz  Dufii  genannt, 


Haussa  -  Sänger.  601 

192  Die  Stadt  nimmt's  in  Leben  und  Treiben 
mit  Düzi  Gadäur  nicht  auf. 

193  Seit  Düzi  sie  aufgegeben, 
schwand  alle  Lust  dahin, 

194  ist  nur  ein  eitles  Bestreben, 
findet  nicht  Boden  drin, 

B. 

Sprüche  eines  offenbar  sehr   volkstümlichen  Sängers 
Negele,  die  das  Heimchen  seinem  Diwan  angliedert. 

195  Zidoäi's  Oheim,  Erbprinz, 
Worde's  Oheim,  mein  Vater  I 

196  Erbprinz,  sobald  du  König  bist, 

ist  Negele  nächster  am  Thron. 

*  * 

* 

197  Freund  Gottes,  auf  daß  sich  nicht  mehre 
Verwünschung  schamloser  Krätze, 

198  so  leiht  «ine  lumpige  Matte 

zum  Lager  mir  schamloser  Krätze! 

*  * 


wurde  schon  129  erwähnt,  wo  sein  Herr  ein  Hase  gescholten  wurde.  Hatte  dessen 
Feigheit  die  Trennung  seiner  Stadt  von  der  des  tatendurstigen  Wesirs  herbeige- 
führt? 

193  Wäyo  bedeutet  nicht  nur  wie  bei  Mi.  List,  sondern  auch  Kunst,  Ein- 
fall, heitre  Laune,  Lustbarkeit,  „Leben"  im  spezifischen  Sinne,  ist  also  auch  sy- 
nonym mit  göri  (s.  o.),  bezw.  made,  „fantasia",  und  so  ganz  das  Ideal  der  HaussaJeute. 

195  f.  ZidoU  ist  der  Beiname  eines  Kindes,  das  beim  Einheimsen  der  Ernte 
{Udo)  geboren  wurde.  Galadima  und  ciröma  sind  nach  M  Rangstufen  bei  Hofe, 
welche,  wie  schon  die  Endung  ma  besagt,  aus  Bomu  stammen,  und  zwar  ist  gala- 
dima der  dem  Thron  zunächststehende,  ciroma  der  im  Range  folgende,  mithin  jener 
in  der  Regel  der  erste,  dieser  der  zweite  Sohn  des  Fürsten.  Hier  scheint  sich 
jedoch  B's  AuflFassung  zu  bestätigen,  welche  den  ciröma  als  Kronprinzen  bezeichnet. 
Nach  R  ist  ciroma  der  Titel  eines  Königssohnes  und  zuweilen  des  Thronerben. 
Die  Stellung  des  galadima  mag  nicht  überall  die  gleiche  sein.  Mi.  bezeichnet  ihn 
als  Minister  des  Innern,  R  als  Civil-  und  Militärbeamten;  B  nennt  ihn  unter  den 
Großwürdenträgern  von  Bomu  an  dritter  Stelle. 

Negele  spielt  seinem  Gönner  gegenüber  scherzend  die  Rolle  Fallstaffs  mit 
Prinz  Heinz. 

197  Zu  kduna  vgl.  119.  kar  aus  kdda  daß  nicht.  Gäye,  nach  M  gde,  ist 
das  Fulbe-Wort  für  Krätze,  die  im  H  kasua  heißt.  A  erklärt  ma-dellesa  für  Schrecken 
verbreitend  von  deliesa  in  Furcht  setzen.  Bei  Mi.  u.  R  findet  sich  daUase  stumpf 
sein.  Vielleicht  kommt  M  hier  dem  wahren  Sinn  am  nächsten,  wenn  er  ma-dellesa 
als  dasjenige  bezeichnet,  was  den  Menschen  des  Anstandes  beraubt,  insofern  es 
ihn  veranlaßt,  sein  Kleid  aufzuheben,  um  sich  zu  kratzen. 

198  Atq  und    eso,  PI.  Tcesuna,   dürften  beide  arab.  Ursprungs  sein;    leso 


602  Rudolf  Prietze, 

199  IIa  Jiauwäi  Negele! 

Negele    ha       hätca-n       mäce    ne  ha! 
„       nicht  Sklave  des  Weibes  ist. 
J200    Wqnde    ye-san    Älla,      Tiäda       ya-Tpara 

Welcher  er  kennt      „       daß  nicht  er  wiederhole 
sägi-n         Jawa  na  Ceri. 

Schimpf  den  des  „      des     „ 
J201    JBaM-n      mai  -  makdlamd 

Mund  der  des  Herrn  des  Neides 

Ico   a    Idhira    ma       ha-si   da   läda. 

ob  im  Jenseits  auch  nicht  er  mit  Lohn. 

*  * 
* 

^02  Banza  duJcia-r       mä-sa  luJcudi 

Nichtig  Habe  die  des  Trinkenden  Zaubertrank 

sai   wutä    ta-ci. 

nur  Feuer  es  ißt. 
J203   Da    nä-san     gida-n       ma-sa  lukudi 

Und  ich  weiß  Haus  das  des  Trinkenden  Zaubertrank 

sai        in    -    gewoye. 

nur  daß  ich  herumgehe. 

*  * 
* 

204  Masu-gari      dmidu, 
Herren  der  Stadt  edelste, 
däudu      masu-Jiduye, 
edelste  Herren  des  Dorfs, 

205  masu-märaya  masu-gari-n      na    heautd, 
Herren  der  Hauptstadt  Herrn  der  Stadt  die  des  Geschenks, 
teleica   na     fäma        da     Icudi-n        kasä. 

Armer  der  der  Plage  mit  Geld  dem  des  Bodens. 

*  * 
* 

206  Samari,       tnu  -  Tcöma  wasä, 
Jünglinge  wir  kehren  zurück  (zu)  Spiel, 

sama-n       gidd    sai     yäfä     da    mätd. 
Sitzen  das  Hauses  nur  Knaben  mit  Frauen. 


nach  R  alte  Grasmatte,  alter  Lumpen,  alter  Teppich,  nach  Mi.  alte  verrottete 
Matte,  Mattensack  für  Kaurimuscheln,  Betrag  von  20  000  Kauris  (die  solchen  Sack 
gerade  füllen).  —  Negele  bittet,  um  die  Entzündung  weniger  zu  spüren ,  um  eine 
Unterlage,  und  zwar  nur  um  eine  alte,  zerlumpte  Matte,  weil  er,  im  Galgenhumor 
sich  selbst  als  Krätze  personifizierend ,   kein  besseres  Lager  beanspruchen  könne. 

In  simfi4a  (Mi.  sinfida,  sinfüda)  hüre  ich  das  stets  bilabiale  f  fast  wie 
aspiriertes  jp. 

199  IIa  war  der  Sklave  einer  Frau,  zugleich  ein  Sänger,  der  gegen  Jäwa, 


Hanssa  -  Sänger.  603 


199  ila,  Respekt  vor  Negele! 
Negele  ist  kein  Weibersklav! 

200  Wer  Gott  kennt,  setze  nicht  länger  fort 
das  Schimpfen  auf  Jätca,  Ceri's  Mann! 

201  Es  wartet  für  des  Neidings  Mund 
auch  in  dem  Jenseits  kein  Gewinn! 


202  Nichts  taugt  des  Zaubertrinkers  Ghit, 
außer  zur  Höllenglut. 

203  Weiß  ich  des  Zaubertrinkers  Haus, 

weich'  ich  im  Bogen  aus. 
*  * 

204  Herren  der  Stadt,  erlauchte, 
erlauchte  Herren  vom  Land ! 

205  Wer  am  Lebenssitz  ragt, 
kann  Spender  sein. 

Den  Armen  plagt 
die  Grundsteuerpein. 

206  Auf,  Burschen,  wieder  zum  Tanz  heraus! 
Nur  Kinder  und  Weiber  hocken  zu  Haus. 


den  Bruder  NegeWs,  gesungen  hatte.  A  erklärt  das  bei  Mi.  u.  R  fehlende  hautcai, 
M  haxcaye,  genauer  hauai-ni,  für  gleichbedeutend  mit  Iciyal  „tritt  etwas  zurück 
(vor  mir)",  vgl.  R  Jciyaye  achthaben,  gehorchen,  hiyaye-ni  =  „suffer  me". 

200  Ceri  wurde  mir  bei  Aufnahme  von  HL.  36  als  Xame  einer  kleinen  Stadt 
zwischen  Daura  und  Kano  bezeichnet ,  die  sich  durch  Schönheit  ihrer  Bewohner 
auszeichnete,  von  M  als  Name  des  Königs  von  G-unnl.    Zu  na  vgl.  176. 

201  M  schreibt  baki-n,  also  der  schwarze  Herr  etc.  Mdkalama  Neid  fehlt 
bei  Mi.  u.  R.     Lada  entstammt  dem  Arabischen. 

202  A  lukudi  Zanbertrank,  der  reich  machen  soll.  Laut  M  ist  es  Limonen- 
wasser,  in  dem  10 — 20  Tage  lang  1000  Kaurimuscheln  gelegen  haben. 

203  M  schreibt  ketcoye.  Vom  Hause  dessen,  der  solches  trinkt,  hat  der 
Sänger  nichts  zu  erwarten. 

204  Daudu  entstammt  laut  Mi.  u.  R  der  iVw/e-Sprache,  und  zwar  ist  es  nach 
Mi  a)  erstgeborenes  Kind,  b)  oberster  Hausmeister,  nach  R  Titel  eines  Regenten, 
in  Kano  des  Thronerben ;  das  letzte  wird  von  A  bestätigt.  Es  liegt  nahe ,  bei 
kduye  an  arab.  karya  zu  denken;  doch  s.  120  .\nm. 

205  a)  A  maraya,  PI.  marayoyi,  Hauptstadt,  Mi.  mdraya  Sitz  des  Lebens, 
Lebensüerv,  daher  nach  M  speziell  die  Kehle.  —  b)  A  fäma,  PI.  fämomi,  Land- 
arbeit, Mi.,  fämä  Kampf,  Plage,  Schäden,  Qual,  R  fama  Schlacht.  Vgl  dazu  1 163. 
Telekn  oder  tdlaka,  PI.  talakätca,  ist,  wie  im  Kanuri,  dem  es  wohl  entstammt 
(vgl.  Bomulieder  XXE),  der  Ausdruck  für  die  misera  contribuens  plebs. 

206  So  wird  auch  in  Nr.  I  der  Bomulieder  die  Jugend  zum  Tanz  auf  den 
Platz  herausgerufen,  dort  durch  den  Trommler,  hier  durch  Negele   in  Begleitung 


604  Rudolf  Prietze,  Haussa- Sänger. 

207    Ciwuta      ha     mutua  ha, 

Krankheit  nicht     Tod 

nd      mal     -     Mlangü! 

der  des  Herrn  der  kl.  Trommel! 
J208       Täsi        mu-äe     gidd, 

Steh  auf,  wir  gehn  Haus, 
hauta       tä-i  Jiali   -   n   -   ta. 

Sklaverei  sie  hat  gemacht  Charakter  ihren. 

209  Nd      mal     -     halangü 

Der  des  Herrn  der  kl.  Trommel 
yd  -  rika  Jconto. 

er  hat  gehalten  Versteck. 

210  Negele      macizi-n       Tpaihdi 

„       Schlange  die  der  Spreu 
liöwa      ye-ciza      hd-si    da  Mito. 
wen  auch  er  beißt  nicht  er  mit  Ach. 

207  Kranksein  ist  nicht  Sterben, 
du  Trommelmannsgesell! 

208  Steh  auf,  wir  gehn  nach  Haus, 
die  Sklavenart  drang  heraus. 

209  Des  Trommelmanns  Geselle 
hält  sich  an  heimlicher  Stelle. 

210  Negele,  der  Spreuschlange  gleich, 
kennt,  wo  er  beißt,  kein  Bedauern. 


eines  Trommlers;    als  dieser  sich  krankheitshalber  entfernt,  bricht  auch  Negele 
ihn  verhöhnend  ab. 

207  a)  Sprichwort;  dasselbe  Bornusprichwörter   187.  —  b)  Zu  kälangü   s. 
Verzeichnis  der  Musikinstrumente  in  der  Ein!. 

208  Halt  aus  dem  Arab.,  dem  H  angeglichen. 

209  Yä-rika,  Vollendung  in  der  Gegenwart.    Mi.  kicanto  Versteck. 

210  a)  Zu  macizi-n  Ttaikäi  vgl.  Pfl.  u.  T.  79.  —  b)  Mi.  haito  Ausdruck  des 
Mitleids,  R  kaito  =  alas :  Ciza  ist  das  Stammwort  zu  maciSi :  Der  Beißer. 


Die  Verskunst  der  Iren 
in  rythmischen  lateinischen  Gedichten. 

Von 
Wilhelm  Meyer  aus  Speyer 

Professor  in  Göttingen. 
Vorgelegt  in  der  Sitzung  vom  20.  Mai  1916. 

"Wer  sich  mit  der  Entwicklung  der  lateinischen  rythmischen 
Dichtung  des  Mittelalters  beschäftigt,  dessen  Gedanken  müssen  oft 
zurückkehren  zu  der  lateinischen  Dichtung  der  alten  Iren.  Sie 
standen  den  Anfängen  der  lateinischen  Rythmik  ziemlich  nahe; 
anderseits  zeigen  sie  höchst  merkwürdige  Eigenthümlichkeiten. 

Blume  hat  1908  im  51.  Bande  der  Analecta  hj'mnica  S.  257 — 
365  eine  H^Tnnodia  Hibemo-Celtica  saeculi  V. — IX.  zusammenzu- 
stellen versucht.  Die  Denkmäler  dieser  altirischen  lateinischen 
Dichtung  sind  zerstreut  in  vielen  Handschriften  Irlands  und  des 
Festlandes,  oftmals,  wie  besonders  in  Andachtsbüchern,  wie  Prosa 
geschrieben.  Deßhalb  ist  es  ihnen  oft  ergangen  wie  aller  schön- 
rednerischen Prosa,  d.  h.  sie  wurden  nach  dem  Grutdünken  des  Ab- 
schreibers geändert  und  verschönert.  Dann  ist  es  oft  schwierig, 
die  dichterische  Form  zu  erkennen.  Bietet  z.  ß.  das  sogenannte 
Antiphonar  von  Bangor  (ed.  Warren  1893)  durchschnittlich  einen 
ziemlich  verlässigen  Text,  so  bietet  dagegen  das  sogenannte  Book 
of  Gerne  und  eine  damit  verwandte  handschriftliche  Sammlung  in 
London  (beide  edirt  von  Kuypers  1902)  meist  eine  sehr  unsichere 
Grundlage  des  Textes.  So  bringt  z.  B.  der  Text  von  no  237  bei 
Blume  'Amici  nobiles  Christi  sunt  virgines'  an  vielen  Stellen  nur 
Blume s  Einfälle  (doch  die  virgines.  die  amici  Christi,  sind=casti; 
also  sind   die  Lesungen   der  Handschrift:    6,3  qui;    9,1  isti;    11,4 


606  Wilhelm  Meyer,  die  Verskunst  der  Iren. 

iuncti  und  wohl  13,3  ignoti  beizubehalten);  auch  der  Text  von 
no  235  ist  in  der  Handschrift  so  verderbt,  daß  z.  B.  nicht  sicher 
zu  entscheiden  ist,  in  welcher  Zeilenart  das  Gedicht  geschrieben 
ist,  ob  in  4_u  +  7u_  oder  in  5  —  u  +  7u_. 

Die  christlichen  irischen  Schriftsteller  waren  in  einer  eigen- 
thümlichen  Lage.  Hebräisch  war  die  Sprache  des  alten  Testaments 
und  vielleicht  Christi ;  Grriechisch  war  die  Sprache  der  Septuaginta 
und  des  neuen  Testaments  und  vieler  hochgeachteten  Kirchenlehrer : 
freilich  die  christlichen  Nachbaren  der  Iren  standen  zumeist  unter 
der  Herrschaft  des  Lateins.  So  war  natürlich,  daß  auch  die  Iren 
meistens  Latein  schrieben;  aber  es  ist  doch  begreiflich,  daß  eine 
stilistische  Richtung  bei  ihnen  zu  Ansehen  kam,  welche  in  die  la- 
teinischen Sätze  etliche  hebräischen  und  beträchtlich  viele  griechi- 
schen Wörter  mischte,  wie  z.  B.  bei  Blume  der  Hymnus  no  241 
beginnt:  Alta  audite  xä  sgya  und  no  244:  Audite  pantes  ta  erga. 

Die  lateinischen  rythmischen  Dichtungen  der  alten  Iren  haben 
dieselbe  Wurzel  wie  die  ganze  übrige  älteste  lateinische  Rythmik. 
Das  ergibt  sich  schon  daraus,  daß  alle  hier  vorkommenden 
Zeilenarten  die  Nachbildungen  bekannter  quanti- 
tirender  Zeilenarten  sind.  Dabei  wurden  die  Caesuren, 
die  SilbenzaU.  und  die  Schlußcadenzen  der  Vorbilder  genau  be- 
achtet und  nachgemacht. 

Der  beliebte  Senar  wurde  auch  sonst  gern  rythmisch  nachge- 
bildet als  o  —  u  -f  7  u  _ :  Sancti  venite  Christi  corpus  sümite. 
Bei  Blume,  der  S.  299  über  diese  Zeile  seltsam  urtheilt,  finden 
sich  4  Gedichte  (S.  271.  298.  308  und  337),  welche  aus  Paaren 
solcher  Zeilen  gebildet  sind.  .  Für  2  seltenere  quantitirte  Zeilen 
findet  sich  hier  je  1  rythmisches  Nachbild.  S.  314  der  ryth- 
mische  Asklepiadeer ,  der  sogenannte  Alexandriner,  6w_-|-6w_, 
Amici  nobiles  Christi  sunt  virgines  (nach  dem  Vorbild  des  Horaz : 
Maecenas  atavis  edite  regibus),  in  Zeilenpaaren.  Dann  S.  316: 
6  — u  +  6_u:  0  Andreas  säncte  pro  me  intercede,  ebenfalls  in 
Paaren  von  Langzeilen.  Woher  das  quantitierte  Vorbild  von  8 
Trochaeen  geholt  ist,  ist  mir  nicht  sicher.  Vielleicht  war  es  die 
2.  Hälfte  der  sapphischen  Zeile :  nivis  atque  dirae. 

Schwierigkeiten  bereiten  die  Siebensilber.  Ein  Mal,  weil 
es  an  quantitirten  Vorbildern  nur  zu  viele  gibt,  anderseits  weil 
diese  rythmischen  Siebensilber  bei  den  Iren  in  vielerlei  Gestaltung 
auftreten.  Sie  treten  bei  den  Iren  als  Langzeilen  in  Paaren  mit 
Endreim  auf.  Aber  einerseits  sind  zwischen  die  Zeilen  7_u  oft 
sehr  viel  Zeilen  7  u  _  gemischt  (so  sind  in  dem  Gedichte  Colum- 
bans  'Mundus  iste  transibit'  (bei  Blume  S.  352)  57  Zeilen  zu  7_u 


Rythmische  Zeilen  der  Iren.  607 

gemischt  mit  64  zn  7u__),  anderseits  beginnen  in  dem  Gedicht 
des  Jonas  auf  Columban  'Cläre  sacerdos  cluis'  in  der  Ausgabe  von 
1905  'Jonae  vitae  Sanctorum'  S.  224,  —  wenn  die  Überlieferang 
verlässig  ist,  —  7on  den  60  Langzeilen  nicht  weniger  als  21  mit 
einer  Knrzzeile  von  6  Silben  (Sic  virtutum  decns  oder  Te  sofum 
pröceres).  Siehe  solche  Siebensilber  bei  Blume  S.  328.  351.  352. 
356.  Den  seltsamen  inneren  Bau  dieser  Zeilen  werde  ich  vielleicht 
besprechen,  wenn  ich  noch  dazu  komme,  ein  Gredicht  in  dieser 
Zeilenform  nachzuweisen,  das  im  Book  of  Gerne  (Fol.  53** — 54'')  als 
Prosa  versteckt  ist  und  dort  Fol.  53*"  beginnt  mit  den  Reimpaaren: 

tibi  resplendent  semper        angeloram  milia 
regem  regum  laudantes        cum  ingenti  gloria, 

Ubi  viginti  quattuor  seniores  sunt  proni 

agnum  dei  laudantes  ante  conspectum  throni. 

Der  beliebte  quantitirte  trochaeische  Septenar  ist  auch  von 
den  Iren  ziemlich  oft  rythmisch  nachgebildet  als  8_u  +  7o_: 

Cantemus  in  omni  die        concinnantes  varie, 

welche  Langzeile  in  Paaren  auftritt,  oft  mit  Reim  der  Kurzzeilen 
7u_;  s.  Blume  S.  305.  321.  330.  333.  340. 

Dieser  rythmische  Fünfzehnsilber  besteht  aus  zwei  Kurzzeilen 
8_w  und  1^ —  Von  andern  strengen  Dichterschulen  werden  diese 
beiden  Kurzzeilen  oft  selbständig  zum  Aufbau  von  Gedichten  ver- 
wendet. Aus  der  Zeile  8  — u  kann  eine  seltsame  rythmische  Spie- 
lerei der  Iren  hervorgegangen  sein.  In  diesen  Nachrichten  1909 
S.  418  habe  ich  nachgewiesen,  daß  schon  bei  Hilarius  die  Zeile  8_u. 
zerlegt  wurde  in  4-^u  +  4_>.^,  wie  Stabat  mater  dolorosa,  und 
habe  dort  S.  421  die  Verse  des  Virgilius  Maro  citirt: 

Phoebus  surgit*  caelum  scandit;        Polo  claret*  cunctis  paret. 

Hiermit  habe  ich  verglichen  die  irischen  Kunststücke  bei  Blume 
S.  299—301: 

Sancte  sator  •  suffragator,        Legum  lator  •  largus  dator. 
und  Christum  peto*  Christum  preco,       Christum  reddo  •  corde  laeto. 
und  Heli  Heli*  domine  mi. 

Sonst  habe  ich  bei  den  alten  Iren  weder  8  —  w  noch  7  u  _  selbst- 
ständig zum  Aufbau  von  Gedichten  verwendet  gefunden.  Das  ist 
seltsam.  Sollte  der  Grund  vielleicht  folgender  sein?  Die  alten 
Iren  waren  sehr  ungenau  in  der  Beachtung  der  Schlußcadenz. 
8u__  vertauschten  sie  leicht  mit  8— w  und  oben  habe  ich  notirt,  daß 
7^u  massenhaft  mit  7u_  gemischt  wurde.     Haben  sie  vielleicht 


t)08  Wilhelm  Weyer,  die  Verskunst  der  Iren. 

deßhalb  ungern  ein  ganzes  Gredicht  in  8  ^  u  oder  in  7  u  _  aufge- 
baut?   Für  die  Zeile  4_o  +  7u_: 

Dei  patris        festinare  maximum 
mihi  cito        peto  adiutorium 

kann  ich  ein  quantitirtes  Vorbild  nicht  nachweisen ,  allein  eine 
Erfindung  der  Iren  darf  man  deßhalb  diese  Zeile  nicht  nennen. 
Es  ist  eben  von  der  gewöhnlichen  Zeile  zu  8_u  +  7o_.  nur  statt 
des  Achtsübers  seine  Hälfte  zu  4_o  genommen.  2  Gredichte 
dieser  Zeilenart  habe  ich  in  diesen  Nachrichten  1912  herausge- 
geben :  S.  56  den  Reisesegen  des  Gildas  und  S.  65  den  Kanon  Evan- 
geliorum,  den  dann  De  Bruyne  in  der  Revue  Benedictine  dem  Aileran 
zugewiesen  hat.  Die  Zeilen  bilden  hier  Reimpaare.  Ebenso 
steht  es  in  den  2  Gedichten,  welche  Blume  gedruckt  hat :  no  235 
S.  312  Peto  Petri  pastoris  praesidia.  wo  aber  der  Text  so  unsicher 
ist,  daß  es  auch  Senare  zu  5_o-|-7u_  sein  könnten;  dann  S.  358 
die  umfangreiche  Lorica  (des  Gildas?). 

Es  bleibt  noch  eine  Zeilenart,  der  Achtsilber  mit  steigendem 
Schlüsse,  Su —  Er  ist  den  ambrosianischen  Strophen  nachgebildet. 
Ich  habe  nachgewiesen ,  daß  schon  die  ambrosianischen  Strophen 
in  der  Regel  in  der  Mitte  eine  Sinnespause  haben,  so  daß  diese 
Strophen  aus  zwei  Langzeilen,  8u_-|-8u_  und  8u_-|-8o_,  be- 
stehen. Auch  bei  den  Iren  finden  sich  nie  Verbindungen  von  3 
oder  5  oder  7  Achtsilbern,  sondern  nur  Strophen  von  2  oder  4 
oder  6  oder  8  oder  12  Kurzzeilen,  d.  h.  der  Achtsilber  8ij—  tritt 
nur  in  Langzeilen  8o_-|-8u—  auf.  So  besteht  die  12 zeilige 
Strophe  bei  Columban  (Blume  S.  275)  aus  6  Langzeilen,  von  denen 
in  der  15.  Strophe  die  letzten  4  mit  Cuius  und  in  der  16.  Strophe 
die  5  ersten  Langzeilen  mit  Quis  beginnen;  die  achtzeiligen  Stro- 
phen bei  Blume  S.  321  bestehen  also  aus  4  Langzeilen,  die  alle  4 
in  der  14.  Strophe  mit  0  und  in  der  16.  Strophe  mit  Quis  be- 
ginnen; S.  336  beginnen  die  3  Langzeilen  der  14.  Strophe  mit  0 
und  die  der  16.  mit  Quantum.  Sehen  wir  auf  den  Reim,  so  sind 
die  12  zeiligen  Strophen  S.  275/8  und  die  8  zeiligen  Strophen  S.  317 
in  Paaren  gereimt;  aber  von  ein  und  demselben  Reim  geschlossen 
sind  die  achtzeiligen  Strophen  S.  321  und  die  sechszeiligen  Strophen 
S.  335  und  S.  357. 

Alle  Zeilenarten  der  Iren  sind  also  schon  in  der  quantitirenden 
Dichtung  vorhanden  gewesen ;  keine  ist  von  den  irischen  Ryth- 
mikem  erfunden  oder  aus  ihrer  nationalen  Dichtung  entlehnt. 
Weiterhin  kamen  für  die  rythmischen  Zeilen  hauptjjächlich  in  Be- 
tracht die  Silbenzahl,  die  Schlußcadenz  und  der  innere  Bau  der  ZeUen. 


Zeilenarten  der  Iren.   Silbenzahl.   Schlußcadenz  der  Verse.  Tonfall  der  Zeilen.    609 

Die  gleiche  Silbenzahl  der  sich  entsprechenden  Zeilen  ist 
durchaus  sorgfältig  gewahrt ;  denn  die  Überlieferung  des  Gedichtes 
des  Jonas  auf  Columban  (oben  S.  607)  ist  mir  sehr  verdächtig;  es 
scheint  mir  ein  unvollendeter  Entwurf  zu  sein.  Das  große  Ge- 
dicht Blume  S.  302 — 304,  worin  die  Silbenzahl  stark  schwankt,  ist 
nicht  irischen  Ursprungs  und  wird  mit  zwei  anderen  Gedichten 
desselben  Verfassers  von  mir  in  der  folgenden  Abhandlung  (s.  S. 
645/682)  herausgegeben  werden. 

Nächst  der  Silbenzahl  ist  die  Schlußcadenz  der  Zeilen 
wichtig.  Die  entsprechenden  Zeilen  schließen  sinkend  oder  steigend. 
So  die  Senare  zu  5_u  +  7»j_  oder  die  Septenare  zu  8_u  +  7u_: 

Sancti  venite        Christi  corpus  siünite 
sanctum  bib^ntes        quo  redempti  sänguine. 
Maria  de  tribu  lüda,        summi  mater  domini 
opportunam  dedit  cüram        aegrotajiti  hömini. 

Die  Beobachtung  der  gleichen  Schlußcadenz  ist  bei  den  Iren 
lange  nicht  so  streng  wie  die  Beobachtung  der  gleichen  Silbenzahl. 
Ziemlich  oft  steht  unter  den  proparoxytonen  Zeilenschlüssen  ein 
paroxytoner  und  umgekehrt,  meistens  mit  der  im  Kapitel  über 
den  Reim  (s.  S.  619)  auszuführenden  Regel,  daß.  wenn  unter  pro- 
paroxytone  Schlüsse  ein  paroxytoner  gemischt  wird,  dieser  nicht  in 
einem  zweisilbigen,  sondern  mindestens  dreisilbigen  Worte  auftritt, 
also  in  Zeilen  zu  S^—: 

internes,  oculos,  superos,  intentos. 

Vor  den  Schlußkadenzen,  also  im  Innern  der  Kurzzeilen, 
haben  die  Zeilen  der  lateinischen  Gedichte  der  alten  Iren  alle 
möglichen  Arten  des  Tonfalles.  So  kann  5_u  den  Ton- 
fall _uvj_w  oder  u_^u_w  haben:  Fünere  tniso,  Liimen  aeternum; 
Sübmerso  saövo.  6u_:  Amici  nöbiles  oder:  Regnant  perpetuo. 
6  _  u :  Mane  ätque  nöcte ,  oder :  Tu  v^rus  piscator  oder  Ne  dör- 
miam    strictae.  7o_:    Vivam    öfFert    dömino    oder   Ex^mplum 

mirificum,  Magnificant  dominum.  Bei  den  Zeilen  zu  7  _  «^  und  zu 
8  u  _  steigt  die  Zahl  der  möglichen  Tonfälle  auf  3 :  0  unda  mültum 
mira;  flammaö  pröfimdae  poena;  Lüctum  magnüm  levate.  Ex- 
celsus  miindi  machinam ;  Draco  magnüs  ta6terrimus ;  Metu  territi 
fragiles.  In  der  Zeüe  zu  8  _  u  sind  4  verschiedene  Tonfälle  mög- 
lich :  Impiger  cred^ntes  pascit ;  Qui  ciinctä  äd  öius  m^nsam ;  An- 
dite  ömnös  ämäntes.     Viri  in  Christo  b?äti. 

Das  sind  all  die  Tonfälle,  welche  in  den  Kurzzeilen  von  5 — 8 
Silben  überhaupt  möglich  sind.    Belege  für  all  diese  Möglichkeiten 


610  Wilhelm  Meyer,  die  Verskunst  der  Iren. 

kann  Jeder  leicht  aus  den  altirischen  lateinischen  Gedichten  holen 
wie  ich  es  hier  gethan  habe.  Damit  ist  bewiesen,  daß,  wie  in  der 
alten  ßythmik  überhaupt,  so  auch  von  den  Iren  vor  der  Schluß- 
cadenz  die  Silben  nur  gezählt,  nicht  bestimmte  Accentfiiße  einge- 
halten wurden. 

Gruppen  und  Strophen  der  rythmischen  Zeilen.  Seit 
Augustus  wurden  die  rythmischen  Gruppen,  d.  h.  Distichen  oder 
Strophen  und  Zeilengruppen,  durch  bestimmte  Sinnespausen  fester 
begrenzt;  z.  B.  eine  sapphische  Strophe  durfte  nicht  mehr  mitten 
in  einem  Satze  enden.  Das  hing  wohl  zusammen  mit  einer  neuen, 
schärfer  betonenden  Art  der  Musik  und  des  musikalischen  Vor- 
trags. Bei  den  christlichen  Dichtern  wird  diese  scharfe  Gruppi- 
rung  immer  deutlicher  und  herrschender.  Die  irischen  rythmischen 
Gedichte  bestehen  stets  aus  gleichen  Gruppen  oder  Strophen ;  erst 
der  Angelsachse  Aethilwald  schafft  sich  epische  Freiheit.  Bei  den 
Iren  sind  die  Zeilen  zu  5_u-f-7u_,  zu  8_u  +  7w_,  zu  4_w-l- 
7u_  und  zu  7_w4-7_u,  ebenso  zu  6_<j  +  6— u  (Blume  S.  316) 
als  Langzeilen  gebraucht,  und  stets  werden  nur  die  Schlüsse  dieser 
Langzeilen  durch  Reim  oder  Assonanz  gebunden^). 

Die  Achtsilber  (8  w  _)  sind  sehr  oft  gereimt,  aber  nie  habe 
ich  bei  den  Iren  die  Langzeilen  zu  16  Silben  im  Schlüsse  gereimt 
gefunden,  sondern  stets  die  Kurzzeilen.  Also  alle  anderen  Zeilen 
werden  als  Langzeilen  gereimt,  aber  die  Achtsilber  als  Kurzzeilen. 

Wie  kommt  das?  Es  hängt  jedenfalls  zusammen  mit  der 
eigenthümlichen  Natur  der  Achtsilber,  über  die  ich  in  der  Abhand- 
lung über  Hilarius  (in  diesen  Nachrichten  1909  S.  420  ffl.)  ge- 
sprochen habe.  Sind  die  Achtsilber  von  einer  regelmäßigen  Caesur 
durchschnitten  (stabat  mater*  dolorosa  oder  minister*  altaris  dei 
oder  fias  deorum*  pontifex),  so  sind  sie  die  kürzesten  der  Lang- 
zeilen; denn  jede  Zeile  (von  9  oder  mehr  Silben)  soll  durch  regel- 
mäßige Caesur  in  2  Kurzzeilen  zerlegt  sein.  Sind  aber  die  Acht- 
silber, wie  die  zu  8w—  fast  immer  und  die  zu  8_u  oft,  nicht 
durch  eine  regelmäßige  Caesur  zerlegt,  wie  Cuius  pavore  tabesco 
oder  Consummato  certamine ,  so  sind  sie  die  längsten  Kurzzeilen. 
Die  Achtsilber  stehen  also  an  der  Grenze  der  Kurzzeilen  und  der 
Langzeilen.  Für  die  Reimverbindung  galten  sie  den  alten  Iren 
als  Langzeilen,  und  es  findet  sich  nicht  die  Reimverbindung  8  + 
8w_a,   S  +  S^-'  —  a,   sondern  nur  8a-f  8a,  8  c 4- 8c,    oder,   da  auch 


1)  Die  Alexandriner  (6w— +  6o— )  ^e»  Blume  S.  314  sind  auch  zu  Paaren 
gruppiert;    aber    hier  scheinen  oft  die  Kurzzeilen   zu  reimen:    Amici    nobiles 
Christi  sunt  virgines. 


Versgruppen  und  Strophen.    Accentfüße?  611 

hier  die  Fortsetzung  der  Reimkette  beliebt  ist,  8a+8a,  8a  +  8a 
u,  s.  w. 

Alle  Zeilenarten  also,  welche  die  alten  Iren  in  lateinischen 
rythmischen  Gedichten  gebraucht  haben,  sind  aus  dem  Formenreich- 
thum  der  quantitirenden  Dichtung  herüber  genommen.  Dabei  wird 
die  Silbenzahl  genau  beachtet,  minder  genau  der  Tonfall  des  Zeilen- 
schlusses. Der  Tonfall  der  Vorbilder  innerhalb  der  Kurzzeilen 
wird  nicht  beachtet.  Also  ist  nicht  die  Rede  von  bestimmtem,  ge- 
regeltem Tonfall  innerhalb  der  Zeilen,  von  Füßen. 

Und  doch  wüßte  ich  zwei  Gedichte  der  ältesten  Quelle,  des 
Antiphonars  von  Bangor,  nicht  anders  zu  erklären,  als  durch 
Annahme  von  bestimmten,  regelmäßig  wiederholten  Accentfüßen. 
Deßhalb  will  ich  die  Besprechung  dieser  beiden  Gedichte  hier 
einfügen. 

Accent-Füsse  1  Die  Lobsprüche  auf  das  Kloster  Bangor,  die  Ver- 
siculi  familiae  Benchuir  (Blume  S.  356),  sind  zunächst  das  größte  Reim- 
kunststück, welches  uns  aus  der  früheren  Zeit  des  Mittelalters  erhalten  iat. 
Es  sind  40  Siebensilber,  von  denen  je  2  zu  einer  Langzeile,  dann  je  2 
Langzeilen  zu  einer  Gruppe  zusammen  gestellt  sind: 
Area  Ch^rubin  t^cta  omni  parte  aurdta 
BÄcrosänctis  referta         viris  quättuor  portita. 

Kunstvoll  ist  der  Reim.  Eigentlich  sind  es  2  Reime.  Einmal  ist 
die  letzte  Silbe  stets  durch  a  gebildet.  Dann  reimen  die  Vocale  der  vor- 
letzten Silben;  sie  aber  bilden  die  seltenen  gekreuzten  Reime:  ecta.  ata, 
erta  ata-,  ena  ucta,  era  ucta;  aula  ata:  aula  ata  u.  s.  w.         Größere  Kunst 

ist  im  Tonfall  der  Zeilen  aufgewendet.    Sonst  sind  diese  Siebensilber  7 u 

massenhaft  mit  7  w  _  durchsetzt :  hier  finden  sich  nur  die  2  Zeilen :  Ben- 
chuir bona  regula,  Stricta  sancta  sedula  in  der  Einleitung  und  nachher  die 
2jeile :  Supra  montem  posita.  Der  innere  Bau  dieser  Siebensilber  ist  sonst 
so  verschieden  wie  möglich:  hier  gilt  die  feste  Regel,  daß  die  erste  ,Silbe 
Accent  hat :  4  ^lal  Xebenaccent  (Cäritate,  Glöriosa,  Säcrosanctis,  IJnde- 
cumque),  sonst  immer  vollen  Accent.  Da  im  Latein  nicht  2  betonte  Silben 
neben  einander  vorkommen  können,  so  müssen  alle  zweiten  und  fünften 
Silben  dieser  Zeilen  unbetonte  sein.  Zwischen  diesen  beiden  unbetonten 
Silben  muß  eine  vollbetonte  stehen ,  entweder  die  3.  oder  die  4. :  Nävis 
nünquäm  türbäta  oder  Eide  fündäta  certa.  Dieser  letzte  Tonfall  kommt 
nur  noch  4  Mal  unter  den  37  Zeilen  vor:  Dömus  deliciis  plena.  Christo 
regina  äpta.  Yere  regalis  aula.  Gregis  que  Christi  cäula:  aber  von  den 
37  Zeilen  haben  nicht  weniger  als  32  den  Tonfall  _vj_uvj_u  (Gerte 
civitas  firma.     Glöriosa    ac  digna.    auch  Simplex    simul    que  döcta).  In 

Sachen  des  Wohlklangs  binden  sich  die  L:en  nicht  leicht  an  unabänder- 
liche Gesetze,  wie  hier  zwischen  die  37  paroxy tonen  Schlüsse  3  propar- 
oxytone  und  zwischen  38  zweisilbige  Reime  die  2  einsilbigen  apta :  docta 
gemischt  sind;  aber  daß  von  37  Zeilen  zu  7_vj  32  den  Tonfall  _w_uu_u 
haben,  daß  kann  kein  Zufall  sein.  Das  iat  ja  der  bekannte  Tonfall  des 
Pherekrateus :  Nigris  aequora  ventis. 


612  Wilhelm  Meyer,  die  Verskunst  der  Iren. 

Der  Dichter  hat  eine  bestimmte  Melodie,  welche  von  den  7  Silben 
die  1.  3.  und  6.  betonte,  als  Vorbild  genommen  und  darnach  seine  Verse 
betont.  Er  hat  also  seine  Zeilen  mit  Accentfüßen  gefüllt.  Das  ist 
in  der  lateinischen  Rythmik  prinzipiell  nicht  geschehen.  Das  ist  aber  an 
und  für  sich  nicht  unnatürlich  und  ist  das  Prinzip  der  damals  blühenden 
und  berühmten  kirchlichen  Dichtung  der  Byzantiner  und  ist  dann  das  Prinzip 
der  lateinischen  Sequenzendichtung  geworden. 

(Griechische  Rythmik  ?).  Viel  auffallender  ist  im  Bereich  der  la- 
teinischen Rythmik  die  folgende  Erscheinung.  Das  Antiphonar  von 
Bangor  enthält  Fol.  12^  und  13^  unter  der  Überschrift:  'Ymnum  in  na- 
tale  martyrum  uel  sabbato :  ad  matutinam'  einen  Text  in  9  Absätzen,  also 
in  9  Strophen  (Blume,  Anal.  51  p.  313).  Es  ist  leicht  zu  erkennen,  daß 
jede  Strophe  aus  3  Zeilen  besteht,  welchen  als  ßefränzeile  eine  vierte  folgt, 

1)  Sacratissimi  martyres  summi  dei" 
bellatores  fortissimi  Christi  regis  * 
potentissimi  duces  exercitus  dei" 

victores  in  caelis  deo  canentes .  al(leluia). 

Die  letzte  Zeile  heißt  in  Str.  2  und  3  nur:  Tibi  sancti  proclamant, 
in  Str.  4,  5,  6,  7 :  Tibi  sancti  canebant;  in  Str.  8  wieder:  Tibi  sancti 
proclamant,  und  endlich  in  Str.  9  :  Trinitati  cum  sanctis  dicamus  alleluia. 
Der  Eefrän  wechselt  also.  Die  3  ersten  Zeilen  zählen  selten  11,  meistens  12, 
nicht  selten  13  oder  14  Silben;  sie  schließen  meistens  mit  Paroxytonon,^ 
sonst  mit  Proparoxytonon.  Von  irisch-lateinischer  Rythmik  ist  hier  keine 
Spur.  Kein  Reim,  keine  Alliteration.  Keine  Paarung  der  Langzeilen.  Vor 
Allem :  die  Langzeilen  zählen  alle  mehr  als  8  Silben  und  sind  doch  durch 
keinerlei  feste  Caesur  in  feste  Kurzzeilen  getheilt.  Ich  quälte  mich  mit 
diesen  seltsamen  Gebilden,  lange  und  vergeblich. 

Endlich  kam  ich  zur  Überzeugung,  daß  das  Innere  dieser  meist  zwölf- 
silbigen  Zeilen  durch  Accentfüße  geregelt  sei,  daß  also  hier  eine  Schablon- 
melodie festgehalten  sei :  Sacratissimi  martyres  sümmi  dei.  Tibi  sancti  pro- 
clamant: alleluia.  Dieser  Schablone  fügen  sich  viele  Zeilen;  so  die  2. 
Strophe : 

Excelsissime  Chrfste  coelörüm  deus* 
cherubin  cul  sedes  cum  pätre  säcra* 
angelörüm[ibi]  et  martyrum  fülgens  chörus. 
Tibi  säncti  procldmänt'  äUelüia. 

Zweifel  erregte  mir  der  Tonfall  des  Anfangs.  Das  Natürliche  schien 
_4.u_£.uu_£-wu_/-i^_/.u.  Allein  in  der  irisch  -  angelsächsischen  lateinischen 
Lyrik  werden  die  silbenzählenden  Kurzzeilen  sehr  gern  mit  einer  vollbe- 
tonten Silbe  begonnen,  wie  Väle  vale  fidissime.  Dagegen  in  diesen  Zeilen 
ist  vollbetonter  Zeilenanfang  auffallend  selten.  Das  schien  mir  dafür  zu 
sprechen,  daß  die  erste  Silbe  kurz  zu  nehmen  sei,  d.  h.  daß  hier  ryth- 
mische  Anapaeste  vorlägen:  sacratissimi  mdityrÖs  sümmlf  d6i. 

Eine  Zeile,  wie  4, 1  'Armis  spiritalibus  munita  mente'  ist  leicht  zu 
bessern  in :  SpMtällbüs  drmls  munitä  mente ;  allein  sonst  bietet  diese  ry th- 
mische  Zeile  von  Anapaesten   viele  Schwierigkeiten.  Einsilbige  Wörter 

können  ja  in  jeder  Rythmik  als  Senkungen  gebraucht  werden;  allein  der 
Gebrauch  zweisilbiger  Wörter  =  2  tonlosen  Silben  ist  bestritten.    Ich  habe 


Griechische  Rythmik?  613 

ihn  mehrfach  nachgewiesen;  s.  über  Placidas  (Nachrichten  1915)  S.  251; 
Spanisches  (1913)  S.  155;  Fortnnat-R\-thmus  (1908)  S.  64.  Dann  wider- 
spricht der  anapaestische  Tonfall  eigentlich  der  lateinischen  Aussprache; 
kein  Wort,  keine  Kurzzeile  kann  anapaestisch  schließen,  d.  h.  so,  daß  vor 
der  letzten  Silbe  zwei  reine  Senkungen  stehen.  Eine  Betonung  wie  in 
Herrschergeböt,  gibt  es  im  Lateinischen  nicht.  Deßhalb  mußte  der  quan- 
titirte  Asklepiadeer  'Maecenäs  ätävis  •  edite  regibus'  zum  rythmischen 
Alexandriner  werden:    Maecenas    ätavis.  Das  Vorbild    unserer    Zeile 

war  wahrscheinlich  aus  4  Anapästen  gebildet;  aber  der  Schluß  'Herrscher- 
geböt mußte  in  der  lateinischen  Rythmik  geändert  werden,  z.  B.  in:  H§rr 
scher's  Wille.     Weiter  möchten  folgende  Erwägungen  führen. 

Irland  hat  keine  Martyrien  erlebt;  dieser  Hymnus  kann  also  nur  den 
ausländischen  Märtyrern  gelten.  Der  von  mir  angenommene  Zeilenbau  mit 
Accentfüßen  ist  in  der  lateinischen  Rythmik  sonst  unerhört,  war  aber  ge- 
rade damals  in  der  griechischen  rythmischen  Kirchendichtung  in  voller 
Blüthe.  Ich  dachte  so  an  ein  griechisches  Vorbild  des  Anfangs  und  des 
Refräns  wie: 

'AytüsTaTot  ßKxptvpeg  rov  -b-^iörov  oder 
2o\  ol  &ytoi  xpä^ovöiv  '   dXXrjXovta. 

Ich  suchte  in  Pitra's  Analecta  Sacra  spicilegio  Solesmensi  parata,  I  1876, 
einer  Sammlung  der  ältesten  griechischen  kirchlichen  Dichtungen,  mit  der 
ich  einst  (1885)  in  der  münchner  Abhandlung  'Anfang  und  Ursprung  der 
lateinischen  und  griechischen  Dichtung'  (abgedruckt  im  Anfang  des  2.  Bandes 
meiner  Gesammelten  Abhandlungen  1905)  viel  habe  arbeiten  müssen.  Da 
habe  ich  nicht  den  griechischen  Text  des  lateinischen  Liedes  gefunden, 
aber  ich  habe  gefunden  dieselbe  anapaestische  Zeüe,  verwendet  ebenfalls 
zum  Preise  der  Märtyrer,  und  im  Refrän  ebenfalls  das  Alleluia. 

Einer  der  ältesten  und  berühmtesten  Töne  war  der  nach  dem  Anfang 
A'öxhg  ßiövos  genannte.  Das  so  beginnende,  also  wohl  älteste  Lied  trägt 
den  Namen  eines  Anastasius  und  enthäilt  bei  Pitra  S,  242  29  Strophen; 
es  ist  ein  kraftvoller  Grabgesang.  Den  Namen  des  Romanos,  der  zu  Justi- 
nians  Zeit  lebte,  tragen  mehrere  Lieder  bei  Pitra:  S.  44  Tots  rov  ßiov, 
30  Strophen,  ebenfalls  ein  Grabgesang  drastischer  Art;  Pitra  S.  166  15 
Strophen,  über  dieselben  Märtyrer,  die  unser  Lied  preist,  wie  schon 
der  Anfang  ankündigt:  Oi  iv  näö^t  tp  yp  fiaprvprfdavTSs.  Pitra  S.  374 
ein  Lied  des  Theodorus  Studita  'Hg  vlog  Sbv,  13  Strophen,  ein  Grabge- 
sang für  Mönche.  Pitra  395  von  Josephus  Hymnographus,  35  Strophen 
über  die  h.  Thekla.  Pitra  435  von    einem  Johannes    3    Strophen   über 

den  Märtyrer  Tryphon.  Pitra  564  zwei  Strophen  über  den  h.  Daniel 
Stylita.         Pitra  579:    7  Strophen    über   den   h.  Theodor.  Pitra  665: 

1  Strophe  über  den  h.  Jakob. 

Der  Ton  besteht  aus  8  Zeilen  und  einer  Refränzeile.  Nun  wird  zwar 
ein  und  derselbe  Ton  beim  Gebrauch  von  verschiedenen  Dichtern  in  Einzel- 
heiten abgeändert,  wie  ich  (Abhandlungen  II  S.  87 — 92)  an  den  verschie- 
denen Gedichten  des  Tons  Ta  rijs  yfjg  nachgewiesen  habe,  und  dasselbe 
ließe  sich  auch  in  den  verschiedenen  Liedern  des  Tones  Avxbg  ^övog  nach- 
weisen ;  allein  für  mein  Ziel  ist  das  nicht  notwendig.  Pitra  hat  S.  LXVI 
den  Ton  Avxbg  ßiövog  analysirt  und  beginnt  jede  der  8  Zeilen  mit  !.!  d.  h. 
-iL  u  -1. ;  aber  das  ist  ein  Irrthum.  Natürlich  könnte  bei  Anfangswörtern 
wie  iaträtptov  die  erste  Silbe  mit  einem  Nebenaccent  belegt  sein.  Aber 
Kgl.  Oes.  d.  Wiss.    Nachridtten.    Phil.-hist.  Klasse.    1916.    Heft  4.  42 


614  Wilhelm  Meyer,  die  Verskunst  der  Iren. 

in  Wirklichkeit  findet  sich  hier  auf  den  ersten  zwei  Silben  fast  nie  ein 
sicherer  Accent.  Sehr  oft  steht  kein  fester  Accent,  sehr  oft  steht  nur  ein 
accentuiertes  Hilfswort  der  Sprache,  wie  ich  das  (Abhandlungen  II  S.  55) 

charakterisirt    habe.      So    ist    avroe  ^övos  =  ^^ <^;    ebenso    i'öajs  ^';(£iv. 

Pitra  S.  243,4  ist  zu  betonen:   ovte  ivi  ixsi  fiinpog  ovta  jnsyag  (vju uu 

Die  Strophe  beginnt  fast  bei  allen  Dichtern  mit  zwei  Paaren  (s.  Ab- 
handlungen II  S.  68)  von  Elfsilbern:  'AXjxvpa  rrjs  ^aXäööriq  ra  ^8ata. 
Dann  folgt  fast  immer  ein  Zehnsilber  von  5  Accentjamben:  Wvxot-i  daviöiv 
ißTtiöxevöavxEq.  Die  6.,  7.  und  8.  Zeile  sind  fast  überall  zwölfsilbig. 
Die  7.  Zeile  besteht  oft,  wie  Zeile  1 — 4,  aus  11  Silben,  oft  aus  4  reinen 
Accentanapaesten ;  die  8.  Zeile  fast  immer  aus  4  solchen  Anapaesten.  So 
Pitra  248,24: 

ei  fiTj  fidvov  bpävTeg  fiapaivovxai, 

Hat  iv  rdq>oo  ^pTjvovvrsq  Ttoiovötv  odSijv,  aber   243, 5  : 

Jia  ti  o-d  XaXeiq  djg  iXäXetq  iffiiv, 

äXX.a  oÜToo  öiyäs  jurf  XaXäv  jue^'  ^/udov. 

Es  bleibt  die  6.  Zeile  der  Strophe.  Sie  ist  zwölfsilbig,  findet  sich 
aber  auf  2  verschiedene  Weisen  betont :  a)  auf  die  2  einleitenden  Anapäste 
folgt:  u-^uuj-u;  s.  Pitra  247,20  und  27: 

'AvaTCavdot  S^sos  tov  Seiva  xat  Setva. 
'iSov  dtf  {;7tovpyo\  tov  fi6vov  Svvdötov. 

oder  b)  auf  die  3  Accentanapaeste  folgt  ein  umgebogener  Anapaest  w_t.u, 
so  daß  genau  derselbe  Tonfall  der  Zeile  entsteht,  welchen  ich  im  Liede 
des  Antiphonars  von  Bangor  festgestellt  habe ;  Pitra  243,  Str.  2  ffl. 

2  Hat  eiicwv  /xot'  yrj  ei  Hat  eis  yfjv  Ttopevöjf. 
5   o'ö  Xa\eig  xov  Xontov  fie^'  fjßwv,  üb   <piXe. 
12  yvfivog  fjLeXXeig  inet  itapeöxävai  nävxoog. 
15   inet  yfj  öxoxeivrf  Hat  yvoqxaSijg  ZXrj. 
21    o-bxog  Sdxiv   6   Selva,   6   deiva   ovxog. 
26    6  To  itpäbxov  deöfiiovg  Seö/ioig  deöfievcov. 
28    bitov  Ttäöa  Tpvxrj   xoov  StHaioov  x^^P^^- 
Säcrätissiml  mdrtyres  sümml  dei* 
AscendistI  äd  ca^lös  äd  dexträm  dei. 
TJt  in  ipslüs  glörläm  cönsümm^mur. 
Et  In  sänctä  Jerusalem  civitäte. 
Die  völlige  Gleichheit  des  Tonfalls  besonders  der  letzten  griechischen 
Zeilen  und  dieser  lateinischen  Zeile    ist  deutlich.  Die    griechische  acht- 

zeilige  Strophe  schließt  mit  einem  Refrän,  der  in  verschiedenen  Liedern 
verschieden  ist.  Er  lautet  bei  Pitra  S.  44,  242  und  374  xb  dAXrjXovta. 
Wie  ist  dies  Klangwort  zu  betonen?  Das  mögen  uns  die  andern  ßefrän's 
lehren,  mit  denen  die  übrigen  Lieder  desselben  Tons  schließen.  Sie  lauten 
itoXviXee  bei  Pitra  S.  165 — 169,  d)g  dijxxijxog  S.  435/6  und  S.  579/81, 
djg  itpooxöaS^Xog  S.  395,  <pcüg  x^g  yvwöeoog  S.  565  und  x6v  q>ikdv^poanoy 
S,  665.  Also  ist  auch  xo  dXXrjXovia  fünfsilbig  und  auf  ri  zu  betonen: 

uw_i.uu.  Die  Betonung  hebräischer  Fremdwörter  ist  ja  vogelfrei  und  noch 
mehr  die  solcher  Vokalspiele,  wie  Alleluia. 

Wir  haben  also  byzantinische  Todtengesängo  des  6.  Jahrhunderts, 
von  denen  einer  gerade  die  Märtyrer  besingt.     Diese  Gesänge  sind  gefaßt 


Griechische  Rythmik?  615 

in  einem  berühmten  Strophenton.  Er  besteht  aus  8  Zeilen;  von  diesen  i«t 
eine  zehnsilbige  jambisch  betont.  Die  andern  7  Zeilen  sied  elf-  oder  zwölf- 
silbig  und  bestehen  aus  3  reinen  Accentanapästen  mit  verschiedener  Schluß- 
cadenz.  Jede  Strophe  schließt  mit  den  Retr&n  dXXrfXovta.  Das  irische 
Lied  besingt  ebenfalls  die  Märtyrer.  Es  besteht  aus  9  Strophen  von  je  4 
Zeilen.  Die  3  ersten  Zeilen  scheinen  gleich  gebaut  zu  sein  und  aus  3 
Accentanapästen  mit  einer  Schlußcadenz  von  w  —  u  zu  bestehen.  Die  4., 
die  Eefränzeile,  scheint  den  drei  ersten  Zeilen  im  Bau  gleich  zu  sein, 
schließt  aber  immer  mit  dem  "Wort  Alleluia. 

Dieser  Sachverhalt  führt  zu  der  Annahme:  ein  Ire  hörte  jene  grie- 
chischen Lieder  im  Ton  Avrbs  fi6voq  singen  und  wxu-de  angeregt  etwas 
Ahnliches  in  lateinischer  Sprache  zu  schaffen.  Er  wagte  sich  aber  nicht 
an  den  kunstreichen  Bau  der  Strophe  von  8  verschiedenen  Zeilen,  sondern 
machte  die  Sache  einfacher.  Er  wählte  nur  die  Melodieschablone  einer 
Zeile.  Diese  Melodie  wiederholte  er  nach  lateinischer  Art  4  Mal.  In  der 
vierten  Zeile  fügte  er  stets  als  letztes  "Wort  den  Ruf  Alleluia  ein. 

Den  kühnen  Versuch,  lateinische  Langzeilen  aus  festen  Accentfüßen  zu 
bilden,  könnte  man  sich  auf  diese  "Weise  begreiflich  machen. 

Sonst  liegt  allerdings  hier  noch  Alles  im  Dunkeln: 

"Wir  kennen  nicht  die  Regeln,  welche  der  lateinische  Nachbildner  der 
byzantinischen  Zeilen  sich  vielleicht  geschaffen  hat.  Dort  waren  Reihen 
von  4  Anapaesten  häufig :  im  Lateinischen  ist  der  anapaestische  Schluß 
J_uu_*_  unmöglich:  wohl  aber  sind  4  Anapaeste  möglich,  wenn  nach  dem 
4.  Anapaest  noch  eine  Senkung  folgt.  Sie  ist  vielleicht  beabsichtigt  in  : 
1,3  potentissimi  düces  exercitüs  dei.     VgL  7,3. 

Im  byzantinischen  Vorbild  schließen  viele,  allerdings  elfsilbigen,   Zeilen 

nach  den  3  Anapaesten  mit  u  o^ ,  so  äXfivpä  rijg  ^aXäööTfg  ra  vSara. 

Ob  dadurch  der  gleiche  Schluß  der  1 3  silbigen  Zeilen  gerechtfertigt 
•wird?: 

5,  2  proeliäntium  säncta  pro  tüa  glöria. 

6.2  quae  per  spiritum  sänctum  firmävit  märtyres. 

6. 3  qui  consternerent  zabulum,  [et]  mortem  vincerent. 
Bedenklicher  wäre  ein  Elfsilber,  dem  die  erste  Senkung  fehlt: 

4, 2  apöstoli  säncti  te  sunt  secüti. 
Von  den  Griechen   werden    die    beiden  Senkungen    hier    und    da    mit 
«inem  voll  accentuirten  Worte  gefüllt;   vgl.  meine  Abhandlimgen  II  S.  55 
und  Pitra  245,12: 

yvjiiybg  fiiXXstg  ixet  itapEdrarai  növroog. 
So  sind  hier  wohl  als  Senkungen  behandelt: 

5, 1  ChrTste  martyrum  tu  es  adiütor  potens. 
9, 1  Christi  gratiam  süpplices  öbsecremus. 
Es  kam  in  der  rythmischen  Dichtung  vor,  daß  zweisilbige  jambische 
"Wörter,  welche  in  den  quantitirten  Hymnen  sehr  oft  als  Jamben  vorkamen, 
dann  von  den  rythmischen  Dichtern  mit  demselben  Tonfall  gebraucht  wurden, 
also  ä.  deö,  nön  habet  (vgl.  etenim ,  nönnihil).  Sind  vielleicht  hiemach 
betont?: 

4,  3  qui  cmn  ipsi  c  r  ü  c  i  s  paterentur  mortem. 
7,3  trinitäti  fidem  tötö  cörde  serväntes. 

42* 


616  Wilhelm  Meyer,  die  Verskunst  der  Iren. 

Anderseits  ist  die  Abschrift  im  Antiphonar  von  Bangor  durchaus  nicht 
fehlerlos.     So  ist  sicher  zu  bessern: 

4,1   spiritälibus  ärmis  munita  naente, 
wo  die  Handschrift  Armis    spirit.   mu.  me.  hat.  Die  mühsame  Bildung 

der  Anapäste  hatte  den  Lateiner  wohl  öfter  zu  künstlicher  "Wortstellung 
gezwungen,  wo  dann  der  Abschreiber  die  Worte  wieder  natürlich  stellte. 
So  ist  vielleicht  umzustellen: 

3.2  refulsisti  qui  mundo  devlcta  mörte. 

5.3  qui  victöres  exirent  cum  de  hoc  saeclo; 

die  Hft  hat :  Qui  dev.  morte  ref.  mundo  und  Qui  cum  vict.  ex.  de  hoc 
saeculo.  (Ob  auch  6,1  Tua ,  dömne,  illüstris,  laudända  virtus?  statt: 
Illustris  tua    domine    lau.  vi.).  Einfach    ist    die    Besserung    in  8, 3   [et] 

centenärio  früctu  repleti  gaüdent,  aber  noch  keinen  Weg  habe  ich  gefunden, 
wie  7, 1  und  2  und  8, 1  und  2  zu  bessern  sind. 

Ich  glaube  hier  die  Thatsache  bewiesen  zu  haben,  daß  ein  Ire  des 
7.  Jahrhunderts  es  gewagt  hat,  in  lateinischer  Sprache  den  Tonfall  einer 
byzantinischen  Melodie  nachzuahmen  und  dabei  die  damals  in  Irland  ge- 
bräuchlichen Regeln  der  lateinischen  Rythmik  wenig  zu  beachten. 

Das  war  ein  kühnes  Beginnen.  Allein  die  Iren  waren  sich  offenbar 
bewußt,  daß  die  rythmische  Dichtkunst  etwas  Neues,  noch  nicht  in  allen 
Einzelheiten  streng  Geregeltes  sei.  So  vertauschen  sie  nicht  selten  die  stei- 
gende und  die  sinkende  Schlußcadenz :  laböre  mit  corpore.  Sie  wußten  also, 
daß  man  diese  Kunst  weiter  ausbilden  könne,  und  sie  haben  das  mit  großer 
Kühnheit  versucht  im  Gebrauch  des  Reims  und  der  Alliteration. 


Reim  und  Assonanz  bei  den  lateinischen  Dichtern  der 
Iren.  Nach  meiner  Ansicht  ist  mit  dem  Prinzip  der  rythmischen 
Dichtkunst  auch  der  Reim  von  den  Christen  des  Orients  zu  den 
Christen  des  Occidents  gewandert.  Im  6.  Jahrhundert  waren  Reim 
und  Alliteration  lateinischen  Stilkünstlern  bereits  bekannt  als  Zier- 
rathe,  mit  denen  man  kunstvolle  lateinische  Prosa  oder  Dichtung 
verschönem  könne.  Die  Iren  haben  diese  Kunstmittel  so  eifrig 
ergriffen  und  angewendet,  daß  sie  z.  B.  von  Manchen  als  die  Er- 
finder der  Reimkunst  angesehen  worden  sind. 

Der  Reim  der  Iren  sticht  hervor  durch  die  Häufigkeit 
der  Anwendung  —  nur  wenige  rythmischen  Gedichte  der  Iren 
sind  nicht  gereimt  —  und  durch  seine  künstliche  Ausbildung. 
Der  Gleichklang  der  letzten  Silben  ist  fast  immer  reiner  Reim 
dominam  :  speculam  (nicht  dominam  :  specula) ;  dazu  tritt  wegen  der 
ähnlichen  Ableitungssilben,  wie  itur  itis,  ia  usw.  sehr  oft  Reim  oder 
Assonanz  der  vorletzten  Silbe.  Das  bat  die  lateinische  Rythmik 
der  Iren  mit  der  ganzen   alten   lateinischen  Rythmik   gemeinsam. 

Eigenthümlich  ist  ihr  der  künstliche  Ausbau  des  sinkenden 
zweisilbigen  Reimes  und  des  steigenden  dreisilbigen  Rei- 
mes, dazu  die  Anwendung   des   Binnenreimes.        Der   Gleich- 


Reim  bei  den  Iren.  617 

klang  der  vorletzten  und  drittvorletzten  Silbe  ist  bei  steigendem 
Reimschluß  meist  auf  die  Vokale  beschränkt  (Assonanz ;  similis  : 
originis);  ebenso  beim  zweisilbigen  sinkenden  Reime  (tecta  :  referta). 
Der  Binnenreim,  zweisilbig  und  sinkend,  bindet  entweder  die  beiden 
Kurzzeilen  einer  Langzeile,  oder  er  zeigt  sich  in  der  ersten  Kurz- 
zeile einer  Langzeile.  Die  betreffende  Langzeile  ist  meistens  die 
zweite  eines  Langzeilenpaares.  Z,  B.  Blume  305  (Mone,  Hymnen 
II  385,  hat  diese  Künste  zuerst  nachgewiesen) ,  wo  man  auch  die 
Alliteration  und  die  dreisilbigen  Reime  der  Langzeilen  beachte: 

Maria,  mater  miranda,        patrem  suum  edidit, 
per  quem  aqua  late  latus        totiis  mundus  credidit. 
und  Haec  concepit  margaritam,        —  non  sunt  vana  somnia  — , 
pro  qua  sani  Christia/n'         vendunt  sua  omnia. 

Dreisilbiger  steigender  Reim  der  Langzeilen  findet  sich 
bei  Blume  S.  305  (verbunden  mit  Binnenreim  in  der  zweiten  Lang- 
zeile). Blume  330  hat  keinen  Binnenreim.  Blume  sagt  dann 
ausdrücklich,  *der  dreisilbige  Reim  ist  durchweg  rein,  auch  die 
Konsonanten  umfassend'.  Aber  doctore  :  corpore,  energiae  :  super- 
biae,  species  :  requies  usw.  sind  doch  nur  Assonanzen,  keine  reinen 
Reime.  Blume  S.  333  hat  in  7  Zeilenpaaren  dreisilbigen,  in  den 
16  andern  zwei-  oder  auch  nur  einsilbigen  Gleichklang;  Binnen- 
reim nur  selten  und  vielleicht  nur  zufällig.  Diese  3  Gedichte  sind 
in  Paaren  von  8_u-f7u_  geschrieben.  Blume  S.  337  enthält 
24  Paare  von  5_u-|-7u —  Binnenreim  fehlt  bald,  bald  steht  er 
in  der  ersten,  bald  in  der  zweiten  Langzeile.  Etwa  17  Paare  sind 
mit  dreisilbigem  Reim  oder  Assonanz  geschlossen ;  sonst  ist  er 
mangelhaft. 

Der  zweisilbige  Gleichklang  findet  sich  regelmäßig  nur 
im  sinkenden  Schlüsse  von  Langzeilen.  Oft  besteht  er  nur  in 
zweisilbiger  Assonanz.  Blume  S.  316  besteht  aus  12  Paaren  von 
6_u-}-6_wa;  Binnenreim  ist  selten  und  unsicher: 

Te  nunc  peto  care        mane  atque  nocte, 
ne  dormiam  strictae        animae  in  morte, 

Wichtiger  sind  die  Langzeilen  zu  7_o-f7_ua.  So  Blume 
S.  328  sechs  Paare  mit  gelegentlicher  Alliteration  und  Binnenreim  : 

Martinus,  mirus  more,        ore  laudavit  deum; 
puro  corde  csmiavit        atque  a.mavU  eum. 

Blume  S.  351  zwölf  Langzeilenpaare  mit  derselben  zweisilbigen 
Assonanz  und  mit  Binnenreim  in  der  ersten  oder  zweiten  Lang- 
zeile.      In  dem  seltsamen  Gedicht  Blume  S.  352  schließen  57  Kurz- 


618  Wilhelm  Meyer,  die  Verskunst  der  Iren. 

Zeilen  sinkend,  64  steigend ;  die  sinkenden  Langzeilenschlüsse  reimen 
meistens  mit  zweisilbigem  Gleichklang,  die  steigenden  oft  mit  drei- 
silbigem : 

Cogitare  convenit        te  baec  cuncta,  amice ; 

absit  tibi  amare         huins  formulam  vitae. 

Omnis  est  caro  foenum        flagrans,  licet  flörida, 

sicque  quasi  flos  foeni         omnis  eins  glöria. 

Den  Höhepunkt  der  Reimkunst  erreichen  die  10  Paare  von 
Langzeilen,  welche  die  Versiculi  familiae  Benchuir  (Blume  S.  356) 
bilden.  Alle  40  Kurzzeilen  bilden  die  letzte  Silbe  durch  a.  Ebenso 
werden  die  22  Langzeilen  bei  Blume  S.  312  und  die  48  Achtsilber 
bei  Blume  S.  319  alle  nur  mit  a  gereimt.  Aber  die  Versiculi 
lassen  auch  die  accentuirten  vorletzten  Süben  reimen  oder  asso- 
niren: 

Vere  regalis  aüla,         variis  gemmis  ornata, 
gregis  que  Christi  caula,        patre  summo  servata. 

Also  stets  zweisilbiger  sinkender  Reim  oder  Assonanz,  aber 
gekreuzte  Reime! 

Zweisilbiger  sinkender  Reim  oder  Assonanz  beherrscht  noch 
die  Paare  von  Viersilbern  (4_w  +  4_u  =  8_w)  Blume  S.  299—302 : 

Sancte  sator        suffragätor. 
Quando  c^lox        currit  völox. 

Die  kunstvollen  dreisilbigen  und  zweisilbigen  Reimschlüsse 
sind  besprochen.  Sie  treten  alle  am  Schlüsse  von  zusammenge- 
setzten Langzeilen  ein  (5-f7u_;8-f7w_;  6  +  6—^;  7+7  —  vj); 
deßwegen  treten  diese  Langzeilen  stets  in  Paaren  auf. 

Zu  besprechen  bleibt  der  einsilbige  Reim.  Dieser  ist  stets 
rein  (sehr  unsicher  ist  Blume  312,  Str.  9).  Die  Reimsübe  ist  stets 
im  steigenden  Schluß,  hat  also  stets  Nebenaccent:  gratiä.  Diese 
letzte  Silbe  soll  nicht  durch  ein  gewichtiges  einsilbiges  Wort  ge- 
bildet werden. 

Hieran  möchte  ich  eine  Bemerkung  knüpfen.  In  den  alten 
Rythmen  werden  mitunter  zweisilbige  sehr  bekannte  Wörter  im 
Zeilenschluß  nach  der  Quantität  betont  gebraucht.  So  schließen 
Blume  S.  321  von  den  12  (reimlosen)  Zeilen  zu  7u_  drei:  Kastus 
hie  servit  dßü.  Orat  dominum  süüm.  Salvatoremque  süüm.  Und 
in  dem  reimlosen  alten  Gedicht  (des  Secundinus?)  bei  Blume  340 
sind  von  52  Zeilen  zu  7  u  _  acht  geschlossen  mit  deüm,  bönis,  crOcö ; 
nur  einmal  findet  sich  der  autfallende  Schluß :  nuptiali  indütus. 
Wie  oben  gesagt,  sind  die  Iren  in  der  Bildung  der  Schlußcadenz 
recht  nachlässig. 


Reim  bei  den  Iren.  619 

Der  steigende  Schloß  der  Rythmik  verlangt  ja  ein  proparoxy- 
tones  Wort  dominns ,  caelestibus.  Nun  ist  seltsam,  daß  von  den 
meisten  irischen  Dichtern  die  sinkend  d.  h.  falsch  gebildeten  Schlüsse 
nie  in  einem  zweisilbigen,  sondern  in  einem  mindestens  dreisilbigen 
Worte  vor  Aogen  treten;  s.  oben  S.  5.  Ich  will  mit  dem  kräf- 
tigsten Beispiel  beginnen.  Von  den  586  Zeilen  des  Angelsachsen 
Aethilwald  zn  8u_  (s.  nachher)  haben  37  paroxytonen  Schluß, 
wozu  noch  etwa  6  Schlüsse  mit  Fremdwörtern  kommen.  Aber  all 
diese  37  Schlüsse  vermeiden  ein  zweisilbiges  Schlußwort :  sie  schließen 
mit :    tempestas.   potita.    redimita.    peregrinis    etc.  Ebenso    bei 

Blume:  S.  275  Unter  284  Zeilen  (des  Columban)  sind  paroxyton 
16  Schlußwörter:  alle  diese  Schlußwörter  zählen  3  oder  4  Silben. 
Bl.  321 :  unter  196  Zeilen  sind  17  Zeilen  mit  sinkendem  Schlüsse, 
aber  alle,  außer  dem  ersten  tu  igycc,  in  Wörtern  von  3  und 
mehr  Silben.  In  46  Langzeilen  zn  8  +  7ij_  (Blume  S.  333)  sind 
11  Siebensilber  geschlossen  nur  mit  Wörtern  wie  ductöre,  crea- 
türam.  Blume  S.  335:  von  148  Achtsilbem  sind  20  mit  einem 
paroxytonen  Worte  geschlossen:  dies  zählt  stets  3  oder  4  Silben. 
Dagegen  sonst  ist  der  unregelmäßige  sinkende  Schluß,  wenn  auch 
selten,  in  einem  zweisilbigen  Worte  zu  finden  :  so  Blume  S.  294 
Christi  und  sancti ;  319  xä  sQyu ;  327  in  tota  und  mirus ;  338  per- 
gens  und  ardens. 

Weßhalb  haben  nun  die  alten  Iren  gemieden,  gerade  diesen 
unrichtigen  sinkenden  Zeilenschluß  der  Achtsilber  durch  ein  zwei- 
silbiges Wort  wie  hac  mensa  zu  bilden,  während  sie  immensa  zu- 
ließen? Vielleicht  wegen  der  sogenannten  schwebenden  Beto- 
nung?, indem  sie  meinten,  man  könne  immensa  vielleicht  so  be- 
tonen, daß  es  dem  nach  der  Schablone  richtigen  Tonfall  der  Ca- 
denz  inmensä  sich  nähere ,  während  das  bei  hac  mensa  nicht  zu 
hoffen  war  ?  Ich  fürchte ,  der  Grund  war  ein  ziemlich  grober. 
Die  lateinischen  Rythmiker  waren  sich  natürlich  dessen  bewußt, 
daß  die  steigenden  Schlußcadenzen  nur  mit  Wörtern  von  3  und 
mehr  Silben  gebildet  werden  konnten;  wenn  sie  auch  Tausende 
solcher  Verse  machten ,  keiner  durfte  mit  einem  zweisilbigen 
Worte  schließen.  Nun  lag  den  alten  Iren  nicht  sehr  viel  an  der 
richtigen  Schlußcadenz  und  sie  ließen  zwischen  den  steigenden 
Schlüssen  leicht  einen  sinkenden  zu.  Aber  zwischen  den  regel- 
mäßigen mindestens  dreisilbigen  Schlußwörtern  ein  zweisilbiges  zu- 
zulassen, dazu  konnten  die  meisten  sich  nicht  entschließen. 

Die  Ketten  der  einsilbigen  Reime.  Es  ist  ein  altes 
Heimspiel,  daß  alle  Zeilen  eines  Gedichtes  mit  demselben  Vokal, 
besonders  mit  a,  enden.    So  endigen  bei  Blume  S.  312  die  24  Lang- 


620  Wilhelm  Meyer,  die  Verskunst  der  Iren. 

Zeilen  auf  a;    ebenso   S.  319   die  48  Achtsilber  und  S.  356   die  40 
Siebensilber. 

Sonst  tritt  ein  seltsamer  Unterschied  hervor.  Hauptsächlich 
werden  zusammengesetzte  Langzeilen  gereimt.  So  die  Elfsilber 
(4  +  7u_),  die  Zwölfsilber  (6  — u  +  6^u  und  5_^  +  7u_),  die 
Vierzehnsilber  (7  _  u  -f  7  —  u)  und  die  Fünzehnsilber  (8  _  u  -f-  7  u  _). 
Die  Alexandriner,  Bu_  +  Bu—  bei  Blume  S.  314  sind  sehr  schlecht 
überliefert ;  aber  einige  Male  scheinen  hier  die  Kurzzeilen  gereimt 
zu  sein  : 

Amici  nobiles         Christi  sunt  virgines ; 
regnant  perpetuo        cum  ipso  domino. 

Die  Achtsilber  mit  steigendem  Schlüsse  (8u_)  sind  von  den 
Iren  am  häufigsten  angewendet  zum  Bau  von  Gedichten.  Wie 
früher  (S.  610)  bemerkt,  werden  immer  2  solche  Achtsilber  durch 
den  Sinn  verbunden;  sie  bilden  also  Langzeilen  von  8  +  8o_  = 
16  u_  Silben.  Allein,  während  die  Langzeilen  von  12 — 15  Silben 
stets  nur  am  Ende  der  Langzeilen  durch  Reim  zu  einem  Lang- 
zeilenpaar verbunden  werden,  ist  dies  gerade  bei  den  Achtsilbem 
nicht  der  Fall.  Ich  kenne  kein  Gedicht,  wo  die  Schlüsse  der 
Langzeilen  zu  16  w_  miteinander  reimen.  Es  reimt  nur  Achtsilber 
mit  Achtsilber.  In  Hinsicht  auf  den  Reim  werden  also  die  Acht- 
silber als  Langzeilen  behandelt. 

Die  Kurzzeilen  zu  8u_  treten  also  zunächst  immer  mindestens 
in  Reimpaaren  auf.  Es  kommt  nun  darauf  an,  ob  und  wie 
diese  Reimpaare  weiter  gruppiert  werden.  Da  finden  sich  2  Ge- 
brauchsarten:  Strophen,  in  welchen  jedes  Reimpaar  verschiedenen 
Reim  haben  kann,  und  Strophen,  in  welchen  alle  Kurzzeilen  zu- 
nächst denselben  Reim  haben.. 

Blume  S.  275  (Columban),  284  Achtsilber,  besteht  aus  Strophen 
von  je  12  (14)  Kurzzeilen,  die  meistens  Paare  von  verschiedenen 
Reimen  bilden.  Allein  bei  den  Iren  ist  es  durchaus  nicht  ver- 
boten, daß  das  nächste  Reimpaar  denselben  Reim  hat,  wie  das 
vorangehende.  So  folgen  sich  in  Str.  4:  6  Reime  auf  us,  4  auf 
um,  2  auf  is.  In  Str.  7  sind  die  4  ersten  und  letzten  auf  us  ge- 
reimt, dazwischen  stehen  2  Paare :  um  :  um  und  es  :  es.  In  Str.  9 
sind  8  Zeilen  auf  ibus  eingeschlossen  von  je  einem  Paare  as  :  as. 
Blume  317  stehen  die  3  letzten  Strophen  eines  AßCdars:  jede 
Strophe  besteht  aus  4  Paaren  verschiedenen  Reims.  Reim- 
ketten  finden  sich  bei  Blume  S.  335  und  S.  321.  Die  148  Zeilen 
von  S.  335/8  bilden  Strophen,  deren  je  6  Zeilen  von  demselben 
Reim  geschlossen  sind.  S.  321/4  (196  Zeilen)  werden  in  23  Strophen 
je  8   Zeilen    von   demselben  Reim   geschlossen.     Auch    hier  lieben 


Reimpaare.    Verletzungen  der  Reimregel.  621 

die  Iren  die  Abwechslung.  S.  336  beginnt  die  (12.)  6  zeilige  Strophe 
mit  iam  :  iam,  fährt  fort  mit  ima  :  ima  und  schließt  mit  iam  :  uam. 
S.  323  beginnt  das  Paar  am  :  am  die  14.  Strophe ;  es  folgen  6  um. 
Die  nächste  Strophe  15  beginnt  mit  i  :  i ;  es  folgen  6  e.  Str.  18 
beginnt  mit  4  os,  schließt  mit  4  a.  Das  Reimpaar  ist  also  auch 
hier  der  eigentliche  Baustein.  Deßhalb  ist  der  Schluß  von  S.  322 
Strophe  7  wohl  so  zu  ordnen: 

Gladium  quoque  Spiritus         tenens  sanctis  in  manibus, 
levatum  ad  nequissimos,        quo  prosterneret  superbos. 

Die  Hft  bringt  tenens  s.  i.  m.  nach  superbos.  Reimketten 
von  6  gleichgereimten  Zeilen  zeigt  auch  Blume  S.  357 ;  doch  machen 
die  vielen  Eigennamen  das  Gedicht  ungefüge. 

Grewöhnlich  treten  diese  Reimpaare  der  Langzeilen  so  auf, 
daß  2  eine  Strophe  bilden.  Dann  haben  die  beiden  Paare  bald 
denselben,  bald  jedes  einzelne  besondem  Reim.  So  die  4  Strophen 
bei  Blume  S.  325 :  1  i  :  i ;  e  :  e ;  2  vier  us ;  3  vier  us ;  4  um  :  um ; 
US  :  US.  Vgl.  Blume  S.  284:  5  Strophen  mit  4  gleichen  Reimen 
und  3  Strophen  mit  2  Paaren  verschiedener  Reime.  Vgl.  noch 
S.  294/5.        (S.  296  hat  nichts  mit  den  Iren  zu  thun). 

Da  die  Reimkunst  der  Iren  historisch  wichtig  ist,  so  will  ich 
aus  der  Sammlung  Blume's  hier  notiren  1)  die  nicht  gereimten, 
2)  die  fehlerhaft  gereimten  Verse. 

Reimlos  sind  Blume  S.  296  'Ignis':  das  Gedicht  ist  quanti- 
tirend  und  nicht  irisch ;  s.  S.  625.  Blume  297/8  'Domine'.  Bl.  298/9 
^Sancti  venite' ;  (Seltsam,  daß  die  Schlüsse  einiger  Strophen  reimen : 
5/6  ia,  7/8  iam,  9/10  ibus).  Bl.  302/4 :  Dies  nicht  irische  Gedicht 
der  gothaer  Hft  werde  ich  mit  den  zwei  dazu  gehörigen  nachfolgend 
herausgeben;  s.  S.  645/682.  Bl.  313  'Sacratissimi',  s.  S.  612/616. 
Bl.  321  'Audite'.  Bl.  326/7  'Matre' :  wohl  späte  Gedichte.  S. 
340|2  Seeundini?      Bl.  349/50  Sancte  Petre. 

Reim-Ausnahmen  oder  Fehler  in  den  von  Blume  zu- 
sammengestellten Gedichten.  Von  den  wahrscheinlich  gereimten 
Gedichten  in  Blume's  Sammlung  ist  das  erste  (Bl.  S.  271/3)  das 
schwierigste.  Es  besteht  aus  84  rythmischen  Senaren  (5_w  +  7u_), 
von  denen  offenbar  je  2  zu  einem  Paar  zusammengefaßt  sind.  Blume 
bringt  noch  3  Gedichte  dieser  Zeilenart.  S.  298:  11  Paare:  reimlos. 
Dagegen  S.  308 :  22  Paare  und  S.  337 :  24  Paare ,  aUe  mit  Reim 
der  Langzeilen.  Von  den  42  Paaren  auf  S.  271/3  sagt  Blume, 
'der  Reim  sei  hier  durchweg  beobachtet'.  Dann  möge  er  in  den 
Strophen  4.  17.  29.  30  und  noch  mehr  in  34.  35.  36.  38  und  41 
einen  Reim  nachweisen.     Ich   finde   in   diesen  9  Strophen   keinen 


622  Wilhelm  Meyer,  die  Verskunst  der  Iren. 

Reim.  Dagegen  in  den  andern  Strophen  ist  Reim  sicher,  aber  in 
so  seltsamen  Spielarten ,  daß  man  sie  feststellen  muß.  Dieser 
Dichter  scheint  nicht  nur  die  Schlüsse  der  Langzeüen  in  7  u  _ , 
sondern  auch  die  Caesurschlüsse  in  5_u  in  sein  Reimspiel  hinein- 
gezogen zu  haben. 

In  nicht  weniger  als  6  Strophen  beherrscht  derselbe  Reim  alle 
4  Caesur-  und  Zeilenschlüsse:  2.  3.  6.  7.  12.  19: 

7  Ita  veterno        iste  hoste  subacto 
polum  nodoso       solvit  mortis  vinculo. 

Also  müssen  wir  Reimabsicht  annehmen  auch  in  den  Strophen : 
14.  18.  33: 

33  Corrosum  nodis        annis  fere  milibus 
extricat  saevis        inferi  feralibus. 

Da  der  Dichter  also  offenbar  auch  die  Kurzzeilen  zu  S  —  u  in 
das  Reimspiel  hineinzieht,  so  müssen  wir  Reimabsicht  auch  in  den 
Strophen  1.  28.  40  und  42  (mit  Assonanz)  annehmen,  obwohl  hier 
die  Schlüsse  der  Langzeilen  nicht  miteinander  reimen: 

1  Precamur  patrem        regem  omnipotentem 

et  Jesum  Christum         sanctum  quoque  spiritum. 

Es  bleiben  20  Reimpaare,  in  welchen,  wie  in  den  beiden  Gre- 
dichten  S.  308  und  337,  die  Schlüsse  der  Langzeilen  reimen, 

16  In  fine  mundi        post  tanta  mysteria 
adest  salvator        cum  grandi  dementia, 
mit  der  weiteren  Freiheit,  daß  statt  Reim  öfter  nur  Assonanz  ein- 
tritt :  10  (mare :  Israel).     22  (dictum   est :    pemiciter).     25  (virum ; 
milibus).     3L  37.  39. 

So  scheint  mir  dies  Gedicht  ein  starkes  Beispiel  dafür  zu  sein, 
mit  welcher  Ungebundenheit  die  Iren  die  Reimgesetze  verletzten. 
Minder  holprig  geht  die  weitere  Aufzählung  der  unregel- 
mäßigen Reime  dahin:  In  den  284  Achtsilbern  =  142  Reim- 
paaren des  Columban.  (Blume  S.  276/8)  finden  sich  die  3  Fälle: 
Strophe  4,12  luminis  :  praecipites;  8,11  homines  :  oculis ;  18,9  ama- 
rissimos  :  erumpemus.  Blume  S.  285:  24  Achtsilber  (von  Co- 
lumban?): 8  gereimt  auf  um  +  8  auf  erat  (doch  dazwischen:  passus 
est)  +  6  auf  o  und  2  auf  a.  S.  309,  Str.  13  Cbananaei  :  sanguine. 
S.  312,  Str.  9  mansura  :  futuram.  S.  314/5  diese  14  Paare  von 
Alexandrinern  (6u_-|-6u_)  scheinen  zum  Theil  gereimt  zu  seinJ 
1  Amici  nobiles         Christi  sunt  virgines, 

regnant  perpetuo      cum  ipso  domino  (vgl.  Str.  9). 
Doch  ist  der  handschriftliche  Text  zu  verderbt. 


Reim  bei  den  Iren.    Reimprosa.  623 

Blume  S.  321  4:  196  Achtsilber  in  24  Strophen  von  je  8  Zeilen 
mit  dem  gleichen  Reim :  Str.  4. 7  ceteros  :  operibus ;  in  Str.  7  ist 
wohl  Z.  8  zu  stellen  vor  Z.  6.  Blnme  S.  346:  11  Strophen  von 
je  4  Achtsilbern,  gereimt  zu  4  oder  zu  2,  aasgenommen  die  Asso- 
nanzen in  Str.  7  gentilitas  :  monita ;  8  astutia  :  fuerat ;  9  dilectissimi : 
praesulis.  Blume  S.  847:  23  Strophen  von  je  4  Achtsilbem,  ge- 
reimt zu  je  4.  Ausgenommen  Str.  4  mit  den  Reimen :  us.  um.  um. 
um;  Str.  7  um.  a.  ().  a;  Str.  15  am.  us.  us.  us.  Blume  S.  349: 
6  Strophen  von  je  4  Achtsilbern;  nach  Blume  'in  mäßigem  Um- 
fang gereimt' ,  d.  h.  Str.  1  us.  us.  us.  us ;  Str.  5  em  em ,  um  um ; 
aber  Str.  2  um  am  is  um;  3  ur  us  us  um;  4  o  um  a  um;  6  e  e 
am  um. 

(Irische  Reimprosa).  Wohlklang  wurde  von  den  lateini- 
schen Redekünstlern  von  vornherein  in  der  Prosa  ebenso  sehr  er- 
strebt wie  in  der  Dichtung.  Schon  Cyprian  kannte  Reimprosa. 
Auch  die  Iren  wußten  davon  und  haben  sie  zur  wirklichen  Kunst- 
prosa ausgestaltet.  Die  ganzen  Hisperica  famina  (zuletzt  1908  von 
Jenkinson  herausgegeben)  sind  in  selbständigen  kurzen  Sätzen  ge- 
schrieben, die  alle  nach  ^iner  Formel  gebaut  sind.  In  der  Mitte 
steht  das  Verbum,  vorn  und  hinten  stehen  Subjekt  und  Objekt  oder 
andere  zum  Verbum  gehörige  Wörter.  Ist  das  ein  Nomen  mit  seinem 
Adjektiv,  so  steht  das  eine  vom,  das  andere  hinten.  Sind  2  No- 
mina mit  2  Adjektiven  da,  so  stehen  die  beiden  Adjektive  vom, 
die  beiden  Substantive  hinten.  An  beiden  Stellen  können  andere 
Erweiterungen  hinzutreten.  Aber  in  der  Regel  ist  das  vom 
stehende  Wort  mit  dem  dazu  gehörigen  und  hinten  stehenden  Worte 
durch  Reim  verbunden.  Auch  Alliteration  wird  gern  zu  Hilfe 
genommen.     So : 

B  126  Sublimem        posco  rectorem. 
A  561  Supernum  vasti        posco  herum  poli. 
B  142  Israelitica  ruboreum        induxit  agmina  per  pontum. 
B  151  trinos      pio  imhrüim  capore  observavit  in  fornucis  estu 

natos. 
A  596  Tum  frondens  (frondeus  ?)       irruente  caterva  fragoricat 

saltus. 

Alliteration  bei  den  lateinischen  Dichtern  der  Iren. 

Nach  meiner  Überzeugung  wurde  die  Alliteration  von  den  lateini- 
schen Schulmeistern  des  5.  und  6.  Jahrhunderts  als  Zierrath  der 
schönen  Rede  in  Prosa   wie  in  Vers   gelehrt  und  empfohlen.     Die 


624  Wilhelm  Meyer,  die  Verskunst  der  Iren. 

nachahmenden  Germanen  nahmen  sie  als  Charakteristikum  für  ihre 
Dichtungen  an  und  erhoben  sie  zum  Gresetz. 

Auch  die  Dichter  in  irischer  Sprache  haben  sie  nachgemacht, 
aber,  wie  ich  in  der  Abhandlung  'die  Preces  der  mozarab.  Liturgie', 
1914  S.  6/7,  nach  Kuno  Meyer  notirt  habe,  in  geschmackloser  "Weise 
so,  daß  sie  eine  kleine  Reihe  von  Wörtern  mit  demselben  Buch- 
staben anfingen  und  viele  solche  Reihen  sich  folgen  ließen.  Da- 
gegen die  lateinischen  Dichter  der  Iren  blieben  bei  der  natürlichen 
Weise  der  Lateiner  und  Grermanen,  daß  innerhalb  einer  kleinen 
"Wortreihe  oder  einer  Langzeile,  mehrere  bedeutende  Wörter  mit 
denselben  Buchstaben  beginnen,  wobei  andere  Wörter  und  besonders 
Nebenwörter  nicht  beachtet  werden.  Dafür  einige  Beispiele  aus 
Aethilwald's  Gedichten,  I  51/60: 

Turbo  terram  teretibus  grassabatur  grandinibus, 

quae  catervatim  caelitus  crebrantur  nigris  nubibus. 
Neque  caelorum  culmina         carent  nocturna  nebula, 
quorum  pulchra  planities         perlucebat  ut  glacies, 

donec  nimbo  ac  nubibus  torve  teguntur  trucibus. 

1  93  Attamen  flagrant  fulmina        late  per  caeli  culmina, 

quando  pallentem  pendula        flammam  vomunt  fastigia, 
^    quorum  natura  nubibus         procedit  conlidentibus. 

Bei  Aethilwald  ist  die  Alliteration  kräftig  und  sehr  häufig. 
Doch  in  den  von  Blume  zusammengestellten  Gedichten  ist  sie  viel 
weniger  geregelt  als  der  Reim  und  eine  bloße  Sache  des  Wohl- 
klangs, die  dastehen,  die  aber  auch  fehlen  kann. 

Ich  will  Blume's  Sammlung  (Analecta  hymnica  51, 271 — 365 
rasch  durchlaufen  und  durch  einzelne  Beispiele  einen  Begriff  vom 
Ganzen  zu  geben  versuchen.  Regelmäßige  Alliteration  ist  nirgends 
zu  finden;   aber  alliterirend  gebundene  Ausdrücke,   besonders   von 

2  Wörtern,  sind  sehr  häufig,  wie  submerso  saevo  *  Cincri  canunt  * 
surdi  sanantur*  pascere  plebem  divinis  dogmatibus.  Natürlich 
treten  auch  sehr  oft  Wörter  nahe  zusammen,  wie  'animabus  ae- 
thralibus  eiusdem  obviantibus' ,  welche  mit  einem  Vokal  be- 
ginnen; sie  werden  eindrucksvoller,  wenn  derselbe  Vocal  beginnt, 
wie  :  Ama  amantissimos         angelorum    populos. 

Blume  S.  271,  4  caeli  ab  arce        mundi  moli  micoit. 

31  cruci  confixus        polum  mire  concutit. 
Bl.  275/8  (Columbae  ?),  11  quarum  uberioribus     venis  velut  uberibus. 
17  regis  regum  rectissimi        prope  est  dies  domini. 


Alliteration  bei  den  Iren.  625 

Häufig  in  den  kleinen,  dem  Columban  zugeschriebenen  Stücken ; 
z.B.: 

Bl.  284,  Str.  6  deus  largus  longanimis        deus  doctor  docibilis. 

286  R:  Te  timemus  terribilem  und  o  rex  regum  rectissime. 

Str.  2:  Te  cuncta  canunt  carmina         angelorum  per  agmina 
teque  exaltent  calmina        coeli  vaga  per  fulmina 
(?  teque  exaltant  fulmina        coeli  vaga  per  culmina). 

Str.  3  recta  regens  regimina. 

Bl.  296  der  Hymnus  'Ignis  creator  igneus  lumen  donator  luminis' 
hat  allerdings  in  der  1.,  3.,  5.  und  6.  Strophe  etwas  Alliteration ;  aber 
irisch  kann  er  nicht  sein.  Denn  er  ist  noch  quantitirend  gebaut. 
Mercati  (in  Studi  e  testi  XII,  1904,  p.  25)  hält  ihn  für  ein  Dich- 
tung des  Ambrosius.  Auch  das  ist  unmöglich.  Denn  Ambrosius 
bildet  nur  jambische  Dimeter  der  gewöhnlichen  Art,  deren  zweiter 
Fuß  ein  reiner  Jambus  ist.  Hier  aber  liegt  eine  überhaupt  noch 
nicht  erkannte  Spielart  vor:  jambische  Dimeter  mit  alt- 
lateinischem  Bau;  von  32  Zeilen  haben  18  in  der  2.  Senkung 
eine  Länge.  Diese  altlateinischen  jambischen  Dimeter  sind  in  der 
Hymnendichtung  gar  nicht  selten.  Ihr  deutlicher  Gegensatz  zu 
den  gewöhnlichen  jambischen  Dimetem  zeigt,  daß  die  Ansicht, 
welche  Blume  1908  in  der  Studie  ,der  Cursus  S.  Benedicti'  ver- 
fochten hat,  wornach  bestimmte  Hymnen-Cyclen  von  einem  Dichter 
verfaßt  seien,  nicht  richtig  ist. 

Blume  299.  Die  Reimkunststücke  'Sancte  sator  sufi'ragator' 
sind  doch  bisweilen  ohne  Alliteration. 

Bl.  305.  Das  rythmische  Kunststück  'Cantemus  in  omni  die' 
bringt  auch  manche  Alliteration: 

5  haec  est  summa*  haec  est  sancta        virgo  venerabilis. 

7  per  mulierem  et  lignum        mundus  prius  periit. 

8  Maria  mater  miranda        patrem  suum  edidit. 

10  tunicam  per  totum  textam  und  sorte  statim  steterat. 

Bl.  308.  Diese  rythmischen  Senare  enthalten  viel  Alliteration ;  so : 

2  Clavicularii        Petri  primi  pastoris. 
7  opem  oremus        prole  cum  pervigili. 
12  Thaddaei  tota        famosi  per  tellura.     usw. 

BL  312.  In  diesen  Elf  silbern  tritt  die  Alliteration  oft  sehr 
stark  auf.  Der  Text  ist  vielfach  so  unsicher ,  daß  ich  die  Hand- 
schrift selbst  ausschreibe: 

1  Feto  Petri        pastoris  praesidia. 
3  multi  mundi        Mathei  merita. 


626  Wilhelm  Meyer,  die  Verskunst  der  Iren. 

4  tonantem  Thomae        tota  per  tutamina. 

5  boni  beati        Bartholomei  benigna. 
ludae  missi      leni  laeta  lacida. 

6  Pauli  puri      piissimi  oracula. 

7  omnes  istos        ut  evadam  agmina 
dira  dura        daemonium  pessima. 

8  et  clara        caeli  celsi  culmina 
cinis  cautus        castus  diligentia. 

9  dominum  deum        dare  mihi  mansura 
verum  vivum        vitam  viam  futuram. 

11  regi  regum        rectori  per  omnia 
sine  fine        saeculorum  in  saecula. 

Blume  315/6.     Die  ersten  dieser  5  Strophen  alliteriren: 

I  0  rex  0  rector  regminis        o  cultor  caeli  carminis 
0  persecutor  murmuris        o  deus  alti  agminis. 

Bl.  316.  In  diesen  sinkenden  Sechssilbern  sind  stark  allite- 
rirende,  aber  verderbte  Stellen: 

6  0  Petre  germane        vere  mira  proles 
lampas  larga  legis        splendor  summi  solis. 

7  comes  Christi  carus         retribue  relictis. 

II  eris  civis  clarus         civitatis  mirae 
regnabis  cum  rege        regum  sine  fine. 

Bl.  317.  Die  3  Strophen  auf  Brigida  alliteriren  nicht  stark, 
aber  fast  regelmäßig. 

Bl.  319/20.  Diese  48  auf  a  endenden  Achtsilber  alliteriren 
mitunter  stark: 

1  Alta  audite  xä  agya     toto  mundo  micantia 
ßrigitae  beatissima        in  Christo  coruscantia. 

2  caeli  conscendit  culmina        caritatis  dementia. 
6  lucerna  lucis  lucida 

mira  civitas  consita        supra  montis  cacumina. 
9  regina  Austri  edita        Salomonis  scientia 
sancta  adepta  opima        Patricii  patrocinia. 

Bl.  321/4.  In  diesen  Strophen  schließen  nicht  nur  die  8  Zeilen 
mit  demselben  Reim,  sondern  in  der  1.  und  4.  Strophe  beginnen 
auch  alle  ö  Zeilen  mit  A  oder  mit  D  und  in  der  10.   vier  mit  K. 

Bl.  333.   Die  Fünfzehnsilber  auf  den  h.  Michael  alliteriren  gern : 

1  Archangelum  mirum  magnum        Michaelem  militem 
miro  fulgore  fulgentem        vener amur  principem. 


Alliteration  bei  den  Iren.  627 

3  caias  vita  cuius  virtus        cuius  statos  stabilis. 

4  deus  dedit  Michahelem        principalem  pastorem. 
10  Kastro  caelorum  constructo         devicto  diabolo 

tunc   fulgebit   Michel   mirus  (=  9,2   u.    17,3)        cum    cohorte 

credulo. 

12  deus  dedit  Michaelem        ducem  multis  milibus. 

13  nonne  Michael  magnus  manet        manus  fortis  factoris. 

18  liberavit  Michel  mundum        magno  adiuvamine. 

19  extinguetur  Michaela        mortiferum  morbidum. 
21  Xristi  aurora  fulgebit        in  futuro  agmine 

archangelus  magnus  mundo        cum  ingenti  fulgore. 
Blume  337.    Die  Senare  auf  Monenna  alliteriren  oft;  so: 

4  ut  mereamur        magna  mirabilia. 

6  femina  iida        mira  fulget  favore 

caelum  conscendit        sed  cum  magno  labore. 

7  gratia  Christi        quieWt  gratissima 
unica  cara         facta  fidelissima. 

10  Kastam  custodit        carnem  coram  angelis, 
fulget  in  albis        stolis  claris  candidis. 

15  patria  de  sua        ad  peregrina  pergens 
havens  in  cruce        luce  de  luce  ardens. 

16  quasi  advena        mundi  cura  caruit 
domini  digna        fide  firma  floruit.     usw. 

Blume  340  2.  Das  Gedicht  (des  Secundinus?)  über  Patricias 
hat  oft  bescheidene  Alliteration ,  besonders  wenn  man  die  vocali- 
schen  Anfänge  mitrechnet ;  z.  B. : 

17  qui  caeleste  haurit  vinum         in  vasis  caelestibus 
propinansque  dei  plebi         spiritale  pocnlum. 
1  quomodo  bonum  ob  actum         similatur  angelis 
perfectamque  propter  vitam        aequatur  apostolis. 

ßl.  347.     Etwas  Alliteration  zeigt  der  Hynmus  auf  Petrus ;  so : 

1  Audite  fratres  famina         Petri  pastoris  plurima 
baptismatis  libamina        fudit  velnti  fiumina. 

Bl.  351.     Diese  Siebensilber  haben  wenig  Alliteration: 
3  luctum  magnum  levate        mea  mala  lugete. 
8  ne  me  consumat  ira        munda  nunc  mea  mala. 

Bl.  352.  Reich  an  Alliteration  sind  wieder  diese  dem  Co- 
lumban  zugeschriebenen  Siebensilber: 

7  lubricum  quod  labitur         conantur  colligere. 
10  peccatoribus  impiis        quod  impietas  praestat. 


628  Wilhelm  Meyer,  die  Verskunst  der  Iren. 

11  cogitare  convenit        te  haec  cuncta  amice. 

12  omnis  est  caro  foenum        flagrans  licet  florida. 

13  orto  sole  arescit        foenum  et  flos  deperit. 
17  plerique  perpessi  sunt        poenarum  incendia. 

22  per  quos  captos  ceteros        incautos  comperimus. 
26  ubi  cibo  supemo        plebs  caelestis  pascitur; 
ubi  nemo  moritur         quia  nemo  nascitur. 

28  ubi  vita  viridis        veraque  futura  est 

quam  nee  mors  nee  maeroris         metus  consumpturus  est. 

29  laeti  leto  transacto         laetum  regem  videbunt 

cum  regnante  regnabunt        cum  gaudente  gaudebunt. 

30  tunc  dolor  tunc  taedium        tunc  labor  delebitur. 
tunc  rex  regum  rex  mundus         a  mundis  videbitur. 

Bl.  358.     In   dem  Lorica-Gedichte   (des  Gildas?)   sind  Verbin- 
dungen, wie  maris  magni  •  linquant  lacerandum  •  denso  defendentes  * 
Salus  saepiat,  nicht  selten;  sonst  sticht  hervor  nur  der  Vers: 
Christus  mecum        pactum  firmum  feriat, 
timor  tremor        taetras  turbas  terreat. 


Die  Verskunst  des  Angelsachsen  Aethilwald. 

Von  dem  Angelsachsen  Beda  sind  uns  über  800  jambische 
Achtsilber  überliefert.  Aber  der  gelehrte  Metriker  schrieb  in 
quantitirten  Versen^).  Rythmische  Achtsilber  sind  uns  586  über- 
liefert unter  dem  Namen  des  Aldhelm.  Sie  stammen  jedenfalls 
von  Genossen  des  Aldhelm ,  besonders  von  Aethilwald ,  und  aus 
dem  Anfang  des  8.  Jahrhunderts.  Die  große  Zahl  und  die  Gleich- 
artigkeit dieser  Versmasse  machen  sie  geeignet  zu  einer  eindrin- 
genden Untersuchung  über  die  Verskunst  dieser  Angelsachsen, 
welche  eifrige  Schüler  der  gelehrten  Iren  gewesen  sind. 

In  der  Wiener  Handschrift  751  (Theolog.  259),  die  im  Anfang 
des  9.  Jahrhunderts  geschrieben  ist,  stehen  (Fol.  40,41  und  4*2) 
586  Kurzzeilen  von  je  8  Silben  mit  steigendem  Schlüsse.  Je  2 
sind  gereimt,  bilden  also  ein  Reimpaar  oder  eine  Langzeile.  In 
der  Hft  sind  sie  so  geschrieben',  daß  alle  ersten  Kurzzeilen  der 
Paare  unter  einander  in  der  1.  Columne  stehn,  dann  alle  zweiten 
Kurzzeilen  unter  einander  in  der  2.  Columne.     Also: 


1)  Natürlich  rühren  nicht  von  Beda  her  die  Strophen,  welche  eine  Salz- 
burger Hft  saec.  XII  dem  schonen  Hymnus  'Primo  dcus  caeli  globum'  angeflickt 
und  welche  Dreves  Analecta  50  p.  102,  ohne  Denken  und  Bedenken,  als  Str.  29— 
83  gedruckt  hat. 


Aethilwald.  629 

1  Lector  casses  catholic^.         2  atque  obses  anthletice. 

3  tuis  pnlsatus  precibus.  4  obnixe  flagitantib ;  {=  bus) 

5  ynmista  cannen  cecini.  6  atq ;  responsa  reddidi. 

Die  2  Theile  einer  Langzeile  oder  eines  Reimpaares  füllen 
also  hinter  einander  zwei  Spalten.  Die  Schrift  ist  sauber  und 
scheinbar  sorgfältig,  aber  doch  gedankenlos.  Im  4.  Gedichte  schreibt 
der  Schreiber  in  die  erste  Spalte :  (9)  facunda  fnnde  famina ;  dann  in 
die  zweite :  queä  cepto  in  carmine.  and  merkt  gar  nicht .  daß  er 
eine  Kurzzeile  ausgelassen  und  das  Reimpaar  zerrissen  hat,  und 
so  schreibt  er  dann  gedankenlos  weiter,  so  daß  ihm  am  Ende  dieses 
Gedichtes  fi  tenus  feliciter  für  die  erste  Spalte,  und  nichts  Tiir  die 
zweite  übrig  bleibt.  Dasselbe  passiert  ihm  im  5.  Gedichte ,  wo 
durch  Ausfall  einer  Kurzzeüe  die  Langzeile  entstanden  ist: 

(57)  Quantü  mxindo  mirabile.        Neq ;  altü  ingeniü. 

So  sind  bis  zum  Schlüsse  auch  dieses  5.  Gedichtes  alle  Reim- 
paare zerrissen.  Aus  diesem  zweimaligen  über  viele  Langzeilen 
sich  erstreckenden  Fehler  ist  wohl  zu  schließen,  daß  die  Vorlage 
auch  in  Kurzzeilen  geschrieben  war,  so  wie  Ehwald  diese  Ge- 
dichte gedruckt  hat  (in  seiner  Ausgabe  des  Aldhelm,  1914  S.  524 — 
537),  während  Jaffe  (Monumenta  Moguntina  1866  S.  38 — 48)  und 
Dümmler  (Epistolae  Merowingici  aevi  I,  1892,  S.  240 — 247)  sie  in 
Langzeilen,  die  also  je  ein  Reimpaar  enthalten,  haben  drucken 
lassen. 

Die  Anfangsbuchstaben  der  Kurzzeilen  sind  in  der  einzigen 
Handschrift  bald  üncial-,  bald  Minuskelbuchstaben. 

Literpunction  gibt  es  eigentlich  nicht.  Nur  wollte  der  Schreiber 
den  Schluß  jeder  Kurzzeüe  durch  .  bezeichnen.  Doch  läßt  er  dieses 
Zeichen  stets  weg,  sobald  schon  die  Abkürzung  b;  (=  bus)  die 
Zeile  schließt.  Das  ist  also  eine  Station  der  Entwicklungsge- 
schichte der  Zeichen  .  und  ; .  Zuerst  diente  .  sowohl  als  Abkürzung 
der  Schlußsilbe  eines  Wortes  wie  als  Interpunktion.  Dann  wurde  .  für 
die  Interpunction  reservirt  und  im  8./ 9.  Jahrhundert  trat  als  Ab- 
kürzung für  die  Schlußsilbe  bus  das  Zeichen  b;  an  seine  Stelle. 
In  der  Folgezeit  wurde  auch  ;  mehr  und  mehr  für  die  Interpunction 
reservirt  und  die  abgekürzten  Schlußsilben  wurden  durch  andere, 
neuen  Zeichen  notiert:  bus  besonders  oft  durch  b'. 

Die  Zeilen  zählen  immer  8  Silben  und  schließen  fast  immer 
steigend  (8u_).  Sie  sind  also  rythmische  Nachahmungen  der  quan- 
titirenden  ambrosianischen  Zeilen.  Von  den  586  Zeilen  schließen  etwa 
37  Zeilen  sinkend :  1  21  tempestas ;  27/8  petita  :  sopita ;  84  caterva 
usw.,  aber  diese  falschen  sinkenden  Schlußcadenzen  finden  sich  nie 

Kgl.  Oes.  d.  Wiss.  Nachrichten.  Phü.-hist  Klasse.  1916.  Heft  4.  43 


630  Wilhelm  Meyer,  die  Verskunst  der  Iren. 

in  einem  zweisilbigen  Worte,  sondern,  wie  die  richtigen,  stei- 
genden Schlußcadenzen  j  nur  in  einem  Worte  von  3  oder  mehr 
Silben,  worüber  oben  S.  619  gehandelt  ist.  Einsilbige  Schluß- 
wörter sind  ja  hier  wie  in  der  lateinischen  Dichtung  überhaupt 
gemieden. 

Wortgrößen  im  Achtsilber.  Im  5.  Gedicht  kommt 
überhaupt  kein  Wort  vor,  das  mehr  als  4  Silben  zählt.  Sonst 
handelt  es  sich  um  den  Zeilenanfang  oder  den  Zeilenschluß.  Im 
Anfang  der  Zeile  findet  sich  I  126  somniculosos  und  im  2.  Ge- 
dicht 5  solche  Anfangs  Wörter,  sonst  nirgends  eines.  Im  Schluß 
der  Zeile  finden  sich  im  1.  Gedichte  13  Schlüsse,  wie  flagitantibus ; 
sonst  1  im  II.,  4  im  III.  und  2  im  IV.  Gedicht :  also  20  in  den 
586  Zeilen.  Wörter  von  6  Silben  kommen  überhaupt  nicht  vor. 
Man  vergleiche  damit  z.  B.  das  Gedicht  (Columbans?)  bei  Blume 
275/8:  von  den  284  Zeilen  beginnen  10  mit  fünfsilbigen  Wörtern 
wie  inormitatis,  2  wie  animälibus,  und  es  schließen  nicht  weniger 
als  54  (also  1/5)  mit  Wörtern  von  5  Silben,  wie  fundaminibus,  und 
8  mit  Wörtern  von  6  Silben,  wie  profundioribus. 

Der  hochtrabenden  und  langstieligen  Ausdrucksweise  der  Angel- 
sachsen sind  vielsilbige  Wörter  sehr  angemessen.  Daß  sie  bei 
Aethilwald  so  gemieden  werden,  das  hat  also  wohl  einen  techni- 
schen Grund  im  Versbau. 

Die  Einschnitte  (Caesuren)  im  Achtsilber  des  Aethil- 
wald. Über  Einschnitte  im  rythmischen  Achtsilber  habe  ich 
gesprochen  besonders  in  der  Abhandlung  'Die  rythmischen  Jamben 
des  Auspicius'  (in  diesen  Nachrichten  1906  bes.  S.  203  ffl.);  vgl. 
die  Abhandlung  'Lat.  Ryihmik  und  byzantinische  Strophik'  (in 
diesen  Nachrichten  1908  S.  196—198),  wo  ich  S.  220/1  auch  die 
Form  anderer,  sehr  roher  Achtsilber  besprochen  habe.  Brandes 
hatte  daraufhingewiesen,  daß  bei  Auspicius  (164  Zeilen  um  470 
in  Frankreich  entstanden)  in  der  Mitte  der  Zeilen  fast  immer  der 
Wortaccent  mit  der  jambischen  Schablone  zusammen  falle;  ich 
habe  nachgewiesen,  daß  schon  in  manchen  quantitirend  gebauten 
Achtsübern  eine  feste  Caesur  den  2.  oder  den  3.  Jambus  durch- 
schneide. Diese  Caesur  hat  Auspicius  in  seinen  rythmischen 
Achtsilbern  nachgemacht.  Er  hat  also  sehr  häufig  die  Formen: 
Laetificdbas  ]  antea  oder  Incürrat  |  avaritiae  oder  Salütem  j  dico  | 
plurimam;  dagegen  sehr  selten  den  Einschnitt  nach  der  4.  Silbe: 
Aut  renovas  |  aut  superas  oder  Cui  quidquid  |  tribueris.  Auspicius 
wollte  also  sinkenden  Einschnitt  nach  der  3.  oder  nach  der  5. 
Silbe  und  vermied  Einschnitt  nach  der  4.  Silbe. 

In  der  Folgezeit  war  die  rythmische  Nachbildung   der  quan- 


Caesar  bei  Aethilwald  nach  der  4.  Silbe.  631 

titirten  ambrosiaalschen  Zeile  außerordentlich  beliebt;  sie  scheint 
auch  bei  der  Entstehung  der  nationalen  Dichtungsformen  der  G-er- 
manen  und  Romanen  eine  große  Rolle  gespielt  zu  haben  (vgl.  diese 
Nachrichten  1913  S.  167  ffl.).  Die  G-eschichte  ihrer  Entwicklung 
ist  also  wichtig.  Aber  sie  ist  noch  durchaus  nicht  in  allen  Stücken 
klar.  Unsere  586  Zeilen  sind  also  für  eine  solche  Untersuchung 
ein  wichtiger  Stoff.J 

Die  Hauptsache  ist  folgende :  während  Auspicius  den  Einschnitt 
nach  der  4.  Silbe  meidet,  ist  bei  Aethilwald  der  Einschnitt  nach 
der  4.  Silbe  der  allerhäufigste.  Auspicius  schneidet  fast  nur  nach 
der  3.  und  5.  Silbe  ein:  auch  Aethilwald  hat  diese  Einschnitte 
sehr  oft,  —  zusammen  in  etwa  240  Zeilen  — ;  aber  beträchtlich 
mehr  Zeilen  —  etwa  320  —  sind  nach  der  4,  Silbe  eingeschnitten. 
Das  ist  wichtig;  denn  so  kommen  wir  zu  der  Bildung  der  ryth- 
mischen  ambrosianischen  Zeile,  welche  wir  überall  im  Mittelalter 
finden.  Zeilen,  wie  Justificationibus  oder  Vis  interficientium  finden 
sich  fast  nie.  Aber  selbst  der  leicht  sich  bietende  Einschnitt  nach 
der  2.  Silbe,  vor  6  silbigem  Schlußwort,  ist  auffallend  selten.  Im 
27.  Band  der  Analecta  hymnica,  in  den  mozarabischen  Hymnen, 
habe  ich  nur  die  3  Zeilen  bemerkt:  Nostrae  simüitudinis,  Candor 
inenarrabilis  und  Iure  hereditario;  und  es  bleibt  ein  besonderes 
Merkmal,  daß  das  dem  Columban  zugeschriebene  Gedicht  'Altus 
prosator  vetustus'  (Blume  51, 275 — 278)  unter  seinen  284  Zeilen 
nicht  weniger  als  8  zählt,  wie:  Tribus  gloriosissimis ,  Numquam 
deficientia. 

Bei  Aethilwald  ist  jede  der  586  Zeilen  einge- 
schnitten nach  der  3.  oder  4.  oder  5.  Silbe,  also  so,  daß 
man  von  einer  gleichmäßigen  Theilung  des  Achtsilbers  (in  3  -f-  5 
oder  4  +  4  oder  5  +  3  Silben)  sprechen  darf.  Unmöglich  war  also 
II  111  Quorum  auctoribus  aius  (Ehwald:  q.  auctori  aius).  Die- 
selbe Regel  gilt  für  die  übrigen  rythmischen  ambrosianischen  ZeQen 
des  Mittelalters.  Zu  derselben  Regel  kommen  wir  in  den  quan- 
titirten  Achtsübern  des  B e d a  (s.  Dre ves ,  Analecta  hymnica, 
Bd.  50  S.  100—114).  Es  sind  über  800  Zeilen,  allein  eine  jede  ist 
«ingeschnitten  nach  der  3.  oder  5.  oder  4.  Silbe.  Die  2  Verse 
no  80  Str.  13, 2  und  no  S7  Str.  3, 3 :  Die  creatoris  sui  und  Ac 
baptizaturum  suo  sind  die  einzigen  Ausnahmen;  sie  zeigen  aber, 
wie  nahe  dem  Dichter  die  Grelegenheit  lag,  diese  Regel  zu  ver- 
letzen. Das  ist  die  erste,  wichtige  Regel  des  äthilwaldiscben 
Achtsilbers. 

Die  zweite  Regel,  welche  Aethilwald  befolgte,  lautet:  dem 
proparoxytonen  Zeilenschluß  soll  paroxytoner  Caesurschl  uß 

43* 


632  Wilhelm  Meyer,  die  Verskunst  der  Iren. 

vorangehen  und  proparoxytoner  Caesurschluß  ist  zwar  nicht  ab- 
solut verboten,  aber  er  ist  möglichst  zu  meiden.  E m'p fehle ns- 
werth  sind  also  die  paroxy tonen  Einschnitte: 

3  _  u  +  5  Allidens  |  libentissime 

3  _  u  +  5  Cum  grata  |  gallicinia 

(II  123  Cum  quarta  gallic.  ist  ein  Druckfehler). 
5  vj  _  +  3  Summum  satörem  |  sölia 
3_u  +  5_u  +  3  Caelörum  |  summo  |  lümine 
5  —  vj  4-  3  Couterinis  |  frätribus 

4  _  u  +  4  Vale  väle  |  fidissime 

4  _  u  +  4  Per  profündam  |  indäginem 
4  _  u  +  4  Salutätus  \  supplicibus. 

Zu  meiden  sind  die  proparoxytonen  Einschnitte: 

3u  _  +  5  Prötegens  |  arundinibus  (1) 

3u_  +  5_u  +  3  Növies  bmos  [  circiter  (2) 

4  u  _  +  4  Doctiloqui  |  oraculi  (3) 

4  u  _  +  4  Ac  tötidem  |  torrentibus  (3) 

2  +  5u_  +  3  Orto  iübaris  j  lümine  (4) 

6u_  +  3  Sapiöntior  |  omnibus.  (4) 

Die  paroxytonen  Einschnitte  sind  überall  massenhaft  und  be- 
dürfen weiter  keiner  Erörterung.  Dagegen  scheint  es  nützlich^ 
die  proparoxytonen  Einschnitte  bei  Aethilwald  ge- 
nauer zu  prüfen. 

Vorerst  aber  ist  die  "Wortfügung  in  Betracht  zu  ziehen,  durch 
welche  das  entsteht,  was  ich  daktylischen  Wortschluß  ge- 
nannt habe.  Wenn  einem  proparoxytonen  Worte  eine  betonte 
Silbe  folgt,  wie  pericülis  Omnibus,  so  bleiben  die  beiden  Endsilben 
des  proparoxytonen  Wortes  absolut  unbetont.  Wenn  dagegen  das 
folgende  Wort  mit  einer  nicht  betonten  Silbe  anfängt,  wenn  sich 
also  3  unbetonte  Silben  folgen,  wie :  in  ömnibüs  pöriculis ,  so  er- 
hält die  mittlere  dieser  3  unbetonten  Silben  einen  Nebenaccent: 
in  omnibus  pericülis.  Deßbalb  sprechen  wir:  Dum  iüv6n6s  sümus, 
aber:  Jüvenes  dum  sümus.  Folgen  sich  4  unbetonte  Silben,  so  er- 
hält die  2.  oder  die  3.  den  Nebenaccent:  'ömnibös  in  pöriculis'  wird 
wohl  gesprochen  ömmbtts   in  pericülis,   aber:   Caösär  impörävisset. 

Den  rein  daktylischen  Wortschluß,  pericülis  omnibus,  habe 
ich  schon  öfter  besprochen:  s.  Ges.  Abb.  II  378  und  diese  Nach- 
richten 1908  S.  201.  Schon  die  Dichter  von  quantitirten  Jamben 
und  Trochaeen  haben  ihn  gemieden ;  dann  ist  er  in  der  Blüthezeit 
des  Mittelalters  von  den  rythmischen  Dichtern  meistens  stark  ge- 
mieden worden.     Aber   auch  im   frühen   Mittelalter   wird   er   von 


Proparoxytone  Caesurschlüsse  bei  Aethilwald.  633 

den  meisten  rythmischen  Dichtern  wenig  zugelassen.  Von  den 
obigen  Fällen  enthalten  no  2  Novigs  binos  circiter  und  no  4  Orte 
iübäris  lümine;  Sapiöntiör  Omnibus  sicher,  und  no  1  Protegöns 
ärundinibus  vielleicht  einen  solchen  daktylischen  Wortschluß,  und 
schon  dieser  Fehler  kann  bewirkt  haben,  daß  diese  Einschnitte 
selten  zugelassen  sind. 

Der  2.  Fall:  Räbidi  röstri  rictibus  gehört  vielleicht  gar  nicht 
hierher.  Denn  dem  Zeilenschluß  rictibus  geht  ja  zunächst  der  rich- 
tige paroxytone  Einschnitt  röstri  voran.  Wenn  also  die  Zerlegung 
der  5  ersten  Silben  in  rabidi  röstri  gemieden  wird,  so  ist  das  viel- 
leicht nur  geschehen,  um  den  daktylischen  Wortschluß  zu  ver- 
meiden. Jedenfalls  ist  diese  Theilung  ziemlich  selten:  etwa  24 
unter  den  586,   z.  B.  im  5.  Gedicht  Vers  20  38  42  47  53  und  67. 

Dagegen  sicher  ist  der  falsche  Einschnitt  in  no  4 :  Situ  roscTdÖ 
röbora.  Mit  einem  fünfsilbigen  Anfangsworte,  wie  SapientiÖr  Om- 
nibus kommt  diese  falsche  Theilung  bei  Aethilwald  gar  nicht  vor. 
Auch  von  der  zerlegten  Bildung  Ore  halitüm  corpore  finden  sich 
höchstens  10  Beispiele,  in  denen  öfter  velüti  den  falschen  Ein- 
schnitt bildet:  142  erütä.  160;  119  11  30  labäro.  32  velüti.  140; 
III  13;  IV  16  velüti.  47;  V  37  velüti. 

Im  Einschnitt  der  1.)  Art:  Hostium  j  a  ferocibus  oder  Prote- 
gens  I  ärundinibus  wird  man  lieber  die  4.  als  die  3.  Silbe  mit 
Nebenaccent  belegen.  Dann  bilden  die  2.  und  3.  Silben  den  be- 
denklichen daktylischen  Wortschluß.  Jedenfalls  ist  dieser  Ein- 
schnitt bei  Aethilwald  sehr  selten.  Denn  gegenüber  etwa  33  Zeilen 
zu  3-  w  +  5  (Pulsabat  promontoria)  finden  sich  nur  die  8:  I  144 
Concüti  I  et  (so,  und  nicht  ac.  hat  die  Hft)  creporibus;  II  57  Ab- 
strähunt.  85  Prosilit.  136  Mundo  et ;  III  24  Tribüat.  27  Alma  per. 
43  Hostium.  44  Protögens. 

Es  bleibt  der  3.  Fall  mit  dem  Einschnitt  nach  4u_:  Undi- 
sönis  j  fragöribus.  Leg^ntibüs  |  per  ävias.  Daktylischer  Wort- 
schluß entsteht  hier  nicht ;  denn  die  4.  Silbe  wird  mit  dem  Neben- 
accent  belegt;  wie  wir  sprechen  und  singen:  Jüvenes  dum  sümus. 
Aber  doch  zeigt  die  Statistik  ein  seltsames  Verhältuiß.  Von  Aethil- 
walds  586  Achtsilber  sind  etwa  330  nach  der  4.  Silbe  zerschnitten. 
Von  diesen  Einschnitten  haben  aber  289  Paroxytonon  vor  diesem 
Einschnitt  und  höchstens  30  Proparoxytonon,  Ich  habe  schon 
(Auspicius  S.  205)  gezeigt,  daß  kein  mechanischer  Grund  der  la- 
teinischen Prosodie  vorliegt,  weßhalb  Einschnitte  wie  Perfrüöris  [ 
angelicum  seltener  sein  sollten  als  der  Einschnitt :  Perfruaris  |  an- 
gelicum.  Sie  sind  aber  bei  Aethilwald  viel  seltener ;  ja  von  den 
77  Zeilen  des  V.  Gedichtes  haben  45  Zeilen  den  Einschnitt  4_u-h 


634  Wilhelm  Meyer,  die  Verskunst  der  Iren. 

4  u  _,  keine  einzige  den  Einschnitt  4u._  -\-4^  —  .  Der  Grund  ist 
wohl  der  gewesen,  daß  Aethilwald  die  Zeile  nicht  zerlegen  wollte 
in     2    Viersilber    von   ganz    gleichem    Tonfall   u_t.w^4- 

Zur  Nachprüfung  seien  die  Verse  4vj_  hier  aufgezählt:  I  40 
(furirent?).  75.  83  (Zodiacus).  85  Quem  Mazaroth.  101  (?).  103.107. 
116.  143.  187.  (10)— II  5.  12.  50.  55.  58.  65  Tum  agape.  87.  104 
Carismatum.  109.  114.  117.  119.  122.  142.  170.  173  Thoracidas. 
175.  (17)— HI:  Ox— IV  1.  6(?).  50(?).  54.  (4)— V:  Ox—  also  im 
Ganzen  höchstens  31  Zeilen  zu  4u_  +  4u_. 

Die  Achtsilber  des  Aethilwald  haben  also  immer  einen  Caesur 
ähnlichen  Einschnitt  und  zwar  nach  der  3.  oder  4.  oder  5.  Silbe. 
Dieser  Einschnitt  tritt  in  der  Regel  ein  nach  einem  paroxytonen 
Wortschluß,  selten  nach  einem  proparoxytonen. 

Ich  möchte  noch  auf  einen  Punkt  hinweisen.  Ich  beobachtete, 
wie  viele  Achtsilber  des  Aethilwald  beginnen  mit  einer  Silbe,  auf 
der  voller  Accent  liegt  oder  wenigstens  ein  Nebenaccent.  Z.  B. 
von  den  77  Zeilen  des  5.  Gedichts  beginnen  nur  5  mit  einer  nicht 
accentuirten  Sübe  25(?).  44(?).  48.  72  und  74.  Sollte  das  viel- 
leicht mit  germanischer  Vortragsweise  zusammenhängen  ?  Allein 
es  hat  wohl  seinen  mechanischen  Grund  in  der  Betonungsweise  der 
lateinischen  Wörter  und  in  den  Einschnitten  dieser  Verse.  Von 
den  77  Zeilen  des  V.  Gedichtes  haben  45  den  Einschnitt  4_u. 
Von  diesen  4  Silben  muß  die  erste  Silbe  vollen  Accent  oder  Neben- 
accent haben :  Vale  vale ;  Philochriste ;  Quem  in  cördis ;  Sälutatus ; 
Per  profündam  usw.  Wenn  der  Einschnitt  nur  nach  der  3.  Silbe 
fällt,  dann  beginnt  die  Zeile  meist  mit  einer  unbetonten  Silbe,  so 
V  48.?  72  Robüstum*  per  suffragium.  So  erklärt  sich  ziemlich 
einfach,  weßhalb  diese  Achtsilber  so  oft  mit  einer  betonten  Silbe 
beginnen. 

Und  doch  zeigt  die  Statistik  eine  auiFallende  Thatsache.  Mehr 
als  ein  Drittheil  der  Achtsilber  sind  nach  der  5.  Silbe  einge- 
schnitten. Die  5  Anfangssilben  sind  meistens  durch  2  Wörter  ge- 
bildet, wie :  V  4  Cingo  amoris  vinculo,  10  Clärum  creävit  actibus, 
19  Tamen  adgressi  gaudiis,  21  Sümmo  satore  sobolis ;  ebenso  V  22 
27  28  29  31  32  33  39  43  49.  In  all  diesen  Versen  könnten  ebenso 
gut  die  beiden  ersten  Wörter  umgestellt  sein:  Satore  sümmo, 
Amoris  cingo  usw.  Nur  in  einem  einzigen  Verse  ist  die  Wort- 
stellung umgekehrt:  74  Cael^stis  sceptri  gremium.  Weßhalb? 
Wenn  der  Dichter  mit  einer  vollbetonten  Silbe  seinen  Vers  be- 
ginnen wollte,  so  hat  es  einen  Sinn,  daß  er  die  zweisilbigen  Wörter 
voranstellte   und    die   dreisilbigen    folgen   ließ.        Vielleicht   aber 


Caesurschluß  bei  Aethilwald.  635 

sprach  hier  eine  ganz  andere  Sache  mit,  nemlich  die  Rücksicht  auf 
die  Alliteration.     Im  I.  Gedicht  finden  sich  die  Verse: 

3  Tiiis  pnlsätns  precibas      obnixe  flagitantibus 
5  ymnista  cärmen  cecini       atque  rem  sponsam  reddidi. 
53  Quae  catervatim  caelitus       crebräntor  nigris  nubibus 
55  neqne  caelorum  culmina       cärent  nocturna  nebula. 
81  Tunc  pari  lance  limpida      Lfbrae  torpebat  tmtina, 
145  Tum  tändem  cürsu  caterva      confracta  linquens  limina. 

Vgl.  ZeUe  92  131  136  164  191  195.     - 

Die  von  mir  accentuirten  Wörter  konnten  leicht  umgestellt 
werden,  wie 

145  Tum  cursu  tandem  caterva      linquens  confracta  limina, 

allein  dann  würden  alliterirende  Wörter  getrennt.  Vielleicht  wäre 
das  gegen  die  Regel  des  Dichters  gewesen. 

Die  Hauptregeln  der  ambrosianischen  Achtsilber  des  Aethil- 
wald sind  also  : 

Jede  Zeile  zählt  8  Silben. 

Fast  alle  Zeilen  schließen  mit  Proparoxytonon.  Schließt  eine 
Zeile  mit  Paroxytonon  (wie  37  schließen),  so  muß  das  betreffende 
Wort  mindestens  3  Silben  zählen;  also:  Astra  convexi  Olimpi, 
nicht:  Convexi  Olimpi  ästra. 

Jeder  Achtsilber  muß  um  die  Mitte,  also  nach  der  3.  oder  4. 
oder  5.  Silbe,  durch  ein  Wortende  getheilt  sein.  Dieser  Wort- 
schluß soll  in  der  Regel  paroxytonon  sein.  Proparoxytoner  Wort- 
schlnß  kann  als  Ausnahme  beim  Einschnitt  nach  der  4.  Silbe  ein- 
treten, viel  seltener  beim  Einschnitt  nach  der  3.  oder  5.  Silbe. 

(Reim  und  Alliteration  bei  Aethilwald).  Die  beiden 
Zierrate  der  schönen  Rede,  Reim  und  Alliteration,  welche  die  la- 
teinischen Dichter  der  Iren  gern  und  mit  Eifer  angewendet  haben, 
spielen  auch  in  den  lateinischen  Dichtungen  ihrer  Schüler,  der 
Angelsachsen,  eine  bedeutende  Rolle.  Einsilbiger  Reim  der 
letzten .  der  8.  Silbe  war  hier  das  Ziel.  Aber ,  wie  die  Iren 
diese  Regel  nicht  selten  verletzten,  so  manchmal  auch  diese  angel- 
sächsischen Dichter.  Schließen  von  den  586  Kurzzeilen  nicht  we- 
niger als  37  gegen  die  Regel  mit  Paroxytonon,  so  sind  der  Ver- 
letzungen der  Reimregel  beträchtlich  weniger  :  nur  11  (13).  In  8 
(10)  Reimpaaren  schließen  die  Silben  is  :  us.  So  II  5/6  mellificis  : 
vorsibus ;  11/12  sceduüs  :  Sedulius ;  39/40  horridis  :  imbribus ;  41/42 
viribus  :  strennuis;  175/6  auriferis  :  capitibus;  HI  29  30  fortibus  : 
humeris ;  37/8  teterrimus  :  gremiis ;  V  27/8  crinibus  :  nitidis ;    dazu 


636  Wilhelm  Meyer,  die  Verskunst  der  Iren. 

Epistolae  Merow.  I  429, 4  angelicis  :  milibus  und  430,  5  angelicis  : 
legionibus.  Dazu  kommen  die  3  Fälle :  II  27  trüicibus  :  humeros  ; 
II 49/50  vortices  :  fragoribus ;  III  35/6  omnipotens  :  tenebris.  Also : 
wie  die  irischen  Dichter  die  Kette  der  lateinischen  Reime  hier  und 
da  unterbrachen  (s.  oben  S.  621/623),  so  auch  diese  angelsächsischen. 

Ehwald  ist  hier  anderer  Ansicht.  Nach  seiner  Ansicht  ist  das  I. 
Gedicht  von  einem  andern  Verfasser  geschrieben  als  die  folgenden  4  Ge- 
dichte (no  II — V).  Einen  Beweis  dafür  findet  er  (S.  522  Mitte)  auch 
darin,  daß  der  Dichter  von  no  I  nur  Heime  gebrauche,  in  denen  der  Vocal 
der  letzten  Silbe  und  der  oder  die  etwa  folgenden  Consonanten  gleich 
seien,  daß  dagegen  der  Dichter  von  no  11 — V  zufrieden  sei,  wenn  nur  der 
letzte  Buchstabe  der  letzten  Silbe  gleich  sei ;  ihm  seien  also  us  :  is ,  us  :  es, 
es  :  US  und  ens  :  is  genügende  Reime.  Diese  Regel  habe  dieser  Dichter 
(Aethilwald)  ja  selbst  in  dem  Briefe  an  Aldhelm  (S.  497,1)  ausgesprochen, 
wo  er  von  seinen  Zeilen  spreche:  octenis  syllabis  in  uno  quolibet  vorsu 
compositis,  una  eademque  littera  comparis  (d.  h.  comparibus)  linearum  tra- 
mitibus  aptata. 

Das  wäre  eine  wichtige  Sache!  Es  kommt  ja  oft  vor,  daß  Schluß- 
silben reimen,  welche  nach  gleichen  Vocalen  mit  ungleichen  Consonanten 
schließen  (Assonanz),  wie  mentis  :  consentit.  Aber  daß  nur  die  schließenden 
Consonanten  den  Reim  tragen,  daß  also  *it  :  ent'  'us  :  es'  'im  :  um'  reimen 
sollen,  das  ist  mir  wenigstens  eine  neue  Reimform,  an  die  man  höchstens 
im  Rudlieb  (ed.  Seiler  S.  144)  gedacht  hat.  Für  eine  solche  Lehre  braucht 
es  solide  Beweise.  Erwägen  wir  die  Thatsachen.  Das  I.  Gedicht  ent- 
hält 200  Kurzzeilen  =100  Langzeilen  oder  Reimpaare.  Die  Gedichte 
no  II,  III,  IV  und  V  enthalten  386*  Kurzzeilen  =  193  Langzeilen  oder- 
Reimpaare.  Von  diesen  386  Kurzzeilen  schließt  etwa  die  Hälfte  mit  einem 
der  5  Vokale;  wenn  der  Dichter  die  Regel  hätte,  daß  der  letzte  Buchstabe 
der  Reimzeilen  gleich  sein  müsse,  gut,  so  war  er  hier  gezwungen  limina  : 
caterva,  numero  :  calculo  usw.  zu  binden.  Aber  gut  die  Hälfte  jener  193 
Reimpaare  schließt  mit  einem  Consonanten  (etwa  21  mit  m,  9  mit  r,  3 
mit  t  und  70  mit  s) :  wenn  dieser  Dichter  die  Regel  hatte,  daß  zum  Reim 
die  Gleichheit  des  schließenden  Consonanten  m  :  m,  r  :  r,  s  :  s  und  t  :  t 
genüge  :  gut,  so  reimte  er  horridis  mit  imbribus,  vortices  mit  fragoribus, 
und  kümmerte  sich  nichts  um  die  Vocale  der  letzte  Silben. 

Aber  er  hat  sich  gar  sehr  um  die  Vocale  der  letzten  Silben  ge- 
kümmert. Von  193  Reimpaaren  haben  182  vor  den  gleichen  Schlußcon- 
sonanten  auch  gleiche  Vocale,  nur  11  bilden  eine  Ausnahme  und  reimen 
(8  x)  US  :  is,  und  (3  X)  us  :  os  oder  us  :  es  oder  is  :  es. 

Diese  1 1  Reimpaare  sind  also  nur  einer  Nachlässigkeit  zuzuschreiben, 
die  sich  auch  bei  den  irischen  Lehrern  (s.  S.  621/623)  findet.  Fragt  man  weiter, 
weßhalb  diese  11  Ausnahmen  alle  mit  s  schließen,  so  antworte  ich:  das 
ist  ein  Zufall,  aber  ein  sehr  begreiflicher;  denn  die  Endsilben  mit  's'  sind 
außerordentlich  häufig,  von  den  oben  erwähnton  206  Kurzzeilen  haben  als 
Schlußconsonant  m  42,  r  18,  t  6:  aber   140  Kurzzeilen  endigen  mit  s. 

Für  die  586  Kurzzeilen  unserer  5  Gedichte  ergibt  sich  also  die  That- 
sache,  daß  sie  paarweise  gereimt  sind  und  daß  dieser  Reim  in  den 
letzten  Silben  gleichen  Vokal  und,  wenn  dem  Vocal  noch  Consonanten 
folgen,  auch  gleiche  Schlußconsonauten  verlangt:  camara  :  machinaj    aothe- 


Alliteration  bei  Aethilwald.  637 

reum  :  gremium;  lucifer  :  flaminiger;    tempestas  :  vastitas;    vocitet  :  clamitet; 
fremitans  :  crepitans. 

Ehwald  p.  522  behauptet,  Anderes  lehre  der  Dichter  Aethilwald  selbst: 
sufficere  unius  litter  ae  concordiam  epistula  Aethilwaldi  p.  497,1  testatur. 
Da  sagt  Aethilwald,  in  seinen  Achtsilbem  sei  Hina  eademque  littera  com- 
paris  linearum  tramitibus  aptata'.  Comparis  steht  statt  comparibus  und  die 
compares  tramites  linearum  sind  die  2ieilenpaare.  Aethilwald  hätte  sagen 
sollen:  littera  (vocali  et,  si  sequitur.  consonanti),  aber  er  hat  den  breiten 
Ausdruck  gekürzt.  Auch  ich  nenne  'culmina  :  nebula ;  reperimus  :  anti- 
quitus'  kurz  'einsilbige'  Reime,  obwohl  die  Consonanten,  welche  die  letzten 
Silben  beginnen,  verschiedene  sind. 

Gleich  sein  muß  also  der  Vocal  der  letzten  Silbe  und,  wenn 
diesem  noch  Consonanten  folgen,  auch  diese  Consonanten.  Verboten 
ist  bei  Aethilwald  bloße  Assonanz  (am  :  at)  oder  bloße  Alliteration 
der  letzten  Silbe  (ant  :  unt).  Derselbe  Reim  kann  mehrere  sich 
folgenden  Paare  binden.  So  reimen  I  13 — 18  auf  a,  105 — 109  und 
111 — 116  und  133 — 138  auf  ibas,  usw.  Der  Reim  ist  regelrecht 
einsilbig.  Natürlich  stellt  sich  sehr  oft  zweisilbiger .  oft  dreisil- 
bilger,  ja  mitunter  viersilbiger  Reim  ein :  minacibus  :  arcibus ;  fri- 
goribus  :  calorlbus;  culmine  :  fulmine;  torrentibus  :  lucentibus ;  arie- 
tibus  :  parietibus. 

Die  Alliteration  bei  Aethilwald  ist  ebenfalls  viel  häufiger 
und  regelmäßiger  als  bei  seinen  Lehrern,  den  Iren.  Dieser  Binnen- 
reim der  Zeilen  ist  bei  Aethilwald  allerdings  nicht  so  regelmäßig 
wie  die  Kette  der  Schlußreime. 

Wie  der  Schlußreim  je  2  Kurzzeilen  zu  einer  Langzeile,  einem 
Reimpaar,  zusammenbindet,  so  ist  auch  das  Arbeitsfeld  des  Innen- 
reims, des  Stabreims,  auf  diese  Langzeilen  beschränkt. 

Zunächst  gibt  es  ziemlich  viele  Langzeilen,  in  denen  kein 
Stabreim  zu  finden  ist.     So  im  ersten  Gedicht: 

31  2  Quibus  bis  sena  nomina        indiderunt  volumina. 
63/4  Germanae  Phoebi  numina       atque  praeclara  lumina. 
vgl.  85  6  159/60  171/2.      Anderseits  gibt  es   ziemlich   viele  Lang- 
zeilen, deren  eine  Hälfte  Stabreim  aufzeigt ,    während   die  andere 
Hälfte  keinen  Stabreim  hat;  so  im  I.  Gedicht: 

107/8  Oceanus  cum  molibus       atque  diris  dodrantibus 

109/10  Pulsabat  promontoria      suffragante  victoria. 
vgL  I  97,8  120  122  174  178. 

Der  Stabreim  kann  also  in  einer  Kurzzeile  oder  in  den  beiden 
Kurzzeilen  einer  Langzeile  fehlen.      Das    bewirkt    oft   eine    Un- 
sicherheit.    Z.  B.  läge  es  nahe,  daß  in  Zeüen,  wie :  — 
I  25/6  Et  rupto  retinaculo       de-sevirent  in  seculo. 
I  41/2  Tremebat  tellus  turbida      atque  e-ruta  robora. 


638  Wilhelm  Meyer,  die  Verskunst  der  Iren. 

I  113/4  In-fligendo  flaminibus       scopulosis  marginibus, 

II  77/8  Tandem  de-curso  concite      per-longi  callis  limite. 
I  195/6  Grates  dicamus  dulciter      manenti  im-mortaliter. 

IV  77/8  Maneat  im-mortaliter      fine  tenus  feliciter  — 

die  Stammwörter  der  Composita  mitreimen.  Allein  da  hier 
kein  Reimzwang  herrscht,  ist  die  Entscheidung  unsicher. 

Unter  den  Epistolae  Merowingici  aevi  1  sind  S.  428  zehn  und 
S.  430  acht  Langzeilen  der  Berthgyth  gedruckt,  in  denen  die  An- 
fänge der  2  Kurzzeilen  alliteriren.  Diese  Zeilen  lehren  wenigstens 
Einiges. 

Vale  vivens  feliciter      ut  sis  sanctus  simpliciter. 
Ut  armata  angelicis      vallata  legionibus. 

Also  bildet  der  Vocal  U  mit  dem  Consonanten  V  Stabreim, 
Ebenso  zeigt  der  Vers 

Clara  Christi  dementia      celse  laudis  in  secula, 

daß  ca  CO  cu  mit  ce  ci  Stabreim  bildet,    was  für  viele  Langzeilen 
des  Aethilwald  wichtig  ist,  wie 

V  27  Capud  candescens  crinibus       cingunt  capilli  nitidis. 
V  3/4  Quem  in  cordis  cubiculo       cingo  amoris  vinculo. 
S.  429  Angelorum  laetissima      aethralea  laetitia. 

Hier  kommt  es  in  an  und  ae  nur  auf  das  a  an ;  für  den  Aethil- 
wald waren  alle  anfangenden  Vocale  gleich werthig,  wie 

in  3/4  Alti  Olympi  arcibus       obvallatus  minacibus. 

I  115/6  Quid  dicam  de  ingentibus      altithroni  operibus. 

II  79/80  Edem  almam  adiere,      patria  quam  petivere. 

II  129/30  Cumque  proles  progreditur,       ovorum  alvo  oritur. 

IV  69/70  Ulis,  illis  in  omnibus      aequalem  dico  actibus. 

V  39/40  Aures  auscultant  omnia      verba  ex  ore  prodita. 

Schwer  ist  es  deßhalb  zu  entscheiden,  ob  h  als  Consonant  ge- 
rechnet wurde,  z.  B.  in 

II  26  Paria  namque  per  fabricam      aethralis  heri  vegetam. 
II  39  Quae  fugax  Orcus  horridis      timet  telorum  imbribus. 
Darf  z.  B.  der  Vers  Epistolae  Mer.  I  430 : 

Have,  care  crucicola,      salutate  a  sorore, 
wo  die  Hft  hat  'salutata  a  sorere',  umgestellt  werden  zu?: 
Have,  care  crucicola,      a  sorore  salutate. 
Der  eigentliche  Bezirk  des  Stabreims  ist  also  die  Langzeile, 
das  Reimpaar  von  Achtsilbern.   Der  Stabreim  kann  beschränkt  sein 
auf  je  ein  Wort  in  jeder  Kurzzeile : 


Alliteration  bei  Aethilwald.  639 

II  61  2  Oberrartes  per  devia      domosi  ruris  liinina 

11  81,2  Tibi  Petri  corpuscnlum       iacet  tellure  conditum. 

n  83/4  Tum  alter  e  felicibus      couterinis  fratribus. 

Doch  ist  diese  einfache  Alliteration  etwas  dünn  im  Klange 
und  deßhalb  selten.  Lieber  werden  die  alliterirenden  "Worter 
eng  zusammengerückt;  so  sehr  oft  in  die  eine  Kurzzeile  des 
Paares,  während  die  andere  Knrzzeile  ohne  Alliteration  bleibt. 
"Wie  bei  den  Iren,  ist  die  haufenweise  Alliteration  am  beliebtesten 
und  sie  tritt  überall  hervor.  Besonders  beliebt  ist  die  Form^  daß 
der  Buchstabe,  welcher  2  oder  3  Wörter  in  der  ersten  Kurzzeile 
anfängt,  auch  das  erste  Wort  der  zweiten  Kurzzeile  anfängt  und 
so  die  beiden  Kurzzeilen  der  Langzeile  zusammen  bindet: 

I  97/8  Quorum  natura  nubibus       procedit  conlidentibus. 

I  lOT/B  Oceanus  cum  molibus       atque  diris  dodrantibus. 

Epist.  I  428  Profecto  ipsum  precibns       peto  profusis  fletibus. 

I  67/8  Sicut  solet  sepissime       auratum  sidus  surgere. 

I  137/S  His  tantis  tempestatibus       ac  terrorum  turbinibus. 

I  147/8  Portum  petit  basilicae       populante  pernicie. 

I  127/8  Tum  binis  stantes  classibus       celebramus  concentibus. 

I  131/2  En  statim  fulcra  flamine      nutabant  a  fundamine. 

Ep.  I  429  Paradisi  perpetuis      perdurantes  in  gaadiis. 

I  125/6  Suscitarent  sonantibus       somniculosos  cantibus. 

I  133  Tigna  tota  cum  trabibus       tremibunda  ingentibus. 

I  167  Ecce  casae  cacumina      cadebant  ad  fundamina. 

Hiezu  gesellt  sich  in  sehr  zahlreichen  Fällen  eine  Verstärkung 
der  alliterirenden  Vortragsweise,  indem  in  der  nemlichen  Lang- 
zeile zwei  aUiterirende  Wortverbindungen  einander  rasch  folgen 
oder  sich  mit  einander  mischen.  Am  häufigsten  ist  natürlich  die 
Art  der  Mischung,  daß  der  eine  Stab  die  eine,  der  andere  die  an- 
dere Kurzzeile  besetzt. 

I  65/6  Xeque  flagrabat  flammiger      ductor  dierum  Lucifer. 
I  69  70  Sed  caecatur  (so!  die  Hß)  caligine      velud  furva  fuligine. 
I  71/2  Plaustri  plane  pulcherrima      non  conparent  curricula. 
I  117  8  Quae  nullus  nequit  numero      conputare  in  calculo. 

Sehr  beliebt  ist  auch  die  Variation,  wie  in: 

I  145/6  Tum  tandem  cursu  caterva      confracta  linquens  limina. 

II  17/8  Pepulisse  pemiciter      parum  sistens  stabiliter. 
II  41/2  At  vos  famosi  viribus      viri  sudantes  strennuis. 

Aber  auch  die  andern  Vermischungen  zweier  Stäbe  sind  zu 
finden: 


640-  Wilhelm  Meyer,  die  Verskunst  der  Iren. 

V  11/2  Forma  et  visu  virilem      facto  et  dicto  senilem. 
n  67/8  Gradientes  sublimia      Petri  petunt  suffragia. 
Epp.  I  428  Vivamus  soli  domino      vitam  semper  in  seculo. 
II  9  Stili  calamo  stridulo      caraxante  persedulo. 

II  85/6  Prosilit  de  ergastulo      carnis  evulsus  clanculo. 

III  41/2  En  pilorum  acerrima      parma  pellat  acumina. 

Einige  Zeilen  aus  dem  4.  Gredicht  mögen  die  mannigfachen 
Spielarten  der  Alliteration  illustriren  : 

IV  17  Astra  Olimpi  ignito       ardai  orbi  vegeto 

19  larem  librant  lucifluam,      lustrant  axis  ignifluam 

21  molem  mundo  minacibus      eminentem  cum  arcibus; 

23  Fumam  furvam  frigoribus      foci  conplent  caloribus, 

25  celi  iubar  e  culmine       croceo  fundunt  fulmine. 

27  Titan  tremet  torrentibus      taedis  late  lucentibus 

29  passim  orbis  per  marginem      ad  usque  caeli  cardinem. 

31  Phoebe  quoque  flagrantibus       fratrem  iuvat  ardoribus, 

33  noctem  nigram  nubiculis       lucens  lustrat  corniculis. 

35  Ambo  spargunt  spiramina,       ignis  aethralis  lumina, 

37  neque  nocent  nitoribus       nemorosis  cespitibus 

39  ruris  rigati  rivulo       roscidi  roris  sedulo. 

41  Sed  lutosam  liquoribus       tellurem  umectantibus 

43  arebant  astra  ignito       torrentis  globi  iaculo. 

Wie  es  durchaus  erlaubt  ist,  daß  der  Reim  eines  Reimpaares 
im  folgenden  Reimpaar  wiederkehrt,  so  kann  auch  derselbe  Stab- 
reim in  2  sich  folgenden  Langzeilen  vorkommen: 

I  53/4  Quae  catervatim  caelitus      crebrantur  nigris  nubibus. 
55/6  neque  caelorum  culmina       carent  nocturna  nebula. 

Vgl.  hierzu  I  28  und  29;  34  und  35;  60  und  61  usw. 

Alliteration  in  angelsächsischer  Prosa.  Aldhelm,  Aethil- 
walds  Genosse,  wendet  in  seinen  Hexametern  den  Schmuck  der  Al- 
literation oft  an.  Seine  Prosa  gibt  Zeugnisse  in  Fülle,  daß,  wie 
die  Iren,  so  auch  die  Angelsachsen  auch  in  der  Prosa  diesen  Rede- 
schmuck gern  anwendeten.  Ich  führe  nach  Ehwald's  Ausgabe  nur 
wenige  Verbindungen  hier  an :  ,  p.  61  provida  .  .  praecordia — 
pignus  pepigisse  et  spiritali  sodalitatis  —  p.  62  caritatis  contu- 
bernia  copulasse  —  palmitibus  pululasse  —  septeno  sapientiae  —  sep- 
tiformis  sacramentorum  n.  sacrosanctis  —  replicatione  revolvens  — 
campestrium  cauliculos  —  coacervans  ad  unius  coronae  texturam 
congerere  —  propatulo  patescat  cunctisque  scrutinio  scrutantibus 
luce  limpidius  clarescat  —  processerint ,   pululaverint,    viguerint  — 


Alliteration  bei  Aethilwald.    Zeilengruppen  bei  Aethilwald?  641 

p.  63  in  ictu  et  atomo  — .  p.  74  clanculo  cordis  cogitatu  ep. 
perscrutans  rust.  perquirat  et  percontetur  cur  septinariae  suppu- 
tationis  calculus  —  canonem  .  .  coactos  congesseram  iterom  atque 
iterum  septnplo  et  septnplo  perplexa  revolutione  replicetur  —  re- 
colat  et  reminiscatar  —  fragilis  et  gracilis  ingenii  frutices  et  nut. 
verbomm  vimina  usw.  Besonders  bei  den  mit  et  oder  atque  ver- 
bundenen Ausdrücken  spielt  die  Alliteration  (oder  der  Reim)  eine 
große  Rolle :  carnali  et  corruptibili  —  conciliasse  et  copulasse  — 
recuperentur  et  recalescant  —  plus  absentia  pulsat  quam  praesentia 
pascat  —  nunc  grandem  nunc  gracilem  —  strictim  summatimque  — 
rimanda  ac  recensenda  —  contribulibus  et  coaetaneis  —  commentando 
et  coacervando. 

Kurzzeilen,  Langzeilen.  Strophen  bei  Aethilwald.  In 
den  lateinischen  Gedichten  wird  seit  der  Zeit  des  Augustus  die 
Gliederung  der  Kurzzeilen.  Langzeilen  und  Gruppen  oder  Strophen 
immer  mehr  geregelt.  Bei  den  Iren  werden  bestimmte  Kurzzeilen 
zu  Langzeilen  verbunden,  welche  der  Reim  und  mindestens  schwache 
Sinnespausen  schließen.  Zwei  solcher  gereimter  Langzeilen  bilden 
eine  Gruppe  oder  Strophe.  Die  quantitirenden  Achtsilber  hat 
Ambrosius  zu  vierzeiligen  Strophen  verbunden,  aber  so,  daß  der 
1.  Achtsilber  mit  dem  zweiten  und  der  3.  mit  dem  vierten  enger 
verbunden  ist  als  der  2.  mit  dem  dritten,  daß  also  die  ambrosi- 
anische  Strophe  aus  2  Langzeilen  von  8w_  +  8u_  besteht. 

Aethilwald  zeigt  dieselbe  Bindung  der  Kurzzeilen  zu  Lang- 
zeilen durch  den  Sinn,  durch  den  Paarreim  und  durch  den  Stab- 
reim: fraglich  ist,  ob  er  die  Langzeilen  zu  regelmäßigen  Gruppen 
oder  Strophen  vereinigt  hat. 

Stets  gehört  die  Kurzzeile  mit  der  ungeraden  Zahl  1.  3.  5 
usw.  mit  der  unmittelbar  folgenden  Kurzzeile  mit  der  geraden 
Zahl  2.  4.  6  usw.  enger  zusammen,  als  diese  geradzahlige  Kurz- 
zeüe  mit  der  ihr  folgenden  ungeraden ;  also  gehören  zusammen 
1  +  2,  3-f-4,  5  +  6  usw.  Auch  Aethilwalds  Dichtungsform  ist  also 
eigentlich  die  Langzeile  8o_  +  8u_.  Also  kann  kein  Gedicht 
z.  B.  81  Kurzzeilen  zählen,  sondern  nur  80  oder  82.  Am  bedenk- 
lichsten ist  Interpunction  in  der  Kurzzeile.  Der  bedenklichste  Fall 
ist  in  dem  verwickelten  Satze  III  9/15 

9  Cuius  imnensa  munera      nequeo  prorsus,  funera 
11  antequam  rictu  rabido       raptent  et  rodant  avido 
13  ore  halitum  corpore       mortis  rigente  torpore, 
15  carminare  concentibus       celsae  laudis  stridentibus. 

Hier  gehört  jedenfalls  nequeo  zu  carminare;   also   ist  vor  fu- 


642  Wilhelm  Meyer,  die  Verskunst  der  Iren. 

nera  die  Kurzzeile  durch  ein  Comma  zu  durchschneiden.  Aber 
weiterhin  ist  nicht  vor  corpore  ein  Comma  zu  setzen ,  sondern 
raptent  e  corpore  halitum  ist  eng  zu  verbinden.  III  25  betet 
Aethüwald  um  Gottes  Hilfe : 

23  Titubanti  tutamina       tribuat  per  solamina 

25  sacrosancta  sublimiter      suifragans  manu  fortiter 

27  alma  per  adminicula      hostium  demat  spicala. 

Hier  wird  nach  sublimiter  mit  ;  interpungirt  und  so  die  Lang- 
zeile zerrissen.  Es  ist  vielmehr  nach  solamina  mit  ;  zu  interpungiren 
und  sacrosancta  (=  sua  divina)  mit  manu  und  demat  zu  verbinden. 

Im  1.  Gedichte  droht  im  Sturm  die  Kirche  einzustürzen : 

137  His  tantis  tempestatibus       ac  terrorum  turbinibus 
139  nostra  pavent  praecordia       tot  monstrorum  prodigia, 
141  quando  cernebant  lumina      tectorum  laquearia 
143  horrisonis  fragoribus       concuti   et   (so   die  Hft.,  nicht  ac)    cre- 

poribus. 

Hier  setzt  Ehwald  nach  precordia,  Comma  und  nach  lumina: 
Doppelpunkt;  dagegen  Jaffe  hatte  mit  Recht  nur  nach  prodigia 
ein  Comma  gesetzt,  also  praecordia  pavent  prodigia  verbunden. 

Nach  diesen  Grundsätzen  ist  wohl  auch  der  Anfang  des  I.  Ge- 
dichtes so  zu  gliedern: 

1  Lector,  casses  catholice      atque  obses  anthletice, 
3  tuis  pulsatus  precibus       obnixe  flagittantibus : 
5  Ymnista  Carmen  cecini      atque  rem  sponsam  reddidi, 
7  sicut  pridem  pepigeram,       quando  profectus  fueram. 
9  Usque  diram  Domnoni^-m       per  carentem  Cornubiam 
11  florulentis  cespitibus       et  foecundis  graminibus 
13  Elementa  inormia      atque  facta  informia 
15  quassantur  sub  aetherea      convexa  celi  camara. 

Kurzzeile  1—8  enthält  die  persönliche  Einleitung,  9—16  den 
Anfang  der  Reiseschilderung.  Da  du,  lector,  casses  und  obses  (V. 
1  und  2)  mich  dringend  gebeten  hast  (V.  3/4),  so  habe  ich  Verse 
gemacht  und  habe  so  erfüllt  (V.  5/6),  was  ich  bei  der  Abreise 
versprochen  habe  (V.  7/8).  Auf  dem  Wege  bis  Domnonia  durch 
das  dürre  Cornubia  (V.  9/12)  rasten  die  Elemente  (V.  13/16). 
Jaffe  interpungirt:  Z.  5  cecini;  —  6  reddidi,  —  7  pepigeram,  — 
dann  12  graminibus.  —  16  camera,  dum.  Ehwald  dagegen:  6  red- 
didi, —   7  pepigeram.  —  Dann  12  graminibus,  —  16  cAmara,  dum. 

Zeilengruppen  —  Strophen.  Die  alten  rythmischen 
Gedichte  sind  fast  alle  in  Zeilengruppen  oder  Strophen  gegliedert. 


Zeilengruppen  bei  Aethilwald?  643 

Die  irischen  Gedichte  binden   die   Zeilen   von  8w_  gewöhnlich   in 

2  Langzeilen  von  8  u  _  +  8  ^  _  =  die  ambrosianische  Strophe. 
Aethilwald  liebt  langathmige,  aus  vielen  Kurzzeilen  bestehende 
Sätze,  aber  sie  lassen  sich  außerordentlich  oft  in  Absätze  von  2 
Langzeilen  zu  8u_  +  8u_  zerlegen.  Doch  nicht  immer.  Sehr 
selten  ist  eine  einzelne  Langzeile.  Das  ü.  Gedicht  erzählt  Vieles 
von  zwei  frommen  Männern,  in  der  3.  Person.  Plötzlich  schließt 
in  der  2.  Person  der  einzelne  Vers: 

183/4  Valetote  felicibns  vitam  clausuri  calcibus. 
Dagegen  mit  einem  Langzeilenpaar  schließen  das  1.  Gedicht 
(197—200  Doxa),  das  4.  (75—78  Tibi  salus)  und  das  5.  (75—78 
TJbi  semper).  Aber  das  3.  schließt  deutlich  mit  einer  untheilbaren 
Gruppe  von  3  Langzeilen  (41 — 46\  Ahnliches  ergibt  die  Unter- 
suchung der  Gedichte.  In  der  Regel  lassen  sich  leicht  Gruppen 
von  2  Langzeilen  scheiden,  aber  ziemlich  oft  sind  die  Gruppen  von 

3  Langzeilen  sicher.  So  zerfallen  im  5.  Gedicht  die  Zeilen  1 — 32 
und  39 — 78  deutlich  in  Gruppen  von  je  4  Kurzzeilen;  nur  33 — 38 
lassen  sich  nicht  trennen,  so  daß  hier  allein  eine  Gruppe  von  3  Lang- 
zeilen angenommen  werden  muß.  Diese  Gruppen  von  3  Langzeilen 
sind  auch  sonst  sicher.  Z.  B.  gehören  I  187 — 192  sicher  zu- 
sammen, worauf  dann  die  Gruppen  von  2  Langzeilen  193 — 196  und 
197 — 200  schließen.  Im  2.  Gedicht  wird  geschildert,  daß  die  Pilger 
sich  durch  keine  Gefahr  abschrecken  lassen :  nicht  durch  Seenoth 
(49 — 52),  nicht  durch  Räuber  (53—58)  und  nicht  durch  wilde  Thiere 
(59 — 64).  Ebenso  gehören  weiterhin  im  2.  Gedicht  eng  zusammen 
die  Kurzzeilen  77—82  und  83—88  und  89—94  und  95—100  und 
101 — 106,  also  5  Gruppen  von  je  3  Langzeilen. 

Man  hat  anderweitig  'die  Verwendung  ungleicher  Strophen 
neben  einander  als  ein  eigenthümliches  Kunstprinzip  der  deutschen 
Dichtung'  erklärt,  vgl.  MüllenhofF-Scherer,  Denkmäler,  3.  Ausg.  II 
S.  70  und  78.  Von  einem  solchen  Kunstprinzip  ist  bei  Aethilwald 
schwerlich  die  Rede.  Vielmehr  war  in  der  rythmischen  Dichtung 
Bindung  der  Zeilen  allgemein  Mode ;  Aethilwald  insbesondere  liebte 
lange  Satzverbindungen.  So  ist  es  fast  natürlich,  daß  sich  einzel 
stehende  Langzeilen  kaum  bei  ihm  finden.  Anderseits  sind  von 
diesen  5  Gedichten  die  2  ersten  und  längsten  epischer  Art,  nicht 
lyrischer,  wie  es  die  von  Blume  zusammengestellten  irischen  Ge- 
dichte sind.  Auch  die  beiden  Lobsprüche,  no  4  und  5,  sind  weltlicher, 
kaum  lyrischer  Art.     Nur  die  kurze  no  3,    eine  oratio  ad  deum  ^), 


1)  Ich  hätte  dieses    3.  Gedicht   des   Aethilwald   aufzählen   und   besprechen 
sollen  in  meiner  Arbeit   'Oratio    Bedae   presbyteri'    (^in    diesen   Nachrichten  1912 


644  Wilhelm  Meyer,  die  "Verskunst  der  Iren. 

ähnelt  den  von  Blume  gesammelten  Gedichten.  So  hat  Aethilwald 
sich  die  epische  Freiheit  gewahrt  und  beliebig  viele  Langzeilen 
miteinander  verbunden,  d.  h.  naturgemäß  regelmäßig  2  oder  3. 

Die  Formen  der  lateinischen  rythmischen  Dichtkunst  hatten 
die  Iren  mit  Eifer  aufgenommen  und  besonders  die  Künste  des 
Reims  und  der  Alliteration  weiter  entwickelt.  Aethilwald  folgt 
in  seinem  engeren  Arbeitsgebiet  der  rythmischen  Achtsilber  den 
Iren,  hat  aber  den  Schmuck  des  Reimes  und  der  Alliteration  regel- 
mäßiger angewendet.  Von  dem  einzelnen  Dichter  darf  man  auf 
mannigfache  und  vielseitige  Ausbildung  und  Ausübung  der  da- 
maligen poetischen  Technik  schließen. 


S.  232);  denn  die  beiden  Gedichte  sind  Zwillinge.  Von  Beda's  Gedicht  habe 
ich  jetzt  eine  zweite  Abschrift  gefunden  im  Book  of  Gerne  ed.  Kuypers ,  1902  p. 
217,  welche  meine  Arbeit  bestätigt,  aber  auch  verbessert;  vgl.  den  Schluß: 

audiat  angelico  dulces  qua  carmine  laudes 

Daviticoque  sacrum  personet  ore  melos. 

carmina  hat  die  Hft  O(rleans) ;  carmine,  was  ich  conjicirte,  hat  Ceme. 

Dauit  coque  hat  0 :  ich  conjicirte  quaque ;  Daviticoque  hat  Gerne. 


Uebersicht. 

I  Verekunst  der  Iren  (S.  605 — 628).  S.  606  Alle  Zeilen  sind  quanti- 
tii'enden  nachgeahmt.  S.  609  Silbenzahl.  Schlußcadenz.  Tonfall  im  Innern 
der  Zeile.  S.  610  Kurz-  und  Langzeilen.  Gruppen.  Strophen.  S.  611 
Accentfüße?  S.  612  Griechische  ßythmik  nachgeahmt?  S.  616  Reim 
(S.  619  Falscher  paroxytoner  Reim  nur  in  3  silbigen  Wörtern).  S.  621 
Reimlose  oder  schlecht  gereimte  Verse.  S.  623  Reimprosa.  S.  623 
Alliteration. 

II  Verskunst  des  Angelsachsen  Aethilwald  (S.  628—644).  S.  629 
Einrichtung  der  Handschrift.  Silbenzabl.  Schlußcadenz.  S.  630  Vers- 
Einschnitte,  bes.  nach  der  4.  Silbe.  S.  632  Propai'oxytone  Einschnitte. 
S.  635  Reim  bei  Aeth.  S.  637  AlHteration  bei  Aeth.  (S.  639  zwei  Stäbe). 
S.  641   Kurzzeilen,  Langzeilen,  Gruppen  bei  Aeth. 


Drei  Gothaer  Rythmen   aus   dem  Kreise   des  Alkuio. 

Von 

Wilhelm  Meyer  aus  Speyer 
Professor  in  Göttingen. 

Mit  einer  Tafel. 
Vorgelegt  in  der  Sitzung  Yom  20.  Mal  1916. 

Im  Jahre  1915  las  ich  in  R.  Ehwald's  Ausgabe  des  Aldhelm 
bei  der  Beschreibung  der  wichtigsten  Hft  des  Gedichtes  de  vir- 
ginitate,  I  75,  S.  330  die  Notiz:  In  extremis  foliis  Seduüani  co- 
dicis,  ut  etiam  illud  addam.  duo  leguntur  hymni  (cf.  etiam  Brit. 
Mus.  Reg.  2  A  XX)  Merowingica  scriptura  saec.  IX  exarati :  (A)ltus 
auctor  omnium  et  (Ar)rius  et  Sabellius,  quos  editurus  descripsit 
Blnmius.  Der  Verweis  auf  Brit.  Mus.  nützte  mir  nichts;  denn 
der  citirte  Text  ist  gedruckt  von  Kuj^ers,  The  Book  of  Gerne, 
Cambridge  1902,  S.  213;  aber  er  ist  nur  ein  prosaisches  Grebet, 
kein  Gedicht. 

Ich  bat  also  zu  weiterer  Aufklärung  um  eine  Photographie 
des  Gothaer  Textes,  weiß  auf  schwarz.  Doch  dazu  fehlte  in  Gotha 
die  Einrichtung.  So  hatte  R.  Ehwald  die  außerordentliche  Güte, 
den  ganzen  Text  für  mich  zu  copiren.  Da  stellte  sich  nun  heraus, 
daß  Blume  schon  1908  in  den  Analecta  hymnica,  Band  51  S.  302/5 
die  Hälfte  der  Verse  gedruckt  hatte.  Aber  zugleich  wurde  mir 
klar,  daß  eine  sorgfältige  Veröffentlichung  dieses  Denkmals  unserer 
Vorzeit  sehr  wünschenswerth  sei.  Eine  genaue  Photographie  gab 
mir  dann  die  sichere  Grundlage  für  die  weitere  Arbeit,  deren  Er- 
gebnisse ich  hier  vorlege. 

In  der  Handschrift  in  Gotha  I.  75  im  Ende  des  ersten  Be- 
standteiles, der  Abschrift  des  Sedulius  aus  dem  8.  Jahrhundert,  sind 

Kgl.  Qes.  d.  Wiss.  Nachrichten.  Phfl.-hist  Klasse.  1916.  Heft  5.  44 


646  Wilhelm  Meyer, 

von  einer  andern  Hand,  die  in  dieser  irisch-angelsächsischen  Hand- 
schrift sonst  nicht  vorkommt,  5  Seiten  mit  12  Spalten  beschrieben : 
Bl.  20b  mit  2  Spalten  (I  1—64),  Bl.  21a  und  21b  mit  je  3  Spalten 
(I  65—168  und  I  169—11  84),  endlich  Bl.  22  a  in  2  Spalten  mit  II 
85 — 144.  Am  Ende  der  Seite  22  a  bleibt  der  Raum  einer  6  zeiligen 
Strophe  leer  und  auf  der  Rückseite,  Bl.  22  b,  folgen  in  2  Spalten 
die  36  Zeilen  des  III.  Gedichtes ,  nach  dessen  Ende  mehr  als  die 
Hälfte  der  Seite  unbeschrieben  bleibt.  Es  sind  also  368  Zeilen 
von  ^iner  Hand  in  12  Spalten  geschrieben. 

Bisher  wurde  nur  von  '2  Hymnen'  gesprochen.  So  bei  Jacobs 
und  Ukert,  Beiträge  zur  älteren  Litteratur,  II  1836  S.  136 :  Auf 
der  Rückseite  fängt  ein  Hymnus  an,  welcher  von  einer  anderen, 
ebenfalls  alten,  aber  rohen  Hand  geschrieben  10  Spalten  füllt,  An- 
fang :  (0  deus)  auctor  omnium ;  und  nach  einem  leeren  Raum  fol. 
22  von  derselben  Hand  36  Verse ,  von  denen  durch  Beschneiden 
die  ersten  Silben  verloren  sind :  Anfang  [Ariujs  et  Sabellicus. 

Bruno  Krusch,  Neues  Archiv  IX  1884  S.  272,  notirt:  'Auf  die 
Rückseite  des  20.  Blattes  bis  fol.  22  b  hatte  schon  im  8.  Jahrhundert 
eine  Hand  in  merowingischer  Cursive  zwei  Hymnen  eingetragen: 
der  erste  beginnt  f.  20b:  '.  .  us  auctor  omnium';  der  zweite  über 
die  Häresien  des  Arius,  Sabellius,  Nestorius  und  Eutyches'. 
Fast  zu  gleicher  Zeit  beschrieb  Huemer,  Sedulii  opera  1885 
S.  VIII,  dieses  Stück  so :  alia  manu  scripti  leguntur  hymni  hi : 
f.  20  b  [J^Jltus  auctor  omnium  .  .  f.  21b  Benedicamus  dei  nato  (den 
Irrthum  Hemer's  hat  Blume  S.  305  corrigirt:  es  ist  der  verstüm- 
melte Anfang  der  Y-Strophe  von  I,  169);  f.  22  b  contra  haere- 
ticos:  [Arrijus  et  Sabellius. 

Endlich  hat  Clemens  Blume  in  den  Analecta  Hymnica  Bd.  51, 
1908,  in  der  Hymnodia  Hiberno-Celtica  saeculi  V. — IX.  S.  302 — 
305  das  I.  G-edicht  veröffentlicht  und  dazu  S.  305  bemerkt :  Auf 
dies  meines  Wissens  bislang  unedirte  Gedicht  folgt  ein  zweites 
Akrostichon,  in  dem  aber  alle  Verse  der  mit  A,  B  und  C  be- 
ginnenden Strophen  derart  geköpft  sind,  daß  ich  eine  Rekonstruc- 
tion  nicht  wage  .  ..  Die  Würdigung  des  dogmatischen  Gehalts 
dieses  Gedichtes  fällt  außerhalb  des  Rahmens  dieser  Textpubli- 
kation. 

Mir  schien  die  sonst  nicht  vorkommende  Schrift,  die  beispiel- 
lose rythmische  Form  und  der  seltsame  Inhalt  dieser  3  Gedichte 
einer  Untersuchung  werth,  und  ich  habe  viel  Mühe  daran  gewendet. 
Ich  bin  freilich  über  keine  der  drei  Fragen  zu  einer  abschließenden 
Antwort  gekommen,  aber  ich  hoffe,  den  richtigen  Weg  zu  ihrer 
Lösung  eingeschlagen  zu  haben.     Irre  ich  nicht,   so  werden  diese 


drei  Gothaer  Rythmen  aus  dem  Kreise  des  Alkuin.  647 

3  Rythmen  —  denn  um  Rythmen,  nicht  um  Hymnen  handelt  es 
sich  hier  —  eine  würdige  Fortsetzung  der  von  den  Monumenta 
Germaniae  durch  K.  Strecker  1914  veröffentlichten  Rythmi  aevi 
Merowingici  et  Carolini  bilden. 

Es  handelt  sich  also  um  3  Rythmen: 

I.  188  Zeilen  in  achtzeiligen  nach  dem  Alphabet  geordneten 
Strophen,  denen  man  den  Titel  geben  könnte:  De  trinitate  et  de 
Christo  deo  homine. 

II  f.  21b:  144  Zeilen  in  sechszeiligen  nach  dem  Alphabet  ge- 
ordneten Strophen,  welche  eine  Deprecatio  ad  deum  enthalten. 

III  f.  22  b:  36  Zeilen  in  drei  zwölfzeiligen  Strophen,  welche 
die  Lehrsätze  des  Arrius  und  Sabellius ,  des  Manichaeus  und  Pho- 
tinus,  endlich  des  Nestorius  und  Eutyches  nennen  und  bekämpfen. 

Zur  Untersuchung  der  Schrift  ist  eine  Probe  derselben  noth- 
wendig.  Außerdem  sind  mehrere  Spalten  durch  Beschneiden  oder 
durch  das  Einheften  geschädigt.  Deßhalb  habe  ich  eine  Tafel 
beigegeben,  auf  welcher  ich  die  4  schadhaften  Spalten  vereinigt 
habe.  Die  Originalblätter  haben  jetzt,  nach  R.  Ehwald's  Angabe, 
eine  Höhe  von  24, 5  cm,  eine  Breite  von  16  cm.  Die  4  von  mir 
zusammengestellten  Spalten  sind  die  ersten  Spalten  der  Seiten: 

1)  Bl.  20b  =  I  1-32.  Es  fehlen  1  oder  2  Buchstaben  im 
Zeilenanfang. 

2)  Bl.  21  a  ^  I  65—96.  Weggeschnitten  ist  nichts ;  aber  durch 
die  Heftscbnur  ist  öfter  der  1.  Buchstabe  verdeckt. 

3)  Bl.  21b  =  I  169—188  und  II 1—15.  Im  Anfang  der  Zeüen 
sind  3—5  Buchstaben  weggeschnitten. 

4)  Bl.  22  b  =  III  1—30.  Der  Anfang  der  Zeilen  mit  2—4 
Buchstaben  ist  weggeschnitten. 

Die  Schrift  der  Bythmen. 

Krusch  hat  die  Schrift  dieser  3  Rythmen  'merowingische  Cur- 
sive'  genannt.  Es  ist  richtig,  daß  die  Schrift  dieser  3  Rythmen, 
welche  in  der  ganzen  gothaer  Hft  nicht  wieder  vorkommt ,  mit 
den  angelsächsischen  Händen ,  welche  die  übrigen  Theile  der  Hft 
geschrieben  haben,  nichts  zu  thun  hat.  Die  Anfänge  der  Colamnen, 
die  Zeilen  der  Columnen  sind  durchaus  ungleich.  Offenbar  sind  in 
einem  Orte  des  Frankenreichs,  wo  die  Hft  sich  später  befand,  die 
5  Seiten  von  einer  festländischen  Hand  flüchtig  beschrieben  worden. 

Diese  Schrift  ist  nicht  angelsächsisch.  Sie  hat  merovingische 
Bestandtheile ,  ist  aber  weder  die  alte  groteske  merovingische 
Schrift,  noch  die  späte,  schul-  oder  kanzleimäßig  geregelte  mero- 
wingische Schrift,  die  in  den  Urkunden  Ludwig  des  Frommen  und 

44* 


648  Wilhelm  Meyer, 

seiner  Nachfolger  noch  erscheint.  Sondern  sie  ist  eine  Minuskel, 
eine  Buchschrift,  ähnlich,  wenn  auch  nicht  so  durchgebildet,  wie 
die  karolinger-  oder  die  angelsächsische  Minuskel  aus  dem  Anfang 
des  9.  Jahrhunderts.  Sie  ist  eine  Mischschrift,  welche  neben  den 
Resten  der  merovingischen  Schrift  viele  Spuren  der  Karolinger- 
minuskel  aufgenommen  hat  ^). 

Das  cursive  sogenannte  oifene  a  herrscht  noch  durchaus.  Es 
ist  dem  u  ähnlich,  nur  daß  der  2.  Strich  im  Wort  den  nächsten 
Buchstaben  anfaßt,  im  Wortschluß  aber  aufwärts  gekrümmt  wird, 
wie  Vers  15.  65.  70.  Das  karolingische  a  steht  nur  in  den  ersten 
Zeilen  von  I  einige  Male  (I  1.  2.  4.  6.  8.  18.  29.  30;  II  9),  sonst 
äußerst  selten.  Im  Zeilenanfang  steht  bald  das  cursive  bald  das 
Minuskel  a;  s.  4.  82  und  83;  ae  und  e  sind  fast  immer  richtig 
unterschieden ;  nur  99  coequalem  und  II  79.  126  presta.  ^  statt  ae 
etwa  8  Mal  (83.  II  14.  III  19). 

C  ist  fast  immer  das  Minuskel  c,  welches  die  folgenden  Buch- 
staben mit  dem  Fuß  umfaßt.  Doch  haben  sich  von  dem  hohen,  in 
der  Mitte  des  Bogens  eingeknickten  c  der  Cursivschrift  (7.  87.  171), 
welches  die  folgenden  Buchstaben  mit  dem  herabgebogenen  Kopf 
anfaßt,  manche  Beispiele  erhalten.  So  oft  die  Verbindung  co;  s. 
91.  93.  III  30.  Dann  er  (117)  und  das  h  ähnliche  ci  in  80  und  in 
85,  wo  ueraciter  als  uerahr  =  uera  habetur  verlesen  worden  ist. 

e  hat  fast  immer  die  karolinger  Form;  doch  hie  und  da  die 
cursive  hohe  Form,  wo  an  der  Zunge  des  e  der  erste  i- Strich  des 
folgenden  Buchstabens  hängt;  so  89  und  188  em,  en  90  und  II  12 
und  er  (10),  dann  et  (in  103).  Die  Ligatur  &  kommt  regelmäßig 
als  das  selbständige  Wort  vor,  aber  kaum  im  Worte,  während  die 
Ligatur  für  ec  im  Worte  oft'  sich  findet;  s.  14.  74. 

Die  Striche  des  i  und  die  entsprechenden  in  n  m  und  r  sind 
schlichte  senkrechte  Striche,  ohne  besondere  Füße;  nur  bei  n  und 
m  wird  der  letzte  Strich  gern  etwas  verlängert  und  gespitzt;  s. 
11.  12.  15.  90.  93  III  22.  89  bietet  den  einzigen  Fall,  daß  in 
mi  das  i  an  den  letzten  Strich  des  m  unten  angehängt  wird.  Zur 
"Unterscheidung  von  a  wird  im  u  der  2.  Strich  gerade  herunter  ge- 
zogen;  s.  6.  19.  24  III  13.  Nur  in  III  11  ist  uf  ligirt.  Oft  wird 
in  li  der  Fuß  des  1  aufwärts  gebogen  und  i  daran  gehängt  (23. 
170);  dann  in  ei  (70)  das  i  an  die  Zunge  des  e  gehängt.  Ein  häu- 
figer Überrest  der  cursiven  Schrift  ist  der,  daß  i  im  Wortanfang 
stark  überhöht  wird;  8.  72.  79.  82  II  6  usw. 

1)  Ich  cltire  im  Folgenden  fast  nur  Beispiele,  welche  auf  der  beigegebenen 
Tafel  vorkommen.  Die  mit  II  oder  III  bezeichneten  Verszahlen  sind  klar;  bei 
den  aus  I  genommenen  Versen  habe  ich  die  Zahl  I  weggelassen. 


drei  Gothaer  Rythmen  aus  dem  Kreise  des  Alkuin.  649 

Statt  n  steht  hie  und  da  N ;  so  73  2^rm  und  I  57  reXonatus  ; 
dann  kommt  statt  nt  einige  Male  die  Ligator  von  N  und  T  vor. 
wie  in  11. 

r  hat  meistens  die  karolingische  IVIinuskelform.  Die  Zunge 
faßt  meistens  den  folgenden  Buchstaben  an ;  doch  im  Wortschluß 
wird  sie  aufwärts  gekrümmt  (s.  97.  98),  und  dasselbe  geschieht 
hie  und  da  im  Silbenschluß,  so  in  65  carne,  71  Concor  dantes,  89 
germinauit;  doch  auch  in  r  vor  a  (4.  18.  III  27).  Das  cursive 
hohe  r  mit  spitzem  Kopfe,  dessen  Zunge  sich  mit  dem  folgenden 
Buchstaben  vereint,  kommt  öfter  vor;  besonders  in  der  Ligatur 
re;  s.  13.  73.  77.  171  III  24  usw.,  minder  oft  in  ri,  z.  B.  77  III  12; 
dann  einige  Male  in  den  Ligaturen  von  rt  und  rn  (186),  auch  ru. 
Zu  notiren  ist  besonders  die  Ligatur  ro  (21.  28),  wo  die  Zunge 
des  hohen  spitzen  r  sich  herabsenkt  zum  o,  das  oben  2  Zipfel  hat, 
deren  linker  angefaßt  wird,  während  der  rechte  frei  in  die  Höhe 
steht. 

O  ist  das  gewöhnliche  der  Karolinger  Minuskel.  Die  eben  er- 
wähnte cursive  Ligatur  von  ro,  wo  das  o  oben  2  Zipfel  hat.  half 
mir  die  seltsame  Buchstabengruppe  im  Anfang  von  76  zu  ent- 
räthseln ;  man  hatte  gelesen  hnf  (habenf )  oder  Ihf  (Jesus) :  es  ist 
homo;  beide  o  haben  oben  noch  den  rechten  Zipfel,  aber  das  o 
selbst  ist  mit  dem  letzten  Strich  des  h  und  dann  des  m  ver- 
schmolzen. 

t  hat  meistens  die  karolingische  Form.  Dabei  berührt  meistens 
der  Kopf  und  der  Fuß  den  nächsten  Buchstaben ;  nicht  selten  aber 
dreht  der  Kopf  sich  vor  dem  folgenden  Buchstaben  in  die  Höhe 
oder  geht  über  ihn  weg;  s.  tu  14.  18.  67  II  7;  ta  16;  tr  26.  27. 
In  der  Sübe  ti  geht  der  Kopf  des  t  oft  über  das  i  weg  (12),  oft 
hängt  das  i  am  Ende  des  Kopfes  (20.  94.  180.  182  III  4.  22) ;  in 
beiden  Fällen  wird  das  i  abwärts  verlängert.  Die  aufrecht  stehende 
cursive  Ligatur  für  ti  kommt  nur  II  29  (delictis)  vor.  Auffällig 
ist  eine  Majuskelform  des  T,  welche  hier  sehr  oft  vorkommt.  Sie 
ist  mindestens  doppelt  so  hoch  als  das  Minuskel  t  und  geht  meist 
mit  dem  Fuß  unter  die  untere  ParaUellinie  (s.  86  II  5).  Der  Fuß 
ist  nach  rechts  gekrümmt ,  faßt  aber  den  folgenden  Buchstaben 
nicht  an.  Dieses  T  kommt  auch  im  Wortanfang  vor  und  im  Wort- 
schluß (III  18) ;  aber  regelmäßig  steht  es  im  Worte  und  zumeist 
nach  einem  Zungenbuchstaben ,  besonders  nach  e  (17.  66.  77/8/9. 
86.  172  III  2.  22);  dann  nach  r;  nach  a  (III  10);  sonst  nach  c  (87. 
95  U  5). 

X  folgt  dem  allgemeinen  Gesetz  des  Schreibens ;  der  nach  rechts 
abwärts   gehende  Strich  wird  durch   den  Druck  der  Feder  dick, 


650  Wilhelm  Meyer, 

der  nach  rechts  aufwärts  gehende  ist  dünn.  Seltsam  ist  nur,  wie 
groß  das  x  gebildet  wird,  welches  von  der  Zunge  eines  vorange- 
henden e  in  dem  Schnittpunkt  der  beiden  Balken  berührt  wird; 
s.  80  III  8,  aber  auch  oxi  III  17  und  7. 

Die  Schaftbuchstaben  1  b  d  und  h  haben  wenig  Besonderes 
an  sich.  Selten  sind  die  beiden  Striche  (hinauf  und  hinunter)  sicht- 
bar, aus  denen  der  Schaft  entstanden  ist  (81.  172.  185).  Nicht 
selten  ist  in  d  der  Schaft  unter  die  Linie  hinunter  gezogen.  Die 
Porm  b  kommt  nur  2  Mal  vor,  in  übergeschriebenen  Ergänzungen 
(I  59  und  151;  I  98?}. 

f  und  f  werden  etwas  unter  die  Linie  gezogen  (bes.  30,  III  28 
und  II  14).  Die  cursive  Ligatur  ft  sitzt  auch  hier  fest  (65.  68. 
84  etc.),  wie  in  der  beneventaner  Schrift;  ft  (84)  ist  sehr  selten 
getrennt.  Sehr  selten  ist  der  Schaft  des  f  getheilt  (80  und  III  6) ; 
nur  in  III  11  ist  das  f  mit  dem  2  Strich  des  vorangehenden  u 
vereint. 

g,  der  empfindlichste  aller  Buchstaben,  ist  in  I  131  und  144 
besonders  characteristisch  gebildet  durch  2  in  einander  laufende 
Schleifen. 

p  und  q  sind  nicht  auffallend ;  der  Schaft  endet  unten  oft 
spitz  (8.  11.  20  etc.). 

Abkürzungen  und  Ohiflfern.  Die  hier  vorkommenden  Ab- 
kürzungen und  Chiffern  weisen  in  die  frühen  Zeiten  der  Minuskel- 
schrift. Die  Abkürzung  wird  meistens  durch  einen  horizontalen 
Strich  angezeigt,  der  oft  nach  rechts  verlängert  und  auch  gespitzt 
ist  (s.  67.  69  usw.).  Steht  dieser  Strich  über  einem  Schlußvocal, 
so  ersetzt  er  ein  m  (nicht  n) ;  in  Wortmitte  wird  m  nicht  so  er- 
setzt, q.  oder  mit  einem  Häkchen  ist  que ;  auch  in  ab  sq.  quoq.  neq. ; 
b'  oder  b>  ist  die  Endung  bus.  Im  Wortschluß  finden  sich  noch 
einige  seltenen  Kürzungen :  so  ein  halber  Bogen  über  r  (2.  II  9)  = 
rum  oder  über  z  (81.  83.  84  III  16)  =  tur.  Einzeln  sind  noch  83 
lum,  94  nom  und  pat  =  85  neracit  (men  und  ter).  Der  Vorrath 
von  Chiffern  ist  noch  sehr  bescheiden.  Zunächst  für  die  3  Prae- 
positionen:  per  pro  und  prae,  die  sich  auch  in  Compositis  finden. 
Dann  n=  non  oft.  numq  mit  Strich  durchs  q  =  numquam  (111); 
nf  =  nunc  II  65,  S>  =  sed  (71)  und  2  Mal  q  mit  einer  Schleife 
=  quod.  Häufig  ist  e  =  est  und  3  Mal  eö  (II  9.  III  3)  =  esse. 
Von  den  Pronomina :  K  =  haec  III  7 ;  ei'  =  eins  (70),  nrm  =  nos- 
tmm  (69.  73)  und  3  Mal  om.  (70.  79)  =  omnes.  Die  Chiffern  für 
Nomina  sind  recht  wenige :  die  Formen  von  deus  oft ;  1  Mal  dül', 
oft  xpf,  lEf  und  Ihü  und  fpf  ipu  und  Icf;  I  2  fclor'  für  seculorum. 

Interpunction  findet  sich  so  gut  wie  keine.   Nur  wird  das  Ende 


drei  Gothaer  Rythmen  aus  dem  Kreise  des  Alkuin.  651 

der  Strophe,  hie  und  da  auch  das  der  ersten  Halbstrophe  bezeichnet 
darch  einen  Punkt  oder  ein  Häkchen  s.  68.  72.  84.  88.  92.  96  usw. 

Die  Worttreimuilg  ist  schon  durchaus  sauber. 

Nehmen  wir  die  dargelegten  Einzelheiten  zusammen,  so  stammt 
weitaus  der  größte  Theil  aus  der  karolinger  Minuskel,  ein  kleiner 
Theil  stammt  aus  der  Cursiv-Schrift.  Kaum  aber  werden  unter 
den  Minuskel-  oder  Majuskel-Buchstaben  sich  mehrere  finden,  die 
gerade  aus  der  Merovinger-Cursive  stammen  müssen.  Da  aber  die 
angelsächsische  B[ft  ins  Frankenreich  gebracht  und  dort  der  Ein- 
trag in  dieser  Schrift,  die  keine  angelsächsischen  Eigenthümlich- 
keiten  zeigt,  gemacht  worden  ist,  so  müssen  wir  auch  diese  Schrift 
zu  den  Versuchen  rechnen,  eine  kleine  und  bequeme  Buchschrift 
zu  construiren.  Solche  Versuche  wurden  im  Frankenreiche  im 
Übergang  des  8.  zum  9.  Jahrhundert  manche  gemacht ,  z.  B.  bei 
der  Schrift  von  Corbie.  Unser  Schreiber  hat  schon  so  viel  Ele- 
mente der  Karolinger  Minuskel,  daß  die  weitere  Entwicklung  ihn 
wohl  ganz  zu  dieser  geführt  haben  wird.  Aber  interessant  ist 
dieser  Versuch,  und  eine  Probe  in  wirklicher  Größe  sollte  in  eine 
größere  palaeographisehe  Sammlung  aufgenonmien  werden. 

Die  Art  der  Abschrift  können  wir  wohl  aus  den  Fehlern 
beurtheilen.  Ziemlich  sichere,  nicht  corrigirte  Fehler 
liegen  wohl  vor :  I  2  satar  (sator) ,  7  contenes ,  14  fecististi ;  30 
(n)omem;  dann  scheinen  nach  48  vier  Zeilen  zu  fehlen.  I  57  re- 
Nonatus  (renatus),  63  sine  defectui  (defectu),  82  pastostoribus,  84 
demostratur,  110  pasus,  140  antecellet(-it),  159  potabunt(-ant),  164 
reserat(-ret) ,  166  quis  (qui) ,  170  alto  (alta?),  179  auriamus.  — 
II  41  trista  (tristi),  44  liberat  (liberabit  ?),  46  flagitium  (-tii  oder 
-tiorum),  58  oboediam  (oboedientiam),  64  puplicani.  66  fabe  (fove  ?), 
90  sauciat  (-et),  94:  fehlt  hob,  96  tribuet  (-at  ?),  99  nullius  egis  (nullis 
eges?),  105  uicuisti  (vicisti). 

Etwas  mehr  sind  die  Fehler,  welche  nachträglich  corrigirt 
sind,  wahrscheinlich  vom  Schreiber  selbst,  wenn  auch  hiebei  2  Male  b 
statt  d  gebraucht  ist ;  mit  's.  l.'  bezeichne  ich,  daß  das  Wort  über 
der  Zeile  nachgetragen  ist.  I  44  ad  s.  L  51  tempus  omne, 
durch :  ist  die  Umstellung  notirt  59  bi  s.  l.  79  q.  *\  l.  86 
dicitur  aus  diciter  corrigirt  97  nach  Nam  ist  q.  eingeflickt  101 
£uerst  omnipotes  106  uere  ist  zu  uerbi  corrigirt  Der  Vers  108 
ist  zwischen  107  und  109  eingeflickt  120  matre,  über  e  ein  dünnes  i 
125  rex  s.  h  151  bf  s.  l.  170  wohl  zuerst  arto,  dann  alto  176 
adorantes  ist  in  Anderes  hineincorrigirt.  —  II  13  pater  s.  l. 
18  fordiT:  daß  schließende  f  steht  in  Rasur  22  me  5.  l.  100 
bona  s.  l.       122  to  in  protoplausti  6\  l.       123   fuü  s.  I.       134   in 


Wilhelm  Meyer, 

amavi  ist  ama  durchgestrichen  und   zela  übergeschrieben.      —  III  7 
K  s.  l.      10  fimuf  ist  su  fvmus  corrigirt.     23  e  s,  ?. 

Wie  von  der  Merowinger  Barbarei  in  der  Orthographie  hier 
keine  Spur  ist,  so  sind  auch  diese  Fehler  nicht  stark  und  nicht 
übermäßig  viel.  Wenn  der  Verfasser  selbst  aus  Concepten  hierher 
seine  Rythmen  reingeschrieben  hat,  flüchtig  und  anspruchslos,  ist 
diese  Abschrift  begreiflich. 

Die  rythmischen  Formen  der  gothaer  Gedichte.  Blume, 
der  das  I.  Gedicht  veröffentlicht  hat,  sagt  wenig  von  seinen  For- 
'  men.  Er  weist  darauf  hin ,  daß  die  ersten  Zeilen  entlehnt  sind 
aus  2  irisch-angelsächsischen  Gredichten  und  schließt,  'daß  jeden- 
falls dieses  rythmisch  ungelenke  und  den  Reim  vernach- 
lässigende, aber  manche  Alliteration  aufweisende  Reimgebet 
in  den  Kreis  jener  Dichtungen  gehört,  ohne  daß  altirischer  Ur- 
sprung ihm  zugesichert  werden  kann'.  S.  350  vergleicht  er  das 
Gedicht  no  256  wegen  der  ungleichmäßigen  Silbenzahl  der 
Verse  und  des  nachlässigen,  oft  fehlenden  Reims  mit  unserm  ersten 
Rythmus  (bei  ihm  no  232)  und  mit  no  227.  Allein  diese  Ähn- 
lichkeiten sind  unwesentlich.  no  227  (S.  297)  besteht  aus  16  am- 
brosianischen  Strophen,  ohne  Reim.  Von  den  64  Zeilen  zählen  4 
sieben,  die  übrigen  60  acht  Silben  (1,1  und  4,3  lesü);  2  schließen 
sinkend  (8, 3  in  nos  und  16, 1),  die  übrigen  62  steigend.  no  256 
(S.  349)  bringt  in  8  ambrosianischen  Strophen  etwa  7  Zeilen  zu  9 
und  1  oder  2  zu  7  Silben;  alle  Schlüsse  sind  steigend,  außer  1,2 
ut  mihi  und  8, 2  in  sanctis.  Die  Überlieferung  beider  Gedichte  ist 
eine  unsichere ;  denn  das  Book  of  Gerne  liefert  oft  recht  entstellte 
Texte. 

Mich  stellte  die  Untersuchung  dieser  3  Rythmen  vor  eine  ganz 
neue  Thatsache.  Von  jeher  meinte  ich,  daß  die  lateinische  Rythmik 
auf  2  Grundlagen  beruhe :  der  gleichen  Silbenzahl  und  der  gleichen 
Schlußcadenz  der  sich  entsprechenden  Zeilen.  In  der  Abhandlung 
über  die  rythmischen  Verse  der  Iren  (s.  oben  S.  609)  fand  ich  von 
den  Iren  die  gleiche  Silbenzahl  überall  gewahrt,  die  Gleichheit 
der  Schlußcadenzen  nur  durch  die  Ausnahmen  verletzt,  die  ich 
dort  (S.  609)  aufgezählt  habe ;  dann  fand  ich  in  den  fast  600  Zeilen 
des  Angelsachsen  Aethilwald  die  Zahl  von  8  Silben  stets  gewahrt, 
dagegen  die  proparoxytone  Schlußcadenz  nur  in  etwa  36  Zeilen 
durch  paroxytone  Ausnahmen  ersetzt  (S.  629/630). 

Ganz  anders  steht  es  hier.  Nicht  nur  der  I.,  schon  von  Blume 
S.  302  gedruckte  Rythmus,  sondern  auch  die  hier  zum  ersten  Mal 


drei  Gothaer  Rytbmen  ans  dem  Kreise  des  Alkoin.  653 

gedruckten  beiden  folgenden  Rythmen  haben  genau  dieselben  Formen 
der  Zeilen. 

Die  Zeilen  sind  abgesetzt  geschrieben,  so  daß  kein  Zweifel 
darüber  besteht,  daß  dichterische  Form  beabsichtigt  ist.  und  wo 
die  Zeilen  enden.  Da  ergibt  sich  eine  bis  jetzt  beispiellose  Willkür 
und  Freiheit: 

1)  ist  die  Gleichheit  der  Silbenzahl  durchaus  aufgegeben. 

2)  sind  die  beiden  möglichen  Schlaßcadenzen  durchaus  will- 
kürlich gemengt. 

Die  poetische  Form  verlangt  aber  doch  gewisse  Grenzen.  Die 
Frage  ist  insbesondere,  ob  die  Silbenzahl  sich  nicht  innerhalb  ge- 
wisser Grenzen  bewegt.  Der  Schlußcadenzen  gibt  es  ja  nur  2 : 
Paroxytonon  oder  Proparoxy tonon :  omnium  oder  saeculorum.  Der 
erste  Blick  lehrt,  daß  hier  beide  Schlußcadenzen  bunt  gemischt 
sind. 

Bei  der  Berechnung  der  Silbenzahl  lasse  ich  die  verstümmelten 
Zeilen  bei  Seite  (I  173/8  und  181,8  =  14  Zeilen;  II  1—15  und 
10  Zeilen  von  IIl) ;  von  den  368  Zeilen  benutze  ich  also  329.  Unter 
diesen  329  Zeilen  finden  sich : 

73  Zeilen  zu  8u_    und  181   zu   8_u  =  204  Achtsilber;  dann 
33  Zeilen  zu  9-.—  und  48  zu  9_u  =  81  Xeunsilber. 

Von  den  übrigen  Zeilen  sind  etwa  32  Siebensilber  und 
10  vielleicht  Zehnsilber. 

Der  einzige  Sechssilber,  II  142  laus  honor  et  virtus,  ist 
also  sicher  zu  bessern. 

Von  den  Siebensilbern  schließen  17  steigend,  wie  1 1  Altus 
auctor  omnium;  60  141  142  146  160  164.  U  (44?)  61  64  66  72 
79  124  138.  Auffallend  ist  das  einsilbige  Schlußwort  in  II  132 
Soli  deo  semper  laus.  Taktwechsel  ist  durchaus  erlaubt :  Et  re- 
seret  p^ctora;  Lux  vera  fidelium. 

Mit  Paroxytonon  schließen  15  Siebensilber,  wie  Nunc  quoque 
me  lugentem.  I  27  64  102  109  145  158.  11  36.  43  (wo  freilich 
heu  zweisilbig  gelesen  werden  kann),  49  53  65  87  119  139  144. 
Die  meisten  beginnen  mit  accentuirter  Silbe,  wie  Passus  est  prin- 
ceps  regum.  Diesen  32  Siebensilbern  können  wohl  noch  zugerechnet 
werden:  II  4  [clamo]  corde  credulo  und  III  6  [et  cjonfundens  per- 
sonas.  Darnach  ist  es  sicher,  daß  der  Dichter  siebensilbige  Zeilen 
verwendet  hat. 

l^Iit  den  Zehnsilbern  steht  es  eigenthümlich.  I  38  89  104 
105  121  122  138  (183  187).  11(46):  Diese  10  Verse  enthalten  aller- 
dings 10  Silben,  aber  in  jedem  Verse  treten  mindestens  1  Mal  zwei 
Vocale  auf,   die   durch  Synizese   mit  einander  zu  einer  Silbe  ver- 


654  Wilhelm  Meyer, 

schliffen  werden  können  und  in  alten  Zeiten  oft  verschliffen  wurden : 
ia  ii  io  iu ;  ei  eo.     So : 

I  121  qui  nee  unione  est  confusus. 
I  89  Mariae  gremium  germinavit. 
I  105  Omnia  data  a  deo  patre. 

Kein  Vers  kommt  vor  mit  der  festen  Form ,  wie  Blume  sie 
in  I  10  Condidisti  cuncta  celeriter  conjicirte.  Eine  Ausnahme  macht 
III  33  filius  hominis  venit  de  caelis,  10  oder  gar  11  Silben.  Allein 
dieser  Vers  wird  schon  durch  die  Worte  'audi .  .  .  hoc'  als  Citat 
(Daniel  VII  13)  gekennzeichnet  und  Citate  sind  oft  von  Gesetzen 
der  Metrik  oder  des  rythmischen  Satzschlusses  frei;  vgl.  schon 
den  Hymnus  des  Ambrosius  'Amore  Christi  nobilis'  Str.  5,1—6,1. 
Deßhalb  kann  der  Vers  III  33  uns  nicht  hindern ,  in  den  citirten 
10  Zehnsilbern  Sjnizese  anzunehmen  und  festzustellen,  daß  anser 
Dichter  Zeilen  von  zehn  Silben  nicht  wollte. 

Darnach  wollte  unser  Dichter  Zeilen  schaffen,  die  nicht  we- 
niger als  7  und  nicht  mehr  als  9  Silben  enthielten,  in  denen  aber 
die  Schlußcadenz,  Paroxytonon  oder  Proparoxytonon,  völlig  frei  war. 

Der  Zeilenschluß  wird  nur  II  132  auffälliger  Weise  durch  das 
schwere  'laus'  gebildet ;  sonst  nur  durch  einige  Hilfswörter :  je 
ein  Mal  durch  sum,  es,  est  und  2  Mal  durch  me. 

Von  einer  regelmäßigen,  gleichartigen  Caesur  ist  keine  Rede, 
aber  es  wird  auch  die  Mitte  der  Zeilen  nicht  von  einem  vielsilbigen 
Worte  j  wie  deificato  oder  subsistentiis,  überspannt.  Stets  tritt, 
wie  ich  das  in  den  Achtsilbern  des  Aethilwald  nachgewiesen  habe, 
um  die  Mitte  der  Zeile  ein  Wortende  ein ;  aber  der  Dichter 
kümmert  sich  nicht  um  steigenden  oder  sinkenden  Caesurschluß. 
Die  Wörter  treten  so  meist  in  2  Gruppen  zusammen,  wie 

Bonus  factor  *  bona  valde      condidit  cuncta  *  celeriter  ; 
doch  oft  gibt  es  auch  3  Gruppen,  wie  in : 

Qui  nasci'  dignatus  *  ex  ea  oder  Homo*  ex  aqua*  renatus. 

Im  Innern  der  Zeilen  ist  keine  Rede  von  irgend  einer  Regel- 
mäßigkeit des  Tonfalles ,  von  Accentfüßen.  Alle  Spielarten  des 
Tonfalles,  welche  möglich  sind,  kommen  hier  auch  vor.  Man  nehme 
als  Beispiel  die  unten  unter  no  V  citirten  Zeilen  zu  8_w,  die 
sonst  so  oft  eine  gewisse  Regelmäßigkeit  zeigen. 

Ebenso  ließe   sich   für  die  Siebensilber   und  Neunsilber   nach- 
weisen, daß  durchaus  die  Silben  nur  gezählt  werden.      Nicht  ein- 
mal der  daktylische  Wortschluß  wird  irgendwie  gemieden, 
sondern  in  sicheren  wie  in  unsicheren  Fälle  oft  genug  zugelassen : 
Factus  hominis  filius  oder  Sed  capiti  concordantes. 


drei  Gothaer  Rythmen  aus  dem  Kreise  des  Alkuin.  655 

Wie  ist  die  Ungleichheit  der  Silbenzahl  zu  erklären? 

Ich  habe  einst  der  Kritik  der  Gedichte  aus  der  Merowinger-  und 
Karolinger-Zeit  Hilfe  gebracht,  indem  ich  nachwies,  daß  oft  der 
Zeile  eine  Silbe  vorgesetzt  worden  ist,  so  daß  eine  Zeile  9 
statt  8,  8  statt  7  und  7  statt  6  Silben  zählte.  So  konnte  noch 
im  12.  Jahrhundert  Rorate  mea  lumina  mercari  margaritam  eine 
Vagantenzeile  (7w_  +  6_u)  bilden.  Allein  hier  handelte  es  sich 
nur  um  einen  Vorschlag,  nicht  um  einen  Zusatz  mit  Änderung  der 
Schlußcadenz  (etwa  8_w  statt  7w_),  um  eine  Vermehrung,  nicht 
um  ein  Minderung  der  regelmäßigen  Silbenzahl  (etwa  7u_  statt 
8u_).  Hiermit  also  kann  die  verschiedene  Sübenzabl  der  Zeilen 
unserer  3  Rythmen  nicht  erklärt  werden. 

Sodann  habe  ich  2  Arten  alter  Rythmik  nachgewiesen:  die 
Wörter  zählende  Rythmik  setzt  in  die  entsprechenden 
Zeilen  gleich  viele  gewichtigen  Wörter.  So :  Quadrans  in  quatuor 
iam  habes  annos  üsque  perdüctos  si  proles  seciindus  tot  tem- 
pus  haberet  transcriberem  lib^llum.  Vgl.  diese  Nachrichten  1913 
S.  142 — 163.  Zweitens  die  Hebungen  zählende  Rythmik. 
Nicht  nur  die  vollen  Wortaccente  werden  verrechnet,  sondern  auch 
die  Nebenaccente,  also  iüvenes  dum  sümus ;  jede  Schlußsilbe  der 
Zeile  gut  als  Hebung :  Säncte  et  immortalis  =  Omnia  m^a  peccäta. 
Die  vierhebigen  Zeilen  dieser  Art  können  6 — 10  Silben  zählen 
und  können  sinkend  wie  steigend  schließen;  s.  diese  Nachrichten 
1908  S.  49/50  und  1913  S.  167—173.  Die  beiden  Gedichte  bei 
Strecker,  Rythmi  Mer.  et  Car.  S.  639/40,  geben  um  800  schon  die 
ausgebildete  Form  dieser  Zeilen,  die  dann  den  deutschen  Reimversen 
des  Otfrid  als  Vorbild  gedient  hat. 

Vergleicht  man  die  unten  folgende  Übersicht  der  von  unserm 
Dichter  gebrauchten  Zeilenformen,  so  ist  klar,  daß  er  weder  Wörter 
noch  Hebungen  gezählt  hat. 

Damit  klar  werde,  um  was  die  Frage  sich  dreht,  scheint  es 
mir  nützlich,  die  sämtlichen  von  unserm  Dichter  gebrauchten  Zeilen- 
formen vor  Augen  zu  stellen: 

I  7w_  'Altus  aüctor  omnium  1 

lux  Vera  fidelium. 
II  8u_  resurgens  rex  a  mortuis  3 

venit  et  sanctus  spiritus 
ästris  tiilit  miräntibus.  5 

III  9w_  übi  dextra  dei  patris  est 

et  tribuet  dei  bönitas  7 

amörem  dirum  pecüniae 

mortis  destnixit  imp^rium.  >  9 


W  i  1  h  c  1  ni  M  e  y  e  r , 

IV  7  — u  Nunc  quoque  me  lugentem   10 
pässus  est  princeps  regum 
quia  crimen  agnösco. 
V  8  — u  coöpit  esse  Christus  hömo  13 

ab  Omnibus  adorändus 
qui  sölus  mortem  vicisti  15 

natus  natura  non  döno. 
VI  9_w  gignendo  pater  appellätus  17 

ima  et  summa  liniversa 
simul  omnia  satis  bona  19 

laetemürque  omnes  in  eo 
qui  nasci  dignatus  ex  öa.  21 

Unser  Dichter  hat  also  6  verschiedene  rythmische  Zeilen  ge- 
braucht: I7o_,  II  8u-^,  III  9u_;  dann  IV  7-u,  V  S-o,  VI 
9  _  u,  Im  Innern  dieser  6  Zeilenarten  hat  er  alle  möglichen  Ton- 
fälle (Taktwechsel)  zugelassen.  Die  durch  Silbenzahl,  Schlußca- 
denz  und  Fall  der  Wortaccente  im  Innern  der  Zeilen  verschie- 
denen Spielarten  betragen  21.  Nun  ist  natürlich,  daß  der  Dichter 
einen  bestimmten  Grundsatz  gehabt  hat.  War  sein  Ziel  nur,  Zeilen 
von  7,  8  oder  9  Silben  zu  bilden?  oder  lassen  sich  seine  Formen 
durch  einen  andern  Satz  einheitlich  erklären?  Jedenfalls  ist  es 
mir  bis  jetzt  nicht  gelungen,  andere  Gedichte  mit  ähnlichen  freien 
Formen  nachzuweisen.  Für  mich  sind  diese  Formen  ein  Unicum. 
Ihr  Dichter  ist  jedenfalls  kein  gewöhnlicher  Kopf  gewesen. 

Reim  ist  durchaus  nicht  beabsichtigt.  Wenn  in  Str.  16  die 
1.  5.  6.  7.  und  8.  Zeile  auf  us  endigen  und  die  2.  3.  und  4.  Zeile 
auf  e,  so  ist  das  Zufall.  Daß  die  Anfänge  der  24  Strophen  die 
Buchstaben  des  Alphabets  bilden  (Str.  21 — 24  beginnen  in  I :  Xristo 
Ymnum  Zelum  Gloria,  in  II:  eXul  Ymnum  Zelo  Gloria),  das  ist 
in  der  alten  christlichen  Dichtung  häufig. 

Mit  Recht  spricht  Blume  von  'mancher  Alliteration'.  Vgl. 
I  5—8 

Adonai  omnipotens 
qui  mensus  es  manu  aquas 
et  caelum  palmo  contines 
terramque  pugno  concludis. 
Überall  klingt   die   Alliteration   durch,   wenn  auch   selten   so 
stark  wie  I  109—112  und  125—132: 

109  Passus  est  princeps  regum, 
cuius  pater  passus  non  est; 
nee  procedens  passus  umquam: 
Christus  solus  came  passus. 


drei  Gothaer  Rythmen  aus  dem  Kreise  des  Alkuin.  657 

125  Resurgens  rex  a  mortuis 
mortis  destraxit  imperium, 
solvens  vincla  mancipatis 
et  reducens  regno  dei. 
129  Redemit  nos  reram  factor 
magno  pretio  mirifice 
cum  sacro  suo  sanguine, 
non  metallis  mortalibus. 
Dasselbe  gilt  für  den  II.  Rythmus.    Das  zeigen  schon  die  3. — 
6.  Zeile. 

(Zeilenpaare).      Ich   habe  darauf  hingewiesen,   wie  die  Iren 
und  Angelsachsen  ihre  Kurzzeilen  stets  durch  den  Sinn  zu  Paaren 
vereinigten.    Das  war  auch  in  den  gereimten  Gedichten  des  Aethil- 
wald  ziemlich  natürlich  (Reimpaare).    Aber  es  gilt  auch  für  diese 
reimlosen   Rythmen.     Sowohl   die  8  zeiligen  Strophen   des   I.    wie 
die  6  zeiligen  Strophen  des  II.  Gedichtes  würden  richtiger  in  Lang- 
zeilen gedruckt.     So  I  125—132  (s.  oben)  und  II  79—84: 
Resurgens  rex  a  mortuis       mortis  destruxit  imperium, 
solvens  vincla  mancipatis       et  reducens  regno  dei. 
Redemit  nos  rerum  factor      magno  pretio  mirifice 
cum  sacro  suo  sanguine,      non  metallis  mortalibus. 
79  Omnipotens  trinitas,       una  vera  divinitas, 
suscipe  me  fugientem      de  criminum  caligine; 
ad  verum  lumen  revoca  me      tuae  sanctae  seien tiae. 

In  den  4  zeiligen  Halbstrophen  des  I.  Rythmus  durchbricht 
der  Redefluß  hier  und  da  diese  Regel;  vgl.  I  13—16;  113 — 116; 
149—156. 

Der  Inhalt  der  3  gothaer  Rythmen.  Die  3  Rythmen 
sind  in  der  Handschrift  nachträglich  eingeschrieben  um  800,  viel- 
leicht vom  Verfasser  selbst.  Sie  sind  alle  drei  von  demselben 
Mann  verfaßt.  Ihre  Dichtungsformen  sind  beispiellos  und  jedenfalls 
frei  und  kühn  gewählt.  Die  Hauptsache  bleibt  natürlich  der  In- 
halt. Blume  urtheilt  (Analecta  51  S.  305)  über  den  Inhalt  des 
ersten  Gedichtes :  'Dieses  Reimgebet  ist  wohl  eine  Art  Glaubens- 
bekenntniß,  weßhalb  ich  ihm  den  Titel  'Symbolum  fidei  rythmicum' 
gab.  Die  Würdigung  seines  dogmatischen  Gehaltes  fällt  außer- 
halb des  Rahmens  dieser  Textpublikation'.  Kr u seh  hat  im 
Neuen  Archiv  IX  1884  S.  272  als  Inhalt  des  III.  Gedichtes  er- 
wähnt -über  die  Haeresien  des  Arius,  SabeUins,  Nestorius  und  Eu- 
tyches'. 

Blume' s  Charakterisierung   des   I.  Gedichtes  ist   sicherlich  zu 


658  Wilhelm  Meyer, 

eng.  Bei  der  Besprechung  der  Trinität  wird  überall  hervorge- 
hoben das  Wesen  des  Gottmenschen.  Noch  die  Schlußstrophe  preist 
in  ihrer  ersten  Hälfte  die  Trinität  'Grloria  tibi  trinitas',  schließt 
aber  die  Strophe  und  damit  das  Gedicht  mit  einer  besonderen 
Eigenschaft  Christi: 

Gloria  tibi,  Jesu  bone,      qui  naturam  nostrae  carnis 
(tuae)  deitati  adunasti,       ut  nos  in  te  gloriemur. 

Ebenso  ist  inhaltlich  die  22.  Strophe  (165/8  +  169/72)  gegliedert. 
Der  richtige  Titel  scheint  also  zu  sein :  De  trinitate  et  de  Christo 
deo  homijie  oder  De  trinitate  et  de  incarnatione  Christi. 

Das  II.  Gedicht  ist  ein  Deprecatio;  vgl.  22  eripe  me  depre- 
cantem  (93  Quicquid  mea  stultitia  .  .  non  sapit  deprecare) ;  dann 
65  nunc  quoque  me  lugentem  fove  und  128  canto  carmen  lugubre. 
factus  sine  auxilio  solus  plango  peccamina. 

Der  Inhalt  des  I.  und  der  des  II.  Gedichtes  ist  nicht  selten. 
Aber  befremdend  ist  der  Inhalt  des  III.  Rythmus.  Die  Lehrsätze 
von  6  Ketzern  werden  genannt  und  bekämpft.  Lange  habe  ich 
geglaubt,  einen  arg  verstümmelten  Text  vor  mir  zu  haben. 

Zum  II.  Rjrthmus,  zur  Deprecatio,  wollte  ich  ähnliche 
Texte  vergleichen.  Ich  suchte  und  fand  sie  in  der  Sammlung,  mit 
der  ich  mich  einst  viel  beschäftigt,  deren  Handschrift  ich  mit  Mühe 
und  Glück  wieder  aufgespürt  und  aus  der  ich  Gildas  Reisegebet 
in  diesen  Nachrichten  (1912  S.  48 — 108)  herausgegeben  habe.  Es 
sind  die  dem  Alkuin  zugeschriebenen  Officia  per  ferias,  die 
von  Frohen  im  II.  Bande  p.  52—125  (=  Migne  Cursus  101  Sp. 
510 — 609)  gedruckt  sind.  Ich  erstaunte  aber  dann  zu  finden,  daß 
2  dieser  prosaischen  Gebete,  ein  dem  Augustin  und  ein  anderes, 
dem  Hieronymus  zugeschriebenes,  von  unserem  Dichter  im  II.  Ryth- 
mus  wörtlich  ausgeschrieben  sind;  (s.  nachher  S.  664). 

So  waren  meine  Augen  und  Sinne  auf  Alkuin  gerichtet.  Einen 
großen  Theil  seines  literarischen  Nachlasses  bilden  die  Schriften, 
welche  er  als  eifriger  Diener  Karl  des  Gr.  im  Streite  gegen  die 
spanischen  Adoptianisten  verfaßt  hat.  Eroben  und  Enhuber  haben 
in  der  Alkuinausgabe  die  Lehren  dieser  in  den  letzten  Jahrzehnten 
des  8.  Jahrhunderts  in  Spanien  auftretenden  Theologen  geschildert, 
und  Hauck  hat  einen  großen  Theil  des  1.  Bandes  der  Kirchenge- 
schichte Deutschlands  darauf  verwendet,  darzustellen,  was  diese 
Spanier  wollten  und  mit  welchem  Eifer  Karl  d.  Gr.,  der  vor  einer 
großen  Versammlung  selbst  eine  Rede  gegen  sie  hielt,  und  seine 
gelehrten  Theologen  dagegen  kämpften.  Paulin  von  Aquileja  hat 
in  Prosa  und  in  Versen  (Migne  99  und  Poetae  karol.  I  126)  gegen 


drei  Gothaer  Rj-thmen  aus  dem  Kreise  des  Alkuin.  659 

sie  geschrieben,    aber   am   meisten   hat  Alkuin   in    verschiedenen 
prosaischen  Schriften  den  Elipandus  und  Felix  bekämpft. 

Diese  Spanier  griffen  Lehren "  alter  Haeretiker  anf  und  be- 
schäftigten sich  besonders  mit  der  menschlichen  Natur  Christi; 
er  sei  nicht  im  Leib  Maria's  in  Allem  vollständiger  Mensch  ge- 
worden, sondern  der  vollständige  Gott  habe  nur  äußerlich  Men- 
schengestalt angenommen.  Das  bezeichneten  sie  mit  adoptare  und 
darnach  erhielten  sie  ihren  Namen  (Migne  101,  121 C:  fingentes  .  . 
novum  adoptionis  nomen,  quod  in  tota  veteris  novique  Testamenti 
Serie  non  invenitur). 

So  wurde  mir  zunächst  der  I.  Rythmus  verständlich.  Gewiß, 
er  enthält  ein  Glaubensbekenntniß,  aber  ein  ganz  besonderes: 
überall  bricht  die  Erörterung  durch ,  daß  Christus  im  Leibe  der 
Maria  reiner  und  vollständiger  Mensch  geworden  sei  und  die  voll- 
ständige göttliche  Natur  mit  der  vollständigen  menschlichen  in 
sich  vereinigt  habe.  So  wird  der  Schluß  klar.  Die  letzte,  die 
Gloria-Strophe,  preist  in  der  ersten  Hälfte  die  Dreieinigkeit,  Gott 
Yater,  Sohn  und  den  heüigen  Geist;  dann  schließen  die  Worte: 
Gloria  tibi,  Jesu  bone,  qui  naturam  nostrae  camis 
[tuae]  deitati  adunasti,      ut  nos  in  te  gloricmur. 

Was  soll  zum  Abschluß  eines  groß  angelegten  Gedichtes  eine 
solche  Einzelheit?  Sie  war  eben  für  den  Dichter  nicht  eine  Einzel- 
heit, nicbt  eine  Nebensache,  sondern  die  Hauptsache.  Das  Ge- 
dicht ist  keine  polemische  Schrift;  der  Dichter  nennt  nicht  ein- 
zelne Streitsätze  der  Adoptianer,  wenn  nicht  vielleicht  der  ser- 
pentis  sibilus  und  die  draconis  ubera  (V.  175  7)  auf  sie  deuten. 
Der  Dichter  bekennt  nur  seinen  Glauben ;  aber  laut  und  deutlich 
bekennt  er  sich  gerade  zu  den  Sätzen,  welche  die  Adoptianer  am 
heftigsten  verwarfen.  Er  übt  eine  indirekte,  eine  positive,  nicht 
negirende  Polemik.  So  paßt  dieses  Glaubensbekenntniß  zu  den 
polemischen  Schriften  des  Paulin  und  des  Alkuin  im  Kampfe  gegen 
die  Adoptianer. 

Daß  dies  Gedicht  dem  Alkuin  mindestens  nahe  steht ,  mag 
Folgendes  beweisen.  Im  3.  Buch  de  fide  S.  Trinitatis  behandelt  Al- 
kuin im  3.  Kapitel  die  Frage :  da  das  Symbolum  fidei  (Migne  101  Sp. 
68  A)  Christus  nenne  'temporaliter  natum  de  spiritu  sancto  et  Maria 
virgine',  wie  Christus  denn  'nullo  modo  sit  spiritus  sancti  filius'? 
Alkuin  antwortet :  non  concedendnm  est,  quidquid  de  aliqua  re 
nascatur,  continuo  eiusdem  rei  filium  nuncupandum.  Ut  de  multis 
exemplis  hoc  proferam:  certe  qui  nascuntur  ex  aqua  et  spiritu 
sancto,  neque  filios  eos  recte  quisquam  dixerit  aquae  vel  spiritus 
sancti,  sed  plane  dicuntur  filii  dei  patris  et  matris  eccle- 


660  Wilhelm  Meyer, 

s i a e.  Sic  ergo  de  spiritu  sancto  natus  est  filius  dei  patris  et 
non  Spiritus  sancti.  Diesen  auffallenden  und  eigenthümlichen 
Beweis  konnte  ich  sonst  nirgends  finden;  er  scheint  Alkuin's  Er- 
findung zu  sein.  Aber  denselben  seltsamen  Beweis  mit  fast  den- 
selben Worten  gibt  unser  B-ythmus  I  53 — 60: 

Homo  Christus  humanatus      de  spiritu  et  virgine 
dei  patris  esse  prolis,      non  sancti  spiritus  creditur. 
Homo  ex  aqua  renatus      natus  aquae  non  dicitur, 
sed  dei  patris  esse  prolis       et  matris  ecclesiae. 

Minder  sichere  Ähnlichkeiten  zwischen  einzelnen  Stellen  des 
Alkuin  und  Versen  des  I.  Rythmus  gibt  es  viele  und  ich  werde 
solche  zu  den  einzelnen  Strophen  des  Textes  notiren. 

Der  III.  Rythmus  wird  ebenfalls  auf  dem  betretenen  Wege 
verständlich.  Nach  langem  Suchen  glaubte  ich  gefunden  zu  haben, 
daß  dieses  verstümmelte  Gedicht  verständig  angelegt  und  wahr- 
scheinlich vollständig  sei.  Die  36  Zeilen  sind  zerlegt  in  3  große 
Strophen  von  je  12  Zeilen.  Jede  Strophe  behandelt  ein  Ketzer- 
paar. Die  ersten  6  Zeilen  jeder  ersten  Halbstrophe  nennen  die 
Namen  der  2  Ketzer  und  geben  dann  ihre  Lehrsätze,  die  einander 
entgegengesetzt  sind.  Die  zweiten  Halbstrophen  bringen  dann  die 
Widerlegung  der  angeführten  ketzerischen  Sätze,  wobei  in  den 
letzten  Zeilen  der  Strophe  die  beiden  Namen  wieder  genannt  werden. 
So  werden  Arrius  und  Sabellius  genannt  in  Z.  1  und  11/12 
und  widerlegt  in  Z.  7 — 12;  Manichaeus  undPhotinus  werden 
genannt  in  Z.  13  und  22/4  und  widerlegt  in  Z.  19/24;  Nestorius 
und  sein  Widerpart  Eutyches  werden  genannt  in  Z.  25  und 
81/34  und  widerlegt  in  Z.  3.1/36.  Diese  Anlage,  3  Paare  zu- 
sammenzustellen und  je  2  Haeretiker,  welche  über  einen  Punkt 
Widersprechendes  lehren,  zu  einem  Paar  zusammen  zu  nehmen, 
ist  auffallend.  Ich  suchte  also  nach  einer  derartigen  Quelle.  Allein 
nur  Nestorius  und  Eutyches  finden  sich  öfter  zusammengestellt. 

Da  glaubte  ich  die  2,  Strophe  der  Deprecatio  gut  so  ergänzen 
zu  können: 

[bone  deus],  qui  dixisti 

[gaudjium  esse  angelorum      fin  superjnis  satis  magnum 

[super  u]no  peccatore       [agenjti  penitentiam. 

Aber  Lucas  15,7  lautet:  Dico  vobis,  quod  ita  gaudium  erit 
in  caelo  super  uno  peccatore  poenitentiam  agente,  quam  etc. 

Ich  suchte  also  in  Sabatier's  Biblia  anticjua.  Ich  fand  da 
viele  Varianten  zu  diesem  Vers  notirt,  doch  für  'coram  angelis' 
nur   1  Citat:   Fulgentius  Rusp.  epistola  VII   (1684   p.  194):    Seit 


drei  Gothaer  Rythmen  aus  dem  Kreise  des  Alkuin.  661 

enim  plns  esse  gandii  coram  angelis  dei  super  uno  pecc.  poen. 
ag.  quam  usw.  Mehr  erstaunte  ich ,  als  ich  dazu  nicht  weniger 
als  2  Parallelen  in  den  Briefen  des  Alkuin  um  797  fand.  In 
dem  Brief  an  Aethelhard  (Epistolae  IV  p.  190. 17) :  dicente  ipsa 
veritate:  Sic  enim  gaudium  est  in  caelis  coram  angelis  dei 
super  uno  pecc.  paen,  ag.  quam  iisu:. .  nnd  mit  einer  Erweiterung 
in  dem  Briefe  ad  pueros  s.  Martini  (p.  195, 13) :  ipsa  ait  veritas : 
Sic  erit  gaudium  in  caelo  coram  patre  vestro  et  angelis  eins 
>uper  uno  pecc.  paen.  ag. 

Diese  Übereinstimmung  des  Fulgentius,  des  Alkuin  und  un- 
seres Dichters  fiel  mir  auf  und  sie  wird  weiterhin  zu  verwerthen 
-ein.  Zunächst  blätterte  ich  im  Falgentius  weiter  and  im  fol- 
genden 8.  Briefe  fand  ich  die  Quelle  unseres  III.  Rythmus, 
des  Ketzergedichtes.  In  diesem  Briefe  will  Fulgentius  seinen 
jungen  Freund  Donatus  ausrüsten,  daß  er  bei  religiösen  Disputen 
urtheilen,  vielleicht  selbst  mit  disputiren  könne.  Der  erste  und 
größere  Teil  des  Briefes  behandelt  Fragen  über  die  Trinität  (S. 
197-205  =  Cap.  I-IX  =  §  1—18). 

Dann  fährt  Fulgentius  (§  19)  weiter,  er  wolle  sich  kurz  fassen. 
Dann  werden  in  §  20  und  21  die  sich  entgegengesetzten  Lehren 
der  Sabellianer  und  Arianer  über  die  drei  göttlichen  Per- 
sonen mitgetheilt.  Es  folgt  (§  22)  die  Ansicht  der  Macedonianer, 
welche  das  Wesen  des  heiligen  Geistes  anders  erklären  als  das 
der  beiden  andern  Personen. 

Nunc  pauca  de  mysterio  dominicae  incarnationis  adverte  (§  23). 
Es  folgt  die  kirchliche  Lehre :  in  quo  sicut  est  plenitudo  divinae 
naturae.  ita  est  et  plenitudo  humanae  substantiae.  Es  folgen  die 
Sätze  des  haereticus  Manichaeus  (§  24)  und  die  entgegenge- 
setzten des  Photinianus  haereticus  (§  25). 

Wiederum  wird  (§  26)  nach  der  kirchlichen  Lehre  Christus  ge- 
nannt als :  ipse  unus,  in  quo  est  gemina  .  .  .  natura  et  utriusque  na- 
turae una  persona.  Dagegen  duo  rursus  haeretici,  sibimet  contraria 
sentientes ,  diversos  errores  intulisse  cognoscuntur ,  Xestorius 
scilicet  et  Eutyches.     Ihre  Lehrsätze  werden  angegeben. 

Jetzt  (§  27)  werden  mehrere  Stellen  des  neuen  Testaments 
citirt:  Hinc  Sabellianus  vincitur  .  .,  hinc  etiam  Arianus  su- 
peratur  .  .  Weiterhin:  hinc  etiam  et  Manichaeus  simul  con- 
funditur  et  Photinus  .  .  Der  nächste  Abschnitt  (§  28)  beginnt: 
Xestorius  quippe  et  Eutyches  apostolicis  convincuntur  elo- 
quüs  .  .. 

Der  Schluß  (§  29)  wünscht,  daß  Donat  so  den  Haeretikern 
widerstehen  könne,    firmiter  retinens  unam   naturam    et   tres  per- 

Kgl.  Ges.  d.  Wiss.    Nachrichten.    Phil.-hist.  Klasse.    1916.    Heft  5,  45 


662  Wilhelm  Meyer, 

sonas  in  trinitate  deo,  et  unam  personam  duasque  naturas  in  uni- 
genito  dei  filio  Jesu  Christo. 

Fulgentius  will  also  die  Lehren  von  3  Haeretikerpaaren  zu- 
erst (§  20—26)  nennen ,  dann  (§  27/8)  dieselben  widerlegen ;  die 
Paare  findet  er,  indem  er  je  2  Männer  zusammen  nimmt,  die  über 
dieselbe  Sache  contraria  sentiunt.  Seltsam  ist,  daß  dem  ersten 
Paar,  Arius  und  Sabellius,  ein  einzelnstehender  Dritter,  Macedo- 
nius,  zugesellt  wird.  Daß  das  gegen  die  eigentliche  Absicht  des 
Fulgentius  geschah,  beweist  der  Umstand,  daß  in  der  2.  Abthei- 
lung, in  der  Widerlegung,  an  der  entsprechenden  Stelle  Macedonius 
gar  nicht  genannt  wird. 

Ehe  ich  unser  Gredicht  mit  der  Vorlage  des  Fulgentius  ver- 
gleiche, möchte  ich  zum  Vergleich  einiges  über  Paulin  von  Aqui- 
leja  sagen.  In  seinem  polemischen  Gedichte  über  die  Adoptianer, 
in  der  Regula  fidei  (Migne  99  Sp.  469  Poetae  Karol.  I  123),  gibt 
auch  er  (Vers  90 — 106)  eine  Ketzerliste:  V.  90  Cerinthus 
'principium,  caput  omne  mali,  nefas  omne',  92  Ebyon  (Hebion), 
94  Arrius,  96  Eunomins,  99  Nestorius,  100  Macedonius, 
102  Eutyches,  104  Manis,  106  Sabellius.  Von  diesen  9  Ketzern 
sind  also  4  in  unserm  III.  Rythmus  nicht  genannt. 

Froben's  Index  zum  Alkuin  ist  gut,  wenn  auch  nicht  voll- 
ständig. Paulin's  Cerintus,  Ebyon  und  Macedonius  kommen  in  Al- 
kuin's  umfangreichen  Schriften  nicht  vor;  nur  Eunomius  wird 
(Migne  101,  179  A)  aus  Hieronymus  flüchtig  citirt.  Dagegen  die 
sechs  im  III.  Rythmus  genannten  Ketzer  sind  oft  in  Alkuin's 
Schriften  citirt,  öfter  als  der  Index  angibt.  Dagegen  andere 
Ketzer  führt  Alkuin  nicht  an,  außer  den  genannten  Eunomius 
(aus  Hieronymus)  und  den  Pelagius  (offenbar  aus  öiner  Quelle,  zu- 
sammen mit  Nestorius;    vgl.  Migne  101,  164 B;    191  C  und  222 A). 

Alkuin  nennt  in  der  an  Karl  d.  Gr.  gerichteten  Dedication  seiner 
7  Bücher  gegen  Felix  als  benützte  Quellen  die  Schriften  des  Hie- 
ronymus, Augustin,  Gregor,  Hilarius,  Leo,  Fulgentii  episcopi, 
des  Ambrosius,  Cyrill  gegen  Nestorius,  Petrus  Rav.,  Beda,  Gregor 
Nazianz.,  Isidor  und  des  Juvencus.  Alkuin  citirt  freilich  den  Ful- 
gentius nur  an  wenigen  und  unbedeutenden  Stellen  (Migne  101, 
79  C,  279  C(?)  und  288  D;  aber  er  hat  ihn  offenbar  gekannt  und 
hoch  geschätzt ;  288  D  'Fulgentius  luculentus  catholicae  fidei  scriptor'. 

Es  besteht  freilich  keine  auffallende  Ähnlichkeit  zwischen  den 
einzelnen  Ausdrücken,  den  Citaten  und  den  Gedanken  des  Fulgen- 
tianischen  Abrisses  und  dem  111.  Rythmus ;  allein  der  Grundge- 
danke und  die  Anlage  dieses  Gedichtes  ist  sicher  aus  Fulgentius 
bezogen. 


drei  Gothaer  Bythmen  aus  dem  Kreise  des  Alkoiii.  6^ 

Also :  in  der  Deprecatio  sind  2  Gebete  wörtlich  ausgeschrieben, 
welche  sich  in  einer  Sammlung  befinden,  die  in  den  Händen  der 
Angelsächsischen  und  Karolingischen  Gelehrten  viel  cursirte ,  ja 
mitunter  dem  Alkuin  selbst  zugeschrieben  wurde.  Der  I.  Rythmus 
ist  das  Glaubensbekenntniß  eines  siegesgewissen  Streiters  gegen 
die  Adoptianer  und  er  gibt  an  einer  Stelle  einen  seltsamen  Be- 
weis, den  Alkuin  vorgebracht  hat,  fast  mit  denselben  Worten 
wieder.  Der  III.  Rythmus,  der  Ketzercatalog,  ist  sicher  concipirt 
nach  einer  Skizze  des  Fulgentius,  den  Alkuin  gekannt  hat.  Dieser 
kurze  Rythmus  nennt  nur  solche  Ketzer,  aber  damit  fast  alle, 
welche  Alkuin  in  seinen  Schriften  gegen  die  Adoptianer  citirt  und 
bekämpft  hat. 

Darnach  ergibt  sich  zunächst,  daß  der  I.  und  der  III.  Rythmus 
geschrieben  sind  während  des  großen  Streites  gegen  die  Adoptianer, 
der  Karl  den  Gr.  und  seine  Gelehrten  etliche  Jahre  aufregte. 

Diese  Rythmen  sind  also  den  Quellenschriften  für  die  Ge- 
schichte dieses  Religionsstreites  beizuzählen.  Der  Verfasser 
des  I.  und  III.  und  also  auch  des  II.  Rythmus  ist  zum  Mindesten 
Alkuin  nahegestanden  und  sein  Gesinnungsgenosse  gewesen.  Na- 
türlich stellt  sich  nun  die  Frage,  ob  Alkuin  selbstder  Dichter 
gewesen  ist.  Das  kann  nicht  sicher  bewiesen  werden;  aber  es 
sprechen  auch  nicht  triftige  Gründe  dagegen.  Mir  scheinen  die 
Gedanken  und  die  Ausdrucksweise  dieser  3  Gedichte  der  geistigen 
Höhe  Alknin's  zu  entsprechen.  Rythmische  Gedichte  Alkuin's 
kennen  wir  bis  jetzt  nicht.  Den  Reim  bevorzugt  er  nicht,  weder 
im  Vers  noch  in  Prosa.  Zur  Alliteration  hat  er  als  Angel- 
sachse Neigung  in  Vers  wie  in  Prosa.  Z.  B.  die  Verse  (Epistolae 
IV  477  =  Migne  101,  648  =  Poetae  kar.  I  303): 
Omnia  qui  cemit  cordis  secreta  supemo 
lumine,  quem  nuUum  velle  latere  potest. 

Sed  tibi  sanctae       solns  imago 
magna,  creator,       mentis  in  arce 
pectore  puro       dam  pie  vivit. 

Und  der  vorangehende  Brief  beginnt:  Oarissimae  in  Christi 
■caritate  sorori  Eulabiae  virgini  Albinus  in  domino  salutenu 
Sanctae  sollicitudini  vestrae  et  laudabili  in  dei  studio  placuit  de- 
precari  de  ratione  animae  aliquid  nostram  scribere  devotioneni 
usw.  Das  ist  nicht  die  Überfülle  des  Aldhelm  oder  des  Aethilwald, 
sondern  eher  das  besonnene  und  kräftige  Maß  des  Beda.  Dieser 
Schmuck  mäßiger  Alliteration  nähert  sich  aber  sehr  der  in  unseren 
drei  Rythmen  gebräuchlichen.  Hiezu  kommen  die  S.  660  u.  S.  661 
notirten  Parallelen  des  I.  Rythmus  mit  Alkuin ;  s.  auch  zu  I  83/36. 

45* 


664  Wilhelm  Meyer, 

Vorlagen  für  den  II.  Rythmus  (s.  S.  658). 

Zwei  Gebete  sind  von  dem  Dichter  im  II.  Rythmus  ausge- 
schrieben. Das  erste  trägt  den  Namen  des  Hieronymus  und  findet 
sich  bei  Alkuin  de  psalmorum  usu  I  16  (Migne  101,  Sp.  490  D); 
hier  mit  F  bezeichnet.  Dann  in  der  Handschrift  in  Orleans  184 
(162),  p.  265;  gedruckt  bei  Migne  101  Sp.  1385  C;  hier  mit  0  be- 
zeichnet. In  dem  Liber  precationum,  quas  Carolus  Calvus  .  .  li- 
teris  scribi  aureis  mandavit,  Ingolstadii  1583  S.  6  (hier  mit  K  be- 
zeichnet), über  dessen  Originalhandschrift  ich  gehandelt  habe  in  den 
Sitzungsberichten  der  philos.-pbilol.  Classe  der  müncbner  Akademie 
1883  S.  424—436 ,  bes.  S.  434  oben.  In  dem  Book  of  Gerne  f. 
45  a  (ed.  Kuypers.  Cambridge  1902  S.  90),  hier  mit  C  bezeichnet. 
Endlich  in  der  Londoner  Handschrift  Royal  2.  A.  XX  fol.  22  a 
(bei  Kuypers,  Appendix  S.  210),  hier  mit  A  bezeichnet.  Dies 
Morgengebet  beginnt  mit  'Mane  cum  surrexero'.  In  F  und  C  gehen 
voran  die  Worte :  Mecum  esto,  domine  Sabaoth. 

Die  G-Strophe  des  II.  Rythmus  (V.  37—42)  lautet: 

37  Gulae  auf  er  appetitum,       repeile  a  me  luxoriam, 

39  amorem  diruih  pecuniae       cum  peste  iracundiae, 

41  trista  (tristi?)  saecli  cum  taedio,       deus,  amputa  superbiam. 

Das  Gehet  beginnt  in  C  und  A  mit:  Aufer  a  me,  domine 
{vgl.  V.  37),  sollicitudinem  secularem,  wobei  in  A  domine  fehlt  und 
terrenam  statt  secularem  steht.  In  FOK  beginnt:  Abscinde  (ab- 
scide  die  Handschriften  von  0  und  K)  a  me  domine;  sollic.  sec. 
oder  terr.  fehlt  in  COK.  Es  folgt  nun  in  den  5  Hften  der  gleich- 
lautende Text:  gulae  appetitum  (V.  37),  concupiscentiam  for- 
nicationis  (vgl.  38  luxoriam),  amorem  pecuniae  (39),  pestem 
iracundiae  (40),  tristitiäm  (so  auch  die  Hft  0,  nicht  iusti- 
tiam)  s  eculi  (41).  Jetzt  folgen  in  den  3  Hften  FOK  die  Worte  : 
mentis  accidiam  (vgl.  41  taedio),  vanam  laetitiam,  tyrannidem  su- 
per b  i  a  e  (42).  Dagegen  die  Hften  C  und  A  sind  schwer  verderbt 
und  verstümmelt;  C  hat:  saeculi.  homicidium.  Vanam  laetitiam. 
Terrenam  superbiam;  noch  übler  A:  seculi  accidiam  uanam  laeti- 
tiam terrenam  {ohne  superbiam).  Zu  V.  37  aufer  enthalten  also 
C  und  A  die  Vorlage  unseres  Dichters,  aber  sicher  nicht  zu  V.  42. 

Das  zweite  hier  stark  ausgeschriebene  Gebet  findet  sich  in 
den  Officia  per  ferias ,  welche  unter  den  Werken  des  Alkuin  ge- 
druckt worden,  Migne  101  Sp.  598  D  mit  dem  Titel  Oratio  s.  Au- 
gustini und  dem  Anfang:  'Deus  iustitiae  te  deprecor'.  Die  Hft, 
Paris  1153,  die  ich  in  diesen  Nachrichten  1912  S.  62  besprochen 
habe,   habe   ich   selbst  verglichen;    ich    bezeichne   sie  mit  F;   dies 


drei  Gothaer  Rythmen  aus  dem  Kreise  des  Alkuin.  665 

Gebet  steht  f.  86  a.  Sonst  steht  das  Gebet  in  den  oben  genannten 
Hften:  0  263  =  Migne  101,  1384  D.  C:  f.  73  b  =  Ku}T)ers  S. 
146.       A:  f.  48  a  =  Kuypers  S.  222. 

Die  Verse  31—36  des  IL  Rythmus  lauten: 
31  Fateor  nunc  facinora      tibi,  conscio  secretorum, 
33  ego  ore,  ego  corde,       ego  opere  inquinatus. 
35  ignosce  mi  (mihi?)  pater  sancte,       quia  crimen  agnosco. 

Augustin's  Gebet  mit  allen  Varianten  lautet :  ego  ore,  ego 
corde  (33),  ego  opere  (34;  +  ego  cogitatione  CA),  ego  (+  in 
0)  Omnibus  vitiis  inquinatus  (34,  coinquinatus  CA)  sum  (F,  et 
ohne  sum  0,  sum  et  C  A).  omnibus  sceleribus  coopertus  sum  {ohne 
sum  A).  Veniam  peto  {vgl.  35 ;  +  clemens  trinitas  CA),  quia 
crimen  (F,  criminaOA,  crimina  mea  Cj  agnosco  (36;  cognosco 
O).  Scelera  mea  tibi  {om.  0)  fateor  (,31  2;  sc.  mea  confiteor 
A.  sc.  m.  non  defendo,  sed  confessus  sum  C).  quae  etsi  non  con- 
fiterer  (faterer  CA),  tarnen  (tam.  om.  CA)  te  (te  tamen  0  latere  non 
possunt  (vgl.  32 ;  F,  poterant  0  A,  poterunt  C).  Tu  enim  (+  es  C) 
scrutator  (+  es  0  A)  cordis  (cordiam  C)  et  reniom  es  (F);  tibi  occulta 
manifestantur  (F,  t.  abscondita  revelantur  0.  quia  tibi  absconsa 
revelantur  CA)  et  secreta  {vgl.  32;  et  scelera  0)  patefiunt. 
Es  folgt  jetzt  'Miserere  mei-  facta  mea',  die  Vorlage  für  V.  67 — 71. 

Dann  folgt  die  Vorlage  für  V.  51 — 54  des  II.  Rythmus: 
49  Iterans  iteravi       criminum  auxi  cumulum. 
51  quae  si  tu  adultor  deus       vindicare  voluisses, 
53  olim  me  terra  vivum       deglutisset  redintegrum  (?). 

Der  Anfang  der  Parallelstelle  des  Gehetes  lautet  in  jeder 
Hft  anders ;  in  F :  S i  tu  transgressiones  meas  iudicio  tuo  persequi 
ac  punire  voluisses  (51  und  52);  in  0:  tu  transgr.  meas,  qui 
si  in  iudicio  pers.  ac  pun.  voluisses;  mA:  tu  transgr.  meas. 
quae  si  iudicio  tuo  pers.  ac.  pun.  voluisses;  in  C:  Tu  transgr. 
meas  quas  egi.  Si  in  iudicio  voluisses  conpunire,  pro  quibus 
olim.  Dann  folgt  in  F 0 C A  der  Nachsatz :  olim  me  terra 
vivum  (FA,  vivum  terra  0  C)  absorbuisset  (obsorbuisset  CA),  das 
deutliche  Vorbild  für  V.  53, 54. 

Ich  gehe  zurück  auf  die  Stelle :  Miserere  mei  bis  facta  mea', 
die  Vorlage  für  die  Verse  67 — 72 : 

67  Miserere  mihi  deus,       ne  patiaris  me  perire 

69  neque  aetemis  tenebris       vel  atra  morte  consumi; 

71  sed  omnes  actus  vanitatis       curet  Christi  gratia. 

Miserere  mei,  domine  (deus  CA,  deus  domine  0 ;  67), 
ne  me  perire  patiaris  (pat.  per.  C,  perire  om.  A;  68)  ne 
me   sinas    (0;    ne    sinas    A,   ne  sinas  me  C;   ne  me  permittas  F) 


666  Wilhelm  Meyer, 

aeternis  tenebris  (69)  et  perpetua  morte  consumi  (70; 
cons.  morte  A).  Aufer  (+  domine  C  A)  a  corde  meo  alienatum 
(alienum  F)  sensum,  (+  et  CA)  c u r a  (72)  in  me  stuporem  mentis. 
exstirpa  a  (de  0,  in  A)  visceribus  meis  consilia  iniquitatis.  erade 
a  lingua  mea  detrahendi  eonsuetudinem,  mentiendi  fallacitatem  (fa- 
cilitatem  F),  loquendi  {om.  0)  scurilitatem  (loq.  garrulitatem  CA) 
et  omnes  actus  vanitatis  (71)  meae  (actus  meos,  ohne  van., 
F)  arte  medicinae  tuae  (arte  et  medicina  tua  F)  sana  (72.  -f  et  0) 
circumcide  in  me  (+  domine  F)  vitia  cordis  et  corporis. 

Miserere  mei,  deus,  quia  tu  nosti  facta  mea  (facta  inpudentis- 
sima  C ,  f.  mea  inpudentissima  A).  Si  tu  transgr  .  .  Nach  ab- 
sorbuisset  (s.  zu  V.  53/54)  folgen  etwa  15  fremde  Zeilen;  dann  mit 
Protege  me  .  .  .  lumen  ostende'  die  Vorlage  für  V.  85 — 95/96 ;  end- 
lich die  Vorlage  für  V.  73—78: 

73  Nomen  tuum  gloriosum      invoco,  salus  sempitema, 

75  ut  confractum  redintegres      emendesque  vitiatum. 

77  indulge  hoc,  quod  peccavi;       presta,  ne  plus  adiciam. 

Diese  Vorlage  lautet:  Miserere  mei,  domine  (F;  deus  CA,  deus 
domine  0)  et  {am.  OCA)  redintegra  confractum  (75),  sana 
corruptum,  emenda  vitiatum  (76)  et  (ac  A;  +  per  maiestatem 
atque  (et  A)  pietatem  tnam  CA)  illud  {om.  0,  et  illud  A)  indulge 
quod  feci  (77)  et  hoc  presta  (78),  ne  iterum  faciam.  Hier  ist 
das  wirMiche  Ende.  In  F  folgt  unmittelbar  ein  anderes  Gehet:  Mi- 
sericors  et  miserator  (=  0  bei  Migne  101,  1401).  OC  und  A 
schließen:  hoc  praesta  (78),  ut  amplius  non  faciam.  Dann  folgen 
die  Formeln ;  in  0:  Salvator  mundi  qui  cum  patre  etc. ;  per  salva- 
torem  dominam  nostrum,  qui  etc.  C,  per  salv.  d.  n.  Jesum  Christum, 
cui  etc.  A. 

Wie  oben  gesagt,  geht  im  Gebet  dieser  Vorlage  für  V.  73 — 
78  unmittelbar  voran  die  Vorlage  für  die  Verse  85 — 96.  Die 
Verse  lauten : 

85  Protector  deus,  protege  me      scuto  tuae  veritatis, 

87  ut  me  tela  ignita      diabuH  non  penetrent 

89  et  potestas  tenebrarum      iam  amplius  non  sauciet, 

91  Quicquid  mea  stultitia      et  excessus  desidiae 

93  aut  non  sapit  deprecare      aut  <non)  praesumit  dicere, 

96  hoc  maiestas  largiatur      et  tribuat  dei  bonitas. 

Der  Text  der  Gebetsvorlage  lautet :  Protege  me,  dorn  ine 
(85),  scuto  veritatis  ac  (ac  om.  OA)  fidei  tuae  (86;  tuae  om. 
F ;  ver.  tuae  et  fidei,  ut  C ,  ver.  tuae  ac  fid.  tuae ,  ut  A)  u  t  m  e 
diaboli  (diabolica  A)  iacula  ignita  (ign.  iacula   CA)   non  pe- 


drei  Gothaer  Rythmen  aus  dem  Kreise  des  Alkuin.      I,  1—8,  6Ö7 

netrent  (87.  88),  Et  {otn.  0)  quicquid  (+  enim  0)  illud  est  quod 
infelicitas  mea  (91)  a  (de  0)  te  petere  (+  aut  non  accipit  0)   aut 
non  praesumit  (94;  somit  A)  aut  non 
F:   intellegit,    id   tu   pro   tua   virtate   tribue  (96)   et  hoc  lar- 

gire  (95) 
0:  sapit  (93),   hoc  tu  pro  virtute  tua  tribue  (96)  et  pro  ma- 

iestate  et  pietate  tna  largire  (95) 
C:  sapit  (93),  id  tu  pro  tua  pietate  et  maiestate  ac  dementia 

tua  mihi  largire  (95) 
A:  sapit  (93),  id  tu  pro  tua  pietate  tribue  (96)  et  pro  ma- 
iestate ac  dementia  tua  mihi  largire  (95).  Dann: 
F  0  A  C  quod  animam  meam  salvet  (digneris  salvet  C)  a  morte 
et  exeante  me  (exeunti  mihi  0,  exeunte  mihi  CA)  de  hoc  chao 
(0  A :  d.  h.  chau  C,  de  hac  claustra  F ,  de  hac  claosura  F  edit.) 
manum  porrige  (porrigas  0)  et  {oni.  C)  lumen  ostende  (ostendas  0). 
Folgt  die  oben  gedruckte  Vorlage  für  V.  73—78. 

Zu  bemerken  ist,  daß  die  beiden  von  unserm  Dichter  ausge- 
schriebenen Gedichte  in  der  Hft  0  unmittelbar  aufeinander  folgen 
(Migne  101,  1384/5).  Weiter  ist  deutlich,  daß  der  Text  der  Hften 
FOK  meistens  dem  Text  sich  nähert,  den  der  Dichter  benützt  bat; 
aber  hie  und  da  konmit  diesem  der  Text  der  Hften  C  und  A  näher. 

I  (De  trinitate  et  de  Christo  deo  homine). 

Es  beginnt  die  erste  Spalte  des  BL  30  b,  die  links  sehr  wenig  be- 
schnitten ist.  Z.  1 — 32,  65—96  und  169 — 188  sind  auf  der  Tafel  photo- 
gi-aphirt  Herausgegeben  von  Clemens  Blume  in  den  Analecta  hymnica 
51  (1908)  S.  302/4.  Die  Ergänzungen  der  weggeschnittenen  Buchstaben 
sind  von  Blume,  wenn  nicht  anderes  notirt  ist.  Ueber  den  Inhalt  dieses 
I.  Rythmus  s.  oben  S.  658/59.  Natürlich  finden  zu  dieser  Darstellung  des 
orthodoxen  Glaubens  in  den  Schriften  A 1  k  u  i  n  s  sich  sehr  viele  parallelen 
Stellen.  Hier  will  ich  nur  solche  beischreiben,  welche  im  Ausdruck  dem 
Gedichte  auffallend  ähnlich  sind. 

A]ltus  auctor  omnium, 
sator  summus  seculorum, 
3  legum  lator,  largus  dator, 

ab  Omnibus  adorandus. 
Ajdonai  omnipotens, 
q]ui  mensus  es  manu  aquas 
7  et  caelum  palmo  contines 

terramque  pugno  concludis. 

2  satur  G,  7  contenee  G:  BUtme  änderte       1 — 3:  tm  Book  of  Ceme 

(ed.  Kuypcrs,  Cambridge  1902)  beginnt  S.  213  eine  Reihe  von  aiphdbetisch 
geordneten  Gebeten  mit:  Altus  auctor  omnium  creaturarum.  Dann  begintit  ein 
in  angelsächsischen  Handschriften  und  sonst  weit  verbreitetes  Gebet  mit  starkem 


668  Wilhelm  Meyer, 

Beim  und  Assonanz  (Blume^  Andeda  51  no  229) :  Sancte  sator       suffragator 
Legum  lator       largus  dator. 

Bojnus  factor  bona  valde 
cjondidit  cuncta  celeriter. 
11  quae  singula  sunt  nam  bona, 

simul  omnia  satis  bona, 
ßejenedico  te,  rex  aeterne, 

qni  fecisti  per  verbum  tuum 
15       i]ma  et  summa  universa 

quique  regis  cuncta  deus. 

10  condidisti  (zehnsilbiger  Vers!),  was  Blume  scfmeb,  ist  unnöthig  14 
fecististi  G. 

C]mn  esset  dei  unicus  :, 

natus  natura,  non  dono, 
19  f actus  hominis  filius 

plenus  gratia  per  donum. 
C]um  virginali  in  utero 
coepit  esse  Christus  homo, 
23  non  aliud  esse  coepit 

homo  coeptus,  quam  dei  natus. 

21  uirginale  Qr  18  vgl.  Alkuin  100,  418  c  deus  nee  necessitate  nee 
voluntate  filium  genuisset,  sed  natura.  101,390  =  117D  unigenitus  est 
dei  filius  non  gratia,  sed  natura.  19  factus  (est)  21 — 24  vgl.  Alkuin 
101,  39 A  =  117 A  =  268 B  ex  quo  homo  esse  coepit,  non  aliud  coepit 
esse  quam  dei  filius,  et  hoc  unicus. 

Dei]  patris  unigenitus 
e]st  matri  primogenitus, 
87        ijdem  ipse  utrumque, 

ex  utroque  unus  Christus. 
De]  US  pater  donat  nato 
njomen  altum  super  cuncta, 
31  non]  hoc  verbo  per  gratiam, 
sed  corpori  deificato. 

30  omem  G  31  von  n  ist  noch  ein  Best  zu  sehen :  non  Meyer ,  dat 
Blume  29  Philipp.  2,9  deus  exaltavit  illum  et  donavit  illi  nomen,  quod 
est  super  omne  nomen 

Ego  sum  sine  principio, 
qui  sum  sine  fine  deus; 
35  ipse  unus  substantia, 

qui  in  tribus  subsistentiis. 
Ex  corde  patris  genitus 
summa  sapientia  filius. 


drei  Gothaer  Rythmen  aus  dem  Kreise  des  Alkuin.      I,  9—58.  669 

39  procedebat  paracletus 

ex  ambobus  indivise. 

36  subsistentiis  ist  ziemlich  deutiich :  Blume  las  subsistemus  und  madtte 
daraus  subsistimus.  40  Blume  druckt  indivisus,  33/34  vgl.  Exod.  3, 13 
(filiis  Israel)  dicam :  Deus  patruin  vestrorutn  misit  me  ad  vos.  si  dixerint 
mihi:  Quod  est  nomen  eius?  quid  dicam  eis?  Dixit  deus  ad  Mosern: 
Ego  sum  qui  sum.  Alt:  Sic  diccs  filiis  Israel:  Qui  est,  misit  me  ad 
▼OS.  Über  das  seltene  Wort  'subsistentia*  hatte  Arno  den  Alkuin 
befragt;  dieser  antwortet  in  einem  besonderen  Brief  (Migne  100,  418). 
Darin  bringt  Alkuin  zuerst  die  eben  citirte  Stelle  der  Exodus  3,14  vor; 
dann  sagt  er :  Graeci  solent  dicere  de  deo :  una  usia ,  tres  bypostases,  id 
est,  una  substantia,  tres  subsistentiae ;  quod  beato  Hieronymo  non  placuit, 
melius  esse  dicendmn  arbitranti  latino  eloquio :  una  substantia,  tres  per- 
sonae.  Alkuin,  der  das  "Wort  auch  bei  Fulgentius  Rusp.  epist.  XVII  2 
(p.  287)  gelesen  haben  kann  'Christum  in  duabus  naturis .  .  in  una  persona 
aive  subsiatentia  confiteri',  citirt  es  noch  aus  C\Till ,  Sp.  TOB  =  72  B  'est 
in  subsistentia  Spiritus  special!'.  So  war  es  ein  vornehmes  "Wort  geworden 
und  Paulin  sagte  in  seinem  Gedicht  gegen  die  Adoptianer  (Poetae  kar. 
I  116):  14  In  deitate  quidem  simplex  essen tia  constat, 
15  in  trinitate  manet  sed  subsistentia  triplez. 

Fidei  nostrae  fundamentum 

Christus  Jesus  crucifixus. 
43  de  summo  patris  ima  petens, 

ut  nos  ad  alta  revocaret. 

Fundamentum  hoc  habentes 

in  supemis  satis  altum. 
47  illuc  mente  ascendamus. 

ubi  dextra  dei  patris  est. 
41   seil,  est        44  ad  ist  über  der  Zeile  er  gönnt. 

Gignendo  pater  appellatus 
prolem  ex  se  prodit  almum, 
51  cuius  ante  omne  tempus 
una  et  patri  est  maiestas. 

51  tempus  omne  G,  mit  Zeichen  der  Umst^ung  52  una  et  par  Blume, 
woM  richtig,  wenn  niclit  patris  zu  ändern  ist.  Vor  Z.  49  oder  nadt  Z.  52 
fehlt  eine  Hälbstroi>he  von  4  Zeilen,  deren  erste  mit  G  begann. 

Homo  Christus  hnmanatus 
de  spiritu  et  virgine 
55  dei  patris  esse  prolis, 

non  sancti  spiritus  creditur. 
Homo  ex  aqua  renatus 
natus  aquae  non  dicitur, 


670  Wilhelm  Meyer, 

59  sed  dei  patris  esse  prolis 
et  matris  ecclesiae. 

57  renatus  Blume :  reNonatus  G  ;  vgl.  Joh.  3, 5      59" dei  ist  über  der  Zeile 
ergänzt.     Der  gleidie  Gang  der  Gedanken   und   Worte    bei  Alkuin   de    fide    s. 
trinitatis  III  3  (=  Migne  101,  39  D — 40  A)  ist  oben  S.  659 J60  gedruckt. 
Idem  virginis  filius, 
idem  qui  dei  est  filius, 
63  sine  defectu  alterius 
utrumque  unus  Jesus. 
Ijpse  Christus  came  natus 
ut  ceteri  cuncti  nati, 
67  in  natura,  non  peccato, 
sine  crimine  castus  natus. 

63  defectu  Blume,  defectui  G  vgl.  156  C:  ab  initio  conceptionis 
deus  verus  et  verus  filius  dei,  absque  omni  peccato  conceptus  est  et  natus. 
61,  65,  68  add.  est  V.  65 — 96  sind  in  der  2.  Spalte  der  Tafel  photogra- 
phirt.  Sie  bilden  die  1.  Spalte  von  Bl.  21a.  Manche  Anfangsbuclistaben  stecken 
unter  der  Heftschnur. 

Kaput  nostrum  Christus  deus 

nosque  omnes  eins  membra; 
71  sed  capiti  concordantes 

Caritas  nos  Christo  iungit. 

Kaput  nostrum  cum  corpore 

unus  Christus  est  effectus, 
75  quanto  magis  mediator 

homo  deus  unus  Christus. 

71  in  G  beginnt  S  mit  einem  Haken;  Blume  Si,  Meyer  Sed  72  Ca- 
ritas G|  Blume  drUfCkt  Spiritus  und  notirt  als  Lesart  der  Hft:  Ciritus  (I) 
76  homo  G  und  Meyer  (jedes  o  ist  mit  dem  vorangehenden  Strich  ligirt;  s. 
oben  S.  649);  Blume  las  lesus  vgl.  I.  Tim.  2,5:  unus  enim  deus,  unus 
et  mediator  dei  et  hominum  homo  Christus  lesus.  Hier  wie  oft  in  diesen 
Gedichten  sind  Formen  von  esse  zu  ergänzen. 

Laetare,  virgo  Maria, 
laetare  in  tuo  filio, 
79  laetemurque  omnes  in  eo, 
qui  nasci  dignatus  ex  ea! 
Laudabatur  ab  angelis, 
a  pastoribus  inspicitur. 
83  a  magis  Christus  quaeritur, 
et  a  Stella  deraonstratur. 
79  q;  über  der  Zeile  G       80  (est)  ex  ea.  ?       82  pastostoribus  G 
84  demostiatur. 

Maria  virgo  veraciter 
dei  genetrix  dicitur. 


drei  Gothaer  Bythmen  aas  dem  Kreise  des  Alkuin.      I,  59 — 116.        671 

87  verbum  enim  caro  factum, 

non  in  carnem  conversum  est. 

Mariae  gremium  germinavit, 

genuit  deum  et  hominem, 
91  vemm  corpus  et  animam, 

ut  homo  totus  sit  redemtus. 

85  veracif  G  (s.  Photogr.):  Blume  las  vera  habet,  was  er  eu  habetur 
corrigirte       86   dicitvr  ist  aus  diciter  corrigirt. 

None  commune  deitatis 

deus  nomen  trinitatis, 
95  in  quo  unicus  benedictus 

venit  et  sanctus  spiritus. 

Namque  pater  omnipotens 

in  hoc  esse  adprobator, 
99  quia  deum  coeqaalem 

genuit  natura  filium. 

95  Rom.  9, 5  patres  et  ex  quibus  est  Christus  secundmn  carnem,  qui 
est  super  omnia  deus  benedictus  in  secula.  9  7  Die  2.  Spalte  des  Bl.  21  a 
beginnt  mit:  Nam  pater,  wobei  zwischen  m  und  p  eingeklemmt  ist  q.  (que): 
Blume  las  Nunquam  pater  98  in  adprobatur  ist  das  sotist  ungebräuchliche 
b  durch  Correctwr  {aus  c?)  hergestellt. 

Omnipotens  verbum  patris 

virtusque  et  voluntas 
103  caeli  terrae  cuncta  implet 

suae  deitatis  potentia. 

Omnia  data  a  deo  patre 

humanitati  eins  verbi, 
107  sedis  patemae  consessio 

et  angelorum  ofRcia. 

101  Omnipotens  ist  aus  omnipotem  corrigirt  in  G  102  vgl.  U  115 
virtus  patris  et  voluntas  106  uerbi  ist  aus  uere  corrigirt,  was  allein  Blume 
kennt  107  Blume  druckt  confessio  utid  108  officium  Der  V.  108  ist  in 
der  Enge  zwischen   107   und   109   nachgetragen  G. 

Passus  est  prineeps  regum, 
cuius  pater  passus  non  est; 
111  nee  procedens  passus  umquam: 
Christus  solus  carne  passus. 
Primogenitus  ex  mortuis 
per  sanguinem  sibi  cuncta, 
115  quae  in  caelo  et  in  terra, 
sancta  pace  sociavit. 
Vgl.  Apoc.  1,5  a  Jesu  Christo,  qui  est  testis  fideüs,  primogenitus  mor- 


672  Wilhelm  Meyer, 

tuorum  et  princeps  regum  terrae;    qui    dilexit    nos    et   lävit    nos  a  peccatis 
nostris  in  sanguine  suo        110  pasus  G 

Quem  ante  saecula  credimus 

patri  natum  sine  matre, 
119  ipsum  quoque  in  eins  fine 

matri  natam  sine  patre. 

Qui  nee  unione  est  confusus 

nee  distinctione  geminatus, 
123  idem  semper  homo  deus, 

ipse  deus  homo  verus. 

118  patris  Blume  ohne  Note  120  in  G  ist  matre  (=  Blume)  zu 
matri  corrigirt.  Vgl.  Migne  101,97  B:  ipse  ante  saecula  de  patre  sine 
matre ,  ipse  in  fine  saeculorum  de  matre  sine  patre.  1 1 2  A  :  idem  deus 
qui  homo,  et  qui  deus  idem  homo,  non  confusione  naturae,  sed  unitate 
personae.  285  A:  nee  naturarum  copulatione  confusus  nee  naturarum  dis- 
tinctione geminatus. 

Resurgens  rex  a  mortuis 

mortis  destruxit  Imperium, 
127  solvens  vincla  mancipatis 

et  reducens  regno  dei. 

Redemit  nos  rerum  factor 

magno  pretio  mirifice 
131  cum  sacro  suo  sanguine, 

non  metallis  mortalibus. 

125  rex,  das  iiher  der  Zeile  nadtgetragen  ist,  las  Blume  als:  set       129  Blume 
druckt:  ut  reducens. 

Spiritus  sanctus  paracletus, 

consolator,  advocatus, 
135  est  cum  patre  et  filio 

noster  factor  et  redem[tor.] 

Sancti  spiritus  processio 

ita  ut  filii  nativit[as] 
139  latet  cunctas  creat[uras] 

et  antecellit  univer[sa]. 

Mit  V.  133  beginnt  die  3.  Spalte  der  Vorderseite  des  21.  Blattes. 
Weit  nach  rechts  vorspringenden  Zeilen  sind  hinten  einzelne  Buchstaben  [  ] 
abgeschnitten.  140  antecellit  Blume^  antecellet  G  Migne  1071A:  qui  sit 
modus  processionis,  ita  non  possumus  evidenter  dicere,  sicut  generationem 
filii  non  potest  humanus  animus  aestimare.  165  A  incarnationis  mysterium 
humanus  oculus  penetrare  non  sufficit.  104B:  generatio  (Christi)  super 
omnem  originem  humanae  creationis  excellit. 

Ter  cum  deum  dicimus, 
non  tres  deos  credimus, 


drei  Gothaer  Rythmen  aus  dem  Kreise  des  Alkoin.    I,  117 — 174.      673 

143  sed  xmum  invisibilera 

in  maiestatis  gloria. 

Ternis  in  bis  personis 

trinitatem  crediraus; 
147  patrem.  verbnm,  proceden[teni] 

UDO  laudemus  carmine. 

Unns  dens  est  nam  pater, 

unicns  dens  est  filius, 
151  unicus  deos  est  spiritns: 

hoc  unitas  trinitatis. 

Verus  pater  qui  genuit, 

verns  filins  qui  genita[s], 
155  verns  procedens  spiritus: 

hoc  trinitas  unitatis. 
151   deus  über  der  Zeile  ergänzt  in  G. 

Xpo  in  crnce  coronat[o] 

fei  ad  escam  deder[nnt], 
159  sitim  potabant  aceto: 

vae  tibi,  gens  miser[a] ! 

Xps  e  caelo  veniens, 

scilicet  nt  came  praes[en8j 
163  excelsas  iudicet  or[bem] 

et  reseret  pectora. 

159  potabunt  G  163  o  mit  eititm  Strich,  dem  nicht  der  2.  Strich  des 
m  zu  folgen  scheint  G:  omnes  Blume,  orbem  Meyer  164  reseret  Blume, 
reserat  G. 

Ymnnm  dicat  ord[o  omnis], 
fideKs  qui  inve[nitur,] 
167  patri  nato  para[cletoj, 
gloriosae  trini[tati]. 
Ymnnm]  dicamus  dei  nato 
qui  ab  ajrce  alta  caeli 
171  indutjas  venit  corpore, 

ut  salvajret  nos  vitales. 

166  qui  Blume,  quis  Gr  mit  V.  171  beginnt  die  1.  Spalte  der  Rück- 
seite von  Bl.  21.  Diese  im  Anfang  stark  beschnittene  Spalte  ist  auf  der 
Tafel  photographirt.  Die  Ergänzungen  stammen  zumeist  von  Blume. 
170  rce  zu  lesen  ist  nicht  sicher  alta  Blume,  alto  ist  in  G  aus  arto  corri- 
girt  171  hat  Christus  den  Leib  vom  Himmel  mitgebracht?  vgl.  Note  zu 
III  30. 

Zelum  dei]  sie  habentes 

non]  inanes  obloquentes 


674  Wilhelm  Meyer, 

175  abs]que  serpentis  sibilo 

verum]  deum  adorantes. 
Zelo  bo]no  omittentes 
dir]a  draconis  ubera 
179  aquas]  vitae  hauriamus 

de  fonjtibus  salvatoris. 

176  Blume  ergänzt:  simus]  deum  adorantes  ist  stark  corrigirt  (aus 
obd?)        177  Zelo  bojno  Meyer         178  falsja  Blume         179  auriamus  G 

Grloria]  tibi,  trinitas, 
patri,]  filio,  procedenti, 
183       una  ejademque  indivisa, 
hjonor  et  gloria. 
Grloria]  tibi,  Jesu  bone. 
qui  natjuram  nostrae  carnis 
tuae]  deitati  adunasti, 
188      ut  nos]  in  te  gloriemur. 

184  virtus  oder  laus  (11  142)  scheint  zu  ergänzen  187  vgl.  Migne 
101, 29  D  (filius  dei)  carnem  ex  virgine  assumens,  ita  humanae  naturae 
adunatus  est,  ut  idem  esset  homo  qui  deus,  et  deus,  qui  homo,  236  D: 
Filii  persona  assumpsit  hominem  in  utero  virginali  et  adunavit  sibi  in 
unam  personam,  ut  esset  unus  filius  dei. 

II  (Deprecatio.) 

Dies  Gedicht  beginnt  in  der  halben  Höhe  der  1.  Spalte  von  Fol.  21b. 
Die  links  verstümmelten  Zeilen  1 — 15  sind  in  der  3.  Spalte  der  Tafel 
photographirt.  Ueber  das  ganze  Gedicht  s.  S.  658 ;  die  darin  benützten 
Vorlagen  sind  abgedruckt  S.  664/67.    Die  Ergänzungen  sind  von  "W.  Meyer. 

Adiutor  ]in  te  sperantium, 
exjaudi  me  miserum. 
3     de  pro]fundis  peccatürum 

clamo]  corde  credulo ; 
5      ne  me]  tradas  tetris  tectis 
et  imi  inferni. 

1  vgl.  Ps.  17,2  deus  mens  adiutor  mens  et  sperabo  in  eum.  Pro- 
tector  mens  .  .  31  Protector  est  omnium  sperantium  in  se.  5/6  ist  tectis 
richtig,  so  ist  vielleicht  'diri]et' ^^w  ergfän^cn;  oft  ist  von  den  tenebrae  die  Bede; 
so  V.  69  und  Migne  101,  605  C:  tenebrae  operuerunt  me,  caligo  inferni 
involvit  me,  operuit  me  tenebrarum  horror. 

7     Benedic]to  ore  tuo, 

bone  deujs,  qui  dixisti, 
9  gaud]ium  esse  angelorum 

in  8u]pernis  satis  magnum 


drei  Gothaer  Rythmen  aus  dem  Kreise  des  Alkuin.     I,  175 — II,  40.    675 

11     super  u]no  peccatori 

agenjti  poenitentiam. 

8  Luc.  15,7  Dico  vobis,  quod  ita  gaudium  erit  in  coelo  super  uno 
peccatore  poenitentiam  agente  etc. ,  die  angeii  tcerden  uur  von  Fulgentius  (s, 
oben  S.  660/61)  und  von  Alkuin  an  2  Stellen  erwähnt.  10  vgl  I  46  in 
snpemis  satis  altum. 

13       Cem]e,  pater  piissime, 
amar]e  flere,  quae  i'eci. 
15     expur]ga  cor  uoratum 
puro  fönte  lacrimanim, 
17  unde  anima  abluetur 
a  tarn  sordidis  actibus. 

13  pater  ist  über  der  Zeile  ergänzt  14  me  amare?  15  riefletcW  ü( 
ubratum  geschrieben;  doch  auch  umbratum  gibt  keinen  Sinn.  mit  Z.  16  be- 
ginnt die  2.  Spalte  von  Bl.  21b.  18  sordidis  Meyer:  G  hat  sordis,  todbei 
f  in  einer  größeren  Rasur  steht. 

19  Dens  aetemae  gloriae, 

obsecro  te  semper,  Jesu, 
21  per  vexillum  verae  crucis 

eripe  me  deprecantem 
23  de  laqueo  delictorum 
et  faucibus  inferorum. 
22  me  über  der  Zeile  ergänzt  in  G. 

25  Egens  sum  ego,  in  labore 

conturbatus  et  confusus. 
27  nihil  digne  umquam  egi, 

in  peccatis  concoeptus  sum, 
29  degens  semper  in  delictis, 
pressas  pondere  pessimo. 

28  Ps.  50,7  in  iniquitatibus  conceptus  sum  et  in  peccatis  concepit 
me  mater  mea. 

31  Fateor  nunc  facinora 

tibi  conscio  secretorum: 
33  ego  ore,  ego  corde, 

ego  opere  inquinatus. 
35  ignosce  mi  pater  sancte, 
quia  crimen  agnosco. 
Die  Vorlage  s.  oben  S.  664.       35  mihi? 
37  Gulae  aufer  appetitum, 
repelle  a  me  luxoriam, 
39  amorem  dirum  pecuniae 
cum  peste  iracundiae. 


ß76  Wilhelm  Meyer, 

41  tristi  saecli  cum  tedio, 
deus,  amputa  superbiam. 

Die   Vorlage   s.    oben   S.  664.  38    reppelle    G       41  trista  G,  tristi 

Meyer  :  vgl  Migne  591  A:  abscide  a  nie  tristitiam  ßeculi  (=  accidia  mentis). 

43  Heu  raihi,  tristis  plango. 

quis  me  talem  liberat 
45  de  conpagine  peccatorum 

et  voragine  flagitiorum 
47  nisi  gratia  advocati 

altissimi  agni  dei? 

44  liberabit?  vgl.   Migne  591  A:  quis  me  liberabit  de  corpore  mortis 
Jiuius  peccati  (pecc.  fehlt  1401  B)  nisi  gratia  tua,  domine  Jesu  Chiiste? 
46  fagitiorum  Meyer:  flagitium  G;    durch  die   Ver Schleifung  flagitiorum  wird 
der  Vers  neunsilbig.       47  vgl.  Job.  Ep.  I  2, 1   advocatum  habemus  apud  pa- 
trem,  Jesum  Cbristum  iustum. 

49  Iterans  iteravi 

criminum  auxi  cumulum. 
51  quae  si  tu,  ultor  deus, 

vindicare  voluisses, 
53  olim  me  terra  vivum 

deglutisset  integrum. 

Die  Vorlage  s.  oben  S.  665.  mit  Z.  49  beginnt  die  3.  Spalte  von 
Bl.  21  b.  G  gibt  51  tu  adultor  und  54  redintegrum :  corr.  Meyer  54  die 
Vorlage  hat  absorbuisset,  doch  vgl.  Psalm  123,2  forte  vivos  deglutissent 
DOS  (inimici). 

55  Karitatem  deus  non  fictam, 

castitatem  da  perfectam 
57  humilemque  tenaciam 

et  veram  oboedientiam! 
59  in  te  sint  mihi  omnia, 

quem  amo  super  omnia! 

In  dem  oben  S.  664  zu  V.  37 — 42  citirten  Gebet  des  Hieronymus  geht 
'es  nadi  'superbiae'  weiter'.  Planta  in  me  virtutem  .  .  .  castitatem  .  .  .  humi- 
litatem  non  fictam  (55),  fraternam  caritatem..  57  Migne  1415 A 
wird  di€  tenacia  unter  Lastern  genannt       58  oboediam  G. 

61  Lux  Vera  fideliom 

et  larga  dei  pietas, 
«)3  qui  benignus  adstetisti 

publicani  precibus, 
65  nunc  quoque  me  lugentem 

fove  sancta  trinitas. 
64  puplicani  G       65  fove  Meyer :  fabe  G ;  natürlictier  wäre  fave,  doch 


drei  Gothaer  Rythmen  aus  dem  Kreise  des  Alkoin.    II,  41—99.       677 

der  Accusativ  me  scheint  unmöglidi ;  vgl.  Mignt  471B:  qni  non  sprevisti  publi- 
canum,  ne  spemas  me. 

67  Miserere  mihi,  deas, 

ne  patiaris  me  perire 
69  neque  aetemis  tenebris 

vel  atra  morte  consumi; 
71  sed  omnes  actus  vanitatis 

curet  Christi  gratia. 
Die    Vorlage  ist  oben  S.  665  gedruckt. 

73  Nomen  tuum  gloriosum 

invoco,  Salus  sempitema, 
75  ut  confractum  redintegres 

emendesque  vitiatum. 
77  indulge  hoc,  quod  peccavi; 

presta,  ne  plns  adiciam. 
Die    Vorlage  ist  oben  S.   666  gedruckt. 

79  Omnipotens  trinitas, 

una  Vera  divinitas, 
81  suscipe  me  fugientem 

de  criminum  caligine. 
83  ad  verum  lumen  revoca  me 

tuae  sanctae  scientiae. 
85  Protector  deus,  protege  me 

seuto  tuae  veritatis, 
87  ut  me  tela  ignita 

diabuli  non  penetrent 
89  et  potestas  tenebrarum 

iam  amplius  non  sauciet. 

Die    Vorlage  ist    oben  S.  666  gedruckt.        mit  Z.  85  beginnt  die  1.  SpaUe 
ton  Bl.  22a.      85  Ps.  17,3  Protector  meus        90  sauciet  Meyer:  sauciat  G 

91  Quicquid  mea  stultitia 

et  excessus  desidiae 
93  aut  non  sapit  deprecare 

aut  (non)  praesumit  dicere, 
95  hoc  maiestas  largiatur 

et  tribuat  dei  bonitas. 

Die   Vorlage  ist  oben  S.  667  gedruckt.         94  non    habe   ich   ergänzt  aus 
der   Vorlage.        96  tribuet  G:  tribuat  Meyer. 

97  Rex  regum  rectissime 
et  dominus  ditissime, 
99  qui  nullis  eges  opibas, 

Kgl.  Oes.  d,  Wiss.    Nachrichten.    Phil.-hist.  Klasse.    1916.   Heft  5."  46 


ß7g  Wilhelm  Meyer, 

semper  bona  largitus  es; 
101  doce  me  velle  et  nosse 
tuam  facere  voluntatem. 

97  vgl.  Cölumban:  'Te  timemus  terribilem  .  .  O  rex  regum  rectissime 
bei  Blume,  Änalecta  hymnica  51  p.  286.  98  G  hat  dns,  nicht  dne  99 
nullis  egea  Meyer,  nullius  egis  G  100  bona  ist  über  der  Zeile  ergänzt 
101    vgl.  Migne  101,  591  A:  doce  me  facere  voluntatem  tuam. 

103  Spes  unica  et  sincera, 

mundi  salus  et  vita  es. 
105  qui  solus  mortem  vicisti, 

aditum  vitae  reserasti, 
107  erue  me  de  umbra  mortis 

facque  intrare  viam  lucis. 
105  uicuisti  G. 

109  Te  iudicem  esse  spero, 

quem  agnosco  salvatorem. 
111  venisti  pro  me  iudicari, 

qui  veneras  iudicare. 
113  sed  quem  mitis  liberasti, 

numquam  sinas  interire. 
112  ueneras  :  oh  venies  ? 

115  Uirtus  patris  et  voluntas 

frangens  claustra  inferorum 
117  hominem  odio  abiectum 

astris  tulit  mirantibus: 
119  meque  imo  iacentem 

tua  sublevet  dementia. 

115  vgl.  I  102/3  Omnipotena  verbum  patris  virtusque  et  voluntas. 
mit  Z.  118  beginnt  die  2.  Spalte  von  Bl.  22  a. 

121  eXul  homo  paradisi 

per  peccatum  protoplasti 
123  exitum  suum  expavescens, 

dum  clauduntur  lumina! 
125  sed  tu,  mi  Jesu,  miserere, 

presta,  quaeso,  partem  vitae! 
122  proplausti,  to  übergeschrieben,  G        123  fuü  über  der  Zeile  G 
127  Ymnum  deo  nunc  debeo, 

sed  canto  Carmen  lugubre. 
129  factus  sine  auxilio 

solus  plango  peccamina. 


drei  Gothaer  Rythmen  aus  dem  Kreise  des  Alkuin.     II,  100 — III,  12.    679 

131  tarnen  dico,  quod  debeo: 

soll  deo  semper  laus ! 
130  vgl.  43  Heu  mihi  tristis  plango. 

133  Zelo  habere,  quod  amavi, 

et  amare,  quod  zelavi. 
135  inmuta  dextra  excelsi 

lesu  filii  altissimi, 
137  ut  hie  et  in  perpetuo 

te  laudare  merear, 

134  zelaui  ist  aus  amaui  corrigirt  in  G  j  ich  verstehe  es  nicht,  auch  nitht 
das  folgende  inmuta       136  fili? 

139  Gloria  deo  patri 

aequalisque  deo  filio 
141  una  cum  sancto  spiritu 

laus  honor  et  virtus 

perpetuaque  potestas 
144  et  aeterna  maiestas! 

142  Dieser  einzige  Sechssilber  ist  wohl  durch  einen  Schreibfehler  entstanden. 
Vielleicht  ist  'sit'  zu  ergänzen.  Am  Ende  der  SiydUe  ist  noch  der  Baum 
einer  sechszeiligen  Strophe  leer  geblieben. 

(Drei  Ketzer-Paare.) 

Arjrius  et  Sabellius 
hejretici  inpudici : 
3      un]us  non  vult  unam  esse 

tri]nitatis  substantiam, 
5     altjer  iungens  incongrue 
et]  confundens  personas. 
7  Audjite  haec  orthodoxi, 

]ies  Christi  expugnavit 
9      un]o  loco  ambos  simul: 
eg]o  et  pater  unum  sumus. 
'sujmus'  non  sapit  Sabellius 
12      ne]c  Arrius  'unum'  fari. 

Über  die  Anlage  dieses  Gedichtes  und  das  Vorbild  bei  Fulgentius 
Rusp.  p.  205/7  vgl.  oben  S.  661/2.  Die  V.  1—30  s.  auf  der  4.  Spalte 
der  Tafel  3/4  Falsum  est,  quod  Ariani  trium  personarum  tres  naturas  per- 
suadere  cöntendunt  Fulgentius.  5/6  Si  quem  videris  patris  et  filii  et  Spi- 
ritus sancti..  unam  adserere  personam,..  haereticum  Sabellianum  agnosce . . . 
Ariani  naturam  trinitatis  dividunt  et  personas  Sabelliani  confundunt.  7  K" 
über  der  Zeile  G  8  vor  es  steht  i  oder  der  letzte  Strich  eines  n  oder  m ;  dann 
ist  xpi  nicht  sicher:  es  könnte  auch  xpf  sein.  10  Dieser  Vers  des  Johannes 
10,30  wird  von  Fulgentius  S.  331  de  trinitate  cap.  4  so  erklärt:  'unum'  ad  na- 

46* 


680  Wilhelm  Meyer, 

turam  referre  nos  docet,  'sumus'  ad  personas  . . .  Audiat  Sabellius  'sumus',  .  . 
Audiat . .  Arius  'unum'  et  non  differentis  filium  dicat  esse  naturae.  Von  Alkuin 
wird  der  Vers  {Migne  100,  883  D)  gegen  Sabellius  und  Arius  und  deutlicher  894  A 
so  erJclärt:  Conticescat  Sabellius  audiena  Ego  et  pater,  qui  unam  personam 
patris  et  filii  prava  doctrina  disseruit;  nam  ego  et  pater  duae  sunt  personae. 
Item  erubescat  Arius  audiens  'unum  sumus',  qui  duas  naturas  in  patre  et 
filio  astruit,  dum  unum  unam  naturam  significat,  sicut  'sumus'  duas  per- 
sonas. Der  Plural  'sumus'  tvird  zur  Widerlegung  des  eine  Person  lehrenden 
SaheUius,  das  Neutrum  'unum'  =  una  natura  loird  zur  Widerlegung  des  drei 
naturas  lehrenden  Arius  verwendet.  10  fumuf  ist  aus  fimuf  corrigirt. 

11   vor  US  sind  nur  2  Striche^  nicht  ein  ganzes  m  erhalten. 

13    Majnicheus  et  Fotinus 

e  Jdiverso,  sed  impie 
15      un]us  Christum  verum  deum, 

nonj  hominem  profitetur ; 
17       aljter  aeque  obnoxie 

hojminem  purum  indicavit. 
19    Dicjunt  Christum  verba  vitae 

deu]m  verum  et  hominem 
21  quo  Lazarus  lacrimatur 

em  nee  fotinus  profitetur 
23  m  a  quo  est  suscitatus 

em  nee  credit  Manicheus. 

Vgl.  Fulgentius  §  34J5  Si  quis  sie  in  Christo  veram  divinitatem  prae- 
dicat ,  ut  eins  veram  carnem  negare  contendat,  est  haereticus  Manichaeus. 
Rursum  qui  sie  dicit  Christum  hominem,  ut  deum  neget,  est  Photinianus 
haereticus.  15/lG  Migne  101,  1330  D:  Anathematizamus  Manichaeum,  qui 
Christum  solum  deum  et  non  hominem  fuisse  praedicat.  17  obnoxie  = 
noxie  vgl,  Migne  101,  476  D:  exaudi  me  peccatorem  et  culpabilem  et  in- 
dignum  et  negligentem  et  obnoxiüm.  18  purum  ist  unsicJier ;  ebenso,  ob 
indicavit  oder  iudicavit.  vgl.  Praedestinqti  de  haer.  I  44 :  Photinus  .  .  ho- 
minem purum  fuisse  Christum  docebat  et  a  Maria  coepisse.  Migne  101, 
883  D :  Photinus  dicit :  Christus  homo  tantum  est,  non  deus ;  zu  1^  homo 
purus  vgl.  noch  140 A,  159 D.  166 A.  291 B.  491  C.  21  ob  lacrimatur  oder 
lacrimatus,  ist  unsicher.  22  vor  em  steht  u  oder  d.  19 — 24  Diese  Zeilen 
waren  mir  lange  unverständlich.  Sie  müssen  eine  Widerlegung  der  An- 
sichten des  Manicheus  und  Photinus  enthalten.  Die  citirte  Person  des  La- 
zarus kann  dazu  dienen,  insofern  als  die  Beweinung  des  Lazarus  (Joh. 
11,35  et  lacrimatus  est  Jesus)  die  Menschheit,  die  Auferweckung  des  Todten 
aber  die  Gottheit  Christi  bezeugen  kann.  Doch  vergeblich  suchte  ich  nach 
einem  Zfeugniß  für  diese  Erklärung.  Nur  Augustin  Tract.  49  in  Joh.  be- 
merkt zu  Joh.  10,4  'Infirmitas  haec  non  est  ad  mortem,  sed  pro  gloria 
dei,  ut  glorificetur  filiua  dei  per  eam', :  Videte ,  quemadmodum  tanquam  ex 
obliquo  dominus  deum  se  dixit,  propter  quosdam  qui  denegant  filium  deum 
esse  usw.  Der  Wortlaut  dieser  Widerlegung  scheint  in  der  Überlieferung 
der  Hft   entstellt   zu  sein.     Zuerst    kam  jedenfalls  das  Zeugniß  der  Bibel: 

(Dic)unt  Christum  verba  vitae       (deu)m  verum  et  hominem. 


drei  Gothaer  Rythmen  aus  dem  Kreise  des  Alkuin.    III,  13—36.       681 

Nun  folgen  noch  zwei  Sätze  ,  von  denen  aber  jeder  zwiespältig  ist. 
1)  Dem  Satze  der  Bibel  entsprechen  auch  Christi  Handlungen  (bei  Lazarus): 
er  hat  a)  den  Lazarus  beweint,  als  ein  echter  Mensch ;  er  hat  b)  den  längst 
gestorbenen  Lazarus  wieder  lebendig  gemacht,  als  ein  echter  Gott.  2)  Diesen 
unumstößlichen  Thatsachen  widersprechen  nun  die  Sätze  der  beiden  Hä- 
retiker: a)  des  ^lanicheus,  welcher  leugnet,  dalJ  Christris  echter  Mensch 
war,  b)  des  Photinus,  welcher  leugnet,  daß  Christus  echter  Gott  war.  Also 
sind  diese  Sätze  falsch.  Es  können  nun  zuerst  die  Lazarusthatsachen  bei- 
sammen gestanden  sein,  und  dann  die  widei-spruchsvollen ,  also  falschen 
Sätze  der  Haeretiker: 

(a)  quo  Lazarus  lacrimatur,       (id)em  a  quo  est  suscitatus  : 
aber   (homin)em  nee  credit  Manicheus,        (deu)m  nee  Fotinus  profitetur. 

oder    es    kann    jeder   Lazarusthatsache  sogleich    die  Folgerung    beigegebea 
worden  sein : 

(a)  quo  Lazarus  lacrimatur,       (hunc)  (homin)em  nee  credit  Manicheus, 
(id)em  a  quo  est  suscitatus,       (hunc)  (deu)m  nee  Fotinus  profitetur. 

Nestjorius  et  Eutichen 

contra]rie  Christum  profitentes: 
27  p]rior  propter  duas  naturas 

djaos  Christos  introduxit; 
29  ajlter  e  caelo  Christum  narrat 

humanum  sumsisse  corpus. 
31  Audi,  Nestori  nequissime, 

unionem  in  hoc  Christi : 
33  filius  hominis  venit  de  caelis  I 

et  tu,  Eutichen,  audax  pestis, 

disce  Christi  corpus  esse 
36  ex  germine  David  regis  ! 

30  sumsisse  Meyer,  sumi  G  31  nestore  G  Die  letzten  6  Zeilen 
stehen  in  der  2.  Spalte  des  Blattes  22  b,  sind  also  unversehrt.  Dies 
Ketzerpaar  wird  nicht  nur  von  Fulgentius  und  Anderen  zusammengestellt, 
sondern  auch  von  Alkuin;  vgl.  Sp.  136  A.B  und  291  D.  26  (contra)rie : 
«rgänzt  nach  Fulgentius  S.  206 :  alii  duo  rursus  haeretici,  sibimet  contraria 
sentientes,  diversos  errores  intulisse  noscuntur.  27/8  vgl.  164  B  Nestorius 
duas  in  Christo  personas  voluit  intellegi.  223  C :  nee  Christum  dividimus  .  . 
in  duas  cima  Nestorio  personas.  Sp.  186  A:  Cesset  Nestorius  filium  ho- 
minis a  filio  dei  separare  et  duos  sibi  facere  Christos  usw.:  Sp.  290D: 
Non  hominem  et  verbum,  duos  Christos,  alterum  sublimem  et  alterum  sub- 
^tum  .  .  confitemur  usw. ;  Sp.  44  A :  non  sunt  duo  Christi ,  nee  duo  fiüi, 
sed  unus  Christus  et  unus  filius,  deus  homo.  29/30  vgl.  Gennadius  de 
dogmatibus  cap.  II:  caniem  ex  virginis  corpore  trahens,  et  non  de  caelo 
secum  afferens,  sicut  Marcion,  Origenes  et  Eutyches  affirmant  (Gehler,  Corp. 
haereseolog.  I  336  und  362),  womit  verwandt  ist  (bei  Gehler  S.  299) 
Pseudo-Hieronymi  Indiculus  cap.  40 :  Eutychitae  dicunt  Jesum  .  .  .  non  er 
came  virginis  carnem  traxisse,  sed  quasi  de  caelo  exhibuerit  corpus.  End- 
lich ist  zu  vergleichen    die  bei   Migne    101, 360  A    citirte   Stelle    aus    dem 


682    Wilhelm  Meyer,  drei  Gothaer  Rythmen  aus  dem  Kreise  des  Alkuin. 

Breviarium  causae  Nestorianae  et  Eutychianae  des  Liberatus  cap.  1 1 :  Eu- 
tyches  praedicabat  Christum  consubstantialem  nobis  non  esse  secundum 
camem,  sed  de  coelo  corpus  habuisse.  33  Die  Worte  'audi  .  .  in  hoc* 
kündigen  ein  Citat  an;  dies  könnte,  wie  oben  S.  654  bemerkt,  die  unge- 
wöhnliche Form  des  Verses  (10  oder  11  Silben)  entschuldigen.  Aber  welches 
Citat  ist  dies?  Sachlich  ähnlich  fand  ich  nur  Daniel  7,13:  et  ecce  cum 
nubibus  caeli  quasi  filius  hominis  veniebat.  Aber  unter  den  vielerlei  For- 
men, in  denen  dieser  Vers  (nach  Sabatier)  citirt  wird,  fand  ich  keine  der 
unsrigen  'filius  hominis  venit  de  caelis'  ähnliche.  Wenn  aber  unser  Dichter 
dem  Citat  die  Form  selbst  gegeben  hat,  weßhalb  hat  er  dann  nicht  die  auf- 
fallende Zahl  von  10  oder  11  Silben  vermieden:  z.B.  filius  hominis  de  caelis? 
36  wohl  nach  Bom.  1  3  qui  factus  est  ex  semine  David  secundum  carnem. 


Uebersicht. 


Die  Handschrift  in  Gotha  I  75  und  darin  der  Nachtrag  auf  Bl.  20  b — 
22  b.  S.  647  Erklärung  der  photogr.  Tafel.  S.  647—652  Schrift  (Ver- 
such einer  Minuskelschrift);  S.  650  Abkürzungen  und  Chiffern;  S.  651 
Art  der  Abschrift.  S.  652  —  657  die  rythmischen  Formen ;  S.  653  Silben- 
zahl und  Schlußcadenzen ;  S.  655  der  innere  Zeilenbau;  S.  655  Übersicht 
der  Zeilenarten;  S.  656  Alliteration;  S.  657  Zeilenpaare.  S.  657—663 
Inhalt  und  Verfasser;  S.  658  Inhalt  von  I  und  II;  S.  658  Alkuin  und 
die  Adoptianer;  S.  659  Inhalt  von  I  und  (S.  660)  von  III;  S.  661  Ful- 
gentius  von  Euspe  Quelle  des  III.  ßythmus;  S.  663  der  Verfasser  ist  ein 
Freund  des  Alkuin  oder  Alkuin  selbst.  S.  664 — 667  Vorlagen  für  den 
II.  Eythmus.  S.  667—682  Text  der  3  Rythmen:  S.  667:  I.  Rythmus; 
S.  674:  II.  Rythmus;  S.  679:  in.  Rythmus. 


Der  neu  entdeckte  Urtext  der  Lex  Salica. 

Von 
Bruno  Krnscfa. 

Vorgelegt  von  W.  Meyer  in  der  Sitzung  vom  24.  Juni  1916. 

Die  Stellung  der  Lex  Salica  unter  den  deutschen  Rechtsquellen 
und  ihre  Bedeutung  nicht  nur  für  das  deutsche  Recht,  sondern 
für  die  gesamten  inneren  Verhältnisse ,  die  deutsche  Verfassung, 
Haus  und  Familie,  Besitz  und  Kultur,  auch  für  die  Geschichte  der 
deutschen  Sprache  hebt  ihre  Ausgabe  weit  heraus  im  Arbeitspro- 
gramm der  Monumenta  Germaniae,  und  auch  die  Freunde  des  Alter- 
tums jenseits  des  Rheines  sehen  mit  Spannung  gerade  dieser  Publi- 
kation entgegen,  vor  allem  aber  hat  die  Göttinger  Gesellschaft 
der  Wissenschaften  seit  Waitzens  Tagen  so  lebhaften  Anteil  an 
dieser  uralten  Quelle  und  dem  Gedeihen  unseres  großen  Xational- 
werkes  überhaupt  genommen,  daß  sie  die  neueste  Entwickelung 
dieser  Angelegenheit  nicht  gleichgiltig  lassen  kann.  Es  handelt 
sich  aber  bei  den  Arbeiten  des  Dr.  Mario  Krammer,  der  seit  nun- 
mehr 13  Jahren  diese  Ausgabe  im  Schöße  der  Leges-Abteilung 
vorbereitet  und  durch  seine  wundersamen  Ergebnisse  die  rechts- 
historischen und  sprachwissenschaftlichen  Forschungen  nachhaltig  be- 
einflußt, um  eine  völlige  Umwälzung  der  textkritischen  Grundlagen, 
der  man  nur  mit  großen  Besorgnissen  zusehen  kann.  Seine  im 
Druck  befindliche  Ausgabe  gründet  sich  auf  den  von  den  anderen 
Recensionen  völlig  abweichenden  99-Titel-Text,  die  dritte  Familie 
J.  H.  Hesseis' ^),  als  den  Urquell  unserer  gesamten  handschrift- 
lichen  Überlieferung   und   steht   in    schroffem   Gegensatz    zu   der 


1)  Lex  Salica :  the  ten  texts  with  the  glosses  and  the  Lex  emendata,  hersgg. 
von  J.  H.  Hesseis,  London  1880. 


634:  Bruno  Kruse h, 

bisher  herrschenden  Ansicht  der  früheren  Forscher  seit  Pardessus  ^) 
und  Waitz^),  die  vielmehr  den  ältesten  und  reinsten  Text  in  der 
kürzeren  65  -  Titel-Fassung,  der  ersten  Familie  Hesseis',  zu  finden 
glaubten.  Jene  bisher  für  eine  völlige  Umarbeitung  einer  verhältnis- 
mäßig sehr  späten  Zeit  gehaltene  Recension  rückt  also  plötzlich 
als  die  älteste  und  beste  an  die  Spitze  der  gesamten  Überliefe- 
rung (A),  die  bisherige  erste  Familie  erhält  die  zweite  Stelle  (B), 
der  interpolierte  65-Titel-Text  die  dritte  (C),  und  BC  sollen  nun 
umgekehrt  schlechte  Überarbeitungen  von  A  sein,  ja  nicht  bloß 
aus  dieser  Klasse  herstammen,  sondern  ihre  Vorlage  wäre  sogar 
noch  heute  in  der  Handschrift  von  Montpellier  H  136  saec.  IX. 
in.  (bei  Krammer  A3')  erhalten.  Die  bisherige  Auffassung  geht 
im  Wesentlichen  auf  die  grundlegende  Arbeit  von  G.  "Waitz  zurück, 
der  sich  der  genauen  Prüfung  der  überlieferten  Texte  als  uner- 
läßlichen Vorarbeit  für  seine  verfassungsgeschichtlichen  Studien 
unterzogen  hatte.  Nun  kommt  es  leider  an  den  Tag,  daß  Waitz 
ganz  verkehrte  Bahnen  eingeschlagen,  das  Verhältnis  der  Texte 
völlig  verkannt  und  die  schlechte  Ableitung  aus  einer  noch  er- 
haltenen Handschrift  der  karolingischen  Fassung  A  für  den  alten 
heidnischen  Urtext  der  Lex  gehalten  und  seiner  Ausgabe  zu  Grunde 
gelegt  hatte !  Und  dieser  Stümper  in  der  Editionskritik  ist  1875 
an  die  Spitze  der  Monumenta  Germaniae  gestellt  worden! 

Allerdings  hatte  auch  Krammer  einmal  über  A  keine  ganz  so 
günstige  Ansicht  gehegt  und  über  C  keine  ganz  so  schlechte.  In 
seinem  ersten  Aufsatz  *)  wurde  umgekehrt  gerade  C  als  der  älteste 
Text  gepriesen,  wiederum  im  Gegensatz  zu  der  früheren  Forschung, 
und  damals  war  A  als  die  minderwertigste  Recension  in  die  letzte 
Stelle  geschoben  worden.  Dieser  Aufsatz  ist  ein  erster  Teil  ge- 
blieben und  hat  die  in  Aussicht  gestellte  Fortsetzung  niemals  er- 
halten. Die  Erleuchtung  war  Krammer  nach  einer  Reise  durch 
Italien,  Spanien  und  Frankreich  ^)  gekommen,  und  ein  zweiter  Auf- 


1)  Pardessus,  Loi  Salique.  Paris  1843. 

2)  G.  Waitz,  das  alte  Recht  der  Salischen  Franken,  Kiel  184G. 

3)  Ich  behalte  die  falschen  Klassen-  und  Hss.- Bezeichnungen  Krammers  bei 
und  nenne  B  4  die  Haupths.  Paris  4404,  B  3  die  Wolfeubütteler,  Weißenburg 
97,  B  2  München  4115,  B  1  Paris  9653,  C  2  Paris  4403  B,  C  1  Paris  18237, 
A  3  Montpellier  H  136,  A  2  St.  Gallen  731,  A  1  Paris  4627.  Hesseis  zählt 
die  Hss.  in  der  richtigen  Reihenfolge  von  1  bis  9  und  weicht  von  meiner  An- 
ordnung nur  darin  ab,  daß  er  A  1  (8)  vor  A  2  (9)  setzt. 

4)  Kritische  Untersuchungen  zur  Lex  Salica.  Von  Mario  Krammer.  Erster 
Teil,  N.  A.  XXX  (1905),  S.  261—319. 

6)  N.  A.  XXXn  (1907),  S.  23. 


der  neu  entdeckte  Urtext  der  Lex  Saüca.  685 

satz  ^)  fünf  Jahre  später  brachte  die  überraschende  Entdeckung  der 
neuen  Theorie  über  die  Entstehung  der  Lex  Salica  auf  der  Grund- 
lage von  A. 

Da  dies  aber  auch  nach  Krammers  Urteil  eine  karolingische 
Bearbeitung  ist,  die  direkt  als  Urtext  nicht  in  Frage  kommen 
kann,  so  erwuchs  ihm  die  nicht  ganz  leichte  Aufgabe,  den  „un- 
zweifelhaft" merovingischen  Urtext  aas  dem  späteren  Machwerk 
zu  rekonstruieren.  Ein  dritter  Aufsatz  ^)  wiederum  mehrere  Jahre 
später  suchte  die  neue  Entdeckung  zu  rechtfertigen  und  Aufschluß 
über  die  „schrittweise  Entwickelung"  zu  geben,  wie  sie  sich  nach 
Krammers  Vorstellung  vollzogen  haben  sollte. 

Das  war  ja  nun  freilich  auch  die  höchste  Zeit.  Inzwischen 
hatte  nämlich  Hilliger')  in  einer  scharfen  Kritik  von  Krammers 
vorhergehenden  Arbeit  sein  neues  System  unbarmherzig  zerzaust 
und  erklärt,  daß  eine  Ausgabe  auf  dieser  Grundlage  „der  größte 
Rückschritt  wäre,  den  die  Forschung  auf  diesem  Gebiete  zu 
verzeichnen  hätte.  Launig  bemerkte  er  zu  Krammers  Sprunge 
von  C  zu  A  als  der  Quelle  unserer  gesamten  Überlieferung ,  daß 
jetzt  alle  Möglichkeiten  erschöpft  seien,  es  müsse  denn  jemand 
noch  an  die  Emendata  oder  die  Ausgabe  Herolds  denken  wollen. 
Hilliger  wies  nach,  daß  Krammers  Beweis  für  die  Ursprünglich- 
keit von  A  mißglückt  sei,  daß  der  Epilog,  auf  den  Krammer  sein 
System  gebaut,  nicht  zu  A  gehöre,  sondern  von  der  wichtigen 
Wolfenbütteler  Hs.  des  65-Titel-Textes,  bei  Krammer  B  3,  abhänge. 
Damit  fiel  dessen  willkürliche  Annahme  über  die  Entstehung  der 
Lex  in  ein  Nichts  zusammen,  und  er  hatte  auf  Grund  der  Titel- 
zahlen des  Epiloges  behauptet ,  daß  Chlodovech  die  Titel  des  A- 
Textes  bis  74  in  den  Jahren  486 — 496,  bis  77  nach  seiner  Bekeh- 
rung 496—507  gegeben,  die  folgenden  aber  bis  99  seine  Söhne  Chil- 
debert  L  und  Chlothar  I.  hinzugefügt  hätten.  Die  Titelzahlen  des 
Epiloges  beziehen  sich  vielmehr  auf  die  Nummerierung  der  Hs.  B  3, 
wo  hinter  der  eigentlichen  Lex  Salica  die  angehängten  Novellen 
fortlaufend  weitergezählt  sind,  darunter  Gesetze  Childeberts  I.  und 
Chlothars  I,  nämlich  der  Pactus  pro  tenore  pacis ,  und  diese  Titel, 
nicht  die  A-Titel  der  Lex  meint  der  Epilog ,  wie  das  die  frühere 
Forschung ,    Waitz   an  der   Spitze ,   bereits   richtig  erkannt  hatte. 


1)  M-  Krammer,  Zur  Entstehting  der  Lex  Salica,  in  Festschrift  H.  Brunner 
zum  70.  Geburtstag  dargebracht  von  Schülern  u.  Verehrern.  Weimar  1910.  S.  405  ff. 

2)  Forschungen   zur    Lex    Salica.      Von    Mario  Krammer.    I,  N.  A.  XXXIX 
(1914),  S.  599—691. 

3)  Benno  Hilliger,   Lex    Salica.      EpUog  und   Hunderttiteltext.    Historische 
Vierteljahrschrift  XIV  (1911),  S.  153—181. 


686  Bruno  Krusch, 

Zuerst  hatte  RietscheP)  diese  ZaUen  mit  den  99  Titeln  in  Ver- 
bindung gesetzt,  jedoch  auf  den  Einspruch  Brunners  ^)  seinen  Irr- 
tum zugegeben^),  was  freilich  Krammer  nicht  abgehalten  hat,  auf 
diesen  Irrtum  sein  ganzes  System  zu  begründen.  In  höchst  wir- 
kungsvoller Weise  hat  Hilliger  (S.  178  fg.)  die  spätere  Entstehung 
des  99-Titel-Textes  durch  den  Hinweis  auf  die  abweichende  Stilisie- 
rung der  dort  durch  Differenzierung  neu  gebildeten  Titel  in  einer 
Tabelle  vor  Augen  geführt ,  in  der  sich  die  neuen  'Si  quis'-Titel 
von  den  alten  *De'-Titeln  des  B-Textes  scharf  abheben;  die  Neu- 
bildungen geben  auch  nur  die  Anfangsworte  des  Textes  wieder, 
weßhalb  sie  im  Text  selbst  keine  Überschriften  tragen.  Steht  aber 
hinsichtlich  seiner  Gliederung  A  dem  Urtexte  ferner  als  jede  an- 
dere flss-Klasse,  dann  war  das  von  Krammer  aufgestellte  System 
falsch,  und  die  schleunige  Abkehr  von  dem  falschen  System  wäre 
das  Klügste  gewesen,  was  man  hätte  tun  können,  mochte  auch 
der  angerichtete  Schaden  schon  damals  ziemlich  beträchtlich  sein. 
Krammer  hat  die  ernste  Mahnung  in  den  Wind  geschlagen 
und  in  eigensinnigem  Festhalten  an  dem  falschen  System  seine 
Ausgabe  drucken  lassen*).  In  seiner  Rechtfertigung  suchte  er 
nachzuweisen,  daß  umgekehrt  B  das  Kapitelverzeichnis  von  A  3 
fortwährend  benutzt  habe,  welche  Hs.  ja  die  Quelle  der  gesamten 
B-Klasse  sein  soll ;  jede  Bezugnahme  auf  Hilligers  Kritik  ist  aber 
sorgfältig  vermieden,  und  so  kann  sich  der  Leser  ohne  jede  lästige 
Störung  ganz  dem  Eindrucke  seiner  Ausführungen  hingeben.  Nur  eine 
kurze  Notiz  Krammers  in  den  Nachrichten  des  N.  Archivs  XXXVII, 
S.  343,  beschäftigt  sich  mit  Hilligers  Schrift,  und  hier  ist  seine  Fest- 
stellung über  die  Grestaltung  des  Kapitelverzeichnisses  von  A  sogar 
als  „wertvoll"  bezeichnet,  ja  wir  hören,  daß  sich  die  gleiche  Be- 
obachtung ihm  selber  schon  aufgedrängt  habe;  überhaupt  habe  es 
ihm  jederzeit  ferngelegen,  Hilligers  Verdienste  zu  bestreiten.   Das 


1)  S.  Rietschel,  der  Pactus  pro  tenore  pacis  und  die  Entstehungsgeschichte 
der  Lex  Salica  (Zeitschr.  der  Savigny-Stiftung  für  Rechtsgesch.  27  Bd.  Germ. 
Abt.  1906,  S.  253  ff.). 

2)  H.  Brunner,  Über  das  Alter  der  Lex  Salica  und  des  Pactus  pro  tenore 
pacis  (Zeitschr.  der  Savigny-Stiftung  f.  Rechtsgesch.  29  Bd.,  Germ.  Abt.  1908, 
S.  136  ff.). 

3)  S.  Rietschel,  die  Entstehungszeit  der  Lex  Salica  (Zeitschr.  der  Savigny- 
Stiftung.     Bd.  30  Germ.  Abt.  1909.     S.  117  ff.). 

4)  Der  Druck  der  Krammerschen  Ausgabe  hat  nach  dem  offiziellen  Jahres- 
bericht 1912  begonnen,  und  zwar  waren  8  Bogen  Ostern  1913  (N.A.  XXXIX,  S.  8), 
weitere  9  Bogen  1914,  3  Üogen  1915  gedruckt,  wozu  noch  1  V»  Seiten  im, vorigen 

■  Geschäftsjahr  gekommen  sind. 


der  neu  entdeckte  Urtext  der  Lex  Salica.  687 

klingt  nicht  gerade  so,    als  wenn  man  viel  Vertrauen  zur  eigenen 
Entdeckung  gehabt  hätte. 

Ein  um  die  Jahreswende  erschienener  neuer  Aufsatz  Kram- 
mers ')  enthält  sehr  notwendige  Ergänzungen  zu  dem  vorigen  und 
fesselte  außerdem  meine  Aufmerksamkeit  durch  die  entschiedene 
Absage  gegen  ein  Argument,  dessen  ich  mich  zur  Begründung  meiner 
Bedenken  auf  der  vorjährigen  Plenarversammlung  der  Zentraldi- 
rektion der  Monumenta  Germaniae  bedient  hatte.  Ein  rein  äußer- 
licher Umstand  hatte  mir  damals  Veranlassung  gegeben,  mich  mit 
dem  meinem  Arbeitsgebiete  ganz  fernliegenden  Gegenstande  einige 
Tage  zu  beschäftigen ,  und  ohne  Kenntnis  von  Hüligers  Kritik 
war  ich  zu  ganz  denselben  Ergebnissen  gelangt,  wie  dieser.  Meine 
Ausführungen  schienen  auch  damals  auf  die  Plenarversammlung 
Eindruck  zu  machen,  und  der  Anregung  eines  Mitgliedes  folgend, 
habe  ich  eine  schriftliche  Widerlegung  der  neuen  Lehre  aufge- 
setzt, die  im  nächsten  Heft  des  N.  Archivs^)  erscheinen  wird  und 
schon  Ende  des  vorigen  Jahres  gesetzt  war.  Wenn  ich  mich  trotz 
meiner  Abneigung  zu  einer  Kritik  der  inzwischen  erschienenen 
neuen  Verteidigungsschrift  entschließe ,  so  geschieht  es ,  wie  ich 
betonen  darf,  lediglich  aus  rein  sachlichen  Gründen,  um  weiteres 
Unheil  zu  verhüten  und  denjenigen  neues  Material  zu  liefern,  in 
deren  Hand  die  Entscheidung  über  die  Fortsetzung  der  wichtigen 
Publikation  gelegt  ist.  Im  Interesse  der  Monumenta  Germaniae 
wäre  eine  schleunige  Entschließung  dringend  zu  wünschen,  und  aus 
Interesse  an  ihrem  Schicksal  schreite  ich  zur  Veröffentlichung  dieses 
Aufsatzes.  Handelt  es  sich  doch  um  einen  in  der  fast  100jährigen 
Geschichte  unseres  großen  Nationalwerkes  einzig  dastehenden  Fall. 

Ein  Mitarbeiter  der  Monumenta  Germaniae,  dem  eine  der 
wichtigsten  Quellen  aus  ihrem  Editionsgebiete  anvertraut  ist,  hat 
in  seiner  13  jährigen  Tätigkeit  zweimal  in  diametral  entgegenge- 
setzter Richtung  die  Arbeiten  begonnen  und  beide  Male  in  falscher  ; 
alle  Arbeiten  und  alle  Kosten ,  welche  auf  diese  von  Grund  aus 
verpfuschte  Ausgabe  verwandt  wurden,  sind  weggeworfen,  und  die 
bisher  gedruckten  Bogen  müssen  eingestampft  und  die  Arbeiten 
von  neuem  begonnen  werden.  Das  schwerste  Mißgeschick,  welches 
die  Monumenta  Germaniae  seit  ihrem  Bestehen  betroffen  hat,  kann 
niemand  mehr  beklagen  als  ein  in  ihren  Diensten  ergrauter  Mitar- 


1)  Die  ursprüngliche  Gestalt  und  Bedeutung  der  Titel  De  filtorto  und  De 
vestigio  minando  des  salischen  Gesetzes.  Eine  kritische  Untersuchung  von  H. 
Dr.  Mario  Krammer  (Zeitschr.  der  Savigny-Stiftung  Bd.  36,  Genn.  Abt.  1915,  S. 
336—437). 

2)  N.  Archiv  XL,  S.  497—579. 


Bruno  Krusch, 

beiter,  dem  es  vergönnt  war,  in  den  glänzenden  Zeiten  eines  Waitz 
und  Mommsen  mitzuschaffen. 

Waitz  selbst  hatte  sich  die  Leges-Abteilang  bei  der  Neu-Kon- 
stituierung  der  Monumenta  Germaniae  1875  vorbehalten ,  und  in 
keine  besseren  Hände  hätte  sie  kommen  können,  als  in  die  des  Verf. 
des  alten  Rechts  der  Salischen  Franken.  Mit  sicherer  Hand  hat  er 
die  Ausgabe  des  Formel-Bandes  geleitet,  und  es  ist  klar,  daß  unter 
seiner  Leitung  ein  solcher  Fehlschlag  undenkbar  gewesen  wäre. 
Es  ist  hier  nicht  der  Ort  zu  prüfen,  ob  nicht  vielleicht  dem  wenig 
glücklichen  Mitarbeiter,  der  auf  alle  Fälle  die  Verantwortung  für 
seine  Publikation  zu  tragen  hat ,  mildernde  Umstände  aus  der 
ganzen  Organisation  des  Unternehmens  erwachsen ,  die  für  andere 
Zeiten  und  Personen  zugeschnitten  war.  Schon  Dümmler  war  „eine 
reformierende  Fortführung'^  der  Arbeiten,  eine  „Reorganisation  des 
großen  National  Werkes"  von  Mommsen  nahe  gelegt  worden,  als 
dieser  ihn  1889  als  neues  Mitglied  und  Nachfolger  von  Waitz  in 
der  Akademie  der  Wissenschaften  begrüßte  ^).  Zu  dieser  Reorgani- 
sation ist  es  nicht  gekommen,  vielmehr  erlangten  nach  Waitzens 
Tode  die  einzelnen  Abteilungen  wachsende  Selbständigkeit,  und 
auf  dieser  Linie  hat  sich  die  weitere  Entwickelung  vollzogen,  die 
zu  der  neuen  Ausgabe  der  Lex  Salica  geführt  hat.  Damit  leidet 
dieser  Editionsplan  zum  zweiten  Mal  Schiffbruch.  Ursprünglich 
wollte  der  Begründer  der  Monumenta  Germaniae  die  Ausgabe 
selbst  besorgen,  schlug  aber  sofort  eine  so  verkehrte  Richtung  ein, 
daß  im  Inland  und  Ausland  die  Fachgelehrten  dagegen  ihre  Stimmen 
erhoben.  Das  hat  Krammer  nicht  abgeschreckt,  an  derselben  Stelle 
seine  Urtext-Experimente  zu  beginnen,  an  der  so  viele  Jahre  vor- 
her der  erste  Editionsplan  gescheitert  war. 

Die  völlige  Unmöglichkeit  auch  seiner  neuen  Theorie ,  der 
Text-Entwicklung  von  B  aus  A,  ergibt  sich  jedem  Fachmanne  so- 
fort sowohl  aus  der  Beschaffenheit  der  Hss.,  wie  aus  einer  Verglei- 
chung  der  beiden  Texte  im  Einzelnen,  die  außerhalb  Hilligers  Auf- 
gabe lag.  Alle  Annahmen ,  Erklärungen  und  Schlüsse  Krammers 
zur  Begründung  eines  solchen  Verhältnisses  sind  falsch,  drehen 
den  wahren  Sachverhalt  um  und  zerstören  die  ganze  bisherige 
Forschung,  so  daß  nicht  dringend  genug  davor  gewarnt  werden 
kann. 

Der  99-Titel-Text  von  A  ist  durch  systematisierende  Überar- 
beitung der  66  Titel  von  B  entstanden,    und   der  Überarbeiter  A 


1)  Sitzungsberichte   der  Berliner  Akad.  d.  Wissenscb.     Phil.-hist.  Kl.  1889, 
S.  688. 


der  neu  entdeckte  Urtext  der  Lex  Salica.  689 

hat  an  zahllosen  Stellen  den  richtigen  B-Text  gründlich  mißver- 
standen nnd  verdorben,  besonders  eine  Anzahl  ganz  unentbehrlicher 
Sätze,  ja  ganze  Abschnitte  übersprungen,  die  sich  richtig  in  B  und 
in  C  finden.  Durch  seine  Xachlässigkeit  ist  eine  der  wichtigsten 
Stellen  des  ganzen  Gesetzes  über  die  Grenzen  des  Frankenreiches 
in  dem  berühmten  Titel  B  XLVII  'De  filtortis'  ausgefallen,  worauf 
Krammer  zu  meinem  Erstaunen  in  seinen  vorigen  Forschungen  zur 
Lex  Salica  mit  keinem  Worte  eingegangen  war.  Sein  letzter  Auf- 
satz holt  dies  nach  und  führt  an  zwei  Titeln  seinen  Reinigungs- 
prozeß der  Lex  Salica  vor,  der  den  echten  unverfälschten  Urtext 
zum  Vorschein  bringen  soll.  In  einer  Note  kündigt  er  sehr  be- 
stimmt „weitere"  Fortsetzungen  seines  vorigen  X.  Archiv-Aufsatzes 
an,  vermutlich  um  dem  Verdachte  zuvorzukommen,  daß  dieser  ein 
erster  Teil  bleiben  könnte,  wie  sein  C- Aufsatz,  und  später  will  er 
uns  sogar  noch  mit  einer  zusammenhängenden  Behandlung  der 
vielgestaltigen  und  z.  T.  sehr  komplizierten  Textentwickelung  be- 
schenken, so  daß  an  ein  Versiegen  dieses  zerstörenden  Sturzbacbes 
„noch  lange  nicht"  zu  denken  ist.  Die  jüngsten  Erfahrungen  scheinen 
sein  Selbstvertrauen  eher  gestärkt  als  gemindert  zu  haben,  und  wie 
sicher  er  seiner  Sache  zu  sein  glaubte,  verrät  die  Entschiedenheit 
im  Ausdruck,  die  kaum  noch  eine  Steigerung  zuläßt;  „unbedingt^ 
enthält  die  A-Klasse  den  relativ  ältesten  Text,  aus  dem  die  übrigen 
entwickelt  seien ;  ihre  mitunter  ^geradezu  verderbt  anmutende  Dik- 
tion" ist  vielmehr  ein  Vorzug;  Altes  und  Neues  sei  in  ihr  ver- 
bunden, und  er  erkennt  noch  die  Nähte,  die  jüngere  Bearbeitungen, 
wie  B,  beseitigt  hätten.  Erst  die  Heranziehung  von  A  habe  die 
Möglichkeit  geschaffen,  die  lange  verborgenen  Intentionen  des  sali- 
schen  Gesetzgebers  wiederzuerkennen,  den  Schleier  zu  lüften,  der 
ein  Jahrtausend  über  ihnen  gelegen  haben!  „So  lange  man  von  B 
ausging,  war  es  unmöglich  zum  verlorenen  Urtext  zu  gelangen". 
Weit  weist  er  den  Gedanken  zurück,  daß  vielleicht  doch  in  B  der 
echte  Text  zu  finden  sein  könnte,  als  wenn  er  den  bewußten 
Schleier  doch  nicht  gelüftet  hätte.  Aus  seiner  Kenntnis  der  Inten- 
tionen des  Gesetzgebers  heraus  schafft  er  den  verlorenen  Urtext 
der  Lex  Salica  wieder  teilweise  in  souveräner  Unabhängigkeit  von 
der  handschriftlichen  Überlieferung,  welche  die  Pedanterie  der 
älteren  Forschung  sich  noch  zur  Richtschnur  nahm.  Verblendete 
Welt,  beschränkte  Banausen ! 

Die  Befähigung  eines  Übermenschen  gehört  allerdings  dazu,  die 
Ausführungen  Krammer's  auch  nur  zu  verstehen  und  sich  in  seinen 
Gedankengang  hineinzufinden.  Er  behauptet,  aus  A  und  zwar  aus 
A  3  sei  zunächst  B    abgeleitet ,    A  3  sei  die  Vorlage   des  Arche- 


690  Bruno  Krusch, 

typus  von  B  gewesen^),  BC  stellen  redaktionelle  Umarbeitungen 
dieser  Hs.  dar,  und  C  sei  unter  Heranziehung  wohl  sämtlicher 
überlieferter  B-Formen  verfaßt  ^),  also,  schließe  ich,  muß  B  jünger 
als  A  3,  C  jünger  als  B  sein.  A3,  die  Hs.  Montpellier  H  136, 
stammt  aber  nach  dem  übereinstimmenden  Urteil  aller,  die  sie  ge- 
sehen, erst  aus  dem  Anfang  des  9.  Jahrb.,  also,  schließe  ich,  muß 
der  daraus  abgeleitete  Archetypus  der  B-Klasse  frühestens  im  Anfang 
des  9.  Jahrb.,  der  wieder  von  B  abhängige  Archetypus  der  C-Klasse 
noch  später  geschrieben  sein.  Hier  bietet  nun  die  neue  Entdeckung 
Krammers  gleich  beim  ersten  Anlauf  schier  unüberwindliche  Schwierig- 
keiten. B  3  nämlich,  die  Wolfenbütteler  Hs.,  Weißenburg  97,  stammt 
noch  aus  dem  8.  Jahrh.  und  B  2,  die  Münchener  Hs.  4115,  vielleicht 
noch  aus  dem  Ende  des  8.  Jahrb.,  spätestens  aus  dem  Beginn  des 
9.  Jahrb.,  ja  selbst  aus  der  C-Klasse  haben  wir  noch  eine  Hs. 
Paris  4403  B,  die  Pertz  ^),  ein  ausgezeichneter  Hss. -Kenner  ,  nicht 
bloß  in  das  8.  Jahrh.  setzte,  sondern  überhaupt ,  für  „die  älteste 
aller  vorhandenen"  Hss.  erklärte ,  während  Hesseis  auch  nur 
zwischen  Ende  des  8.  Jahrh.  oder  Anfang  des  9.  Jahrh.  schwankt. 
Die  neue  Entdeckung  Krammers  stellt  uns  also  vor  das  nicht  ganz 
einfache  Problem,  daß  Texte  mit  Hss.  des  8.  Jahrb.,  und  die  Hss. 
B  2  und  B  3  habe  ich  selbst  unter  den  Händen  gehabt  und  ver- 
glichen, aus  einer  Hs.  des  9.  Jahrh.  stammen  sollen,  und  überhaupt 
die  allerälteste  Handschrift  aus  einer  weit  jüngeren.  Das  ver- 
stehe, wer  will!  Verzweifelt  faßt  man  sich  an  den  Kopf! 

Und  ein  zweites  nicht  weniger  merkwürdiges  Problem  reiht 
sich  sogleich  an.  Der  ziemlich  flüchtige  Schreiber  des  Archetypus 
von  A  hat  nämlich  infolge  noch  erkennbarer  Mißgriffe  einzelne 
Sätze,  ja  ganze  Abschnitte  ausgelassen,  die  also  nicht  bloß  in  A  3, 
der  angeblichen  Vorlage  von  BC,  sondern  überhaupt  in  allen  A-Hss. 
fehlen,  von  denen  eine,  die  Sanctgallener  731,  im  J.  794  geschrieben 
ist,  und  diese  fehlenden  Stücke  stehen  in  den  angeblichen  Ablei- 
tungen aus  A  3,  den  Hss.-Klassen  B  und  C.  In  Krammers  Urtext 
sind  diese  von  A  übersprungenen  Stellen  natürlich  nicht  mehr  zu 
finden ;  er  streicht  sie  kaltsinnig  heraus ,  er  streicht  sogar  nicht 
bloß  in  BC,  sondern  auch  in  A,  also  in  allen  Hss.  erhaltene  Stellen 
heraus,  er  setzt  teilweise  einen  ganz  anderen  Wortlaut  dafür  ein, 
setzt  Wörter  zu,  verändert  die  Verbalformen:  kurz  er  schaltet 
ganz  nach  seiner  Laune  und  Willkür  in  unbeschränktester  Selbst- 
herrlichkeit, und  der  nach  seiner  Radikalkur  glücklich  noch  übrig 

1)  N.  A.  XXXIX,  S.  623. 

2)  Ebend.  S.  606. 

3)  Archiv  VII,  S.  730. 


der  neu  entdeckte  Urtext  der  Lex  Salica.  691 

gebliebene ,  von  ihm  rekonstruierte  Urtext .  ein  Denkmal  mensch- 
licher Verirrung,  zeichnet  sich  dann ,  wie  er  rühmt ,  durch  voll- 
kommene Klarheit  und  Deutlichkeit  aus,  nicht  minder  freilich  durch 
eine  beängstigende  Schlankheit,  so  daß  er  noch  so  eine  Mißhand- 
handlung schwerlich  überdauern  würde.  Verwundert  aber  wird 
man  fragen,  wie  es  möglich  war,  daß  den  Fachkreisen  der  eigen- 
tümliche Charakter  dieser  Schriftstellerei  so  lange  fast  vollständig 
verborgen  bleiben  konnte ! 

Ich  lasse  nun  zunächst  den  Krammerschen  Urtext  des  Titels 
B  XLVII  =  A  LXXXI  folgen  ^),  welcher  den  Ausgangspunkt  seiner 
neuen  Forschungen  bildet,  und  füge  die  handschriftliche  Überliefe- 
rung in  [  ]  Klammern  bei,  nämlich  die  Zusätze  und  Verbesserungen 
von  BC  zu  dem  lückenhaften  und  verdorbenen  A-Text  und  dann  die 
aller  Hss.  an  den  von  Krammer  ganz  willkürlich  gestrichenen  oder 
veränderten  Stellen,  in  <  >  aber  die  von  ihm  ohne  jede  handschrift- 
liche Unterlage  interpolierten  "Worte.  Es  läßt  sich  jetzt  mit  einem 
Blick  der  Abstand  des  Krammerschen  Urtextes  von  der  handschrift- 
lichen Überlieferung  übersehen,  und  man  wird  staunen,  wie  weit 
sich  diese  von  den  Intentionen  des  Gesetzgebers  entfernt  hat,  aber 
auch  staunen  über  die  Divinationsgabe,  welche  dazu  gehorte,  diese 
Intentionen  glücklich  zu  „entschleiern". 

'Si  quis,    qui   lege  Salica    vivit,    servum super  alterum 

agnoverit,  mittat  eum  in  tercia  manu.  Et  ille,  super  ['aput'  B  1. 2  CJ 
quem  agnoscitur,  ['debet  agramire,  et  si  citra  Ligere  aut  Car- 
bonaria  ambo  manent,  et  qui  agnoscit  et  apud  quem  agnoscitur' 
Zus.  BC,  fehlt  A],  in  noctes  XL  placitum  faciat  [so  Hube;  faciant 
ABC],  et  in  ipso  placito  ['quanti  fuerint'  Zus.  ABC]  (eum),  qui 
rem  [so  A;  'caballo  ipso'  B;  'caballum  ipsum  aut  rem  ipsam'  C] 
[Zus.  *aut  vendiderint  aut  cambiaverint  auf  B  und  ohne  das  erste 
'aut' C,  'vendiderint  vel  camiaverint  auf  A]  furasse  [fortasse' 
und  Zus.  *in  solutione  dederunf  BC]  (videtur),    [Zus.  'omnes'  BC, 


1)  Nach  der  Rekonstruktion  in  der  Zeitschr.  der  Savigny-Stiftung  f.  Rechts- 
gesch.  Germ.  Abt.  XXXVI,  S.  376.  Seinen  Urtext  hat  Krammer  mit  großen  Typen 
drucken  lassen,  die  beiden  Überarbeitungen  A  und  B  natürlich  mit  kleinen,  und 
nur  die  angeblichen  Interpolationen  sind  darin  als  selbständige  Partien  groß  ge- 
druckt, nämlich  in  A  die  Abweichungen  von  seinem  Urtext,  d.  h.  die  von  ihm  darin 
gestrichene!)  oder  veränderten  Stellen,  in  B  die  Abweichungen  von  A,  also  die 
von  A  ausgelassenen  oder  veränderten  Stellen.  Eigentlich  hätte  B  als  der  origi- 
nale Text  groß  ,  A  aber  als  die  Überarbeitung  klein  gedruckt  werden  müssen, 
und  nur  die  Abweichungen  von  der  Vorlage  B  durften  mit  großer  Schrift  oder 
Sperrdruck  wiedergegeben  werden.  Die  völlige  Unbrauchbarkeit  der  neuen  Atis- 
gabe  ergibt  sich  schon  aus  der  verkehrten  Druckeinrichtung. 


692  Bruno  Krusch, 

'hominesV)  A]  [Zus.  'inter  placitum  istum'  BC]  commoneat  ['commo- 
neantur'  ABC]  ['hoc  est  ut  unusquisque  de  cumnegotiatoribus  alter 
alterum  admoneat'  Zus.  B  und  mit  'commoneat'  oder  'commo- 
neant'  ACJ.  Et  si  ['quis'  Zus.  BC]  commonitus  fuerit  et  eum  sumnis 
non  detenuerit  et  ad  placitum  venire  distulerit,  ['ille  qui  cum  eum 
negotiavit'  Zus.  ABC]  mittat   tres  testes ,    quomodo  ei  nuntiasset, 

negotiasset.    Istud  si  fecerit,  exuit  [so  ß,  'exivit'  AC]  se  de 

latrocinio  et  [Zus.  'ille  qui  non  venerit'  AB,  'Ille  qui  noverit'  C] 
['super  quem  testes  iuraverunt'  Zus.  BC],  ille  est  ['erit'  ABC]  latro 
['illius,  qui  agnoscit,  et  precium  reddat  illi,  qui  cum  eo  negotiavit, 
et  ille  secundum  legem  conponat  illi,  qui  res  suas  agnoscit'  Zus. 
B'und  ähnlich  AC].  Ista  omnia  facere  debet  [Zus.  'in  illum  mallum' 
A,  vor  'debent  fieri'  BC] ,  ubi  [Zus.  'ille'  BC,  'ipse'  A]  hamallus 
esse  denoscitur  ['est  hamallus'  BC],  ['super  quem  res  illa  primitus 
fuerit  agnita  aut  intertiata'  Zus.  B,  ähnlich  C  und  ohne  'primitus' 
A].  Quod  si  trans  Ligere  aut  Carbonaria  manet  ['manent' 
ABC]  ille  [so  A  1;  'illi'  A  2.  3;  fehlt  BC],  qui  cum  [so  AI;  'cum 
quem'  A  2.  3 ;  'cum  quibus'  BC]  (eo  negotiavit)  [so  Krammer ;  'res 
agnoscitur'  oder  bloß  'agnoscitur'  ABC],  in  noctes  LXXX  lex  ista 
custodiatur'. 

An  der  fettgedruckten  Stelle  fehlen,  wie  man  sieht,  in  A  die 
Wohnsitze  der  beiden  Parteien  „diesseits"  Loire  und  Kohlenwald, 
denen  die  „jenseits"  beider  Grenzen  belegenen  am  Schlüsse  des 
Titels  entsprechen,  und  mit  den  Wohnsitzen  sind  auch  die  beiden 
Parteien  selbst  ausgefallen,  aber  der  Plural  'placitum  faciant'  ist 
stehen  geblieben,  der  sich  infolge  der  Lücke  nun  auf  einem  Singular, 
den  Besitzer  des  gestohlenen  Gutes,  bezieht  und  die  Erinnerung  an 
das  Ausgelassene  für  ewige  Zeiten  festhält.  Jedes  nur  einiger- 
maßen philologisch  geschulte  Auge  erkennt  sofort,  daß  der  zer- 
streute Schreiber  A  von  einem  'apud  quem  agnoscitur'  zum  an- 
deren übergesprungen  ist,  und  also  ein  Homoeoteleuton  die  Lücke 
verschuldet  hat.  Es  ist  die  bare  Unmöglichkeit,  daß  aus  dieser 
lückenhaften  Quelle  A  die  vollständigen  anderen  Hss.  stammen 
können,  die  sämtlich  die  Lücke  ausfüllen,  und  insbesondere  völlig 
undenkbar,  daß  eine  dieser  Hss.,  nämlich  A  3,  die  Vorlage  der 
B.-Hss.  gewesen  sein  könnte,  was  uns  Krammer  glauben  machen 
will.  Jeder  Ansturm  gegen  die  bisherige  Forschung  muß  an  dieser 
Logik  zerschellen,  und  schon  dieser  verzweifelte  Fall  hebt  das 
ganze  Kraramersche  System  aus  den  Angeln. 

Auch  in  Krammers  Augen  erscheint  nichts  einleuchtender  als 

1)  Krammer  S,  870,  ändert  stillschweigend  die  Lesart  der  A-Hss  in  'homnes', 
setzt  also  die  I3-llberlieferung  in  seinen  A-Text  ein;  vgl.  N.  A.  XL,  S.  560. 


der  nea  entdeckte  Urtext  der  Lex  Salica.  693 

diese   Argumentation,    besonders    anch   der  Plural  'faciant'    in   A 
„scheine"    zu  ihren   Gunsten  zu  sprechen,  —  aber  alles  nur  leerer 
Schein,  ein  Trugschluß :  die  in  A  übersprungene  Stelle  ist  vielmehr 
Interpolation   von  B,    und   nun    wird   das   Kunststück   vollbracht, 
sogar  die  „Überlegenheit"  der  A-Fassung  über  den  nur  „scheinbar" 
besseren  B-Text   aus   eben  dieser  Lücke  zu  deduzieren,   wohl  das 
Stärkste,    was    methodischer    Kritik    jemals    geboten   worden   ist. 
Krammer  greift  eine  beliebige  andere  Stelle  B  L  =  A  LXXXV  mit 
'placitum  fecerit'  heraus,  aus  der  sich  ihm  die  „Tatsache"  ergibt,  daß 
das  'placitum  facere'  in  der  Lex  Salica  nicht  Sache  mehrerer,  son- 
dern eines  einzelnen  nämlich  des  Schuldners,  sei ;  „fraglos"  sei  dieser 
Titel  nach  dem  Vorbilde  des  früheren  B  XL  VIT  geformt :  „Demnach" 
„muß"    auch  hier  der  Singular  eingesetzt  werden,   und  auf  Grund 
dieser  Logik  wird  nun  umgekehrt  das  fraglose  Vorbild  nach  der 
Copie  korrigiert  in  'placitum  faciat' ;    so   schreibt  in  der  Tat  der 
überarbeitete  A-Text  bei  Hub^'),   der  also  die  Lesart  des  Arche- 
typs erhalten  haben  würde.   Könnten  aber  nicht  vielleicht  'placita' 
einmal  einseitig,  ein  andermal  zweiseitig  gebraucht  sein^),  und  ist 
es  nicht  eine  verkehrte  Welt,  für  die  ursprüngliche  Lesart  gerade 
die  des  schlechtesten  und  spätesten  Textes  zu  erklären?    Krammer 
verwirft  die  Lesart  der  gesamten  älteren  Überlieferung  mit  Ein- 
schloß von  A,  der  Quelle  des  Hube'schen  Textes,  als  eine  „jüngere 
Entstellung"  des   echten  Textes,   und   an   dieser  Entstellung,   dem 
Plural  'faciant",  hat  B,  „wie  so  oft",  angeknüpft  und  in  der  An- 
nahme, daß  eine  Mehrzahl,  daß  beide  Parteien  zusammen  den  Ter- 
min anzusetzen  hätten,  die  hier  „nicht  unbedingt  erforderte  Phrase" 
von  dem  Wohnsitz  „innerhalb'' jener  Grenzen  nach  dem  Muster  des 
Schlußsatzes  über  die  „außerhalb"  jener  Wohnenden  eingeschoben! 
Vorher  aber  hätte  er  im  Anschluß  an  den  Singular:    'super  quem 
agnoscitur,  der  zu  'faciant'  nicht  zu  passen  scheine,  ein  neues  Verb 
im  Singular:    'debet   agramire'    eingeschoben,    wie  jeder  sieht,    ein 
höchst  altertümlicher  Ausdruck,  der  sich  ebenso  im  Tit.  XXXVII, 
1,  findet  und  hier  auch  von  Krammer  als  Bestandteil  des  Urtextes 
anerkannt   ist   (unten  S.  7Ö2).      Mt    philologischer   Akribie    unter 
sorgfältiger  Beobachtung  des  Stiles  des  Gesetzgebers  hätte  also  der 
Überarbeiter  B  die  Stelle  interpoliert,  die  von  den  Forscheni  bisher 
für  die   kostbarste   des  ganzen  Gesetzes  gehalten  wurde,   und  aus 
welchem   Grunde  interpoliert?     Aus    dem   Streben    nach   größerer 
Ausführlichkeit !    Auf  eine  solche  Begründung  wird  man  schwerlich 

1)  R.  Hub^,  La  Loi  Salique  d'apres  im  manuscrit  de  la  Bibliotheqne  centrale 
de  Varsovie,  Varsovie  1867. 

2)  Sohni,  der  Prozeß  der  Lex  Salica.    S.  17. 

Kgl.  Oes.  d.  Wiss.  Nachrichten.  Phfl.-hisL  Klasse.  1916.  Heft  5.  47 


694  Bruno  Krusch, 

gefaßt  gewesen  sein,  und  sicher  hat  Krammer  ganz  klug  daran  getan, 
diese  Überlegenheit  der  A-Fassung  nicht  eher  zu  entschleiern,  als 
bis  es  unbedingt  nötig  war. 

Infolge  des  gleichen  Versehens,  der  Abirrung  von  einem  Aus- 
druck zum  folgenden  gleichlautenden,  hat  der  Schreiber  des  gemein- 
samen Archetyps  der  A-Klasse  nicht  weniger  als  fast  5  Kapitel 
ausgelassen,  die  uns  die  B-  und  C-Klasse  erhalten  haben: 

B  XL,  6.  A  LXVII,  5.  'Si  iam  vero  in  maiore  crimine  fuerit 
inculpatus,  ['unde  ingenuus  —  sol.  XLV  conponere  possit  —  B  XL,  10. 
Si  vero  adhuc  maior  culpa  fuerit  similiter'  fehlen  A],  unde  ingenuus 
XLV  sol.  conponere  debuerit'  ('possit'  B). 

Ein  andermal  findet  sich  der  gleiche  Wortschluß,  der  die  Lücke 
im  Archetyp  von  A  verschuldet  hat,  nur  in  einer  einzigen  Hs. 
der  Klasse  B,  der  Wolfenbütteler  (B  3),  noch  wieder : 

B  XLIII,  3.  A  LXX,  3.  'et  tres  adhunc  (so  B  3 ;  'a.'  fehlt 
B  1,  2,  4.)  ['si  fuerint  de  ipso  contubernio,  30  sol.  solvant,  et  tres 
adhuc'  fehlen  A]  si  fuerint  (so  B  3;  'si  f.'  fehlen  B  1,  2,  4.)  de  ipso  (so 
B  2,  3 ;  'eo'  B  1,  4)  contubernio  sol.  15  solvant'. 

An  zwei  Stellen  bemerken  wir  dann  sogar  fast  die  gleiche 
Lücke  wie  in  A  auch  in  der  Wolfenbütteler  Hs.,  deren  Bezie- 
hungen zu  A  schon  oben  (S.  685)  erwähnt  wurden: 

B  XVIII.  A  XXIII.  'De  eum  qui  (so  B  3;  'De  cuique'  sinn- 
los A)  ad  regem  hominem  innocentem  ('i.'  fehlt  B  3)  absentem  ['accu- 
sat.  Si  quis  ad  regem,  hominem  innocentem  absenfem'  fehlen  B  3.  A] 
accusat'  ('accusaverit'  B  3),  und  an  der  zweiten  Stelle  scheint  auch 
die  inB3  wiederkehrende  romanisierteForm  'rendere'  für  'reddere' 
darauf  hinzuweisen,  daß  A  den  Irrtum  aus  seiner  Vorlage  über- 
nommen hat: 

B  LII.  A  LXXXVII.  'Et  si  tunc  eas  noiuerit  rendere,  ['adhuc 
super  Septem  noctes  ei  spatium  dare  debet  et  ad  septem  noctes  ad 
eum  similiter  contestetur,  ut  nocte  proxima  in  hoc,  quod  lex  Salica 
habet,  res  suas  teuere  debeat.  Si  nee  tunc  voluerit  reddere'  fehlen  A 
und  ebenso  mit  Ausnahme  des  ersten  Wortes  'adhuc'  auch  B  3]  ad 
alias  Septem  noctis  adhuc  cum  testibus  venire  debet'. 

Man  sollte  meinen,  daß  aus  diesen  Beispielen  auch  ein  Mensch, 
der  niemals  in  seinem  Leben  mit  solchen  Dingen  zu  tun  gehabt 
hat,  erkennen  müßte,  daß  B  C  nicht  aus  A  3  und  überhaupt  nicht 
aus  der  Klasse  A  herstammen  können,  also  die  Krammer' sehe  Ent- 
deckung 'ad  absurdum'  geführt  ist,  und  die  auf  dieser  Entdeckung 
basierende  Ausgabe  nur  noch  einen  materiellen  Wert  für  die  Papier- 
mühle besitzt.  Die  Beispiele  führen  aber  nicht  bloß  mit  jeder  nur 
wünschenswerten  Deutlichkeit  die  Negation   vor  Augen,    sondern 


der  neu  entdeckte  Urtext  der  Lex  Salica.  695 

bringen  auch  die  positive  Beantwortung  der  Quellenfrage,  und 
schon  Hilligers  Scharfsinn  a.  a.  0.  S.  180,  hat  in  dem  vorletzten 
Schreiberirrtum  ein  Zeichen  gesehen,  „daß  die  Vorlage  von  A  aus 
derselben  Überlieferung  stammt,  wie  B  3^. 

Zur  Charakteristik  des  nachlässigen  Schreibers  des  Archetypus 
von  A,  der  in  seiner  Zerstreutheit  von  einem  gleichlautenden  Aus- 
druck zum  nächsten  gleichlautenden  übersprang,  auch  den  analogen 
Fehler  seiner  Vorlage  gewissenhaft  wiederholte,  darf  ferner  auf 
die  häufige  Wiedergabe  von  Ausdiücken  durch  ähnlich  klingende, 
aber  ganz  unsinnige  hingewiesen  werden,  fast  als  wenn  die  Worte 
verhört  oder  verlesen  und  die  Mißgeburten  dann  schnell  glatt  ge- 
strichen worden  wären.  Während  der  angebliche  Archetj'pus  A  an 
diesen  Stellen  völlig  versagt,  findet  sich  die  richtige  Lesart  wieder 
regelmäßig  in  seinen  angeblichen  Ableitungen  BC,  was  wiederum  ziem- 
lich deutlich  auf  abnorme  Familienbeziehungen  hinzuweisen  scheint. 

Einige  Beispiele  werden  auch  diesen  krankhaften  Zug  von  A 
bestimmter  zum  Ausdruck  bringen. 

B  XXXV,  5  'se  noverit  solviturum']  richtig  BC;  *si  noluerit 
servitutem  ('se  n.  Servitute'  A  2)  falsch  A  LVIII. 

B  XLin,  1  'ubi  quinque']  richtig  B  2,  3,  4 ;  '(h)ubicumque'  (so 
A  2,  3,  'ubi'  A  1)  B  1  mit  A  LXX. 

B  L.  2  'nexthe  ganthichio']  richtig  B  4;  'nexti  cantigium'  B3; 
'nestigante'  B2 ;  'instigante'  am  verdorbensten  B 1  mit  A LXXXV,  2. 

B  LVIII,  2.  'postea'  ('postia'  B  3)]  richtig  BC;  'portet'  oder 
'portit'  falsch  A  XCVIIII. 

B  LVIII  'diger  est']  richtig  B  2,  4;  'id  est'  falsch  B  1,  3;  'dederit' 
sinnlos  A  XCVIIII,  3. 

Im  letzteren  Falle  handelt  es  sich  um  eine  ganz  seltene,  nur 
durch  ein  Placitum  Theuderichs  III.  von  679  *)  und  die  Formulae 
Andegavenses  bezeugte  merowingische  Phrase  *diger  est'  in  B  2.  4, 
d.  i.  'indigere  est',  es  ist  Mangel,  die  A  durch  eine  nur  äußerlich 
ähnliche  Form  von  fast  entgegengesetzter  Bedeutung  'dederit'  er- 
setzt hat,  deren  Sinnlosigkeit  längst  erkannt  ist^).  Solche  äußer- 
lich tadellosen  Ausdrücke,  die  nur  nicht  in  den  Zusammenhang 
passen,  konnten  eine  lebhafte  Phantasie  wohl  mehr  anregen ,  als 
gut  war,  und  wir  werden  gleich  sehen,  in  wie  engem  Zusammen- 
hang sie  mit  der  willkürlichen  Textbehandlung  stehen,  die  uns  hier 
beschäftigt. 

Auch  in  dem  Titel   'De  filtortis'  B  XLVII  =  A  LXXXI,  zu 

1)  K  Pertz,  Dipl.  S.  45. 

2)  Pardessus,  Loi  Salique  S.  399 fg.:  Dans  IV.  U  est  remplac^  par  'dederit' 
qai  n'a  pas  de  sens. 

47* 


696  Bruno  Krusch, 

dem  wir  uns  zurückwenden,  bietet  hinter  'vendiderint  aut  cambia- 
verint  auf  die  Lesart  'f  uras  se'  von  A  eine  ganz  unmögliche  Wort- 
form, die  aus  der  Satzkonstruktion  so  vollständig  herausfällt,  daß 
nicht  gerade  viel  Lateinkenntnisse  dazu  gehören,  um  den  Unsinn 
zu  bemerken,  und  wie  wenig  das  Verb  auch  sachlich  als  Bezeichnung 
einer  Erwerbsart  zu  den  beiden  in  allen  Hss.  tadellos  überlieferten 
Verben  paßt,  hat  sogar  Krammer  selbst  schon  erkannt.  Statt 
dieses  formell  und  inhaltlich  zu  beanstandenden  Ausdrucks  steht  nun 
in  B  'fortasse',  ein  „Füllwort",  wie  man  geringschätzig  gesagt  hat, 
doch  dieses  „Füllwort"  stellt  mit  den  in  BC  folgenden,  in  A  aber 
ausgelassenen  "Worten  *in  solutionem  dederunt'  in  völlig  logischer 
Gedankenfolge  eine  dritte  Veräußerungsart,  die  Weitergabe  des 
Gegenstandes,  eines  Pferdes,  zur  Begleichung  einer  Schuld,  also 
als  Zahlungsmittel,  als  möglich  hin  und  paßt  so  vortrefflich  in  den 
Zusammenhang,  daß  sich  sogar  Krammer's  Brust  das  Geständnis 
entringt,  daß  zunächst  A,  wie  an  anderen  Stellen,  neben  B  wie  eine 
minderwertige,  entstellte  Fassung  wirke.  Wiederum  ist  dies  na- 
türlich nur  täuschender  Schein,  wiederum  verhilft  eine  willkürliche 
Annahme  dazu,  den  „echten  Kern"  aus  einer  späteren  ungeschickten 
Überarbeitung  herauszuschälen,  und  nach  Tilgung  der  Spuren  der 
jüngeren  Rezension  entpuppt  sich  dann  gerade  die  sinnlose  Lesart 
als  das  „Reststück"  des  verlorenen  Urtextes.  Der  Ausgangspunkt 
für  diese  „befriedigende"  Erklärung  ist  die  Annahme,  daß  es  sich 
bei  dem  Drittehandverfabren  nur  um  die  Ladung  eines  Vormannes 
gehandelt  habe,  eine  Annahme,  die  der  Wortlaut  der  Quelle  glatt 
widerlegt,  und  nun  „muß"  natürlich  alles  aus  dem  Texte  der  Lex 
Salica  schleunigst  verschwinden,  was  auf  eine  Mehrheit  hinweist. 
Krammer  streicht  also  aus  der  völlig  einwandfreien  Überlieferung 
aller  Hss.-Klassen :  'quanti  fuerint',  wofür  er  den  Singular  'cum* 
einschiebt,  er  streicht:  'omnes',  hernach  gleich  den  ganzen  Satz: 
,hoc  est  —  commoneant',  und  ändert  den  vorausgehenden  Plural 
,commoneantur'  einfach  in  'commoneat'.  Den  eigentlichen  Stein 
des  Anstoßes,  jenes  'furasse',  hatte  er  „einstweilen"  völlig  unter 
den  Tisch  fallen  lassen,  wo  es  natürlich  nicht  liegen  bleiben  kann, 
und  nun  beginnt  die  zweite  Etappe  der  Radikalkur.  Das  Wort 
paßt  seiner  Form  und  seinem  Inhalt  nach  gar  nicht  in  den  Satz; 
es  geht  auch  nicht  an,  nur  die  Wortform  in  'furaverit'  zu  besseren, 
wie  die  schlechte  A-Überarboitung  bei  Hube  schreibt,  und  sie  den 
vorhergehenden  Verben  'vendiderint  vel  camiaverint'  zu  koordi- 
nieren, die  sich  inzwischen  ebenfalls  den  Singular  haben  gefallen 
lassen  müssen:  die  Veräußerungsart  und  die  Erwerbsart  lassen 
sich  nicht  beide  „verkoppeln" ;  nur  eine  von  beiden  kann  Ursprung- 


der  neu  entdeckte  Urtext  der  Lex  Salica.  697 

lieh  sein,  und  nun  streicht  Krammer  die  tadellos  überlieferten 
Worte  'vendiderint  vel  camiaverint  auf  als  spätere  Eindringlinge 
und  läßt  gerade  die  Verderbniss  'furasse'  im  Texte  stehen !  Da  aber 
'furasse'  nun  einmal  Unsinn  ist  und  bleibt,  schiebt  er  dahinter 
auch  noch  'videtur'  ein,  das  durch  die  „Unachtsamkeit"  eines  Ab- 
schreibers ausgefallen  sein  soll,  oder  vielmehr  'videntar',  denn,  wie 
er  weiß,  hatte  der  Uberarbeiter  auch  das  fehlende,  von  Krammer  erst 
interpolierte  Verb  in  den  Plural  gesetzt.  Den  nackten  Infinitiv  hat 
also  doch  auch  Krammer  nicht  als  die  ursprüngliche  Lesart  za  ver- 
teidigen versacht!  Wie  erklärt  sich  nun  aber  die  hinter  dem  kor- 
rekten 'fortasse'  in  BC  stehende  dritte  Veräaßerungsart  4n  solu- 
tione  dederunt',  die  nur  das  wenig  zuverlässige  A  wegläßt,  weil 
sie  zu  seiner  Textverstümmelong  nicht  paßte  ?  Sie  ist  ein  späterer 
Zusatz.  Weßhalb?  In  einem  anderen  Titel  B  XXXVII.  A  LXI, 
auf  den  noch  zurückzukommen  ist ,  sind  nur  zwei  Erwerbsarten 
genannt,  und  es  ist  nicht  za  bezweifeln,  daß  der  eine  Titel  den 
anderen  beeinflußt  hat,  daß  der  spätere  dem  früheren  „nachge- 
bildet" ist.  ,. Vielleicht"  kommt  neben  Verkauf  und  Vertausch  die 
dritte  Veräußerungsart  auch  vor,  sie  ist  aber  im  Grunde  eine  „über- 
flüssige Redensart",  und  bei  seiner  tiefen  Abneigung  gegen  über- 
flüssige Redensarten  streicht  sie  eben  Krammer  als  späteren  Zu- 
satz von  B,  so  daß  also  A  „durchaus"  die  ursprüngliche  Fassung 
bietet,  an  die  B  erst  „angeknüpft"  haben  soll.  Ein  merkwürdiges 
Ungeschick  von  B,  gerade  immer  an  angeblich  verstümmelte  Wort- 
formen „anzuknüpfen" ! 

Der  Gerichtstermin,  auf  den  die  drei  Gruppen  der  Vormänner 
geladen  werden,  ist  mit  'in  ipso  placito'  an  die  Spitze  gestellt 
und  hernach  bei  dem  Ausdruck  der  Ladung  in  BC  mit  'inter  pla- 
citum  istum'  wiederholt,  aber  nicht  in  A,  und  nach  Krammer  ist  die 
Wiederholung  „charakteristisch"  für  die  „den  ursprünglichen  Text 
erweiternde  Art  von  B^  ;  doch  auch  die  Vormänner  sind  unmittelbar 
vorher  mit  'omnes'  wiederholt  und  diesmal  nicht  bloß  in  ßC,  son- 
dern auch  in  A,  und  die  Wiederholung  könnte  also  leicht  eine 
Eigentümlichkeit  des  nicht  gerade  klassisch  gebildeten  Gesetzge- 
bers sein,  wenn  sie  nicht  Krammer  als  überflüssigen  Luxus  in 
seinem  Urtexte  gestrichen  hätte.  Wenn  er  noch  die  folgende  Er- 
läuterung der  Ladung  mit  'hoc  est'  u.  s.  w.  gestrichen  hat,  obwohl 
sie  in  allen  drei  Klassen  steht,  also  auch  schon  A  der  häßlichen 
Angewohnheit  zeihen  würde ,  den  Text  in  dem  Streben  nach  Aus- 
Tührlichkeit  erweitert  zu  haben,  so  hat  er  doch  die  Stelle  zuvor 
einseitig  gegen  B  ausgebeutet  als  Beweis  für  die  starke  Verände- 
rung der  „ursprünglichen"  und  , allein  richtigen"  Fassung  daselbst, 


ß98  Bruno  Krusch, 

die  er  in  A  gefanden  zu  haben  meint  (S.  357) ,  worauf  er  seine 
Dankbarkeit  dadurch  bezeugt,  daß  er  sie  aus  seinem  Urtext,  wie  ge- 
sagt, herausstreicht  (S.  376).  Seine  Ausführungen  knüpfen  an  die 
Lesart  von  B  1 :  'unusquisque  qui  cum  negotiatoribus'  an ;  A  bietet 
mit  besser  passender  Präposition  'u.  de  negotiantibus',  doch  muß  er 
leider  in  einer  Note  (S.  356)  selbst  zugestehen,  daß  auch  die  beste 
Hs.  B  4  noch  ein  'de'  vor  'cum'  erhalten  hat,  und  nach  dieser  Hs.  ist 
folglich :  'unusquisque  de  cumnegotiatoribus'  zu  lesen,  wie  zuerst 
GefFcken  richtig  verband.  Aus  dieser  Lesart  würden  sich  beide 
Varianten  sowohl  die  von  A  als  die  der  übrigen  Hss.  ausgezeichnet 
erklären,  und  sie  würde  als  kleiner  Beitrag  für  die  Vortrefflich- 
keit von  B  4  dienen  können,  wozu  sie  Krammer  freilich  gar  nicht 
gebrauchen  kann,  „Offenbar",  schreibt  er,  „hat  B  4  'de'  erst  aus 
A  eingeschaltet",  das  'cum'  ersetzen  sollte,  aber  hernach  'cum'  zu 
streichen  vergessen,  und  von  'connegotiator'  weiß  er,  daß  ein 
solches  Wort  im  damaligen  Latein  nicht  existierte,  womit  ihm 
jede  Berechtigung  abgeschnitten  wäre.  Vorsichtiger  wäre  es  viel- 
leicht gewesen  zu  schreiben ,  daß  es  im  damaligen  Latein  bisher 
nicht  nachgewiesen  sei,  —  und  von  wie  vielen  anderen  Worten  der 
Lex  Salica  gilt  dasselbe!  —  immerhin  ist  gleich  darauf  in  der 
Lex  Salica  die  sachlich  genau  entsprechende  etwas  umständliche 
relativische  Umschreibung  dafür  zu  finden:  'ille  qui  cum  eum  ne- 
gotiavit',  und  es  handelt  sich  folglich  um  eine  ganz  richtige  Bil- 
dung, die  den  lateinischen  Lexicis  einzufügen  wäre^).  In  Kram- 
mers  Urtext  ist  natürlich  auch  jene  relativische  Umschreibung  ge- 
strichen, die  er  aber  später  in  anderer  Bedeutung  selbst  wieder 
interpoliert  hat. 

Sicher  richtig  und  auch  in  Krammers  Urtext  aufgenommen  ist 
gleich  darauf  die  Lesart  von  B:  'exuit  se',  wofür  AC  'exivit'  oder 
'exibit  se*  lesen,  was  auch  Krammer  wegen  des  anschließenden  'se' 
als  in  der  Tat  „nicht  brauchbar"  bezeichnet:  aber  auch  die  offenbar 
guten  Lesarten  können  den  schlechten  Ruf  von  B  nicht  verbessern; 
sein  Redaktor  „muß"  'exuit'  in  richtiger  Erkenntnis  der  Unmög- 
lichkeit von  'exivit'  „wieder"  eingesetzt,  also  ursprünglich  die 
falsche  Lesart  ebenfalls  vorgefunden  haben !  Alles  das  erzählt  uns 
Krammer  ohne  einen  Augenblick  in  Verlegenheit  zu  geraten.   Miß- 


1)  Die  Präposition  hat  B  4  auch  in  'cumponere'  XL,  1,  und  'cumvenerit'  LIII,  6» 
nicht  verändert.  Die  Bildung  'connegotiator'  ist  nicht  verwunderlicher  als  'con- 
cambium',  'concambiare'  in  den  fränkischen  Rechtsquellen.  Wie  wonig  das  Latei- 
nische zu  solchen  Bildungen  neigte,  zeigt:  awstidrifios  2.  Cor.  8,19,  niipgasinpa 
bei  Ulfilas,  'comes  peregrinationis  nostrae'  hei  Hieronymus,  während  'compere- 
grinus'  erst  bei  Sidonius  VII,  17,  erscheint. 


der  neu  entdeckte  Urtext  der  Lex  Salica.  699 

fallen  erregt  dann  die  mit  'exuit'  korrespondierende  Futurform 
'erit',  die  schleunigst  gegen  das  Zeugnis  aller  flss.  in  'est'  geän- 
dert wird,  während  umgekehrt  'erit'  mit  aller  nur  wünschenswerten 
Deutlichkeit  darauf  hinweist,  daß  'exuit'  als  Futurform,  als  die  mero- 
vingische  Schreibung  für  'exuet'  ^)  zu  fassen  ist.  Krammer  jedoch 
erklärt,  die  Fortsetzung  „kann  nur"  'et  ille  est'  lauten,  und  um  diesen 
Zusammenhang  zu  erhalten,  hat  er  zwischen  'et'  und  'ille'  den 
wieder  von  allen  Hss.  bezeugten  nicht  erschienenen  Vormann  ge- 
strichen: 'ille  qui  non  venerit',  da  kein  Bedürfnis  für  die  Um- 
schreibung bestanden  habe,  und  sie  also  für  ein  jüngerer  Zusatz 
zu  halten  sei.  Natürlich,  denn  sie  würde  indirekt  wieder  für  eine 
Mehrheit  von  Vormännern  zeugen  und  muß  mit  allen  anderen  sol- 
chen Zeugnissen  fallen;  man  beachte  aber,  wie  geschickt  der 
Krammersche  Interpolator  diesen  mit  'ille'  beginnenden  Satz  vor 
dem  anderen  'ille'  eingeschaltet  haben  würde,  fast  als  hätte  er 
einen  philologischen  Seminarkursus  durchgemacht;  wäre  aber  der 
Satz  nicht  interpoliert,  würde  man  in  dem  doppelten  'ille'  für  die- 
selbe Person  wieder  eine  jener  Wiederholungen  des  Gesetzgebers 
erblicken  können,  die  ihm  Krammer  nicht  gestatten  will.  Über- 
haupt erweist  sich  der  Mann  den  Krammerschen  Anforderungen 
in  Bezug  auf  Präzision  des  Ausdrucks  in  keiner  Weise  gewachsen 
und  gebraucht  fortwährend  Wendungen ,  für  die  gar  kein  „Be- 
dürfnis" bestanden  hat,  die  nur  der  „größeren  Deutlichkeit"  dienen, 
die  also  Krammer  als  spätere  Interpolationen  wegzustreichen  befugt 
ist.  Hinter  dem  nicht  erschienenen  Vormann  streicht  Krammer 
die  gegen  ihn  auftretenden  Zeugen  'super  quem  testes  iuraverunt' 
als  späteren  „Einschub"'  von  B,  dann  'illius  qui  agnoscit'  als  „et- 
was gezwungenes  Anhängsel"  des  nach  größerer  Ausführlichkeit 
strebenden  Überarbeiters,  der  in  seinem  falschen  Streben  auch  noch : 
'et  precium  —  agnoscit'  und  'in  illum  mallum',  dann  den  ganzen  Satz 
'super  quem  —  intertiata'  einschaltete.  Dieser  in  allen  Rezen- 
sionen erhaltene  Satz  paßt  nicht  zu  der  vorhergehenden  Änderung 
von  A  'facere  debet'  für  'debent  fieri'  (so  BC),  denn  er  verrät 
deutlich,  daß  sein  Verfasser  nicht  den  Besitzer  als  Subjekt  zu 
'debet'  angesehen  haben  kann ,  und  mußte  daher  wegfallen.  Be- 
sorgt aber  wird  man  fragen,  wie  viel  vom  Texte  noch  übrig  bleibt  ? 
Mit  spielender  Leichtigkeit  weiß  die  Kramersche  Kritik  die 
sich  vor  dem  total  verkehrten  System  auftürmenden  Schwierig- 
keiten zu  bewältigen,  und  es  kommt  ihm  auch  nicht  darauf  an, 
an  die  Stelle  der  Überlieferung  einen  ganz  anderen  Gedanken,  das 


1)  Vgl.  SS.  rer.  Merov.  I,  S.  923,  Bonnet,  'Latin'  S.  107. 


700  Bruno  Krusch, 

Erzeugnis  der  eigenen  Phantasie  zu  interpolieren,  wie  das  Schicksal 
des  Schlußsatzes  des  berühmten  Titels  B  XL VII  beweist,  der  auf 
Grund  der  folgenden  Erwägungen  ein  völlig  verändertes  Aussehen 
erhält.  Entsprechend  dem  am  Anfang  des  Titels  gesetzten  Fall 
des  Wohnsitzes  von  Vindicant  und  Besitzer  des  gestohlenen  Gutes 
diesseits  Loire  und  Kohlenwald,  der  allerdings  in  A  und  in  Kram- 
mers  Urtext  fehlt,  wendet  sich  der  Gesetzgeber  am  Schluß  zu 
dem  entgegensetzten  des  Wohnsitzes  jenseits  beider  Grenzen,  und 
hier  ist  in  BC  in  der  bestimmtesten  Weise  der  Besitzer  bezeichnet : 
'manent,  cum  quibus  res  iUa  agnoscitur',  allerdings  im  Plural,  viel- 
leicht weil  man  dabei  auch  an  den  Vindicanten  gedacht  hat,  der 
am  Anfang  mit  ihm  zusammen  genannt  war.  Dagegen  bietet 
Krammers  maßgebende  Hs.  A  1  eine  heillos  verdorbene  Lesart: 
'manent  ille,  qui  cum  res  agnoscitur',  und  er  selbst  bezeichnet  sie 
als  „wunderliche  Form",  „zunächst  völlig  unbrauchbar*,  worauf  er 
sich  sofort  anschickt ,  ihre  Brauchbarkeit  zu  erweisen.  Dazu  ist 
es  nötig,  zunächst  alle  besseren  Lesarten  beiseite  zu  schieben.  Die 
Fassung  A  2.  3 :  'manent  illi ,  c  u  m  quem  res  agnuscitur',  die  eben- 
falls den  Besitzer  noch  erkennen  läßt,  erscheint  im  Ausdruck  et- 
was „befremdend",  nicht  sowohl  wegen  der  Pluralform  'manent', 
—  die  Vertauschungen  von  Singular  und  Plural  sind,  wie  Krammer 
weiß,  häufig  und  stören  ihn  nicht,  —  sondern  wegen  des  Gebrauches 
von  'cum'  in  der  Bedeutung  von  'apud',  „bei"  (S.  368),  die  schon 
vorher  (S.  354,  N.)  für  die  Lex  Salica  energisch  abgelehnt  war: 
'cum'  meint  er,  habe  in  der  Lex  „stets"  die  Bedeutung  „mit".  Nun 
an  dieser  Stelle  sicher  nicht ,  denn  erstens  setzt  die  Emendata 
direkt  'apud'  in  die  A-Fassung  dafür  ein,  woraus  Krammers  Scharf- 
sinn umgekehrt  die  Unstattbaftigkeit  des  'cum'  zu  deduzieren  ver- 
sucht ^},  und  zweitens  läßt  die  tadellose  Überlieferung  von  B  über 
diese  Bedeutung  keinen  Zweifel,  die  zugleich  für  die  Pluralform 
des  Verbs  das  dazu  passende  Relativum  liefert.  Auf  Krammer 
macht  aber  gerade  wegen  jenes  'cum'  die  Fassung  von  A  2.  3 
keineswegs  den  Eindruck  der  Echtheit,  sondern  stellt  „wohl"  nur 
einen  ungenügenden  Besserungsversuch  der  „Vorlage"  A  1  vor; 
für  „vollends  verdorben"  erklärt  er  die  Form  von  B,  das  umge- 
kehrt nur  wegen  des  verbalen  Plurals  das  'quem'  der  A-Vorlage 
in  'quibus'  verwandelte,  und  dieser  verkehrtesten  Form  sind  alle 
Forscher  bisher  gefolgt!     Krammer  tut  das  natürlich  nicht,   son- 

1)  Die  Redaktoren  von  D  (Herold)  und  E  (Emendata)  schreiben  'apud' 
für  'cum',  weil  sie  den  „Übelstand  in  der  Formulierung"  bemerkten,  daß  uümlicli 
•cum'  in  der  Lex  Salica  nicht  mit  „bei"  übersetzt  werden  darf!  So  Krammer 
S.  868. 


der  neu  entdeckte  Urtext  der  Lex  SaUca.  701 

dem  folgt  der,  wie  er  selbst  sagt,  ^wunderlichen"  and  zunächst 
unbrauchbaren  Form  von  A  1,  natürlich  nicht  aus  bloßer  Schwär- 
merei für  wunderliche  und  unbrauchbare  Formen,  sondern  weil  er 
gerade  aus  der  starken  Verdorbenheit  das  Recht  auf  vollkommenste 
Willkürlichkeit  für  sich  herleitet.  Und  nun  kommt  die  Haupt- 
sache. „Freilich",  fährt  er  fort  (S.  369),  ^muß,  wenn  wir  somit 
doch  A  1  zugrundelegen,  angenommen  werden,  daß  im  alten  Text 
hinter  'qui  cum'  etwas  anderes  gestanden  hat,  als  'res  agnos- 
citur',  das  ja  dazu  gar  nicht  paßt".  Er  „verbessert"  also  einfach 
den  Ausdruck  und  schreibt  dafür  etwas  ganz  anderes :  'qui  com  eo 
negotiavit',  das  in  seinem  Urtext (S.  376)  zu  finden  ist,  gegen  alle 
Hss.  nach  eigenem  Gutdünken ;  er  will  damit  den  Besitzer  durch  den 
Vormann  ersetzen,  schreibt  auch  gleich  die  Übersetzung  vor:  „der- 
jenige, der  mit  dem  Besitzer  gehandelt  hat".  Leider  muß  er  selbst 
bekennen,  daß  derselbe  Ausdruck  „stets"  in  anderem  Sinne  sonst 
gebraucht  wird:  er  begegnet  nämlich  in  dem  Titel  mehrfach  und 
war  von  Krammer  als  Interpolation  des  Überarbeiters  bisher  stets 
herausgestrichen  worden ;  er  bedeutet  vielmehr  den  Hintermann, 
der  mit  dem  Vormanne  gehandelt  hatte  Nun  interpoliert  er 
ihn  selbst  an  einer  Stelle,  wo  die  Hss.  etwas  ganz  anderes  haben, 
und  noch  dazu  in  ganz  anderem  Sinne!  Und  zu  dieser  zweiten 
ganz  willkürlichen  Annahme  fügt  er  dann  in  demselben  Atemzuge 
noch  eine  dritte:  eben  die  andere  Bedeutung  des  Ausdrucks  soll 
der  Grund  für  den  Bearbeiter  gewesen  sein ,  ihn  dort  wieder 
herauszuwerfen,  wo  ihn  Krammer  interpoliert  hatte.  Dafür  er- 
hält der  schlechte  Mensch  dann  seinen  wohlverdienten  Denkzettel : 
er  habe  den  klaren  Sinn  des  Titels  durch  seine  Korrektur  des 
„ursprünglichen"  Textes  zerstört,  den  Krammers  Scharfsinn  trotz 
der  Zerstörung  wieder  gefunden  hat,  und  nun  behauptet  er  schon, 
der  Überarbeiter  habe  die  Wendung  umgekehrt  aus  dem  Schlüsse 
seines  Urtextes  interpoliert,  „wo  wir  ihre  Heimstätte  ansetzen 
dürfen".  ]\Kt  stolzem  Selbstbewußtsein  kann  er  der  „wenig  be- 
friedigenden und  einwandfreien"  Form  der  Überlieferung  seine 
eigene  Rekonctruktion  gegenüberstellen,  die  allein  „einen  klaren 
und  einleuchtenden  Sinn"  gibt. 

Auf  Grund  seiner  aus  der  Lex  Ribuaria  befestigten  Erkenntnis 
von  der  ursprünglichen  Bedeutung  der  'tertia  manus'  geht  dann 
Krammer  von  B  XLVII  im  angeblichen  Anteile  Childeberts  I.  an 
der  Lex  zur  Behandlung  des  damit  in  sachlichem  Zusammenhang 
stehenden  Titels  'De  vestigio  minando'  B  XXXVII  =  A  LXl  über, 
der  zu  den  letzten  Stücken  von  Chlodovechs  Anteil  gehören  soll, 
und  staunend  hören  wir,  daß  dieser  Anteil  jetzt  nur  noch  bis  Tit. 


702  Bruno  Krusch, 

67  ^)  von  A  reictit,  nicht  mehr  bis  Tit.  77,  womit  die  Zahl  des  Epiloges 
und  damit  der  letzte  Halt  des  neuen  Systems  preisgegeben  ist. 
Es  soll  nun  zunächst  wieder  der  Urtext  folgen,  wie  er  ihn  rekon- 
struiert hat  (S.  41 1),  und  in  Klammern  füge  ich  dann  auch  wieder 
die  Abweichungen  der  handschriftlichen  Überlieferung  bei,  aus 
denen  man  ersehen  wird,  daß  der  grausame  Censurstift  hier  fast 
noch  schlimmer  gewütet  hat  als  vorher. 

1.  'Si  quis  bovem  aut  caballum  vel  quemlibet  pecus  ['qualibet 
animal'  BC]  in  furtum  perdiderit  et  eum,  dum  ['per'  Zus.  ßC]  ve- 
stigio  sequitur,  consecutus  fuerit  ['usque  in  ('ad'  A)  tres  noctes' 
Zus.  ABC],  si  ille  qui  eum  ducit  ['aut  emisset  aut  cambiasset  di- 
xerit  vel'  Zus.  ABC]  reclamaverit  ['proclamaverit'  ABC],  ille  qui 
per  vestigio   sequitur   res  suas   per  tertia  manu  adchramire  debet. 

2.  ['Si  vero  ('iam'  Zus.  BC)  tres  noctes  exactas ,  qui  res  suas 
queret,  eas  invenerit,  ille,  apud  quem  invenerit,  eas  emisset  aut 
cambiasset  dixerit,  ei  liceat  adchramire'  Zus.  ABC]. 

3.  Quod  si  ille  ['Si  ille  vero'  BC],  qui  per  vestigio  sequitur, 
res  suas  [so  A,  'res  suas'  fehlen  BC]  ['quas  ('quod  se'  B  2.  4.  C) 
agnoscere  dicit'  Zus.  ABC],  illo  ^)  alio  reclamante,  ['nee  offerre  per 
tertia  manu  voluerit  nee  ('vel'  falsch  A)  solem  secundum  legem 
('s.  1.'  fehlen  A  1)  culcaverit'  Zus.  ABC]  ['et  ei'  Zus.  BC;  'se'  Zus. 
A]  violenter  ['hoc  quod  se  agnoscere  dicit'  Zus.  AB  1.  2.  3]  tollisse 
convincitur,  sol.  XXX  culpabilis  indicetur'. 

Hinter  dem  gestohlenen  Ochsen  und  Pferd  wird  als  dritter  Gegen- 
stand in  A  'vel  quemlibet  pecus',  in  B  aber  'vel  qualibet  animal' 
genannt ;  mit  A  stimmt  genau  ein  früherer  Titel  B  IX,  1,  auch  hat 
'animal'  in  der  Lex  nicht  die  Bedeutung  von  „Tier",  sondern  von 
„Rind":  also  haben  wir  es,  schließt  Krammer,  in  B  mit  einer  „spä- 
teren Änderung"  zu  tun,  und  der  allein  mit  der  „Vorlage"  überein- 
stimmende A-Text  hat  hier  wie  „überall"  die  ursprünglichste  Fassung 
erhalten.  Wie  überall?  Sollte  das  nicht  vielleicht  etwas  zu  viel 
behauptet  sein?  Falsch  übersetzt  Krammer  das  'animal'  von  B  mit 
„Tier",  es  bedeutet  „Vieh"  und  hat  diese  allgemeinere  Bedeutung 
auch  an  anderen  Stellen  der  Lex  ^),  die  also  das  Wort  nicht  nur  für 
„Rind"  gebraucht.   'Animal  und  'pecus'  sind  vielmehr  Synonyma,  wie 


1)  Die  Zahl  ist  bei  Krammer  (S.395)  in  Worten  ausgedrückt,  und  an  einen 
Druckfehler  ist  auch  deßhalb  nicht  zu  denken,  weil  bei  seiner  bisherigen  Rech- 
nung bis  Tit.  77  der  Tit.  61  eben  nicht  eins  der  letzten  Stücke  wäre. 

2)  Die  A-Hss.  lesen  'ille',  was  Krammer  als  „reinen  Schreibefehler"  (S.  407  N.) 
einfach  verbessert. 

3)  Man  vergleiche  B  XVI,  4:  'Si  quis  sutem  cum  porcis  aut  scuria  cum 
animalibus'  mit  B  IX,  4:  'Si  quislibet  porci  aut  qualibet  pecora'. 


der  neu  entdeckte  Urtext  der  Lex  Salica.  703 

anch  ein  Grlossar  *) :  'animalia  :  pecora.  inmenta'  erklärt,  aber  spä- 
teren Abschreibern  war  natürlich  'pecus'  als  „Vieh"  geläufiger  als 
andere  Ausdrücke,  und  auch  B  2  hat  im  Tit.  XL VII,  1,  hinter  dem 
Pferde  und  Ochsen  'vel  quolibet  pecus'  interpoliert  für  'aut  qua- 
libet  rem',  eine  Interpolation,  die  auch  Krammer  verworfen  hat. 
Mit  der  angeblichen  „Vorlage-  BIX,  1,  ist  die  Übereinstimmung 
übrigens  keineswegs  eine  so  „genaue"  und  „wörtliche",  wie  Krammer 
behauptet,  denn  dort  ist  an  erster  Stelle  statt  des  „Ochsen*  ("bo- 
vem')  ein  'animal'  neben  dem  Pferde  geoannt,  also  ein  Rind,  und 
es  ist  klar,  daß  nun  in  der  dritten  Gruppe  nicht  wohl  wieder 
dasselbe  Wort  in  weiterer  Bedeutung  verwendbar  war,  sondern  nur 
eben  das  Synonjin  'pecus'.  Die  Differenz  in  den  Lesarten  läßt 
sich  also  vielleicht  auch  noch  unter  einem  anderen  Gesichtspunkt 
betrachten,  als  es  von  Krammer  geschehen  ist ,  und  Jedermann 
wird  mir  zugeben ,  daß  die  Schlüsse ,  die  er  daraus  gezogen  hat, 
das  gebührende  Maß  weit  überschreiten. 

Nach  diesem  Vorspiel  streicht  Krammer  die  Dreinächtefrist 
bei  der  Auffindung  der  gestohlenen  Sache  durch  Spurfolge :  'usque 
in  (,ad'  A)  tres  noctes',  deren  Innehaltung  dem  Spurfolger  ein  be- 
sonderes Recht  einräumte,  und  läßt  im  direkten  Gegensatz  zu  dem 
Gesetzgeber  keine  Ausnahmebestimmung  gelten:  er  selbst  gibt 
dem  Paragraphen  kraft  eigener  Machtvollkommenheit  generelle 
"Wirkung.  Nachdem  diese  „sich  ohnehin  nicht  leicht  in  den  Satz 
fügenden  Worte"  gestrichen,  muß  natürlich  auch  der  ganze  zweite 
Paragraph  mit  der  Gegenbestimmung  einer  Überschreitung  der  Drei- 
Nächtefrist  als  späterer  Zusatz  gestrichen  werden,  „dessen  Diktion 
von  der  sonstigen"  des  Titels  abweicht.  Man  sieht  hieraus,  von 
wie  einschneidender  Wirkung  für  die  fränkischen  Rechtsverhält- 
nisse seine  Textkritik  ist;  er  tritt  einfach  als  selbständiger  Gesetz- 
geber neben  Chlodovech  auf  und  krempelt  den  fränkischen  Prozeß 
vollständig  um.  Wird  sich  wirklich  die  deutsche  Rechtswissenschaft 
eine  solche  Willkür  noch  lange  gefallen  lassen? 

Dabei  entdeckt  er  (S.  403)  außerdem  noch  ganz  überraschende 
Beziehungen  der  Lex  Salica  zu  ihrer  Tochter ,  der  Lex  Ribuaria, 
die,  wie  jedem  bekannt  ist,  aus  ihr  geschöpft  hat.  Der  spätere 
Überarbeiter  soll  die  gestrichenen  Worte  unter  dem  Einflüsse  der 
Lex  Ribuaria  hinzugefügt  haben,  welche  die  Frist  tit.  47  'usque 
tercio  die'  nach  Tagen  angibt  und  nicht  nach  Nächten;  er  müßte 
sie  also  in  die  altertümliche  Mondrechnung  nach  Nächten '')  umge- 
setzt haben,  und  vom  Inhalt  des  gestrichenen  zweiten  Paragraphen 

1)  Thesaurus  Linguae  Latinae  Vol.  II,  col.  80. 

2)  J.  Grimm,  Deutsche  Rechtsaltertümer  S.  868. 


704  Bruno  Kr u seh, 

ist  überhaupt  keine  Spur  in  der  Ribuaria  zu  finden.  Mit  dieser 
neuen  Entdeckung  tritt  die  Ableitung  aus  der  Lex  Salica  zu  ihr 
gleichzeitig  in  das  Verhältnis  der  Quelle ,  und  nicht  nur  A,  son- 
dern auch  B  soll  der  ßibuaria  „weitgehenden  bestimmenden  Ein- 
fluß" auf  die  Textgestaltung  eingeräumt  haben.  Schon  bei  der 
Behandlung  des  vorigen  Titels  B  XLVII  hatte  Krammer  eine  ganz 
erstaunliche  Entdeckung  in  der  Ribuaria  gemacht  (S.  386) :  sie  hat 
noch  den  alten  verlorenen  Urtext  aus  der  frühen  Merovingerzeit 
benutzt,  eben  jenen,  mit  dessen  Rekonstruktion  Krammer  zur  Zeit 
beschäftigt  ist,  und  ihre  Vorlage  ähnelte  A,  das  ihm  ja  am  nächsten 
stehen  soll.  Das  steht  wiederum  im  Widerspruch  zu  der  ganzen 
bisherigen  Forschung,  denn  die  Ribuaria  hat  vielmehr  eine  B-Hs. 
benutzt  ^),  deren  Verwandtschaft  mit  den  erhaltenen  Hss.  sich  noch 
bestimmen  läßt,  und  vor  Kurzem  wollte  Krammer  selbst^)  noch 
den  Zusammenhang  mit  der  B-Form  später  darlegen. 

Ist  nun  auch  infolge  der  neuentdeckten  Beziehungen  der  In- 
halt des  Titels  bereits  so  stark  geschwunden,  daß  §  3  unmittelbar 
an  §  1  anschließt,  so  sind  doch  die  „späteren  Zutaten  fremden 
Greistes"  „noch  lange  nicht"  erschöpft.  Aus  §  1  streift  Krammer 
vor  allem  noch  schnell  die  beiden  Erwerbsarten:  'aut  emisset  aut 
cambiasset  dixerit  vel',  die  auch  in  §  2  wiederkehren  und  auch 
dort  durch  die  Streichung  des  ganzen  Paragraphen  glücklich  be- 
seitigt wurden;  als  Veräußerungsarten  in  B  XLVII  waren  sie 
„wohl  sicher"  unserm  Titel  „nachgebildet"  und  teilten  billigerweise 
das  Schicksal  ihres  Vorbildes.  Das  stehen  gebliebene  'proclama- 
verit'  verwandelt  sich  in  'reclamaverit',  unstreitig  „eine  viel  bessere 
Wendung",  als  das  was  der  „Überarbeiter"  dafür  eingesetzt  hatte. 
Aus  §  3  scheidet  die  Wiedererkennung  der  gestohlenen  Sache  aus, 
die  in  A  an  'res  suas'  angeschlossen,  in  BC  neutral  gefaßt  ist; 
sie  wurde  zwar  in  B  XLVII  im  Texte  geduldet,  aber  hier  liegt 
„nicht  so  der  Ton"  auf  dem  'agnoscere' ;  sie  ist  also  nachträglich 
in  unseren  Titel  unter  Einfluß  des  Titels  B  XLVII  eingeschoben, 
der  eben  noch  selbst  als  Nachbildung  unseres  Titels  figurierte.  Diese 
Zirkelbewegung  gehört  zu  den  Eigentümlichkeiten  des  neuen  Sy- 
stems !  Selbstverständlich  muß  nun  auch  die  entsprechende  Formel 
am  Schlüsse:  'hoc  quod  se  agnoscere  dicit',  „ohne  weiteres"  als 
späterer  Zusatz  „zweifellos"  desselben  Überarbeiters  ausscheiden. 
Kurz  vorher  hat  Krammer  die  Weigerung  des  Spurfolgers ,  das 
Drittehandverfahren  und  die  Solsadierung  verzunebmen,  als  das 
„geistige  Eigentum"  des  Überarbeiters  gestrichen,  und  er  erkannte 

1)  N.  A.  XL,  S.  541,  N.  1. 

2)  N.  A.  XXXIX,  S.  672. 


der  neu  entdeckte  Urtext  der  Lex  Salica.  705 

den  späteren  Zusatz  an  den  nenen  Worten  und  Wendungen,  an 
der  Voraussetzung  des  §  2 ,  der  nicht  ursprünglich  ist ,  an  der 
völlig  überflüssigen  Wiederholung  der  Schlußbestimmung  des  §  1 
in  negativer  Wendung;  der  Hauptgrund  war  aber,  daß  die  Stelle 
der  von  Krammer  „wieder  belebten"  Sequestertheorie  den  Todes- 
stoß versetzt,  und  seine  Verlegenheit  läßt  eine  Äußerung  auf  S.  410, 
N.,  erkennen,  es  sei  schwer  zu  sagen,  was  sieh  der  Verf.  unter 
dem  Geloben  'per  tertia  manu'  vorgestellt  haben  möge :  er  rät  auf 
einen  Schwur  selbdritt,  so  daß  also  'tertia  manus'  hier  nicht  den 
Unparteiischen,  den  Sequester,  sondern  den  Spurfolger  selbst 
bezeichnen  würde.  Selbstverständlich  können  nicht  beide  Erklä- 
rungen der  'tertia  manus'  nebeneinander  bestehen,  sondern  we- 
nigstens eine  von  ihnen  müßte  wohl  falsch  sein,  wenn  es  nicht 
beide  sind.  Einen  offenbaren  Fehler  bietet  dann  die  Lesart  von 
A  'vel  solem'  in  der  gestrichenen  Stelle,  was  nach  Krammers  Ver- 
mutung „wohl"  aus  'nee  solem'  verschrieben  ist,  und  er  hat  auch 
gleich  *nec'  stillschweigend  ohne  jede  Note  in  seinen  Abdruck  des 
A-Textes  eingesetzt:  nun  genau  so  liest  das  verachtete  B,  doch 
helfen  kann  ihm  dies  nichts ;  es  hat,  belehrt  man  uns,  „auch  wieder" 
die  richtige  Lesart  eingesetzt,  hatte  also  ursprünglich  ebenfalls 
das  falsche  'vel'.  Läßt  sich  die  Befangenheit  in  der  Kritik  noch 
weiter  treiben? 

Grewissermaßen  als  Zugabe  beschert  uns  Krammer  in  einem 
dritten  Kapitel  einen  wunderlichen  Rechtsfall  durch  seine  Ausle- 
gung des  Titels  B  LXI  =  A  XCIV,  dessen  Urtext  (S.  420)  sich 
diesmal  nur  dadurch  von  der  A-Fassung  unterscheidet,  daß  —  ge- 
rade die  Hauptsache  darin  weggestrichen  ist: 

1.  *Si  quis  ad  ira  pde  manu  ad  ira'A,  'alteri  de  manu'  BC] 
[Zus.  'desuper  illam'  B  1.  2,  'desuper  illum'  richtiger  C,  'super  illo' 
B  3,  'desuper  alterum'  B  4]  aliquid  per  virtutem  tollerit  aut  ra- 
puerit  vel  expoliaverit  ['vel  e'.  fehlt  BCj  ['rem  in  caput  reddat  et 
insuper'  und  ähnlich  Zus.  BC]  ['1200  dinarios  qui  faciunt'  Zus.  B  1. 
4.  C]  sol.  XXX  culpabilis  iudicetur. 

2.  Si  vero  quicumque  desuper  hominem  aliquid  ['a.'  fehlt  BC] 
in  tertia  manu  miserit  et  si  per  ['et  super'  AI;  'et  per'  A  2.  3 ;  'et 
ei  per'  u.  ähnlich  BC,  doch  'sed  si  haec  manum'  B  4]  virtutem  ali- 
quis  ei  [a.  ei'  fehlen  BC]  tallerit,  ['1200  denarios  qui  faciunt'  Zus. 
B  1.  4]  sol.  XXX  [so  BC;  'XXXV  A]  culpabüis  iudicetur'. 

Der  erste  Paragraph  handelt  vom  Handraub,  und  Krammers 
neuer  Rechtsfall,  der  Raub  „im  Zorn",  gründet  sich  auf  die  Lesart 
von  A  'de  manu  a  d  ira',  für  die  er  zur  Erklärung  das  Gefäß  m  i  t 
Bienen  'vasum  ad  apis'  (A  IX,  2)  heranzieht,  aber  diese  Analogie 


706  Bruno  Krusch, 

ergibt  offensichtlich  keinen  Raub  im  Zorn,  sondern  einen  Raub 
„aus  einer  Hand  mit  Zorn",  wo  die  Hand  den  Zorn  ebenso,  wie 
das  Gefäß  die  Bienen  umfassen  würde.  Auf  den  Räuber  bezieht 
sich  der  Begriff  der  Gewaltsamkeit :  'per  virtutem',  und  die  Kor- 
rekturen der  jungen  Überarbeitung  des  A-Textes  'per  iram'  oder 
'per  iracundiam'  für  'ad  ira'  sind  natürlich  wertlos.  Trotzdem 
faßt  Krammer  den  Ausdruck  in  diesem  Sinn  und  erhält  so  einen 
gewaltsamen  Raub  ,.im  Affekt",  der  eben  deshalb  geringer  bestraft 
sein  soll,  als  ein  Rauben  und  Plündern  „mit  vorbedachtem  Muth". 
Woher  kam  nun  der  Zorn  des  Räubers?  Hier  zieht  Krammer 
wieder  nach  seiner  bewährten  Methode  einen  beliebigen  anderen  Titel 
heran!  B  XXXVII,  3  handelte,  wie  wir  sahen,  von  dem  gewalt- 
samen Zugreifen  eines  Bestohlenen;  hiermit  verkoppelt  er  unsere 
Bestimmung,  und  der  Zorn  ist  nun  der  des  Bestohlenen  über  den 
Dieb  seines  Gutes,  der  ihn  zum  gewaltsamen  Zugreifen  veranlaßt. 
So  hat  Krammers  Zauberstab  im  Handumdrehen  den  Räuber  zu- 
gleich zum  Bestohlenen  gemacht! 

Diesen  köstlichen  Raub  liefert  nun,  wie  gesagt,  nur  die  von 
Krammer  „verhätschelte"  Rezension  A,  und  stolz  erklärt  er,  daß 
in  allen  anderen  Hss.  die  kritischen  Worte  fehlen.  Dem  Über- 
schuß von  A  steht  aber  auf  der  anderen  Seite  ein  Minus  gegenüber, 
denn  bei  einem  Raube  'de  manu'  fragt  man  unbedingt  nach  der 
Person  des  Beraubten,  und  ohne  den  Besitzer  hängt  die  Hand  in 
der  Luft,  die  nun  auf  Grund  folgender  Erwägungen  restlos  weg- 
geblasen wird.  Einen  Überschuß  hat  A  auch  in  der  Beschreibung 
des  Raubaktes  in  dem  hinter  'tulerit  aut  rapuerit'  noch  hinzugefügten 
dritten  Verb  'vel  expoliaverit' ,  das  in  BC  hier  fehlt,  indessen 
das  hier  fehlende  'expoliaverit'  steht  bei  beiden  in  anderem  Zu- 
sammenhang im  folgenden  §,  und  A  hat  seiner  Gewohnheit  gemäß 
zwei  Paragraphen  in  einen  sinnlos  zusammengezogen.  Denn  zu 
'de  manu'  in  §  1  paßt  'expoliaverit'  in  keiner  AVeise,  und  ich  stimme 
Krammer  durchaus  bei,  daß  diese  Fassung  „natürlich  unmöglich" 
ist.  Einer  von  den  beiden  Ausdrücken  muß  also  weichen,  und 
wiederum  erklärt  sich  Krammer,  wie  so  oft,  nicht  für  die  Über- 
lieferung sämtlicher  Hss.,  sondern  für  die  Interpolation  von  A  in 
einer  Sprache,  die  keine  Widerrede  duldet:  „Wir  werden  nicht 
das  'expoliare',  sondern  die  Worte  'de  manu'  als  einen  späteren 
Zusatz  des  Überarbeiters  der  Lex  ausscheiden".  In  seinem  Urtext 
ist  also  'de  manu',  der  Hauptbegriff  dieses  Titels,  der  die  geringere 
Buße  begründet,  als  „eine  Art  Glosse"  gestrichen,  und  dieser  Zen- 
surstrich befreit  uns  zugleich  von  der  kitzelichen  Frage  nach  dem 
Besitzer  der  Hand;  dafür  rückt  nun  'ad  ira',    „auf   dem   hier   der 


der  neu  entdeckte  Urtext  der  Lex  Salica.  707 

Ton  liegt",  an  den  ihm  gebührenden  Platz  an  der  Spitze  des  Titels. 
Eigentlich  gebührte  dieser  Platz  wohl  dem  Beraubten ,  der  aus 
Krammers  Urtext  vollständig  verschwunden  ist,  nach  seiner  Er- 
klärung aber  mit  dem  Diebe  identisch  sein  würde,  dem  der  Be- 
stohlene  im  Zorn  sein  eigenes  Gut  raubt,  —  in  dieser  Juristerei 
ist  eben  alles  verkehrt,  —  und  wie  wenig  dieser  Platz  frei  bleiben 
kann,  beweist  Krammers  eigene  deutsche  Übersetzung:  „Wenn 
jemand  (einem  anderen)  im  Zorn  etwas  fortnimmt".  Er  schiebt 
also  schüchtern  in  Klammern  „einem  anderen"  ein:  nun  dieses  'al- 
te ri'  steht  wirklich  vor  'de  manu'  in  allen  anderen  Hss.  BC  und 
selbst  in  der  Emendata ;  es  vertritt  vor  'de  manu'  in  BC  die  Stelle, 
die  'ad  ira'  in  A  dahinter  hat.  Eine  gewisse  paläographische 
Ähnlichkeit  zwischen  den  beiden  korrespondierenden  Ausdrücken 
fällt  sofort  in  die  Augen :  in  beiden  kehren  wieder  der  Anfangs- 
buchstabe a,  der  lange  Schenkel  von  d,  e  und  i  geben  in  der 
merovingischen  Sprache  durcheinander,  und  r  stimmt  wieder  völlig. 
Ein  schwarzer  Verdacht  drängt  sich  da  auf:  sollte  etwa  der 
nicht  sehr  glückliche  Überarbeiter  A  das  kostbare  'ad  ira'  aus  'al- 
teri'  zurechtgemodelt  haben?  Die  Frage  läßt  sich  kaum  unter- 
drücken, und  ich  hoflPe,  daß  auch  mancher  der  Leser  mit  mir  den 
Handraub  „im  Affekt"  als  eine  der  vielen  Dummheiten  von  A  vom 
Sündenregister  der  Menschheit  wieder  absetzen  wird.  In  Kram- 
mers Urtext  hatte  sich  der  Handraub  nach  der  Tügung  von  'de 
manu'  in  einen  Raub  im  Affekt  verwandelt,  und  er  rühmt  sich 
seiner  Tat,  jene  «vermeintliche"  Institution  des  fränkischen  Rechts 
glücklich  beseitigt,  sie  als  auf  einem  Mißverständnis  der  Vorlage 
beruhend  erkannt  zu  haben.  Und  was  für  eine  Rolle  hat  dieser 
Handraub  ohne  Affekt  als  eine  minder  strafwürdige  Art  des  Raubes 
im  fränkischen  Recht  bisher  gespielt !  Sollte  dieses  Opfer  der 
Krammerschen  Kritik  niemals  wieder  zu  neuem  Leben  erwachen? 
Die  in  sich  klare  Eorm  des  Paragraphen  in  B  hat  auch  Krammer 
anerkannt,  doch  dann  wieder  gegen  'de  manu'  eingewandt,  daß 
„unzweifelhaft"  eine  andere  klarere  und  ausführlichere  Form  vom 
Gesetzgeber  gewählt  wäre,  wenn  er  diesen  Gedanken  hätte  zum 
Ausdruck  bringen  wollen.  Also  einmal  klar  und  dann  wieder  nicht 
recht  klar !  Unzweifelhaft  war  dem  unklaren  B  der  über  ein  Jahr- 
tausend verborgene  Urtext  der  Lex  Salica  noch  nicht  entschleiert, 
dessen  Klarheit  ihn  hätte  sofort  erleuchten  müssen. 

Auch  der  folgende  Reehtsfall  des  zweiten  Paragraphen  hat  in 
Krammers  Urtext  ein  ganz  anderes  Gesicht  erhalten,  wie  bisher, 
indem  nicht  mehr,  wie  in  BC,  der  bestohlene  Agnoscent  gewalt- 
sam zugreift,  sondern  auf  Grund  der  Fassung  von  A  eine  beliebige 


708  Bruno  Krusch, 

Person  ('aliquis'  A  3 ,  'aliquid'  A  1,  2).  Unter  dieser  Person  ver- 
steht Krammer  den  bisherigen  Besitzer,  der  dem  Sequester  das  fort- 
geführte Stück  „im  Unwillen  über  die  ihm  widerfahrene  Schmach" 
wieder  entreißt.  Der  Agnoscent,  meint  er,  käme  jedenfalls  am 
wenigsten  in  Betracht,  und  daher  sei  die  Fassung  von  BC  keines- 
wegs zu  „loben".  Wegen  der  halben  Buße  setzt  er  auch  in  diesem 
Falle  eine  Affekthandlung  voraus,  und  was  läßt  sich  nicht  alles  voraus- 
setzen! Als  Buße  nennt  A  35  SoL,  B  aber  30,  wie  im  ersten  Para- 
graphen alle  Hss.,  auch  A,  30  gerechnet  hatten :  hier  hat  Krammer 
die  handschriftliche  Überlieferung  von  A  stillschweigend  korrigiert 
und  in  seinem  Textabdruck  finden  wir  also  30  Sol.  und  nicht  35. 
Das  ist  nicht  etwa  ein  Schreibfehler  von  ihm,  sondern  er  glaubt 
wirklich,  daß  B  die  richtige  Zahl  erhalten  hat,  und  einige  Seiten 
vorher  (S.  418)  hatte  er  sich  in  einer  bescheidenen  Anmerkung 
über  den  ärgerlichen  Zwischenfall  folgendermaßen  geäußert:  „So 
wenig  ich  sonst  geneigt  bin,  diesen  (d.  i.  B  und  den  anderen  Texten) 
zu  folgen,  glaube  ich  doch,  daß  B  hier  den  Text  seiner  A- Vorlage 
richtig  verbessert  hat'.  Richtig  verbessert?  Also  hatte  es  ur- 
sprünglich ebenfalls  die  fehlerhafte  Zahl  35  gerade  wie  A  ? 

Der  neue  A-Text  als  Quelle  der  verlorenen  Urform,  wie  Krammer 
ihn  hier  vorlegt,  scheint  mir  in  mancher  Beziehung  von  den  früher 
aufgestellten  Grundsätzen  bedenklich  abzuweichen.  Die  beliebige 
Person,  die  im  2.  Paragraphen  als  Räuber  auftritt,  ist  darin  auf 
Grund  der  Hs.  A  3  mit  'aliquis'  und  nicht  nach  A  1.  2  mit  'aliquid' 
bezeichnet,  was  ja  Unsinn  wäre  und  er  selbst  inzwischen  als  sol- 
chen erkannt  zu  haben  scheint  ^) ;  kurz  vorher  liest  sein  Urtext  'in 
tertia  manu'  und  'per  virtutem'  mit  A  2.  3,  während  in  A  1  wie- 
derum widersinnig  'de  tertia  manu'  und  'super  virtutem'  steht ; 
endlich  ist  auch  im  1.  Paragraphen  'aliquid  per  virtutem'  mit  A 
2.  3  und  nicht  'per  v.  a.'  mit  A  1  geschrieben.  Krammer  hat  also 
seinen  neuesten  A-Text  durchaus  auf  der  Grundlage  von  A  2.  3 
und  besonders  der  Hs.  A  3  konstituiert  und  das  ganz  fehlerhafte 
A  1  als  unbrauchbar  ausgeschaltet.  Und  gerade  diese  Hs.  A  1 
hatte  er  in  seinem  vorigen  Aufsatz  als  die  Grandlage  seiner  Aus- 
gabe zu  erweisen  gesucht :  sie  stamme ,  schrieb  er  '^) ,  von  einer 
„besseren"  Form  her,  A  2.  3  aber  „von  einer  weniger  guten".  Er 
hat  nun  selbst  durch  die  Tat  zugegeben ,  daß  sein  früheres  Text- 
prinzip praktisch  undurchführbar  ist,  daß  er  sich  in  der  Bewertung 
der  drei  A-Hss.  vollständig  geirrt,   die   schlechteste  für  die  beste 

1)  S.  421,  N.  1,  spricht  er  von  der  „falschen"  Form  'aliquid'  und   von  der 
richtigen  'aliquis'. 

2)  N.  A.  XXXIX,  S.  612. 


der  neu  entdeckte  Urtext  der  Lex  Salica.  709 

und  die  beste  für  die  schlechteste  Hs.  gehalten  hat;  eine  auf 
seinem  falschen  Textprinzip  begründete  Ausgabe  mit  den  ganzen 
Fehlern  von  A  1  würde  also  selbst  für  die  Benutzung  des  A-Textes 
völlig  unbrauchbar  sein  und  so  tief  unter  der  Hessels'schen  Aus- 
gabe stehen ,  daß  sie  in  den  Monumenta  Germaniae  nimmermehr 
erscheinen  darf. 

Dieselbe  Beobachtung  drängt  sich  bei  der  Nachprüfung  des 
in  der  nebenstehenden  Kolumne  (S.  420)  abgedruckten  B-Textes 
auf.  Beim  Handraub  an  einem  anderen  ('alteri')  wiederholt  der 
Gesetzgeber  nach  seiner  bekannten  Gewohnheit  später  noch  einmal 
die  Person  des  Beraubten:  'desnper  alterum'  B  4,  'desuper  illam' 
C,  'super  illo*  B  3,  wo  'desuper'  für  „bei^  steht;  doch  Krammers 
handschriftliche  Grundlage  B  1.  2  verbindet  widersinnig  das  Pro- 
nomen mit  dem  folgenden  'rem'  und  schreibt  also  'desuper,  illam 
rem',  wodurch  die  Präposition  ihres  Akkusativs  beraubt  und  zum 
Wrack  gemacht  wird.  In  Krammers  neuestem  Textabdruck  ist  nun 
dieser  offenbare  Fehler  stillschweigend  verbessert  und  somit  dies- 
mal auch  seine  Haupths.  B  1  preisgegeben .  die  keine  bessere 
handschriftliche  Grundlage  bildet  als  A  1.  Die  Wiederholung  ist 
natürlich  in  A  gestrichen,  und  Krammer  betrachtet  sie  als  einen 
späteren  Zusatz  von  B,  der  dem  'desuper  hominem'  im  2.  Para- 
graphen „offenbar"  ,,nachgebildet'*  sei.  Diese  „Nachbildungen"  an- 
derer Gesetzesstellen  spielen  ja  in  seiner  Kritik  eine  ebenso  her- 
vorragende Rolle,  wie  die  richtigen  Korrekturen  falscher  Lesarten 
und  die  Erweiterungen  des  nach  größerer  Ausführlichkeit  stre- 
benden B,  für  die  kein  Bedürfnis  vorliegt. 

Auch  für  die  Beurteilung  des  neuen  Urtextes,  an  dessen  Her- 
stellung Krammer  fortgesetzt  arbeitet ,  werden  die  vorgeführten 
Proben  hoffentlich  genügen  und  aller  Welt  über  den  Charakter 
dieses  Zerstörungswerkes  die  Augen  öffnen.  Die  Grundlage  bildet 
eine  schlechte  karolingische  Überarbeitung,  und  gerade  die  sinnlos 
entstellten  Lesarten  werden  darin  als  Reststücke  des  verlorenen 
Urtextes  zum  Ausgangspunkt  einer  Textumwälzung  gemacht,  die 
auch  in  den  allen  Hss.  gemeinsamen  Theilen  alles  niedermäht, 
was  den  ganz  willkürlichen  Annahmen  im  Wege  steht.  Die  neue 
Lehre  würde  das  alte  fränkische  Recht  in  wesentlichen  Punkten 
umgestalten,  und  bereits  macht  sich  ihr  Einfluß  in  der  juristischen 
Literatur  bemerkbar.  Es  muß  natürlich  den  Fachmännern  über- 
lassen bleiben,  einer  richtigeren  Erkenntnis  wieder  die  Bahn  zu 
eröffnen  und  die  neuen  Krammerschen  Konstruktionen  zu  wider- 
legen, die  besonders  jüngeren  Forschern  nur  zu  sehr  den  Kopf  ver- 

Kgl.  Ges.  d.  Wiss.  Nachrichten.    Phil.-hist.  Klasse.    Heft  5.  48 


710  Bruno  Krusch , 

wirrt  haben.  Ein  paar  flüclitige  Beobachtungen  in  dieser  Beziehung 
werden  aber  auch  dem  Laien  gestattet  sein. 

Das  Feld  für  seine  Operationen  öffnet  sich  Krammer  durch 
die  Deutung  der  'tertia  manus'  im  Tit.  B  XL VII  als  den  Unpar- 
teiischen, indem  er  also  die  „endgültig  totgesagte"  Sequestertheorie 
wieder  belebt,  während  die  „zur  Zeit  herrschende  Lehre"  den  Autor 
oder  Gewähren,  den  Vormann  darunter  versteht.  Wir  haben  be- 
reits gesehen  (S.  705),  wie  Krammer  an  einer  Stelle  dem  Ausdruck 
eine  ganz  andere  Bedeutung  unterlegte  (S.  410,  N.),  und  mit  dieser 
Ausnahme  würde  er  sieh  eigentlich  selbst  schon  widerlegt  haben. 
Die  Sequestration  ist  außerdem  eine  römisch-rechtliche  Einrichtung, 
die  in  der  Lex  Salica  keine  gute  Figur  machen  würde. 

Geht  man  von  römisch  rechtlichen  BegriiFen  aus,  so  liegt  aller- 
dings nichts  näher  als  diese  Theorie,  die  bis  in  die  Neuzeit  hinein 
das  Feld  beherrscht  hat,  indessen  die  Entwickelung  des  Intertiar- 
verfahrens  in  Tit.  47  läßt  keinen  Zweifel  darüber ,  daß  der  Ge- 
setzgeber unter  der  'tertia  manus'  die  Vormänner  versteht ,  auf 
deren  Stellung  der  ganze  Prozeß  beruht.  Muß  ich  also  in  der 
Hauptsache  vollständig  der  „herrschenden  Ansicht"  beipflichten, 
so  lassen  sich  doch  methodische  Bedenken  nicht  zurückdrängen, 
ob  man  zur  Ergänzung  und  Erklärung  der  Angaben  der  Lex  Sa- 
lica so  viel  spätere  und  auch  ganz  fremde  Rechtsquellen  heran- 
ziehen darf,  und  schon  Waitz  ^)  hatte  seine  Zweifel  geäußert ,  ob 
man  das  Recht  habe,  die  Lex  Salica  aus  der  Lex  Ribuaria  zu  er- 
klären. Wie  die  Lex  Salica  bei  ihrem  hohen  Alter  ganz  für  sich 
steht,  möchte  ich  mich  lieber  zum  Grundsatz  bekennen,  daß  sie 
auch  aus  sich  heraus  auszulegen  sei,  und  dann  ist  unhaltbar, 
was  Brunner  ^)  meint,  daß  der  Bestohlene,  wenn  er  auf  der  Spur- 
folge die  Sache  in  3  Tagen  findet,  sich  ihrer  ohne  weiteres  zu 
bemächtigen  befugt  gewesen  sei.  Das  Recht  der  Vindikation  'abs- 
que  interciato'  gewährt  in  diesem  Falle  die  Lex  Ribuaria  XLVII,  1, 
aber  nicht  die  Lex  Salica,  die  XXXVII,  1,  das  Gegenteil  vor- 
schreibt, und  eine  Verbindung  der  beiden  völlig  entgegengesetzten 
Bestimmungen  in  der  von  Brunner  beliebten  Weise  erscheint  mir 
nicht  unbedenklich. 

Der  Bestohlene  (A)  erhält  in  der  Lex  Salica  XXXVII,  1,  bei 


1)  G.  Waitz,  Das  alte  Recht  der  Salischen  Franken  S.  157.  Auch  E.  Mayer- 
Homberg,  Die  fränkischen  Volksrechte  im  Mittelalter,  Weimar  1912,  I,  S.  376, 
hat  bei  der  Verschiedenheit  der  beiden  Volksrechte  in  einer  ganzen  Reihe  we- 
sentlicher Punkte  es  bedenklich  gefunden,  ein  Volksrecht  aus  dem  anderen  erklärep 
oder  ergänzen  zu  wollen. 

2)  Brunner,  Deutsche  Rechtsgeschichte  II,  S.  497. 


der  neu  entdeckte  Urtext  der  Lex  Salica.  711 

der  Auffindung  innerhalb  dreier  Nächte  nach  der  Erklärung  des  Be- 
sitzers (B):  'Emi  aut  cambiavi  res'  das  Recht,  seinen  Eigentums- 
beweis zu  führen :  'res  suas  per  tercia  manu  agramire  debet',  und 
dasselbe  Recht  hat  B,  wenn  A  sein  Eigentum  nach  3  Nächten 
findet:  in  dem  ersten  Fall  wird  der  Besitzer  B  von  der  Verteidi- 
gung, in  dem  zweiten  der  Bestohlene  A  von  der  AugrifPshandlung 
ausgeschlossen.  Brunner  versteht  nun  im  ersten  Fall  unter  'per 
tertia  manu'  ausnahmsweise  die  Hand  eines  Bürgen,  im  zweiten 
läßt  er  die  auch  von  ihm  anerkannte  Deutung  als  Gewährsmann 
bestehen,  und  diese  Verschiedenheit  ist  offenbar  der  wunde  Punkt 
in  seiner  Theorie.  Das  'per  tertia  manu  agramire'  von  A  muß 
vielmehr  dieselbe  Handlung  sein,  wie  das  von  B,  es  steht  dem  an- 
deren vollständig  parallel.  Dieser  von  Sohm ')  festgestellte  Leit- 
satz scheint  mir  bisher  von  den  Juristen  noch  nicht  völlig  zur 
Anerkennung  gebracht  zu  sein.  Sohm  selbst  meinte,  daß  der  Kläger 
A  den  Beweis  „nicht"'  zu  erbringen  gehabt  habe ,  den  B  zu  er- 
bringen hatte,  und  erklärte  nun  'per  tertia  manu'  als  'de  tertia 
manu',  wodurch  aus  der  Person  des  Gewähren  das  Verfahren  ge- 
macht wird;  andere  haben  an  ein  Gelöbnis  für  das  Drittehandver- 
fahren, zum  Zwecke  der  Durchführung  desselben  gedacht,  also  'per 
tertia  manu'  als  'pro  tertia  manu'  gedeutet.  Der  Ausdruck:  'per 
tertia  manu  agramire'  kann  hier,  wie  B  XLVIl,  nur  das  eine 
bezeichnen,  die  Führung  des  Eigentumsbeweises  durch  die  dritte 
Hand,  d.  h.  durch  den  Gewähren,  rechtsförmlich  versprechen,  und 
muß  für  A  wie  für  B  in  gleicher  Weise  gelten :  diesem  Gewähren 
von  A  ist  man  bisher  ängstlich  ausgewichen,  wie  die  verschiedenen 
Deutungen  und  Änderungen  im  Tit.  XXXVII,  1  ausweisen.  Er 
würde  auch  unmöglich  sein,  wenn  mit  der  Person  des  Gewähren  in 
dem  gerichtlichen  Termin  zugleich  auch  die  Sache  mit  zur  Stelle 
zu  bringen  gewesen  wäre,  aber  das  wird  wieder  nur  aus  der  Lex 
Ribuaria  geschlossen,  die  Lex  Salica  enthält  nicht  die  geringste 
Spur  einer  solchen  Bestimmung^).  Der  Schluß,  daß  wie  B  nach 
3  Nächten,  auch  A  vor  3  Nächten  seine  Vormänner  vor  Gericht 
zu  stellen  hatte,  scheint  mir  eine  notwendige  Folge  des  Sohmschen 
Leitsatzes  und  nicht  zu  umgehen  zu  sein,  wenn  man  nicht  zu  ganz 


1)  Sohm,  der  Prozeß  der  Lex  Salica,  S.  82  ff. 

2)  Krammer,  S.  356  fg.,  397,  versteht  allerdings  gerade  das  Versprechen  der 
Stellang  der  „Sache"  unter  dem  'adramire',  die  der  Bestohlene  diirch  die  Hand  des 
Sequesters  vor  Gericht  bringen  lassen  wollte,  doch  scheint  er  selbst  zu  zweifeln, 
ob  man  diese  Übersetzung  gelten  lassen  wird.  Die  Unmöglichkeit  seiner  Erklärung 
von  XXXVII,  1,  ergibt  sich  aus  XXXVII,  3,  wo  dieselbe  Sache  negativ  ausgedrückt 
ist,  und  deshalb  hatte  eben  Krammer  diese  Stelle  gestrichen  (siehe  oben  S.  705). 

48* 


712  Bruno  Krusch, 

willkürlichen  Annahmen  greifen  will,  wie  dies  bisher  geschehen 
ist.  Ein  etwas  „beschränkterer"  Inhalt  darf  der  Handlung  von 
A  auf  keinen  Fall  beigelegt  werden,  als  der  entsprechenden  von 
B,  wie  das  jüngst  auch  noch  Rauch  ^)  getan  hat. 

Das  Anefangsverfahren  beginnt  in  Tit.  XL VII  nach  der  Auf- 
findung der  gestohlenen  Sache  durch  den  Bestohlenen  mit  dessen 
Erklärung:  'Mitto  rem^)  in  tertia  manu',  wodurch  sie  symbolisch  in 
die  Hand  des  Vormanns  geschickt  und  der  Verfügung  des  Besitzers 
B  entzogen  wird^).  'Mittere'  hat  beide  Bedeutungen  von  „schicken" 
und  von  „legen",  und  die  erstere  ist  gesichert  durch  Tit.  L,  4: 
'neque  in  rem  mittat*),  qui'.  Nun  soll  ('debet')  der  Besitzer  B 
rechtsförmlich  zusagen,  durch  die  dritte  Hand  den  Beweis  für 
sein  Eigentumsrecht  zu  führen  ('agramire'),  die  Vormänner  auf 
einen  Termin  zu  stellen,  die  ihm  das  Objekt  verkauft  oder  ver- 
tauscht haben.  'Debet'  hat  in  der  Lex  Salica  im  Allgemeinen 
nur  die  Bedeutung  eines  Hilfsverbs  und  steht  geradezu  für  den 
Konjunktiv  °).  Aber  auch  A  war  nach  Tit.  LXI,  3,  gebunden, 
wenn  er  die  Sache  bei  B  in  die  dritte  Hand  geschickt,  und  durfte 
nicht  gewaltsam  zugreifen ,  sondern  mußte  das  Beweisverfahren 
abwarten. 

An  der  letzteren  Stelle  ist  in  den  Haupths.  B  4  der  Text  ver- 
dorben ^) ,  und  Rauch  (S.  25)  hat  daraufhin  sofort  das  Verdam- 
mungsurteil über  diesen  „völlig  verderbten"  Text  gesprochen,  das 
bei  Krammer  mächtigen  Wiederhall  gefunden  hat.  Wenn  man  die 
kostbare  Hs.  nach  dieser  einen  Stelle  beurteilt,  kann  man  eine 
solche  Ansicht  äußern,  aber  die  Schwärmer  für  jenen  „völlig  ver- 
derbten" A-Text  dürften  eigentlich  nicht  so  feinfühlig  sein.  Einem 
Mann   wie  Waitz    waren   natürlich   diese   und  andere  Stellen ,    an 


1)  Rauch,  Spurfolge  und  Anefang,  Weimar  1908,  S.  107. 

2)  Im  Text  steht  'eum'  für  'id',  wie  B  IX,  1,  die  Emendata  liest  'eam' 
nämlich  'rem',  die  Hss.  der  späteren  A-Überarbeituug  haben  'ipsam  rem'. 

3)  Vgl.  Tit.  XCIX :  'Si  hoc  facere  potuerit,  [potestj  rem  intertiata  vindicare', 
nämlich  der  Besitzer. 

4)  Daß  hier  der  Begriff  des  Schickens  ausgedrückt  ist,  gibt  auch  Krammer 
(S.  339,  N.)  zu,  liest  aber  mit  A  'transmiserit'  und  erklärt  umgekehrt  'mittat'  für 
eine  spätere  Änderung  von  BC,  durch  die  anscheinend  die  Umarbeiter  „als  bessere 
Ivatinisten  die  alte  Bedeutung  von  'mittere' wieder  belebt  haben".  Indessen 'trans- 
mittat'  hat  hier  auch  B  2,  das  sich  also  an  der  Wiederbelebung  nicht  beteiligt, 
sondern  den  Urtext  erhalten  haben  müßte ! 

5)  Tit.  LVIII,  1,  schreibt  die  Mehrzahl  der  Hss.  'donet',  während  allein  B4 
das  unstreitig  richtige  'donare  dcbet'  erhalten  hat. 

6)  Sie  liest  LXI,  3 :  'in  terra'  statt  'in  tertia'  und  schiebt  davor  hinter  'ho- 
minem'  ein  sinnloses  'mortuum'  ein. 


der  neu  entdeckte  Urtext  der  Lex  Salica.  713 

denen  B  4  versagt,  sehr  wohl  bekannt,  aber  neben  den  Fehlern 
hatte  er  so  viele  vortreffliche  Eigenschaften  in  dieser  Hs.  gefunden, 
die  man  in  allen  anderen  vergeblich  sucht,  daß  er  ihr  die  erste 
Stelle  gab  und  sie  seiner  Ausgabe  zu  Grunde  legte,  und  wäre  Kram- 
mer  seinem  Beispiele  gefolgt,  so  brauchte  seine  Ausgabe  vielleicht 
heute  nicht  eingestampft  zu  werden.  Man  möge  sich  nur  die  in 
Hesseis'  Abdruck  von  B  4  (S.  406  if.)  hinter  der  Lex  Salica  fol- 
genden Novellen  ansehen,  die  sich  in  dieser  Vollständigkeit  in  keiner 
anderen  Hs.  finden,  und  unter  ihnen  finden  sich  solche,  welche  in 
den  Text  von  A  (B  LXVI  =  A  LXIV)  oder  überhaupt  in  den 
aller  anderen  Hss.  schon  eingereiht  sind,  wie  Tit.  LXVIIII  =  B 
XXIV,  A  XXXrV  über  die  Schur  von  Knaben  und  Mädchen  gegen 
den  Willen  der  Eltern,  d.  h.  über  ihren  zwangsweisen  Eintritt  in 
den  geistlichen  Stand.  Diese  letzteren  allein  von  B  4  noch  nicht 
in  den  eigentlichen  Text  eingereihten  Bestimmungen  sind  von  mir  an 
anderer  Stelle  ^)  als  die  frühesten  Spuren  vom  Eindringen  des  Christen- 
tums in  die  Lex  Salica  nachgewiesen  worden.  Ln  gemeinsamen 
Text  lassen  sich  die  Fehler  von  B  4  meistens  mit  Hilfe  der  an- 
deren drei  B-Hss  in  derselben  Weise  eliminieren,  wie  dies  oben 
in  B  LXI,  3  möglich  war,  an  zweifelhaften  Stellen  aber  müßten 
die  Texte  parallel  gedruckt  werden,  was  in  ähnlichen  Fällen  auch 
sonst  in  der  Monumenta  Germaniae  geschehen  ist. 

Eine  einheitliche  Ausgabe  der  Lex  Salica  unter  Verarbeitung 
des  gesamten  handschriftlichen  Materials  muß  im  Literesse  der 
Wissenschaft  durchaus  gefordert  werden,  und  zwar  wird  sich  mit 
dem  zusammengearbeiteten  B-Text  im  Allgemeinen  C  verbinden 
lassen,  aber  auch  die  unverändert  übernommenen  Teile  und  die  Zu- 
sätze von  A  würden  bei  der  Textkritik  der  Hauptausgabe  zu  be- 
rücksichtigen sein ;  als  Ganzes  müßte  die  A-Rezension  in  einer  be- 
sonderen Ausgabe  bearbeitet  werden,  in  der  die  entlehnten  und 
geänderten  Partien  in  der  üblichen  Weise  durch  den  Druck  zu  be- 
zeichnen wären.  Wollte  man  die  Herstellung  eines  Urtextes  auf 
der  Grundlage  von  B  unter  Berücksichtigung  auch  der  späteren 
Überlieferung  für  unausführbar  oder  auch  nur  für  zu  schwierig 
halten,  so  darf  an  das  Beispiel  Mommsens  erinnert  werden .  der 
sich  einer  derartigen  Pflicht  niemals  entzogen  hat,  und  ehe  man 
nach  Hesseis'  Vorbüd  wiederum  ganz  mechanische  Hss. -Abdrücke 
veröfi'entlicht;  würde  ich  raten,  dann  lieber  von  der  Ausgabe  über- 
haupt Abstand  zu  nehmen.  Für  handwerksmäßige  Lnitationsdrucke 
liegt  meines  Erachtens  bei  der  Lex  Salica  durchaus  kein  Bedürfnis 
mehr  vor. 

1)  N.  Archiv  XL,  S.  543  ff. 


714  Bruno  Krusch,  der  neu  entdeckte  Urtext  der  Lex  Salica. 

Jedenfalls  tann  nach  dem  gewonnenen  Einblick  in  die  Krammer- 
sche  Methode  die  Entscheidung  über  seine  Arbeit  keinen  Augen- 
blick mehr  zweifelhaft  sein,  und  selbst,  wer  niemals  mit  solchen 
Forschungen  zu  tun  gehabt  hat ,  müßte  eigentlich  einsehen ,  daß 
hier  nicht  besonnene  Wissenschaft,  sondern  eine  ungeschulte  zügel- 
lose Phantasie  die  Feder  geführt  hat.  Die  Urtext-Rekonstruktion 
der  im  Druck  befindlichen  Ausgabe  würde  aus  der  Lex  Salica  eine 
Lex  Krammeri  schaffen,  und  die  weitere  Fortsetzung  dieser  Arbeit 
sollte  von  der  maßgebenden  Stelle  sofort  untersagt  werden,  schon 
damit  der  ungeheure  materielle  Schaden  nicht  noch  vergrößert 
wird.  Diese  Ausgabe  der  Lex  Salica  darf  unter  keinen  Umständen 
erscheinen,  und  nach  meinem  Gefühle  würde  auch  die  Veröffent- 
lichung der  kostspieligen  Bogen  mit  anderer  Firma  die  Monumenta 
Germaniae  empfindlich  bloßstellen.  Auf  eine  Nachgiebigkeit  Kram- 
mers  ist  aber,  wie  jede  Zeile  seines  letzten  Aufsatzes  beweist, 
niemals  zu  rechnen.  Er  setzt  allen  sachlichen  und  Vernunftgründen 
sein  starres  „entschieden"  entgegen  und  beharrt  auf  seinem  Evan- 
gelium; er  allein  hat  sich  von  der  „Einseitigkeit"  der  bisherigen 
Forscher  freigehalten.  Hier  sollten  Historiker,  Juristen  und  Phi- 
lologen einmütig  und  entschlossen  zusammenstehen  und  zum  Schutze 
der  „früheren  Forschung"  gegen  den  Umsturz  sich  erheben.  Handelt 
es  sich  doch  um  eine  der  wichtigsten  Publikationen  des  Mittel- 
alters ,  den  Weltruf  der  Monumenta  Germaniae ,  die  Ehre  der 
deutschen  Wissenschaft ! 


Zar  Geschichte  des  Worts  hrdhmayi-. 

Von 

H.  Oldenberg. 

Vorgelegt  in  der  Sitzung  am  22.  Juli  1916. 

Die  Indologie  daxf  es  sich  nicht  erlassen,  entsprechend  der 
fundamentalen  Bedeutung  des  Worts  brdhman-  die  Entwicklung 
der  damit  verknüpften  Vorstellungen  so  bestimmt  wie  möglich  zu 
ermitteln.  Eine  gewisse  Bestimmtheit  kann  ja  in  der  Tat  erreich- 
bar sein  auch  wo  die  Vorstellungen  einen  so  verschwimmenden 
Charakter  tragen,  wie  in  manchen  Teilen  dieses  Gebiets.  Fehlen 
den  Figuren  die  festen  Umrisse,  können  doch  in  der  Gruppierung 
der  Massen  Richtungen  hervortreten,  die  es  gilt  gegenüber  andern, 
nicht  oder  nur  scheinbar  sich  abzeichnenden  Richtungen  mit  aller 
Entschiedenheit  aufzufassen.  Ein  besonderer  Antrieb  mich  an 
dieser  Aufgabe  zu  versuchen,  liegt  für  mich  darin,  daß  früher 
von  mir  vertretene  Ansichten,  wie  ich  jetzt  meine,  an  einzelnen 
Stellen  Korrekturen  verlangen. 

Das  hrähman-  als  das  Allwesen  der  philosophischen  Spekulation 
soll  uns  im  folgenden  nicht  beschäftigen,  sondern  allein  die  älteren 
Entwicklungsphasen  der  Vorstellung.  Von  selbst  schließen  sich 
da  gelegentlich  Probleme   an,   die  das  Wort  hrähmana-  betreffen. 

1.  b  r  d  h  m  an-  im  R  g  v  e  d  a.  Fragen  wir  nach  der  ältesten 
erreichbaren  Bedeutung  von  hrähman-.,  so  brauchen  gegenwärtig 
wohl  zwei  Auffassungen  nicht  mehr  in  Betracht  gezogen  zu  werden : 
einerseits  der  Ansatz  Roths  ^):  „die  als  Drang  und  Fülle  des 
Gemüts  auftretende  und  den  Göttern  zustrebende  Andacht",  ander- 


1)  Pet.  W.  B.;   ähnlich   Deussen   System  des  Vedänta  128,  Allg.  Gesch. 
der  Philosophie  I,  1,241. 


716  H.  Oldenberg, 

seits  Henrys^)  Anknüpfung  an  eine  von  ihm  angenommene 
Wurzel  Irah-  ==  bhräj-  „glänzen"  und  seine  Annahme  des  „epa- 
nouissement  d'un  humble  germe  naturaliste  —  le  concept  de  la 
splendeur  solaire  et  des  attributs  qui  l'escortent".  Was  zu  fragen 
ist,  ist  dies:  ob  ursprünglich  allein  das  heilige  bzw.  zauberische 
Wort,  ob  auch  der  entsprechende  religiöse  bzw.  magische  Ritus 
gemeint  ist,  ob  vielmehr  von  der  Vorstellung  einer  verborgenen 
Macht,  gewissermaßen  eines  Fluidums  der  Heiligkeit  und  heiliger 
Wirkungskraft  auszugehen  ist.  Die  letzterwähnte  Auffassung  ist, 
wenn  ich  recht  sehe,  gegenwärtig  die  am  weitesten  verbreitete 
Schon  Haug^)  sprach  von  „a  latent  power,  like  electricity,  which 
was  to  be  stirred  up  at  the  time  of  the  Performance  of  the  cere- 
mony.  Tbe  apparatus  were  the  sacred  vessels,  or  the  hymns,  or 
chants".  Ahnlich  erklärte  ich  in  einem  vor  längerer  Zeit  ver- 
öffentlichten Aufsatz^)  brähman-  als  „das  Fluidum  oder  die  Potenz 
geistlich-zauberhafter  Macht,  samt  ihrer  Verkörperung  einerseits 
in  heiligen  Sprüchen,  Zaubersprüchen  und  dergl.  Riten,  anderseits 
in  dem  Stande  der  Brahmanen,  welche  jene  Macht  besitzen". 
Ebenso  sieht  Hillebrandt*)  jetzt  im  brähman-  „das  magische 
Fluidum  ritueller  Zauberkraft" ;  „the  neuter  denotes  the  object 
or  the  thing,  the  masc.  the  person  who  is  endowed  with  or  pos- 
sesses  the  brähman"'.  Dem  stimmt  auch  Söderblom^)  bei,  der 
insonderheit  die  schon  von  andern  Seiten*^)  befürwortete  Paralleli- 
sierung  des  brähman-  mit  dem  gegenwärtig  von  der  Religions- 
wissenschaft so  aufmerksam  betrachteten  Kraftfluidum  „Mana"  der 
Melanesier  in  den  Vordergrund  stellt. 

1)  Les  livres  X,  XI  et  XII  de.  l'Atharva-V^da,  p.  VIII. 

2)  Aitareya  Br.,  Introd.  5.  Vgl.  auch  seinen  Aufsatz  „Bas  Wort  Brahma" 
S.-B.  Bayer.  Ak.  d.  W.  1868,  80  ff. 

3)  IF.  Anz.  VIII,  40.  Siehe  auch  meine  „Vedaforschung"  86 f.;  „Lehre  der 
Upanisaden"  46  f. 

4)  Vedische  Mythologie,  Kl.  Ausg.  61;  Artikel  Br.  in  der  Encyclop.  of  Reli- 
gion und  Ethics :  dort  wird  die  Bedeutung  „Hymnus,  Spruch"  stark  zurückgedrängt. 

5)  „Das  Werden  des  Gottesglaubens",  besonders  S.  270  ff.  Doch  scheint  mir 
S.  von  Schwankungen  nicht  frei.  So  heißt  es  S.  270  f.,  daß  brähman-  „ursprüng- 
lich das  Geheimnisvolle,  Unfaßbare  bezeichnete,  das  sich  vor  allem  in  seinen 
Wirkungen  in  der  magisch-religiösen  Praxis  offenbarte  und  dessen  Entdeckung 
eigentlich  diese  l'raxis  hervorrief".  Ähnlich  S.  275:  „eine  geheimnisvolle,  be- 
sonders im  Schamanen  und  im  heiligen,  wirksamen  Spruche  vorhandene  Macht". 
Dagegen  S.  35  Anm.  2 :  „ursprünglich  die  gesungene  oder  rezitierte  heilige  Formel 
beim  Opfer". 

6)  Hubert-Mauss,  Theorie  gän^ale  de  la  magie  117;  Strauß,  Brhas- 
pati  im  Veda  20  A.  4.  Vgl.  noch  meine  „Lehre  der  Upanisaden"  49,  wo  bereits 
Reserven  gemacht  sind. 


Zar  Geschichte  des  Worts  brähman-.  717 

"Wiederholte  Prüfung  des  Sachverhalts  läßt  mir  diesen  doch 
in  anderm  Licht  erscheinen. 

Ich  gehe  von  den  ältesten  Materialien  aus,  denen  des  Rgveda. 

Hier  steht  nun  eine  Tatsache  im  Vordergrund,  die  im  wesent- 
lichen schon  besonders  H.  D.  Griswold^)  treffend  dargelegt 
hat  ohne  doch,  meinem  Eindruck  nach,  die  gebührende  Beachtung 
zu  finden.  In  einer  geradezu  übergroßen  Zahl  von  Stellen  erweist 
sich  als  die  Bedeutung  von  brähman-  „heiliges  (liturgisches)  Wort 
(Hymnus,  Lied)".  Die  Bedeutung  „heiliger  Ritus''  ist  nirgends 
gefordert  oder  nah  gelegt;  ebenso  wenig  die  Bedeutung  „Fluidum 
der  Heiligkeit''.  Selbstverständlich  finden  sich  unter  den  sehr 
zahlreichen  Belegen  auch  solche,  in  deren  unbestimmter  Ausdrucks- 
weise diese  Bedeutungen  an  sich  zulässig  wären.  Aber  daß  der 
Zusammenhang  nirgends  einen  positiven  Hinweis  auf  sie  bietet, 
stellt  bei  der  Massenhaftigkeit  der  Materialien  ein  durchaus  über- 
zeugendes argumentum  ex  silenfio  dar.  Annähernd  ebenso  —  das 
Genauere  s.  sogleich  —  steht  es  im  Rgveda  mit  der  Bedeutung 
„Wesenheit  des  Brahmanenstandes''  ^).  So  werden  wir  für  diesen 
Yeda  als  einzige  —  oder  als  annähernd  einzige?  s.  sogleich  — 
Bedeutung  „heiliges  Wort ,  Hymnus"  u.  dgl.  anzusetzen  haben, 
welcher  Bedeutung,  so  viel  ich  sehn  kann,  nirgends  eine  Schwierig- 
keit im  Wenre  steht. 


1)  „Brähman :  a  study  in  the  history  of  Indian  philosophy*^  (New  York  1900), 
1  ff.  —  In  ähnlichem  Sinn,  doch  mit  minder  eingehender  Beweisführung,  äußert 
sich  Osthoff,  Bezz.  Beitr.  XXIV,  129 ff.  Hier  ist  noch  auf  die  teilweise  freilich 
etwas   wirre  Auseinandersetzung   von  Ludwig,   Rgveda  111,  297 ff",  zu  verweisen. 

2)  Geldner  (Glossar)  entnimmt  dem  Rgveda  als  Grundbedeutung:  „die  innere 
Stärkung  und  ekstatische  Stimmung  durch  Soma  usw.,  .  .  .  die  geheimnisvolle 
Kraft,  die  den  Dichter  inspiriert  und  zum  Seher  macht  und  die  er  auf  die 
Götter  überträgt  (VIII,  6,  9:  3,9;  111,51,12:  II,  17,3)".  Warum  aber  soll  Till, 
6,  9  prä  brdkma  (nasimdhi)  nicht  verstanden  werden  wie  nah  daneben  (vgl.  meine 
Prolegomena  215)  4,  G  dna]  lipastutim^  —  VIII,  3,9  tat  tvä  yämi  .  .  brdhma: 
der  Dichter  geht  den  Gott  um  Gewährung  einer  wirksamen  Formel  an, 
eines  devdttam  brühma  (I,  37,  4 ;  VIII,  32, 27  ;  vgl.  X,  98,  2.  3.  7).  —  III,  51, 12 :  der 
Soma  wird  durch  die  Ivraft  des  heiligen  Spruchs  in  Indras  Bauch  und  Kopf 
befördert  (so  Bergaigne,  Rel.  ved.  11,267).  —  11,17,3:  durch  den  heiligen 
Spruch  wird  Indras  siisma-  in  Bewegung  gesetzt.  —  Es  könnte  bei  der  oben 
wiedergegebenen  Ansetzung  Geldners  seine  Auffassung  des  Worts  pürodcitti-  im 
Spiel  sein,  das  VIII,  3, 9 ;  6, 9  neben  brähman-  steht.  Für  jenes  Wort  verweise 
ich  auf  einen  Anhang  dieses  Aufsatzes.  Alles  in  allem  finde  ich  schlechterdings 
keinen  Grund,  hinter  der  an  so  vielen  Stellen  sich  aufdrängenden  Bedeutung 
„heiliger  Text"  als  Grundbedeutung  die  innere  Disposition  dessen,  der  einen 
solchen  Text  schafft,  zu  statuieren. 


718  H.  Oldenberg, 

Wie  sich  dieser  Ansatz  mit  den  Geschicken  des  Worts  in  den 
jüngeren  Vedatexten  vereicigt,  ist  weiterhin  zu  untersuchen  ^). 
Zuvörderst  seien  die  soeben  nur  im  allgemeinen  angedeuteten  Tat- 
sachen näher  präzisiert  und  veranschaulicht,  die  etwa  in  Frage 
kommenden  Einschränkungen  erwogen. 

Beständig  begegnet  im  Rv.  brähnmn-  auf  einer  Linie  stehend 
mit  Worten  wie  uJdhd-  iicdtha-  vdcas-  arlcä-  stöma-  gir-  mänman- 
mäntra-.  Ich  führe  nur  eine  Stelle  an :  VI,  38,  3 :  dhiya  .  .  .  indram 
dbhy  änüsy  arlaih,  brdhma  ca  giro  dadhire  sdm  asmin  mahäms  ca 
Storno  ddhi  vardhad  indre.  v.  4 :  värdhad  yäm  yajnä  utd  söma  indram 
värdliäd  hrähma  gira  iilctlid  ca  mänma.  Man  bemerke,  wie  in  v.  4 
auf  der  einen  Seite  die  positiven  rituellen  Verrichtungen  {yajnd-, 
söma-)  zusammengestellt  sind,  auf  der  andern  die  Ausdrücke  für 
die  liturgischen  Prozeduren.  —  Bezeichnende  mit  Ir.  verbundene 
Verba:  I,  37,4  devättam  hrähma  gäyata;  X,  120,8  ima  brdhma 
bfhäddivo  vivaldtndräya  süsäm ;  X,  148,  4  ima  brdhma  .  .  .  samsi ', 
VI,  17, 3  srudhi  hrähma  vävrdhäsvotä  gtrbhih.  —  Bezeichnung  des 
eben  vorliegenden  Hymnus  als  hr.  besonders  gern,  wie  schon 
Geldner  (Ved.  Stud.  II,  146)  und  Griswold  hervorgehoben  hat,  an 
seinem  Schluß,  z.  B.  I,  63,  9  äkäri  ta  indra  götamehhir  brähmäny  öfdä 
ndmasä  härihhyäm;  IV,  16,21  äJiäri  te  harivo  hrähma  nävyam  dhiyä 
syäma  rathyäh  sadäsäh. 

Die  hier  veranschaulichten  Ausdrucksweisen  sind  in  so  breiten 
Massen  vertreten,  daß  man  sich  zur  Annahme  der  Bedeutung 
„Hymnus"  u.  ähnl.  durchaus  gezwungen  fühlen  wird.  Dagegen 
könnte  man  allerdings  versucht  sein,  die  bemerkbare  Vorliebe  für 
Verbindung  von  hr.  mit  dem  Verb  Ir-  ^)  geltend  zu  machen  (z.  B. 
dhäri  hrähma  IV,  6, 11;  vgl.- auch  die  Nomina  krtdhrahman-,  hrah- 
malift-,  hrahmaJcärä-,  hrähmahrti-).  Darin  ließe  sich  scheinbar  ein 
Hinweis  darauf  finden,  daß  mit  hr.  nicht  nur  bloße  Wortgebilde, 
sondern  auch  konkrete  sakrale  Handlungen  gemeint  sind.  Doch 
um  diese  Auffassung  angesichts  der  vorher  besprochenen  entgegen- 
stehenden Materialien  als  belanglos  zu  erweisen  genügen  die 
immerhin  nicht  spärlichen  Stellen,  an  denen  auch  Worte  wie  väc-, 


1)  Doch  schon  hier  mache  ich  darauf  aufmerksam,  daß  die  Entscheidung 
für  die  Bedeutung  „rituelles  Wort"  gegenüber  „ritueller  Handlung"  durch  die 
jüngeren  Veden  entschieden  bestätigt  wird.  Wenn  dort  das  br.  mit  dem  dreifachen 
Wissen,  mit  Rc,  Yajus,  Säman  etc.  identifiziert  wird,  trägt  das  ein  vollkommen 
andres  Gepräge,  als  wenn  im  Stil  der  geläufigen  mystischen  Identifikationen  das 
6r.  dem  Opfer  gleichgesetzt  wird.    Näheres  s.  unten. 

2)  Vgl.  dazu  Geldner  Ved.  Stud.  11,153;  Osthoff  a.a.O.  130;  Söderblom 
a.  a.  0.  271.  274. 


Zur  Geschichte  des  Worts  hrähman-.  719 

lacas-,  tdihd-,  stönm-  in  gleicher  Weise  wie  hrähman-  mit  Ir-  ver- 
bünden sind.  In  IV,  16,20  hrdhmäkarma  hhrgavo  nd  rdtham  wird 
das  l'f-  doch  nicht  anders  zu  beurteilen  sein  als  X,  39, 14  sfömam 
.  .  alarmdial^äma  bhfgavo  nd  rdtham.  VII,  103,  8  steht  im  selben 
Satz  mit  hrdhnia  Imidntah  auch  hrähmandsah  .  .  .  vacam  akraia. 
Mit  I,  184,  5  e§d  väm  stömo  asvinäv  akäri  steht  zweifellos  auf  einer 
Linie  das  Ir-  in  VII,  97,  9  iydm  vävi  hrahmanas  paU  suvrktir  brdJt- 
mendräya  lajrine  akäri.    Vgl.  etwa  noch  1,20,1;  VIII,  101,7  usw. 

Besonders  zu  erwägen  ist  weiter,  wie  sich  der  Rgveda  zu  der 
später  so  häufigen  Charakterisierung  des  Brahmanenstandes 
durch  das  Schlagwort  hrdJiman-  verhält^).  Liegt  von  dieser  Seite 
her  Anlaß  vor,  dem  hr.  schon  für  die  Zeit  des  ältesten  Veda  das 
Wesen  eines  Fluidums  zuzuschreiben,  welches  Menschen  innewohnend 
diesen  eine  besonders  geartete  Wesenheit  mitteilt? 

Als  ein  erster  Ansatz  zu  derartigem  —  aber,  scheint  mir, 
eben  nur  als  ein  solcher  —  mag  II,  2,  10  aufzufassen  sein:  voydm 
eigne  drvatä  vä  suvxryam  brdhnianä  vä  citayemä  jdnän  dti.  Die  Be- 
ziehung auf  die  beiden  oberen  Kasten  ist  klar,  zugleich  aber  auch, 
daß  hrdhman-  doch  noch  ganz  in  seiner  sonstigen  Bedeutung  als 
„geistliche  Formel"  verstanden  werden  kann  und  muß;  ein  Fluidum 
ist  es  so  wenig  wie  das  entsprechende  Charakteristikum  der  Adels- 
kaste drvant-.  Vielleicht  —  doch  man  kann  zweifeln  —  steht 
damit  VIII,  35,  16 — 18  auf  einer  Linie,  wo  Vers  für  Vers  um 
Segen  für  jede  der  drei  Kasten  gebetet  wird,  und  zwar  mit  den 
Ausdrücken  hrdliw.a.  dhiynh  —  l.fafrdm,  nfn  —  dhenüh.,  visah.  Wie 
da  dhenuh  doch  sicher  kein  Fluidum  des  Vaii^yatums  bedeutet, 
sondern  „Milchkühe",  kann  auch  bei  hrdhma,  so  gut  wie  bei  dem 
benachbarten  ditiyah,  sehr  wohl  an  die  geistliche  Formel  als  den 
charakteristischen  Besitz  des  Brahmanenstandes  gedacht  sein. 
Doch  ist  zugleich  die  Gegenüberstellung  mit  k^atrdm,  dem  später 
so  häufig  dem  hrdhma  korrelaten  Begriff,  unverkennbar.  Und  so 
mögen  wir  uns  hier  wohl  in  naher  Nähe  des  Punktes  befinden, 
wo  —  vielleicht  eben  unter  Einfluß  von  hsatrd-  und  des  Bedürf- 
nisses, ein  diesem  entsprechendes  Schlagwort  auch  für  die  Priester- 
kaste zu  besitzen-)  —  hrdhman-  zu  seiner  alten  Bedeutung  ,.geist- 
liche   Formel"    auch   die   geistlicher  Wesenheit   überhaupt  —  dies 


1)  Darüber,  in  welchem  Sinn  diese  Charakterisierung  zu  verstehen  ist,  habe 
ich  Näheres  in  meiner  „Lehre  der  Upan."  S.  342  A.  12  bemerkt. 

2)  An  solchen  Einfluß  von  Ic^atrd-  denkt  auch  Griswold  a.  a.  0.  18.  In 
der  Tat  ist  Jcßatrd-,  anders  als  hrähman-,  als  Bezeichnung  einer  in  gewissen 
Menschen  wohnenden  Kraft  schon  im  Rv.  häufig. 


720  H.  Oldenberg, 

eine  rein  vorläufige  Formulierung;  genaueres  s.  unten  —  ange- 
nommen hat^). 

Vom  rgvedischen  Bestände  ist  schließlich  noch  das  an  einer 
jungen  Stelle  (X,  109,  5)  zuerst  belegte  brahnacärin-  zu  er- 
wägen. Es  handelt  sich  um  den  einen  bestimmten  Lebenswandel 
(Observanzen)  befolgenden  Brahmanenschüler :  also  den,  der  das 
brähman-,  nach  dem  oben  erörterten  Sinn  dieses  Wortes,  sich  an- 
eignet. So  wird  kein  Anlaß  vorliegen,  für  die  Entstehung  dieser 
Zusammensetzung  auf  eine  andre  Bedeutung  von  hräJiman-  als  eben 
jene  zu  rekurrieren :  sei  es  nun,  daß  direkt  eine  Wendung  *brdhma 
caraü  „er  lebt  in  (der  Beschäftigung  mit)  dem  6r."  zu  Grunde 
liegt  ^),  oder  daß  Nachahmung  etwa  von  vratacärin-  (Rv.  VII,  103, 1) 
anzunehmen  ist. 

Sind  also  in  den  zuletzt  besprochenen  Stellen  wirklich  erste 
schon  im  Rv.  sichtbare  Anfänge  einer  Weiterentwicklung  der 
&raÄ?Han- Vor  Stellung  zu  erkennen?  Meinerseits  möchte  ich  —  ab- 
gesehen vielleicht  von  VIII,  35,  16  —  dies  kaum  glauben. 
Wäre  doch  anders  zu  urteilen,  bliebe  das  für  die  Gesamtauffassung 
des  Problems  im  Grunde  belanglos.  Daß  eine  im  Ganzen  nach- 
rgvedische  Erscheinung  doch  in  vereinzelten  Vorläufern  in  den 
Rgveda,  insonderheit  in  dessen  jüngere  Partien  hineinreicht,  ist  ja 
häufig  genug. 

Es  bleibt  für  den  Rgveda  die  schwierige  Frage  übrig,  ob 
unter  den  verschiedenen  dort  in  Geltung  stehenden  liturgisch- 
technischen Typen  des  heiligen  Worts  das  brähnan-  eine  spezieller 
charakterisierte  Stellung  einnimmt.  Dies  kann  nur  erwogen 
werden,  wenn  zuvörderst  die  Materialien  der  jüngeren  Veden  über 
brähman-,  soweit  sich  dies  auf  die  Sphäre  des  ritu- 
ellen Worts  bezieht,  überblickt  worden  sind. 

2.  Das  brdhman  als  heiliges  Wori  in  denjün- 
geren  Veden.  Da  begegnet  nun  zunächst  im  Atharvaveda  sehr 
häufig,  wie  bekannt,  brdhman-  als  Bezeichnung  der  Zaubertexte 
dieses  Veda:  „durch  das  br.  des  Agastya  zermalme  ich  die  Würmer" 
u.  dgl.,   in  zahlreichen  Belegen^).     Doch  auch  ein  Lied,   das  Ord- 


1)  Ijiegt  die  Sache  ähnlich  bei  subrdhmanyäm  X,  62, 4  (vgl.  unten  S.  723 
Anm.  1)V  Die  Auffassung  als  „Reichtum  an  wirksamen  F'ormeln"  tut  m.  E.  der 
Stelle  vollkommen  Genüge;  vgl.  suprajästväm  Vers  ö. 

2)  Zu  solchen  Verbindungen  des  Verbs  car-  vgl.  Gaedicke  Akkusativ  162, 
wo  auf  vdsnatn  acarat,  prapandin  cärämi,  mantrasn'iiyarp.  carämasi  hingewiesen  ist. 

3)  Diese  Vernichtung  der  Würmer  brähmanä  (Av.  II,  32,  3)  würde  ihre 
Deutung,  wenn  sie  deren  bedürfte,  durch  die  dicht  daneben  erscheinende  Ver- 
nichtung der  Würmer  väcasä  11,31,2.4  (s.  auch  V,  23,  2)  empfangen:   ganz    wie 


Zur  Geschichte  des  Worts  brähman-.  721 

nungen  und  Verhältnisse  des  Weltlebens  betrachtet,  wird  durch 
die  Worte  mahäd  brähma  vadisyati  eingeführt  (I,  32,  1)*). 

Weiter  aber  ist  in  der  yajurvedischen  Literatur  von  gewissen 
Prosalitaneien ,  die ,  soviel .  ich  sehe ,  nicht  als  Yajus  aufgefaßt 
worden  sind,  mit  der  Bezeichnung  brähman-  die  Rede.  An  der 
wichtigen  Stelle  Ts.  VII,  3,  1,  4  heißt  es :  dtha  brähma  vadanti. 
pdrimitä  vä  fcah,  pärimitäni  samäni,  j^ärimitäni  yäjüosy,  äthaiiäsyai- 
länto  nästl  yäd  brähma^).  Die  rituelle  Literatur  ergibt,  daß  der 
Vortrag  der  Caturhotr-Litanei  ^)  {ciUi  srük  etc.)  gemeint  ist,  von 
der  es  anderwärts  heißt  etäd  vai  devänäm  paramäm  ffuhyam  brähma 
ydc  cäturhotärah  (Tb.  11,2,1,4);  brdhma  vai  cälurhotärah  (das.  III, 
12,5,1);  etäd  vai  devänäm  brähmäniruktam  yäc  cäturhotärah  (Käth. 
IX,  16,  p.  119, 20);  vgl.  devänäm  vä  etad  yajfiiyam  guhyani  nama 
yac  cäturhotärah  (Ait.  Br.  V,  23,  7).  Es  ist  wohl  kein  Zweifel, 
daß  auch  die  Pancahotr-Litanei  und  die  übrigen  der  betreffenden 
Reihe  gleichermaßen  „brähma'^  waren. 

Ungefähr   ähnlich   steht   es   mit  dem  stomabhäga-Texi  (rasmir 


im  Rv.  brdliman-  und  vdcas-  neben  einander  stehen.  Auch  das  atharravedische 
br.  wird  wie  das  rgvedische  „gesprochen"  (X,  10, 4),  „gemacht"  (III,  30, 4)  ;  es 
steht  mit  den  rc-,  der  „Milch  der  Rsis"  auf  einer  Linie  (X,  1, 12).  Immerhin  ist 
im  Auge  zu  belialten,  daß  die  Xeigung,  Wesenheiten  wie  einen  Zaubertext  als 
eine  Art  Kraftsubstanz  zu  hypostasieren  (s.  unten),  im  Av.  schon  stark  genug  ist. 
Söderblom  (a.  a.  0.  272)  wirft  die  Frage  auf,  was  beispielsweise  Av.  X,  6,  30 
damit  gemeint  ist,  daß  ein  Amulet  ^mit  brähman-'^  an  der  betreffenden  Person 
befestigt  wird.  „Bedeutet  das,  daß  man  gleichzeitig  die  zugehörige  Formel  rezi- 
tieren soll  oder  daß  man  genügende  oder  die  innewohnende  Zauberkraft  zufügen 
oder  anwenden  soll?  Vermutlich  das  erstere."  Eben  den  in  den  letzten  Worten 
ausgesprochenen  Eindruck  erweckt  die  Durchsicht  der  Stellen,  wo  im  Av.  etwas 
y,brähmanä^  geschieht,  auch  mir  durchaus.  Nur  mochte  ich  hier,  wo  der  Be- 
treffende sich  das  Amulet  anbindet  „zusammen  mit  dem  brähman-,  mit  tejas-'^, 
das  Hineinspielen  jener  Hypostasierung  des  Zauberworts  in  Betracht  ziehen.  Eine 
völlig  scharfe  Formulierung  ist  natürlich  nicht  möglich  und  vollends  nicht  be- 
weisbar. 

1)  Auf  Grund  dieser  Stelle  vermutet  Geldner  (Ted.  Stud.  11,147),  daß 
auch  Av.  XI,  8, 3  sä  vä  adyd  mahäd  vadet  vom  Reden  des  brähman-  zu  verstehen 
ist.  Mir  scheint  hierfür  zu  sprechen,  daß  die  so  oft  erwähnten  brahmavädinait 
auch  unter  der  Bezeichnung  mahävadäti  Ait.  Br.  V,  33, 1  erscheinen.  Vgl.  PW. 
unter  mahant-  4^1,  wo  ich  freilich  fraglich  finde,  ob  die  Mahäbhclratastelle  richtig 
verstanden  ist. 

2)  Hier  also  ausdrückliche  Ausschließung  der  Auffassung  als  Yajus. 

3)  Vgl.  über  diese  namentlich  Hillebrandt,  Rit.  Litt.  165 f.  Der  Text 
steht  TA.  HI,  1  f.  und  an  den  Parallelstellen.  Siehe  im  Übrigen  K  e  i  t  h  zu  Ts. 
a.  a.  0.,  von  welchem  abweichend  ich  nur  die  Frage  aufwerfen  möchte,  ob  nicht 
das  „brähma^  außer  auf  die  Caturhotrlitanei  auch  auf  das  unten  S.  725  zu  be- 
sprechende Brahmodya  zu  beziehen  ist. 


722  H.  Oldenberg, 

asi  etc.)^),  der  aber,  soviel  ich  finde,  nicht  als  hrähnia,  sondern 
vielmehr  als  brähmunam  bezeichnet  wird.  Indra  verheißt  dem 
Vasistha:  hrahmanam  te  vaksyämi,  und  offenbart  ihm  diese  Litanei 
(Ts.  Ill,  5,  2,  1  =  Käth.  XXXVII,  17,  p.  97,  7  =  Panc.  Br.  XV. 
5,24).  Hier  haben  wir  also  ein  ^hrähmana-"' ,  das  es  nicht,  dem 
gewöhnlichen  Sinn  dieses  Worts  entsprechend,  mit  der  Belehrung 
über  rituelle  Formeln,  Handlangen  u.  Ahnl.  zu  tun  hat,  sondern 
das  selbst  eine  solche  Formel  bildet.  Einen  Grund,  weshalb  hier 
hrdhmana-,  inbezug  auf  die  Caturhotäras  aber  hrähman  gesagt  wird, 
weiß  ich  nicht  anzugeben.  Auf  das  gelegentliche  Ineinanderfließen 
der  beiden  Ausdrücke  werde  ich  weiterhin  noch  zurückkommen^). 
Diesem  ^hrähmnna-"'  nun  läßt  sich  in  gewisser  Weise  an- 
schließen das  madhu  näma  brähmananb,  welches  Dadhyanc  den 
Asvin  mitgeteilt  hat  (Sat.  Br.  IV,  1,5,  IS)^).  Von  Offenbarung 
eines  madhu  durch  Dadhyanc  ist  schon  Rv.  I,  116,12;  117,22  die 
Rede.  Das  m.  wird  dort  begreiflicherweise  nicht  als  brähmana- 
bezeichnet,  und  überhaupt  scheinen  die  Wendungen  pm  yäd  im 
uväca,  madhu  prd  vocat  nicht  einzuschließen,  daß  das  madhu  hier 
als  ein  Wortgebilde  gedacht  ist;  jenes  wird  vielmehr  als  tvästräm 
.  .  apiluiksyäm  beschrieben.  Doch  der  Ursprung  der  Vorstellung 
von  dem  m.  näma  brähmanam  liegt  hier  offenbar  vor.  Ein  Text, 
der  sich  als  dieses  madhu  gibt,  findet  sich  nun  Sat.  Br.  XIV,  5,  5 
(s.  besonders  §  16);  er  schließt  jeden  Gedanken  an  rgvedisches 
Alter  aus,  und  ich  halte  auch  kaum  für  denkbar,  daß  er  in  dieser 
pantheistischen  Fassung  schon  dem  Verfasser  von  Sat.  Br.  IV, 
1,  6,  18  vorgelegen  oder  vorgeschwebt  haben  könnte.  Von  den 
stomahhäga  weicht  das  madhu,  insofern  wir  die  Fassung  von  Sat. 
Br.  XIV  in  Rechnung  stellen,  darin  ab,  daß  es  nicht  aus  rituellen 
Spruchformeln,  sondern  aus  Belehrungen  mystischen  Inhalts  be- 
steht; somit  fällt  es  in  der  Tat  unter  den  gewöhnlichen  Bräh- 
manatypus  und  hebt  sich  nur  durch  die  legendarische  Umgebung, 
in  die  es  versetzt  ist,  eigenartig  hervor*). 

1)  Siehe  darüber  Weber,  Ind.  Stud.  X,  137.   Der  Text  steht  Ts.  IV,  4,  1  etc. 

2)  Schon  hier  sei  in  diesem  Zusammenhang  erwähnt,  daß  auch  Satze,  die 
sich  vollkommen  in  der  cliarakteristischen  Hrähmapadiktion  bewegen,  beim  Ritus 
als  rituelle  Formeln  vorgetragen  werden  konnten.  Vgl.  Sänkhäyaua  Sr.  X,  14,  2 
{Prajäpaiir  alcämayata  bahuU  syäm  etc.);    15,2  etc.;    Asvaläyana  isr.  VIII,  13,7. 

3)  Im  Hinblick  auf  die  Terminologie  ist  von  Interesse,  daß  die  Brhaddevatä 
III,  18  für  hrahmarjtam  brahma  sagt. 

4)  Hier  sei  auch  noch  an  die  Geschichte  erinnert,  wo  Manu  zu  seinem  Sohn 
Nabhänedi.stha  sagt:  tebhya  (nämlich  den  Angiras)  iddni  brähmanam  brüht  {Ts.  III, 
1,9,5).  Aber  was  für  ein  „Dräbmapa"  ist  da  gemeint?  Doch  nicht  etwa  das 
Lied  Kv.  X,62? 


Zur  Geschichte  des  Worts  Irähman-.  723 

Wir  kehren  zu  den  als  hrähman-  bezeichneten  Formeln  zurück 
und  bemerken,  daß  diesen  vermutlich  die  bekannte,  in  ihrer  vor- 
liegenden Fassung  von  Aruni  redigierte  (Sat.  Br.  III,  3,  4,  19) 
suhrahmanyä-lAianQx,  wie  das  eben  deren  Benennung  nah  legt, 
zuzurechnen  ist'):  die  Einladung  an  Indra  als  den  Widder  des 
Medhätithi.  den  Buhlen  der  Ahalyä  etc.,  zum  Opfer  zu  kommen*). 
brahma  vai  subrahmanyä  heißt  es,  allerdings  nicht  in  eigentlich 
liturgisch-technischem  Sinn,  Kaus.  ßr.  XXVII,  6.  —  Ein  ferneres 
Beispiel  der  Bezeichnung  einer  rituellen  Fonnel,  die  nicht  fc-, 
yaJHS-  etc.  ist,  als  hrähman-  gibt  6at.  Br.  II,  1,4,10.  Die  Fener- 
anlegung,  heißt  es  dort,  geschieht  weder  mit  einer  rc-  noch  einem 
säman  noch  einem  yajus-,  sie  geschieht  brahmano  brahnmnä:  j,väg 
vai  bnihma,  tasyai  väcah  sntyam  eva  brahma"'  („das  Brahman  ist 
fürwahr  die  Rede;  dieser  Rede  Brahman  ist  das  Wahre").  Dieses 
W^ahre  der  Rede  nun,  oder  dies  brahman-  des  brahman-^  sind  die 
y,vynhrfnyah'^  d.  h.  die  Worte  bhür  bhuvah  svah,  die  auf  diese  Weise, 
wie  mir  scheint,  als  brahman-  xat*  i^oxriv,  m.  a.  W.  als  Essenz 
alles  brahman-  charakterisiert   werden').  —  Weiter  führe   ich  an 

1)  Doch  ist  nicht  sicher,  daß  diese  Benennung  auf  brahman-  zurückgeht ; 
man  kann  auch  an  brahman-  denken  (IW.  X,  62, 4  entscheidet  die  Frage  offenbar 
nicht).  Für  wahrscheinlicher  halte  ich  doch  das  erstere,  entsprechend  der  Beur- 
teilung, die  sich  für  das  Verb  brahmany-  zu  empfehlen  scheint.  Dies  wird  doch 
wohl,  wie  auch  Grassmann  und  Geldner  (Gloss.)  annimmt,  zu  brahman-  gehören, 
vgl.  r^y-  r^ciy-  yajüäy-  vacasy-  dhiyäy-,  und  IV,  24,  2  brahmanyate  süstaye,  was 
an  die  geläufige  Zusammenstellung  von  brdhmar^-  und  söma-  erinnert.  Auch 
subrdhvian-  Rv.  VII,  16,  2 ;  X,  47,  3  wird,  wie  schon  der  Akzent  wahrscheinlich 
macht  (freilich  nicht  erweist),  zu  brahman-  gehören  (doch  vgl.  auch  die  Materialien 
im  PW.  unter  1.  subrahman).  —  Bei  dieser  Gelegenheit  möchte  ich  die  Frage  be- 
rühren, wie  es  mit  der  eben  für  subrahmanyä-  besprochenen  Alternative  bei 
brahmadvis-  steht,  welches  Kompositum  Geldner  (Glossar)  zu  brahman-  stellt. 
Mit  dem  PW.  schließe  ich  es  vielmehr  an  brahman-  an.  Für  Geldners  Auffassung 
läßt  sich  r^idvis-  geltend  machen.  Aber  VI,  52,  2.  3,  wo  zweimal  brahmadvis- 
steht,  liest  man  daneben  brähma  vä  yäh  f<rii/dmänam  ninitsät  niiä  brähmana^ 
.  .  .  gopdm.  Man  vergleiche,  was  ich  in  meiner  Note  zu  VII,  13,  3  besprochen 
habe,  ferner  Manu  III,  41. 

2)  Vgl.  Caland-Henry  64 f.,  118 f.;  Weber  S.-B.  Berl.  Akad.  1887,  903. 

3)  In  Eggelings  Übersetzung  sind  die  in  Frage  kommenden  Sätze  seltsam 
verunglückt;  richtiger  bei  Deussen,  Allg.  Gesch.  der  Phü.  1,1,249,  der  doch, 
um  den  schlichten  Begriff  des  satyam  wiederzugeben,  nicht  von  „metaphysischer 
Realität"  zu  sprechen  gebraucht  hätte.  „Das  brahman-  des  brahman-"  scheint 
mir  zu  verstehen  wie  in  der  Upanisad  „des  Atems  Atem",  „des  Auges  Auge",  „des 
Todes  Tod"  (meine  „Lehre  der  üpan."  92),  oder  wie  die  Sprüche  stutasya  stutam 
asi,  sastrasya  sastram  asi  (s.  die  Konkordanz).  —  Ist  die  hier  besprochene  Stelle 
nicht  in  dem  berühmten  Satz  der  Upanisad  (BAr.  üp.  II,  1,  20)  nachgeahmt,  wo 
als  „upanisad'^  des  höchsten  Atman  „das  Wahre  des  Wahren"  genannt  wird:  „das 
Wahre  sind  die  Atemkräfte;  deren  Wahres  ist  Er"  — ? 


724  H.  Oldenberg, 

Sat.  Br.  I,  5,  4,  6,  wo  die  Götter  und  Asuras,  außerstande  durch 
Waffengew^alt  ihren  Streit  über  die  Obmacht  zu  entscheiden,  den 
Beschluß  fassen  väcy  eva  brahman  vijiglsämahai.  Sie  zählen  „eins, 
zwei,  drei"  usw.;  die  Einen  nennen  immer  das  Masculinum  des 
Zahlworts,  die  Andern  das  Femininum;  und  wie  bei  Fünf  die 
Asuras  dem  Masculinum  der  Götter  kein  Femininum  mehr  ent- 
gegenstellen können,  haben  sie  verloren.  Wir  sehen,  daß  hier  die 
Reihe  der  Zahlwörter   als   hraJmian-   gilt,   was  in  Anbetracht   der 

Erfülltheit  der  Zahlen  mit  mystischer  Kraft  nicht  Wunder  nehmen 
kann  1)2) 

Diese  Stelle  führt  uns  zur  Betrachtung  des  hralimodya-  (brahma- 
vadya-,  brahmavädya-);  es  ist  wohl  nur  Zufall,  daß  für  jenes  Wett- 
zählen diese  Bezeichnung  nicht  ausdrücklich  gebraucht  ist.  Beim 
brahmodya-  wechseln  mehrere  Redende  Frage  und  Antwort,  zu- 
weilen in  rituell  fixierten  Versen  (so  bei  dem  bekannten  braJimodya- 
des  Roßopfers),  aber  auch  in  freier,  improvisierter  Rede.  Da  kann 
dann  Kampf,  Rivalität  der  Parteien  vorliegen.  Man  fordert  ein- 
ander heraus  (Jiantainam  brahmodyam  ähvayämahal  Sat.  Br.  XI,  4, 
1,  2).  Eine  aus  Vielen  bestehende  Partei  erwählt  einen  besonders 
starken  Disputator  als  ihren  vfra-  (ebendas.).  Es  gibt  Sieg  und 
Niederlage  (na  val  jätu  yusmäkam  imam  hascid  brahmodyam  jetä 
Sat.  Br.  XIV,  6,  8, 1;  s.  auch  XI,  6,2,5).  Aber  es  kann  sich  auch 
ohne  alle  Gegnerschaft  einfach  um  den  Wunsch  des  Einen  handeln, 
vom  Andern  zu  lernen  (Saiiceyo  lia  Fräcinayogyah  \  Uddälalcam 
Aruniin  äjagäma  brahmodyam  agnihotram  vividisämiü  das.  XI,  5, 
3,  1)^).     Den  Inhalt  der  Unterredungen   bildet  die  Bedeutung  von 


1)  Denn  auf  der  heiligen,  mystischen  Natur  der  Zahlen  scheint  es  mir  zu 
beruhen,  daß  hier  ein  brahman-  als  vorliegend  angesehen  wird,  nicht  aber  auf 
ihrer  Verwendung  als  Schlagworte  im  soi)histischen  Wettkampf  zweier  Gegner 
(Geldner,  Ved.  Studien  II,  147),  womit  ein  für  das  hrdhrnan-  m.  E.  nicht  wesent- 
licher Gesichtspunkt  hereingezogen  wird. 

2)  Hier  werfe  ich  noch  die  Frage  auf,  was  das  jye?tham  brahma,  brahmä- 
pürvam  aparavat  Sat.  Br.  X,  3,  5, 10. 11  ist.  Ich  weiß  keine  andre  Antwort,  als 
daß  es  sich  um  die  eben  dort  im  Vorangehenden  vorgetragene  mystische  Lehre 
handelt  (so  auch  Eggeling).  Dann  gehört  die  Stelle  mit  sogleich  zu  besprechenden 
Materialien  (S.  726)  zusammen  und  exemplifiziert  wieder  das  Ineinanderfiießen  von 
brahman-  und  brähmana-. 

3)  Wie  sind  nun  die  Vorgänge  von  Sat.  Br.  XI,  6,  2  zu  verstehen?  Eine 
Anzahl  von  Brahmanen,  darunter  Yäjfiavalkya,  sprechen  mit  König  Janaka  über 
das  Feueropfer.  Der  König  wirft  B'ragen  auf,  die  über  den  Horizont  joner  gehen, 
und  fährt  davon.  Die  Brahmanen  erwägen  es,  ihn  zu  einem  Brahmodya  heraus- 
zufordern ;  man  steht  aber  auf  Yäjnavalkyas  Rat  davon  ab.  Yäjfiavalkya  fährt 
dem  König  allein  nach ;   der  -teilt  ihm  auf  seinen  Wunsch  die  Lösung  der   vorher 


Zur  Geschichte  des  Worts  brühman-.  725 

Riten,  theologische  oder  metaphysische  Mystik.  Schließlich  können 
wir  fragen,  ob  für  ein  hrahnodya-  eine  Mehrheit  von  Redenden 
wesentlich  ist;  man  sollte  meinen,  daß  ein_ Einzelner,  welcher 
j,hrähma  vädati",  genügte.  In  der  Tat  kann^)  A^valäyana  Sr.  VIII, 
13,  13.  14  den  Vortrag  eines  hr.  allein  durch  den  Hotar  vorzu- 
schreiben scheinen.  Doch  ist  dies,  so  viel  ich  sehe,  der  einzige 
derartige  Fall,  und  auch  hier  bleiben  meines  Erachtens  ernstliche 
Zweifel). 

Den  Bemerkungen  über  braJinwdya-  ist  eine  solche  über  das 
so  häuiige  hralimavädin-  anzuschließen.  Die  zu  unzähligen  Malen 
in  den  Brähmanatexten  wiederholte  Wendung  hrahmavädino  vadanti 
leitet  bald  irgend  eine  Frage  rituellen  bzw.  mystischen  oder  philo- 
sophischen Inhalts  ein,  die  dann  beantwortet  wird :  bald  folgt  auch 
ohne  Frage  direkt  eine  Belehrung  derartigen  Inhalts  (z.  B.  Ts.  I, 
7,  1,  4;  vgl.  auch  Av.  XV,  1,8):  wieder  ein  Hinweis  darauf,  daß 
Meinungsverschiedenheiten  oder  Rivalitäten  hier  kein  wesentliches 
Moment  bilden.  Das  Wissen  aber,  das  in  solchem  Zusammenhang 
dargelegt  wird,  und  die  Weise  des  Vortrags  entspricht  durchaus 
der  Art  der  Brähmana-  (bzw.  später  der  Upanisad-)texte. 

Fragen   wir   nun,    den   mit    den    letzten    Worten    berührte 


hingestellten  Kiitsel  mit.  Offenbar  soll  weder  das  erste  Gespräch  noch  diese 
weitere  Unterredung  ein  Brahmodya  sein.  Im  Hinblick  auf  XI,  5,  3, 1  wird  man 
fragen,  weshalb  nicht.  Vermutlich  kam  dem  Brahmodya,  auch  wo  kein  Wett- 
streit vorlag,  doch  eine  gewisse  Förmlichkeit  und  Feierlichkeit  zu  (sie  mag  sich 
in  Körperhaltung,  Redeton  usw.  ausgeprägt  haben),  die  den  Gesprächen  von 
XI,  G,  2  nicht  beiwohnte.  Brh.  A.  Up.  III,  1  ff.  ist  ein  Brahmodya  (s.  8,  1. 12). 
Die  Gespräche  Yäjnavalkjas  mit  Janaka  oder  Maitreyi  sind  es  nicht. 

1)  So  sieht  es  Eggeling  zu  Sat.  Br.  IV,  6,9,20  an.  Es  handelt  sich  hier 
um  das  schon  oben  S.  721  Anm.  3  berührte  Brahmodya. 

2)  Das  Sütra  wiederholt  annähernd  wörtlich  die  Stelle  Ait.  Br.  V,  25, 14 
atha  Prajäpates  tanür  amidravati  brahmodyam  ca;  dort  aber  folgt  dann  weiter 
mit  dem  Plural  §  22  atha  hrahmodyam  vadanti.  Ist  also  gemeint,  daß  der  Hotar 
erst  gewissermaßen  vorbereitend  den  Brahmodyatext  (oder  seinen  eignen  AjQteil 
daran?)  für  sich  aufsagt,  und  dann  das  eigentliche  Brahmodya  mit  verteilten 
Rollen  stattfindet  ?  Freilich  würde  man  dann  über  diesen  Hergang  eine  Vorschrift 
im  Sütra  erwarten.  Oder  sind  vielleicht  im  Brähmana  die  Worte  §  14  hr.  ca  als 
aus  dem  Sütra  eingedrungen  zu  tilgen,  und  ist  im  Sütra  zu  hr.  ca  nicht  anudra- 
vati  zu  ergänzen,  sondern  zu  verstehen:  „und  das  Br.  (findet  statt)"?  In  der 
Ausgabe  der  Bibl.  Indica  ist  offenbar  die  Erklärung  zu  br.  ca :  brahmodyan 
copärnsv  evänudravati  irrtümlich  als  Text  gedruckt.  Wie  auch  über  diesen 
Zweifel  zu  entscheiden  sein  mag,  die  ParaUeltexte  stimmen  im  Hinweis  auf  eine 
Mehrheit  der  Redenden  bei  diesem  Brahmodya  überein ;  s.  Sat.  Br.  IV,  6,  9,  20 ; 
Käty.  Sr.  XII,  4, 20;  Apast.  Sr.  XXI,  10,  12;  11,1;  Panc.  Br.  IV,  9, 12;  Läty. 
111,8,7.  —  Vgl.  zu  diesem  Brahmodya  noch  Bloomfield  JAOS.  XV,  172. 

Kgl.  Oes.  d.  Wiss.    Nachrichten.    Phil.-hist.  Klasse.    1916.    Heft-5.  49 


726  H.  Oldenberg, 

Gesichtspunkt  welter  verfolgend,  was  sich  aus  den  Materialien  für 
hrahmodya-  usw.  über  das  dabei  in  Betracht  kommende  hrähnian- 
ergibt.  Zunächst  konnte  ein  solches  hrdhman-  natürlich  der  formel- 
hafte, festgeprägte  Ausdruck  rituell  -  mystischen  Wissens  sein. 
Konnte  auch  die  nicht  formelhaft  gebundene  Äußerung  über  der- 
artige Fragen  j,brähman-^  heißen?  Kein  Zweifel,  wie  wir  gesehen 
haben,  daß  sich  in  der  Tat  ein  hrahmodya-  in  solchen  Äußerungen 
bewegen  konnte.  Unbedingt  sicher  ist  doch  der  Schluß  nicht,  daß 
diese  darum  als  hrdhman-  aufgefaßt  sein  mußten.  Neben  dem 
Ausdruck  hrahmodya-  liegt  nämlich  nicht  allein  die  Wendung  brähma 
vad-  (z.  ß.  brdhma  gandharvä  dvadann  dgäyan  devah  Ts.  VI,  1,  6,  6*)), 
sondern  auch  hrdhman  vad- :  devä  vai  hrdhmann  avadanta  Ts.  III,  5, 
7,2,  wo  ich  den  Lokativ  nicht  mit  Geldner  (Ved.  Stud.  II,  147) 
„in  Form  eines  Br."  übersetze,  sondern  „über  das  Br."^)  —  eigent- 
lich :  sie  unterredeten  sich  auf  dem  Gebiet  des  Brahman  — ,  welche 
Unterredung  dann  Tb.  I,  2,  1,  6  als  brahmavädd-  erwähnt  wird. 
So  bleibt  die  Möglichkeit,  daß  ein  in  freier  Erörterung  theolo- 
gischer Fragen  sich  bewegendes  hrahmodya-  diese  Bezeichnung 
führen  konnte  nicht  weil  hrdhman-  war,  was  man  sprach,  sondern 
worüber  man  sprach.  Ich  meine  doch,  daß  das  unnötig  spitze 
Unterscheidungen  sind.  Bei  dem  Ineinanderfließen  der  Ausdrücke 
hrdhman-  und  hrähmana-,  das  wir  mehrfach  beobachtet  haben  und 
weiterhin  beobachten  werden,  bei  der  Äquivalenz,  welche  eben  in 
den  Parallelstellen  zu  dem  besprochenen  Ts.  III,  5,  7,  2  zwischen 
hrdhman  sdmavadanta  Käth.  XXX,  10  und  hrdhma  sdmacadanta 
Maitr.  S.  IV,  1,  1  erscheint^),  endlich  bei  der  Schwierigkeit,  in 
manchen  Fällen  zu  sagen,  was  denn  das  hrdhman-  in  einer  der 
sonst  geläufigen  Bedeutungen  des  Worts  wäre,  über  das  die 
hrahmavädinah  gesprochen  hätten,  halte  ich,  wenn  auch  einstweilen 
nicht  für  gewiß,  so  doch  für  wahrscheinlich,  daß  auch  die  Bräh- 
mana-artigen  Reden,  welche  die  Theologen  führten,  als  hrdhman- 
angesehen  worden  sind*). 


1)  Das  heißt  natürlich  nicht,  wie  Deussen  (Allg.  Gesch.  der  Phil.  I,  1,243) 
übersetzt:  „das  Brahman  redeten  die  Gandharven,  sangen  die  Götter"  (ebenso 
Griswold  7).  Die  Wortstellung  und  Maitr.  S.  JII,  6,  3  widerlegt  das.  Längst 
hatte  Delbrück  (Ai.  Syntax  370)  das  Richtige  gegeben. 

2)  So  auch  Delbrück,  Ai.  Syntax  252 ,  ähnlich  „regarding"  Keith.  Vgl.  PW. 
unter  vad-  2  b. 

3)  Wenn  in  solchem  Detail  Verlaß  auf  die  Texte  ist. 

4)  Ein  rgvedischer  Vorläufer  des  Treibens  der  hrdhmavädinalt,  des  hrah- 
modya- erscheint,  wie  schon  Bloomfield  SBE.  XLII,  LXIV  bemerkt  hat,  in  X,  71,  11 
brahmä  tvo  vädati  jätavidydm,  welche  Stelle  durch  die  Verbindung   wenn  auch 


Zar  Geschichte  des  Worts  brdhtnan-.  727 

Einen  letzten  Fall  des  Auftretens  von  btdhman-  innerhalb  des 
hier  besprochenen  Vorstellungskreises  liefert  das  Kirukta  (IV,  6), 
wo  bezüglich  des  Liedes  Rv.  I,  105  (Trita  im  Brunnen)  gesagt 
wird:  tatra  hrahmetihäsamisram  rnmisram  gätMmisrarn  hhavati.  Das 
ist  kaum  anders  vorstellbar  wie  als  Brähma^atext,  in  den  eine 
Erzählung  vom  Typus  der  Sunahsepageschichte,  in  Prosa  mit  ein- 
gestreuten rgvedischen  und  anderweitigen  Versen,  eingelegt  ist  ^). 
Wieder  beobachten  wir  das  Zusammenfließen  der  Vorstellungen 
von  Brähmana  und  Brahman.  — 

So  haben  wir  Verwendungen  des  Worts  brahman-  kennen 
gelernt  für  Zaubertexte,  für  mannigfache  nicht  als  rc-  oder  yajus- 
angesehene  Litaneien,    für   theologische   und   dgl.   Erörterungen'). 


nicht  von  brahman-,  so  doch  von  brahman-  mit  vad-  (vgl.  Rv.  IX,  113,6;  X,  117,7) 
an  die  ehen  erwähnten  Ausdrücke  herangerückt  wird.  Daß  hier  der  brahman  in 
dem  engeren  Sinne  der  wie  es  scheint  ziemlich  jungen,  der  Hotarschaft  usw. 
koordinierten  speziellen  priesterlichen  Funktion  zu  verstehen  sei,  halte  ich  ab- 
weichend von  Pischel  (Ved.  Stud.  I,  94)  für  wenig  wahrscheinlich.  Der  Vers 
hebt  die  Vielseitigkeit  priesterlichen  Könnens  und  Tuns  hervor:  der  eine  kennt 
die  rcah ;  der  andre  singt  die  Gesänge ;  ein  andrer  Brahmane  trägt  jätavidyd-  vor ; 
noch  ein  andrer  vollbringt  das  Opfer  nach  seinen  Maßen.  Aus  der  Struktur 
dieser  Aufzählung  ergibt  sich  so  wenig,  daß  der  Brahman  im  engeren  Sinn 
gemeint  ist,  wie  etwa  X,  90,  9  chdndäijisi,  neben  rcah  sdmäni  ydjuh  stehend, 
einen  vierten  Veda  bedeutet.  Auch  darüber,  was  jätavidyd-  ist,  weiche  ich  von 
Pischel  ab  („seine  Sprüche" ;  wörtlich  hieße  es  bei  Pischels  Auffassung  von  jäid-, 
wie  Bloomfield  und  Hillehrandt  in  der  Tat  geben :  -[bis]  innate  wisdom" ;  „das 
ihm  eigene  "Wissen" :  das  wäre  für  diesen  Priester  im  Unterschied  von  den  andern 
wenig  charakteristisch).  Den  Weg  zur  Deutung  des  "Worts  zeigt  m.  E.  der 
Rgveda  selbst  mit  den  dort  sehr  häufig  auftretenden,  typischen  Verbindungen  von 
Formen  der  Wurzel  vid-  „wissen"  mit  Objekten  von  der  Art  des  jätd- :  so  devd- 
näm  jdnimäni  IV,  27, 1 ;  devanätn  jdnma  I,  70,6;  devdnäm  ubhdyasya  jdnmanah 
IX,  81,  2;  janüsam  I,  139,  9;  jdnütn?i  .  .  .  janitram  VII,  56,  2;  prthiryd  divö  jani- 
iram  VII,  34,  2 ;  jdnmäni  VII,  10,  2  ;  visvä  jdnimä  111,31,8;  VIII,  46,  12;  visvä 
veda  jdnimä  jätdtedäh  VI,  15,  13;  jdnam  V,  53, 1 ;  ydiah  prajajne  X,  73,  10.  Die 
Verbindung  zwischen  IV,  27, 1  etc.  und  dem  Wort  jätavidyd-  stellt  VIII,  39, 6 
aynir  jätd  devdnäm  .  .  .  veda  her  (vgl.  die  devajätäni  wie  die  Vasus,  Rudras  etc. 
Sat.  Br.  XIV,  4, 2, 24).  Der  brahman-,  welcher  jätavidyd-  redet,  ist  also  ein 
Mann  wie  der,  welcher  X,  72,  1  sagt  devdnäm  nü  vaydm  jdnä  prd  vocäma.  — 
Was  das  so  ähnlich  aussehende  jätdvedas-  ursprünglich  ist,  frage  ich  hier  nicht ; 
uns  kann  hier  genügen,  daß  man  es  sich  —  mit  Recht  oder  mit  Unrecht  —  im 
Sinn  des  visvä  veda  jdnimä  (Rv.  VI,  15, 13)  oder  des  jätänätp  veda  (Ait.  Br.  II, 
39, 11)  gedeutet  hat. 

1)  Vgl.   meine  Bemerkung   ZDMG.  XXVII,  80;  Geldner  Ved.  Stud.  III,  168. 

2)  Hier  würden  sich  dann  noch  die  Textkategorien  anschließen,  die  an 
Stellen  wie  §at.  Br.  XI,  5, 6, 8  (unten  S.  728)  namhaft  gemacht  sind.  Doch  s.  S.  728 
Anm.  2. 

49* 


728  H-  Oldenberg, 

Das  alles  aber  tut  natürlich  dem  keinen  Eintrag,  daß  auch  die 
Grundelemente  des  geistlichen  Textbesitzes,  die  Textmassen  der 
drei  Veden,  nach  wie  vor  als  hrähman-  angesehen  wurden:  brah- 
maiva  pratliamam  asrjata  trayim  eva  vidyäm  heißt  es  Sat.  Br.  VI,  1, 
1,  8  (vgl.  10),  und  speziell  mit  Beziehung  auf  ein  Yajus :  tad  enam 
brahmanä  yajusaitasmäc  chatAdräd  varnäd  apädatte  (das.  VI,  4, 4, 9, 
vgl.  noch  I,  7, 1,  8 ;  IV,  5,  2,  4. 10).  So  kann  man,  scheint  es,  zwei 
Verwendungen  des  Wortes  unterscheiden.  Einerseits  bezeichnete 
es  geistliche  Texte  aller  Art  (und  dazu  freie  Reden  entsprechenden 
Charakters?).  Anderseits,  da  unter  diesen  Texten  die  rc-,  yajus-y 
säman-  ihre  besonderen  Benennungen  und  fest  abgegrenzten  Be- 
reiche besaßen,  empfahl  sich  hrahman-  als  spezielle  Bezeichnung 
derjenigen  Texte,  welche  nicht  unter  die  drei  Kategorien  fielen. 
Die  erste  Ausdrucksweise  liegt  vor,  wenn  Sat.  Br.  X,  2,  4,  6  vom 
„ siebensilbigen  brahman-'^  die  Rede  ist:  rJc  ist  eine  Silbe,  yajuhnndi 
mma  je  zwei;  atha  yad  ato  ""nyad  brahmaiva,  tad  dvyaJcsaram  vai 
brdJima :  wo  doch,  indem  die  vier  Kategorien  unterschieden  werden^ 
zugleich  auch  der  vierten,  dem  brahmaiva,  ein  gewisser  Vorzugs- 
anspruch auf  die  betreiFende  Bezeichnung  zuerkannt  wird.  Hierher 
sind  auch  Äußerungen  über  den  brahmayaßa-  zu  stellen  wie  die 
von  Sat.  Br,  XI,  5,  6,  4  ff,,  wo  nach  den  drei  Veden  an  vierter 
Stelle  die  Atharvängirasah,  an  fünfter  die  annsäsanäni  vidyä  väko- 
väkyam  itihäsapitränam  gätliä  näräsamsyah  erwähnt  werden  ^) :  alles 
dies,  als  einen  Gegenstand  des  brahnayajna-  bildend,  wird  dadurch 
doch  wohl  in  gewisser  Weise  als  brähman-  charakterisiert^).  Ich 
vermute,  daß  in  ähnlich  allumfassender  Bedeutung  br.  auch  Av. 
XV,  6,  3  zu  verstehen  ist  tarn  fcas  ca  sämäni  ca  ydjürnsi  ca  brdhma 
mnuvyäcalan :  nach  den  drei'  besonderen  Kategorien  wird,  meine 
ich,  das  brähman-  als  das  Allgemeine  genannt,  das  jene  drei,  daza 
andres,  umfaßt.  Ähnlich  urteile  ich  über  Av.  XV,  3,  7 ;  XI,  8,  23. 
Möglich  bleibt  immerhin,  daß  doch  brähman-  dort  als  eine  vierte 
jenen  dreien  koordinierte  Kategorie  zu  verstehen  ist^):  das  wäre 
dann  eben  die  Gesamtheit  der  übrigen  heiligen  Texte,  Worte  usw., 


1)  Ein  näheres  Eingehen  auf  die  dort  und  in  ähnlichen  Aufzählungen  (über 
die  besonders  auf  Bloonifield  SBE.  XLII,  XXXV  ff.  zu  verweisen  ist)  erschei- 
nenden literarischen  Kategorien  liegt  von  dem  hier  verfolgten  Zweck  ab. 

2)  Freilich  wird  man  gut  tun,  diesen  Schluß  nicht  zu  sehr  zu  urgieren.  In 
den  „brahmayajJia-''  konnte  einbezogen  werden  auch  was  doch  nur  eben  an  der 
Grenze  des  „brähman-"  lag,  vom  eigentlichen  brähman-  nur  so  zu  sagen  mitge- 
zogen wurde. 

3)  Für  XI,  8,  23  wird  das  indessen  durch  v.  30  ganz  besonders  unwahr- 
scheinlich. 


Zur  Geschichte  des  Worte  brdhman-.  729 

die  nicht  den  drei  Veden  angehören^).  In  diesem  Sinn  nun,  dem 
wir  schon  das  hraJiniaiva  von  Sat.  Br.  X,  2,  4,  6  sich  annähern 
fanden,  drückt  sich  die  oben  (S.  721)  erwähnte  Stelle  Ts.  VII,  3, 1,  4 
aus:  den  drei  Kategorien  der  rcah^  sämäni,  ydjümsi,  die  alle  pdri- 
mlta-  sind,  wird  als  viertes  das  brdhman-  gegenübergestellt,  be- 
welchem  j^dnto  ndsW.  Es  ist  wohl  nicht  gemeint,  daß  das  einzelne 
hrdkman-  keinen  fest  umschriebenen  Wortlaut  hätte:  dies  träfe  in 
vielen  Fällen,  z.  B.  eben  inbezug  auf  die  dort  gemeinte  Caturhotr- 
Litanei,  nicht  zu.  Sondern  jeder  der  drei  Veden  hat  seineu  be- 
grenzten Umfang;  das  übrige  6raÄMiö«- aber,  in  keinem  literarischen 
Corpus  zusammengefaßt,  bildet  eine  unbestimmte  Masse  ^).  Auch 
an  der  ebenfalls  schon  oben  (S.  723)  angeführten  Stelle  Sat.  Br.  II, 
1,  4,  10  zeigt  sich  die  hier  besprochene  Neigung,  als  hrdhman- 
speziell  das  zu  benennen,  was  nicht  ^,  Yajus  oder  Säman  ist. 

3.  Noch  einmal  der  Rgveda:  das  h  rahm  an-  und 
die  einzelnen  Priestertümer.  Der  Brähmanäc- 
c  harn  sin.  Wir  kehren  nach  dieser  Besprechung  des  sabda- 
brahman-,  wie  man  später  sagte,  in  seiner  jünger- vedischen  Geltung 
noch  einmal  zum  Rgveda  und  zu  der  S.  720  aufgeworfenen  Frage 
zurück.  Wie  verhält  sich  im  Rv.  der  Gebrauch  des  Worts  brdhman- 
zur  Verschiedenheit  der  Priestertümer  und  der  entsprechenden 
liturgischen  Funktionen  ? 

Die  bisherigen  Erörterungen  haben  uns  den  sehr  allgemeinen 
Sinn  des  Worts  kennen  gelehrt.  Es  verbindet  sich  im  Rgveda 
mit  dem  einen  wie  dem  andern  der  beiden  technischen  Hauptverba 
für  liturgischen  Vortrag:  mit  sams-  wie  mit  gai-^).  Wir  sahen, 
wie  die  verschiedenen  Zweige   der   Vedaliteratur   weiter  die   Be- 


1)  Daß  an  diesen  Stellen,  wie  das  PW.  (unter  brdhiHan-  2)  annimmt,  br. 
speziell  die  Zaubersprüche  (m.  a.  W.  den  Atharvaveda)  als  eine  den  Rc  etc.  gleich- 
geordnete Gattung  bezeichne,  hat  schon  Bloomfield  (a.  a.  0.  LXIII)  zurückgewiesen, 
mit  dem  ich  hier  ganz  übereinstimme.  Nichts  ermächtigt  uns,  dem  Wort  diesen 
besondem  Sinn  zu  geben.  Überhaupt  aber  wird  eine  Koordinierung  von  br.  mit 
rc-  usw.  durch  die  Form  der  Aufzählung  so  wenig  gewährleistet,  wie  —  ich  habe 
diese  Parallele  eben  schon  herangezogen  —  aus  Rv.  X,  90,  9  auf  eine  solche  der 
chandas-  (Metra)  mit  den  Rc,  Säman,  Yajus  geschlossen  werden  könnte.  Man 
sehe  etwa  noch,  in  engstem  Zusammenhang  mit  der  einen  in  Rede  stehenden 
Atharvanstelle,  die  Aufzählung  yon  Ahavaniya,  Gärhapatya,  Daksinägni,  Opfer, 
Opferer,  Yieh  (Av.  XY,  6,  5). 

2)  Vgl.  etwa  die  Ausdrucksweise  von  Ait  Br.  lY,  6, 12:  VIII,  5,  4:  Sat.  Br, 
xm,  1,  3,  2. 

3)  Der  Verbindung  mit  gai-  gleichwertig  ist  es,  da£  der  Vortrag  der  säk- 
varya^  durch  die  Vasisthas  als  brdhman-  bezeichnet  wird  (Rv.  VII,  33,.  4).  Vgl. 
NGGW.  1915,  379  Anm.  4. 


730  H.  Oldenberg, 

ziehnng  auf  Zauberlieder,  auf  Yajus,  auf  sonstige  Litaneien  und 
Äußerungen  theologisclien  "Wissens  hinzufügen^).  Die  ganze 
Priesterschaft,  nicht  irgendwelche  Inhaber  besonderer  Funktionen 
sind  gemeint,  wenn  VII,  9, 5  von  hrahmdkrt-  ganä-  die  Rede  ist- 
Eben  hrdhman-  bzw.  das  offenbar  gleichbedeutende,  früh  antiquierte 
b/h-^)  ist  es,  das  in  der  Benennung  des  Grottes  Brahmanaspati, 
ßrhaspati  seine  Qualifikation  als  allgemeinster  Ausdruck  für  das 
mit  übernatürlicher  Kraft  gesättigte,  religiös-magische  Wort  be- 
weist. Diese  Sachlage  ist  offenbar  der  Annahme  wenig  günstig, 
daß  sich  im  Rgveda  ein  eigner  etwa  dem  itMJid-  oder  gäyatrd- 
koordinierter  liturgischer  Typus  des  hrdhman-  vorfinden  könnte. 
Insofern  allerdings  kann  auch  hier  ein  gewisser  Schein  solcher 
speziellerer  Geltung  des  Ausdrucks  vorliegen,  als  wohl  auch 
schon  in  diesem  Veda  hieratische  Formeln,  die  den  großen  eben 
erwähnten  Kategorien  nicht  angehören,  begreiflicherweise  besonders 
gern  eben  mit  dem  allgemeinen  Ausdruck  hrdhman-  benannt  werden 
(vgl.  oben  S.  728).  Wenn  davon  die  Rede  ist,  daß  der  Priester 
Indras  Rosse  durch  zauberhafte  Sprüche  anschirrt,  wird  mit  Vor- 


1)  Daß  das  hrdhman-  als  Wort,  dem  transzendente  Macbt  im  Allgemeinen 
innewohnt,  jenseits  des  Gegensatzes  —  wenn  man  einen  solchen  statuieren  will  — 
von  Magie  und  Religion  steht,  liegt  in  dem  Gesagten,  sei  aber  hier  zum  Überfluß 
noch  ausdrücklich  hervorgehoben. 

2)  Daß  dies  bfh-  ursprünglich  „Berg"  bedeutete,  bfhaspäti-  „Herr  der  Höhe" 
und  Beiname  des  Indra  war,  und  erst  eine  brahmanische,  von  den  europäischen 
Gelehrten  allzu  gläubig  hingenommene  Umdeutung  jenen  Gott  zu  einem  brdhmanas 
pätir  gemacht  hat  (0.  Richter  IF.  IX,  220 f.):  dies  alles  erscheint  mir  als  ein 
Hypothesenbau  in  die  Luft  hinein,  im  Überlieferten  schlechterdings  nicht  funda- 
mentiert,  vielmehr  die  unverdächtig  durchsichtige  Struktur  der  dort  gegebenen 
Vorstellungsmassen  (vgl.  zuletzt  NGGW.  1915,  196  f.)  unnötig  zerstörend.  —  Bei 
dieser  Gelegenheit,  wo  ich  das  Gebiet  der  Etymologie  berühre,  möchte  ich  noch 
bemerken,  daß  die  hier  vorgelegten  Untersuchungen,  wie  man  sieht,  keinen  Antrieb 
enthalten  —  ich  stimme  hier  mit  Osthoff  überein  —  hrdhman-  von  Wurzel  hrh- 
„erheben,  stärken"  abzuleiten.  Daß  das  hrähman-  Stärkung  des  Gottes  ist,  (siehe 
unten  S.  734  Anm.  3),  ist  eben  nur  eine,  man  kann  sagen  zufällige  Seite  der 
Vorstellung;  andre  Seiten  passen  zu  jener  Etymologie  schlecht,  ohne  sie  freilich 
direkt  auszuschließen:  das  Band  zwischen  Etymologie  und  Gebrauch  des  Worts 
kann  ja  ein  recht  loses  sein.  Der  Gebrauch  von  bfhdnt-  zeigt  m.  Fi.  mit  der 
Vorstellungssphäre  von  hrdhman-  keine  wirklich  signifikanten  Berührungen.  Das 
Nebeneinanderstehen  von  hrahmar^-  und  hrahmdn-,  (wie  dhärman-,  sddman-  nebeu 
dharmdn-,  sadmdn-)  läßt  ein  vielleicht  in  rgvedischer  Zeit  noch  nicht  sehr  lange 
aus  dem  Gebrauch  verschwunden  gewesenes  Verb  *hrh-  annehmen  (das  zugeliürige 
Wurzelnomen  hfh-  scheint  ja  bis  nah  an  jene  Zeit  heranzureichen),  für  das  man 
im  Einklang  mit  den  Untersuchungen  Osthoffs  ungefähr  die  Bedeutung  „eine 
beilige  bzw.  magische  Formel  (Hymnus  u.  dgl.)  vortragen"  vermuten  möchte. 


Zur  Geschichte  des  Worts  hrähman-.  731 

liebe  das  Wort  Irdhman-  gesetzt.  Für  die  Havirdhänawagen 
schirrt  man  hrähma  pürvifäm  an  (X,  13,  1;  IF.  XXXI,  126  ff.).  Den 
bösen  Geist,  der  die  Leibesfrucht  der  Frau  gefährdet,  vertreibt 
Agni  zasammen  mit  dem  hrdhman-  (X,  162,  1.  2):  ganz  wie  im 
Atharvaveda  (oben  S.  720)  derartige  Erfolge  hrdhmanä  erzielt 
werden.     Das  alles  ist  leicht  genug  verständlich. 

Etwas  schwieriger  aber  ist  eine  weitere  Frage,  an  der  sich 
in  diesem  Zusammenhang  nicht  vorübergehen  läßt.  Das  vedische 
Ritual  kennt  einen  vom  brahmdn-  der  gewöhnlichen  rituellen  Ter- 
minologie verschiedenen,  überwiegend  mit  dem  Preise  Indras  be- 
schäftigten Priester,  der  in  alter  Zeit  —  offenbar  ehe  es  jenen 
brahmdn-  gab  —  seinerseits  brahmdn-,  später  brähmanäcchamstn- 
hieß  (vgl.  meine  Rel.  des  Veda^,  396)  —  ich  übersetze  die  letztere 
Benennung:  der  mit  Rezitationen  (samsa)  auf  Grund  seiner  Brah- 
manschaft  Betraute.  Inbezug  auf  den  Brähmanäcchamsin  nun, 
welcher  der  Sache  nach  —  wenn  auch  nicht  unter  diesem  Namen 
—  schon  in  der  rgvedischen  Periode  existiert  hat,  warf  ich  schon 
bei  einer  früheren  Gelegenheit  (NGGW.  1915,  207  A.  4)  die  Frage 
auf:  „Besteht  zwischen  ihm  und  dem  Hotar  von  Haus  aus  der 
Unterschied,  daß  der  Letztere  ukthd-  (Preislieder),  er  aber  brdh- 
man-  (Zauberlieder)  vorzutragen  hat?  Häufiges  Auftreten  gerade 
des  Terminus  brdhman-  in  seinen  Texten  spricht  vielleicht  dafür." 
Das  stände  in  einem  gewissen  Widerspruch  zu  den  hier  gewonne- 
nen Ergebnissen,  nach  denen  brdhman-  nicht  eigentlich  „Zauber- 
spruch" bedeutet,  sondern  nur  aus  erklärlichen  Gründen  besonders 
leicht  von  Zaubersprüchen  gebraucht  wird.  Ich  versuche  den 
Sachverhalt  und  überhaupt,  so  weit  ich  imstande  bin.  das  Wesen 
dieses  Brähmaijäcchamsin  aufzuklären,  der  in  eigentümlicher  Weise, 
nach  seiner  alten  Benennung  als  „Brahmane^  schlechthin,  mit 
seinen,  wie  erwähnt,  speziell  dem  Indra  geltenden  Rezitationen 
neben  dem  Hotar  und  dessen  großen,  an  die  verschiedensten 
Götter,  besonders  aber  eben  an  Indra  gerichteten  Litaneien  steht. 

Zunächst  ist  klar,  daß  die  Rezitationen  des  Br.  ^)  in  ihrem 
technisch  -  liturgischen  Wesen  durchaus  unter  den  gewöhnlichen 
Typus  der  sastra-  fallen,  auf  den  ja  schon  der  Name  des  brähma- 
näc chamsin-  weist.  Wie  andre  sastra-  folgen  sie  einem  voran- 
gehenden siotra-]  es  gehört  der  ähäva-,  der  pratigara-  dazu  (Vait. 
S.  15, 15 ff.);  das  uktham  väci,  uktham  vacindräi/a,  om  uTithasäh  (das. 
20,21;  21,5),  der  Vortrag  der  Yäjyästrophe  schließt  sich  an.    Von 


1)  Für  den  Agnistoma  sind  diese  bei  Caland-Henry   248  f.,   319  flF.   mit   ge- 
wohnter Sorgfalt  beschrieben. 


732  H.  Oldenberg, 

einer  Verschiedenheit  also  wie  etwa  bei  den  Vorträgen  der  Ud- 
gätäras  kann  gegenüber  denen  des  Hotar  nicht  die  Rede  sein. 
Der  Br.  gehört  eben  zu  den  „Hotraka",  über  deren  Gleichartig- 
keit mit  dem  Hotar  das  Aitareya  Brähmana  (VI,  8,  9)  zutreflPend 
spricht. 

Ist  also  eine  Besonderheit  des  Brähmanäcchamsin  hinsichtlich 
der  liturgischen  Technik  nicht  vorhanden,  so  kann  sich  seine 
Eigenart  nur  im  Inhalt  seiner  Rezitationen  ausprägen,  in  der 
speziellen  Beziehung  zur  Grottheit  und  dem  von  ihr  gehofften  Segen. 

Eine  solche  Besonderheit  nun  tritt  zwar,  wie  begreiflich  ist, 
entfernt  nicht  überall  und  nicht  mit  vollkommener  Schärfe  hervor. 
Aber  mir  scheinen  doch  Züge,  die  auf  sie  hinweisen,  genugsam 
vorhanden,  um  Beachtung  zu  verdienen. 

Täusche  ich  mich  nicht,  so  liegt  das  Wesen  dieses  Priesters, 
entsprechend  seinem  Namen  als  hrahmän-  oder  als  der  kraft  der 
ftraÄmaw Schaft  Rezitierende  darin,  daß  in  seinem  Verkehr  mit  den 
Göttern,  insonderheit  mit  dem  Hauptgott  der  Somafeier  Indra, 
auf  beiden  Seiten  —  bei  ihm  wie  bei  den  Göttern  —  das  Motiv 
des  Brahmanenwesens  hervorgekehrt  ist.  Ich  versuche  die  ihrer 
Natur  nach  von  Verschwommenheit  nicht  freie  Vorstellung  so 
weit  wie  möglich  zu  präzisieren  und  zu  veranschaulichen.  Folgende 
Punkte  sind  hervorzuheben : 

1.  Indra  wird,  wo  es  sich  um  den  Brähmanäcchamsin  handelt, 
speziell  von  der  Brahmanenseite  seines  Wesens  her  aufgefaßt. 
Daß  er  eine  solche  besitzt,  ist  schon  an  einigen  Stellen  des  Flgveda 
erkennbar,  brahmdnam  wird  VI,  45,  7  von  ihm  gesagt ;  indro  brah- 
mendra  fsih  VIII,  16,  7 ;  er  ist  brähmano  devdkrtasya  rajä  VII,  97,  3 ; 
mdda  uldhäni  samsaü  X,  44,  8;. mehr  s.  bei  Bergaigne,  Rel.  ved. 
II,  277,  und  Vs.  XXVIII,  28.  Nun  betrachte  man  die  Pravara- 
formel,  bei  der  jeder  der  installierten  Priester  mit  einem  Gott 
(bzw.  der  Maiträvaru^a  mit  einem  Götterpaar)  parallelisiert  wird. 
Da  kommt  Indra  zweimal  vor,  beim  Hotar  und  beim  Brähmanäc- 
chamsin; dazu  die  Formeln:  indram  hoträt  sajür  diva  ü  pj-thivyäh 
(beim  Hotar) ;  indro  brah ni ä  brdhmanät  (beim  BrähmaQäcchamsin), 
Äpastamba  ^r.  XI,  19,  6.  8,  vgl.  Caland-Henry  186  f.  Genau  ent- 
sprechend bei  den  ftuyäjäh  (Cal. -Henry  224 ff.),  wo  die  Prai§a- 
formel  für  Indra  in  Verbindung  mit  dem  Hotar  lautet  hotä  ydk§ad 
indram  hoträt  sajür  diva  ä  pfthivyä  ftunä  soniam  pibatu,  hotar  yaja; 
dagegen  für  denselben  Gott  in  Verbindung  mit  dem  Brähmanäc- 
chamsin :    hotä   yah§ad    indro   brahmä    brähmanäd  *)    Ytunä    somam 


1)  Dies  brähmaiukät  des  Rtuyäja-Rituals  und  damit  der  daran  Längende  Vor- 


Zur  Geschichte  des  Worts  hrähman-.  733 

pibatu,  brahman  yaja.  Vgl.  noch  Sat.  Br.  IV.  6,  6,  5  ^).  Es  ist  klar, 
wie  eben  diese  Seite  des  Gottes  in  eben  diesem  Zusammenhang, 
im  Gegensatz  zur  sonstigen  Auffassung,  bemerkbar  hervorgekehrt 
wird. 

2.  Damit  steht  weiter  in  genauem  Einklang,  daß  neben  Indra 
in  zweiter  Linie  auch  Brhaspati  Gottheit  des  Brähmanäcchamsin 
ist:  der  göttliche  Brahman.  der  an  Indras  Seite  steht  wie  der 
menschliche  Purohita  an  der  Seite  des  Königs.  Bei  den  prasthita- 
lioma-  des  dritten  Savana,  wo  sich  die  Verehrung  zahlreicher 
Götter  und  Götterpaare  auf  die  verschiedenen  Priester  verteilt, 
hat  es  der  Brähmanäcchamsin  mit  Indra  und  Brhaspati  zu  tun 
(Caland-Henry  348).  Beim  Ukthya  trägt  er  ein  eigenes  Sastra 
an  dasselbe  Götterpaar  vor  (Vait.  Sütra  25,  3  ff.).  So  finden  sich 
denn  im  20.  Buch  des  Atharvaveda.  das  bekanntlich  der  Haupt- 
sache nach  eine  Samhitä  des  Brähmanäcchamsin  ist-),  neben  den 
vorherrschenden  Indratexten  auch  zahlreiche  an  Brhaspati  oder 
an  Indra  und  Brhaspati:  beispielsweise  unter  den  Texten  des 
eben  erwähnten  ukthasastra-  Av.  XX,  16  an  Brhaspati,  17  an  Indra 
und  an  das  Paar  Indra-Brhaspati. 

3.  Im  Zusammenhang  mit  alldem  kann  es  m.  E.  nicht  bloßer 
Zufall  sein,  daß  im  Textmaterial  des  Brähmapäcchamsin  der  Aus- 
druck hrdhrunn-  besonders  gern  verwandt  wird.  Ich  verfolge  das 
nur  für  den  auf  den  Agnistoma  bezüglichen  Teil  (Av.  XX,  1 — 13). 
Gleich  nahe  dem  Anfang  erscheint  der  dann  im  weiteren  Verlauf 
dieser  Samhitä  mehrfach  wiederkehrende  Trca  XX,  3  (=  JRv.  VIII, 
17,1 — 3);  dort  heißt  es  hrahniaytijä  hdrl;  üpa  hraJimäni  nah  srnu 
(dann:  hrahmanah).  Weiter  XX,  8,  1  srudhi  brähma:  in  einer 
größeren  Reihe  von  Versen,  die  sich  auf  verschiedene  Priester 
verteilen  (Caland-Henry  286  f.),  enthält  gerade  der  des  Brähma^äc- 
chamsin,  und  nur  dieser,  das  Wort  hrdhma.  Dann  weiter:  9,  3 
tcid  hrdhma  pünäcUtaye;  11,1  hrähmajütah :  12,1  üd  u  brähniäny 
airata:  12,3  üpa  brähmäni  JHJasänam  asthuh. 

Ich  halte  es  nicht  für  möglich,  im  Rgveda  auf  Grund  des 
Auftretens  dieses  Terminus  hrähman-  zwischen  Liedern  —  in  erster 
Linie  Indraliedern  — ,  die  speziell  für  den  Brähmanäcchamsin 
(nach  der  alten  Terminologie:    für  den  Brahman)  bestimmt  waren, 

Stellungskreis  läßt  sich  in  den  Rgveda  (I,  15, 5 ;  II,  36,  5)  zurückverfolgeu.  Gerade 
dieser  Ablativ  ist  solenn;  es  ist  derselbe,  der  im  Namen  des  Bräbmanäcchamsia 
enthalten  ist. 

1)  Dort  ist  auch  die  Bede  von  dem  Indra  geweihten,  in  engstem  Zusammen- 
hang mit  den  Funktionen  des  Brähmapäcchamsin  stehenden  „Brahmasäman'^. 

2)  S.  meine  Prolegomena  347;  Caland,  das  Vaitänasütra  des  Av.,  S.  YI. 


734  H.  Oldenberg, 

und  anderweitigen  Elementen  scliarf  zu  scheiden^).  Soviel  sich 
bis  jetzt  sehen  läßt,  fließen  die  Grenzen.  Aber  trotz  dieser  Un- 
bestimmtbeit  läßt  sich,  scheint  mir,  doch  für  den  Rgveda  wenigstens 
in  Spuren^),  dann  deutlicher  im  späteren  Ritual  ein  gewisser 
individueller  Charakter  des  hier  in  Rede  stehenden  liturgischen 
Gebiets  erkennen :  ein  Priester  erscheint,  dessen  besondere  Aufgabe 
es  ist,  als  Genosse  des  Hotar  in  den  diesem  und  seinen  andern 
Genossen  eigentümlichen  liturgischen  Formen  den  Zusammenhang 
hervorzuheben,  der  speziell  das  priesterliche  Wesen  mit  Indra 
verbindet,  im  Einklang  damit  Indras  göttlich-priesterlichen  Ge- 
nossen, den  Brhaspati,  zu  ehren,  und  so  denn  durch  Betonung 
dessen,  was  schon  die  Sprache  als  die  eigentliche  Leistung  der 
brahmdn-  charakterisiert,  des  bräJiman-,  dieses  värdhana-  des  Indra  ^), 
die  dem  starken  Gott  allerseits  dargebrachten  Huldigungen  an 
«einem  Teil  zu  mehren. 

4.  Weitere  Bedeutungsentwicklung  von  brdhman-. 
Der  Weg  von  der  ursprünglichen  konkreten  Bedeutung  „heilige 
Formel"  zur  Geltung  des  Worts  brähman-  für  das  Allwesen  ver- 
läuft durch  Regionen,  in  denen  die  Verschwommenheit  der  Ge- 
dankenspiele oft  nur  unbestimmteste  Linien  zu  erkennen  erlaubt. 
Zuvörderst  verfließen  die  alten  festen  Umrisse  des  brähman-]  dann 
werden  die  fließenden  Gebilde  von  der  Phantasie  in  höchste,  aber 
nebelhafte  Höhen  erhoben.  Der  Zusammenhang  mit  dem  Ursprüng- 
lichen macht  sich  doch,  wenigstens  auf  weiten  Strecken  des  Weges, 
immer  wieder  fühlbar. 

Es  kann  hier  nicht  die  Absicht  sein,  die  Details  dieses  Chaos 
erschöpfend  zu  durchforschen.  Ich  verfolge  nur  die  Haupt- 
richtungen, in  denen  die  Linien  oder  vielmehr  die  unbestimmten 
Massen  der  Vorstellungen  mir  zu  verlaufen  scheinen. 

Nicht  erst  in  dem  Zeitalter,  mit  dem  wir  es  zu  tun  haben, 
kommt   die  Vorstellungsweise   auf,    aber   sie  wird  doch  jetzt  mit 


1)  Doch  wird  beispielsweise  für  die  kleine  dem  Krs^a  Aügirasa  zugeschrie- 
bene liiedersammlnng  X,  42 — 44  immerhin  auch  trotz  Fehlen  dieses  Terminus 
Bestiiiunung  für  den  ßr.  vermutet  werden  dürfen. 

2)  S.  oben  S.  732  Anm.  1. 

3)  Darüber,  daß  von  dem  auf  liturgischem  Wege  herbeigeführten  Erstarken 
(tjäh;  värdhana-)  Indras  mit  Vorliebe  eben  unter  Anwendung  des  Worts  brdhman- 
gesprochen  wird,  vergleiche  man  Bergaigne,  Rel.  v^d.  II,  273  f.  Der  Grund  für 
diese  Bevorzugung  vor  andern  Ausdrücken  wird  einerseits  in  der  entschiedeneren 
Betonung  des  sakralen  Elements  als  etwa  bei  gir-,  anderseits  in  der  allgemeinen, 
nicht  auf  bestimmte  Priestertümer  beschränkten  Natur  des  brähman-  liegen:  man 
beachte  etwa  die  bezeichnende  Ausdrucksweise  von  VI,  23, 5. 


Zar  Geschichte  des  Worts  hrähman-,  735 

besonderer  Vorliebe  gepflegt  —  die  Vorstellungsweise ,  welche 
Kräfte,  Verhältnisse,  Handlungen,  Geschehnisse  aller  Art,  das 
Jahr  wie  das  Opfer,  die  Himmelsgegenden  wie  die  Unsterblichkeit, 
Wahrheit  und  Unwahrheit  als  konkrete  Wesen  hypostasiert,  die 
bald  personenhaft  hin  und  her  laufen,  reden,  begehren,  bald  als 
Fluida  ergossen  werden,  in  einander  eingehen,  einauder  durch- 
dringen. So  hat  das  hrähman-  jetzt  sein  Dasein  nicht  mehr  allein 
als  dieser  und  jener  Hymnus  oder  Zauberspruch.  Es  ist  zugleich 
eine  Art  mystischer  Hymnen-  und  Spruchsubstanz,  wie  der  yijfid- 
Opfersubstanz  ist;  gelegentlich  mit  einem  gewissen  persönlichen 
Anflug^):  ein  einheitliches  Wesen  und  wiederum  fähig,  zugleich 
in  mannigfachsten  Daseinsforraen  zu  existieren,  in  eine  bunteste 
Fülle  von  Beziehungen  einzugehen.  Während  in  der  älteren  Zeit, 
wie  wir  gesehen  haben,  hrähman-  neben  Worten  wie  uhthä-,  stoma- 
fjir-  aufzutreten  pflegt,  verbindet  es  sich  —  der  Wechsel  ist  be- 
zeichnend —  jetzt  gern  auf  der  einen  Seite  mit  l'saträ-,  auf  der 
andern  mit  täpas-,  dlksä-j  satyä-  oder  Ahnlichem  und  übt  zusammen 
mit  diesen  Wesenheiten  auf  verschiedensten  Gebieten  sein  phan- 
tastisches Wirken. 

Da  zeichnet  sich  nun  zuvörderst  am  bestimmtesten  und  wohl 
auch  am  frühsten  der  Kreis  der  Vorstellungen  ab,  welche  das 
hrähman-  als  den  ihm  verwandten  Menschen,  den  Brahmanen,  inne- 
wohnend betreffen:  wobei  die  Korrelation  von  hrähman-  und  ksaträ- 
die  Rolle  eines  Leitmotivs  übernimmt.  Wir  sahen  (S.  719),  daß 
schon  im  Kgveda  dahin  gehende  Außerangen  erscheinen,  die  dort 
aufzutreten  eben  erst  anfangen;  weiterhin  finden  sich  dann  die 
Belege  sehr  reichlich.  Für  die  Hauptstelle  des  Rgveda  VlII,  35 ^ 
16 ff.,  liegt,  wie  gezeigt  wurde,  die  Auffassung  nah,  daß  das  hräh- 
man- als  der  Schatz  der  Vedentexte  hier  noch  im  selben  Sinn 
den  wesentlichen  Besitz  des  Brahmanenstandes  ausmacht,  wie 
Kühe  den  des  Bauern :  zugleich  aber  steht  dort  das  brdhman-  anch 
schon  in  Korrelation  mit  dem  Jcsaträ-,  der  innewohnenden 
Kraft  des  Adligen.  In  den  Brahmanenschüler,  wird  in  späterer 
Zeit  gesagt,  ist  „das  hrähman-  hingetan" ;  er  „trägt  (in  sich)  das 
strahlende  hrähman-'^  (Av.  XI,  5,  22.  24).  Da  erscheint  deutlich  die 
Vorstellung  des  Vedaworts,  das  in  sich  aufzunehmen  eben  man 
Brahmanenschüler  wird:  in  einen  solchen  Schüler  „gehen"  ja  ,.alle 
Veden  ein"  (Sat.  Br.  XI,  3,  3,  7). 

Nun  freilich  erweitert  sich  die  Vorstellung  in  der  Richtung, 


1)  Man  sehe  etwa  Av.  XIV,  1, 54  oder  die  imten  erwähnte  Stelle  ibid.  XV, 
10,3.4. 


736  H-  Oldenberg, 

die  hier  von  selbst  gegeben  ist:  brahmanisches  Selbstbewußtsein 
nimmt  in  das  hrähman-  die  ganze  Fülle  mystischer,  über  das  pro- 
fane Dasein  unvergleichlich  erhabener  Heiligkeit  auf  und  die  Ge- 
samtheit der  Rechte  und  Pflichten,  die  aus  solcher  Heiligkeit  er- 
wachsen. Der  Einfluß,  den  da  die  Vorstellung  des  Jcsaträ-  als  der 
das  Wesen  des  Ksatriya  in  sich  schließenden  Kraft  vermutlich 
geübt  hat,  ist  schon  oben  (S.  719)  hervorgehoben  worden.  So 
stehen  also  das  hrähman-,  jetzt  mehr  als  das  bloße  Vedenwort, 
und  das  Jcsaträ-  als  zwei  „Kräfte"  {vtrye,  Öat.  Br,  I,  2, 1,  7)  neben 
einander,  hrähman-  und  l'saträ-  —  hier  sind  sie  zu  einer  Art 
mystischer  Personen  geworden  —  „sprachen:  *In  wen  sollen  wir 
eingehen?'  'In  Brhaspati  (den  göttlichen  Brahmanen)  soll  das 
hrähman-  eingehen,  in  Indra  (den  göttlichen  Helden)  das  Jcsaträ- ^ 
(Av.  XV,  10,  3.  4).  „Das  hraJiman-  legte  in  die  Brahmanen  seine 
Majestät  {mahiman-)  verbunden  mit  Studium  und  Lehren  (des  Veda), 
mit  Opfern  für  sich  und  für  andre,  mit  Geben  und  Empfangen 
von  Gaben,  zur  Bewahrung  der  Veden"  (Baudhäyana  Dharm.  I,  10, 
18,  2).  - 

Neben  dem  Brahmanen  sodann  ist  eine  weitere  Wesenheit, 
der  das  hrähman-  vorzugsweise  innewohnt,  das  Opfer.  Auch  hier 
ist  klar,  daß  die  ursprüngliche  Natur  des  hr.  als  heiliger  Formel 
durchaus  zugrunde  liegt.  Die  Hymnen  und  Sprüche,  die  zum 
Opfer  gehören,  stehen  in  dessen  Mittelpunkt,  teilen  ihm  lebendige 
Kraft  mit.  Man  lernt  opfern,  indem  man  die  Opfertexte  lernt. 
„Und  so  weiß  man:  stehend,  gehend,  sitzend,  liegend,  welches 
Opfer  (d.  h.  die  Texte  welches  Opfers)  immer  jemand  studiert, 
mit  diesem  Opfer  hat  er  geopfert"  (Asv.  Grhy.  III,  4,  6).  „So 
groß  ist  das  gesamte  Opfer,  wie  der  dreifache  Veda  ist"  (Sat. 
Br.  V,  5,5,10).  Wenn  es  da  also  heißt:  „das  Opfer  ist  das  Brah- 
man"  (das.  III,  1,4,15),  so  liegt  auch  hier  der  Zusammenhang  mit 
dem  in  unsern  Untersuchungen  immer  wieder  hervorgehobenen 
Ausgangspunkt  der  hräJiman-Y orsiellung  zutage.  Natürlich  konnten 
nun  hier  und  da  auch  Äußerungen  wie  die  folgende  nicht  aus- 
bleiben :  „Das  sichtbare  hräJiman-,  dessen  Gelenke  die  Zurüstungen 
(des  Opfers)  sind,  dessen  Rückgrat  die  rc-,  die  Haare  die  säman-, 
das  Herz  das  i/ajus-  heißt,  seine  Streu  die  Opferspende"  (Av.  IX, 
6, 1  f.)  —  wo,  wie  man  sieht,  neben  den  heiligen  Texten  auch 
greifbare  Elemente  der  Opferverrichtung  als  Bestandteil  des  „hräh- 
man'" erscheinen:  wonach  die  Auffassang  von  der  ursprünglichen 
Natur  des  hräJiman-  zu  modifizieren  man  sich  nicht  versucht  fühlen 
wird.  Überhaupt  ginge  man  wohl  zu  weit,  wollte  man  aus  Sätzen 
wie  den  eben  angeführten  direkt  ein  wirkliches  Stück  Bedeutungs- 


Zur  Geschichte  des  Worts  brähman-.  737 

entwickluDg  von  hr.  herauslesen.  Sehr  viel  vollgiltiger,  als  wenn 
es  beispielsweise  heißt  „der  Paläsabaum  ist  Brahman",  sind  jene 
Ausdrücke  wohl  nicht  ^).  — 

Das  hrdhman-  endlich  wirkt  nicht  im  Brahmanen  und  im  Opfer 
allein,  sondern  in  der  Natur,  in  der  ganzen  weiten  Welt.  Die 
magische  Kraft  der  vom  Priestertum  gehandbabten  heiligen  Formel 
ist  allbezwingend:  so  muß  der  mystischen  Wesenheit  des  brdhman- 
an  sich,  auch  ohne  daß  es  von  rezitierenden  oder  singenden  Brah- 
manen in  Tätigkeit  gesetzt  wird,  Allgewalt  gehören.  Es  beherrscht 
das  Geschehen  im  Einzelnen;  es  zeichnet  ihm  im  Ganzen  die  blei- 
benden Ordnungen  vor.  Zu  keinem  andern  Ausdruck  für  die  im 
Chaos,  über  dem  Chaos  der  Dinge  und  Vorgänge  regierende  Macht 
fühlt  sich  die  Brabmanenphantasie  so  stark  hingezogen  wie  zu 
diesem,  der  an  die  Übermacht  der  eignen  geheimen  priesterlichen 
Kunst  über  alle  profanen  Gewalten  erinnert.  So  wird  das  bräh- 
man- man  kann  sagen  zu  einem  brahmanisch-grotesken  Logos. 

Ein  Vorspiel  dieser  Entwicklang,  ihrer  eigentlichen,  charakte- 
ristischen Ausprägung  noch  weit  voranliegend,  läßt  sich  im  Purusa- 
hymnus des  Rgveda  (X,  90)  erkennen,  wo  beim  weltbegründenden 
Uropfer  neben  den  Tieren,  den  menschlichen  Kasten  usw.  auch  rc- 
und  sänian-,  Metra  und  ydjus--)  entstehen  (Vers  9).  Da  sind  die 
heiligen  Texte  nicht  mehr  wie  in  den  älteren  Teilen  des  Rgveda 
das  Werk  menschlicher  Poeten,  von  diesen  „gezimmert  gleich  einem 
Wagen";  sie  haben  vom  Anfang  des  Weltdaseins  her  ihre  eigne 
Existenz.  Doch  dieser  Rang  kommt  ihnen  immer  noch  mit  vielen 
andern  Wesenheiten  gemeinsam  zu,  und  das  Schlagwort  brähman- 
fehlt;  davon  daß  dieses  den  weltbeherrschenden  Kräften  wie  dem 
rtd-  gleichgestellt  wäre,  findet  sich  im  Rgveda  keine  Spur.  Dem 
halte  man  nun  etwa  die  Kosmogonie  von  Öat.  Br.  VI,  1, 1,  8  gegen- 
über, wo  der  Weltschöpfer,  Puru§a  Prajäpati,  Kasteiung  übend 
„das  brdhman-  als  das  erste  schuf,  das  dreifache  Wissen  (der  drei 
Veden).  Dies  wurde  ihm  zum  Halt;  darum  sagt  man :  das  6m7jmaM- 
ist  der  Halt  dieses  All".  Und  noch  einmal  in  dem  wirren  Verlauf 
dieser  Kosmogonie  etwas  später:  der  Schöpfer  geht  „zusammen 
mit  dem  dreifachen  Wissen*  in  die  Wasser   ein;    ein  Ei  entsteht: 


1)  Daß  man,  wo  es  sich  nicht  um  mystische  Identifikationen  sondern  um 
Benennung  der  Dinge  mit  ihrem  wirklichen  Namen  handelte ,  von  konkreten 
Opferverrichtungen  als  hrdhman-  gesprochen  hat,  bezweifle  ich  durchaus  auch  für 
dies  Zeitalter  wie  für  das  rgvedische.  Wenn  ein  Yajus  lautet  dgne  brdhma 
grbhmsva  (Vs.  I,  18),  so  hätte  Eggeling  (^at.  Br.  1,2,1,9)  m,  E.  besser  nicht 
übersetzt:  „Accept,  0  Agni,  this  holy  work". 

2)  Nicht  „die  vier  Veden"  (Griswold  32). 


738  H.  Oldenberg, 

„aus  dem  wurde  das  brdhman-  als  das  erste  geschaffen,  das  drei- 
fache Wissen;  darum  sagt  man:  das  brdhman-  ist  das  Erstgeborene 
dieses  All"  (§  10).  Man  sieht,  wie  hier  das  Brahman,  zu  einer 
universellen  Potenz  und  einem  Hauptfaktor  der  Kosmogonie  ge- 
worden, darum  doch  sein  altes  Wesen  als  das  in  den  drei  Veden 
verkörperte  heilige  Wort  nicht  aufgegeben  hat.  Nunmehr  wird 
vom  hrdhman-  in  solchen  Ausdrücken  gesprochen  wie  daß  die 
Götter  es  zum  herrlichsten  unter  sich  gemacht  haben.  Sie  sind 
durch  das  hrdhman-  unsterblich  geworden.  Himmel  und  Erde 
werden  dadurch  festgehalten  (Sat.  Br.  VIII,  4,1,3;  XI,  2,3,6). 
Es  ist  der  Wald,  der  Baum  (d.  h.  das  Holz,  die  Materie),  daraus 
Himmel  und  Erde  gezimmert  ist  (Tb.  II,  8,  9.  6 — 7).  Ist  da  nun 
die  alte  Bedeutung  des  Worts  verschwunden?  Das  für  jede  ein- 
zelne Stelle  zu  bejahen  oder  zu  verneinen  ist  unmöglich.  Das 
hrdhman-,  in  dem  die  Sonne  festgestellt  ist,  wird  als  das  „sieben- 
silbige  &r."  beschrieben,  von  welchem  rc-,  yajiis-,  sä  man- i'dni  Silben 
ausmachen  und  alles  übrige  brdhman-  zwei  Silben  (Sat.  Br.  X,  2, 
4, 6) :  hier  ist  es  wieder  einmal  deutlich,  daß  das  zu  kosmischer 
Höhe  aufgestiegene  brdhman-  doch  immer  noch  nicht  aufgehört 
hat,  zugleich  das  Vedenwort  zu  sein^).  Anderwärts  mag  anders 
zu  urteilen  sein;  es  scheint  nur  natürlich,  daß  das  Hereinströmen 
so  mächtigen,  wenn  auch  wirren  neuen  Inhalts  die  alte  Vorstellung 
oft  mehr  oder  weniger  vollständig  zurückdrängte,  an  die  dann 
anderseits  doch  wieder  der  auch  jetzt  lebendig  bleibende  Gebrauch 
des  Worts  in  seinem  früheren  Sinn  immer  wieder  erinnern  konnte. 
In  Texten  wie  Av.  X,  2.  7.  8 ;  XI,  5,  auf  die  ganz  besonders  zu- 
trifft, was  hier  mehr  oder  minder  überall  gilt,  daß  nicht  arbei- 
tendes Denken,  sondern  spielerische  Phantasie  —  indisch  maßlose 
Phantasie  —  das  Wort  führt,  zeigt  sich  das  brdhman-  in  einer 
Unbestimmtheit,  der  gegenüber  eine  auf  feste  Vorstellungen  hin- 
zielende Exegese  meist  hilflos  verstummen,  oft  auch  sich  geflissent- 
lich zurückhalten  wird  in  dem  Bewußtsein,  daß  Klarheit  hier  eben 
nur   die  Echtheit  des  Bildes   fälschen   würde '^).     Auf  Einzelunter- 


1)  So  ist  auch  da,  wo  das  hr.  das  Beiwort  jye^tha-  angenommen  hat,  das 
Mitspielen  der  alten  Vorstellung  keineswegs  ausgeschlossen,  vielmehr  an  einzelnen 
Stellen  deutlich  erkennbar. 

2)  Aus  den  eben  erwähnten  Texten  Ar.  X,  7.  8 ;  XI,  5  hebe  ich  nur  die  auch 
hier  deutlich  sich  aufdrängende  Äquivalenz  von  brahmana-  und  hräliman-  hervor; 
man  beachte  insonderheit  den  Wechsel  von  hrdhma  jt/efthätn,  jye?ßdin  brähmaitam, 
hrähma^atu  hrdhma  jyefthdm.  Das  steht  im  vollen  Einklang  mit  dem,  was  oben 
8.  722  usw.  sich  inbezug  auf  das  Verhältnis  der  beiden  Ausdrücke  ergeben  hat.  Wenn 
l)rdhmana-  so   an   verschiedensten  Stellen  seiner  Gebrauchssphäre  mit  brdhman- 


Zur  Geschichte  des  Worts  hrdhman-.  739 

fiuchungen,  die  auch  für  diese  Strecke  des  Entwicklungsweges 
festzustellen  hätten,  wie  weit  doch  an  diesem  oder  jenem  Punkt 
ein  Fragment  bestimmt  geformter  Gredanken  erkennbar  werden 
kann,  verzichte  ich  einstweilen.  So  viel  darf  schon  jetzt  ausge- 
sprochen werden,  daß  der  letzte  Schritt,  der  dann  in  der  Ge- 
schichte des  Worts  hrdhman-  geschehen  ist,  an  das  Vorangehende 
sich  verständlich  anschließt.  Als  die  Spekulation  der  Upanisaden, 
jene  Xebelreiche  hinter  sich  lassend,  die  Idee  einer  ewigen,  jeg- 
liches Dasein  durchdringenden  Allkraft  nicht  mehr,  wie  das  frühere 
Denken,  nach  launenhafter  Willkür  hier  und  dort  für  Augenblicke 
auftauchen  ließ,  sondern  sie  mit  starkem  Entschluß,  mit  tiefstem 
Ernst  erfaßte  und  festhielt,  mußte  unter  den  Ausdrücken,  mit 
denen  die  tastenden  Versuche  der  Sprache  das  große  Mysterium 
zu  benennen  strebten,  brdhvian-  in  erster  Linie  stehen.  Vereinten 
sich  hier  doch  die  Vorstellungen  heiliger  Majestät,  einer  das  Welt- 
dasein lenkenden  höchsten  Macht,  des  über  allem  Offenbaren  nn- 
endlich  erhabenen  Greheimnisses,  dazu  endlich  —  im  Widerspruch, 
aber  in  sehr  verständlichem  Widerspruch  mit  diesen  aufs  Univer- 
selle gerichteten  Zügen  —  der  Verwandtschaft,  nein  der  Identität 
mit  dem,  worin  sich  für  das  Selbstbewußtsein  dieser  Denker  die 
weltentnommene,  weltüberwindende  Erhabenheit  des  eignen  Standes, 
der  eignen  Persönlichkeit  ausdrückte.  Nunmehr  mußte  sich  frei- 
lich der  vorher  schon  in  der  Bildung  begriffene  Riß  gegenüber 
der  bescheidenen  Grundbedeutung  des  Wortes  erweitern  und  be- 
festigen. „Nicht  denke  man  vielen  Worten  nach;  das  heißt  ja 
nur  die  Rede  ermüden",  so  sah  man  es  jetzt  an.  Da  war  denn 
die  Unterscheidung  zwischen  den  „zwei  Brahman",  „dem  Wort- 
brahman  und  dem,  welches  das  höchste  ist",  unvermeidlich  ge- 
worden. — 

Um  zusammenzufassen:  treffen  die  vorstehenden  Untersuch- 
ungen das  Richtige,  so  hat  sich  herausgestellt,  daß  die  Bedeu- 
tungen von  hrdhman-  nicht  von  einem  Fluidum  ausgehen ,  das 
gleichermaßen  im  heiligen  Wort,  in  der  heiligen  Handlung,  im 
heiligen  Menschen  wohnt.  Sondern  zu  Grunde  liegt  die  Vor- 
stellung des  heiligen  Worts.  Neben  das  konkrete,  reale  Wort 
tritt  eine  gewisse  Hypostasierung  der  sakralen  und  magischen 
Wortwesenheit,     Erst  insofern  das   heilige  Wort  im  Brahmanen, 

zusammenfließt,  scheint  mir  darin  ein  deutlicher  Hinweis  darauf  zu  liegen,  daß 
in  der  bekannten  Kontroverse,  ob  hrdhmana-  von  hrdhman-  oder  hrdhmdn-  kommt, 
die  erstere  Auffassung  zutrifft  (um  das  brähmana-  von  Rv,  I,  15,5;  II,  36,6 
handelt  es  sich  natürlich  nicht).  Eine  überzeugende  Spur  des  Zusammenhangs 
mit  brahmän-  kann  ich  im  Gebrauch  von  brähmana-  nicht  entdecken. 


740  H-  Oldenberg, 

im  Opfer,  im  Weltdasein  lebt  und  wirkt,  fängt  das  brdhman-  an 
als  die  Potenz  zu  erscheinen,  die  den  Brahmanen  zum  Brahmanen 
macht,  die  das  rituelle,  das  kosmische  Geschehen  beherrscht.  Man 
hat  im  Brahman,  wie  schon  oben  berührt  wurde,  einen  indischen 
Ausdruck  für  die  Vorstellung  jener  durch  die  Welt  verbreiteten, 
geheimnisvoll  übernatürlichen  Macht  gesehen,  welche  die  heutige 
Religionswissenschaft  mit  melanesischem  Namen  als  Mana  za  be- 
nennen liebt.  Dem  Mana  immerhin  ähnlich  ist  das  Brahman  ge- 
worden.    Ursprünglich  gewesen  ist  es  etwas  andres. 


Anhang.    Vhevpurväcitti-. 

Treffend  macht  Geldner  (Glossar)  darauf  aufmerksam,  daß 
in  der  Nachbarschaft  von  pUrvacitti-  gern  brahman-  steht.  Täusche 
ich  mich  nicht,  so  hat  seine  Auffassung  des  ersteren  Worts  („die 
erste  Erkenntnis,  Kunde" ;  insbes.  „die  erste  Idee  des  Dichters, 
poetische  Eingebung,  Erleuchtung")  die  von  brahman-  beeinflußt, 
unter  dessen  Bedeutungen  er,  wie  oben  S.  717  Anm.  2  bemerkt 
ist,  hervorhebt:  „die  geheimnisvolle  Kraft,  die  den  Dichter 
inspiriert  und  zum  Seher  macht  und  die  er  auf  die  Götter  über- 
trägt" —  wobei  zwei  Belege  vorangestellt  werden,  die  eben  das 
Wort  pilrvdcittaye  enthalten,  VlII,  6,  9;  3,  9.  Ich  möchte  hieraus 
den  Anlaß  entnehmen,  die  mir  wahrscheinliche  Auffassung  von 
pTirväcitti-  darzulegen,  welche  von  der  offenbar  sehr  sorgfältig  er- 
wogenen Geldners  abweicht.  Gehen  wir  auf  frühere  Perioden  der 
Rgvedaexegese  zurück,  so  begegnen  wir  recht  unsicherem  Tasten. 
So  übersetzt  Ludwig  an  den  beiden  eben  angeführten  Stellen: 
VIII,  3,  9  tat  tvä  yämi  suvtrynm  tdd  brähma  piirväcittaye  „um  diese 
Heldenstärke  fleh  ich  dich  an,  daß  dieses  Brahma's  du  zuerst  ge- 
denkest";  dagegen  VIII,  6,  9  f^rd  (scü.  naslmahi)  brdhma  pilrvdcittaye 
„erreichen  mögen  wir  .  .  .  das  Brahma  zur  Morgenandacht".  Dabei 
sind  die  beiden  Stellen,  wie  man  sieht,  einander  ganz  ähnlich  und 
stehen  in  naher  Nachbarschaft,  in  Abschnitten  von  sehr  gleich- 
artiger Ausdrucksweise. 

Mir  ist  nun  von  vornherein  nicht  wahrscheinlich,  daß  das 
pürva-  eine  ich  möchte  sagen  so  ideelle  Nuance  enthält  wie  die 
einer  ersten  poetischen  Eingebung  —  gemeint  müßte  doch  wohl 
sein :  im  Gegensatz  zu  der  dann  folgenden  Durchführung  und  Aus- 
gestaltung des  im  ersten  Moment  intuitiv  Erfaßten.  Ich  halte 
mich    an   die    beiden    dem   pürvdcitti-    gleichartigsten    Worte    der 


Zur  Geschichte  des  Worts  brähman-.  741 

Rgvedaspraclie :  an  pürvapiti  und  pürvähüti-  ^).  In  beiden  liegt 
eine  gewisse  Rivalität:  daß  der  betreffenden  Gottheit  das  Recht 
Zukommt  vor  andern  Göttern  zu  trinken  (I,  135,1:  vgl.  dazu 
I,  134,6;  IV,  46,1;  VIII,  100,2  etc.).  vor  andern  angerufen 
zu  werden  (I,  123,  2).  Ebenso  wird,  meine  ich,  pürvdcitti-  ein 
Wahrnehmen,  ein  Denken  bedeuten,  das  vor  anderm  Denken  einen 
Vorrang  oder  Vorsprung  hat  —  vermutlich  zum  Vorteil  einer 
dabei  in  Frage  kommenden  Person.  Wenn  nun  VIII,  6,  9  der 
Dichter  das  hrähman-  zu  erlangen  wünscht  lyüriäcittaye ,  so  ist 
wohl  wahrscheinlich,  daß  diese  Person  er  selbst  ist;  fraglich  aber 
ist,  ob  er  selbst  vor  andern  Betern  das  hrahman-  wahrnehmen 
und  dadurch  jenen  zuvorkommen  möchte  (also  pürva-  der  Beter 
als  Subjekt),  oder  ob  er  vielmehr  wünscht,  daß  der  Gott  sein 
hrahman-  vor  dem  der  andern  wahrnehme  und  durch  Erhörung 
segne  (pürva  der  Beter  bzw.  sein  Gebet  als  Objekt)^).  Die  hier- 
nach sich  ergebenden  beiden  Auffassungen  von  püridcitti-  sind  in 
den  Übersetzungen  von  Caland-flenry  (L' Agnistoma),  in  denen 
die  Vorstellung  der  Rivalität  m.  E.  richtig  herausgefühlt  ist,  ab- 
wechselnd vertreten  ^).  Es  kommt  noch  die  gelegentlich  vorliegende 
weitere  Möglichkeit  dazu,  daß  vom  Denken  des  Sängers  an  ein 
göttliches  oder  heiliges  Objekt  die  Rede  ist  nicht,  wie  eben  in 
Betracht  gezogen  wurde,  als  den  Vorrang  vor  dem  Denken  andrer 
Subjekte,  sondern  vor  dem  Denken  an  andre  Objekte  besitzend. 
Ein  Wechsel  zwischen  verschiedenen  Auffassungen  ist  prinzipiell 
nicht  ausgeschlossen :  man  denke  etwa  an  die  Doppelseitigkeit  von 
trhiäbarhis-  „der  das  B.  bereitet  hat",  „für  den  das  B.  bereitet 
ist",  oder  von  hrtdbrahman-  „der  das  Br.  verrichtet  hat",  „zu  dem 
hin  das  Br.  verrichtet  ist",  oder  von  pürvabhäj-  „(der  Mensch  oder 
Gott),  der  zuerst  einen  Anteil  erhält",  „(der  Anteil),  der  zuerst 
verliehen  wird".  Aber  man  wird  doch  .unmotiviertes  Hinundher- 
greifen  vermeiden.      Die    Erreichung    voller    Sicherheit    in    allem 


1)  Man  beachte,  wie  Vllf,  3, 7. 9  derselbe  Dichter  dicht  bei  einander  pürvd- 
pitaye  und  pürväcittaye  sagt. 

2)  Man  kann  sagen:  ob  die  citti-  zu  verstehen  ist  etwa  nach  IV,  4, 11  tmm 
110  asyd  vdcasas  dkiddhi  oder  nach  YlII,  2,  17  tdved  u  stömam  ciketa.  —  Ich 
setze  einige  Bemerkungen  Säyarias  hierher,  tad  hrahma  parivrdham  annam 
pürvacittaye  pürvaprajnänäyänyebhyafi  pürtam  eva  labhäya  tväm  yäcämi  {zvlWU, 
3,9).  pürvacittaye  pürvaprajnänäyänyebhyah  stotrhhyci^  pürcam  eväsmatstotrapari- 
rnänäya  (zu  VIII,  12,38).  —  Hillebrandt,  Enc.  of  Rel.  and  Eth.  11,797:  „in 
Order  that  thereby  I  may  discern  beforehand". 

3)  S.  320  „et  puisse-je  la  mediter  le  premierl"  (YIII,  3,9).  —  S.  357 
„afin  qu'elles  les  remarquassent  les  premiers"  (I,  159, 3).  —  S.  423  „afin  qu'ils 
me  distinguent,  moi  le  premier"  (I,  112,1). 

Kgl.  Oes.  d.  Wiss.    Nachrichten.    Phil.-hist.  Klasse.    1916.    Heft^5.  50 


742  H.  Oldenberg, 

Einzelnen  ist  unmöglich ;  dazu  uns  die  Hilfsmittel  zu  liefern  haben 
die  ßsis  nun  einmal  hier  wie  oft  nicht  hinreichend  Sorge  getragen. 

Ich  gehe  von  den  oben  angeführten  Stellen  VIII,  3,  9;  6,  9 
aus,  an  denen  beiden  übereinstimmend  der  Besitz  des  hrdhman- 
zum  Zweck  der  pürväcitti-  gewünscht  wird.  An  der  ersten  Stelle 
steht  mit  br.  parallel  suviryam,  und  dies  selbe  Wort  tritt  auch 
VIII,  12,  33  (zusammen  mit  svdsvyam,  sugävyam)  neben  pürvcicittaye 
auf.  So  zeigt  sich  hier  ein  kleiner  Kreis  gern  mit  einander  sich 
verbindender  Vorstellungen.  Verdient  es  da  nicht  Beachtung, 
wenn  es  II,  2, 10  heißt  vayäm  agne  ärvata  vä  suviryam  brähmanä 
vä  citayemä  jdnän  äti,  asmakam  dyumnäm  ädhi  pänca  l'rstisüccä  svär 
nd  susucUa  dustdram  —  ?  Hier  kehren  im  ersten  Hemistich 
drei  Haupteleoiente  von  VIII,  3,  9,  suv'irya-,  hrdhman-,  cit-,  in  Ver- 
bindung mit  einander  wieder;  auch  auf  das  VIII,  12,33  erwähnte 
svdsvyam  wird  hingedeutet.  So  darf  vermutet  werden,  daß  da  cit- 
etwa  im  gleichen  Sinn  steht,  den  es  in  dem  mit  hrdhma  sich  ver- 
bindenden pürvdcittaye  hat.  Das  hrdhman-  soll  nun  in  II,  2,  10  die 
Redenden  und  ihr  suvirya-  in  hellem  Licht  erscheinen  lassen,  die 
Aufmerksamkeit  auf  sie  vor  allen  andern  ziehen.  Wenn  man  sich 
in  VIII,  3,  9 ;  6,  9  das  br.  um  der  pürvdcitti-  willen  wünscht,  wird 
danach  gemeint  sein,  daß  Grötter,  vielleicht  auch  Menschen,  auf 
den  Besitzer  des  br.  früher  als  auf  andre  den  Blick  richten  sollen. 
Dazu  stimmen  nun  vollkommen  auch  andre  Stellen,  an  denen  br. 
im  Zusammenhang  mit  cit-  erscheint.  Zunächst  II,  34, 7  tarn  wo 
data  maruto  väjinam  rdtha  äpänäin  brdhma  citdyad  dive-dive:  auch 
hier  verbindet  sich  mit  der  Bitte  um  das  br.  die  um  ein  dem 
stivirya-  nahstehendes  Grut  —  wir  können  es  als  svdsvya-  benennen 
— ;  beim  brdhman-  aber  wird'  das  Gewicht  darauf  gelegt,  daß  es 
durch  seinen  Glanz  sich  der  Beachtung  aufdrängt.  Sodann  die 
allerdings  im  Ganzen  dunkle  Stelle  aus  einem  Rätselzusammen- 
hang I,  152,5  acittam  brdhma  jujusur  yüvänah:  so  viel  scheint  klar, 
daß  das  Wunderbare  eben  in  der  Wirkung  des  br.,  obwohl  dies 
acittam,  unbemerkt  (vgl.  z.  B.  III,  18,2)  ist,  besteht;  indirekt  also 
wird  wieder  auf  die  normale  Eigenschaft  des  br.  hingedeutet,  be- 
merkt (cit-)  zu  werden. 

Unter  den  weiteren  Belegen  von  pürvdcitti-  schließt  sich  zu- 
nächst die  schon  erwähnte  Stelle  VIII,  12,  33  an :  suviryam  svds- 
vyum  sugdvyam  indra  duddid  nah,  höteva  pürvdcittaye prädlivare  {p-ädh- 
vare  Refrain).  Aus  dem  Bisherigen  ergibt  sich  als  wahrscheinlich: 
Indra  soll  suviryor-  etc.  spenden  und  so  die  allgemeine  Aufmerk- 
samkeit auf  diesen  Verehrer  vor  andern  lenken  (vielleicht  auch : 
und  so  seine  auf  ihn  zuvörderst  gerichtete  Aufmerksamkeit  betä- 


Zar  Geschichte  des  Worts  brdhman-.  743 

tigen),  wie  ein  Hotar  durch  seine  Litaneien  die  göttliche  Anfmerk- 
samkeit  seinem  Yajamäna  vor  den  andern  erwirbt.  Gezwungener 
wäre  der  Gedanke,  daß  Indra  spenden  soll,  damit  zuerst  der  Ver- 
ehrer an  ihn  denke,  oder  damit  der  Verehrer  zuerst  an  ihn  denke. 

IX,  99,  5  (den  Pavamäna)  dütdm  nd  püriäcittaya  ä  sdsate  viani- 
§inah:  man  wünscht  sich  ihn  wie  einen  Boten,  damit  er,  gleichsam 
der  rascheste,  erfolgreichste  Bote,  die  göttliche  Aufmerksamkeit 
auf  den  Verehrer  früher  als  auf  andre  lenke  (vgl.  etwa  VII,  67,  1^ 
wo  der  Bote  in  der  Frühe  die  Götter  erweckt)  ^),  oder  auch  damit 
er  selbst  diesem  Verehrer  früher  als  andern  seine  Aufmerksamkeit 
zuwende,  den  Botendienst  für  ihn  übernehme. 

Eine  schon  von  Geldner  (Glossar)  als  solche  ausgesonderte 
Gruppe  von  Stellen  bezieht  sich  auf  Himmel  und  Erde  bzw.  den 
Himmel  allein.  Zunächst  I,  112,  1  tle  dydväprthivi  pürväcittaye ; 
I,  159,  3  te  sünävah  sväpasah  sudamsaso  mäht  jajrlur  moiärä  pürvä- 
cittaye: die  beiden  Gottheiten  sollen  dem  Beter  bzw.  den  sünävah 
früher  als  den  andern  ihre  Aufmerksamkeit  zuwenden.  Daß  um- 
gekehrt gemeint  wäre,  man  wünsche  Himmel  und  Erde  vor  allen 
andern  Wesen  zu  bemerken,  oder  man  wünsche  selbst  als  erster 
H.  und  E.  zu  bemerken,  wäre  an  sich  denkbar.  Doch  einen  posi- 
tiven Grund  von  der  für  die  vorigen  Stellen  angenommenen  Auf- 
fassung abzugehen  finde  ich  nicht.  Am  wenigsten  kann  dafür 
m.  E.  die  noch  übrige  Stelle  dieser  Gruppe  ins  Gewicht  fallen, 
zwei  Sätze  eines  Rätselgesprächs  Vs.  XXIII,  11.  12  kd  svid  äsit 
püriäcittih  —  dyaiir  asit  imrväcittih.  Vergleicht  man,  wie  voll- 
kommen willkürlich  die  in  solchen  Rätseln  niedergelegten  Einfälle 
anderwärts  sind  (man  sehe  etwa  Rv.  I,  164,  34.  35 ;  Vs.  XXI IT, 
47. 48),  so  wird  man  darauf  verzichten,  hier  den  unberechenbaren 
Gedanken  berechnen  zu  wollen  und  aus  ihm  Schlußfolgerungen 
zu  ziehen. 

Führt  Vs.  XIII,  43  agnim  tde  pürväciftim  nämobhik  (dies  offen- 
bar die  ursprüngliche  Gestalt  der  Zeile ;  püriäcittau  Ts. ;  s.  die 
Parallelstellen  in  der  Konkordanz ;  Entstellung  aus  pürvacita  möchte 
ich  nicht  mit  dem  PW.  vermuten)  zu  einem  andern  Ergebnis? 
Konnte  nicht  Agni  als  personifizierter  Repräsentant  des  seinem 
Verehrer  vor  andern  zugewandten  göttlichen  Gedenkens  gefeiert 
werden?  Daß  umgekehrt  des  Verehrers  zuerst  dem  A.  geltendes 
Gedenken,  oder  sein  andern  zuvorkommendes  Denken  an  A.  ge- 
meint sei,  ist  freilich  an  sich  möglich.  Die  Paraphrase  in  Sat. 
Br.  VII,  5,  2, 19  ist  bedeutungslos. 


1)  ^rvacittaye  devänäm  pürvatn  eva  prajnäpanäya.     Säy. 

'  50* 


744  H.  Oldenberg,  Zur  Geschichte  des  Worts  hrähman-. 

Von  rgvedischen  Stellen  bleibt  noch  I,  84, 12  vratäny  asya  (des 
Indra)  sascire  puruni  pUrväcittaye  und  VIII,  25, 12  srudhi  svayävan 
sindho  pUrväcittaye.  Beide  Stellen  passen  zu  der  hier  im  Übrigen 
befürworteten  AuflPassung  leicht;  leichter,  so  viel  ich  sehe,  als  zu 
einer  andern.  Man  befolgt  Indras  Gebote,  damit  zum  Lohn  dieser 
des  Gehorsamen  vor  andern  gedenke.  Man  wünscht,  daß  die  Sindhu 
das  Gebet  höre  und  infolge  dessen  des  Beters  vor  andern  gedenke. 
Außerhalb  des  Rv.  ist  noch  übrig :  TB.  II,  5,  5,  1  yajfid  isfäh  pürvd- 
cittim  dadhätu:  Folge  des  Opfers  ist,  daß  der  Gott  den  Opferer 
vor  andern  beachtet.  An  sich  denkbar  freilich  auch:  daß  dem 
Verehrer   rasches,   andern   zuvorkommendes  Denken  zuteil   werde. 

Die  Verwendung  von  pürväcitti-  als  Name  einer  Apsaras, 
ferner  das  Erscheinen  des  Worts  in  einer  Variante  zu  Vs.  XX VII,  4 
(vgl.  Whitney-Lanman  zu  Av.  VII,  82,  3)  ist  für  uns  bedeutungslos. 


Die  älteste  lateinische  Fassung  der  Placidas- 
Eustasius-Legende. 

Von 

Wilhelm  Meyer  aus  Speyer 

Professor  in  Göttingen. 

Vorgelegt  in  der  Sitzung  vom  11.  November  1916. 

Bei  meinen  Stadien  zu  der  Arbeit  'der  Rythmus  über  den  h. 
Placidas-Eustasius'  (in  diesen  Nachrichten  1915  S.  226 — 288)  wurde 
meine  Aufmerksamkeit  auf  einen  fast  unbekannten  lateinischen 
Text  dieser  Legende  gelenkt.  Ich  habe  diesen  lateinischen  Text 
als  die  älteste  Fassung  dieser  Legende  erklärt  (bes.  S.  233),  die 
etwa  im  5./6.  Jahrhundert  entstanden  sei,  und  habe  ihn  mit  Be- 
nützung von  6  Hften  herausgegeben  (S.  269 — 287).  Den  in  den 
Acta  Sanctorum  Bolland.  Sept.  VI  (1757)  p.  123  herausgegebenen 
griechischen  Text  samt  seinem  lateinischen  Zwülingstext  habe  ich 
als  eine  spätere  Umarbeitung  mit  theilweise  geschmacklosen  Zu- 
sätzen erklärt  (bes.  S.  233  und  227). 

Wilhelm  B  o  u  s  s  e  t  hat  sich  ebenfalls  mit  der  Placidas  -  Le- 
gende beschäftigt  und  hat  das  Ergebniß  seiner  Untersuchungen 
unter  dem  Titel  'Die  Geschichte  eines  Wiedererkennungsmärchens' 
in  diesem  Bande  oben  S.  469 — 551  veröffentlicht.  S.  472  be- 
merkt er :  'Daß  derartige  folkloristische  Untersuchungen  selbst 
für  minutiöse  Fragen  der  Textüberlieferung  der  einzelnen  Quelle 
einigen  Gewinn  abwerfen,  möchte  ich  mit  dem  Abschnitt  VIII, 
einem  Beitrag  über  das  Verhältniß  der  griechischen  und  der  latei- 
nischen Überlieferung  des  Textes  der  Placidas  -  Legende ,  zeigen'. 
Also  sehen  wir  zu,  was  der  Folklorist  den  Philologen  lehrt  I 

In  seinem  VIII.  Abschnitt  will  Bousset  beweisen,  daß  der  von 
mir  edirte   lateinische  Text  nicht,    wie  ich  (S.  233  und  269)  sagte, 


746  Wilhelm  Meyer, 

die  älteste  und  vielleicht  ursprüngliche  Fassung  dieser  Legende 
gibt,  sondern  daß  dieser  Text»  vielfach  gekürzt  sei ,  daß  dagegen 
der  griechischen  Fassung  vielfach  die  Priorität  zuzusprechen  sei ; 
er  will  warnen  vor  meiner  'Annahme  (S.  233),  daß  eine  Reihe  von 
Grebeten  und  ähnlichen  Ausführungen  im  griechischen  Text  nur 
rhetorischer  Aufputz  des  griechischen  Bearbeiters  seien',  und  schließt 
mit  dem  Satze:  'Es  mögen  Grriech.  und  Lat.  zwei  Zeugen  eines 
gemeinsamen  Archetypus  repräsentiren :  aber  ich  glaube  doch,  daß 
Griech.  diesem  näher  steht  als  Lat.'. 

Als  Herausgeber  und  Lobredner  der  älteren  lateinischen  Fas- 
sung, die  ich  auch  hier  mit  I  bezeichne,  bin  ich  zu  deren  Verthei- 
digung  berechtigt  und  verpflichtet,  um  so  mehr  als  ich  die  An- 
klagen Boussets  alle  für  unberechtigt  oder  falsch  halte. 

In  meiner  Ausgabe  des  Textes  habe  ich  6  Handschriften  be- 
nützt. Ich  werde  später  (im  II.  Abschnitt)  von  einer  siebenten 
handeln.  Es  ist  die  münchner  Hft  Clm  4585,  die  im  9.  Jhdt  ge- 
schrieben ist  und  aus  Benedictbeuern  stammt. 

Zunächst  wird  es  nützlich  sein,  die  hier  gegebenen  Grund- 
lagen der  handschriftlichen  Kritik  zu  erörtern.  Ich  meine,  daß 
die  I.  Fassung  der  Legende ,  die  ich  edirte,  im  5./6.  Jhdt  verfaßt 
ist;  aber  meine  Handschriften  beginnen  erst  mit  dem  9.  Jahrhun- 
dert. Im  6./9.  Jahrhundert  wurden  die  Hften  oft  sehr  nachlässig 
abgeschrieben,  worüber  schon  Karl  d.  Gr.  geklagt  hat.  Es  ist 
also  kein  Wunder,  wenn  in  diesen  Jahrhunderten  unser  lateinischer 
Text  durch  Abschreibefehler  entstellt  wurde.  Aber  schon  vor 
700  ist  dieser  lateinische  Text  von  dem  Griechen  theils  übersetzt 
theils  umgearbeitet  worden:  an  wörtlich  übersetzten  Stellen  ver- 
tritt also  der  griechische  Text  eine  lateinische  Abschrift,  welche 
um  Jahrhunderte  vor  meinen  lateinischen  Handschriften  liegt, 
welche  also  sehr  zu  beachten  ist. 

Bousset  no  9  (S.  546)  Des  Kaisers  Boten  suchen  lange  nach 
Placidas,  der  versteckt  bleiben  will;  endlich  entdecken  sie  ihn. 
Da  geben  5  Hften  von  I  den  Text:  §  20  Quo  dicto  haec  omnia 
nota  facta  sunt  in  his  locis  ex  eo  vel  de  iussione  imperiali.  Tunc 
perduxerunt  .  .  eum  ad  imperatorem ;  2  andere  Hften  helfen  sich 
durch  starke  Änderungen.  'Quo  dicto'  ist  aus  anderem  Grunde 
verdächtig,  'ex  eo  vel'  ist  sinnlos.  Ich  habe  also  im  Druck  vor 
Quo  und  vor  ex  ein  Kreuz  f  gesetzt  und  bemerkt:  'Das  sind  die 
verderbten  Reste  eines  Satzes,  den  die  II.  Fassung  erhalten  hat: 
.  .  Töte  ol  otpatKüTai  lve(paviaav  aätcp  zb  TrpöataYita  toö  ßaotX^w?  .  .  .'. 
Diese  meine  Worte  citirt  Bousset  und  schließt:  'Aber  ist  nicht 
damit  das  Zugeständniß  gegeben,   daß  L.  (=  I)  den  ursprünglichen 


die  älteste  lateinische  Fassung  der  Placidas-Eustasius-Legende.         747 

Text  —  hier  bis  zur  Unverständlichkeit  —  gekürzt  habe?'  Ich 
darf  antworten:  Nein,  von  dem  "wirklichen  und  ursprünglichen 
Text  meiner  Fassung  ist  hier  nicht  die  ßede,  sondern  nur  von 
einem  Irrtum  oder  einer  Dummheit,  die  ein  späterer  Abschreiber  be- 
gangen hat.  Für  einen  Idioten  kann  doch  selbst  Boasset  den  Ver- 
fasser der  I.  Recension  nicht  halten.  Wenn  Jemand  durch  einen 
glücklichen  Einfall  oder  durch  eine  besondere  Hft  den  richtigen 
Text  meiner  Fassung  wieder  hergestellt  bat,  dann  kann  über  ihr 
Verhältnis  zum  griechischen  Text  disputirt  werden;  aber  jetzt 
noch  nicht  ^). 

Bousset  no  16  (S.  549)  Eine  seltsame  Anklageinstanz !  Unter 
meinen  7  Handschriften  kostete  mich  die  Beurtheilung  des  Casi- 
nensis  aus  dem  Ende  des  11.  Jhdts  die  meiste  Mühe  (S.  270/1). 
Endlich  erkannte  ich,  daß,  als  man  in  Montecassino  sich  daran 
machte  diese  Prachthandschrift  zu  schreiben ,  ein  Gelehrter  den 
Text  der  Placidas-Legende  überging  und  anstößige  Ecken  glättete, 
meistens  dadurch,  daß  er  die  anstößigen  Wörter  wegließ.  Gegen 
diese  Ansicht  hat  Bousset  nichts  eingewendet.  Der  weitaus 
stärkste  Fall  liegt  nun  vor  in  dem  Schlußgebet  der  Märtyrer.  Da 
hat  der  Redactor  volle  9  Zeilen  weggelassen,  deren  Inhalt  nicht 
unentbehrlich  ist.  Sonst  überall  sind  diese  9  Zeilen  erhalten ;  ver- 
arbeitet sind  sie  auch  von  dem  griechischen  TJmarbeiter :  also  ge- 
hörten sie  sicher  zur  I.  Fassung.  Bousset  erwähnt  diesen  Fall 
mit  den  Worten:  'Darf  man  nicht  urteilen,  daß  dieser  Zeuge  uns 
hier  einmal  ein  Beispiel  bietet,  wie  im  lateinischen  Zweig  der 
Überlieferung  fortwährend  gekürzt  ist?'.  Also  weil  ein  geübter 
stilistischer  Redactor  bei  einer  Abschrift  am  Ende  des  11.  Jhdts 
gewagt  hat,  9  entbehrliche  Zeilen  wegzulassen,  soll  wahrscheinlich 
werden,  daß  auch  ein  durch  6  Handschriften  des  9./11.  Jhdts  über- 
lieferter Text  f&rttcährend  gekürzt  ist.     Das  verstehe  ich  nicht  \ 

Doch  prüfen  wir  die  einzelnen  Anklagen ,  die  Bousset  gegen 
die  von  mir  gelobte  und  edirte  lateinische  Fassung  der  Placidas- 
Legende  erhoben  hat.  Einige  dieser  Anklagen  sind  mir  überhaupt 
nicht  verständlich.     So: 


1)  So  ist  aus  dem  häufig  gebrauchten  Fremdworte  nauclerus  in  6  Hften 
nauclerius  geworden:  auch  ein  Fehler,  der  durch  einen  Abschreiber  herein  ge- 
kommen ist  und  nicht  dem  Verfasser  von  I  zur  Last  gelegt  werden  kann. 

2)  Bousset  knüpft  hieran  die  erwähnte  Warnung  vor  meiner  Behauptung, 
daß  der  griechische  Text  rhetorisch  erweitert  und  aufgeputzt  sei  (darüber  später 
mehr) ;  er  möge  nur  die  2.  griechische  Ausarbeitung  —  in  Analecta  Boll.  III  65  — 
mit  der  1.,  dem  Text  der  Acta  Sanctorum  vergleichen.  Dann  notirt  er  aus 
Bolland  Kap.  4  und  7  die  rhetorische,  viermalige  Anaphora  mit  iyw,  dann  mit  vüv. 


748  Wilhelm  Meyer, 

Bousset  no  4  (S.  546).  Placidas  kommt  nach  Hause  und  er- 
zählt die  wunderbare  Erscheijiung  Christi  'mulieri  vel  filiis  suis', 
wie  mein  Text  §  5  sagt;  dagegen  sagt  der  griechische  Text  Kap.  5 
nur:  T^pSato  SnrjYela'8-ai  i^l  Yi^vacxl  aoToö  la  (ASYdXa  ■ö-aDfi.äoia  toö  Xptaioö. 
Bousset  erhebt  nun  die  Anklage :  'Lat.  §  5  fügt  noch  vel  filiis  suis 
hinzu.  Griech.  hat  den  Zusatz  nicht,  und  schwerlich  ist  der  Er- 
zähler der  Legende  so  ungeschickt  gewesen,  daß  er  annahm,  der 
Vater  habe  bei  der  Besprechung  mit  seiner  Gattin  seine  im  zar- 
testen Alter  befindlichen  Kinder  hinzugezogen'.  Doch  Lat.  ist 
noch  schuldiger  als  Bousset  sagt.  Denn  4  Zeilen  vor  dieser  Stelle 
bittet  Placidas  Christum,  die  Begebenheit  zu  Hause  berichten  zu 
dürfen,  mit  den  Worten  §  4 :  Si  vis ,  domine,  indicabo  haec  filiis 
meis  vel  matri  eorum.  Also  dieselbe  Ungeschicklichkeit,  welche 
freilich  dies  Mal  nicht  eine  'Kürzung'  ist,  hat  Lat.  zwei  Mal  be- 
gangen. —  Aber  o  Schrecken!,  da  steht  ja  auch  bei  Bolland,  bei 
Combefis,  in  Budge's  aethiopischer  Übersetzung  und  im  lateinischen 
Zwillingstext :  KsXsösig,  a.Tza'^^BiXifi  Tauta  x^  Yovajixi  [ioo  xal  toig  ts- 
xvot?  |i.0D.  Also  müssen  wir  doch  wohl  die  lateinische  I.  Fassung 
von  dieser  Anklage  freisprechen  und  die  griechische  verurtheilen,, 
welche  in  der  zweiten  Stelle  xai  toI<z  xiv.wiq  {xoo   weggelassen  hat. 

Mit  Bousset's  'zartestem  Alter  der  Kinder'  ist  es  übrigens 
eine  heikle  Sache.  Später  (§  20  und  Kap.  15)  werden  Beide,  ein 
älterer  und  ein  jüngerer ,  zum  Militärdienst  bei  Placidas  einge- 
zogen und  rasch  zu  Centuriones  oder  maaizioi  des  Placidas  er- 
hoben. Das  ist  15,  höchstens  16  Jahre  (§  15,  Kap.  11)  nach  der 
Erscheinung  des  wunderbaren  Hirsches.  Ich  habe  auch  (S.  234) 
notirt,  daß  mein  Text  die  Kinder  mit  filii  (nach  Umständen  mit 
iuvenes  und  §  13  mit  pueri)  bezeichnet,  dagegen  der  Griechische 
neben  olol  oft  mit  t^xva  Ttcädeq  TcatSia  VTjTtia.  So  können  wir  auch 
wieder  die  Gedankenlosigkeit  des  griechischen  Umarbeiters  in 
einem  andern  Fall  erkennen.  Placidas  zieht  mit  den  Kindern 
von  Hause  zum  Meer  und  von  der  Meeresküste  bis  an  den  Fluß. 
Da  stehen  in  meinem  Texte  immer  indifferente  Ausdrücke ;  zuletzt 
§23:  'ibat  pater  meus  nobiscum  cum  fletu'.  Auch  im  griechischen 
Text  stehen  indiff'erente  Ausdrücke;  nur  zuletzt  vergißt  er  sich 
und  erzählt  Kap.  17:  6  ;catYjp  T|[jlü)v  ßaatdoa?  ij^äz  toix;  Soo,  65opö- 
|iovo<;  iTCopeueto  (pater  noster  portans  nos  duos,  flens  pergebat). 
Ein  schönes  Bild !  fast  wie  jenes ,  wegen  dessen  ich  einst  Scheffel 
verspotten  mußte,  der  dem  Dichter  des  Waltharius  zutraute,  daß 
er  seinen  Helden  aus  dem  Hunnenlande  fliehen  ließ,  indem  auf 
öinem  Rosse  vorn  der  gepanzerte  Recke  und  hinter  ihm  Hiltgunt 
saß  und  2  schwere  Schreine  an  den  Seiten  hingen. 


die  älteste  lateinische  Fassung  der  Placidas-Eustasios-Legende.  749 

Bousset's  Anklage  no  8  (S.  546)  lautet :  'Das  Motiv  im  Griech., 
daß  der  Schiffsherr  wegen  der  großen  Schönheit  der  Frau  in  Liebe 
zu  ihi'  entbrennt,  läßt  Lat.  ganz  fort;  es  ist  aber  im  Zusammen- 
hang beinahe  unentbehrlich".  Diese  Anklage  verstehe  ich  nicht. 
Allerdings  sagt  der  paraphrasirende  Grieche  Kap.  9 :  O-saadjtsvo?, 
0«  o>paia  "^v  -qj  St{)£'.,  o^öopa  r^p6L0^^  aöi^?.  Allein,  wenn  der  schlichte 
Lateiner  sagt  §  9 :  quia  concupierat  mulierem,  'weil  er  des  Weibes 
begehrte',  wer  versteht  das  nicht  ?  Verlangt  Bousset  wirklich  den 
Zusatz :  propter  pulchritudinem  eins,  während  doch  Moses  sich  be- 
gnügt Deuteron.  V  21  mit  'non  concupisces  mulierem  proximi  tui' 
oder  Matthaeus  mit  V  28  'qui  viderit  mulierem  ad  concupiscendum 
eam,  iam  moechatus  est  eam '? ;  oder  hat  Bousset  den  Satz  von  I  gar 
nicht  gelesen? 

Weiterhin  verwendet  Bousset  etliche  fast  gleichgiltigen  Dinge 
zu  seinen  Anklagen  gegen  die  lateinische  Fassung. 

So  lautet  HO  3  (S.  545) :  'Lat.  charakterisirt  im  Anfang  nach 
dem  besseren  Text  den  Placidas  mit  den  Worten :  natus  secundum 
carnem  gloriosissimus ;  die  Casinenser  Handschrift  (über  ihr  Ver- 
hältniß  zu  den  übrigen  s.  Meyer  270  f.)  ersetzt  den  ungefügen 
Text  durch  einfaches :  nobilissimus.  Sollte  in  Lat.  nicht  eine  un- 
geschickte Übersetzung  von  Griech. :  y^voo?  rjü  xata  aapxa  vorliegen?' 
Vom  Cassiiiensis  habe  ich  ja  behauptet,  daß  er  in  solchen  Fällen 
werthlos  ist,  und  dieser  Fall  ist  ein  guter  Beweis  dafür.  Ich  ließ 
drucken:  natu?,  'secundum  carnem'  ist  in  der  Vulgata  des  N.  T. 
ein  beliebter  Ausdruck.  Was  wendet  Bousset  ein.  wenn  ich  sage : 
'natu  secundum  carnem  gloriosissimus'  ist  ursprünglich,  ^svoo?  toö 
Y.OLZOL  aapxa  IvSö^oo  ist  fast  wörtliche  Übersetzung? 

Bousset's  Anklage  no  5  (S.  546)  lautet:  Sollte  der  Grieche 
zu  Lat  §  6  den  Namen  der  Frau  vor  der  Taufe  Tartavifj  aus  freier 
Erfindung  hinzugefügt  haben?  Warum  erfand  er  dann  nicht  auch 
Namen  für  die  Söhne?  Diese  Fragen  mag  Bousset  sich  selbst 
beantworten,  wenn  er  sich  zuerst  über  ihre  Berechtigung  verge- 
wissert hat.  TaxiavT]  stand  nur  in  der  Handschrift  BoUands;  die 
übrigen  Zeugen  des  griechischen  Textes,  die  Ausgabe  Combefis. 
die  aethiopische  Übersetzung  und  der  lateinische  Zwillingstext, 
lassen  diesen  Namen  glatt  aus.  Mein  lateinischer  Text  ist  tadellos. 

Kap.  11  Ende  ist  der  Name  des  Dorfes  in  der  griech.  Umarbei- 
tung wenigstens  sicher ;  xaxsXaßs  Ttva  xw^ir^v,  xaXouiisvTjv  (X£yo{16vtqv) 
BaSioaöv  haben  Bolland  und  Combefis,  vicum  qui  dicebatur  Badyssus 
hat  der  lateinische  Zwillingstext  (Dadyssus  Stahlo)  und  Budge 
übersetzt :  village  ,  which  was  called  Bassos.  Mein  lat.  Text  sagt 
nur  §  15  veniens  in  quendam  locum. 


750  Wilhelm  Meyer, 

No  10  (S.  546)  sagt  Bousset:  'Daß  der  Vater  seine  Söhne, 
bevor  er  sie  wiedererkennt,  nach  Grriech.  Kap.  16  zu  Tischgenossen 
macht ,  während  sie  nach  Lat.  §  20  Centurionen  werden,  dürfte 
das  Ursprüngliche  sein.  In  mehreren  der  (orientalischen)  Neben- 
überlieferungen erscheinen  die  beiden  Kinder  als  Pagen  und  Ver- 
traute des  Königs.  Lat.  hat  die  Erzählung  dem  Milieu  entspre- 
chend umgestaltet  und  wahrscheinlicher  gemacht'.  Die  beiden 
neuen  Soldaten  sind  prächtige  Männer ;  so  ist  mein  lateinischer 
Text  tadellos,  was  Bousset  nicht  bestreitet :  §  20  placuerunt  Eu- 
stasio  .  .  et  fecit  eos  centuriones.  Dem  griechischen  Umarbeiter 
war  das  nicht  pikant  genug.  Er  appellirt  (Kap.  15)  an  die  ge- 
heime Stimme  der  Natur :  xatsoTirjasv  autou?  elg  tyjv  ISiav  DTrirjpsoiav 
%al  .  .  ^oo'.x^  xtvi  ^tXoatopYtq.  £XxÖ[J,£VO?  Trpö?  Tcöd'ov  autcöv  (naturali 
affectu  impulsus  in  amorem  eorum)  IxeXsoosv  aotoo?  {xsts/eiv  tt^c 
TpaTT^Cvj?  aatoö,  aovsaTioo?  aoioö?  xaTaatT^aa?.  Aber  Bousset  beruft 
sich  auf  die  'Pagen  und  Vertrauten  des  Königs'  in  den  Neben- 
überlieferungen. In  den  Fassungen  der  orientalischen  Parallel- 
Er Zählungen  treten  (bei  Bousset  S.  480—491)  die  Söhne  auf  bei 
einem  König  als:  S.  480  Pagen,  481  Trabanten,  482  und  487 
Diener,  488  und  489  Kadi  (491  ist  unklar).  Damit  vertragen  die 
Centurionen  eines  Feldherrn  sich  ebenso  gut  wie  die  heimlich  ge- 
liebten Tischgenossen  im  griechischen  Text,  —  wenn  nämlich  diese 
orientalische  Parallelerzählung  überhaupt  etwas  beweist,  was  nach- 
her noch  zu  erörtern  sein  wird.  Auffallend  ist,  daß  in  der  griech. 
Fassung  die  Stimme  der  Natur  sich  bei  der  Mutter  nicht  regtj 
sie  muß  erst  die  Erzählung  der  Jünglinge  hören. 

Bousset's  Anklage  iio  13  (S.  547)  lautet:  'Der  Ort,  an  welchem 
der  Anagnorismos  stattfindet,  liegt  nach  Griech.  am  Fluß  Hy- 
daspes,  nach  Lat.  kommt  der  Feldherr  zur  Donau.  Meyer  sieht 
hier  eine  Änderung  der  IL  Fassung.  Aber  wie  sollte  selbst  ein 
griechischer  Redaktor  auf  den  Einfall  gekommen  sein,  den  indi- 
schen Hydaspes-Fluß  in  die  Erzählung  hineinzubringen,  wenn  ur- 
sprünglich der  bekannte  Donaufluß  in  der  Legende  genannt  war?! . 
"Wir  werden  doch  besser  thun,  wenn  wir  den  Hydaspes  der  ur- 
sprünglichen Legende  belassen,  und  in  dieser  Notiz  eine  Andeu- 
tung auf  den  orientalischen  Ursprung  ihrer  Anagnorismen-Novelle 
vermuten'. 

Den  Hydaspes  rechnet  z.  B.  Darius  bei  Curtius  zu  den  muni- 
menta  seines  Reiches.  Dann  füge  ich  hinzu,  daß  im  Griech.  Text 
Kap.  9  eingesetzt  ist  ein  großes  Siegesfest  über  die  Perser.  Die 
Angaben  sind  vag  und  flüchtig,  passen  aber  in  jeder  der  beiden 
Fassungen.    Im  5.  und  6.  Jahrhundert  drangen  oft  feindliche  Völker 


die  älteste  lateinische  Fassung  der  Placidas-Eustasius-Legende.         751 

über  die  Donau  in  das  römische  Reich;  im  6.  und  7.  Jahrhundert 
wurde  Ostrom,  wie  zur  Zeit  des  Heraklius,  oft  von  Parthem  und 
Persern  hart  bedrängt. 

Bousset's  Anklage  no  15  lese  man  bei  ihm  selbst  nach.  Sie 
beginnt:  'Nachdem  die  Mutter  die  Wiedererkennungsscene  der 
beiden  Brüder  belauscht  hat,  geht  sie  nach  Lat.  sofort  (cito)  zum 
Feldherrn,  nach  Griech.  erst  am  folgenden  Tage.  Ich  glaube,  daß 
Lat.  auch  hier  sekundär  ist'.  Boosset  schließt:  'Damit,  daß  zwischen 
der  ersten  Wiedererkennungsscene  und  dem  abschließenden  Ana- 
gnorismos  eine  längere  Frist  verstreicht,  stimmt  Grriech.  mit  einer 
Reihe  der  übrigen  Parallelen  überein'. 

Die  nächste  Frage  ist ,  weshalb  die  Frau  zu  dem  Feldherrn 
geht.  I.  Lat.  sagt  §  25  ad  interpellandum  pro  se  principem  exer- 
citus  Romani  eo  quod  ibidem  captiva  detineretur ;  der  griech.  Text 
sagt  ähnlich:  Asojjiai  ooo,  xöpie  [too,  e'/w  ex  "f^i;  Pcüji-aicov  orapyo) 
'/.ai  al^iiäXcoTÖ?  It{j.t  ivtaüda"  a^a^fi  {jls  ouv  =1?  ttjv  zaipiSa  jtoo.  Die 
Frau  vermutet,  daß  die  beiden  Krieger  ihre  Söhne  sind;  allein 
es  scheint  eine  verwickelte  Sache  zu  sein,  das  festzustellen.  Zu- 
erst will  sie  also  feststellen  lassen ,  daß  sie  ihre  Mutter  sein 
kann ,  daß  sie  nicht  eine  eingeborne  Bäuerin  ist ,  sondern  eine 
Römerin  und  wider  ihren  Willen  hierher  gebracht ;  das  zu  consta- 
tiren,  war  vor  Allen  der  römische  Feldherr  berufen.  Das  ist  ver- 
ständlich. Ebenso  verständlich  ist,  daß  die  Frau  in  der  Aufre- 
gung, ob  sie  wirklich  ihre  Söhne  wiedergefunden  habe,  sofort  (cito) 
zum  Feldherrn  eilt ,  wie  I  Lat.  angibt.  Der  Grieche  schildert 
mit  vielen  Worten  die  verschiedenen  Erwägungen,  die  dem  Weibe 
durch  den  Kopf  gingen,  und  schließt :  rg  5§  i-io6o-{]  i^ftspa  Trpoa-^Xd'Sv 
t({)  atpatTjYq)  7]  TOVT]  Xsfoooa.  Außer  der  Lust  zu  dieser  Gedanken- 
malerei kann  den  Griechen  zu  dieser  Änderung  noch  bestimmt 
haben,  daß  er  das  Gespräch  der  Söhne  in  die  Siesta  verlegt  hatte 
und  nach  der  Sitte  der  Südländer,  welche  Geschäfte  des  Morgens 
abmachten,  auch  diesen  feierlichen  Besuch  auf  den  nächsten  Morgen 
verschob.  Doch  das  hat  mit  der  Richtigkeit  meiner  lateinischen 
Fassung  nichts  zu  thun. 

Unter  no  14  (S.  548)  bespricht  Bousset  den  Bericht  über  das 
Unglück  beim  Flußübergang;  er  wirft  auch  hier  meiner  lateini- 
schen Fassung  vor,  sie  sei  gekürzt  und  habe  kleine  Züge  wegge- 
lassen, welche  der  griechische  Text  bewahrt  habe  und  welche 
auch  IQ  ihrer  Vorlage  gestanden  haben  müßten.  Bousset's  Worte 
kann  ich  nicht  alle  hierher  setzen ,  nur  auf  sie  verweisen.  Ich 
begnüge  mich,  die  Tatsachen  anzuführen.  Busset  hätte  I  Lat. 
§  11  und  13  mit  II  Griech.  Kap.  10  (11)  und  I  Lat.  §  23  und  24 


752  Wilhelm  Meyer, 

mit  II  Griech.  Kap.  17  vergleichen  sollen^);  nur  in  der  letztern 
Partie  beider  Fassungen  wird  ein  Unterschied  gemacht  zwischen 
dem  älteren  und  jüngeren  Bruder.  Da  ergibt  sich  folgender  Ver- 
lauf: Placidas  trägt  den  einen  Sohn,  der  jünger,  also  auch  schwächer 
war,  zuerst  über  den  Strom;  dann  kehrt  er  zurück,  um  den  äl- 
teren nachzubringen.  Da,  mitten  im  Strom,  sieht  er  vorwärts 
blickend,  wie  am  Ufer  diesen  älteren  Sohn  eben  ein  Löwe  packt  und 
fort  trägt.  Er  kann  nicht  helfen.  Also  dreht  er  sich  um,  um  zu 
dem  schon  übergesetzten  Jüngern  Sohn  zurückzukehren;  doch  er 
muß  sehen,  wie  am  Ufer  ein  Wolf  diesen  Sohn  fortreißt.  Dies 
berichtet  deutlich  I  Lat.  in  §  11  und  13,  und  in  §  23/24.  Eine 
kleine  Nachlässigkeit  liegt  nur  in  §  13  vor,  wo  von  dem  geretteten 
älteren  gesagt  wird,  er  sei  bei  den  Hirten  aufgewachsen,  ignorans 
quid  actum  esset  de  patre  eins.  Ganz  genau  müßte  es  heißen: 
quid  actum  esset  de  patre  <vel  fratre),  was  die  Hft  S  wirklich 
hat.  So  heißt  es  2  Zeilen  weiter  von  dem  jüngeren,  er  sei  bei 
den  Pflügern  aufgewachsen;  ignorante  puero,  quid  actum  sit  de 
patre  vel  fratre.    Im  Text  I  Lat.  ist  sonst  Alles  in  Ordnung. 

Diese  einfachen  Thatsachen  berichtet  auch  der  Text  II  Grie- 
chisch. Aber  in  dem  lateinischen  Zwillingstext  bei  Bolland  Kap. 
17  (=  Stablo)  steht  im  Bericht  des  älteren  Sohns  der  Zusatz  [lu- 
pus  veniens  rapuit  illum  minorem  fratrem  meum  (illum  infantem 
hat  St  Mo)  et  antequam  (pater)  ad  me  apropinquaret].  Dieser  Satz 
fehlt  durchaus  in  Bolland's  griechischem  Text,  bei  Combefis  und 
in  der  aethiopischen  Übersetzung.  Er  ist  auch  eine  grobe  Fäl- 
schung; denn  der  ältere  Sohn  war  schon  vom  Löwen  fortgetragen, 
als  der  jüngere  von  dem  Wolf  gepackt  wurde;  Bousset  irrt,  in- 
dem er  damit  den  griechischön  Text  ergänzen  will. 

Aber  der  umarbeitende  Grieche  will  den  Satz  durchführen, 
daß  die  Hirten  und  die  pflügenden  Bauern,  welche  die  Jungen  den 
wilden  Thieren  abjagten,  aus  einem  und  demselben  Dorfe 
stammten,  daß  also  auch  beide  Jungen  in  demselben  Dorfe  auf- 
wuchsen. Das  ist  ganz  deutlich  aus  Kap,  11  (Anfang),  12  (An- 
fang) und  Kap.  15  des  griechischen  Textes, 

Diese  Änderung  ist  freilich  recht  ungeschickt.  Denn  wenn 
die  2  Jungen  in  demselben  Dorfe  aufwuchsen,  wo  sie  sich  oft  sahen 
und  wo  ihre  wunderbare  Rettung  oft  besprochen  wurde,  so  mußte 
die  Erkennungsscene ,  welche  nach  Lat.  22 — 24  und  Griech.  Kap. 
16/17  sich  erst  im  gemeinsamen  Kriegsleben  abspielte,   sich  schon 


1)  Es  scheint  beinahe,  als  habe  Bousset  Lat.  §  23/24  übersehen. 


die  älteste  lateinische  Fassung  der  Placidas-Eostasios-Legende.         753 

längst  vorher  abgespielt  haben.  Um  die  Leser  von  solchen  nahe- 
liegenden Gedanken  abzuhalten ,  schiebt  der  griech.  Umarbeiter 
Kap.  12  (Anfang)  den  Satz  ein:  Ol  6s  oloi  ivstpdfpTjaav  =v  rg  sxspa 
y.ü>[j,TQ,  pLYj  irifvövTs?  aXXTfiXoo?,  ozi  slalv  aSsX^o».  Daß  die  Hirten  und 
Ackerbauern  nicht  weit  von  einander  wohnten,  war  ja  natürlich. 
Deßhalb  war  es  für  den  Verfasser  der  Erzählung  am  besten,  diese 
heikle  Sache  nicht  zu  berühren.  Das  hat  der  Verfasser  der  I  Lat. 
Fassung  gethan. 

Der  griechische  Umarbeiter  hat  aber  einmal  die  Marotte,  daß 
die  beiden  Jungen  in  dem  nemlichen  Dorfs  aufwachsen  sollen.  Ja, 
er  hat  deßhalb  wiederum  einen  seiner  würdigen  Zusatz  gemacht. 
Die  beiden  Knaben  waren  ja  bei  dem  Raube  durch  den  ziemlich 
tiefen  Fluß  getrennt.  Doch  der  griech.  Umarbeiter  bringt  sie  auf 
ein  Ufer  zusammen  (ßousset  474) ,  indem  er  Kap.  10  nach  dem 
Bericht  von  dem  verzweifelnden  Placidas  weiter  fährt:  6  6s  X^wv 
Xaßwv  TÖ  ;:a'.5'!ov  xal  Sia^oXd4a(;  xatd  iipövo'.av  O'soö  6'.2~spaac  xöv  zo- 
Ta{iöy  dv(üt^po>  xal  iTcopsosto  Iri  rfjv  lp-»]{iov.  Das  haben  BoUand  und 
Combefis;  auch  die  2.  griechische  Umarbeitung  (Acta  Boil.  III  81 
6  Xetöv  .  .  Tov  TcorafjLÖv  ävwrspo?  ^laßa?  rr^v  ez'  spTrjfiov  f^st);  in  der 
abessinischen  Übersetzung  ist  der  Löwe  ausgefallen  und  es  wird 
von  Placidas  weiter  erzählt:  Therefore  he  (Placidas)  did  not  do 
this  (i.  e.  drown  himself),  but  he  swam  across  the  river  in  order 
to  depart  into  the  desert.     And  when  certain  shepherds  .  .  . 

So  ist  auch  hier  mein  lateinischer  Text  natürlich  und  vollständig. 
Was  der  griechische  mehr  hat,  ist  ein  bedenklicher  Zusatz  und 
eine  läppische  Motivirung. 

Unter  den  no  11  und  no  13  bespricht  Bousset  (S.  547)  zu- 
nächst die  Stellung  der  Mutter  in  ihrem  Aufenthaltsort  und  schließt : 
'Wie  unklar  ist  hier  die  Erzählung  im  Lat.!  Und  die  ganze  Un- 
klarheit rührt  daher,  daß  Lat.  durch  die  Kürzung  in  §  16  keine 
klare  Vorstellung  von  der  Art  und  Weise  gibt,  in  der  die  Mutter 
an  dem  betreffenden  Orte  wohnt'.  Dann  wird  in  uo  12  mein  la- 
teinischer Text  also  verurtheilt :  'Überhaupt  ist  die  ganze  Wieder- 
erkennungsscene  zwischen  der  Mutter  und  den  beiden  Söhnen  im 
lateinischen  Text  bis  zur  vollkommenen  Unverständlichkeit  gekürzt. 
Im  Grriechischen  ist  alles  deutlich  und  klar'. 

Mir  scheint  der  lateinische  Text  schlicht,  aber  durchaus  ver- 
ständlich und  verständig.  Der  griechische  ist  auch  verständlich, 
aber,  wie  so  oft,  aufgeputzt  mit  unnöthigen,  ja  störenden  Lappen. 
Leider  kann  ich  hier  längere  Citate  nicht  vermeiden. 

Vom  Schicksal  der  geraubten  Frau  berichtet  I  Lat.  §  16: 
Nanclerus  perduxit  mulierem  in  patriam  suam ;  sed  talem  fecit  do- 


.   754  Wilhelm  Meyer, 

minus  deus  virtutem  cum  ea,  ut  non  praevaleret  nauclerus  violare 
eam.  Deinde  contigit,  quod  in  brevi  tempore  nauclerus  mortuus 
est  et  mulier  absoluta  est  ad  faciendum,  quod  illi  placeret. 

Placidas  kommt  beim  Vormarsch  in  das  Feindesland  (§  21)  in 
vicum,  qui  se  tradidit  ei,  ne  cum  pereuntibus  damnaretur.  (§  22) 
Et  erat  in  ipso  loco  (=  Iv  T(j)  auTcö  zoizip)  mulier  eins  adsistens  ad 
fenestram  tabernaculi,  ut  videret  exercitum  applicantem  (=  adve- 
nieniem).  Et  ecce  illi  duo  iuvenes,  qui  erant  centuriones,  ingressi 
sunt  in  quendam  hortum,  qui  erat  iuxta  tabernaculum,  .in  quo  as- 
sistebat  mulier,  quae  per  fenestram  intuebatur  eos  .  .  (§  23)  Dum 
ibidem  recordarentur  de  infantia  sua  ad  invicem  .  . ,  mulier  mater 
eorum  adsistens  ad  fenestram  tabernaculi  valde  mirabatur,  si  ipsi 
essent  vel  si  viverent  filii  eins.  (§  26  sagt  sie:  audivi  et  vidi 
duos  iuvenes  loquentes). 

Diese  Sätze  interpretire  ich  so :  Der  Kapitän  behandelt  die 
Geraubte  wie  seine  Frau ,  nicht  wie  eine  niedrige  Sklavin.  Er 
kommt  nicht  dazu,  seine  Fleischeslust  zu  befriedigen,  und  stirbt 
bald.  Die  Frau  ist  jetzt  selbständig,  (bleibt  aber  in  dem  Dorf- 
hause des  Kapitäns ,  als  Eigenthümerin  oder  Verwalterin ,  ganz 
wie  bisher.)  Das  Haus  lag  an  der  Straße  und  hatte  nach  dieser 
ein  Fenster.  Vor  dem  Fenster  lag  bis  zur  Straße  ein  Garten 
(hortum  qui  erat  iuxta  tabernaculum,  nicht:  in  quo  erat  taberna- 
culum ;  also  war  das  Haus  die  Hauptsache,  nicht  der  Garten).  Wie 
das  römische  Heer  einmarschirt ,  stellt  die  Frau  sich  an  das 
Straßenfenster ,  um  zuzusehen.  (Die  Reihen  lösen  sich  auf  und) 
die  2  flauptleute  treten  in  den  Vorgarten.  (Sie  setzen  oder  legen 
sich  vor  das  Fenster)  und  beginnen  zu  plaudern.  Hinter  dem 
Fenster  hört  die  Frau  zu. 

Meine  Interpretation  hält  sich  streng  an  den  lateinischen 
Text.  Was  ist  hier  'unklar  bis  zur  vollkommenen  TJnverständ- 
lichkeit'?  Prüfen  wir  nun  den  griechischen  Text.  Was  Lat. 
in  §  16  berichtet,  gibt  er  in  Kap.  12  ziemlich  genau  wieder;  nur 
bleibt  die  Frau  unversehrt  Iv  J:ä3t  toi?  j^ö^^ok:  exeivoi?,  dann  stirbt 
er  und  sie  lebt  in  Sicherheit  (Itt'  aSeia?)  vor  seiner  Begierde. 
In  Kap,  16  führt  die  Hand  Gottes  den  Feldherrn  dahin,  ouoo  f/V  -^ 
Y0V7]  aÖTOD,  7]uc  WC  TrpoeipifjTai,  StatpoXa^^eioa  a^ö  t^«;  toö  äXXo^uXoo 
ixeivoo  TopavviSo?  xata  Trpövotav  Oeoö  teXsonjaavxo?  aotoö,  iva^topn^''*'"* 
xaO-'  iaoTTjV  ^')xei  el?  x-^;rdv  xivo?  twv  oixYjtöpwv,  exXaßoöoa  xal  rconfjoaoa 
axYjvTjv  icape^uXattev  toö*;  xapTroö?  (discesserat  enim  sola  et  comma- 
nebat  in  hortulo  cuiusdam  et  fecit  sibi  tabernaculum  Stablo).  Pla- 
cidas rückt  ein  und  sein  Zelt  wird  aufgeschlagen  jropa  xöv  x-^uov 
ixetvov,  8v  l(f)uXatTev  i^  yuvtj  aotoö. 


die  älteste  lateinische  Fassung  der  Placidas-Eastasius-Legende.         755 

Das  also  ist  die  Offenbarung  des  griechischen  Textes:  ktfb- 
Xattev  v.f^Tzoy  oder  to-j?  %ap-ooc!  Neu  ist  das  allerdings  hier,  aber 
doch  nicht  originell.  xarsotT^oav  autöv  cpoXdttetv  too?  y.ap::o6c  heißt 
es  Kap.  11  von  ihrem  Mann.  Die  Frau  sollte  in  eben  solches 
Elend  sinken,  wie  der  Mann.  Eine  fade  nnd  unnöthige  Gleich- 
stellung ! 

Das  weitere  wurde  leicht  geändert  und  angeglichen.  Ein 
Fenster  und  heimliches  Lauschen  paßte  wenig.  Also:  Ol  oov  vea- 
vioxoi  ixeivoi  xaTsXoaav  el?  ttjv  aY.ryr^'^  zf^Q  ifuvaixö?  .  ,  xai  jisoTju-ßpiac 
7£VO[j,£V7]<;  xadsCö|i.evoi  l^rjfoOvro  oXXfjXoi?  ta  t^c  VTjJwdnjtoc  aotwv  .  . .  t^ 
Ss  ji-T^'^jP  xaö-sCotASVTj  a;revavT'.  aotwv  äxpoaoiv  kzoizlzo  täv  Xs^ojisvcdv 
xap'  auiwv  (mater  vero  eorum  sedens  e  contra  intentius  audiebat 
quae  illi  exponebant)  .  . .     'Axouaaoa  8s  taöra  f;  {i."»]tif]p  autwv  .  . . 

Das  sind  die  beiden  Berichte  über  dieselben  Sachen.  Der 
griechische  ist  leicht  geändert,  aber  man  sieht  auch  leicht  den 
nichtigen  Grund  dieser  Umarbeitung,  Der  lateinische  Bericht  ist 
einfach  und  natürlich  und  wahrlich  nicht  'bis  zur  vollkommenen 
Unverständlickeit  gekürzt'. 

Im  Anhang  zu  seiner  Anklage  no  16  will  Boasset  (S.  549) 
der  von  mir  edirten  lateinischen  Fassung  doch  einmal  ein  Lob 
der  Priorität  spenden.  Allein  auch  dieses  Lob  wird  versauert 
durch  den  Tadel,  ihre  Darstellung  sei  hier  völlig  unmotivirt. 
Placidas  hat  die  wunderbare  Erscheinung  des  Hirsches  und  des 
flammenden  Kreuzes ,  aus  dem  Christus  sprach,  an  einem  auffal- 
lenden Felsen  in  seinem  Jagdrevier  erlebt  und  darauf  hin  sich 
taufen  lassen,  hat  also  das  Höchste  erlebt,  was  er  erleben  konnte. 
Mein  Text  fährt  nun  weiter  §  7 :  Deinde  post  baptismum  abiit 
beatus  Eustasius  in  locum  montis  ubi  apparuerat  ei  dominus 
Christus.  In  quo  loco  oranti  ipsi  iterum  locutus  est  salvator. 
Dies  Zurückkommen  des  Placidas  nennt  Bousset  völlig  unmotivirt. 
Wenn  zwei  glücklich  Vereinte  den  Ort  aufsuchen,  wo  sie  sich  zu- 
erst gesehen  oder  zuerst  geküßt  haben,  so  heißt  man  das  und  ist 
es  auch  wirklich  echt  menschlich  und  selbstverständlich;  wenn 
aber  unser  Erzähler  das  Motiv  des  Zurückkommens  zwar  mit  'ubi 
apparuerat  ei  dominus  Christus'  sehr  deutlich  andeutet,  so  ist  seine 
Erzählung  völlig  unmotivirt :  dagegen  lobenswerth  ist  der  Ecken 
ausgleichende  Byzantiner,  der  für  notwendig  hielt,  in  Kap.  5  in 
Christi  Rede  die  Aufforderung  einzuschieben  'wenn  du  getauft  bist, 
iX^s  evddSs  xai  6'f^TJaou.ai  aot  xal  u<:oS=ii;ojiai  aoi  la  aeXXovza  etc. 

Wenn  wer  etwa  hier  Bousset  beistimmen  sollte,  so  will  ich 
ihm  noch  eine  Stelle  verrathen,  wo  in  meiner  lateinischen  Erzäh- 
lung eine  Lücke  klafft,  dagegen  im  griechischen  Text  Alles  schön 


756  Wilhelm  Meyer, 

ausgeglichen   ist,    wo    also   die   Priorität   des   griechischen  Textes 
endlich  einmal  unumstößlich  erscheinen  mag. 

Als  den  einen  Jungen  ein  Löwe,  den  andern  ein  Wolf  fort- 
geschleppt hat,  erzählt  mein  lateinischer  Text  §  13:  leo,  qui  ra- 
puit  filium,  cum  deportaret  eum,  fugatus  est  a  pastoribus  vel  (= 
et)  a  canibus  et  reliquit  puerum  inlaesum.  frater  vero  qui  raptus 
est  a  lupo,  liberatus  est  ab  aratoribus.  Der  Verfasser  dachte  sich 
wohl,  diese  Erzählung  würde  leicht  begriffen :  den  Löwen,  welcher 
den  Knaben  fort  trug,  sahen  Hirten.  Von  ihren  Heerden  her 
waren  sie  an  solche  Vorgänge  gewohnt  und  waren  darauf  einge- 
richtet :  mit  ihren  starken  Wachthunden  eilten  sie  dem  Löwen  nach 
und  jagten  ihm  den  Knaben  ab.  Dagegen  den  Wolf,  der  den  an- 
dern, den  jüngeren  Knaben  fort  schleppte,  sahen  pflügende  Bauern. 
Hunde  hatten  sie  nicht  bei  sich.  Doch  auch  sie  befreiten  den 
Knaben,  mit  erhobenen  Stöcken  und  Geschrei  usw.  Wenn  der 
Verfasser  diesen  seinen  Text  für  natürlich  und  selbstverständlich 
hielt,  irrte  er  sehr.  Das  zeigt  der  griechische  Text  Kap.  10:  dea- 
aa{j-£Voi  7roi{j.sve<;  t6  TratStov  ßaoTaCöjXsvov  ottö  toö  Xsovto«;  (xatd  Trpövotav 
■d'soö)  Cwv  xai  {JLTjSsv  a§tx7]dsv,  OTO)(aoa{jLsvat  1/  ^cpovofa?  -ö-soö  TrsfpoXa^^^at 
t6  ;cai8iov '  7]tt<;  xal  ahzolq  ßoYjdT^osi  Tcpö?  xh  kizkiab'ai  aotö  sx  toä 
^Yjpö?,  xatsSpa^Jicv  T(jj  Xsovu  (ista  xovwv  •  xata  olxovo|Jiiav  Ss  toö  ^soü 
'O-poXXYj^el?  (■O'poYj'ö-ei?  Combefis)  6  Xswv  z^^i^b  tö  TcaiSi'ov  Cwov  xai  avs- 
ywpTjasv,  TÖ  6e  stspov  xaiStov  .  .  .  Ste(fDXä)(dYj  xai  cf.hzh  b%h  f^<;  d-sia? 
^rpovoia?,  d.  h.  die  Hirten  sahen,  daß  Grottes  Gnade  den  Jungen 
im  Löwenrachen  unversehrt  bewahrt  habe ;  also,  berechneten  die 
vorsichtigen  Leute,  wird  Gottes  Gnade  auch  uns  beim  Rettungs- 
werk beistehen,  und  in  Erwägung  dessen  entschlossen  sie  sich  dem 
Löwen  nachzujagen.  Da  gilt  doch  noch  die  Logik  etwas !  Ich 
aber  bin  so  verblendet,  auch  hier  nur  die  gewöhnliche  jämmerliche 
Motivirungssucht  des  byzantinischen  Umarbeiters  und  Ausmalers 
wirken  zu  sehen  und  denen,  welche  die  folgenden,  umständlichen 
Auseinandersetzungen  lesen  wollen  ,    zuzurufen  :    Ex    aure  asinum  ! 

Bousset's  Anklagepunkte  iio  1,  no  3,  iio  6  und  no  7  (S.  545/6) 
muß  ich  zusammen  betrachten.  Bousset  meint,  no  1  beweise  ent- 
scheidend den  Vorzug  des  griechischen  Textes ,  no  2  gebe  einen 
wichtigen  Beweis  dafür. 

Ich  gebe  zunächst  den  betreffenden  Text  von  Lat, :  §  7  Christus 
beglückwünscht  den  getauften  Placidas ;  dann  fährt  er  weiter : 
Sed  dico  tibi,  quia  in  hoc  praesenti  seculo  supervenient  tibi  tri- 
bulationes,  temptationes  et  pericula  multa,  donec  depereant  omnia, 
quae  habere  in  hoc  mundo  inventus  es.  oportet  enim  te  in  his 
temptationibus    existere    similem  lob.  et   iterum,   cum    humiliatus 


die  älteste  lateinische  Fassung  der  Placidas-Eustasius-Legende.         757 

fueris  in  tribulationibus  tuis,  visitabo  te  in  bonis  et  restanrabo 
te  in  consolationibns  multis,  donec  pervenias  ad  martyrii  trium- 
phalem coronam. 

§  8  Deinde  cum  redisset  Eustasius  in  domum  suam,  coepit 
decidere  familia  eins  in  aegritudine  et  languoribus  multis,  donec 
consumpti  sunt  omnes  in  morte;  similiter  et  omnia  animalia,  quae 
pertinebant  ad  eum.  nara  (==  tunc)  et  latrones  supervenerunt  di- 
ripientes  omnia  de  domo  eins,  aurum  argentum  vel  vestes  multas, 
et  nihil  amplius  remansit  ei,  quam  duo  filii  et  mater  eoram  et  nisi 
quod  erant  induti.  §  9  Unde  non  sufferentes  inter  quos  noti 
fuerant  confusionem  verecundiae  snae  ex  his ,  quae  Ulis  contige- 
rant,  reeesserunt  occulte  de  loco  illo  nocte,  ut  transirent  in  Ae- 
gyptum. 

Diese  lateinische  Fassung  ist  verständlich  und  verständig.  Die 
Theilung  des  Besitzes  ist  ähnlich  in  §  1  tam  in  animalibus  quam 
in  auro  et  argento  et  mancipüs  vel  universis  rebus  substantiae 
suae.  'loco  illo'  =  de  domo  eins,  das  Gut  des  Placidas,  nicht 
weit  von  seinem  Jagdbezirk. 

Der  griechische  Text  bringt  in  Kap.  7  den  Hauptinhalt 
der  Rede  Christi  im  lateinischen  Text,  doch  in  anderer  Fassung; 
dazu  neue  Gedanken,  z.  ß.  sirsiS-fj  ^dövq)  xsxtvTjtat  xatd  ooo  6  6id- 
ßoXoi;,  8si  OS  Tiva  7:£'.f>aa(i.öv  o;rsv£7X=iv ,  ov  eav  ozsvsYXTfj«;,  xo{iiC"(l  tov 
oTE'favöv  TT^?  vixYj?.  Dazu  solle  er  sich  rüsten  und  sich  hüten,  ^f^- 
710)?  iv  zxi  v,ap8io^  aoo  Xoy'.o[j.Ö(;  tk;  5oocf>7j{jLia(;  dvaß'g.  otav  fäp  taicst- 
vwd*^?,  IXeooo'jiat  xpö?  oe  xal  ;:dXtv  aÄOxataoTJjaö)  os  h  t^  Tcpotspc^  ooo 

Damit  schließt  zunächst  die  Rede  Christi  im  griechischen  Text.    Bousset 

no  2  (S.  545)  hebt  nun  hervor  den  Satz,  mit  welchem  Lat.  schließt  'donec 
pervenias  ad  martyri^i  triumphalem  coronam'.  Hier  sei  der  lat.  Text  sicher 
sekundär.  Der  Kompilator,  welcher  die  orientalische  Xovelle  als  Mittel- 
stück seiner  Placidas-Legende  einfügte,  habe  'an  dieser  Stelle,  wo  wir  einen 
solchen  Hinweis  nothwendig  erwarten  sollten,  die  Erwähnung  des  Marty- 
riums vergessen.  Der  griechische  Text  sei  also  hier  der  ursprüngliche. 
Der  Lateiner  habe  den  Mangel  bemerkt  und  die  Unebenheit  ausgeglichen". 
Also  eigentlich  ist  Lat.  richtig,  Griech.  unrichtig:  deßhalb  ist  Griech.  ur- 
sprünglich, Lat.  gefälscht.  ]Mir  aber  scheint  im  Gegentheil  die  deutliche 
Erwähnung  des  Martyriums  schon  an  dieser  Stelle  etwas  schroff.  Den  ge- 
milderten Inhalt  hat  der  griechische  Text  weiter  oben  untergebracht:  xo- 
ßiii;f  tbv  öT£<pav6v  rfjg  vixrjg.  Endlich  war  der  Schlußgedanke  des  La- 
teiners dem  Griechen  unbequem :  denn  er  hatte  große  Pläne,  wie  er  weiter- 
hin den  Text  um-  und  ausgestalten  wolle.  Dieser  Beweis,  daß  der  la- 
teinische Text  sekundär  sei,  scheint  mir  also  weder  sicher  noch  wichtig. 

Die  große  Rede  Christi  schließt  der  griechische  Text  etwas 
seltsam  mit  den  Worten:    xal  taöxa  elzwv  6  xöpio?,  avr^X^ev  el?  too? 

Kgl.  Ges.  d.  Wiss.    Nachricliten.    Phil.-hist.  Klasse.    1916.    Heft  5.  51 


758  Wilhelm  Meyer, 

oöpavoD?  (a)  (X^Ycov  zC^  Eooxa^tcp  •  Növ  ßoöXet  Ss^aO'ö-ai  töv  7rpoxst[ievöv 
001  7:£tpao[JLÖv  7)  etcI  eo)(dT(ov  twv  TjfJLepwv  (ljt'  lo/äxoo  twv  i^^epÄv  toötwv 
Combefis,  in  extremis  diebus  (7er  ?a^.  Zwülingstext)  ;  Kap.  8 :  A^yst 
6  EÖGxd'ö-toi;  •  A^ojiat  ooo,  xopis,  st  oox  eoitv  TrapsXdslv  toc  wpiofi-sva  i(p' 
igjtwv,  vöv  {JiäXXov  Ss^ao'ö-at  T^j^ä?  töv  7cetpaa[J.öv  xsXeooov  7.at  So?  S6- 
va(JLtv  OTtevsYxetv  ta  iTüaYÖjj-eva  (liraYYeXXdtisva  Comb.,  promissa  Lat.), 
tva  {17]  XoYta'jJiöi;  Ttg  ItcsX'O-wv  TrovTjpö?  {nur  u;rEX'&wv  Comb.)  aaXs6a-(j  tyjv 
Sidvotav  T^{xwv  a;cö  t'^g  sie  os  ttiotswc-  Asys^  xpö?  autöv  6  xopto?' 
ÄYtovtCoo  %al  lo/o£  Eoatd^ts.  1^  ^ap  /dpi?  {jiod  eotat  [ls^'  ü{jl<öv,  Sia- 
^oXdoGoooa  ü{Jiü>v  xd?  (j;o)(d(;).     KatsX'ö-wv  Se  etc. 

Dieses  Stück  a  steht  bei  Bolland  und  Combefis  (bei  Budge) 
und  in  dem  lateinischen  Zwillingstext  Bolland's ;  es  fehlt  vollständig 
in  meinem  lateinischen  Texte;  aber  auch  die  2.  griechische  Umar- 
beitung (Acta  Bolland.  III  p.  74)  hat  es  glatt  ausgelassen. 

Bousset  no  1  (S.  544)  hält  dies  Stück  für  sicher  ursprünglich,  aus  einem 
später  zu  erörternden  Grunde.  Ich  finde  auch  hier  nur  einen  Zusatz  des 
geschwätzigen  Griechen,  der  meinen  lateinischen  Text  so  oft  erweitert  oder 
umgearbeitet  hat.  Aufmerksam  möchte  ich  zunächst  machen  auf  die  un- 
klare Ausdrucksweise,  int  iöxdtoov  r&v  -f/juspc^v  tovtoov  oder  in  extremis 
diebus  wird  in  der  Regel  von  der  Zeit  des  jüngsten  Gerichts  gesagt.  So 
wird  es  im  Meistergesang  (Bousset  S.  513)  wiedergegeben  mit  ewiglich.  Das 
ergibt  eigentlich  einen  Unsinn.  Jedenfalls  aber  muß  die  Prüfung  in  die  Zeit 
des  Lebens  fallen.  Im  Gedicht  von  Ysambrace  und  in  der  armenischen 
Erzählung  wird  deßhalb  ergänzt  'in  deinen  letzten  Tagen'  d.  h.  in  deinem 
Alter.  Aber  w  e  ß  h  a  1  b  hat  der  Umarbeiter  diese  Erzählung  von  der 
Wahl  hier  eingeschoben?  Christus  hat  dem  Placidas  ein  schweres  Leiden 
angekündigt,  und  dieses  Leiden  soll  den  Hauptinhalt  der  Erzählung  bilden. 
In  meinem  lateinischen  Text  weiß  man  nicht,  wann  es  eigentlich  beginnt. 
Da  wollte  der  Grieche  abhelfen  und  deutlich  machen,  daß  der  Beginn  de« 
Leidens  unmittelbar  folgt. 

Der  griechische  Text  fährt   in  Kap.  8  fort :   KaxeX^wv  6e 

dTuö  xoö  ö'poo?  6  EöoTd'O'to?  %ai  sloeX'ö-wv  el?  t7]v  olxiav  (b  dTCTjYYsiXev 
T*^  Yovaixi  td  XaXTjd'SVta  a^xtp,  xal  xXtvavte?  td  ^övata  IS^ovto  toö  deoö 
XsYOVTS?  •  Tö  ^sXTjfid  ood,  xöpie,  yev^oO'Ci).  'OXi^wv  Se  T^jtspwv  SteX- 
dooowv)  oov^ßY]  vöoov  Xoi{i,iX"?]v  Ivox'^cj^ai  Iv  x%  olxtoj  auToö  xal  teXso- 
t^oai  Trdvra?  tou?  iralSa?  autoö  xai  td?  TtatStoxag.  (b  Toötoo  Sfe  ^svo- 
ji§voü  '^odeTO  6  EDOtd^to?  töv  7rpo[i.YjVDO'6vTa  aotcj)  Tcecpaojiöv  elvai  xal 
eö^aptoTw?  Se^dfievoc  TcapexdXet  f^v  Yovaixa  aötoö  {iij  (itxpo«}iox^oai). 
Kai  [ler'  iXt^ov  ttvd  ^(pövov  ^r^^cL^it  xatd  xwv  iTCjrwv  a&toö  xal  twv  äXXwv 
xtYjvwv  [xoipd  ti?  ^avanx-^'  xal  Trapa^fp-^tia  dird^avov  Tcdvta  td  xttJvyj 
td  Tcpooövta  aoT(j).  (b  Kai  ootwi;  8eSd(isvoc  xal  taöiTjV  f?]V  ou|Ji'fopdv 
eö/aploTox;)  <c  dve)(ö)p7joe  xfjc  olxla?  aütoö  XsXtjO'Ötwc  ajia  t-^  Yovatxl 
xal  xot?  T^xvoic  ti<;  dvaxexwpiOjA^vov  tötcov  xal  d'eaodjisvol  Ttve<;  twv 
xaxoupYwv  TYjv  dva^^wpTjoiv   a6t(»)v    IXdövte?   Iv   voxtl)   SiapTcaY^^v  ireotij- 


die  älteste  lateinische  Fassung  der  Placidas-Eustasius-Legende.  759 

oavTO  zavtcDv  twv  h'Ra^^fvniü"^  aötoü  Iv  ts  "/P'^^'^V   '*-'^-   «PIPP'-V  [**^   «'■'- 

^y  Äsp'.sßsßXTjVTo.  (c  TO'.aÖTai?  iTTr^psta'.?  xal  auji^opai?  xai  «äoa  ij  Xoiict] 
aÖTwv  XT-^oi«  T£  xai  offap^t?  el?  avoxap^tav  xateXr^^sv  14  i-tßooX-^g  toö 
ävitxs'.tiivoo). 

Da  der  griechische  Umarbeiter  oben  (Kap.  7  und  8)  den  Pla- 
cidas  hat  warnen  lassen,  daß  das  Unglück  ihn  nicht  kleinmiithig 
mache  und  im  Glauben  an  Christas  irre  machen  könne ,  fühlt  er 
sich  verpflichtet,  bei  jedem  einzelnen  der  Schläge,  in  welche  er  das 
Unglück  zerlegt,  beizufügen,  daß  Placidas  ihn  ungebrochen  ertrug ; 
diese  Zusätze  habe  ich  mit  b  bezeichnet ;  notwendig  sind  sie  sicher 
nicht. 

Unmittelbar  folgt  der  mit  c  bezeichnete  Zusatz,  daß  Placidas, 
nachdem  Seuchen  seine  Diener  und  seinen  Viehstand  getödet  hatten, 
mit  Frau  und  Kinder  ein  abgeschiedenes  Versteck  aufgesucht  habe; 
dann  hätten  Räuber  des  Nachts  alle  Habe  aus  seinem  Hause  ge- 
schleppt. Das  soll  wohl  nicht  heißen,  das  Placidas  vor  Ansteckung 
sich  gefürchtet  habe.  Sondern  dem  Umarbeiter  schien  es  wohl  son- 
derbar, daß  Räuber  ein  bewohntes  Haus  ausplündern  können.  Um 
das  wahrscheinlicher  zu  machen,  vielleicht  auch  im  Zusammenhang 
mit  der  folgenden  Erfindung,  dem  Siegesfest,  bei  dem  Placidas 
vergeblich  gesucht  wird,  hat  der  Umarbeiter  die  Familie  in  dies 
Versteck  flüchten  lassen.  Dahin  nimmt  sie  natürlich  keine  Habe 
mit  außer  den  E^eidern  am  Leibe;  bleibt  sie  im  ausgeplünderten 
Hause,  so  bleibt  ja  doch  manches  Stück  ihr  Eigenthum  und  jeden- 
falls das  Haus  selbst. 

Bousset  no  6  (S.  546)  bringt  auch  hier  eine  Anklage  gegen  den  la- 
teinischen Text:  'Griech.  erwähnt  ausdrücklich,  daß  Placidas  sich  nach  den 
ersten  Unglücksfällen  tls  ävaxexojpidM^o^  töxov  zurückzieht  und  daß 
ßäuber  ihn  daselbst  ausplündern  (S  496).  Lat.  läßt  den  Rückzug  in 
die  Einsamkeit  weg  und  erwähnt  niu*  die  Räuber'.  Hier  irrt  Bousset; 
nach  Griech.  wird  Placidas  nicht  in  seinem  Versteck  ausgplündert,  sondern, 
während  er  entfernt  im  Versteck  weilt,  wird  sein  IT  aus  ausgeplündert 

Allein  die  Wirkung  ist  am  Ende  die  gleiche.  Bousset  fährt  nun  fort: 
*Der  vom  Griech.  erhaltene  Zug  wird  bestätigt  durch  die  parallelen  Erzäh- 
lungen, in  denen  die  Räuber  den  in  die  Steppe  oder  Wüste  geflohenen 
König  ausrauben  (S.  479.  493).  Der  gemeinsame  Grundstock  der  Wander- 
legende hat  sich  hier  gerade  bis  in  die  Einzelheiten  erhalten?'  Wir  haben 
also  auch  hier  zu  notiren,  daß  das  Wandermährchen  mit  dem  griechischen 
Text  ziemlich  zusammen  geht,  nicht  mit  meinem  lateinischen. 

Der  griechische  Umarbeiter  bringt  unmittelbar  anschließend 
in  Kap.  10  einen  neuen  großen  Zusatz :  <d  'Ev  Se  xalq  ri^poLiq  kxel- 
vai?  8t/jJlotsXo5s  kopxf^t;  l;riT£Xoo{j.EVY3?  I^tiv.xtmv  t^c  xard  twv  Espodiv 
vUrfi  xai  )(apitoo6vr^<;   w?  slxö?  (ts^iatT]?,   eoptdCetv  ouv^^r^   xai   töv   ßa- 

51* 


760  Wilhelm  Meyer, 

otXia.  sSst  dk  xal  töv  orpatrjYov  Tcpö  irdvTwv  Trapstvai  r-^  ^opx-^ ,  wc 
ats  0Tpaf/]XcxT7]v  ovta  xai  Trpwtov  t-^?  ooyxXyjioo.  xal  iC'']tslTo  xal  ooy 
eopioxsTO.  Travta?  oov  a[i7]/avta  '/,aTEi5(sv,  Ott  odtw?  sv  jxt^  xaipoö  poTr-^ 
{j.y]5ev  üTToXet'f'ö-^vai  twv  aotoö  [itjts  Se  aoTÖv  sopiaxea^at.  IXotctjO-t]  oov 
6  ßaoiXso?  xal  Träaa  t^  oöyxXtjto?  Tcspi  aoxoö  xal  ;:äoa  sxttXvj^k;  xately^ö 
:cepl  TOD  oujißsßTjxdioc), 

Weshalb  hat  der  Grieche  dieses  Siegesfest  hier  eingeschoben  ? 
Wie  schon  bemerkt,  ist  eine  Vorbedingung  dazu  der  vorige  (c)  Zu- 
satz, daß  die  Familie  von  Hause  flieht;  denn  wäre  Placidas  noch 
zu  Hause,  so  würde  er  leicht  gefunden.  Sonst  ist  auch  hier  das 
Ziel,  die  Familie  außer  Landes  zu  bringen,  damit  sie  leichter  ge- 
trennt und  Placidas  gänzlich  vereinsamt  werden  kann.  Placidas, 
der  an  der  Feier  vseines  Sieges  nicht  Theil  nimmt,  ist  eigentlich 
schon  fremd  in  der  Heimath. 

Bousset  no  7  (S.  54G;  S.  474  u.  522).  Bousset  meint  (S.  522),  in 
dieser  ganz  unmotivirten  Erzählung  von  einem  großen  Siegesfest,  das  der 
römische  Kaiser  gibt,  sei  vielleicht  ein  Rudiment  der  ursprünglichen 
Fassung  der  Erzählung  stehen  geblieben,  das  in  der  lateinischen  Fassung 
verloren  sei.  Allein  die  Geschichte,  die  er  vergleicht,  ist  höchst  phan- 
tastisch, stammt  aus  dem  13./ 14.  Jahrhundert  und  steht  unter  der  Herr- 
schaft von  Bolland's  lateinischem  Zwillingstext. 

Jetzt  nähert  sich  der  griechische  Text  wieder  dem  lateinischen. 
Sagt  dieser  §  9 :  non  sufFerentes,  inter  quos  noti  f aerant,  confu- 
sionem  verecundiae  suae  recesserunt  .  .  in  Aegyptum,  so  sagt  jener 
Kap.  9 :  ava^^wpv^owfjisv  ttj?  /wpa?  tauTirjc; ,  ovi  ö'vstSo?  Y£YÖva[j,£V  toic 
Y'.vtooxooat  r^(J.ä<;  .  .  sßaStCov  w?  ItiI  r?jv  Aiyojctov. 

Also  auch  bei  diesen  Untersuchungen  hat  sich  ergeben ,  daß 
dieser  lateinische  Text  der  Placidas-Legende  einfach  und  verständig 
ist ,  aber  auch  keine  Lücke  verräth ,  daß  dagegen  der  griechische 
Text  mit  vielerlei,  theils  unnöthigen  theils  abgeschmackten  Lappen 
behängt  ist. 

Ich  habe*  so  die  sämtlichen  Punkte,  welche  Bousset  gegen  die 
frühere  Abfassung  des  lateinischen  Textes  und  für  die  Vorzüge 
des  griechischen  Textes  der  Placidas-Legende  vorgebracht  hat,  be- 
sprochen^).    Keinen  konnte  ich  als  berechtigt  anerkennen. 


1)  no  1  (S.  758),  no  2  (757),  no  !!  (S.  749),  no  4  (S.  748),  no  5  (S.  749),  no  <> 
(S.  759),  no  7  (oben),  no  8  (S.  749),  no  9  (S.  746),  no  10  (S.  760),  no  11  und  12 
(S.  753),  no  18  (S.  750),  no  14  (S.  751),  no  15  (S.  751),  no  16(S.  747)  und  IG  Anhang 
(S  755).  Ich  habe  S.  231/2  den  Grundsatz  aufgestellt,  daß  Martyrien,  welche  in 
llom  und  Italien  spielen,  zuerst  in  lateinischer  Sprache  und  im  lateinischen  Sprach- 
gebiet dargestellt  worden  seien.  Dieses  Präjudiz  gegen  den  Werth  der  griechi- 
schen Fassung  will  Bousset  S.  543/4  nicht  anerkennen;   es  könne  nur  gelten  bei 


die  älteste  lateinische  Fassung  der  Placidas-Eustasias-Legende.  761 

Es  hat  sich  kein  Grund  gezeigt,  abzugehen  von  meinem  Ur- 
theil  über  die  lateinische  Fassung,  daß  die  Ereignisse  in  würde- 
voller Sprache  schlicht  erzählt  seien,  mit  einigem,  aber  nicht  mit 
widerlichem,  rhetorischem  Aufputz.  Insbesondere  sind  keinerlei 
Lücken  oder  Widersprüche  der  Erzählung  nachzuweisen.  Nichts, 
das  den  verkürzten  Auszug  einer  breiteren  Vorlage  verriethe. 
Diese  lateinische  Fassung  kann  also  die  ursprüngliche  sein. 

Die  griechische  Fassung  hat  erstens  die  lateinische,  so  weit 
ich  sehe,  vollständig  in  sich  aufgenommen ,  enthält  aber  zweitens 
sehr  viele  Stücke,  von  denen  in  der  lateinischen  Fassung  nichts 
zu  finden  ist. 

Diese  beiden  Texte  können  also  zunächst  nicht  'zwei  Zeugen 
eines  gemeinsamen  Archetypus'  sein.  Denn  von  zwei  Zeugen  wird 
jeder  zum  Theil  dasselbe  aussagen  wie  der  andere,  zum  Theil 
Eigenes ;  unmöglich  ist,  daß  der  eine  Zeuge  erstens  genau  all  das 
aussage,  was  der  andere  aussagt,  dann  aber  noch  eine  Menge 
Neues.  Dies  Letztere  kann  nur  vorkommen,  wenn  der  zweite  die 
Aussagen  des  ersten  kennt  und  benützt.  So  ist  auch  hier  Alles 
in  Ordnung,  wenn  wir  annehmen,  daß  die  griechische  Fassung  die 
lateinische  benützt  hat,  also  eine  Erweiterung,  eine  Umarbeitung 
derselben  ist.  Dabei  müssen  wir  dem  umarbeitenden  Griechen 
eine  Art  von  Gewissenhaftigkeit  zuerkennen.  Der  TJmarbeiter  ist 
sonst  leicht  geneigt,  Stücke  seiner  Vorlage  wegzulassen  oder  um- 
zustellen. So  hat  der  2.  byzantinische  TJmarbeiter  dieser  Legende 
(Analecta  Bollandiana  III  65)  es  gemacht.  Er  sagt  z.  B.  nichts 
davon,  daß  dem  Placidas  die  Wahl  gelassen  worden  sei,  wann  das 
Leiden  über  ihn  komme;  er  läßt  den  Placidas  Haus  und  Heimat 
gänzlich  verlassen  und  dann  erst  die  Räuber  kommen  und  das 
Haus  plündern  usw.  Aber  unser  erster  griechischer  TJmarbeiter 
hat  alle  Bestandtheile  des  lateinischen  Textes  übernommen  und 
alle  in  derselben  Reihenfolge  gelassen. 

Was  nun  seine  zahlreichen  Zusätze  betrifft,  so  ist  keiner 
unentbehrlich,  keiner  eine  klare  Verbesserung  der  lateinischen  Fas- 
sung; manche  dieser  Zusätze  sind  möglich  und  erträglich,  manche 
sind,  wie  sich  auch  oben  gezeigt  hat,  geschmacklos ,  besonders  zu 
frommen  Zwecken  gemacht.  Das  ist  durchaus  nichts  Auffallendes  ; 
diese  Umarbeitungen  sind  der  Fluch  der  Legendenliteratur.    Nahezu 


wirklich  historischen  Märtjrrem.    Ich  gebe  zu,  daß  Ort  und  Zeit  in  der  Placidas- 

legende  nur  mit  dünnen  Farben  gemalt  sind,  und  berücksichtige  deshalb  die  oben 
genannte  Regel  hier  nicht  weiter ;  bedenklich  bleibt  es  jedenfalls,  daß  ein  italieni- 
sches Martyrium  zuerst  in  griechischer  Sprache,  also  für  Griechen  soll  dargestellt 
worden  sein. 


762  Wilhelm  Meyer, 

immer  aber  wird  nur  1  Text  vorgenommen  und  der  nur  für  diesen 
oder  jenen  Zweck  umgearbeitet.  So  ist  also  auch  in  der  grie- 
cMschen  Fassung  der  Placidaslegende  Alles,  was  sie  mehr  hat,  als 
die  von  mir  veröffentlichte  lateinische  Fassung,  dringend  verdächtig, 
daß  es  nur  Zusätze,  also  Erfindungen  und  Fälschungen  des  grie- 
chischen Umarbeiters  sind. 

Dagegen  erhebt  Bousset  entschiedenen  Einspruch:  er  könne 
von  etlichen  Stücken  des  griechischen  Placidastextes ,  welche  im 
lateinischen  Texte  fehlen ,  strikt  beweisen,  daß  sie  nicht  von  dem 
Griechen  erfunden,  sondern  'ursprünglich'  seien.  Diesen  Beweis 
will  er  liefern  durch  seine  folkloristische  Untersuchung.  Als 
im  19.  Jahrhundert  nach  den  Freiheitskriegen  unsere  Forscher 
zunächst  die  Sagen  und  Märchen  der  deutschen  Stämme,  dann 
der  übrigen  Völker  eifrig  studirten,  lenkte  Theodor  Benfey  in 
Göttingen  seit  den  Jahren  1850/60  besonders  durch  seine  Arbeiten 
zum  Pantschatantra  die  Aufmerksamkeit  auf  den  reichen  indischen 
Schatz  von  Märchen.  Seitdem  erforschten  Viele,  wie  diese  oder 
jene  Sage  aus  dem  fernen  Osten  von  den  Indern  zu  den  Persern, 
Arabern  und  Türken  an  das  Mittelmeer  und  in  den  Westen  ge- 
wandert sei. 

Das  Mittelstück  der  Placidaslegende  bildet  nun  eine  Ge- 
schichte, welche  allen  Anforderungen  der  Erzählungskunst  entspricht. 
Eine  Familie,  Mann  Frau  und  2  Söhne,  werden  vom  Unglück  hart 
verfolgt  und  auf  der  Flucht,  am  Meere  und  an  einem  Flusse  voll- 
ständig von  einander  getrennt;  nach  längerer  Zeit  finden  die 
Glieder  der  Familie  durch  "Wiedererkennen  sich  wieder  zusammen 
und  gelangen  zu  einem  glücklichen  Zusammenleben.  Bearbeitungen 
der  Placidas-Legende  in  verschiedenen  europäischen  Sprachen  hat 
es  einst  viele  gegeben.  Ein  und  der  Andere,  welcher  diese  unter- 
suchte, hat  auch  notirt ,  daß  das  erwähnte  Mittelstück  als  selbst- 
ständige Geschichte  in  orientalischer  Sprache  vorkomme,  hat  aber 
natürlich,  wie  alle  anderen  Bearbeitungen ,  so  auch  diese  orien- 
talischen Fassungen  der  Mittelgeschichte  als  Ableger  der  griechi- 
schen Fassung  erklärt. 

Erst  zwei  amerikanischen  Forscher,  Ogden  1900  und  Gerould 
1904,  und  jetzt  Bousset  haben  jene  selbständige  Fassung  des  Mittel- 
stückes in  der  orientalischen  Erzählungsliteratur  weiter  verfolgt 
und  sind  zu  dem  Schluß  gekommen,  daß  hier  ein  altes ,  indisches 
volksthümliches  Märchen  vorliege ,  das  nach  Westen  gewandert 
sei,  und  daß  seine  Verwendung  in  der  Placidaslegende  nur  eine 
der  Wandlungen  sei,  welche  diese  Geschichte  auf  ihrer  Wanderung 


die  älteste  lateinische  Fassang  der  Placidas-Eustasius-Legende.         763 

durchgemacht  habe;  so  'stelle  nach  allen  Seiten  diese  Fabel  und 
ihre  Wanderung  sich  als  ein  Musterparadigma  dar  für  allge- 
meine Gesetze  der  Wanderung  von  Erzählungen  vom  fernen  Osten 
zum  Westen,  von  der  vorbuddhistLschen-indischen  bis  in  die  mittel- 
alterlich europäische  Literatur'. 

Bousset  S.  477—493  gibt  den  Inhalt  von  etwa  8  orientalischen 
Versionen  dieser  Greschichte  an :  aus  den  1001-Nacht-Erzählungen 
stammen  no  1.  4.  6.  7.  und  8  ;  armenisch  (um  das  Jahr  1850  auf- 
gezeichnet) ist  no  2 ;  jüdisch  sind  no  3  (10.  Jahrh.)  und  no  4  (in  1001 
Nacht) ;  bei  den  Kabylen  in  Algier  um  1893  aufgezeichnet  ist  no  5. 
Schade  ist,  daß  die  Fassung  von  IIa  (S.  507)  so  unsicher  ist; 
Bousset  reconstruirt  aus  Andeutungen  Ogdens  eine  Erzählung 
wieder,  deren  eine  Version  aus  Kaschmir,  die  andere  aus  dem  Pend- 
schab stammen  soll  (s.  S.  777). 

Diese  Versionen  weichen  in  den  meisten  Einzelheiten,  oft  un- 
glaublich staxk,  von  einander  ab;  aber  in  dem  Gerippe  der  Er- 
zählung stimmen  sie  so  zusammen,  daß  man  die  gemeinsame  Grund- 
lage anerkennen  muß.  Sobald  also  zwei  Versionen  ein  und  den- 
selben Zug  berichten,  muß  man  annehmen,  daß  derselbe  ursprünglich 
ist,  d.  h.  daß  derselbe  entweder  schon  in  der  Fassung  der  Geschichte 
vorkam,  auf  welche  alle  Versionen  zurückgehen ,  oder  wenigstens 
vorkam  in  einer  späteren  Version,  auf  welche  eben  die  erhaltenen, 
diesen  gleichen  Zug  enthaltenden  Versionen   zurückzuführen   sind. 

Das  Mittelstück  der  Placidaslegende  präsentirte  sich  also  den 
genannten  Forschem  nur  als  eine  weitere  Variante  dieser  orien- 
talischen Geschichte.  So  hat  denn  Bousset  S.  499  einen  'genauen 
Stammbaum'  der  verschiedenen  Versionen  dieser  werdenden  Ge- 
schichte hergestellt. 

Zwischen  diese  Untersuchungen  und  Folgerungen  kam  nun 
meine  Ausgabe  des  lateinischen  Textes  der  Placidaslegende  mit 
meiner  Behauptung,  daß  dieser  lateinische  Text  der  älteste  und 
ursprüngliche  sei  und  daß  der  griechische  Text  nur  eine  Umarbei- 
tung jenes  lateinischen  sei,  daß  also  Alles ,  was  der  griechische 
Text  mehr  habe  als  der  lateinische,  nur  Erfindungen  des  Griechen 
kurz  vor  700  seien.  Diese  Sätze  widersprechen  schroff  den  Er- 
gebnissen der  folkloristischen  Untersuchung. 

Monteverdi  hatte  meinen  lateinischen  Text  für  einen  Auszug 
erklärt,  welcher  direkt  aus  dem  griechischen  geflossen  sei.  Bousset 
geht  nicht  so  weit;  aber  er  sucht  einen  Mittelweg:  er  sagt  S.  549 
'es  mögen  der  griechische  und  lateinische  Text  zwei  Zeugen 
eines  gemeinsamen  Archetypus  repräsentieren.  Aber  ich  glaube 
doch,   daß  der  griechische  Text   diesem  näher  steht  als  der  latei- 


764  Wilhelm  Meyer, 

nische'.  Dann  sucht  er  in  16  Punkten  Stellen  nachzuweisen,  wo 
der  lateinische  Text  entschieden  schlechter  sei  als  der  griechische, 
ja  bisweilen  bis  zur  vollkommenen  Unverständlichkeit  gekürzt  sei. 

Diese  16  Punkte  habe  ich  geprüft  und  gezeigt ,  daß  in  allen 
Fällen  der  lateinische  Text  klar,  vollständig  und  unanfechtbar  ist; 
daß  aber  der  griechische  Text  in  keinem  Falle  entschieden  besser, 
dagegen  oft  sicher  durch  geschmacklose  Zusätze  entstellt  sei. 

Nun  bringt  Bousset  'wichtige,  entscheidende'  Beweise  für 
seine  Ansicht.  Es  sind  Stellen  der  oben  bezeichneten  Art :  ein  Zug 
der  Erzählung  ist  in  dem  griechischen  Text  ebenso  oder  sehr  ähn- 
lich berichtet,  wie  in  einer  oder  in  mehreren  Versionen  der  orien- 
talischen Wandergeschichte;  aber  in  dem  lateinischen  Texte  fehlt 
dieser  Zug  ganz  oder  ist  sehr  abweichend  gefaßt.  Es  ist  sicher, 
daß  in  diesen  Fällen  der  griechische  Text  mit  den  orientalischen 
Versionen,  ja  man  kann  sagen,  mit  dem  ursprünglichen  Texte  der 
orientalischen  Geschichte  eng  verwandt  ist,  während  der  lateinische 
Text  ziemlich  oder  gänzlich  fern  steht.  Solcher  Stellen  bezeichnet 
Bousset  etwa  4:  no  1,  6,  7  und  10  (S.  544/6),  wie  ich  bei  Be- 
sprechung dieser  Anklagepunkte  erwähnt  habe. 

no  1  gehört  sicher  hierher :  dem  Helden  wird  die  Wahl  ge- 
lassen, ob  er  das  Unglück  sogleich  oder  später  erleiden  will.  Dies 
erzählt  der  griechische  Text  und  die  armenische  Version  der  orien- 
talischen G-eschichte  (S.  481)  s.  oben  S.  758.  Ziemlich  sicher  ge- 
hört auch  no  6  hierher:  der  lateinische  Text  sagt,  daß  Räuber 
das  Haus  des  Placidas  gänzlich  ausplündern ,  so  daß  ihm  nur  die 
Kleider  am  Leibe  bleiben;  der  griechische  Text,  daß  Placidas  in 
einen  abgelegenen  Ort  flieht  und  daß  dann  die  Räuber  sein  Haus 
vollständig  ausplündern ,  so  daß  ihm  nur  die  Kleider  am  Leibe 
bleiben;  einige  orientalische  Versionen  erzählen,  daß  der  Held  in 
die  Wüste  flieht  und  dort  von  Räubern  ausgeplündert  wird  bis 
auf  die  Kleider  (s.  oben  S.  759).  Die  2  anderen  Fälle  scheinen 
mir  zu  unbedeutend,  um  hier  erwähnt  zu  werden ;  so,  wenn  in  no  7 
(oben  S.  760)  verglichen  wird  ein  Siegesfest  in  einer  abenteuer- 
lichen Umarbeitung  der  Gesta  Romanorum  aus  dem  13./14.  Jahr- 
hundert, welche  aus  Bolland's  lateinischem  Zwillingstext  geflossen 
ist;  oder  wenn  in  no  10  (oben  S.  750)  die  Söhne  des  Placidas  im 
griechischen  Text  als  Tischgenossen  und  in  orientalischen  Ver- 
sionen als  Pagen  und  Vertraute  auftreten ,  während  sie  im  latei- 
nischen Text  als  Soldaten  dem  Feldherm  wohl  gefallen  und  zu 
Centurionen  befördert  werden. 

Doch  wenn  auch  nur  no  1  (die  Wahl)  und  no  6  (die  Flucht 
in  die  Wüste)  anerkannt  werden,    scheint  Boasset's  Folgerung  zu 


die  älteste  lateinische  Fassung  der  Placidas-Eustasius- Legende.  765 

gelten:  da  der  griechische  Text  hier  dasselbe  berichtet,  wie  der 
orientalische ,  im  lateinischen  aber  diese  Stücke  ganz  fehlen,  so  ist 
eben  der  lateinische  Text  der  Placidaslegende  nicht  die  älteste 
oder  ursprüngliche  Fassung  derselben,  der  griechische  Text  aber 
hat,  wie  hier,  so  vielleicht  an  vielen  Stellen  Echtes  und  Ursprüng- 
liches gerettet,  welches  im  lateinischen  Text  verloren    ist. 

Aber  zuächst  haben  Bousset's  Beweise  für  solche  Textesver- 
hältnisse sich  nicht  bewährt,  und  die  meisten  Zusätze  des  griechi- 
schen Textes  sind  und  bleiben  geschmacklos. 

Die  Hauptfrage  ist,  ob  die  orientalische  Geschichte,  welche 
uns  in  den  verschiedenen  Versionen  erhalten  ist,  wirklich  von  dem 
Verfasser  der  Placidaslegende  gekannt  und  benützt  ist.  Monte- 
verdi  hat  wie  andere  Gelehrten  alle  Bearbeitungen  der  Placidas- 
legende von  dem  griechischen  Text  abgeleitet,  also  auch  diese 
orientalische  Geschichte  (S.  184—188—192).  Dafür  ist  Bousset 
S.  493 — 500  scharf  mit  ihm  ins  Gericht  gegangen. 

Und  doch  ist  es  ein  ganz  natürlicher  Vorgang,  daß  das  Mittel- 
stück der  Placidaslegende  ausgeschnitten  und  als  selbständige 
Geschichte  verbreitet  wurde.  Die  Ursache  ist  der  menschliche 
Heißhunger  nach  Geschichten.  Beim  Ausbruch  des  gegenwärtigen, 
schwersten  aller  Kriege  haben  viele  Zeitungen  die  Geschichten 
unter  dem  Striche  weggelassen;  allein  trotz  der  Noth  an  Papier 
und  an  Setzern  hat  der  Heißhunger  des  Publikums  überall  die  Rück- 
kehr der  Geschichten  erzwungen.  Tief  hinein  ins  Mittelalter  können 
wir  im  Occident  die  Kette  der  erzählenden  Literatur  verfolgen. 
Im  Orient  ist  noch  heute  der  Geschichtenerzähler  eine  beliebte 
Person,  und  er  ist  es  dort  stets  gewesen.  Das  bezeugt  auch  die 
reiche  Erzählungsliteratur  der  Orientalen. 

Das  Geschichtenerzählen  war  stets  eine  Kunst.  Wenige  Ge- 
schichten werden  völlig  erfunden ;  die  meisten  werden  aus  anderen 
Quellen,  mündlichen  oder  schriftlichen ,  bezogen.  Die  Geschichte 
geht,  wie  ein  Edelstein  oder  eine  schöne  Perle,  von  einer  Hand 
zur  andern  und  aus  einem  Land  ins  andere ,  bald  einzeln  gefaßt 
bald  mit  andern  zu  einem  größeren  Ganzen  vereinigt.  So  hatten 
besonders  in  den  alten  Zeiten  und  in  den  östlichen  Ländern  Viele 
für  solche  Erzählungen  ein  Interesse ,  Viele  sammelten  solche  mit 
Eifer. 

Die  vorliegende  Placidaslegende  ist  dreitheilig.  Der  Anfang 
und  der  Schluß,  die  Bekehrung  zar  Taufe  und  das  Martyrium  des 
Placidas,  sind  christlich-religiösen  Inhaltes;  aber  das  Mittelstück 
über  den  Abstieg  und  Aufstieg  oder  über  die  Trennung  und  Wieder- 
vereinigung   der  Familie  des  Placidas   ergibt   eine  Geschichte  mit 


766  Wilhelm  Meyer, 

spannender  Verwicklung  und  Entwicklung.  Das  sehen  wir,  das 
sahen  die  geübten  Erzählungskünstler  der  alten  Zeiten.  Wenn 
nun  ein  Vorderasiate,  z,  B.  ein  jüdischer  Gelehrter  des  8.  oder  9. 
Jahrhunderts,  die  Placidaslegende  las  oder  hörte,  so  mußte  ihm 
der  Gredanke  kommen,  welch;  schöne  Geschichte  gewonnen  werde, 
wenn  man  den  christlichen  Anfang  und  Schluß  wegließe  und  nur 
das  Mittelstück  weiter  erzählte.  Ein  solcher  Asiate  konnte  na- 
türlich nicht  den  lateinischen  Text  lesen  oder  hören,  sondern  nur 
den  griechischen.  Griechisch  war  die  üniversalsprache  des  näheren 
Orients,  und  die  griechische  Literatur  war  die  Lehrmeisterin  der 
übrigen  vorderasiatischen  Literaturen.  Diese  Geschichte  machte 
dann  den  Weg  von  Westen  nach  Osten.  Ebenso  sind  ja  viele 
Stücke  nachgewiesen ,  welche  die  Kunst  der  mittel-  und  ostasiati- 
schen Völker  bis  nach  China  von  der  in  Vorderasien  herrschenden 
griechischen  Kunst  bezogen  hat. 

Die  orientalische  Geschichte  ist  ein  Ausschnitt  aus  dem  grie- 
chischen Texte  der  Placidaslegende.  Das  bezeugen  auch  die  zuletzt 
berührten  Stellen,  welche  nur  dem  griechischen  Texte  und  der 
orientalischen  Geschichte  gemeinsam  sind,  die  Wahl  und  die  Flucht 
in  die  Wüste.  Das  sind  im  griechischen  Texte  Zusätze  und  Fäl- 
schungen, Erfindungen  des  Umarbeiters.  In  der  orientalischen  Ge- 
schichte ist  ihr  Vorkommen  verständlich  und  natürlich ;  aber  eben 
diese  Stellen  sind  auch  die  Brandmale,  welche  den  Ursprung  der 
Geschichte  aus  dem  griechischen  Text  bezeugen. 

Das  habe  ich  als  Philologe  dem  Folkloristen  zu  antworten 
zur  Vertheidigung  des  von  mir  edirten  lateinischen  Textes  der 
Placidas-Eustasius-Legende.  Allerdings  muß  ich  die  ganze  Hypo- 
these Bousset's  und  seiner  Genossen  mit  ihren  verwirrenden  Fol- 
gerungen abweisen.  Dafür  rücken  die  einzelnen  Stücke  der  vor- 
handenen literarischen  Überlieferung  an  die  richtige  Stelle  und  in 
das  richtige  Licht. 

I.  Zuerst  wurde  diese  Legende  im  lateinischen  Sprachgebiet, 
in  welchem  auch  der  Inhalt  spielt,  schriftlich  fixirt  in  der  von  mir 
edirten  lateinischen  Fassung.  Sie  ist  schlicht,  verständig 
angelegt  und  verständlich  ausgeführt.  Der  erste  Theil,  wo  der 
weiße  Wunderhirsch  erscheint  mit  dem  flammenden  Kreuz  im  Ge- 
weih ,  aus  dem  Christus  spricht  und  den  Placidas  bekehrt ,  sowie 
das  Mittelstück  mit  der  spannenden  Geschichte  von  dem  Nieder- 
gang und  dem  Aufstieg  der  Familie  sind  kühn  angelegt  und  be- 
zeugen die  fast  schon  mittelalterlich  romantische  Begabung  des 
Verfassers.  Natürlich  hat  er  diese  beiden  Motive  nicht  völlig  und 
selbständig  erfunden;   aber  wir  wissen  nicht,    woher  und  wie  viel 


die  älteste  lateinische  Fassung  der  Placidas-Enstasins  Legende.  767 

davon  er  aus  anderen  Quellen  bezogen  hat.  Der  Schluß  der  Le- 
gende, das  Martyriam,  ist  von  der  gewöhnlichen  Art.  Die  Hand- 
schriften zeigen  die  in  Legendenhandschriften  gewöhnlichen  starken 
Verschiedenheiten  des  Wortlauts ;  jedenfalls  fehlen  uns  noch  viele 
Mittelglieder  der  Überlieferang;  denn  eine  Scheidung  in  Familien 
läßt  sich  bis  jetzt  noch  nicht  klar  durchführen.  Aber  die  Sprache 
und  Ausdrucksweise  dieser  I.  lateinischen  Fassung,  soweit  ich  sie 
aus  den  Handschriften  festsetzen  konnte,  passen  in  das  5./6.  Jahr- 
hundert. 

la.  Der  ebenfalls^von  mir  1915  edirte  und  besprochene,  durch 
die  Zeilenform  und  den  Reim  merkwürdige  Rythmus  über  den 
Placidas-Eustasias  ist  nur  nach  dieser  I.  lateinischen  Fassung  ge- 
arbeitet, wohl  im  8./9.  Jahrhundert. 

II.  Die  I.  schlichte  Fassung  hatte  das  Schicksal  der  meisten 
Legendentexte:  sie  wurde  umgearbeitet  und  dabei  aufgeputzt. 
Doch  mäßigte  sich  der  Umarbeiter ;  er  hat  Nichts  weggelassen  und 
Weniges  umgestellt.  Aber  zugesetzt  hat  er  Vieles,  theils  um  zu 
motiviren,  theils  um  rührende,  besonders  religiöse  Zierraten  anzu- 
bringen ;  von  all  diesen  Zierraten  ist  keiner  unentbehrlich.  Diese 
Umarbeitung  wurde  höchst  wahrscheinlich  zuerst  in  griechischer 
Sprache  vor  700  ausgeführt;  von  dieser  griechischen  Fassung 
scheinen  nur  sehr  wenige  Handschriften  erhalten  zu  sein.  Schon 
um  800  scheint  eine  nahezu  wörtliche  Übersetzung  in  lateinischer 
Sprache  vorhanden  gewesen  zu  sein,  welche  in  zahlreichen  und 
alten  Handschriften  erhalten  ist :  der  lateinische  Zwillingstext.  Diese 
beiden  Texte  der  IL  Fassung  haben  die  Acta  Sanctorum  Bolland. 
gedruckt,  doch  fehlt  die  kritische  Sicherheit  der  Texte. 

III  a.  Auf  diese  zwei  Texte  der  IL  Fassung  sind  die  übrigen 
mittelalterKchen  Darstellungen  der  Placida siegende  zurückzuführen. 
So  ist  aus  dem  griechischen  Texte  eine  erneute  fast  kecke 
griechische  Umarbeitung  hervorgegangen ,  welche  fast  ganz  1884 
in  den  Acta  BoUandiana  III  66 — 112  gedruckt  ist.  Dann  ist  aus 
diesem  griechischen  Texte  der  11.  Fassung  das  Mittelstück  aus- 
geschnitten und,  wie  S.  764—766  besprochen,  als  selbständige  Gre- 
schichte  durch  verschiedene  Länder  Asiens  bis  nach  Indien  weiter 
verbreitet  worden  (s.  unten). 

III b.  Aus  dem  lateinischen  Texte  der  II.  Fassung 
stammen  viele  Übersetzungen,  Umdichtungen  und  Nachahmungen, 
welche  in  Europa  im  Mittelalter  entstanden  sind.  Darunter  sind 
etliche,  welche  ohne  Namen  nur  das  Mittelstück  der  Legende  wieder- 
geben. Also  entstehen  wiederum  2  Möglichkeiten:  1)  kann  die 
ausgeschnittene ,    namenlose    orientalische    Geschichte    selbständig 


768  Wilhelm  Meyer, 

auch  nach  Europa  gelangt  und  da  wieder  in  Dichtungen  verar- 
beitet worden  sein ;  2)  können  Erzählungskünstler  des  europäischen 
Mittelalters  selbständig  die  Sonderart  des  Mittelstückes  der  Pla- 
cidas-Eustasiuslegende  erkannt,  dies  Mittelstück  ausgeschnitten  und 
zu  einer  Dichtung  verwendet  haben.  Darüber  sind  Grerould  und 
Bousset  (s.  S.  560)  sehr  verschiedener  Ansicht.  Meine  Aufgabe  hat 
mit  dieser  Untersuchung  nichts  zu  thun. 


Nachtrag 
zu  Bousset's  Besprechung  der  indischen  Versionen  dieser 

Wandergeschichte. 

Bousset  bespricht  S.  477 — 493  die  arabischen,  persischen,  he- 
bräischen, armenischen  und  türkischen  Fassungen  der  Wanderge- 
schichte (s.  oben  S.  763).  Das  ist  natürlich;  denn  wenn,  wie  er 
behauptet,  ein  Grrieche  vor  700  n.  Chr.  diese  Wandergeschichte 
aufgegriiFen  und  zum  Aufbau  der  Placidas-Eustasiuslegende  benützt 
hat,  so  muß  das  in  Vorderasien  geschehen  sein.  Da  aber  diese 
Geschichte  vom  fernen  Osten  in  den  Westen  aus  der  vorbuddhisti- 
ßchen-indischen  in  die  mittelalterlich  -  europäische  Literatur  ge- 
wandert sein  soll,  so  war  es  für  Bousset  sehr  wichtig,  die  Exi- 
stenz der  Geschichte  in  ihrer  indischen  Heimat  zu  untersuchen. 
Das  hat  er  S.  501 — 507  gethan.  Aber  gerade  hiebei  war  er  wenig 
vom  Glück  begünstigt. 

Ogden  (Dissertation  von  Baltimore  1900)  arbeitet  in  seiner 
Tabelle  (zu  S.  6)  und  sonst,  "besonders  S.  23/24 ,  mit  4  indischen 
Versionen,  mit  Hindoo  Version,  Kasmir  V.,  Thibetan  V.  und  Pan- 
jabi  V.  Bousset  spricht  nicht  von  der  Hindoo  Version;  die  3 
andern  kennt  er  nur  durch  Ogdens  magere  Citate,  nicht  in  ihrer 
vollen  Textfassung  (s.  S.  502/3  Note  und  S.  506/7).  Gerould 
schweigt  ganz  darüber.  Dieser  Mangel  an  vielleicht  wichtigem 
Material  ärgerte  mich.  In  bibliographischen  Dingen  müssen  wir 
Deutschen  doch  Amerikanern  gleich  kommen  können.  Da  die  Eng- 
länder für  Folklore  Indiens  so  viel  geleistet  haben,  entschloß  ich 
mich,  solche  Sammlungen  aus  den  von  Ogden  genannten  Provinzen 
Indiens  durchzugehen.  Und  sogleich  der  erste  Schritt  auf  diesem 
Wege  führte  mich  nahe  an's  Ziel. 

Bei  Gerould  (Publications  of  the  Modern  Language  Association 
of  America,  XIX  =  XII  1904)  p.  395  fand  ich  für  irgend  einen 
Zweck  citirt:  J.  Hinton  Kno wies,  Folk-Tales  of  Kashmir.   Dieses 


die  älteste  lateinische  Fassung  der  Placidas-Eustasius-Legende.  769 

1888  nnd  1893  in  zwei  gleichen  Ausgaben  in  London  erschienene 
Buch  ging  ich  durch  und  fand  daselbst  S.  154 — 165  unter  dem 
Titel  'Pride  abased'  die  Kaschmir  -  Fassung  unserer  Wanderge- 
schichte. Am  Ende  steht  S.  165  folgende  Note  von  Knowles: 
This  story  .>hould  be  compared  with  its  most  interesting  variant 
•Placidus',  a  tale  from  the  Gesta  Romanorum. 

2.)  Another  variant  is  to  be  found  in  Tibefan  Tales,  the  story 
of  'Krisa  Gautami'  p.  222,  223. 

3.)  A  third  variant  is  'Swet  -  Basanta'  in  Folktales  of  Bengul 
p.  93—107. 

4.)  Another  is  that  of  ^Sarwar  and  Nir'  in  the  Legends  of  the 
Punjab  vol.  III  p.  97—125. 

Der  Missionar  Knowles  hat  es  nicht  für  nothwendig  gehalten, 
die  Herausgeber  dieser  Sammlungen  zu  nennen.  Doch  mit  Hilfe 
von  Fortescue.  Subject  Index  des  Brit.  Museums  unter  Folklore 
II  p.  45  'India'  gelang  es  auch  die  Herausgeber  dieser  vor  1888 
erschienenen  Bücher  zu  bestimmen,  no  2  ist:  Tibetan  Tales  de- 
rived  from  Indian  sources,  translated  from  the  Tibetan  of  the 
Kah-gj'ur  by  F.  Anton  von  Schief n er;  done  into  English  from 
the  German  .  .  by  W.  ß.  S.  Ralston  London  1882  (in  Berlin), 
no  3  ist:  Lal  Behari  Day,  Folk- Tales  of  Bengal.  London  1883 
(in  Berlin).  no  4 :  The  Legends  of  the  Panjäb .  by  Captain  ß. 
C.  Tempi e.  Den  3.  Band  dieser  ansehnlichen  Sammlung,  der 
1886 — 1900  erschienen  ist,  fand  ich  in  Bonn  (und  in  München). 

So  läßt  sich  denn  das  bis  jetzt  bekannte  indische  Material 
mit  Sicherheit  bearbeiten.  Beim  Suchen  nach  diesen  Sammlungen 
wandte  ich  mich  auch  an  Ernst  Kuhn  in  München.  Er  hatte  die 
Güte  mich  auf  Brands tetter's  Übersetzung  der  buginesischen 
Fassung  hinzuweisen.  Diese  führte  mich  zu  der  m  a  1  a  i  s  c  h-siame- 
sischen  Fassung.    Beide  will  ich  am  Schlüsse  besprechen. 

Leider  muß  ich  wegen  der  verwickelten  Überlieferung  nnd 
der  ziemlich  sicheren  Zeitbestimmung  auf  das  erste  Stück  Bousset's 
(S.  501/2),  die  Legende  vonPatacara  oder  Kisa-Gotami, 
mehr  Auseinandersetzungen  verwenden,  als  sie  nach  meiner  An- 
sicht hier  verdient^). 

In  den  Psalms  of  the  Early  Buddhists:  I  Psalms  of  the  Sisters 
(by  Mrs  ßhys  Davids  1909)  schildert  p.  109  Kisa-Gotami  das 
elende  Schicksal  des  Weibes  so : 


1)  Ich  erfreute  mich  dabei  des  gelehrten  Rathes  meines  Kollegen  Hermann 
Oldcnberg.  Bringe  ich  hier  Irrtümer  yor,  so  bin  natürlich  ich  schuldig  und  ver- 
antwortlich. 


770  Wilhelm  Meyer, 

Woeful  is  woman's  lot!  .  .  . 

218  Returning  home  to  give  birth  to  my  child, 
I  saw  my  husband  in  the  jungle  die. 

nor  could  I  reach  my  kin  ere  travail  came. 

219  My  baby  boys  I  lost,  my  husband  too. 
and  when  in  misery  I  leacbed  my  bome, 
lo!  where  together  on  a  scanty  pyre, 
my  mother,  father  and  my  brother  burn. 

Dies  ist  nicht  nur  eine  krasse  Schilderung  des  Unglücks,  dem 
das  Weib  ausgesetzt  ist,  sondern  die  Einzelheiten  (daß  sie  auf  der 
Rückkehr  in  die  Heimat  gebiert  und  daß  ihr  Mann  im  Walde 
stirbt)  deuten  auf  ein  bestimmtes  Ereigniß. 

Diese  Lieder  der  Schwestern  (Therigäthä)  sind  um  das  dritte, 
allenfalls  zweite  Jahrhundert  vor  Christus  entstanden.  Nun  findet 
sich  in  verschiedenen  buddhistischen  Werken  eine  Geschichte,  welche 
zu  den  citirten  Versen  paßt.  Die  Frage  ist,  ob  das  citirte  Lied 
den  Inhalt  dieser  Greschichte  resumirt  und  also  die  Greschichte 
älter  ist  als  das  Lied,  oder  ob  die  Geschichte  auf  das  Lied  hin, 
gewissermaßen  zu  dessen  Erklärung,  erfunden  ist. 

In  dieser  Geschichte  heißt  die  Schwester  meist  Patacara.  Für 
diese  Geschichte  citirt  die  Paramatthadipani  (vol.  V,  1893)  das 
Apadäna  (Param.  p.  112—115),  welches  nach  Oldenberg  (in  diesen 
Nachrichten  1912,  S.  207  Note  3)  vor  das  2.  Jahrhundert  n.  Chr. 
zu  setzen  ist.  In  dem  Apadana  wird  der  Flußübergang  deutlich 
geschildert;  das  jüngere  Kind  wird  von  einem  Vogel  (englisch 
ospray,  eine  Adlerart)  gepackt.  Dann  findet  sich  die  Geschichte 
der  Patacara  in  dem  Palicommentar  des  Dhammapala  zu  den  The- 
rigäthä (Davids  p.  69/72)  aus  dem  5./6.  Jahrhundert  nach  Chr.  und 
in  der  wohl  gleichaltrigen  Manoratha  Purani  des  Buddhaghosa 
(übersetzt  von  Mabel  Bode  im  Journal  of  the  Royal  Asiatic  So- 
ciety 1893  p.  557/8).  Dhammapala's  Text  (Paramatthadipani  V 
108—112  -f  115  =  Davids  p.  68—72)  und  Buddhaghosa's  Text  (Bode 
p.  556 — 560)  sind  nur  im  Ausdruck  verschieden.  Ich  gebe  Bodes 
Übersetzung  der  betreffenden  Stelle. 

Patacara  hatte  die  erste  Geburt  im  Hause  der  Eltern  abge- 
wartet. Dahin  zog  sie  später  mit  dem  ManlQ  und  dem  ersten  Kinde, 
um  auch  die  zweite  Geburt  dort  zu  überstehen.  Doch  schon  im 
Wald  überfielen  sie  die  Geburtswehen.  Zugleich  erhob  sich  Sturm 
und  Regen.  Der  Mann  wollte  eine  Hütte  herstellen,  starb  aber 
durch  den  Biß  einer  Schlange.  Als  sie  ihm  die  Geburt  eines  2. 
Sohnes  melden  wollte,  fand  sie  ihn  todt. 

Statt  der  Worte   des  Liedes  'My  baby    boys  I  lost'  gibt  nun 


die  älteste  lateinische  Fassung  der  Placidas-Eustasius-Legende.  771 

die  Prosa-Erzählung  Folgendes:  She  took  her  younger  child 
upon  her  side  and,  leading  the  eider  by  the  hand,  she  went  on 
her  way.  And  she  saw,  tbat  in  the  middle  of  the  road  was  (a 
river)  she  would  have  to  cross ,  and  thought  'Now  I  cannot  go 
across  carry ing  both  the  children  at  once.  I  will  put  the  eider 
boy  on  this  bank  and  carry  the  younger  one  across  to  the  further 
side.  And  when  1  have  laid  him  down  on  my  head-cloth,  I  will 
retum  and  take  the  other  and  go  across'.  So  she  went  down  into 
the  stream.  But  just  as  she,  Coming  back,  reached  the  middle  of 
the  river,  a  certain  hawk,  thinking  This  is  a  piece  of  meat',  flew 
down  to  peck  at  the  child  she  had  left.  She  threw  up  her  hands 
to  seare  away  the  hawk.  The  eider  boy,  seeing  the  motion  of 
her  hands,  thought  'She  is  beckoning  to  me',  and  stepped  down 
into  the  stream.  And  he  lost  bis  foothold  and  was  bome  away 
by  the  torrent.  And  the  hawk,  even  before  she  could  reach  him, 
bore  away  the  other  child.  So  overwhelmed  with  her  great 
sorrow,  she  went  on  her  road,  wailing  out  this  lamentation:  'Dead 
are  both  my  sons       and  my  husband  dead  upon  the  road'. 

In  der  Heimath  findet  sie  auch  ihr  Elternhaus  vom  Sturm 
zerstört  und  die  Ihrigen  todt.  Sie  zerreißt  ihre  Kleider  und  irrt 
wahnsinnig  weiter,  indem  sie  dem  obigen  Ruf  'Dead  .  .  road'  die 
Worte  zusetzt:  'And  my  mother  and  father  and  kinsfolk  they 
burn  on  one  funeral  pyre',  also  =  dem  Inhalt  der  citirten  PsalmsteUe. 

So  hatte  Patacara  die  Nichtigkeit  aller  irdischen  Verhältnisse 
an  sich  selbst  erfahren,  und  leicht  gewann  Buddha  sie  für  seine 
Lehre  und  seine  Gremeinde. 

Aufiallend  ist,  daß  die  oben  citirten  Verse,  welche  Patacara's 
Leiden  resumiren,  im  63.  Psalme  stehen,  welchen  die  Kisa-gotami 
spricht,  und  daß  Patacara  hier  gar  nicht  genannt  wird,  so  daß  es 
aussieht,  als  ob  es  die  Erlebnisse  der  Kisa-gotami  seien.  Dagegen 
zu  dem  Liede  no  47  der  Patacara  (Davids  p.  73),  welches  nichts 
von  solchen  traurigen  Erlebnissen  berichtet,  gibt  der  Commentar 
des  Dhammapala  die  oben  mitgetheilte  Fassung  der  Geschichte 
(Davids  S.  69/70).  Davids  p.  XXI  sucht  diese  Schwierigkeit  so  zu 
lösen :  das  entsprechende  Lied  der  Patacara,  von  dem  das  Apadäna 
und  der  Commentar  sprächen,  sei  verloren  gegangen.  In  der  tibe- 
tanischen Version  scheint  Kisa-gotami  an  Stelle  der  Patacara  ge- 
treten zu  sein. 

(Kisa-gotami).  Eine  Geschichte  ähnlicher  Art  gab  es  in  Ti- 
bet. Sie  weicht  im  Anfang  und  im  Schluß  vollständig  ab ,  aber 
die  Mitte  geht  nns  an  und  deckt  sich  mit  der  oben  gegebenen 
Darstellung.     Zuerst  hat    sie  Anton   von   Schiefner   ins   Deutsche 


772  Wilhelm  Meyer, 

übersetzt  (Bulletin  de  rAcademie  .  .  de  St.  Petersbourg  XXI  1876 
S.  485 — 493);  dann  hat  W.  R.  S.  Ralston  sie  aufgenommen  in: 
Tibetan  Tales  .  .  transl.  by  A.  v.  Schiefner,  done  into  the  English 
from  the  German  by  Ralston,  .1882  London  (in  Berlin)  p.  216 — 
226 :  Krisa  Gautami. 

Schiefner  S.  485  gibt  folgende  Einleitung:  Krisa  Gautami 
(Kandjur  XI.  Blatt  122 — 130).  Der  Hauptsache  nach  wird  die 
nachfolgende  Erzählung  im  25.  Capitel  des  Dsanglun  ^)  mitgetheilt, 
nur  ist  die  Trägerin  derselben  die  Bhikshunt  Utpalavarnä  (s.  Psalm 
LXIV) ;  Krcä  Gautami  (bei  den  Südbuddhisten  Kisagotami)  ist 
durch  die  von  Cap.  Rogers  aus  dem  Barmanischen  übersetzten 
'Buddhaghosa's  Parables'  (London  1870)  p.  98  ff. ,  neuerdings  be- 
kannt geworden  und  hat  dem  Prof.  Rhode  auf  der  Philologenver- 
sammlung zu  Rostock  (s.  Zft  für  das  Gymnasialwesen  1876  Febr. 
S.  118)  Anlaß  zu  Vergleichungen  mit  griechischen  Erzählungen 
gegeben  (Rohde,  Roman  2.  Aufl.  1900  S.  598/9  behandelt  die  schöne 
Sage,  welche  der  Commentar  zu  Therigatha  no  63  mittheilt)  ^). 

Zugesetzt  ist  zunächst  eine  lange,  ziemlich  dumme  Einleitung. 
Dann  folgt  (bei  Schiefner  S.  490)  folgender,  dem  obigen  paralleler 
Text:  Nachdem  sie  lange  geweint  hatte  und  sehr  traurig  ge- 
worden war,  schaute  sie  nach  allen  Weltgegenden,  nahm  den  neu- 
geborenen Knaben  an  den  Busen,  ergriff  den  älteren  an  der  Hand 
und  begab  sich  auf  den  Weg.  Da  unerwartet  ein  starker  Regen 
gefallen  und  Seen,  Teiche,  Brunnen  voll  von  Wasser  und  der  Weg 
vom  Flusse  überschwemmt  war,  dachte  sie,  daß,  wenn  sie  mit 
ihren  Kindern  zusammen  übers  Wasser  ginge,  sowohl  diese  als  sie 
selbst  zu  Schaden  kommen  würden,  deßhalb  sollten  einstweilen 
die  Kinder  zuerst  hinüber  (over  separately  Balston).  Den  altern 
Sohn  setzte  sie  ans  Ufer  des  Flusses,  den  Jüngern  nahm  sie,  ging 
hinüber  und  legte  ihn  am  Ufer  nieder.  Als  sie  darauf  nach  dem 
älteren  hinüber  ging  und  bis   in  die   Mitte   des  Flusses   gelangte, 


1)  (Dsanglun)  oder  der  Weise  und  der  Thor,  aus  dem  Tibetischen  übersetzt  . . 
von  I.  J.  Schmidt,  Petersburg  1843  S.  208.  Die  dumme  Einleitung  fehlt  hier. 
Die  Scene  am  Flusse  wird  ähnlich  und  die  verschiedenen  folgenden  Ereignisse 
werden  wenigstens  ziemlich  ähnlich  erzählt.  Den  Schluß  bildet  im  Dsanglun  eine 
Erklärung  dieser  ihrer  Erlebnisse  als  die  Folgen  von  Sünden  und  Verdiensten 
in  früheren  Existenzen.  Mit  den  P]rlebni8sen  der  Uppalavai^pa  (Therigatlia  no  64) 
besteht  keine  Ähnlichkeit. 

2)  Ralstons  Übersetzung  ist  die  von  K  n  o  w  1  e  s  ,  Folk-Tales  of  Kashmir 
1893  p.  165  citirte  'variant  in  Tibetan  Tales,  the  story  of 'Krisa  Gautami'  p.  222, 
223.  Ogden  rubricirt  sie  in  seiner  Tabelle  als  'Tibetan  Version'.  Bousset  (S. 
502/3)  sucht  vergebens  den  Text  (s.  oben  S.  769). 


die  älteste  lateinische  Fassung  der  Placidas-Eastasius-Legende.  773 

wurde  der  jüngere  Knabe  von  einem  Schakal  davon  getragen. 
Die  Mutter  aber,  in  die  Mitte  des  Flusses  gelangt,  scheuchte  die 
Hand  schwenkend  den  Schakal.  Der  ältere  Knabe  glaubte,  daß 
die  Mutter  ihn  rufe ,  und  sprang  ins  Wasser ;  da  aber  das  Ufer 
sehr  abschüssig  war,  kam  er  um,  so  wie  er  fiel.  Die  Mutter  eilte 
dem  Schakal  nach,  welcher  das  Kind  fallen  ließ  und  davon  lief. 
Als  die  Mutter  es  betrachtete,  fand  sie  es  todt  und  warf  es,  nach- 
dem sie  geweint  hatte,  ins  Wasser.  Als  sie  aber  nun  auch  den 
älteren  Sohn  vom  Wasser  einhergetragen  sah,  wurde  sie  noch  un- 
ruhiger, eilte  ihm  nach  und  fand,  daß  auch  dieser  schon  gestorben 
war.  So  des  Mannes  und  der  Kinder  beraubt,  gerieth  sie  in 
Verzweiflung  und  saß ,  nur  den  Unterkörper  bedeckt ,  allein  am 
Ufer.  Sie  hörte  das  Sausen  des  Windes,  das  Rauschen  des  Waldes 
und  der  Wogen,  sowie  das  vielfache  Singen  der  Vögel  und  weh- 
klagte über  den  Verlust  des  Mannes  uud  der  beiden  Kinder,  mit 
Gramesthränen  und  Schluchzen  hin  und  her  irrend.  Dann  wird 
noch  der  Hauseinsturz  und  der  Tod  aller  Angehörigen  kurz  be- 
richtet, ähnlich  wie  im  Pali-Commentar. 

Dann  ist  ein  geschmackloser  längerer  Schluß  hinzugefügt: 
Ivisa  Gotami  heirathet  einen  Weber :  er  schlägt  sie  oft  und  zwingt 
sie,  ihr  Kind  in  Ol  zu  sieden  und  zu  essen ;  dem  entläuft  sie.  Ein 
Karawanenführer  heirathet  sie :  er  wird  von  Räubern  erschlagen. 
Der  Räuberhauptmann  heirathet  sie :  er  wird  vom  König  erschlagen. 
Sie  kommt  in  das  Frauengemach  des  Königs :  der  König  stirbt 
und  sie  wird  in  das  Grabmal  gesteckt.  Als  Grabräuber  dies  er- 
brechen ,  kommt  sie  heraus  und  irrt  dann  wahnsinnig  und  halb- 
nackt umher,  bis  sie  endlich  zu  Buddha  kommt.  Dieser  letzte 
Theil  findet  sich  auch  im  Dsanglun  und  wird  noch  mit  Handlungen 
in   früheren  Existenzen  erklärt. 

Also  :  die  Therigatba  im  2./3.  Jahrh.  vor  Christus  sprechen 
nur  vom  Tod  der  beiden  Söhne,  sagen  aber  nichts  von  einem  Fluß- 
übergang. Dieser  kommt  aber  schon  in  dem  Apadana  im  1„2. 
Jht  nach  Chr.  vor  und  spielt  eine  große  Rolle  bei  Dhammapala 
und  Buddhaghosa  im  5./6.  Jht  nach  Chr.  und  in  dem  etwas  späteren 
tibetischen  Kandjur  (und  Dsanglun).  Bei  den  beiden  ersteren  raubt 
ein  Habicht  das  kleine  Kind,  bei  den  Tibetanern  ein  Schakal  und 
ein  Wolf.  Knowles  hat  in  seinen  Folk-Tales  of  Kashmir  schon 
1888  die  tibetanische  Gautami- Geschichte  mit  der  Placidas  -  Sage 
und  mit  der  Kaschmir-  und  Pendschab-Fassung  unserer  Wander- 
geschiehte  zusammen  gestellt.  Dann  hat  M.  Gast  er  1893  Bode's 
Übersetzung  der  Patacara-Geschichte  Buddhaghosa's  gelesen  und 
in  demselben  Bande  des  Journal  of  the  Royal  ALsiatic  Society  in 

Kgl.  Ges.  d.  Wiss.  Nachrichten.  Phil.-hist  Klasse.  1916.  Heft  5.  52 


774  Wilhelm  Meyer, 

einer  kurzen  Note  (S.  869 — 871)  sie  für  das  Original  von  vielen 
ähnlichen  Erzählungen  im  Osten  und  Westen  (auch  Clementinen 
und  Placidas)  erklärt  und  gesprochen  von  einem  'elaborate  study 
on  the  series  of  tales,  which  turn  round  the  peculiar  loss  of  wife 
(or  husband)  and  children,  and  their  finding  again  after  a  lapse 
of  time,  and  under  vastly  changed  circumstances'.  Einen  ganz 
ähnlichen  Plan  verfolgte  0  g  d  e  n  in  der  Dissertation  von  Balti- 
more 1900;  doch  kannte  er  (aus  Knowles)  nur  die  tibetanische  Ge- 
schichte der  Krisa  Gautami  (p.  24);  Gerould  (Publications  of 
the  Modern  Language  Association  XII  1904  p.  335 — 448)  weiß  von 
Nichts;  Bousset  kennt  die  Patacara- Geschichte  und  Gaster's 
Urtheil,  dann  Ogdens  Notizen  aus  der  tibetanischen  Krisa -Gau- 
tami Geschichte. 

Gaster,  welcher  in  Buddhaghosa's  Geschichte  der  Patacara 
die  Vorlage  unserer  Wandergeschichte  findet,  verkennt  natürlich 
nicht  den  großen  Unterschied  beider.  Er  sagt  darüber :  The  theme 
is  somewhat  obscured  in  the  Indian  form.  The  tale  does  not  end 
in  the  happy  way,  in  which  the  other  literary  parallels  make  it 
end.  The  Buddhist  tale  has  andoubtely  changed  and  been  adaptcd 
to  the  circumstances,  in  order  to  explain  the  conversion  and  pree- 
minence  obtained  by  Patacara.  The  primitive  form  has  been  better 
preserved  in  the  other  literatares,  where  the  wife  (or  the  hus- 
band) after  long  trouble  and  many  sufi'erings  are  re-united  with 
their  children. 

Ogden,  der  Gaster's  Ansicht  nicht  kannte,  sondern  durch 
Knowles  zum  tibetanischen  Text  geführt  wurde,  urtheilt  p.  24 
ähnlich  wie  Gaster:  The  Thibetan  version  bears  a  general  resem- 
blance  to  this  type  of  story  and,  I  believe,  must  have  been  pro- 
duced  in  unconscious  imitation  of,  or  in  deliberate  Variation  from, 
this  type  (=  die  gewöhnliche  orientalische  Art).  I  incline  to  the 
latter  alternative,  because  the  reserved  resemblance  is  marked: 
the  departure  from  home  of  hero  and  heroine;  the  birth  of  one 
child,  the  taking  of  the  hero ;  the  loss  and  death  of  the  children ; 
the  violation  (weitere  Heirathen?)  of  the  heroine.  The  story  is 
the  same,  except  that  the  outcome  in  each  instance  is  infortunate 
instead  of  satisfactory,  and  only  tili  the  nnhappy  heroine  takes 
refuge  in  religion  does  she  find  rest.  I  should,  therefore,  consider 
this  Version  modeled  on  the  general  type,  but  intentionally  per- 
verted  to  convey  a  moral  lesson. 

Dem  Urtheile  Gaster's  und  Ogden's  schließt  Bousset  S.  502/3 
sich  durchaus  an.  Die  Geschichte  der  Patacara  oder  Kisa-gotami 
sei   eine  absichtliche   buddhistische  Verdrehung  einer   volksthüm- 


die  älteste  lateinische  Fassung  der  Placidas-Eustasios-Legende.  775 

liehen  bekannten  indischen,  also  vorbuddhistischen  Geschichte. 
Dieses  Vorbild  sei  aber  unsere  Wandergeschichte  gewesen.  Wäh- 
rend das  altindische  Vorbild  in  wenig  veränderter  Form  in  die 
andern,  besonders  westlichen  Länder  sich  verbreitete,  sei  diese  re- 
ligiöse Verdrehung,  d.  h.  die  Geschichte  von  Patacara-Kisagotami 
in  den  Ländern  des  Buddhismus  weit  verbreitet  worden.  Da  diese 
buddhistische  Verdrehung  im  1./2.  Jahrhundert  nach  Chr.,  ja  viel- 
leicht schon  zur  Zeit  der  Therigatha  (2./3.  Jahrhundert  vor  Chr.) 
vorhanden  war,  so  würde  das  noch  höhere  Alter  des  indischen 
volksthiimlichen  Vorbildes  absolut  feststehen.  Bis  jetzt  fehlt 
freilich  jede  andere  sichere  Spur,  daß  das  indische  Vorbild  in  so 
alter  Zeit  existirt  habe. 

Allein  ist  denn  die  von  Gaster-Ogden-Bousset  behauptete  Iden- 
tität unserer  gewöhnlichen  Wandergeschichte  und  der  buddhisti- 
schen Geschichte  von  Patacara-Kisagotami  so  sicher  ?  Bousset  be- 
ginnt seine  Beweisführung  mit  den  Worten  'Man  erkennt  (in  der 
Patacara-Geschichte)  den  Typus  unserer  Erzählung  kaum  wieder 
so  stark  ist  sie  hier  verwandelt'  und  schließt  sie  'Wenn  unsere 
Vermuthang  richtig  ist'  ttc.  Es  handelt  sich  hier  wirklich  nur 
um  Vermuthungen. 

Die  Patacarageschichte  enthält  erstens  nur  die  erste  unglück- 
liche Hälfte  der  Wandergeschichte.  Mann  und  Kinder  werden 
nicht  von  der  Mutter  getrennt,  um  später  wieder  glücklich  mit 
ihr  vereinigt  zu  werden,  sondern  alle  drei  verderben  sie  und  sterben 
sie  sogleich.  Das  verlangt  das  Ziel  der  Patacarageschichte:  Pa- 
tacara  soll  alles  Unglück  erleben ,  das  ein  Weib  erleben  kann : 
Mann,  Kinder,  Eltern  und  Verwandte  sieht  sie  todt. 

Weßhalb,  könnte  man  einwenden,  bleibt  Patacara  (Kisagotami) 
nicht  zu  Hause  und  erlebt  da  den  Tod  des  Mannes ,  der  Kinder, 
der  Eltern  und  der  Verwandten?  Daß  sie  All  das  im  Wald  und 
Wasser  selbst  erlebt,  das  beweist  doch  gerade  die  Nachahmung 
der  Wandergeschichte.  Ja,  für  trockene  Gelehrte ,  nicht  für  das 
unmittelbar  empfindende  Volk  und  nicht  für  die  Erzählungskünstler, 
welche  das  Empfinden  des  Volkes  kannten  und  mit  packenden 
Schilderungen  sich  ihm  anzupassen  suchten.  Die  Unglücksfälle  des 
Weibes  werden  als  viel  härter  empfunden,  wenn  es  im  wilden 
Walde  gebiert,  da  den  Mann  von  der  Giftschlange  getödet  findet 
und  ebenda  selbst  erlebt ,  wie  beide  Söhne  vom  reißenden  Fluß 
und  von  wüden  Thieren  getödet  werden. 

Wenn  aber  der  buddhistische  Dichter  der  Patacara  -  Kisago- 
tami-Geschichte  wirklich  unsere  Wandergeschichte  als  Vorbild  be- 
nützt hätte,   weßhalb   hat  er  sein  Vorbild  verdreht?     War   denn 

52* 


776  Wilhelm  Meyer, 

die  tragische  Wirkung  der  Patacarageschichte  nicht  genau  die- 
selbe ,  wenn  Patacara  nach  der  Geburt  des  zweiten  Sohnes  miter- 
lebte, wie  der  Vater  versuchte  die  beiden  Kinder  über  den  ge- 
fährlichen Strom  hinüber  zu  tragen,  wie  dann  beide  durch  wilde 
Thiere  oder  Wassersgewalt  vor  ihren  Augen  verunglückten  und 
zuletzt  der  Vater  selbst  durch  das  Wasser  ertränkt  oder  von  einem 
Alligator  zerfleischt  wurde  ?  Weßhalb  sollte  der  Umdichter  seine 
Vorlage  so  verlassen  und  abgeändert  haben  ?  Man  bedenke  auch, 
welche  Rolle  in  bewaldeten  und  hügeligen  Gegenden  des  Orients 
kleinere  Wasserläufe  spielen.  Sie  sind  zahlreich  und  sie  zu  durch- 
waten, ist  oft  eine  Lust  und  eine  Erquickung.  Aber  nach  Regen- 
güssen schwellen  sie  rasch  an  und  Situationen,  wie  die  der  Pata- 
cara, treten  leicht  ein. 

Aus  diesen  Gründen  halte  ich  die  Patacarageschichte  für  ori- 
ginal und  nicht  für  eine  Verstümmelung  und  eine  Verdrehung 
einer  altindischen  populären  Fassung  unserer  Wandergescbichte, 
von  welcher  keinerlei  sonstige  Spur  zu  finden  ist. 

Die  buddhistische  Geschichte  von  Vessantara  oder  (tibe- 
tanisch) Visvantara  (Gerould  345/6,  Bousset  503/4)  weicht  von 
unserer  Wandergeschichte  zu  sehr  ab,  als  daß  ich  mich  für  be- 
rechtigt hielte,    sie  als  eine  Version  derselben  hier  zu  besprechen. 

Ebenso  wenig  kann  ich  die  von  Gerould  S.  344  und  von 
Bousset  S.  604/5  besprochene  Geschichte  aus  dem  Da^akumara- 
saritam  als  eine  Variante  unserer  Wandergeschichte  anerkennen. 

Knowles,  Folk- Tales  of  Kashmir  S.  165  nennt  als  Version 
unserer  Wandergeschichte  die  Geschichte  von  Swet-Basanta 
in  Lal  Behari  Day,  Folk-tales  of  Bengal,  London  1883  p.  93 — 
107.  Auch  in  dieser,  sehr  dummen  Geschichte  finde  ich  absolut 
keine  Variante  unserer  Wandergeschichte.  Es  ist  ziemlich  sicher, 
daß  diese  bengalische  Geschichte  es  ist,  welche  Ogden  in  seiner 
Tafel  und  sonst  mit  Hindoo  Version  bezeichnet  (freilich  'adapted 
to  the  needs  of  the  narrative').  Der  Theil  dieser  Geschichte,  wel- 
cher wohl  Knowles  zum  Citiren  verlockt  hat,  daß  Swet's  Frau 
im  Walde  gebiert ,  dann  der  verlassenen  Frau  das  schöne  Kind 
mit  einem  todten  vertauscht  wird  und  daß  später  Mutter  und  Sohn 
durch  die  Stimme  der  Natur  sich  erkennen,  findet  sich  auch  in 
der  Sammlung  von  Marie  Frere,  welche  A.  Passow  aus  dem  Eng- 
lischen übersetzt  und  mit  dem  Titel  'Märchen  aus  der  indischen 
Vergangenheit'  in  Jena  (1874)  herausgegeben  hat;  vgl.  die  Ge- 
schichte Panch-Phul-Ranee,  S.  193  ffl. 

Es  bleiben  von  den  oben  bezeichneten  Geschichten  zwei  übrig, 
die  Geschichte  aus  Kaschmir  und  die  aus   dem  Pendschab. 


die  älteste  lateinische  Fassung  der  Placidas-Eustasius-Legende.  777 

Aus  Ogdens  Andeutungen  hat  Bousset  S.  506/7  versucht,  die  beiden 
Geschichten  zu  reconstruiren.  Da  beide  Geschichten  wirkliche  Va- 
rianten unserer  Wandergeschichte  sind ,  so  gehe  ich  näher  darauf 
ein.  Freilich  indisch  sind  die  beiden  Geschichten,  aber  nicht  alt- 
indisch. 

Rev.  J.  Hinton  Knowles,  Folk- Tales  of  Kashmir,  gibt 
S.  154 — 165  die  Geschichte  mit  dem  Titel  'Pride  abased',  und  mit 
der  Note :  'Der  Erzähler  heißt  Makund  Bäyii,  der  wohnt  in  Suthü, 
Srinagar'.     (K). 

In  alten  Zeiten  wurde  ein  sehr  hochmüthiger  König  von  einem 
Nachbar  besiegt  und  vertrieben.  Mit  Frau  und  2  Knaben  floh  er 
an  das  Meer.  Der  Kapitän  eines  segelfertigen  Schiffes  versprach, 
sie  mitzunehmen;  doch,  als  er  die  Schönheit  der  Frau  sah,  nahm 
er  nur  diese  an  Bord  und  ließ  die  drei  Anderen  am  Ufer  zurück. 
Die  Frau  wies  die  Werbung  des  Kapitäns  entschieden  zurück ,  so 
daß  er  sie  an  einen  mitfahrenden  reichen  Kaufmann  verkaufte. 
Dem  sagte  sie  zuletzt  zu,  ihn  nach  2  Jahren  zu  heirathen,  wenn 
sie  bis  dahin  Mann  und  Kinder  nicht  wieder  gefunden  habe.  Der 
zurückgelassene  König  irrte  hilflos  mit  den  Kindern  an  der  Küste, 
bis  er  an  einen  Fluß  kam.  Er  trug  den  einen  Knaben  glücklich 
hinüber  und  wollte  den  andern  nachholen;  da  riß  ihn  der  Strom 
um  und  er  versank.  Ein  Fischer  brachte  die  jammernden  Knaben 
zusammen  in  sein  Haus  und  erzog  sie  mit  geiner  Frau  wie  eigene 
Kinder.  Als  sie  die  Schule  durchgemacht  hatten,  lernten  sie  das 
Fischen.  Ein  Riesenfisch  gerieth  auf  eine  seichte  Bank  des  Flusses. 
Wie  viele  Andern,  wollte  auch  ein  Töpfer  spät  Abends  sich  ein 
Stück  davon  abhauen ;  da  förderte  er  einen  lebenden  Menschen 
aus  dem  Fisch  ans  Tageslicht,  welchen  er  und  seine  Frau  auf- 
nahmen und  pflegten.  Nach  einigen  Monaten  starb  der  König 
des  Landes  und  sein  Elephant  und  Falke  (hawk)  wurden  ausge- 
sendet, um  einen  neuen  König  zu  wählen.  Sie  kamen  auch  am 
Hause  des  Töpfers  vorbei,  vor  welchem  der  wunderbar  Errettete 
stand.  Der  Elephant  kniete  vor  ihm  und  der  Falke  setzte  sich 
fiuf  .seine  Hand.  So  wurde  er  als  König  eingesetzt.  Als  eifriger 
Fischer  (aus  Gesundheitsrücksichten)  wurde  er  mit  dem  alten 
Fischer  bekannt  und  nahm  die  2  Adoptivsöhne  in  seinen  Dienst. 
In  dies  Land  kam  auch  der  Kaufmann,  zeigte  dem  König  seine 
kostbaren  Juwelen  und  Stoffe  und  bat  um  Schutz.  Als  Wachen 
wurden  ihm  die  beiden  Brüder  gesendet.  Als  sie  eines  Nachts 
nicht  schlafen  konnten,  erzählte  der  ältere  ihre  eigene  Geschichte. 
Die  Mutter  lag  nebenan  und  hörte  Alles.  Sie  erkannte,  daß  dies 
ihre  eigenen  Söhne  seien.    Dies  bestätigte  ein  Gespräch  mit  Beiden. 


778  Wilhelm  Meyer, 

Sie  erzählte  auch  ihr  Schicksal ;  die  2  Jahre  Trist  gingen  zu  Ende ; 
um  vom  Kaufmann  frei  zu  werden,  entwarf  sie  mit  ihnen  folgende 
List.  In  der  nächsten  Nacht  erhob  sie  lautes  Geschrei  und  sagte 
dem  Kaufmann,  die  beiden  "Wächter  hätten  ihr  Gewalt  anthun 
wollen.  Er  ließ  beide  vor  den  König  bringen  und  verklagte  sie. 
Auch  die  Mutter  wurde  zum  Verhör  geholt  und  berichtete,  was 
sie  des  Nachts  gehört  habe.  Darnach  seien  die  Beiden  ihre  Söhne, 
sie  aber  frei  von  ihrem  Heirathsversprechen.  Der  König  gab  nun 
sich  zu  erkennen  und  erzählte  seine  eigenen  Erlebnisse.  Als  die 
Söhne  regierungsfähig  waren,  überließ  er  ihnen  die  Regierung. 

R.  C.  Tempi e's  Legends  of  the  Panjäb,  Band  III  London 
Trübner  1900  (=  no  XXXV— LIX)  enthält  nicht  weniger  als  7 
Dichtungen,  als  deren  Verfasser  sich  nennt  Kishn  Läl  und  Shib 
Kanwar  (auch  Shibkanwar) ,  seine  Frau :  no  XLI ,  XLII ,  XL V, 
XLVI,  LVI,  LVll  und  LVIII.  Diese  7  Gedichte  sind  verfaßt  in 
Strophen  zu  je  6  gereimten  Zeilen.  Der  Reim  dieser  6  Zeilen 
ist  Paar-Reim.  Dieser  hat  jedoch  die  Eigenthümlichkeit ,  daß  er 
im  1.  und  2.  Verse  jeder  Strophe  einsilbig  sein  kann,  während 
er  im  3.  und  4.,  im  5.  und  6.  Verse  fast  immer  zweisilbig  ist. 
Die  Folge  ist,  daß  die  ersten  Zeilen  der  Strophen  oft  mit  einem 
einsilbigen  Worte  schließen,  während  die  3. — 6.  Zeilen  regelmäßig 
mit  Wörtern  von  mindestens  2  Silben  schließen.  5  Gedichte 
trennen  die  Strophen  (auch  no  LVII  p.  349 — 356  könnte  durch- 
aus so  gedruckt  werden) ;  aber  in  zweien  greifen  die  Strophen  oft 
in  einander  (no  LVI  S.  333—339 :  200  Zeilen,  d.  h.  33  Strophen  + 
2  Dichterzeilen;  und  no  LVIII  p.  364—411  besteht  aus  2  großen 
Theilen :  V.  1 — 366  =  1  +  60  Strophen  und  die  Dichterverse  367 
und  368 ;  dann  folgt  der  halb  so  große  zweite  Theil :  V.  369 — 554 
=  1-1-30  Strophen  und  die  Dichterverse  556  und  556. 

Unsere  Geschichte  (P)  ist  in  no  XLV  S.  97 — 125  enthalten  = 
56  Strophen  und  2  Dichterzeilen,  The  story  of  Sarwar  and  Nir. 
Temple  fügt  zu  dem  Titel  hinzu:  as  told  by  a  celebrated  bard 
from  Baraut  in  the  Merath  district.  Vielleicht  ist  es  Absicht  des 
Dichters,  daß  mit  Strophe  28  der  Schauplatz  der  Geschichte  sich 
ändert  und  auch  das  Geschick  der  Familie.  Die  Strophen  1 — 27 
spielen  in  Amba's  Reich  Puna  und  schildern  das  Unglück  seiner 
Familie ;  die  letzten  28  Strophen  spielen  im  Reiche  Ujjain  und 
schildern  die  glückliche  Vereinigung  der  Familie  Amba's. 

Amba  war  Raja  von  Puna,  seine  Frau  Amli,  ihre  Söhne  Sar- 
war und  Nir.  Ein  Fakir  kam  mit  seinem  Bettelruf  in  Amba's 
Garten  und  ließ  sich  ihm  melden.  Amba  und  Amli  eilten  mit  vielen 
Gaben  zu  ihm.    Doch  er  nimmt  nur  etwas  Nahrung  und  sagt,    er 


die  älteste  lateinische  Fassung  der  Placidas-Eustasius-Legende.  779 

begehre  Anderes.  Als  ihm  die  Erfüllung  seines  Wunsches  ver- 
heißen ist,  begehrt  er  Theil  an  Allem  (Str.  8  give  me  every  part 
of  thee  or  lose  thy  virtue).  Nach  kurzem  Berathen  wird  des  Fa- 
kirs Wunsch  erfüllt;  die  Eltern  verlassen  mit  den  2  Söhnen  ihr 
Land  und  leben  im  Wald  von  Früchten  und  Wurzeln  (Str.  11). 
Die  Frau  gibt  ihre  Halskette  (bodice)  dem  Mann,  er  solle  sie  im 
Bazar  (in  Benares)  verkaufen  und  dafür  Essen  für  die  hungrigen 
Kinder  bringen.  Amba  ging  zum  Kaufmann  Kundan  und  but  die 
Halskette  zum  Kauf.  Dieser  erkundigt  sich  eifrig  nach  Amli. 
Amba  sagt,  sie  sei  unter  dem  ßananenbaum  (banyan  tree)  ge- 
blieben ,  und  fordert  10  000  (rupees)  für  die  Kette.  Kundan  läßt 
ihn  im  Laden,  eilt  mit  einer  Sänfte  zu  Amli  und  heißt  sie  unter 
Vorzeigung  der  Kette,  ihm  zu  folgen;  dann  läßt  er  sie  in  sein 
Haus  tragen.  Endlich  gibt  er  in  seinem  Laden  dem  Amba  die 
Kette  zurück;  er  könne  so  viel  Geld  nicht  auftreiben  (Str.  17). 
Amba  hört  von  den  2  Söhnen,  was  bei  ihnen  vorgefallen  war.  Im 
fremden  Lande  weiß  er  sich  nicht  zu  helfen  und ,  als  die  Kinder 
klagen,  verspricht  er,  sie  zur  Mutter  zu  bringen.  Er  nimmt  sie 
auf  die  Schulter.  Da  konmit  er  an  einen  Fluß ;  über  diesen  trägt 
er  zuerst  Sarwar;  als  er  zu  Nir  zurückkehren  wollte,  packte  ihn 
ein  Alligator  (Str.  23).  Des  Morgens  fand  ein  Wäscher  die  wei- 
nenden Knaben  und  brachte  sie  in  sein  Haus,  wo  ein  Brahmane 
sie  unterrichtete.    Nach  12  Jahren  gingen  sie  nach  Ujjain  (Str.  27). 

Der  Raja  von  üjjain  bestellte  Sarwar  und  Nir  als  Wächter 
der  Frauengemächer  und  gewann  sie  lieb  (Str.  31).  Ein  Fischer 
fing  einen  Alligator  und  fand  in  dessen  Bauch  den  lebenden  Amba. 
Der  Raja  von  Ujjain  ließ  sich  von  ihm  seine  ganze  Geschichte  er- 
zählen, nahm  ihn  als  Sohn  an  und,  als  er  nach  20  Jahren  starb, 
ward  Amba  Raja  von  Ujjain  (Str.  39).  Der  Kaufmann  Kundan 
spricht  mit  Amli,  sie  solle  sein  Weib  werden.  Sie  sagt  zu;  doch 
vorher  wolle  sie  im  Ganges  baden.  Auf  dem  Zuge  dahin,  machen 
sie  Halt  in  Ujjain.  Kundan  meldet  sich  beim  König  Amla  und 
bittet  für  die  Nacht  um  Wachen  für  seine  Zelte  (Str.  41).  Sar- 
war und  Nir  hielten  die  Wache  und  sprachen  von  ihrem  Schicksal 
und  von  ihren  Eltern.  Die  Mutter  hörte  ihre  Reden  und  erkannte 
ihre  Söhne.  Sie  erhob  den  Ruf  'Diebe'  und  ließ  die  Beiden  vor 
den  König  bringen.  Da  verlangte  sie  ein  Verhör.  Alles  klärte 
sich  auf.  Kundan  wurde  gehenkt,  alle  Andern  aber  lebten  glücklich 
(Str.  55). 

Diese  beiden  Fassungen  sind  erst  im  Ende  des  vorigen  Jahr- 
hunderts von  Engländern  aus  dem  Mund  von  Indern  aufgezeichnet 
worden.    Sie  sind  also  nicht  altindisch,  sondern  modern.    Über  den 


780  Wil  heim  Mej'er, 

Dichter  Kishn  Lal  und  seinen  Strophenbau  (P)  konnte  ich  nichts 
weiter  finden.  Diese  beiden  Fassungen  der  Geschichte,  aus  Kaschmir 
(K)  und  aus  dem  Pendschab  (P),  stimmen  in  wesentlichen  Stücken 
überein  mit  der  Passung,  welche  den  in  Mittel  und  Vorder-Asien 
verbreiteten  Versionen  zu  Grunde  liegt.  Ein  König  wird  durch 
Krieg  vertrieben  (K),  die  Frau  auf  einem  Schiff  entführt  (K) ;  der 
Vater  trägt  den  einen  Knaben  über  den  Fluß,  wird  dann  von 
beiden  getrennt;  der  Vater  wird  von  Elefant  oder  Adler  zum 
König  eines  andern  Reiches  erwählt.  Die  Knaben  werden  von 
Anwohnern  des  Flusses  gerettet  und  erzogen  und  treten  in  die 
Dienste  des  Königs,  ihres  Vaters ;  eben  dahin  kommt  im  Schiff  die 
geraubte  Frau;  zu  ihrer  Bewachung  werden  die  beiden  Söhne  ge- 
schickt und  erzählen  des  Nachts  ihre  Schicksale ;  die  Frau  hört 
das  und  erkennt  ihre  Söhne ;  durch  eine  Lüge  und  Anklage  kommt 
es  zur  Untersuchung  durch  den  König  und  so  zur  Lösung  der 
ganzen  Verwicklung. 

Aber  diese  beiden  indischen  Geschichten  bringen  auch  starke 
Verschiedenheiten  von  den  übrigen  Fassungen,  die  also  in- 
dische Erfindungen  und  Neuerungen  sind ,  so  besonders ,  daß  der 
Vater  im  Fluß  von  einem  Riesenfisch  (K)  oder  einem  Alligator 
(P)  verschlungen  wird ,  dann  nach  Monaten  (K)  oder  Jahren  (P) 
lebend  aus  dessen  Bauch  befreit  wird.  Neu  ist  in  K  der  anfäng- 
liche Hochmuth  des  Königs;  besonders  stark  ist  die  Fabel  in  P 
dadurch  geändert  und  geneuert ,  daß  keine  Rede  ist  vom  Meer 
oder  einem  Schiffe  und  daß  Kundan,  der  Kaufmann  von  Benares, 
eingeführt  wird.  Ihm  will  der  König  aus  Noth  den  Schmuck  der 
Königin  verkaufen,  und  er  raubt  mit  Hinterlist  die  Frau  in  einer 
Sänfte  aus  dem  Wald  in  seine  Wohnung;  bringt  viel  später  mit 
einer  Karawane  sie  nach  Ujjain,  damit  sie  im  Ganges  bade. 
Dann  geht  P  mit  den  Jahren  mehr  als  verschwenderisch  um.  So 
raubt  Kundan  die  Frau:  aber  es  vergehen  mindestens  6  Jahre 
(27.  Str.),  bis  die  2  Söhne  nach  Ujjain  ziehen,  dann  gut  20  Jahre 
(39.  Str.),  bis  Amba  König  in  Ujjain  wird :  da  erst  spricht  Kundan 
der  Frau  vom  Heirathen  (40.  Str.). 

Die  bugische  Fassung  der  Wandersage.  Ernst  Kuhn  in 
München  machte  mich  aufmerksam  auf  das  4.  Heft  der  Malaio- 
Polyncsischen  Forschungen  von  Dr.  Renward  Brandstetter  (Luzern 
1895,  27  S.  in  4°),  welches  enthält:  Die  Geschichte  von  König 
Indjilai.  'Eine  bugische  Erzählung  ins  Deutsche  übersetzt'.  Diese 
Bugier  oder  Buginesen  bewohnen  einen  Theil  der  südwestlichen 
Halbinsel  von  Celebes.  Der  bngische  Text  ist  gedruckt  von  B.  F. 
Matthes  im  I.  Theil  seiner  'Boeginesche  Chrestomathie'  S.  28—64. 


die  älteste  lateinische  Fassung  der  Placidas-Eastasios-Legende.  781 

Im  m.  Theil  1872  gibt  er  S.  2/4  einige  Bemerkungen  dazn.  Der 
bngische  Text  sei  die  Bearbeitung  einer  malaischen  Geschichte  vom 
Fürsten  Bispoe-Rädja  ^).  Die  Einwohner  sollen  diese  Erzählung  auch 
das  Turteltaubenbach  nennen.  Es  gebe  davon  einen  bogischen  und 
einen  makassarischen  Text :  diese  seien  nur  sprachlich  verschieden. 

Der  König  Indjilai  und  seine  Frau  Sitti  Sapia  hatten  2  Söhne: 
Abeduledjumali  und  Abeduledjulali. 

In  seinem  Garten  sieJä  der  Könifj  eine  Turteltaube  und  holt  sie 
mit  dem  Blasrohr  herunter.  Sie  hitief,  sie  wolle  ihm  3  gute  Lehren 
geben,  wenn  er  sie  frei  lasse.  Doch  vom  sicheren  Baum  herunter, 
nennt  sie  ihn  einen  Dummlopf.  Drei  Tage  verfolgt  er  sie  und  zer- 
reißt Kleidung  und  Leib;  doch  er  bel'ommt  nur  neuen  Spott  zu  hören. 

Der  dumme  Streich  des  Königs  wurde  bekannt,  und  er  wurde 
deßhalb  abgesetzt.     Mit  Frau  und  Söhnen  verließ  er  die  Heimat. 

Sie  lamen  auf  ein  großes  Feld,  auf  dem  ein  Baum  stand.  Darauf 
hatte  die  Turteltaube  ihr  Nest.  Unter  dein  Baume  hielten  sie  Siesta. 
Der  jüngere  Sohn  ruhte  nicht,  bis  ihm  endlich  der  Vater  die  jungen 
Turteltauben,  deren  Mutter  nicht  anwesend  war,  zum  Spielen  herunter 
holte.  Als  die  Turteltaube  kam,  betete  sie  zu  Allah :  'trenne  Kinder j 
Gatten  und  Gattin,  wie  sie  mich  von  meinen  Kindern  getrennt  haben'. 
Als  es  Abend  wurde,  brachte  Indjilai  die  Jungen  wieder  in  ihr  Nest. 

Mit  Einbruch  der  Nacht  gelangten  die  Wanderer  an  den  Rand 
des  Waldes  und  an  einen  so  breiten  Fluß ,  daß  das  andere  Ufer 
nicht  deutlich  zu  sehen  war.  Suchend  fand  Indjilai  nur  einen 
Kahn,  der  aber  nur  3  Menschen  feißte.  Also  fuhr  er  zuerst  seine 
Frau  hinüber.  Ein  Fischer ,  der  inzwischen  bei  den  zurückge- 
lassenen Kindern  vorbeifuhr,  sah  sie  und  nahm  sie  mit.  Indjilai 
hatte  indessen  seine  Frau  ausgesetzt  und  wollte  nun  die  Kinder 
nachholen.  Doch  er  fand  sie  nicht.  Während  er  suchte,  fuhr  bei 
der  am  anderen  Ufer  wartenden  Frau  ein  Kaufmann  mit  seinem 
Schiff  vorbei,  sah  die  Frau,  holte  sie  in  sein  Schiff  und  fuhr  weiter. 
Der  zurückkehrende  Indjilai  suchte  nun  nach  seiner  Frau  —  vergeb- 
lich —  und  durchirrte  jammernd  die  Wälder.       Im  Land  Biladuta- 


1)  Mathes  sagt  S.  2:  Dit  verhaal  is  een"  geheel  vrije  Boeginesche  bewer- 
king  van  een'  Maleische  'hikäyat,  bekend  onder  den  naam  van  Geschiedenis  van 
Vorst  Bispoe -Badja,  of  juister :  Poespa  -  Wirädja  (Tijdschrift  v.  Xeerl.  Indie, 
Jaarg.  1849,  Afl.  7),  waanan  man  reeds  in  het  in  1842  versehenen  eerste  stokje 
van  Meursinge's  Maleisch  Leesboek  een  gedeelte  vinden  kan,  en  die  later  in 
1649  in  haar  geheel  is  uitgegeven  en  van  aanteckeningen  voorzien  door  J.  C. 
Fraissinet.  Men  vergelijke  ook  Dr.  J.  J.  de  Hollander's  Handleiding  bij  de  beoe- 
fening  der  Maleische  Taal-  en  Letterkande,  Tweede  dmk,  waar  men  o.  a.  een' 
körte  inhoudsopgare  aantreft. 


782  Wilhelm  Meyer, 

senipi  war  der  König  gestorben.  Der  Reichselephant  wurde  aus- 
geschickt, einen  neuen  König  zu  bringen.  Dieser  Elephant  fand 
den  Indjilai  im  Wald,  zwang  ihn  sich  auf  seinen  Rücken  zu  setzen 
und  brachte  ihn  so  als  König  heim.  Das  Land  war  unter  dem 
neuen  König  glücklich. 

Als  die  Turteltaube  ihre  Jungen  ivieder  im  Nest  fand,  widerrief 
sie  ihren  Fluch  und  bat  Gott,  Indjilai  ivieder  mit  Frau  und  Kindern 
jcU  vereinigen. 

Der  Fischer  hörte  von  seinem  neuen,  guten  Könige  und  brachte 
ihm  die  erwachsenen  Brüder  (königlicher  Art)  als  Diener.  Der  König 
machte  sie  zu  seinen  Beteldosenträgern  und  hatte  sie  gern. 

Auch  der  Kaufmann,  der  die  Frau  geraubt  hatte,  wurde  durch 
den  Ruf  des  Königs  in  die  Residenz  gelockt.  Er  machte  gute 
Geschäfte.  Zuletzt  erbat  er  eine  Abschiedsaudienz  und  überreichte 
dem  Indjilai  schöne  Geschenke.  Der  lud  ihn  dringend  ein,  wenig- 
stens die  Nacht  bei  ihm  im  Palast  zuzubringen.  Der  Kaufmann 
entgegnete,  seine  Frau  sei  auf  dem  Schiff  und  diese  könne  er  nicht 
mit  dem  wilden  Schiffsvolk  allein  lassen.  Indjilai  sandte  die  beiden 
Jünglinge  auf  das  Schiff,  um  abwechselnd  Wache  zu  halten.  Doch 
der  Jüngere  wollte  gegen  Morgen  die  Wache  nicht  übernehmen, 
sondern  noch  schlafen.  Der  Altere  machte  ihm  Vorwürfe  über 
seinen  Eigensinn.  So  habe  er  auch  dadurch,  daß  er  einst  durchaus 
mit  den  Jungen  der  Turteltaube  spielen  wollte,  sie  alle  ins  Unglück 
gebracht.  Diese  und  ähnliche  Reden  hörte  die  Frau,  erkannte 
daran  ihre  Söhne  und  umarmte  sie  mit  ziemlichem  Geschrei.  Die 
Schiffsmannschaft  erwachte  und  meinte,  die  Beiden  wollten  die 
Frau  vergewaltigen.  Der  Lärm  wurde  auch  vom  König  gehört. 
Als  er  die  Anklage  hörte,  befahl  er  die  zwei  Jünglinge  zu  dem 
Henker  zu  führen.  Der  Henker  fragte,  ob  die  Schuld  der  Beiden 
durch  Untersuchung  sicher  gestellt  sei.  Als  das  nicht  bekräftigt 
werden  konnte,  erzählte  der  Henker  eine  Geschichte,  wie  ein  un- 
gerecht Angeklagter  vorschnell  getödtet  worden  sei,  und  weigerte 
sich  die  beiden  Jünglinge  hinzurichten.  So  ging  es  beim  ersten, 
beim  zweiten  und  beim  dritten  Henker.  Da  endlich  ordnete  In- 
djilai genaue  Untersuchung  an  in  feierlicher  Gerichtssitzung.  Da 
kam  die  Wahrheit  an  den  Tag  und  Vater,  Mutter  und  Kinder  er- 
kannten einander.  Bald  wurde  der  ältere  Sohn  König,  der  jüngere 
Oberpriester. 

'Die  Turteltaube  aber  war  keine  gewöhnliche  Turteltaube,  sie  war 
ein  Heiliger.  Dieser  hatte  sich  in  die  Turteltaube  inJcarnirt  und  hatte 
dem  König  Indjilai  diese  Friifung  auferlegt.     Er  hatte  gesehen,   daß 


die  älteste  lateinische  Fassung  der  Placidas-Eustasius-Legende.         783 

der  König  die  ihm  von  Allah  gestellte  Lebensaufgabe  sonst  nicht  er- 
füllen icürde.     Und  daher  hatte  er  sich  als  Turteltaube  fangen  lassen'. 

Diese  bugische  Version  ist  vielleicht  die  zierlichste  Blüthe, 
welche  dieses  Sagenschlinggewächs  getrieben  hat.  Sie  setzt  sich 
freilich,  wie  keine  andere  Version  der  orientalischen  Wanderge- 
schichte ,  aus  2  Bestandtheilen  zusammen.  Der  eine  besteht  aus 
der  Turteltaubengeschichte  und  den  3  Geschichten,  welche  die  drei 
Henker  erzählen.  Das  sind  aber  Zusätze,  die  sich  leicht  erkennen 
und  leicht  wegschneiden  lassen.  Ich  habe  sie  deßhalb  schief  drucken 
lassen.  Sieht  man  aus  diesen  Zusätzen,  mit  welcher  Lust  die  Er- 
zähler fabulirten,  so  sieht  man  anderseits  mit  Überraschung .  wie 
treu  die  Wandergeschichte  selbst  wiedergegeben  ist  und  wie  fast 
alle  wesentlichen  Züge  der  bugischen  Geschichte  in  den  arabisch- 
türkisch-persischen Fassungen  sich  finden. 

Die  malaische  (siamesische)  Fassung.  Je  mehr  die  bugische 
Fassung  mir  gefiel,  desto  mehr  verlangte  mich,  den  schon  1849 
von  Fraissinet  veröffentlichten  malaischen  Text  kennen  zu  lernen, 
der  ihre  Vorlage  sein  sollte  (s.  S.  781  Note),  zumal  da  das  Vor- 
bild und  das  Nachbild  doch  in  manchem  Stück  verschieden  sein 
sollten.  Zuletzt  richtete  ich  an  Professor  Dr.  Renward  Brand- 
stetter  in  Luzem,  dem  wir  die  Übersetzung  der  bugischen  Fas- 
sung verdanken,  der  aber  auch  ein  gründlicher  Kenner  der  malai- 
schen Sprache  ist,  die  Bitte,  ob  er  mir  eine  Inhaltsübersicht  der 
malaischen  Fassung  geben  woUe.  Seiner  großen  Güte  verdanke 
ich  die  folgenden  Mittheilungen: 

Die  Geschichte  des  Großkönigs  Bispu  ßadja*) 
vom  Lande  Astana  Pura  Nagara.  Es  ist  eine  siamesische 
Geschichte,  auf  malayisch  nacherzählt^).  Es  lebte  ein  König  in 
einem  Reich,  auf  Siamesisch  t-|-k-hs-fl-fa^),  ins  Malayische  über- 
setzt: Astana  Pura  Nagara  geheißen.  Dieser  König  hieß  Bispu 
Radja,  seine  Gemahlin  Puteri  Komala  Kgsna*);   die   zwei  unmün- 


1)  Nach  De  Hollander  ist  der  richtige  Name  Puspa  Wiradja. 

2)  'dipindahkan' :  Dies  kann  bedeuten  'übersetzen"  oder  auch  (freier)  'nach- 
erzählen'. 

3)  t  +  k  +  s-fl  +  a-  Die  Vokale  zwischen  den  Konsonanten  sind  nicht  ge- 
schrieben, und  ich  habe  kein  Hilfsmittel,  um  sie  zu  erkennen ;  aber  ich  vermuthe, 
es  liege  eine  Entstellung  des  altindischen  Städtenamens  Taksagilä  vor.  Es  sind 
ja  auch  alle  andern  Namen  altindisch,  keiner  siamesisch.  Damit  weist  die  sia- 
mesische Version  auf  die  Sanskritliteratur  hin.  Der  Text  selber  meint  allerdings, 
t-}-k-j-s-fl-|-a  sei  siamesisch  und  bedeute  ins  Malayische  übersetzt :  astana 
pura  nagara. 

4)  Das  altindische  Lehnwort  putri  wird  im  Malayischen  puteri  ausgesprochen, 
komala  ist  ein  wunderbarer  Edelstein,    kesna  ist  aus   altindisch  krSiia  entstellt. 


784  Wilhelm  Meyer, 

digen  Söhne  hatten  die  Namen  Djaya  Indera  und  Djaya  Tjand6ra. 
Der  König  regirte  weise  und  gerecht,  vor  allem  aber  war  er  milde 
und  menschenfreundlich^).  Da  faßte  der  Bruder  des  Königs  den 
Entschluß,  ihn  vom  Throne  zu  stoßen.  Um  jedes  Blutvergießen  zu 
verhüten,  zog  es  der  menschenfreundliche  Bispu  ßadja  vor,  mit 
den  Seinen  das  Land  zu  verlassen  und  sein  Schicksal  in  die  Hände 
der  glorreichen  erhabenen  Götter  zu  legen  ^). 

Die  Flucht  wird  nun  gleich  erzählt  wie  im  Indjilai  S.  6 — 7. 
Nur  die  zweite  Turteltaubengeschichte  ist  viel  blasser.  Sie  lautet 
bloß:  Die  beiden  Söhnlein  sahen  ein  Nest  mit  jungen  Papageien 
und  wollten  mit  ihnen  spielen.  Nach  einigem  Bedenken  (es  sei  eine 
Sünde,  Mutter  und  Kinder  zu  trennen)  holte  der  König  die  Vögel 
herunter;  die  Knaben  spielten  mit  ihnen;  dann  trug  der  Vater 
sie  wieder  ins  Nest,  zur  Freude  der  Papageienmutter.  Anders  als 
im  Indjilai  (S.  7/8)  erzählt  ist  der  Übergang  über  den  3000  Faden 
breiten  Fluß ;  der  Vater  ließ  die  2  Knaben  am  Ufer  zurück  und 
versuchte  seine  Frau  hinüber  zu  tragen.  Große  Fische  schauten 
mitleidsvoll  zu  und  trugen  dann  beide  hinüber.  Hierauf  erfolgte, 
wie  Indj.  S.  8,  der  Raub  der  Mutter  einerseits  durch  einen  Schiffs- 
herrn, und  der  beiden  Kinder  anderseits  durch  einen  Fischer. 

Die  folgenden  Geschehnisse  sind  gleich  erzählt  wie  im  Indjilai 
S.  7 — 15.  Nur  hat  der  malayische  Text  eine  Einzelheit  mehr,  die 
Indjilai  S.  11  fehlt.  Sie  lautet:  Dem  König  fiel  die  Ähnlichkeit 
der  beiden  Knaben,  welche  der  Fischer  ihm  anbot,  mit  seinen 
eigenen  Söhnen  auf;  aber  der  Fischer  konnte  ihn  überzeugen,  daß 
es  seine,  des  Fischers,  Kinder  seien.  Indj.  S.  14  mahnt  der  ältere 
Bruder  den  jüngeren,  sie  müßten  des  Königs  Befehl  gut  erfüllen; 
denn  sie  seien  königlichen  Bluts.  Der  jüngere  weiß  nichts  davon, 
und  so  wird  ihm  das  Schicksal  der  Familie  erzählt. 

Statt  der  drei  Henkergeschichten  Indjilai  S.  16 — 24  folgen  im 
malayischen  Texte  vier  Torwärtergcschichten  und  diese  sind  so  ein- 
geleitet :  Der  König  befahl  seinem  Henker,  die  beiden  Pagen  — 
es  waren  seine  eigenen  Söhne,  ohne  daß  er  es  wußte  —  sofort, 
also  um  Mitternacht,  aus  der  Stadt  zu  führen  und  zu  töten.  Der 
Henker  nahm  die  Pagen,  ging  zum  Osttor  und  weckte  den  Tor- 
wärter. Dieser,  neugierig,  ließ  sich  zuerst  erzählen,  was  man 
den  Pagen  zur  Last  lege,  fand  dabei,  daß  man  voreilig  gehandelt ; 


1)  Die  Episode  mit  der  Turteltaube,  in  meinem  Indjilai  S.  1 — 5,  fehlt  also 
in  der  malayischen  Version. 

2)  Die  dewata  mulya  raya  =  die  glorreichen  erhabenen  Götter   werden   in 
unserm  Text  oft  als  Lenker  des  Schicksals  genannt 


die  älteste  lateinische  Fassang  der  Placidas-Eastasius-Legende.  785 

daß  die  Sache  zu  wenig  untersucht  sei ;  es  sei  auch  niemals  Brauch 
gewesen,  jemand  um  Mitternacht  hinzurichten.  Kurz,  er  weigerte 
sich,  das  Tor  zu  öffnen.  Und  zu  seiner  Rechtfertigung  erzählte 
er  noch  eine  Geschichte,  wie  jemand  voreilig  eine  Tötung  veran- 
Isißt  und  es  nachher  bitter  bereut  habe.  Darauf  geht  der  Henker 
zum  Süd-,  West-,  Xordtor:  überall  spielt  sich  die  gleiche  Scene 
ab,  so  daß  der  Henker  nicht  aus  der  Stadt  kommen  und  die  Hin- 
richtung nicht  vollziehen  kann. 

Von  den  vier  Torwärtergeschichten  decken  sieh  die  erste, 
zweite,  vierte  mit  den  drei  Henkergeschichten  im  Indjilai  S.  16 
bis  24. 

Die  dritte  malayische  Greschichte,  die  im  Indjilai  fehlt,  lautet : 
'Bauersleute  hatten  ein  zahmes  Wiesel,  das  ihnen  sehr  lieb  war; 
denn  in  ihrer  Abwesenheit  hütete  es  ihr  Haus  und  ihre  Wiegen- 
kinder. Einst  überfiel  eine  Schlange  die  beiden  Wiegenkinder  und 
biß  sie  todt.  Das  Wiesel  kam  zu  spät,  um  die  Kinder  zu  retten ; 
allein  es  verfolgte  die  Schlange ,  und  es  gelang  ihm ,  sie  tot  zu 
beißen.  Als  die  Bauersleute  heim  kamen  und  ihre  toten  Kinder 
und  das  Wiesel  mit  blutiger  Schnauze  erblickten,  hielten  sie  dieses 
für  den  ]\Iörder  und  erschlugen  es.  Später  entdeckten  sie  die 
totgebissene  Schlange,  errieten  den  Zusammenhang  und  bereuten 
es  bitter,  den  treuen  Wächter  schuldlos  getötet  zu  haben'. 

Der  Henker  begibt  sich  nun,  —  es  war  unterdessen  Morgen 
geworden ,  mit  den  beiden  Pagen  wieder  zum  König  und  erzählt 
ihm,  was  er  an  den  vier  Toren  erlebt.  Da  wird  dieser  stutzig 
und  beschließt  eine  einläßliche  Untersuchung. 

Diese  Untersuchung  und  ihr  Ergebniß  wird  gleich  erzählt,  wie 
im  Indjilai  S.  25—27;  doch  fehlt  natürlich  der  Vorwarf  wegen 
der  Turteltauben,  Indj.  S.  26. 

Der  Schluß  der  Erzählung  ist  im  malayischen  Text  weitläu- 
figer als  im  Indjilai  S.  27.  Er  lautet:  'Nach  der  Wiedervereini- 
gung der  Eltern  und  der  Kinder  wurden  im  ganzen  Land  frohe 
Feste  gefeiert.  Längere  Zeit  lebten  die  vier  glücklich  miteinander. 
Da  reifte  im  Herzen  des  Königs  der  Entschluß,  er  wolle  sich  ganz 
dem  Dienste  der  glorreichen  erhabenen  Grötter  widmen  und  also 
als  König  abdanken.  Er  berief  die  Reichsgroßen  und  fragte  sie, 
ob  sie  seinen  älteren  Sohn,  Djaya  Indöra,  als  seinen  Nachfolger 
anerkennen  wollten.  Diese  waren  einverstanden  und  nach  langen 
Vorbereitungen  fand  die  Krönung  des  neuen  Königs  unter  großen 
Festlichkeiten  —  die  einläßlich  beschrieben  werden  —  statt. 
Jetzt  führte  der  König  seinen  Plan  aus,  und  lebte  nur  noch  dem 
Dienst   der    Götter.       Unterdessen    war   im   Lande   Astana  Pura 


786  Wilhelm  Meyer, 

Nagara  der  Usurpator  gestorben.  Die  Reichsgroßen  hatten  schon 
von  den  wunderbaren  Schicksalen  ihres  geflohenen  rechtmäßigen 
Königs  und  seiner  Angehörigen  gehört.  Sie  schickten  daher  eine 
Gesandtschaft  an  Djaya  Indera  und  baten  ihn,  sich  des  verwaisten 
Reiches  anzunehmen.  Dieser  ernannte  seinen  jüngeren  Bruder, 
Djaya  Tjandßra,  zum  Herrscher  des  väterlichen  Reiches,  und  gab 
ihm  heilsame  Lehren  mit.  Unter  ungeheuerm  Jubel  wurde  der 
neue  König  in  Astana  Pura  Nagara  empfangen. 

Diese  Mittheilungen  Brandstetters  klären  die  Entwicklung 
dieser  Wandergeschichte.  Zunächst  der  siamesisch-malaischen  und 
der  bugischen  Fassungen.  Die  Identität  der  Thorwärter-  und  der 
Henkergeschichten  zeigt,  daß  wirlich  der  malaische  Text  die  Vor- 
lage des  bugischen  gewesen  ist.  Also  ist  die  ganze  Turteltauben- 
geschichte nur  eine  Erfindung ,  ein  Zusatz  des  Bugiers.  Ebenso 
sind  die  Thorwärtergeschichten  des  siamesisch-malaischen  Textes, 
von  denen  sonst  keine  Spur  zu  finden  ist,  nur  ein  Zusatz  der  be- 
treff'enden  Fassung.  Es  sind  auch  rein  äußerliche  Zusätze,  keine 
Änderungen,  welche  mit  dem  Innern  der  Greschichte  zusammen- 
hängen, und  sie  lassen  sich  fast  ohne  Mühe  von  dem  Ganzen  ab- 
lösen. Denen,  welche  sie  zugefügt  haben,  scheint  für  ihre  Er- 
zählerzwecke die  Geschichte  zu  kurz  gewesen  zu  sein ;  sie  haben 
durch  jene  bequemen  Zusätze  sie  verlängert. 

Die  Urform  der  orientalischen  Wandergescbichte.  Wenn 
wir  von  der  siamesisch-malaischen  und  von  der  bugischen  Fassung 
die  offenbaren  Zusätze  wegschneiden  und  die  übrig  bleibende  Ge- 
schichte selbst  betrachten,  so  zeigt  sich,  daß  dieselbe  mit  den  ara- 
bisch-persisch-türkischen Fassungen  merkwürdig  übereinstimmt. 
Für  mich  ergibt  sich  nun  zum  Schluß  eine  neue  Aufgabe.  Ich 
habe  behauptet,  daß  das  spannende  Mittelstlick  der  Placidaslegende 
nach  700  aus  dem  griechischen  Texte  der  Legende  ausgeschnitten 
und  in  Vorder-  oder  Mittelasien  zu  einer  selbständigen  Geschichte 
in  einer  orientalischen  Sprache  um-  und  ausgearbeitet  worden  sei. 
Es  gilt  nun,  aus  dem  Wirrwarr  der  vielen  orientalischen  Ver- 
sionen diese  Urform  herauszuschälen,  in  welcher  diese  Geschichte 
zuerst  den  orientalischen  Erzählern  zu  ihrem  weitern  Gebrauch 
überantwortet  worden  ist.  Dabei  sind  verschiedene  Umstände  zu 
beachten.  Das  Erzählen  ist  eine  freie  Kunst.  Der  Erzähler  darf 
die  Geschichte  abändern,  wie  er  will,  aber  sie  muß  den  Hörern 
gefallen.  Dafür  ist  eine  Hauptbedingung,  daß  sie  den  Anschauungen 
und  Gefühlen  der  Hörer  entspricht.  Im  Placidastext  ist  der 
Held  Reichs feldherr  und  nach  langem  Elend  wird  er  wieder 
glücklich  als  Feldherr.     Das   ist  unkünstlerisch.     In  der  selbstän- 


die  älteste  lateinische  Fassung  der  Placidas-Eustasius-Legende.         787 

digen,  orientalischen  Greschichte  ist  der  Held  ein  König  und,  als 
nach  langem  Leiden  ihm  das  Glück  wieder  lächelt,  wird  er  wieder 
König.  Im  Placidastext  werden  die  beiden  Brüder  nach  der  festen 
Ordnung  des  römischen  Staates,  welche  der  Grieche  Kap.  15  nennt, 
regelrecht  ausgehoben  und  kommen  so  zu  ihrem  Vater,  dem  Ober- 
kommandanten. Das  war  römisches  Recht.  Dafür  fehlte  dem 
orientalischen  Volk  das  Verständniß.  In  der  orientalischen  Ge- 
schichte werden  die  beiden  Jünglinge  auf  diesem  oder  jenem  Wege 
Diener.  Pagen,  Trabanten  oder  Beteldosenträger  des  Königs. 

Am  wichtigsten  ist  es,  daß  die  Erzählungen  den  Anschauungen 
über  die  sociale  Stellung  des  Weibes  entsprechen.  Ein  empfind- 
licher Punkt  war  da  in  der  Placidaslegende  das  Schicksal  seiner 
vornehmen  Gemahlin.  Sie  wird  die  Beute  eines  Schitfsherrn,  und 
erst  nach  14  Jahren  tritt  sie  wieder  an  die  Seite  ihres  Gemahls. 
Da  verlangt  die  Decenz,  daß  sie  inzwischen  nicht  die  Bettgenossin 
des  Räubers  gewesen  ist.  Der  lateinische  und  der  griechische 
Text  berichten  wiederholt  ihre  ünberührtheit ,  und  vor  Allem 
lassen  sie  den  Schifi^sherm  baldigst  sterben.  Ihre  nachherige  Stel- 
lung in  der  barbarischen  Grenzstadt  wird  etwas  im  Dunkel  ge- 
halten (s.  S.  753/4).  Doch  als  das  römische  Heer  siegreich  einzieht 
und  sie  in  seinen  Reihen  ihre  eigenen  Söhne  wiederfindet,  geht 
sie  zum  Feldherm:  'Civis  Romana  sum  und  a  barbaro  incontami- 
nata,  und  das  sind  meine  Söhne'.  Eür  Orientalen  außerhalb  der 
römischen  Rechtssphäre  waren  das  fast  undenkbare  Verhältnisse. 
Da  ist  die  Frau  nichts  ohne  den  schützenden  Mann.  Deßhalb  finden 
sich  hier  in  der  orientalischen  Fassang  durchgreifende  Änderungen. 
Der  Schiffsherr  bleibt  leben  bis  zum  Schluß,  behält  die  Frau  bei 
sich  im  Schiff  und  kommt  mit  ihr  am  Ende  auch  in  die  Stadt,  wo 
der  Mann  König  und  die  Söhne  seine  Diener  sind.  Die  beiden 
Söhne  werden  als  Wache  auf  das  Schiff  geschickt  und  aus  ihren 
Gesprächen  von  der  Mutter  als  ihre  Söhne  erkannt.  Das  Ver- 
hältniß  der  Frau  zum  Schiffsherrn  während  langer  Jahre  wird  hie 
und  da  gar  nicht  berührt,  wie  in  der  malaisch  bugischen  Fassung. 
Mitunter  gebraucht  sie  ihre  weiblichen  Künste  und  erreicht  eine 
Zeit  der  Schonung.  Wahrscheinlich  hat  in  der  ersten  orienta- 
lischen Umarbeitung  die  Frau  gegen  die  Liebe  des  Schiffsherm 
sich  hartnäckig  gewehrt  und  wurde  deßhalb  in  einen  Kasten  ein- 
gesperrt im  Schiff  mitgeführt,  wie  noch  heute  solche  Haremskästen 
auf  den  türkischen  Passagierschiffen  sollen  zu  sehen  sein.  Denn 
dann  paßt  am  besten  der  gewöhnliche  und  wohl  ursprüngliche 
Schluß  der  orientalischen  Geschichte,  daß  die  Frau,  als  sie  ihre 
Söhne  erkennt,  laut  anfängt  zu  schreien,   diese  wollten  sie  verge- 


788  Wilhelm  Meyer, 

wältigen,  und  durch  diese  List  es  erreicht,  daß  sie  aus  dem  ver- 
borgenen SchifFsversteck  in  die  offene  Gerichtshalle  des  Königs 
gebracht  wird.  Bei  jeder  Verschiedenheit  des  griechischen  Pla- 
cidastextes  und  der  orientalischen  Geschichte  müssen  wir  also  fragen, 
ob  ein  derartiger  Grund  zur  Umänderung  vorgelegen  haben  kann. 

Die  orientalischen  Versionen  sind  ein  bunter  Schwärm  voll 
der  seltsamsten  Zusätze  und  Abänderungen,  so  daß  man  oft  rathlos 
nach  dem  richtigen  Wege  suchen  muß.  Da  mag  man  oft  mit  fol- 
gendem Wegweiser  sich  zurecht  finden.  Sobald  alle  oder  etliche 
orientalischen  Versionen  oder  auch  nur  eine  einzige  dasselbe  bringen 
wie  der  griechische  Placidastext ,  so  ist  dieser  Bericht  der  echte 
und  stand  in  der  ersten  orientalischen  Ausprägung  der  Geschichte. 

So  ist  ein  Hauptstück  der  Geschichte  der  Bericht  über  den 
Raub  der  Frau  und  über  den  Flußübergang  der  Kinder.  Zuerst 
entführt  ein  Kapitän  in  seinem  Schiffe  die  Frau.  Ich  habe  dann 
oben  S.  751/3  dargelegt ,  wie  umständlich  der  Placidastext  schil- 
dert ,  wie  der  Vater  einen  Sohn  nach  dem  andern  über  den  Fluß 
tragen  will  und  wie  wilde  Thiere  die  beiden  Söhne  forttragen, 
den  einen  ein  Löwe,  den  zweiten  ein  Wolf.  Gehen  wir  nun  die 
orientalischen  Versionen  durch,  so  finden  wir  bei  Bousset  S.  481 
no  2 :  zuerst  'wird  die  Frau  durch  einen  Kaufmann  geraubt  und 
entführt  (im  Schiff).  Dann  am  Fluß  trägt  er  den  einen  Sohn  über 
den  Fluß ;  da  wird  der  am  Ufer  zurückgebliebene  andere  von  einem 
Wolfe  geraubt,  und,  als  er  dem  zu  Hilfe  eilt,  reißt  ihm  der  Strom 
den  ersten  fort'.  no  6  (S.  489) :  'Seine  Frau  wird  von  Piraten 
geraubt'  .  .  .  'Ein  Wolf  raubt  den  einen  der  beiden  Knaben.  Als 
er  mit  dem  anderen  einen  Fluß  überschreiten  will,  wird  ihm  dieser 
vom  Strom  entrissen.  Der  eine  wird  von  Hirten,  die  ihn  dem 
Wolf  entreißen,  aufgezogen;  der  andere  von  einem  Fischer  aus 
dem  Strome  aufgefischt'.  Also  hier  trat  wenigstens  ein  Wolf 
auf;  weiterhin  wird  kein  Raubthier  erwähnt.  Denn  no  3  (S.  482) 
berichtet :  'die  Frau  wird  von  dem  Schiffsherrn  geraubt' ;  'Vater 
und  Söhne  kommen  an  einen  großen  Fluß  und  der  Vater  schwimmt 
mit  dem  jüngeren  hinüber.  In  der  Mitte  des  Flusses  läßt  er  den 
Knaben  fallen,  da  der  Strom  ihm  zu  stark  geworden  ist'.  no  5 
(S.  488)  'Ein  Handelsherr  lockt  die  Frau  auf  sein  Schiff  und  fährt 
mit  ihr  von  dannen'.  Der  Vater  'kommt  mit  den  Söhnen  an  einen 
Fluß;  den  einen  trägt  er  hinüber,  wird  aber,  wie  er  zurückkehrt, 
um  den  zweiten  zu  holen,  von  den  Fluten  fortgerissen'.  Nach 
der  Version  von  Kaschmir  (Knowles  S.  150)  wird  die  Frau  von 
einem  Schiffsherrn  entführt.  Der  Vater  ka-m  mit  den  Söhnen  an 
einen  Fluß  und  'he  got  across  safely   with  one   of  his   sons,   and 


die  älteste  lateinische  Fassung  der  Placidas-Eustasius- Legende.         789 

was  returning  to  fetch  the  other,  when  the  force  of  the  current 
overcame  him,  and  he  was  .  .  drowned'.  Stärker  verändert  sind 
die  folgenden  Versionen:  no  1  (S.  479)  Den  Flüchtlingen  (Vater, 
Mutter,  beide  Söhne)  'stellt  ein  seichter  Meeresarm  sich  als  Hinder- 
niß  entgegen.  Der  König  trägt  seine  beiden  Söhne  hinüber  und 
setzt  sie  am  jenseitigen  Ufer  ab.  Als  er  dann  auch  seine  Frau 
herüber  geholt  hat,  findet  er  die  beiden  Knaben  nicht  mehr  am 
Platze'.  Stark  geändert  sind  die  übrigen  Versionen:  no  4  (S, 
487)  'Mann,  Frau  und  Kinder  besteigen  ein  Schiff,  aber  das  Schiff 
geht  zu  Grunde  und  die  gesamte  Familie  wird  getrennt'.  In  no  8 
(S.  493)  werden  in  der  Steppe  die  beiden  Knaben  von  Räubern 
geraubt ,  die  Frau  von  einem  Reitersmann  entführt'.  In  no  7 
(S.  491)  kommt  ein  Frauenraub  oder  Flußübergang  nicht  vor. 

Die  orientalische  Urform  der  Wandergeschichte,  welche  aus 
dem  griechischen  Placidastext  umgearbeitet  war,  stand  offenbar 
dem  griechischen  Text  noch  ziemlieh  nahe ;  vgl.  no  2  und  6.  Die 
übrigen  Versionen  geben  ein  immer  blasseres  Bild  ihrer  Vorlage. 
Man  versuche,  Bousset's  Lehre  zu  folgen  und  die  orientalischen 
Fassungen  als  Vorläufer  und  der  griechischen  gleichberechtigt  zu 
verstehen.     Wo  ist  da  eine  vernünftige  Entwicklung? 

Hervorzuheben  ist  noch :  ganz  wie  in  dem  griechischen  Pla- 
cidastext, ebenso  wird  in  diesen  orientalischen  Versionen  zuerst 
(am  Meer)  die  Frau  von  einem  Schiffsherrn  geraubt;  erst  später 
kommen  Vater  und  Söhne  Ein  den  Fluß. 

Nun  finden  wir  in  der  bugischen  Version  (s.  S.  781/2  =  In- 
djilai  S.  7/8),  eine  andere  und  sehr  einfache  Schilderung  dessen, 
worauf  es  hier  ankommt,  d.  h.  der  Trennung  der  Familie.  Vater, 
Mutter  und  die  2  Söhne  kommen  an  einen  Fluß ,  der  so  breit 
war,  daß  man  von  einem  Ufer  aus  einen  Menschen,  der  am 
andern  Ufer  stand,  nicht  sehen  konnte.  Der  Vater  suchte  also 
einen  Kahn  und  fand  endlich  einen,  der  aber  höchstens  drei  Per- 
sonen faßte.  Zuerst  brachte  er  seine  Frau  hinüber  und  ließ  sie 
aussteigen.  Gerade  in  der  Zeit  fuhr  ein  Fischer  mit  seinem  Kahn 
am  andern  Ufer  an  den  verlassenen  Kindern  vorbei,  sah  sie  und 
brachte  sie  in  seinen  Kahn  und  in  sein  Hans.  Der  Vater  fuhr 
jetzt  zurück,  um  die  Kinder  nachzuholen.  Gerade  in  der  Zeit 
fuhr  am  andern  Ufer  an  der  einsamen  Mutter  ein  Kaufmann  mit 
seinem  Schiff  vorbei ;  wie  er  die  schöne  Frau  sah ,  brachte  er  sie 
in  sein  Schiff  und  segelte  weiter.  Der  Vater  fand  natürlich  seine 
Kinder  nicht  und,  als  er  nach  langem  Suchen  an  das  andere  Ufer 
zu  seiner  Frau  zurückkehren  wollte,  fand  er  auch  diese  nicht  und 
irrte  nun  wehklagend  in  den  Wäldern  umher.      Die  Aufgabe   des 

Kgl.  Oes.  d.  Wiss.  Nachrichten.    Phil.-hist.  Klasse.    Heft  5.  53 


790  Wilhelm  Meyer, 

Erzählers,  die  Familie  zu  trennen,  ist  so  mit  Hilfe  des  zu  kleinen 
Kahnes    ganz    einfach,    gründlich    und    rasch  gelöst. 

Unter  anderen  Umständen  könnte  man  schwanken,  welche 
Darstellung  die  ursprüngliche  sei.  Aber  hier  ist  sicher:  da  die 
Darstellung  der  übrigen  orientalischen  Versionen  hier  mit  der  grie- 
chischen stimmt  und  aus  ihr  excerpirt  ist,  so  ist  diese  hinterin- 
dische Darstellung  nur  der  geistreiche  Einfall  eines  Weitererzählers, 
sehr  geschickt  und  fein  erfunden,  aber  eben  nur  seine  Erfindung, 
eine  Interpolation,  zu  welcher  vielleicht  die  überfahrenden  Fische 
des  Malaien  (S.  784)  den  Anlaß  gegeben  haben. 

Viele  andere  Verschiedenheiten  finden  sich  in  den  verschie- 
denen orientalischen  Versionen.  Sie  zu  brandmarken,  brauchts 
meistens  nicht  lange  Untersuchungen  und  Vergleichungen.  Sie 
verrathen  sich  durch  die  Wildheit  und  Keckheit  der  Phantastik. 
Den  orientalischen  Erzählungskünstlern ,  besonders  den  indischen 
ging  es  oft  wie  den  unsern.  Von  all  den  spannenden  Erzählungen 
wurden  die  Hörer  a-bgespannt.  Um  sie  wieder  anzulocken  oder, 
wie  man  jetzt  sagt,  um  ihre  Nerven  aufzupeitschen,  überboten 
manche  Erzähler  sich  in  den  tollsten  Erfindungen.  So  bringt  im 
griechischen  Text  Placidas  die  Zeit  seiner  Erniedrigung  als  Feld- 
hüter hin :  in  den  Versionen  aus  Kaschmir  und  aus  dem  Pendschab 
bringt  er  diese  Zeit  (Monate  oder  Jahre)  im  Bauche  eines  Wal- 
fisches oder  Alligators  zu  und  kommt  erst  ans  fröhliche  Tages- 
licht, als  das  Thier  auf  den  Strand  geräth  und  das  Volk  sich 
Fleischstücke  zum  Essen  abhackt  ^). 


1)  Die  Kaschmirversion  (s.  S.  777)  hat  sonst  auch  recht  lederne  Züge;  so 
im  Anfang  die  Hofleute,  die  auf  des  Königs  Frage:  Wo  sonst  ist  es  so  prächtig 
wie  bei  uns  ?  stets  antworten :  Nowhere  eise  ;  die  Knaben,  welche  brav  zur  Schule 
gehen  und  Alles  lernen,  was  der  Lehrer  sie  lehren  kann ;  den  allzu  eifrigen  König, 
dem  die  Hofärzte  Sport  verordnen.  In  der  Pendschabversion  (s.  S,  778)  sind 
außer  dem  Alligator  noch  andere  Neuerungen,  so  besonders  der  Fakir,  dann  Kun- 
dan,  der  den  Schmuck  der  hungernden  Königin  kaufen  soll,  aber  statt  dessen 
heimlich  im  Walde  die  schöne  Frau  in  eine  Sänfte  packt  und  in  sein  Haus  schafft, 
wo  er  ihr  nach  gut  30  Jahren  von  Heirath  spricht.  Ich  glaube  K  und  P  sind  in 
vielen  Stücken  Fabrikate  des  19.  Jahrhts.  Jedenfalls  war  das  Urtheil  Bousset's, 
der  freilich  nur  die  magern  Notizen  Ogden's  kannte,  etwas  voreilig  und  unglück- 
lich, wenn  er  S.  541  den  für  ihn  so  wichtigen  indischen  Ursprung  der  Geschichte 
so  skizzirt:  So  wird  es  sehr  wahrscheinlich,  daß  die  von  Ogden  nachgewiesenen 
Märchen  aus  Kaschmir  und  dem  Pendschab,  die  den  Charakter  des  ursprünglichen 
Märchens  viel  getreuer  erhalten  haben,  mit  leichter  Umwandelung  direkt  der  alten 
indischen,  vorbuddhistischen  Yolkserzählung  entstammen. 

Mitunter  ist  recht  übel,    was  man  als  indische  Folklore  genießen  muß.    So 
spielt  in  der  S.  769  und  776  citirten  Geschichte  von  Swet  und  Basanta  ein  junger 


die  älteste  lateinische  Fassung  der  Placidas-Eustasius-Legende.         791 

Ich  will  versuchen ,  nach  diesen  Grundsätzen  die  Form  fest- 
zusetzen, welche  das  Mittelstück  der  griechischen  Placidaslegende 
erhalten  hat,  als  dasselbe  nach  700  ausgeschnitten  wurde  und  in  einer 
orientalischen  Sprache  zum  ersten  Mal  als  selbständige  Geschichte 
auftrat,  die  Urform  der  verschiedenen  orientalischen  Ver- 
sionen. Sie  ist  natürlich  an  der  Grenze  des  griechischen  Kul- 
turgebietes entstanden.  Ich  schweige,  soweit  es  angeht,  von  den 
spätem  Zusätzen  und  Abänderangen    in  den    einzelnen  Versionen. 

Der  Held  der  Geschichte  ist  im  griechischen  ein  Feldherr. 
Das  paßte  wenig  zur  selbständigen  Geschichte.  In  der  Urform 
wurde  er  deßhalb  zum  König  gemacht;  einzelne  or.  Versionen 
setzten  statt  dessen  wieder  einen  Kaufmann,  Holzhacker  oder 
Schulzen. 

Im  Gricch.  Text  wird  dem  Helden  angekündigt,  daß  er  schweres 
Unglück  erleiden  müsse,  und  dann  ihm  zur  Wahl  gestellt,  ob  er 
sogleich  oder  später  das  Leid  durchmachen  wolle.  Diese  Wahl 
scheint  in  die  orientalische  Urform  herüber  genommen  worden  zu 
sein.  Denn  die  armenische  Version,  bei  Bousset  no  2  (S.  481), 
wird  damit  eröffnet;  s.  oben  S.  758  und  764.  Doch  als  Anfang 
einer  selbständigen  Geschichte  ist  eine  solche  Wahl  eigentlich  selt- 
sam; so  ist  begreiflich,  daß  sie  in  keiner  andern  or.  Version  sich 
findet. 

Im  Griech.  geht  der  Feldherr  mit  Frau  und  Söhnen  außer 
Land ;  als  Grund  wird  Scham  über  erlittene  Verarmung  angegeben. 
In  der  or.  Urform  wurde  der  König  von  einem  andern  mit  Waffen- 
gewalt vertrieben ;  nur  einzelne  or.  Versionen  bringen  diesen  oder 
jenen  andern  Grund. 

Wie  im  Griechischen,   so  wurde  gewiß  auch  in  der  or.   Urform 


Mann  die  Hauptrolle,  der  durch  den  Genuß  eines  besonderen  Fisches  sich  die 
Eigenschaft  erworben  hat ,  daß  er ,  wenn  er  lacht ,  Perlen ,  wenn  er  weint,  Dia- 
manten von  sich  gibt,  und  mit  dem  nun  ein  schlauer  Kaufmann  Haufen  Geldes 
yerdient,  der  ihn  einfängt  und  bald  ihn  mit  Federn  kitzeln  und  zum  Lachen 
bringen  läßt,  bald  mit  spitzen  Eisen  peinigen  läßt  bis  zum  Weinen.  Dessen  würdig 
ist  der  Schluß :  die  Verhältnisse  der  Personen  sind  so  verwirrt,  daß  kein  Mensch 
sich  zurecht  findet.  Da  muß  ein  Kalb  Klarheit  schaffen.  Ein  Jüngling  will  nachts 
einsteigen  zu  einer  Frau,  die  in  Wahrheit  seine  Mutter  ist.  Er  muß  über  das 
Dach  eines  Kälberstalles  kriechen  und  hört,  wie  unter  ihm  das  ältere  Kalb  dem 
jüngeren  klagt,  wie  verkommen  jetzt  die  Menschen  seien;  da  sei  eben  der  Jüng- 
ling daran,  mit  seiner  eigenen  Mutter  Incest  zu  verüben;  zum  Beweise  setzt  es 
dem  jungen  Kalbe  die  ganze  Verwicklung  der  Geschichte  auseinander.  Der  Jüng- 
ling hört  das  und  hält  sich  zurück,  feiert  aber  am  nächsten  Tag  einen  fröhlichen 
Anagnorismos  mit  seiner  Mutter.  Muß  solches  Zeug  mit  Mühe  gesammelt  und 
auf  gutem  Papier  gedruckt  werden? 

53* 


792  Wilhelm  Meyer, 

zuerst  (am  Meer)  die  Frau  durch  die  List  eines  Schiifsherrn  ent- 
führt; d^n  kam  der  Vater  mit  den  Kindern  an  einen  Fluß;  beim 
Übergang  wurden  die  Kinder  vom  Vater  getrennt ;  s.  oben  S.  788/9. 

Im  Griechischen  wehklagt  der  vereinsamte  Feldherr,  dann  wird 
er  Feldhüter;  nach  14  Jahren  wird  er  in  der  Noth  gesucht  und 
wird  wieder  Feldherr.  In  der  or.  Urform  irrte  der  einstige  König 
weklagend  durch  die  Wälder,  wird  dann  in  einem  fremden  Staat, 
dessen  König  gestorben  war,  wieder  König,  Diese  Wahl  ge- 
schieht in  no  1  (S.  480)  durch  den  weißen  ßeichselephanten ,  in 
no  2  durch  einen  weißen  Adler;  in  Kaschmir  (S.  777)  durch  einen 
weißen  Reichselephanten  und  einen  Adler,  in  der  malaischen  und 
bugischen  Version  durch  den  Reichselephanten. 

Die  beiden  Brüder  werden  im  Griechischen  in  der  Nähe  des 
Flusses  in  2  verschiedenen  Dörfern  von  Hirten  und  von  Bauern 
erzogen,  dann  nach  14  Jahren  für  das  große  Heer,  daß  ihr  Vater 
commandiren  soll,  ausgehoben  und ,  da  sie  ihm  gefallen ,  bald  zu 
Centurionen  ernannt.  In  der  or.  Urform  hat  wohl  ein  Fischer 
am  Fluß  sie  aufgezogen ;  denn  no  6  (S.  489)  sagt :  Der  eine  Knabe 
wird  von  Hirten,  die  ihn  dem  Wolfe  entreißen,  aufgezogen;  der 
der  andere  von  einem  Fischer  aus  dem  Strome  aufgefischt;  und 
nur  einen  Fischer  nennen  die  Fassungen  aus  Kaschmir,  aus  dem 
Malaier  und  Bugierland;  einen  Wäscher  nennt  ihn  die  aus  dem 
Pendschab.  Dann  ließ  die  or.  Urform  sie  in  die  Dienste  des  kö- 
niglichen Vaters  kommen;  in  Kaschmir,  Mal.  und  Bugisch  prä- 
sentirt  sie  der  Fischer  dazu  dem  König. 

Im  griechischen  Placidastext  wird  die  geraubte  Frau  von  dem 
SchifFsherrn  in  seine  Heimath,  eine  Grenzstadt  des  benachbarten 
Barbarenlandes  gebracht.  Sie  bleibt  unberührt.  Als  er  bald  stirbt, 
wird  sie  selbständig  und  ernährte  sich  als  Hüterin  eines  Gartens. 
Als  der  Feldherr  siegreich  einmarschirt ,  kommen  die  Söhne,  die 
Centurionen,  in  die  Wohnung  der  Frau  und  aus  ihren  Erzählungen 
erkennt  sie,  daß  das  ihre  Söhne  sind :  s.  oben  S.  754/5. 

In  der  orientalischen  Urform  war  hier,  wie  S.  787  gesagt,  Vieles 
geändert.  Der  Schiffsherr  lebt  bis  zu  Ende  und  führt  auf  seinen 
Handelsreisen  die  Frau  mit  sich.  Ja,  no  1  und  2  (S.  480/1)  sagen, 
sie  sei  in  eine  Kiste  eingesperrt  gewesen  und  zwar,  wie  no  1  aus- 
drücklich beifügt,  deßhalb  weil  sie  nicht  seine  Frau  werden  wollte. 

Zuletzt  kommt  die  Frau  mit  dem  Kaufmann  auch  in  die  Stadt, 
in  welcher  ihr  Mann  als  König  und  die  unerkannten  Sohne  als 
seine  Trabanten  sich  befinden.  Die  beiden  Söhne  werden  auf  das 
Schiff  gesendet,    um    da    Wache    zu    halten.      Zur    Unterhaltung 


die  älteste  lateinische  Fassung  der  Placidas-Eustasius-Legende.  793 

sprechen  sie  von  ihren  Eltern;  diese  Reden  hört  die  Frau  durch 
die  dünne  Holzwand  und  erkennt,  daß  das  ihre  Söhne  sind. 

Wahrscheinlich  stand  auch  schon  in  der  so  stark  umgear- 
beiteten orientalischen  Urform  der  Grund,  weßhalb  die  Wache 
auf  das  Schiff  gesendet  wurde,  so  angegeben,  wie  wir  ihn  in  den 
ersten  orientalischen  Versionen  lesen.  Denn  no  6,  7  und  8  fallen 
hier  überhaupt  aus ;  in  den  Versionen  aus  Kaschmir  und  aus  dem 
Pendschab  und  in  no  1  (S.  480)  sollen  sie  die  kostbaren  Waaren 
des  Kaufmanns  beschützen :  aber  in  allen  andern  Versionen  ist  der 
Grund  ein  anderer,  eigenthümlicher.  In  no  2  sollen  sie  einfach 
die  Frau  bewachen ;  aber  in  no  3,  4  und  5,  dann  in  der  malaischen 
und  bugischen  Fassung  lädt  der  König  den  Kaufmann,  der  ihm 
einen  Abschiedsbesuch  macht,  ein,  noch  diese  Nacht  bei  ihm  im 
Palast  zu  bleiben,  und  sendet,  als  dieser  sich  weigert,  weil  er  seine 
Frau  im  Schiff  behüten  müsse,  die  beiden  Trabanten  dorthin. 

Zum  Abschluß  des  griechischen  Textes  geht  die  Frau  zum  Feld- 
herm;  Mann  und  Frau  erkennen  sich  und  dann  auch  Eltern  und 
Söhne.     Das  Heer  feiert  das  Freudenfest  mit. 

In  der  orientalischen  Urform  war  hier  wahrscheinlich  noch  eine 
starke  Änderung  hereingebracht.  Mutter  und  Söhne  hatten  sich 
im  Schiffe  erkannt;  aber  es  fehlte  noch  der  König.  Wie  konnte 
man  ihn  mit  den  Dreien  zusammenbringen.  Den  Kunstgriff  des 
Umarbeiters  zeigen  die  meisten  Versionen.  In  no  1  und  2  findet 
der  Kaufmann  die  Frau  und  die  2  JüngUnge  beisammen  und  ver- 
klagt sie  deßhalb  beim  König.  Aber  in  no  3,  4,  5  und  in  der  Ver- 
sion aus  Kaschmir  schreit  die  F'rau  absichtlich  und  in  der  malai- 
schen und  bugischen  unabsichtlich  so,  daß  der  Schein  entsteht,  die 
Jünglinge  wollten  ihr  Gewalt  anthun;  in  der  Pendschab-Version 
ruft  die  Frau :  'Diebe' ;  (no  6,  7  und  8  fallen  aus).  Überall  ist 
der  Erfolg  der  gleiche:  die  drei  werden  in  das  Königsgericht  ge- 
bracht.    Da  erkennen  sich  Mann  und  Frau.  Eltern  und  Söhne. 

Die  4  Thorwärter-  oder  Henkergeschichten ,  welche  die  sia- 
mesisch-malaische  und  die  bugische  Version  im  Schlüsse  zusetzen, 
warnen  vor  allzu  raschem  und  unbedachtem  Handeln.  Sie  sind  also 
innerlich  verwandt  mit  den  von  Bousset  S.  492  erwähnten.        , 


n.    Die  Abschrift   der   ältesten  lateinischen  Fassung  im 

Chn.  4585. 

Den  oben  (S.  745 — 762)  besprochenen  und  vertbeidigten  latei- 
nischen Text  der  Placidaslegende  habe  ich  1915  herausgegeben  nach 


794  Wilhelm  Meyer, 

6  Handschriften.  All  diese  liegen  in  italienischen  Bibliotheken. 
So  mochte  man  daran  denken  ,  daß  dieser  Text  auf  dieses  Land 
beschränkt  gewesen  sei,  und  mochte  auch  die  Heimat  des  aus 
diesem  Text  hervorgegangenen  schönen  Rytbmus  in  diesem  Lande 
suchen.  Aber  nach  Zusendung  meiner  Arbeit  schrieb  mir  der 
münchener  Oberbibliothekar  Dr.  Leidinger ,  als  er  das  Initium 
meines  Textes  in  die  dortige  Sammlung  lateinischer  Initien  (vgl. 
hierüber  Zft.  f.  Kirchengeschichte  XVII  244)  habe  eintragen  wollen, 
habe  er  gesehen,  daß  auch  die  münchener  Handschrift  45H5  (ße- 
nedictbeuem  no  85  fol.  59  b — 65  b  denselben  Text  enthalte.  Da 
auch  der  kritische  §  32  in  dieser  Hft  sich  fand,  erbat  ich  mir 
eine  Photographie. 

Diese  Sammlung  von  Martyrien  und  ähnlichen  Stücken  ist  im 
9.  Jahrhundert  geschrieben  von  einer  ziemlich  derben  deutschen 
Hand ,  ohne  besondere  Eigenthümlichkeiten.  Die  erste  Hand  (1) 
schrieb  ziemlich  nachlässig;  eine  zweite  (2)  hat  sehr  viele  Stellen 
gebessert  oder  geändert.  Ich  hielt  es  für  richtig,  zur  Controlle 
der  von  mir  gedruckten  italienischen  Überlieferung  die  Lesarten 
dieser  alten  nordischen  Handschrift  mitzutheilen.  Die  italienischen 
Handschriften  habe  ich  1915  S.  272  bezeichnet: 

5  =  Vatican  5771;  s.  9/10  f.  228—231. 

6  =  Vatican  6933;  s.  12  f.  130—133. 

7  =  Vatican  7810;  s.  11  f.  99—102,  Cassineser  Schrift. 

8  =  Ambrosiana  E  84  inf.;  s.  12  f.  239. 

S  ==  Rom,  Bibl.  Vitt.  Em.,  Sessorianus  5;  s.  11  f.  146. 

Gas  ^  Casinensis   codex  145;    s.  11  f.   483—488.     Abgedruckt   in 

Bibliotheca  Casinensis  Tomi  III  Florilegium  p.  451 — 454. 

Ich  bezeichne  hier  die  mühchner  Handschrift  4585  mit  4 ;  sind 
Lesarten  geändert,  so  bezeichne  ich  mit  1  die  Lesarten  der  1. 
Hand,  dagegen  mit  2  die  Lesart  der  ändernden  Hand. 

Freilich,  vergleichen  wir  die  Lesarten  von  Clm  4585  mit  den 
andern  und  fragen  nach  ihrem  Werthe,  so  ergibt  sich  kein  klares 
Verhältniß.  Sehr  oft  tritt  diese  no  4  zusammen  mit  no  5,  der 
ältesten  italienischen  Handschrift.  Oft  treten  4.  5.  6.  8  zusammen, 
und  manche  durch  diese  Handschriften  bezeugte  Lesart  könnte  wohl 
in  den  Text  genommen  werden.  Doch  hervorragend  gute  neue 
Lesarten  fehlen  auch  in  dieser  Handschrift.  Z.  B.  der  Schluß  von 
§  3  und  der  Anfang  von  §  20  ist  hier  ebenso  entstellt  wie  sonst. 
Die  Handschriften  treten  noch  nicht  in  verschiedene  Familien 
klar  auseinander.  Doch  das  ist  ja  häufig  der  Fall,  wenn  von  sehr 
vielen  Abschriften  viele  verloren  sind.  Die  erhaltenen  wenigen 
sind  dann  meistens  schwer  zu  gruppiren. 


die  älteste  lateinische  Fassung  der  Pladdas-Eastasius-Legende.        795 

Aber  dieser  Text  wurde  bis  jetzt  kaum  unterscliiedeii  von 
dem  gewöhnlichen  lateinischen  Text  und  deßhalb  wenig  stadirt. 
W'^ahrscheinlich  werden  noch  manche  Abschriften  desselben  auf- 
tauchen und  zur  Aufklärung  des  Handschriftenverhältnisses  bei- 
tragen, so  weit  dies  bei  weit  verbreiteten  Legenden  überhaupt 
zu  hoffen  ist. 

Überschrift:  PASSIO  MAETYRIS  EUSTASIUS;  zuerst  ist  ge- 
kürzt: EüSTASII,  dann  von  anderer  Hand  EÜSTACHII  überge- 
schrieben §1  nach  dieb;  ist  radirt  Jj  mit  Querstrich  (uel?)  1  ido- 
rum,  2  Ig  s.  l.  1  f^uicia,  2  add  r  über  e  exhi'bente,  am  Band 
p  (Best  weggeschnitten)  4  hat  stets  placidas,  nie  placidus  1  diui- 
tissimus,  2  dit-  quam  et  in  auro  et  in  arg.  4  (5)  inlustris ;  Erat : 
am  Bande:  r  (=  require?  die  Construction  der  Sätze  schien  unsicher) 
suis  uel  matre  (4.  5.  8)  dum  e  1,  s.  1.  eet  2  ut  ex  audito,  ex 
haben  S.  5.  6  1  contremes'cerent,  2  hat  i  über  es  sepius  eins; 
Erat  ei  et  cons.  (ricJUig?) 

§  2  exiuit  1,  exiret  2  (6)  quae  apparuerant  perquerendum 
1,  i  über  er  2  uerticemontis  1  &  stans  (5.  6.  7.  8):  2  et  ge- 
tilgt locum  altissimum  1  (5.  6) ,  loco  altissimo  2  [f ol.  59  bj  1 
preualuerit,  2  preualeret      adpropinquare. 

§  3  cerui;  Et  apparuit  Signum  1:  die  2.  Hand  hat  Et  exnungirt 
und  vor  signum  zugesetzt  g  (ergo)  inlustrantem  0,  dann  tu 
und  so  sind  oft  einsilbige  Wörter  gekennzeichnet  elymosinis  ue~ 
narem  4  (5.  6.  7)      retiam  1  (7):  retia  2      salutis  uenationis. 

§  4  quod  auditum  1 ,  quo  audito  2  pre  eriges  1 ,  i  über 
es  2  credes  1,  i  id)er  es  2  absoluat  statt  abluat  sortibus  1, 
b  über  t  2       meis  (fol.  60  a)  uel       dixit  fehlt  in  4. 

§  5  uitam  aetemam  4  (5.  6.  8)      possedeatis  1,  i  über  ed  2 
quodcumque  nobis  4  (8). 

§  6  qui  dum  indicauerunt  1  (6),  indicarent  2  primgenitum 
1,  0  add.  2  eins  uocauit  4  (5.  6.  8)  agapium  1,  t  add.  2  theo- 
pistum.  Nam  et  matrem  4  (5.  6.  s ;  vgl.  theopistennam  7)  eorum 
uocauit  4  (5.  6.  8)  theopistent  1,  am  über  ent  2  communione  1, 
communionis  2. 

§  1  ipsum(?)  1,  ipsi  2  baptismum  |  f .  60  b  seculum  1,  se- 
enlo  2  (temptationes)  am.  4  habere  ex  hoc  4  (5)  es  om.  1, 
add.  2       fueris  in  tribulationibus  4  (5.  6.  8)       consolacionibus  4 

§  8  domo  sua  1  (5) :  domum  suam  2  decedere  1 ,  ed  zu  id 
corr.  2  egritndine  4  sunt  1,  eent  2  superaenerunt  4  (5.  6.  8) 
deripientes  1,  de  zu  di  corr.  2  et  vor  arg.  om  4  (5.  7)  nihü  4 
aliud  :  amplius  4  (o.  6.  8)  nach  ei  ist  &  radirt  in  4  nisi  :  quam 
4  (5.  6.  8)      eorum  et  nisi  quod  1  (5) :  quo  2  (S.  6). 


796  Wilhelm  Meyer, 

§  9  peruenientes  4  mare.'  ingressi  4  (et  om.)  nauim  4  (8) 
nauim.  Erant  ibi  barbari  i;  2  setzt  vor  ibi  zu  :  aut  dicere  j  f.  61a 
Nauclerius  1,  naucler  us,  so  ist  i  fast  stets  in  4  wegradirt  am 
Band  der  1.  Zeile  (bis  naulum)  steht  r  (require)  qui  4  habentibus 
eis  quod  4  (5.  6 ;  8)  dare  1,  darent  2  nauclerius  1  (5.  6.  7.  8). 
nauclerus  2. 

§  10  sentiuit  1,  sensit  2  nauclerium  1  (5.  6.  7.  8)  sibi. 
Subito  4  (5.  6.  7)  et  ist  vor  dereliquit  radirt ;  (et  haben  5.  7.  8) 
ipsoram  4  (5.  8)  nauclerium  1  (5,  6.  7.  8),  nauclerum  2  fage- 
bat  4  gemens  et  plorans  4  (5.  6 ;  8)  et  om.  vor  dicens  4  (5. 
6.  7)      filii  mi  4  (5). 

§  11  tristia  bei  Meijer  ist  Druckfehler  statt  tristitia  eorum 
om.  4  (5.  8)  in  om.  4  (5)  et  alium  4  (5.  6.  8)  humera  sua  1 
(6.  7):  humeros  suos  2  reuertere  1,  reuerti  2  peruenerit  1, 
perueniret  2 

§  13  aqua  1  (5.  7.  8):  aquam  2  permisit  |  f .  61b  bona  1: 
bonü  2      quod  4  (7.  S)      erat  ei  4  (5.  7.  8)      futura  1,  ü  über  a  2 

§  13  effugatus  4  (5.  6)  inlesum  4  aratore  1,  ribus  ilber 
re  2  puerum  (?)  1,  puero  2  et  babitauit  cum  1 :  babitauit  et 
ipse  2      multis  temporibus  4  (5.  7.  Gas.). 

§  14-  (mihi)  om.  4  (5.  8)  et  vor  ecce  om.  4  (8)  consolaren- 
tur  4  (6.  S)  agres  |  feras  1,  acres  f.  2  (ab)  vor  omni  owi.  4  (5.  6) 
uxore  traditus  sum  |  f .  62  a  4  dne  •  diie  toller anti  am  1 :  das  2 
dne  tilgte  2      fi  om.  1,  add.  2. 

§  15  quadam  1,  quendam  2  operare  1,  i  über  re  2  uiuibat 
1,  i  ^fw  e  corr.  2  mercidibus  1,  ci  zu  ce  corr,  2  singulis  annis  4, 
davor  ist  p  (mit  einem  Striche)  radirt      loco  XII  annis  1,  o  über  i  2. 

§  16  Nauclerius  1 ;  i  tilgte  2  Die  von  mir  notirte  Änderung 
talem  gratiam  usw.  steht  in  8  Nauclerius  1,  i  2  Nauclerius  1, 
i  tilgte  2       ille  1,  e  ^m  i  corr.  2. 

§  17  uastaretur  4  fines  1,  e  ^w  i  corr.  2  sepius  4  alieni- 
gena  1,  na  zu  nae  corr.  2      antiocus  4      inquirentum  4  (6.  8.  Gas.) 

§  18  ipse  1,  ipsi  2  custus  1,  tu  ^m  to  corr.  2  agnorum  1, 
agrorum  2  Das  zweite  (eum)  om.  4  (5)  Nam  et  ipse  4  (B.  6.  8) 
At  ipse  1,  i  über  e  2  nobis  |  f .  62  b  causa  4  (7.  8)  quem  1, 
qui  2  donum  1 ,  dono  2  queritis  4  uenite  reficere  aput  4 
(=  5)  censentientes  eos  sibi  perduxit  in  4  (5.  8)  reficerent 
ipsi  ap.  4  (5.  8)      aput  1,  apud  2. 

§  19  senso  1,  v  über  o  2  illi  om.  4  (6.  7.  8  S)  quereba- 
tur  4      abinuicem  1,  abi.  2      habent(?)  1,  habet  2      querebamus  4. 

§  30  Der  verderbte  Anfang  ist  =  5.  6.  7.  S :  Quo  bicto  haec 
omnia  nota  facta  sunt  in  his  locis  ex  eo  uel  de  iussione  imp.  4 


die  älteste  lateinische  Fassung  der  Placidas-Eastasius-Legende.  797 

imperiale  1  (5):  i  iiher  le  2  in  1  (5.  7.  S)  m  2  (6)  exerciti  1, 
vs  über  ti  2  ab  ipso  1  (5.  8),  abipsv  2  ruffi  1  (5)  mfi  2  ce- 
teris  1  (5),  o  über  i  2       decore  4      fui  |  f .  63  a. 

§  21  barbaris  1,  o  über  i  2  oponio  1 ,  i  über  po  2  proeli- 
atur,  o  über  u  2  bello  1  (7.  8),  v  über  o  2  barbari  et  fugierunt 
in  solo  4  (5.  6.  8)  in  solo  auditu  opinionis  4  (5.  6)  uicum  1, 
darüber  qoendam  2  tradidemnt  ne  4  (5.  6)  damnaretnr  1 ,  n 
über  et  2. 

§  23  qnodam  1  (5.  6.  7) :  en  über  o  2  adsistebant  1,  n  tilgte 
2  intnebat  5.  8 :  tw  4  l'ann  das  Zeichen  für  ur  von  2  sein.  eins 
haius  1,  dann  ist  eins  durchgestrichen 

§  23  abinnicem  4  (5.  8)      referebatnr  (?)  1,  referebat  2      nach 
recolo  hat  1  me,   2  /lY^f/e  es      decore.     Sed  frater  4      mens  innior 
4  (5.  8)       in  naue  1  (5),  im  über  e  2        de  nane  1,  i  über  e  2 
nidemns  1,  i  über  e  2        ignorabo  1,  ignoro  2        mens  nobiscum  4 
(5.  6.  8)      cnm   gemitu  et  fletn  4  (5.  6.  8)      me  |  f.  63  b  |  pater 
ad    ripam  4  (5.  6.  8)      minorem   alia  parte  4  (5) 

§  24  tans.  etiam  qna  1,  tnns .  etiam  qnia  2,  tnus,  namque  eine 
3.  Hand  memorabo  4  mens  om.  4  (5. 6.  7)  flnmen  hat  2,  1  scheint 
gehabt  zu  haben  flnmine  (5.  6)  cnm  ipsis  4  (5.  8)  temporibns  mnltis 
4  (5.  6.  8).  longnm  1,  longa  2  tempore  1  (5),  tempora  2  ab- 
inuicem  4  (5.  6). 

§  35  eo :  &  4      deteneretar,  i  über  en  2      qni  1  (5),  qn§  2 
a  te  derel.  4  (5.  6.  8)       nane  1,  i  über  e  2        apnt  1,    apud  2 
nauclerinm  1,  i  radirte  2       ipse  2  (ipsi?  1). 

§  26  eam  |  f.  64  a  gandio  4  (5.  6.  7)  commisti  1,  commesti 
2  (6.  8). 

§  27  psentia  1  (5.  S),  psentiä  2  abinnicem  4  (5.  6)  conti- 
gerat  4  (5)  admirabantnr  1  (6.  7):  admirabatnr  2  omnes  1, 
omnis  2  pro  1,  radirt  von  2  ipsins  4  barbarorum  4  (5.  6.  8) 
patria  1  (5),  patriam  2. 

§  38  regrederetnr  4  (5.  8.  S)  mortuos  1,  v  über  os  2  qnod 
recessit  nictoria  trinmphali  1,  wobei  cnm  vor  nictoria  zugesetzt  ist 
von  2(!)  cnm  omni  exercitn  4  (5.  6.  8)  uxoris  nel  filiornm  4 
(5.  6)  qno  pacto  4  templo  1  (5.  6),  v  über  o  2  dann  wieder 
templo  1,  V  über  o  2      eins  aut  filii  4  (5.  6). 

§  29  dixit  I  f.  64  b  qnare  (dixit)  nach  Et  om.  4  deinter  1 
(5.  7),  inter  2  (S.  6). 

§  30  arenä  manus  1?  in  4  leones  4  (5.  7.  8.  S)  talem  1, 
tale  2       ereo  mit  Rasur  vor  er  1,  \  über  o  2       conbnrendnm  4. 

§  31  na sehereo  1,    uaserev  2       succenso  1 ,   v  über  o  2       re- 

Kgl.  Ges.  d.  Wiss.  Nachrichten.  Phil.-hist  KUsse.  1916.  Heft  5.  64 


798  Wilhelm  Meyer, 

cluderetur  1,  n  über  et  2  (8)      hanc  1  (5),  v  über  a  2      conspectü 
tau  1,  beide  ü  corrigirt  zu  o  2. 

§  33  quaesierit  (7.  S)  mare  1,  i  über  e  2  locnm  1,  loco  2 
liberetur  4  (S)  ubique  ergo  dne  4  (5.  8)  super  nos  4  defen- 
sioni  tuae  1,  s  ühe^-  it  2  auxilia  1 ,  -s  über  ia  2  sentiantur  1 
(5.  7.  S),  ur  ^iZ^^e  2  liberationem  et  consolationem  4  (5.  6.  8) 
paradyso  4  (7.  S)  conlo  |  f .  65  a  centur  .  .  ut  in  4  mit  Rasur  vor 
ut  (aut?  1)      Celeste  1,  i  über  e  2. 

§  33  Et  huc  1,   abhuc  2       separat!  4  (7)       ergo  4  (7);    auch 
codex  5  hat  ergo        ut  adunati   in   sepulchro   praev,   4  (5.  6.  8) 
egrotis  4      gloria  4  (5.  8.  Gas.)       et  audita  1,  exaudita  2. 

§  34  uasehereo  igni  succenso  1,   uas   herev  igne   succensv  2 
ymnum  4      subcepti  4      sunt  om,  4  (5)      in  caelum  et  om.  4  (5.  6.  8) 
Sed  sicut  nee  4  =  5      conbusta  4      inlesi  4      uaso  1,  uase  2 
hereo  4      Quos  4  (5.  6)      capilli  4  (5.  6.  8.  S)      incendia  4  (5.  7. 
8)        magis  1,  magicis  2. 

§  35  magno  1,  magna  2  magna  |  f .  65  b  ex  superuenientes 
4  (5.  7)  in  quiescent.  scheinen  sc  von  2.  jffam?  m  Jdeinerer  JRasur 
geschrieben  zu  sein      entem  persecutionem  1,    ente  persecutione  2. 

§  36  quorum  sacrä  deuotione  mense  mai  die  4  uicensimo  1, 
2  tilgte  n  caelebramus  4  honor  gloria  et  potestas  in  4,  vor  in 
hat  2  ein  Verweisungszeichen  gesetzt  und  bei  diesem  am  Rande  ergänzt 
(c)um  patre  et  spiritu  sancto       seculorum.     Amen. 


Über  die  Handschrift  der  Placidas- Legende  in  Monte 
Cassino  no  145. 

Bei  der  Ausgabe  des  alten  lateinischen  Textes  der  Placidas- 
Legende  hat  mir  der  Casinensis  145  besondere  Schwierigkeiten 
bereitet,  vgl.  S.  270/1  des  Jahrgangs  1915  dieser  Nachrichten.  Ich 
habe  mir  zuletzt  die  Überzeugung  erarbeitet,  daß  in  Monte-Cassino 
um  1080  für  diese  Prachthandschrift  der  vorliegende  holprige  Text 
der  Placidas-Legende  möglichst  geglättet  worden  sei.  Doch  der 
Text  dieser  Handschrift  ist  daraus  nur  ein  Mal,  1887,  gedruckt 
worden,  in  dem  Florilegium  des  III.  Bandes  der  Bibliotheca  Ca- 
sinensis S.  451/4;  und  manchmal  kamen  mir  Zweifel,  ob  nicht  viel- 
leicht der  Mönch,  welcher  die  Abschrift  und  dann  den  Druck  be- 
sorgte, ihm  Anstößiges  beseitigt  und  geglättet  habe.  Deßhalb 
benützte  ich  gern  die  Gelegenheit  und  ließ  mir  das  Stück  photo- 
graphiren.     Die  Copie  erhielt  ich  am  26.  Juli  1915. 

Gern  überzeugte  ich  mich,  daß  der  Abdruck  der  Handschrift 


die  älteste  lateinische  Fassung  der  Placidas-Eustasius-Legende.         799 

im  Florilegium  vortrefflich  und  genau  ist,  ja  daß  dabei  auffallend 
wenig  menschliche  Irrthümer  vorgekommen  sind.  Ich  fand  nur 
folgende  Kleinigkeiten :  (§  11  hat  die  Hft  lacrimis,  nicht  lacrymis). 
§  13  hat  die  Hft  mit  den  andern  'qui  raptus  est  a  lupo',  nicht 
'raptus  erat'.  (§  20  pulchriores  Hß^  nicht  pulcriores).  §  22  hat 
auch  diese  Handschrift  mulier  eins  (ej  mit  Querstrich)  assistens,  nicht 
ei.  ebenda  ignorabat  quod,  wie  die  anderen  Handschriften,  nicht 
ignorabant.  (§  2B  michi,  nicht  mihi,  dominus)  §  27  in  praesen- 
tiam  hat  diese  Hft,  wie  die  andern.  §  32  fehlt  durchaus.  Die 
Schwierigkeiten,  mit  denen  ich  1915  S.  270/1  gekämpft  habe,  sind 
also  wirklich  vorhanden. 

Der  Blüthezeit  der  SchreibscUule  von  Monte  Cassino  entspricht 
die  Interpunction.  Sie  ist  beträchtlich  geregelt:  /  über  der 
Zeile  bezeichnet  einen  Sinneseinschnitt,  der  schwächer  ist  als  der 
von  uns  mit  einem  Comma  (,)  bezeichnete.  .'  entspricht  etwa  un- 
serm  Comma  (,)  .entspricht  nnserm  Punkt  (.).  Das  Ende  von 
Abschnitten  ist  durch  Häufung  von  Punkten  mit  einem  Comma 
gekennzeichnet ' ;  •  oder  * :  •  Die  Frage  wird  gern  durch  2  Zeichen, 
eines  im  Anfang,  ein  anderes  im  Schluß  des  Satzes,  gekennzeichnet. 
So  §  18  et  qu^  causa  est  uobis  ad  inquirendum  eum  •.'•  und  später: 
quomodo  noui  quem  qu^ritis  •.'•  oder  §  29 :  quäre  non  introisti  in 
templam  /  ad  offerenda  libamina  diis  nostris  •.'•  Viele  Worter  sind 
accentuiri; :  Placidas  sonderbarer  Weise  fast  stets  auf  der  Silbe  äs. 
Wie  viele  Legendentexte,  so  ist  auch  dieser  in  Lectionen  getheilt. 
Das  paßt  Alles  zu  dem,  was  ich  vermuthet  habe:  in  dieser  Hft 
zeigt  sich  die  Schreiber-  und  Gelehrtenschule  von  Monte-Cassino  in 
ihrer  Blüthe. 

Nachtrag  zu  S.  784  zweiter  Absatz  'durch  einen  Fischer' : 
Durch  die  Fügung  der  Götter  blieb  die  Ehre  der  Königin  unver- 
letzt. 


800    "Wilhelm  Meyer,  die  älteste  latein.  Fassung  d.  Placidas-Eust.-Legende. 


Übersicht. 

S.  746 — 760  Besprechung  der  von  Bousset  erhobenen  Anklagen 
gegen  den  ältesten  lateinischen  Text;  s.  das  Verzeichniß  S.  760  Note. 
S.  761  Die  griechische  Umarbeitung.  S.  762  Bousset's  und  Anderer 
folkloristische  Theorie  über  die  orientalische  "Wandergeschichte  und 
S.  764  Bousset's  hieraus  geholten  'entscheidenden  Beweise'.  S.  765  W. 
Meyer's  Ansicht,  daß  die  Orient.  "Wandergeschichte  ein  Ausschnitt  aus 
dem  Placidastexte ,  also  von  Westen  nach  Osten  gewandert  ist.  S.  766 
Die  darnach  sich  ergebende  Ordnung  der  Texte.  S.  768 — 786  Nachtrag 
zu  Bousset's  Besprechung  der  indischen  Versionen  dieser  Wanderge- 
schichte. S.  769  Die  buddhistische.  Geschichte  der  Patacara  oder  Kisa- 
gotami.  S.  776  Die  Geschichte  von  Swet-Basanta  (s,  S.  791).  S.  777 
Knowles  Geschichte  aus  Kaschmir.  S.  778  Temple's  Geschichte  aus 
dem  Pendschab,  ein  Gedicht  des  Kishn  Lal.  S.  780  Die  bugische 
Geschichte  vom  König  Indjilai.  S.  793  Die  siamesisch -mal  ai  s  che 
Geschichte  des  Großkönigs  Bispu  Radja.  S.  786 — 793  Die  Urform 
der  orientalischen  Wandergeschichte.  S.  786  Vorbemerkungen.  (Feldherr. 
Aushebuug,  Eolle  des  Weibes.  Flußübergang).  S.  791  Vergleichung 
des  griech.  Placidastextes  und  der  orientalischen  Urform. 

II.  S.  793 — 798  Collation  der  neu  gefundenen  Abschrift  des  la- 
teinischen Textes  im  Clm.  4585.  S.  798/9  Nachtrag  über  die  Hft  Monte 
Cassino  no   145. 


Nachrichten  von  der  Kgl.  Gesellschaft  der  Wissenschaften  zu  Göttingen 
Phil.-hist.  Klasse  1916,  Heft  5  (W.  Meyer). 


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Gotha  I  75  fol.  20"— 22^. 


Aelteres  kartographisches  Material  in  deutschen 
Bibliotheken^). 

Fünfter  Bericht  über  die  Jahre  1910—1913. 

Von 

W.  ßiige -Bautzen. 

Vorgelegt  von  H.  Wagner  in  der  Sitzung  vom  15.  Januar  1916. 

Dieser  fünfte  und  letzte  Bericht  enthält  einerseits  die  Ergeb- 
nisse der  Reisen,  die  ich  1910  und  1913  ausgeführt  habe,  anderer- 
seits bringt  er  die  Beschreibungen  aller  der  Texte  (Handschriften 
und  Drucke),  die  nach  dem  im  I.  Bericht  mitgeteilten  Plan  während 
der  ganzen  Zeit  meiner  Arbeit  aufgenommen  und  beschrieben  worden 
sind.  Ich  bin  bestrebt  gewesen,  das  ganze  in  Frage  kommende 
Material  lückenlos  zu  sammeln  und  ganz  genau  zu  beschreiben; 
ich  bin  mir  aber  wohl  bewußt,  daß  es  auch  beim  besten  "Willen 
außerordentlich  schwer  ist,  beide  Ziele  zu  erreichen.  Wahrschein- 
lich   habe   ich   doch   manches    übersehen.     Vielleicht   liegen    noch 


1)  Vgl.  Nachrichten  der  K.  Gesellschaft  der  "Wißsenschaften  zu  Göttingen, 
phil.-hist.  Klasse  1904,  1—66  (I.  und  II.  Bericht,  zitiert  I.  Ber.),  1906,  1  —  39 
(zitiert  III.  Ber.)  und  1911,  35—166  (zitiert  IV.  Ber.);  ich  vem-eise  auf  diese 
Berichte  auch  wegen  der  Abkürzungen,  die  ich  angewendet  habe.  Neu  kommen 
hinzu :  Brunet  =  Brunet,  Manuel  du  libraire  1860  f.  —  Graesse  =  Graesse,  Trfesor 
de  livres  rares  1869  f.  —  Harrisse,  B.  A.  V.  =  Harrisse,  Bibliotheca  Americana  ve- 
tustissima,  1866,  1872.  —  Procter  =  Proctor,  Index  to  the  early  printed  books  in 
the  British  Museum  1898  f.  —  Racc.  Col.  =  Raccolta  di  documenti  e  studi  pubbli- 
cati  deUa  R.  Commissione  Colombiana  1892 — 94.  —  Temaux-Compans  =  Temaux- 
Compans,  Bibliotheque  Asiatique  et  Africaine  1841.  —  Uzielli  =  G.  Uzielli  e  P. 
Amat  di  S.  Filippo,  Studi  biografici  e  bibliografici  II.  Bd.  Roma  1882.  —  Weller 
=  Weiler,  Repertorium  typographicum  1864. 
Kgl.  Oes.  d.  Wiss.  Nachrichten.    Philolog.-histor.  Klasse.    1916.    Beiheft       1 


2  W.  Rüge, 

Karten  und  Texte  in  Bibliotheken^),  die  ich  nicht  besacht  habe. 
Oder  ich  habe  die  betreffenden  Angaben  in  den  Katalogen  über- 
sehen,  was   vor  allem  dadurch  verursacht  worden  sein  kann,   daß 


1)  Folgende  Bibliotheken  habe  ich  besucht  (die  Nummern  sind  die  in 
Schwenkes  Adreßbuch  der  deutschen  Bibliotheken  1893):  nr.  14.  29.  46.  56.  63. 
73.  74.  105.  140.  174.  181.  207.  230.  247.  249.  261.  263.  310.  321.  333.  346.  352. 
360.  364.  365.  372.  409.  412.  428.  431.  446.  477.  480.  485.  491.  499.  519.  522. 
542.  557.  582.  584.  590.  598.  641.  655.  656.  664.  633.  693.  694.  699.  706.  709. 
716.  742.  761.  765.  770.  786.  805.  806.  816.  836.  839.  846.  891.  908.  913.  953. 
958.  972.  991.  992.  1001.  1005.  1008.  ICH.  1017.  1023.  1036.  1064.  1065.  1052. 
1105.  1137.  1167.  1172.  1182.  1192.  1218.  1237.  1310.  1314.  1348.  1356.  1358. 
1865  a.  1372.  1375.  1446.  1452.  1511.  1528.  1534.  1541.  1544.  1553.  1573.  1574. 
1581.  1600.  1605.  1614.  Außerdem:  Basel,  Unirersitätsbibl. ;  Berlin,  Institut  für 
Meereskunde;  Dresden,  Mathem.-phys.  Salon;  Nürnberg,  Kreisarchiv;  Stuttgart, 
Kgl.  Karten-  und  Plankabinett;  Wiesbaden,  Staatsarchiv.  Schriftlich  erledigt: 
nr.  446.  1046;  nach  Litteraturangaben :  nr.  660. 

Folgende  Bibliotheken  haben  mir  auf  eine  Anfrage  hin  —  ich  schickte  ein 
Rundschreiben  aus,  in  dem  der  Zweck  des  Unternehmens  auseinandergesetzt  war  — • 
geantwortet,  daß  nichts,  was  in  Frage  käme,  vorhanden  wäre:  nr.  1.  13.  22.  32. 
38.  39.  45.  53.  64.  65.  67.  68.  88.  89.  95.  106.  107.  136.  137.  155.  166.  173.  176. 
196.  203.  205.  219.  220.  226.  228.  236.  238.  240.  274.  280.  283.  293.  297.  305. 
307.  309.  314.  332.  334.  338.  342.  363.  369.  374.  380.  423.  425.  441.  453.  455— 
457.  459.  460.  474.  479.  506.  513.  530.  537.  538.  540.  547.  548.  563.  578.  604. 
607.  610.  616.  624.  636.  640.  670.  671.  675.  678.  695.  700.  707.  712.  718.  719. 
722.  724.  732.  738.  740.  746.  753.  759.  771.  778.  783.  796.  798.  800.  803.  823. 
824.  842.  862.  876.  880.  881.  888.  893.  906.  910  (z.  Z.  nicht  benutzbar).  915.  934 
—936.  939.  943.  945.  946.  951  (verkauft).  955.  971.  980.  998.  1016.  1028.  1031. 
1057.    1058.    1078.    1100—1102.    1110.    1123.    1124.    1126.  1131.  1145.  1147.  115-5. 

1157.  1157  a  (existiert  nicht  mehr).  1159—1162.  1179.  1180.  1183.  1196.  1200- 
1202.  1204.  1212.  1229.  1252.  1260.  1261.  1269.  1272.  1276.  1287.  1295.  1293. 
1306.  1312.  1313.  1323.  1330.  1341.  1343.  1366.  1370.  1382.  1386.  1397.  1414. 
1420.  1421.  1429.  1432.  1438  (und  doch  ist  etwas  vorhanden,  vgl.  nr.  II  28.  47). 
1440.  1453.  1473.  1475.  1481.  1494.  1500.  1502.  1504.  1510.  1519.  1543.  1548 
(nicht  zugänglich).    1550.  1554.  1580.  1593.  1607. 

Auf  meine  Anfrage  ist  keine  Antwort  eingegangen  von:  nr.  5.  12.  25.  26. 
42.  48.  55.  62.  71.  81.  87.  96.  100.  101.  104.  133.  164.  167.  179.  200.  201.  211. 
216.  221—225.  246.  250.  252.  255.  296.  303.  304.  328.  335.  341.  347.  353.  355. 
357.  366.  407.  410.  416.  421.  422.  427.  435.  440.  445.  462—465.  472.  475.  484. 
486.  488.  493.  517  a.  536.  544—546.  551—553.  576.  577.  589.  602.  603.  621.  G23. 
627.  629.  630.  650.  681.  715.  720.  723.  729.  733.  747.  748.  754.  760.  769.  772. 
776.  779.  780.  799.  802.  810.  812.  827.  829—831.  834.  847.  850.  852—855.  858. 
859.  863-865.  894.  898.  901.  907.  937.  938.  947.  952.  968.  981.  997.  1010.  1015. 
1033.    1037.    1045.    1048.    1049.    1055.    1067.    1107.    1112.   1119.  1120.   1143.  1152. 

1158.  1163.  1165.  1166.  1178.  1187.  1197.  1207.  1214.  1216.  1221.  1224-1226. 
1228.  1240.  1257.  1268.  1278.  1280.  1281.  1283.  1300.  1302.  1307.  1320.  1321. 
1327.  1329.  1337.  1339.  1345.  1346.  1351.  1352.  1359.  1360.  1362.  1368.  1389. 
1890.    1892.    1396.  1399.  1405—1407.  1409.  1410.  1415.  1427.  1428.  1435.  1447— 


Aelteres  kartographisches  Material  in  deutschen  Bibliotheken.  3 

die  Kataloge  der  verschiedenen  Bibliotheken  durchaus  nicht  nach 
demselben  Prinzip  angelegt  sind;  in  manchen  Bibliotheken  gab  es 
nur  Realkataloge,  in  anderen  wieder  nur  Nominalkataloge,  hier 
und  da  fehlten  sie  überhaupt  oder  waren,  besonders  was  Sammel- 
bände anlangt,  ungenügend.  Wie  schwer  es  ist,  völlig  genaue  Be- 
schreibungen, vor  allem  diplomatisch  genaue  Abschriften  von  Texten 
mit  abweichender  Orthographie  zu  geben,  weiß  jeder,  der  einmal 
solche  Abschriften  selbst  gemacht  oder  von  anderen  gemachte  Ab- 
schriften mit  den  Originalen  verglichen  hat.  Wenn  ich  also  auch 
nicht  behaupten  kann,  daß  ich  das  Ziel,  das  ich  mir  gesteckt  habe, 
völlig  erreicht  habe,  so  glaube  ich  doch,  daß  meine  Sammlungen, 
ich  möchte  sagen,  als  Krystallisationspunkt  dienen  können,  an 
den  alles,  was  in  deutschen  Bibliotheken  noch  zum  Vorschein  kommt, 
angeschlossen  werden  kann.  Im  einzelnen  bemerke  ich  noch,  daß 
die  Werke  Apians,  Honters  und  Vadians  planmäßig  weggelassen 
worden  sind,  teüs  weil  es  schon  Bibliographieen  davon  gibt,  teils 
weil  sie  in  so  zahlreichen  Exemplaren  vorhanden  sind,  daß  sie  in 
den  Rahmen  dieser  Sammlung  nicht  hineingehören.  Dieser  letzte 
Grund  ist  auch  dafür  maßgebend  gewesen,  daß  die  Bayrischen 
Landtafeln  Philipp  Apians  nicht  aufgenommen  worden  sind.  Um  die 
Litteratarangaben  nicht  zu  sehr  zu  häufen,  habe  ich  die  ältere 
Bibliographie  nur  da  angeführt,  wo  es  nötig  war. 

Beim  Abschluß  dieses  letzten  Berichtes  ist  es  mir  ein  Be- 
dürfnis, der  K.  Gesellschaft  der  Wissenschaften  zu  Göttingen  zu 
danken,  die  die  Mittel  zur  Ausführung  der  Katalogisierung  zur 
Verfügung  gestellt  hat,  und  Herrn  Geh.  Regierungsrat  Prof.  Dr. 
H.  Wagner,  der  es  veranlaßt  hat,  daß  diese  Arbeit  mir  über- 
tragen wurde.  Denn  sie  ist  mir  für  fast  anderthalb  Jahrzehnte 
Genoß  und  Freude  gewesen. 

Gern  wäre  ich  von  der  einfachen  Sammelarbeit  zur  Ver- 
arbeitung des  neugewonnenen  Materials  weiter  geschritten;  das 
hätte  aber  die  Arbeit  bei  der  mir  zur  Verfügung  stehenden  Zeit 
—  außer  einem  einmaligen  Urlaub  von  6  Wochen  habe  ich  nur 
meine  Schulferien  verwenden  können  —  soweit  ausgedehnt,  daß 
ein  Abschluß  kaum  zu  ermöglichen  gewesen  wäre.  Ich  hoffe  später 
in  ruhigeren  Zeiten  die  Gelegenheit  zu  finden,  das  eiae  oder  andere 
Stück  ausführlicher  zu  behandeln. 

Schließlich  habe  ich  auch  diesmal  Veranlassung,  den  Bibliotheks- 

1449.  1471.  1482.  1493.  1497.  1501.  1503.  1506.  150-J.  1516.  1521.  1525.  1530. 
1533.  1547.  1551.  1563—1565.  1507.  1570.  1571.  1590.  1591.  1595.  1596.  1599. 
1601—1604.  1611. 

Die  Erlaubnis  zur  Benutzung  wurde  verweigert  bei  nr.  1052. 

1* 


4  W.  Rüge, 

Verwaltungen  für  das  Entgegenkommen  zu  danken,  das  sie  mir  an 
Ort  und  Stelle  erwiesen,  und  für  die  mancherlei  Auskünfte,  die 
sie  mir  während  der  Abfassung  und  Drucklegung  des  Berichtes 
«rteilt  haben. 


1. 

2. 

3. 

4. 

5. 

6. 

7. 

8. 

9. 
10. 
11. 
12. 
13. 
14. 
15. 
16. 
17. 
18. 
19. 
20. 
21. 
22. 
23. 
24. 
26. 
26. 

27. 
28. 


Inhaltsverzeichnis. 
I.   Karten. 

A.    Handschriftliche  Karten. 
a.    Portulankarten  und  Seeatlanten. 

Anonymus,  Mittelmeer,  vor  1453. 
Roselli,  Mittelmeer,  1464. 
(Agnese),  Seeatlas,  1536. 
Agnese ,        „  1542. 

„  1543. 

1544. 
(Agnese),        „  vor  1540. 

»       >        »  »        » 

-  nach  1540. 


zw.  1540  und  1563. 
nach  1540. 


Vigliarolus,  Mittelmeer,  1580. 
Millo,  Seeatlas,  1586. 
Martines,  Seeatlas,  1591. 
Anonymus,  Mittelmeer,  16.  Jahrh. 

„         ,  „         ,  Mitte  des  16.  Jahrh. 

Doetszoon,  Atlantische  Küsten  von  Afrika  und  Europa,  1607. 
Grerritsz,  Sumatra,  1620. 

„       ,  Südostasiatische  Inseln,  1621. 

„       ,  Indischer  Ozean,  1622. 
Anonymus,   Westeuropa   und  Nordafrika,   Ende  des  16.,   An- 
fang des  17.  Jahrh. 

Anonymus,  Südostasien  mit  den  Inseln,  1.  Hälfte  des  17.  Jahrh. 

o 


Aelteres  kartographisches  Material  in  deutschen  Bibliotheken.  5 

b.    Länderkarten. 

29.  Anonymus.    Teile   von  Mittel-   nnd  Osteuropa,    Ende   des  15. 

Jahrh. 

B.    Gedruckte  Karten. 
a.   Einzelkarten. 

30.  Etzlaub-Glogkendon,  Mitteleuropa,  1501. 

31.  Finaeus,  Weltkarte,  (1534),  1536. 

32.  (    ,      ),  ,        ,  1541. 

33.  Finaeus,  „         ,  o.  J. 

34.  Castaldo,  Spanien,  1544. 

35.  Anonymus,  Umgebung  von  Rom,  1647. 

36.  Mercator,  Europa,  1554. 

37.  Vopelius,  Rheinkarte,  1555. 

38.  Geminus,  Spanien,  1555. 

39.  Anonymus,  Umgebung  von  Rom.  1567. 

40.  Bemardus  a  Patte,  Holland.  1553 — 1558. 

41.  Jacobus  Daven(tria),  Brabant,  1558. 

42.  Bernard  van  den  Putte,  Friesland  (1556),  1669. 

43.  Stopius,  Flandern,  1559. 

44.  Gastaldi,  Deutschland,  1559. 

45.  Jacobus  Daventr(ia),  Seeland,  1560. 

46.  Jolivet,  Frankreich,  1560. 

47.  Petrus  de  Nobilibus,  Umgebung  von  R^m,  1560. 

48.  Stella,  Mitteleuropa,  1560. 

49.  Helvigius,  Italien,  1561. 

50.  Helwig,  Schlesien,  1561. 

51.  Camocins,  Lombardei,  1560,  1562. 

52.  Anonymus,  Belgien,  1563. 

53.  Camocius,  Großbritannien,  1663. 

54.  F(inaeus),  Frankreich,  1563. 

55.  Forlani,  Holland,  1563. 

56.  Contareni,  Europa,  1564. 

57.  Mercator,  England,  1564. 

58.  D.  BerteUi,  Italien,  1565. 

59.  F.  Bertelli,  Österreich-Ungarn,  1565. 

60.  „         ,  Weltkarte,  1565. 

61.  Hierssfogel,  Ungarn  u.  s.  w.,  1565. 

62.  Camotius,  Friesland,  1566. 

63.  Castaldi,  Donaugebiet,  1566. 

64.  Gastaldo,  Piemont,  1666. 


5  W.  Kuge, 

65.  Finaeus,  Weltkarte,  1566. 

66.  Forlani,  Griechenland,  1566. 

67.  Luchinus,  Schweiz,  1566. 

68.  Stopius,  Afrika,  1566. 

69.  Zündt,  Ungarn,  1567. 

70.  Camotius,  Europa,  1568. 

71.  Castaldo,  Polen,  1568. 

72.  Maschop,  Münsterland,  1568. 

73.  Jo.  und  Lucas  a  Deutecum,  Holland,  1569. 

74.  Ligorius,  Belgien,  1569  (?). 

75.  Scultetus,  Meißen  und  Lausitz,  (1568),  1569. 

76.  Laicksteen  und  Sgrothenus,  Palästina,  (1556),  1570. 

77.  Hogenberg,  Flandern,  o.  J. 

78.  Anonymus,  Korsica,  o.  J, 


79. 

» 

,  Malta,  0. 

J. 

80. 

jj 

,  Majorca, 

0.  J. 

81. 

» 

,  Minorca, 

0.    J. 

82. 

n 

,  Neapolitanisches  Reich, 

0.  J. 

83. 

» 

,  Sardiniei 

J,    0.    J. 

84. 

n 

>                     V 

,    0.    J. 

86. 

Camocius, 

,  Palästina, 

0.    J. 

b. 

Sammelbän 

de. 

86. 

Atlas  in 

Breslau. 

Anhang. 

n.    Texte. 

A .    Handschriften. 

a.    Entdeckungsgeschichte. 

1.  Monetarius  (Münzer),  Brief,  1493. 

2.  „  »       .  Entdeckung  von  Guinea,  1494,  1495. 

3.  Valentin  Ferdinand,  Portugiesische  Entdeckungen. 

4.  Konrad  Peutinger,  Briefe  und  Berichte. 

5.  Springer,  Indienfahrt. 

6.  Lucas  Rem,  Tagebuch,  1494 — 1541. 

7.  Anonymus,  Neue  Zeitung  aus  Presilgland,  1514. 

8.  Pirkheimer,  Abschrift,  1522. 

9.  Sedelius,  Briefe,  1531. 


Aelteres  kartographisches  Material  in  deutschen  Bibliotheken.  7 

b.    Segelanweisungen. 

10.  Anonymus,  Portolan,  1296. 

11.  „         ,  Seebnch,  14.  Jahrh. 

12.  „         ,  Portolan,  15.  Jahrh. 

13.  Bondelmont,  Inselbach,  1420. 

14.  Anxerinns  (Bondelmont),  Inselbuch. 

15.  Duarte  Barboso,  Küstenbeschreibung,   Anf.  des  16.  Jahrh. 

16.  (De  Nicolay),   La  navigation   d'environ   le  royaume  d'Ecosse, 

Glitte  des  16.  Jahrh. 

c.    Lehrbücher. 

17.  Eck,  Introductorium  breve  cosmographicum,  1506. 

B.    Drucke. 
a.    Entdeckungsgeschichte. 

1.   Einzelschriften. 

18.— 24.  Colombus,  Brief. 

25. — 45.  Vespucci,  Brief. 

46.  47.  Vespucci,  Reisen,  1509. 

48.  Montario  (Münzer),  Brief. 

49.  Emanuel,  König  von  Portugal,  Brief  (1505). 

50.  51.  Emanuel,  rex  Lusitaniae,  Obedientia,  1505. 
52.  53.  Anonymus,  Fahrt  von  Lissabon  nach  Indien. 
54.  Emanuel,  rex  Portugaliae,  Gesta,  1506. 

56.  56.  Emanuel,  rex  Portugaliae,  Gresta,  1507. 

57.  Emanuel,  rex  Portugaliae,  Taprobane  insule  .  .  acquisitio. 

58.  „  „  j)  5  Epistola. 

59.  „  „  j>  >  Geschichte. 

60.  „  „  jj  }  Epistola. 
öl.  „  ,  „  ,  Brief,  1508. 

62.  a— d.  Sprenger,  Merfart,  1509—1511. 

63.  (Vespucci  —  Sprenger). 

64.— 70.  Emanuel,  rex  Portugaliae,  Epistola,  1513. 

71.  „        ,     „  r,  ,  Brief,  1513. 

72.  »         j     »  „  ,  Obedientia. 

73.  74.  Anonymus,  Copia  der  neuen  Zeitung  aus  Presilgland. 
76.  Anonymus,  Die  Schiffung. 

76.  Emanuel,  rex  Portugaliae,  Epistola,  1520. 

77.  Anonymus,  Sendbrief,  1520. 

78.  „        ,  Newe  Zeytung. 


8'  W.  Rüge, 

79.  Anonjrmus,  Newe  Zeytung. 

80.  Cortes,  Carta  de  relacion,  1522. 

81.  „      ,       „       tercera  de  relacion,  1523. 

82.  Schöner,  de  nuper  repertis  insulis,  1523. 

83.  Maximilianus  Transylvanus,  de  Moluccis  insulis,  1623. 

84.  „  «,«„„,  1524. 

85.  Anonymus,  Letera. 

86.  „  ,  Newe  Zeytung. 

87.  „         ,  Copey  etlicher  Briefe. 

88.  „         ,  Nuova  della  presa  della  gran  citta  de  Diu. 

89.  90.  Johannes,  rex  Portugaliae,  1536. 

91.  Cartier,  Brief  recit,  1545. 

2.    Sammelwerke. 

92.  Montalboddo,  Paesi  nuovamente  retrouati,  1507. 

93.  Archangelus  Madrignanus,  Itinerarium  Portugalensium,  1608. 

94.  Ruchamer,  Newe  unbekanthe  Landte,  1508. 

95.  Ghetelen,  Nye  vnbekande  Lande,  1508. 

96.  97.  Mathurin  du  Redouer,  Le  nouveau  monde. 

b.    Segelanweisungen.. 

98  Bartolomeo  da  li  Sonetti,  (Isolario),  zw.  1478  und  1485. 
99.  Anonymus,  Portolan,  1490. 

c.   Lehrbücher. 

100.  Anonymus,  Der  deutsche  Ptolemäus. 

101.  Ludd,  speculi  orbis  declaratio,  1507. 

102.  „    ,  Erclärnis  vnd  vßlegung,  1507. 

103 — 108.  Waidseemüller,   Cosmographiae  introductio,  1607 — 1609. 

109.  Anonymus,  Der  Weltkugel  ßeschrybung,  1609. 

110.  „         ,  Globus  mundi,  1509. 

111.  112.  Ringmann,  Instructio,  1511. 

113.  Schöner,  luculentissima  .  .  .  descriptio,  1515. 

114        „        ,  luculentissima  .  .  .  descriptio. 

115.  116.  Franciscus  Monachus,  De  orbis  situ,  1625  (?),  1665. 

117.  118.  Lauren tius  Friess,  Uslegung,  1525.  1527. 

119.  „  „     ,  Under Weisung,  1530. 

120.  Schöner,  opusculum  geographicum,  1533. 

121.  Sebastianus  Cabotus,  Declaratio,  1544. 


Aelteres  kartographisches  Material  in  deutechen  Bibliotheken.  9 

I.  Elarten. 

A.    Handschriftliche  Karten. 
a.    Portulankarten  und  Seeatlanten. 

1.  AnODymns^   Mittelmeer,  vor  1453 ;  ca.  1 :  5^/2  Mill. 
Handzeichnung  auf  Pergament.    910  x  590  mm  (in  der  westlicli 

angesetzten  Zunge  gemessen^  Orientierung  läßt  sich  nicht  sicher 
bestimmen.  Am  Westrand  ist  noch  als  erster  Teil  einer  Inschrift 
zu  lesen :  Rafel  .  .  . ,  wahrscheinlich  der  Rest  des  Namens  eines 
Besitzers,  nicht  des  Zeichners. 

Mittelmeer  mit  Schwarzem  Meer  in  der  üblichen  Ausführung  der  Portulan- 
karten. Von  den  Außenküsten  Europas  und  Afrikas  nur  die  ersten  Strecken 
westlich  von  Gibraltar.  Im  Inneren  nur  ein  paar  Städte.  Viel  Fahnen.  Daraus, 
daß  über  Konstantinopel  noch  nicht  der  Halbmond  steht,  kann  man  schließen, 
daß  die  Karte  vor  1453  gemacht  worden  ist.  Am  West-  und  Südrand  mehrere 
Meilenmaßstäbe,  unbenannt,  die  größeren  Teile  sind  abwechselnd  in  5  Unter- 
abteilungen (=  je  10  Miglien)  zerlegt;  6  große  Teile  (=  300  Miglien)  =  67mm. 
Kompaßrosen  überspinnen  das  Ganze,  die  Zentralrose  ist  in  Nordgriechenland.  Ohne 
Gradangaben.  Gibraltar — Spartivento  (1900  km)  =  350  mm;  Issischer  Meerbusen — 
Sp.  (2160  km)  =  333  mm;  Konstantinopel— Sp.  (1150  km)  =  213  mm;  Genua— 
Sp.  (955  km)  =  175  mm;  G.— Tunis  (850  km)  =  160  mm. 

Berlin,  Institut  für  Meereskunde.  J  511. 

Publ. :  K.  Kretschmer,  Die  italienischen  Portulane  des  Mittel- 
alters 1909,  133  f. 

2.  Petrus  Roselli,   Mittelmeer,  1464;  ca.  liöVaMill. 
Handzeichnung   auf  Pergament.      Die   Orientierung  läßt   sich 

nicht  bestimmen.  Unregelmäßiger  Rand,  besonders  in  der  west- 
lichen Hälfte  beschädigt;  ca.  800  (770)  mm  x  660  (650)  mm;  die 
größte  Breite  war  930  mm,  in  der  am  Westrand  angesetzten 
Zunge.  Links  oben:  Petrus  Roselli  conposuit  hanc  cartam  ||  In 
ciuitate  Maioricarum  anno  domini  ||  'M*  CCCCLXIIII. 

Mittelmeer  mit  der  atlantischen  Außenküste  von  Afrika  und  Europa.  Im 
O  Teile  des  Roten  Meeres,  im  N  die  südliche  Ostsee.  Östlich  von  Dänemark 
hören  die  portul  anmäßig  geschriebenen  Namen  auf.  Dieses  Meer  ist  dann  blau 
gestrichelt,  das  andere  sonst  nicht.  Im  Südende  von  Skandinavien  portulanmäßig 
geschriebene  Namen,  darunter  rogostoch,  das  aber  auch  richtig  auf  dem  deutschen 
Festland  östlich  von  Dänemark  angegeben  ist.  Legenden  in  Nordafrika  und  in 
der  Ostsee,  z.  B.  Aquesta  mar  es  apellade  mar  delamanya  de  suecia  ||  e  de  gotilandia 
sapiau  (?)  que  sta  mar  sta  engelade  ||  Sis  messos  de  lany  ....  Bilder  von  Fürsten, 
im  Innern  große  Städtevignetten.  In  Nordafrika  der  Atlas,  in  Europa  die  Alpen 
als  grüne  Gebirgskette.  Einige  Flüsse.  Viele  Fahnen.  Rhodos  (rodes)  mit  weißem 
Kreuz  in  rotem  Feld.  Westlich  von  Irland  die  lila  de  brezill,  die  noch  einmal  in 
den  Inseln  nördlich  von  den  Kanarischen  Inseln  vorkommt.  Ohne  Gradangaben. 
Kompaßrosen  überspinnen  das  Ganze,  Zentralrose  im  TjTrhenischen  Meer.    Mehrere 


10  .  .         W.  Rüge, 

Meilenmaßstäbe,  die  größeren  Teile  mit  5  Unterabteilungen,  10  große  Teile  (= 
500  Miglien)  =  95  mm.  Gibraltar— Spartivento  (1900  km)  =  298  mm;  Konstan- 
tinopel—Sp.  (1150  km)  =  189  mm;  Issischer  Meerbusen— Sp.  (2160  km)  =  291mm; 
Genua— Sp.  (955  km)  =  150  mm ;  G.— Tunis  (850  km)  ==  132  mm. 

Nürnberg,  Grerman.  Museum. 

Litt. :  üzielli  II 101  nr.  127.  —  K.  Kretschmer,  Die  italienischen 
Portolane  des  Mittelalters  1909,  137  nr.  44. 

3—15.    Baptista  Agiiese,  Atlanten. 

Sämtliche  Atlanten  bestehen  aus  Karten,  die  mit  der  Hand  auf  Pergament 
gezeichnet  sind.  Die  Karten  sind,  wenn  nicht  anders  angegeben,  nach  N  orientiert. 
Die  Mehrzahl  der  Atlanten  enthält  übereinstimmend  eine  Reihe  von  10  Karten 
(nr.  3,1 — 10).  Alle  Karten  weisen  dieselbe  Handschrift  auf.  Der  Ausführung 
nach  kann  man  zwei  Arten  unterscheiden.  Die  einen  sind  reine  Portulankarten, 
bei  denen  das  Binnenland  gar  nicht  oder  nur  wenig  berücksichtigt  ist.  Die  fein 
gezeichneten  Küstenlinien  sind  von  einem  farbigen,  meist  blauen  Rand  umzogen; 
Kompaßrosen  überspinnen  das  Kartenbild.  Die  anderen  werden  im  Gegensatz 
hierzu  am  besten  als  Länderkarten  bezeichnet,  da  sie  wie  andere  Landkarten  das 
ganze  Land,  nicht  nur  die  Küste  darstellen.  Bei  ihnen  ist  gewöhnlich  das  Land 
mit  einem  grünlichgelben  Ton  überzogen,  die  Kompaßrosen  fehlen  oft.  Nur  die 
Nummern  4,  5,  6  tragen  den  Namen  des  Verfassers ,  aber  aiich  die  anderen  sind 
unbedingt  als  Werke  von  B.  Agnese  anzusehen ;  sie  weisen  die  unverkennbaren 
Merkmale  der  Agnese-Atlanten  auf,  sodaß  über  ihre  Herkunft  gar  kein  Zweifel 
entstehen  kann.  Ebenso  fehlt  bei  den  meisten  das  Jahr  der  Herstellung ;  bei  der 
weitgehenden  Übereinstimmung  der  einzelnen  Exemplare  und  Karten  könnte  viel- 
leiclft  eine  genaue  Vergleichung  eine  annähernde  Datierung  ermöglichen.  Man 
kann  wohl  im  allgemeinen  annehmen,  daß  die  x\tlanten,  die  einen  reichen  Inhalt 
haben,  jünger  sind;  im  einzelnen  lassen  die  Darstellungen  der  pazifischen  Küste 
von  Zentral-  und  Mittelamerika  in  einigen  Atlanten  einen  Fortschritt  erkennen, 
nach  dem  man  diese  in  spätere  Zeit  setzen  kann.  (S.  Rüge,  Petermanns  Mitt. 
Erg.-Heft  106,  58).  Den  Maßstab  habe  ich  womöglich  nach  den  Gradangaben  be- 
rechnet ;  wo  diese  fehlten,  nach  den  Meilenmaßstäben  und  Entfernungsmessungen. 
K.  Kretschmer  hat  in  der  Zeitschr.  d.  Ges.  f.  Erdk.  Berlin  1896,  362  alle  bis 
dahin  belfannten  Atlanten  des  B.  Agnese  zusammengestellt  (er  hat  dabei  nr.  14 
übersehen) ;  zu  den  von  ihm  genannten  7  deutschen,  kommen  weitere  6  hinzu, 
sodaß  jetzt  Deutschland  nach  Italien  die  meisten  aufzuweisen  hat.  Ich  lasse  nun 
die  Beschreibungen  der  einzelnen  Atlanten  folgen,  und  zwar  gebe  ich  zuerst  die 
datierten  (nr.  3 — 6),  dann  die  undatierten  und  unbenannten. 

3.   (Baptist»  Agnese),   1536.     (nr.  7  bei  Kretschmer). 

Brauner,  goldgepreßter  Lederband,  geschlossen  162  x  222  mm, 
14  Blatt  zu  158  x217  mm. 

Inhalt:  l.Bl.  r.  leer.  —  1.  Bl.  v.  Tabula  declin.  Signorum  lineae  eclipticae.  — 
2  r.  leer.  Von  späterer  Hand  einige  lateinische  Verse  über  den  Tierkreis.  — 
2  V,  3  r.  kreisförmige  Darstellung  des  Tierkreises.  Darin  die  Jahreszahl  153().  — 
Karten:  I.  (8  v.  4  r.).  Großer  Ozean,  mit  Amerika  im  O,  und  der  asiatischen 
Inselwelt  im  W ;  ca.  1  :  74  Mill.  An  der  Westküste  von  Zentralamerika  sind  die 
nördlichsten  Namen  topoque  und  rio  serrado,  an  der  von  Südamerika  prouinaia 
de  siera.     Dann  fehlt  die  KQste   bis  alcipelego  und  o.  de  todos.  s.  in  elstreto  de 


Aelteres  kartographisches  Material  in  deutschen  Bibliotheken.  H 

ferdinädo  de  magalanes.  Im  W  die  INSVLE  •  MALVCHE.  Breiten  von  60'  S— 
60°  N,  5:5°  angegeben.  10"  =  15  mm.  Meridiane  sind  nicht  angegeben.  Kompaß- 
rosen. Breitenmaßßtab :  mia  100  da  ponto  a  ponto,  10  Teile  (=  1000  Miglien)  = 
21  mm.  —  2.  (4  t.  5  r.).  Atlantischer  Ozean  mit  Amerika,  Europa,  Afrika;  ca. 
1  :  74  Mill.  In  Südamerika,  das  MVNDVS  NOVVS  heißt ,  wie  auf  Karte  1 
zwischen  provinaia  de  siera  und  alcipelego  keine  Namen.  Europa  bis  russia. 
Breiten  von  5  :  5"  von  60*^  S  —  60°  N  angegeben,  10°  =  15  mm.  Längen  fehlen. 
Kompaßrosen.  Meilenmaßstab:  mia  100  da  punto  a  punto,  10  Teile  (=  1000 
Miglien)  =  21  mm.  —  3.  (5  v.  6  r.)  Indischer  Ozean;  ca.  1  :  74  Mill.  Die  Küsten 
Afrikas  und  Asiens,  Ton  Kamerun  bis  China.  Breiten-  und  Meilenmaßstab  wie 
auf  Karte  2.     Kompaßrosen.   —  4.  (6  v.  7  r.)    Nordwest-    und    Mitteleuropa    ca. 

1  :  11  Mill.  Bis  Hamburg,  Großbritannien,  Golf  von  Genua  nördliche  Hälfte  von 
Spanien.  Ohne  Gradangaben.  Meilenmaßstab  ohne  Beischrift,  4  Teile,  abwechselnd 
mit  5  Unterabteilungen,  (=  200  Miglien)  =  24  mm.  Kompaßrosen.  C.  Finisterre — 
C.  Creus  (1025  km)  =  96  mm;  C.  F.— Brest  (1720  km)  =  59  mm.  —  5.  (7  v.  8  r.) 
Pyrenäenhalbinsel  und  Nordwestafrika;  ca.  1  :  1  Mill.  Ohne  Gradangaben.  Meilen- 
maßstab wie  auf  Karte  4.  Kompaßrosen.  C.  Finisterre — C.  Creus  (1025  km)  = 
96  mm.  Gibraltar— C.  Cr.  (1000  km)  ==  93  mm.  —  6.  (8  v.  9  r.)  Westliches  Mittel- 
meer;   ca.  1  :  6  350000.      Ohne    Gradangaben.     Meilenmaßstab,    ohne    Beischrift, 

2  Teile,  einer  in  5  Unterabteilungen  zerlegt,  (=  100  Miglien)  :=  19  mm.  Kompaß- 
rosen. Gibraltar— C.  Creus  (1000  km)  =  160  mm.  —  7.  (9  v.  10  r.).  Mittelstück 
des  Mittelmeeres;  ca.  1  :  6350000.  Ohne  Gradangaben.  Meilenmaßstab  wie  bei 
Karte  6.  Kompaßrosen.  Genua  —  Spartivento  (955  km)  =  150  mm;  Venedig — 
Otranto  (755  km)  =  130  mm ;  Nordküste  von  Sizilien  (270  km)  =  45  mm.  — 
8.  (10  T.  11  r.).  Östliches  Mittelmeer;  ca.  1  :  6350000.  Ohne  Gradangaben. 
Meilenmaßstab  wie  auf  Karte  6.  Kompaßrosen.  Spartivento  —  Konstantinopel 
(1150  km)  =  185  mm.  —  9.  (11  v.  12  r.).  Schwarzes  Meer;  ca.  1  :  6350000. 
Ohne  Gradangaben.  MeilenmaBstab  wie  auf  Karte  6.  Kompaßrosen.  Bosporus — 
Phasis  (1050  km)  =  200  mm.  —  10.  (12  v.  13  r.).  Weltkarte;  ca.  1  :  151  Mill. 
Die  Erdteile  sind  grün  ausgemalt.  Im  Innern  Namen,  Flüsse,  Städte,  Gebirge. 
Die  Küstenzeichnung  Asiens  ist  ptolemäisch,  Kalifornien  fehlt  noch.  Die  Reise- 
linie nach  den  Molukken  ist  angegeben.  Ringsherum  12  Windköpfe.  Innerhalb 
der  elliptischen  Umrahmung  Längen  und  Breiten  von  15  :  15°  ausgezogen,  die 
Breiten  sind  gerade,  die  Längen  gekrümmt.  Die  Längen  sind  von  W — O  fol- 
gendermaßen gezählt:  90,  75  ...  15,  90  ...  15,  15  ...  90,  15  ..  .  90.  15"  = 
11  mm.     Ohne  Kompaßrosen  und  Meilenmaßstab.  —  13  v.  14  leer. 

Dresden,  Kg].  Bibl.  Mscr.  F.  140 ^ 

Litt.:  Uzielli  II  128  nr.  168.  —  S.  Rüge,  Peterm.  Mitt.,  Erg.- 
Heft  106,  57. 

4.  Baptista  Agnese,  1542. 

Goldgepreßter  Lederband,  geschlossen  166  x  240  mm,  19  Blatt 
zu  164  ><  228  mm.  Auf  der  9.  Karte  steht :  baptista  agnese  Januensis 
fecit  II  uenetijs  1542  ....  Junij. 

Inhalt:  1.  2.  3.  Bl.  leer.  —  4  r.  leerer  Rahmen  für  ein  Wappen.  —  4  v. 
Tabellen.  —  5  r.  Sphäre.  —  5  v.  6  r.  Tierkreis.  —  Karten:  1.  (6  v.  7  r.).  Großer 
Ozean;  1:71600000.  Stimmt  mit  nr.  3,1  überein,  mit  Ausnahme  folgender  Ab- 
weichungen :    An    der  Westküste    von    Nordamerika    sind    die    äußersten    Namen : 


12  W.  Rüge, 

plaia  tabursa,  y.  blanca.  Die  Halbinsel  von  Kalifornien  ist  angegeben,  die  letzten 
Namen  an  der  Westseite  sind  los  cazanes  und  punta  enguno.  Nördlich  des  Golfes 
von  Kalifornien  steht :  mar  uermoio  (!)  que  en  ||  la  canal  de  plena  mar  |1  ai .  XI. 
brazas  baxa  mar  viij.  Auf  dem  Äquator  sind  die  Längen  von  W — O  angegeben: 
90,  80  ...  10,  90  ..  .  40,  (30) ;  die  Breiten  ebenfalls  von  10 :  10«,  von  60"  N— 
60"  S ;  10'  =  15,5  mm.  Meilenmaßstab ,  eingeteilt  wie  nr.  3,  1  =  21,5  mm.  — 
2.  (7  V.  8  r.).  Atlantischer  Ozean;  ca.  1  :  71600000.  Längen  vom  Nullmeridian 
nach  O  und  W,  von  10  :  10°,  von  10 — 90,  Breiten  und  Maße  wie  auf  der  vorigen 
Karte.  —  3.  (8  v.  9  r.).  Indischer  Ozean;  ca.  1  :  71600  000.  Längen  von  W— O 
30,  40  ...  90,  10  ..  .  70;  Breiten  und  Maße  wie  auf  der  vorigen  Karte.  — 
4.  (9  v.  10  r.).  Nordwest-  und  Mitteleuropa ;  ca.  1  :  8V2  Mill.  Meilenmaßstab 
(=  200Miglien)  =  28  mm.  Entfernungen*):  126,  80  mm.  —  5.  (10  v.  11  r.). 
Pyrenäenhalbinsel  und  Nordwestafrika ;  ca.  1  :  872  Mill.  Meilenmaßstab  wie  auf 
voriger  Karte.  Entfernungen:  126,123  mm.  —  6.  (11  v.  12  r.)  —  9.  (14  v.  15  r.). 
Westliches  ,  mittleres ,  östliches  Mittelmeer ,  Schwarzes  Meer ;  ca.  1  :  6 155  000. 
Meilenmaßstab  (=  200  Miglien)  =  38,5  mm.  Entfernungen:  163,  151,  130,  46, 
185,  203mm.  —  10.  (15  v.  16  r.).  Weltkarte;  ca.  1  :  148  Mill.  Längen  und 
Breiten  sind  von  15:15"  ausgezogen;  15"  =  ca.  11,25mm.  —  11.  (16  v.  17  r.). 
Atlantischer  Ozean;  ca.  1:10572  Mill.  Südamerika,  Zentralamerika,  östliches 
Nordamerika,  Europa,  Westasien  bis  zur  Hälfte  des  Kaspischen  Meeres,  Afrika. 
Das  Land  ist  grün  übermalt.  Ohne  Namen.  Im  kreisförmigen  Gradnetz  (Durch- 
messer 193  mm)  sind  die  Breiten  als  gerade  Linien,  die  Längen  als  Kreisbögen 
von  10:  10"  ausgezogen.  —  17  v.  18.  19  leer. 

Cassel,  Ständische  Landesbibl.  Ms.  Hist.  4",  nr.  6. 

5.  ßaptista  Agnese,  1543.     (nr.  17  bei  Kretschmer). 

Goldgepreßter  Lederband.  17  Blatt  zu  131  x  198  mm.  Auf 
der  9.  Karte  steht :  baptista  agnese  fecit  uenetijs  ||  1543  die  18.  fe- 
bruarij. 

Inhalt:  1.  Bl.  r.  Widmung  aus  späterer  Zeit,  24.  Juny  1656.  —  1.  Bl.  v. 
leer.  —  2  r.  leer.  —  2  v.  Deklinationstabellen.  —  3  r.  Sphären.  —  3  v.  4  r.  Tier- 
kreis. —  Karten:  1.  (4  v.  5  r.).  Großer  Ozean;  ca.  1:89  Mill.  An  der  West- 
küste von  Amerika  ist  die  Halbinsel  Kalifornien  als  letztes  angegeben;  die  nörd- 
lichsten Namen  sind  p*'  tabursa,  y.  blanca ;  in  Kalifornien  p.  scödido  und  pt»  en- 
guno. Auf  der  Mittellinie  die  Breiten  von  10 :  10",  von  60"  S  —  60"  N  angegeben, 
10"  =  12,5  mm.  Ebenso  auf  dem  Äquator  die  Längen  von  10 :  10".  Die  Zählung 
beginnt  am  Ostrand  mit  40,  steigt  westwärts  bis  90,  beginnt  wieder  mit  10  und 
steij^t  nochmals  bis  90.  Kompaßrosen.  Meilenmaßstab,  eingeteilt  wie  nr.  3,  1  = 
17,5  mm.  —  2.  (5  v.  6  r.).  Atlantischer  Ozean ;  ca.  1 :  89  Mill.  Die  Längen  auf 
dem  Äquator  von  10 :  10"  angegeben,  vom  Nullmeridian  in  der  Mitte  nach  O  und 
W  bis  90"  gezählt.  Meilenmaßstab  wie  auf  der  vorigen  Karte.  —  3.  (6  v.  7  r.). 
Indischer  Ozean;  ca.  1:89  Mill.  Längen  von  10:10"  auf  dem  Äquator  ange- 
geben, von  W-0  30"— 90",  10"— 70".  10"  =  12,5  mm.  Meilenmaßstab  wie  Karte  1. 
—  4.  (7  V.  8  r.)  Nordwest-  und  Mitteleuropa;  ca.  1  :  11 72  Mill.  Bis  zur  nord- 
westlichen Hälfte  des  Mittelraeers.  Meilenmaßstab  (=  200  Miglien)  =  20,5  mm. 
Entfernungen:  97,61  mm.  —  5.  (8  v.  9  r.).  Pyrenäenhalbinsel  und  Nordwest- 
afrika; ca.  1:11V,  Mill.    Meilenmaßstab  wie  auf  der  vorigen  Karte.    Entfernungen: 


*)  Hier  und  weiterhin  sind  die  bei  nr.  3  angegebenen  Strecken  gemeint. 


Aelteres  kartographisches  Material  in  deutschen  Bibliotheken.  13 

99,93  mm.  —  6.  (9  v.  10  r.)  —  9.  (12  t.  13  r.).  Westliches,  mittleres,  östliches 
Mittelmeer,  Schwarzes  Meer;  ca.  1:9400  000.  Meilenmaßstab  (=  200  Miglien) 
=  28mm.  —  10.  (13  v.  14  r.).  Ägäisches  Meer;  ca.  1:6300000.  Ohne  Grad- 
angaben. Kompaßrosen.  Meilenmaßstab  (=  100  Miglien)  =  19  mm.  Darda- 
nellen— Bosporus  (270  km)  =  38  mm;  Konstantinopel — Spartirento  (1150  km)  = 
187  mm ;  NordkOste  von  Candia  (260  km)  =  38  mm  ;  Saloniki — Landemiti  (355  km) 
=  73  nun;  C.  Baba— C.  Crio (Südwestkleinasien)  (320  km)  =  51  mm.  —  11.  (14  v. 
15  r.).  Weltkarte;  ca.  1:208  Mill.  Stimmt  mit  nr.  3,  10;  nur  ist  Kalifornien 
angegeben,  und  an  den  Längen-  und  Breitenkreisen  stehen  keine  Zahlen.  15°  = 
8mm.  —  12.  (15  v.  16  r.).  Atlantischer  Ozean;  ca.  1:128  Mill.  Die  Erdteile 
Amerika,  Afirika,  Europa,  Westasien,  grün  übermalt,  mit  stärkerem  Rand,  aber 
ohne  scharfe  Küstenlinien.  Keine  Innenzeichnung  und  keine  Namen.  Kreis- 
formiges  Gradnetz,  12  Meridiane  und  12  Breitenkreise  von  15:15'';  15"  =  13  mm. 

—  16  V.   17  leer. 

Gotha,  Herzogl.  Bibl.  cod.  mem.  II  146. 

Litt.:  Wieser,  Sitz.-Ber.  Akad.  Wien,  phil.-hist.  Cl.  1876, 
82.  Band,  543.  —  Uzielli  II  132  nr.  177,  wo  fälschlich  am  Anfang 
1546  als  Entstehungsjahr  angegeben  ist,  während  S.  134  richtig 
1543  steht.  Den  Fehler  hat  Kretschmer  übernommen.  —  S.  Rage, 
Peterm.  Mitt.,  Erg.-Heft  106,  65. 

6.    Baptlsta  Agiiese,   1544,  (nr.  15  bei  Kretschmer). 

Goldgepreßter  Lederband,  geschlossen  175  x  255  mm,  15  Blatt 
zu  172  X  240  mm.  Auf  der  9.  Karte  steht:  baptista  Januesis 
fecit  II  uenetijs  1544  die  5.  februarij. 

Inhalt:  1.  Bl.  leer.  —  2  r.  leeres  Wappenschild.  —  2  v.  Deklinations- 
tabellen. —  3  r.  Himmelsglobus,  Tierkreis  mit  blauen  Zeichen  auf  goldenem  Grund. 
In  der  Mitte  Erdkugel  mit  grüner  Erde.  —  3  v.  4  r.  Tierkreis,  Erde  in  der 
Mitte.  —  Karten:   1.  (Av.  5  r.).     Großer  Ozean;  ca.  1:71600000.     Die  Halbinsel 

Kalifornien  ist  bis  pu  enguno  angegeben.  Längen  von  W — O:  20,  10,  90—10, 
90-40;  Breiten  von  ÖO^N— ÖO^S.  Die  Strecken  für  10  :  10"  sind  nicht  ganz  gleich- 
mäßig, im  Durchschnitt  =  15,5  mm.    Meilenmaßstab  (=  1000  Miglien)  =  21,5  mm. 

—  2.  (5  V.  6  r.).  Atlantischer  Ozean;  ca.  1  :  71600000.  Längen  ron  der  Mitte 
nach  O  und  W  10—90.  Breiten  und  Maße  wie  auf  der  vorigen  Karte.  —  3.  (6  v. 
7  r.).  Indischer  Ozean;  ca.  1  :  71600000.  Längen  auf  dem  Äquator  angegeben, 
400-900,  100—800;   Breiten  von  60«  S  — ÖO^N.    Maße  wie  auf  der  vorigen  Karte. 

—  4.  (7  V.  8  r.).  Nordwest-  und  Mitteleuropa;  ca.  1:  IIV3  Mill.  100  Miglien  = 
1 1  mm.  Entfernungen :  95,58  mm.  —  5.  (8  v.  9  r.).  Pyrenäenhalbinsel  und  Nord- 
westafrika ;  ca.  1 :  8\'2  Mill.  Meilenmaßstab  (=  100  Miglien)  =  14  mm.  Ent- 
fernungen- 127,  119.  —  6.  (9  V.  10  r.)  —  9.  (12  v.  13  r.)  =  nr.  3,  6—9.  —  10. 
(13  V.  14  r.).  Weltkarte;  ca.  1:  151  Mill.  Stimmt  ebenfalls  mit  nr.  3,  10  überein, 
nur  ist  Kalifornien  angegeben  und  die  Längen  sind  nicht  gezählt.  —  14  v.  15  leer. 

Dresden,  Kgl.  Bibl.  Msc.  F.  140  a. 

Litt.:  Wieser,  Sitz.-Ber.  Akad.  Wien,  phil.-hist.  CL,  1876, 
82.  Band,  543.  —  Uzielli  U  131,  nr.  175.  —  S.  Rüge,  Peterm. 
Mitt.,  Erg.-Heft  106,  67. 


14  W.  Rüge, 

7.  (Baptista  Agiiese),  vor  1540  (nr.  28  bei  Kretschmer). 
Goldgepreßter  Lederband,  geschlossen  165  x  237  mm,  15  Blatt 

zu  161  X  224  mm. 

Inhalt:  1.  Bl.  leer.  —  2  v.  Tabelle.  —  3  v.  4  r.  Tierkreis.  —  Karten: 
1.  (4  V.  5  r.).  Großer  Ozean;  ca.  1  :  71600000.  An  der  Westküste  Zentral- 
araerikas  ist  ria  serrado  der  letzte  Name.  Auf  dem  Äquator  von  W — O  die 
Längen  von  10 :  10»  angegeben,  von  90—10,  90—70 ;  10»  =  15,5  mm.  Auf  den 
Mittellinien  die  Breiten  von  60°S— 60"N.  Meilenmaßstab  (=  1000  Miglien)  =  21,5  mm. 

—  2.  (5  V.  6  r.).  Atlantischer  Ozean;  ca.  1  :  71600000.  Auf  dem  Äquator  von 
der  Mittellinie  nach  O  und  W  10,20—90,  lO«  =  15,5  mm;  auf  der  Mittellinie  die 
Breiten  von  5:5°  angegeben.  Meilenmaßstab  wie  auf  der  vorigen  Karte.  — 
3.  (6  V.  7  r.).  Indischer  Ozean;  ca.  1:71600000.  Auf  dem  Äquator  die  Längen 
von  W — O  angegeben  30,  40  ...  90,  10  .  .  .  80.  Die  Breiten  ebenfalls  von 
10:  10°,  von  60°S— eO^N.  Meilenmaßstab  wie  auf  der  vorigen  Karte.  —  4.  (7  v. 
8  r,).  Nordwest-  und  Mitteleuropa;  ca.  1  :  IOV4  Mill.  Meilenmaßstab  (=  100 
Miglien)  =  12,5  mm.  Entfernungen:  97,61mm.  —  5.  (8  v.  9  r.).  Pyrenäenhalb- 
insel und  Nordwestafrika ;  ca.  1  :  IOV4  Mill.  Meilenmaßstab  wie  auf  der  vorigen 
Karte.  Entfernungen:  97,93  mm.  —  6.  (9  v.  10  r.)  —  9.  (12  v.  13  r.)  =  nr.  3, 
6 — 9,  auch  die  Maße  und  Entfernungen  stimmen  fast  überall  ganz  genau.  — 
10.  (13  V.  14  r.).     Weltkarte;  ca.  1  :  151  Mill.     Stimmt  ebenfalls  mit  nr.  3,  10.  — 

14  V.  15  leer. 

München,  Hof-  und  Staatsbibl.     Cod.  icon.  136. 

Litt.:  Schmeller,  Abh.  d.  I.  Gl.  Akad.  München  1843,  IV, 
Abt.  1,  1847,  255.  —  Kunstmann,  Entdeckung  Amerikas  1859, 
145.  —  TJzielli  11  128,  nr.  169  (ungenau). 

8.  (Baptista  Agnese),   vor  1540  (nr.  54  bei  Kretschmer). 
Gepreßter  Lederband,  geschlossen  165  x  238  mm,  15  Blatt. 

Inhalt:  1.  Blatt,  2  r.  leer.  —  2  v.  Deklinationstabellen.  —  3  r.  leer.  —  3  v. 
4  r.  Tierkreis.  —  Karten:  1.  (4  v.  5  r.).  Großer  Ozean;  ca.  1  :  717-2  Mill.  Stimmt 
überein  mit  nr.  3,  1.  Auf  dem  Äquator  von  W — O  die  Längen  10,  90,  80  .  .  . 
10,  90  .  .  .  50,  die  Breiten  in  der  Mitte  von  60"  S— 60»  N  angegeben;  10»  = 
15,5  mm.  Meilenmaßstab  (=  1000  Miglien)  =  20,5  mm,  —  2.  (5  v.  6  r.).  Atlanti- 
scher Ozean;  ca.  1  :  71 V2  Mill.  Breiten  von  (60")  50»  S  — 55°,  40"  (verschrieben 
für  60")  N,  von  5:5**;  die  Längen  von  10  :  10°  eingeteilt,  aber  nicht  numeriert ;  10" 
=  20,5  mm.  Meilenmaßstab  wie  auf  der  vorigen  Karte.  —  3.  (G  v.  7  r.).  Indi- 
scher Ozean;  ca.  1  :  71*/ 2  Mill.  Ohne  Längen-  und  Breitengrade.  Meilenmaßstab 
(=  1000  Miglien)  =  21,5  mm.  —  4.  (7  v.  8  r.).  Nordwest-  und  Mitteleuropa ;  ca. 
1  :  11,1  Mill.    Meilenmaßstab  (=  200  Miglien)  =  21,5  mm.    Entfernungen  :  96,60  nun. 

—  5.  (8  V.  9  r.).  Pyrenäenhalbinsel  und  Nordwestafrika ;  ca.  1:11,1  Mill.  Meilen- 
maßötab  wie  auf  der  vorigen  Karte.     Entfernungen:   95,93mm.  —  6.  (9  v.  10  r.) 

—  9.  (12  V.  13  r.)  =  nr.  3,  6  —  9,  auch  die  Maße  und  Entfernungen  stimmen  fast 
überall  ganz  genau  überein.  —  10.  (13  v.  14  r.).  Weltkarte;  ca.  1  :  151  Mill.  = 
nr.  3,  10.     Längen    und    Breiten    von    15  :  15°,    aber  beide  unnumeriert.  —  14  v. 

15  leer. 

Berlin,   Kgl.  Bibl.     Msc.  Hamilton  528. 

9.  (Baptista  Agnese),   nach  1540  (nr.  31  bei  Kretschmer). 


Aelteres  kartographisches  Material  in  deutschen  Bibliotheken.  15 

Goldgepreßter,  brauner  Lederband,  geschlossen  180  X  265  mm, 
14  Blatt. 

Inhalt:  1.  Bl.  leer.  —  2  r.  Sphäre  mit  Planetensystem.  —  2  v.  3  r.  Tier- 
kreis. —  Karten:  1.  (3  v.  4  r.).  Großer  Ozean;  ca.  1  :  71»/»  Mill.  In  Kalifornien 
punta  enguno  als  letzter  Name.  Die  Längen  auf  dem  Äquator  von  W— O  von 
10:  10«  {=  15,5  mm)  von  10,  90  ...  10,  90  ..  .  30,  die  Breiten  von  60«  S  — 
60"  N  angegeben.  Meilenmaßstab  (=  1000  Miglien)  =  21,5  mm.  —  2.  (4  v.  5  r.). 
Atlantischer  Ozean;  ca.  1  :  71  Vi  MiU-  Die  Längen  von  der.  Mittellinie  10—90 
nach  O  und  W;  10«  =  15,5  mm.  Breiten  und  Meilenmaßstab  wie  auf  Karte  1.  — 
3.  (5  V.  6  r.).  Indischer  Ozean;  ca.  1  :  71*/,  Mill.  Breiten  von  50^  S  — 60«  N, 
Längen  30«— 90«,  10«— 70«.  Meilenmaßstab  wie  auf  der  vorigen  Karte.  —  4.  (6  v. 
7  r.).  Nordwest-  und  Mitteleuropa;  ca.  1  :  12,4  Mill.  Meilenmaßstab  (=  100 
Miglien)  =  10,5  mm.  C.  Finisterre— Brest  (720  km)  =  55  mm.  Im  Innern  blaue 
Flüsse,    grüne  Wälder,    graugrüne    Hügelketten,    Binnenstädte    mit    Vignetten.  — 

5.  (7  V.  8  r.).  Pvrenäenhalbinsel  und  Nordwestafrika;  ca.  1  :  8Vs  MiU-  Meilen- 
maßstab (=  100  Miglien)  =  14  mm.  Gibraltar— C.  Creus  (1000  km)  =  122  mm. 
Innenzeichnung  wie  bei  der  vorigen  Karte.  —  6.  (8  v.  9  r.)  —  9.  (11  v.  12  r.) 
=  nr.  3,  6 — 9,  auch  Maße  und  Entfernungen  stimmen  fast  ganz  genau ;  auf  Karte  9 
fehlt  der  Meilenmaßstab.  —  10.  (12  v.  13  r.).  Weltkarte;  ca.  1  :  144^4  Mill. 
150  =  11,5  mm.  Längen  und  Breiten  ohne  Bezeichnung.  —  13  v.  f.  Auseinander- 
setzungen über  die  Größe  eines  Grades,  des  Erdumfangs,  Entfernung  des  Monde« 
u.  s.  w. 

Wolfenbüttel,  Herzogl.  Bibl.     4.  1.  Ang. 
Litt.:  UzieUi  II  155,  nr.  231. 

10.    (Baptista  igucse),  nach  1540  (nr.  53  bei  Kretschmer). 
Goldgepreßter  Lederband,  geschlossen  295  x  450  mm,  20  Blatt 
zu  298  X  488  mm. 

Inhalt:  l.Bl.  leer.  —  2  r.  Sphäre.  —  2  v.  3  r.  Sphären.  —  Karten:  1.  (3  v. 
4  r.).  Großer  Ozean;  ca.  1:39  600000.  An  der  Küste  von  Kalifornien  der  letzte 
Name  punta  enguno.  Auf  dem  Äquator  die  Längen  angegeben:  55,  60  ...  90, 
90  ...  5,  90  ...  50;  5«  =  13,5—14,5  mm.  Die  Breiten  ebenfalls  von  5  :  5», 
von  60«  S— 60«  N;  5«  =  14  mm.  Meilenmaßstab  (=  1000  Miglien)  =  40,5  mm. 
—  2.  (4  V.  5  r.).  Atlantischer  Ozean;  ca.  1:39  600000.  Auf  dem  Äquator  die 
Längen  90,  85  ...  5,  5  ...  90 ;  die  Breiten  von  60«  S— 60«  N,  10«  =  28.5  mm. 
Meilenmaßstab  wie  auf  Karte  1.  —  3.  (5  v.  6  r.).  Indischer  Ozean ;  ca.  1  :  39600000. 
Breiten  von  55«  S — 55«  N ;  auf  dem  Äquator  die  Längen  angegeben,  aber  nicht 
numeriert.  Meilenmaßsta^  wie  auf  Karte  1.  —  4.  (6  v.  7  r.).  Nordwest-  und 
Mitteleiu-opa ;  ca.  1  :  7840000.  Reicht  im  O  weiter  als  gewöhnlich,  bis  zum  west- 
lichen Teil  des  Schwarzen  Meeres.  Die  Zeichnung  der  Mittelmeerküsten  ist  oifen- 
bar  nicht  im  richtigen  Verhältnis  angesetzt,  daher  stehen  die  Innen-  und  Außen- 
küBte  der  Pyrenäenhalbinsel  falsch  zu  einander,  und  Italien  ist  viel  zu  schmal  ge- 
worden.' Meilenmaßstab  (=  150  Miglien)  =  23,5  mm.  Finisterre — Brest  (720  mm) 
=  92  mm.  —  5.  (7  v.  8  r.)  PjTenäenhalbinsel  und  Nordwestafrika ;  ca.  1:4740000. 
Meilenmaßstab    (=  200  Miglien)    =    50,5  mm.      Entfernungen:    219,212mm    — 

6.  (8  V.  9  r.).  Westliches  Mittelmeer;  ca.  1:4800000.  Meilenmaßstab  (=  200 
Miglien)  =  50  mm.  Gibraltar— C.  Creus  (lOOO  km)  =  209  mm;  Bayonne  — C. 
Cr.  (410  km)  =  95  mm.  —  7.  (9  v.  10  r.).     Östliches  Mittelmeer;  ca.  1 :  4800000. 


16  W.  Rüge, 

Meilenmaßstab  wie  auf  der  vorigen  Karte.  Nordküste  von  Sizilien  (270  km)  = 
60  mm;  Spartivento — Issischer  Meerbusen  (2160  km)  =  385  mm;  Sp. — Konstan- 
tinopel (1150  km)  =  250  mm;  Dardanellen — Bosporus  (270  km)  =  53  mm;  C.  S. 
Maria— C.  Crio  (320  km)  =  69  mm.  —  8.  (10  v.  11  r.).  Schwarzes  Meer;  ca. 
1:3366500.  Meilenmaßstab  (=  100  Miglien)  =  31,5  mm.  Entfernung:  338mm. 
—  9.  (11  V.  12  r.).  Ägäisches  Meer;  ca.  1:1680000.  Meilenmaßstab  (=  100 
Miglien)  =  72  mm.  Greta  O — W  (260  km)  =  167  mm;  Dardanellen — Bosporus 
(270  km)  =  150  mm;  C.  Baba— C.  Crio  (320  km)  =  203  mm.  —  10.  (12  v.  13  r.). 
Pyrenäenhalbinsel;  ca.  1:3  Mill.  Länderkarte,  nicht  Portulankarte.  Ausführliche 
Innenzeichnung  mit  Flüssen,  Bergen,  Orten.  Grünlichgelber  Ton  über  dem  Ganzen. 
Kompaßrosen.  Ohne  Meilenmaßstab.  C.  Finisterre — C.  Creus  (1025  km)  =  340  mm ; 
Gibraltar— C.  Cr.  (1000  km)  =  322  mm;  Bayonne— C.  Cr.  (410  km)  =  145  mm.— 
11.  (13  V.  14  r.).  Italien;  ca.  1:3  Mill.  Ebenfalls  Länderkarte  mit  viel  Innen- 
zeichnung. Das  Land  mit  grünlichgelbem  Ton  überzogen,  blaugrüne  Gebirge. 
Kompaßrosen.  Meilenmaßstab  (=  100  Miglien)  =  39  mm.  Genua  —  Spartivento 
(955  km)  =  310  mm;  Nordküste  von  Sizilien  (270km)  =  94  mm;  Venedig— 
Otranto  (755  km)  =  260mm.  —  12.  (14  v.  15  r.).  Osteuropa  und  Westasien; 
ca.  1:11  Mill.  Länderkarte.  Im  O  bis  SCITHIA,  im  W  bis  belgrado.  Kompaß- 
rosen. Meilenmaßstab,  10  Teile  ohne  Beischrift  =  42  mm;  die  Bedeutung  der 
Teile  ist  unklar.  Sinope— Str.  von  Kertsch  (400  km)  =  36  mm ;  Moskau— Str.  v. 
K.  (1140  km)  =  107  mm;  Bosporus— Phasis  (1050  km)  =  94  mm.  —  13.  (15  v. 
16  r.).  Nordeuropa;  ca.  1:157*  Mill.  Länderkarte.  Am  Nordrand  ragt  herein 
GRVTLANDIE  PARS.  Groß  und  breit  ISLANDIA,  viel  zu  nahe  an  Eiiropa. 
Die  skandinavische  Halbinsel  hat  eine  Gestalt,  die  z.  B.  an  Ptolemaeus  1548  er- 
innert. Am  Nordende  Skandinaviens  eine  Zeichnung  mit  der  Unterschrift:  rubeuxn 
pannum  asta  leuatum  adorant.  Dieselbe  Zeichnung  und  Inschrift  IV.  Ber.  nr.  45. 
Im  SW  ein  Teil  von  Großbritannien.  Im  S  die  holländische  und  deutsche  Küste. 
In  Polen  steht  SIGISMVNDVS  .  Bf  .  POLONIE  MAGNVS  .  DVX  .  LITVANIE. 
Daneben  von  fremder  Hand  :  parvint  au  Trone  en  1587,  mourut  en  1645.  Welcher 
von  den  drei  Sigismunden  gemeint  ist ,  läßt  sich  nicht  bestimmt  sagen ;  sicher 
ist  es  nicht  der  durch  die  Beischrift  bezeichnete  S.  III  (1587 — 1632) ;  denn  der 
späteste  datierte  Atlas  Agneses  stammt  von  1564,  seine  älteste  bekannte  Arbeit 
von  1514.  Wenn  die  oben  (S.  10)  ausgesprochene  Ansicht  richtig  ist,  daß  die 
reichhaltigeren  Atlanten  in  die  spätere  Periode  zu  setzen  sind,  so  käme  Sigis- 
mund  II.  (1548 — 1572)  in  Frage.  Am  linken  Rand  Breiten  angegeben,  von  50 — 
900  N^  100  _  70—71  mm.  Der  Nordrand  von  Skandinavien  liegt  unter  90». 
Meilenmaßstab  fehlt.  Bergen— Lübeck  (790  km)  =  80  mm ;  Rostock— L.  (95  km) 
=  18  mm;  Danzig— Bomholm  (40  km)  =  38  mm.  —  14.  (16  v.  17  r.).  Palästina; 
ca.  1:570  000.  Länderkarte.  Nach  O  orientiert.  Land  gelblichgrün,  blaue  Flüsse 
luid  Seen.  Jordan  sehr  breit.  Kompaßrosen.  Ohne  Gradangaben.  Meilenmaß- 
stab: mia  5  da  punto  a  punto ;  danach  10  Miglien  =21,5  mm.  Jaffa— Jerusalem 
(55  km)  =  75  mm;  Sidon— Damaskus  (48  km)  =  142  mm;  Jerusalem— D.  (116  km) 
=  340  mm.  —  15.  (17  v.  18  r.).  Weltkarte ;  ca.  1  :  90  Mill.  Von  der  gewöhn- 
lichen Zeichnung  (z.  B.  nr.  3,  10)  einige  wichtigere  Abweichungen,  z.  B.  Südost- 
asien zeigt  keinen  ptolemäischen  Einfluß.  Längen  \uid  Breiten  sind  zwar  einge- 
teilt, aber  nicht  numeriert;  15°  =  18,5mm.  —  16.  (18  v.  19  r.).  Piemont;  ca. 
1  :  600000.  Länderkarte.  Im  N  bis  NOVARA,  im  W  im  allgemeinen  die  Alpen, 
darüber  hinaus  der  Oberlauf  von  Saone  und  Rhone,  im  O  bis  piasenza.  Ohne 
Gradangaben  und  Meilenmaßstab.     Alessandria— Turin  (78  km)  =  156  mm ;  Monaco 


Aelteres  kartographisches  Material  in  deutschen  Bibliotheken.  17 

— T.  (150  km)  =  199  mm;  M.— Alessandria  (160  km)  =  286  mm.  —  19  v.  20  r. 
Angaben  über  die  Größe  der  Erde  u.  s.  w.  —  20  v.  leer. 

Berlin,  Kgl.  Bibl.     Msc.  Hamilton  529. 

11.    (Baptista  Agnese),  nach  1640. 

Goldgepreßter  Ledereinband ,  geschlossen  171  x  247  mm ,  18 
Blatt  zu  170  X  236  mm. 

Inhalt:  Bl.  1.  2.  3  r.  leer.  —  3  t.  4  r.  unausgefQlltes  Wappenschild.  —  4  v. 
Tabellen.  —  5  r.  Sphäre.  —  5  t.  6  r.  Tierkreis.  —  Karten:  1.  (6  v.  7  r.).  Großer 
Ozean;  ca.  1:71600000,  Halbinsel  Kalifornien  angegeben.  Auf  dem  Äquator 
die  Längen  von  W— O  10,  90,  80  ...  10,90  ...  40;  10"  =  15,5  mm.  Die  Breiten, 
ebenfalls  von  10  :  10«,  von  60o  S— 6O0  N.    Meilenmaßstab  (=  1000  Miglien)  =15  mm. 

—  2.  (7  V.  8r.).  Atlantischer  Ozean;  ca.  1  :  71600000.  Längen  auf  dem  Äquator 
von  der  Mitte  nach  O  und  W  von  10—90;  Breiten  und  Meilenmaßstab  wie  auf 
der  vorigen  Karte.  —  3.  (8  v.  9  r.).  Indischer  Ozean;  ca.  1:71600000.  Längen 
und  Breiten  auch  hier  von  10 :  10«  angegeben,  Meilenmaßstab  wie  auf  der  vorigen 
Karte.  —  4.  (9  v.  10  r.).  Nordwest-  und  Mitteleuropa;  ca.  1:8860000.  Meilen- 
maßstab (=  200  Miglien)  =  28  mm,     C.  Finisterre— Brest  (720  km)  =  79  mm.  — 

5,  (10  V.  11  r.).  PjTenäenhalbinsel  und  Nordwestafrika;  ca.  1:8860000.  Meilen- 
maßstab wie  auf  der  vorigen  Karte.     Gibraltar— C.  Creus  (1000  km)  =  115  mm.  — 

6.  (11  V,  12  r.)  —  9,  (14  v,  15  r.).  Die  üblichen  drei  Mittelmeerkarten  und  das 
Schwarze  Meer;  ca.  1  :  6317000.  Meilenmaßstab  (=  200  Miglien)  =  39  mm. 
Gibraltar— C.  Creus  (1000  km)  =  156  mm;  Genua— Spartivento  (955  km)  =  156  mm; 
Spartivento— Meerbusen  von  Issos  (2160  km)  =  290  mm;  Bosporus— Phasis  (1050 km) 
=  197  mm.  —  10.  (15  v.  16  r.).  Weltkarte;  ca,  1  :  148  Mill.  Gewöhnliche  Dar- 
stellung.   Längen  und  Breiten    eingeteilt,    aber  nicht  numeriert.     15*=  11,25mm. 

—  11.  (16  v.  17  r.).  Atlantischer  Ozean;  ca.  1:  102  Mill.  Halbmesser  des  kreis- 
runden Gradnetzes  =  98  mm.  —  17  v.  18  leer. 

Wolfegg  (Württemberg) ,  Fürstl.  Kupferstich  -  Kabinett  X. 
nr.  21. 

13.    (Baptista  Agnese),  zwischen  1540  und  1563. 

Goidgepreßter  Lederband,  178  x  250  mm,  15  Blatt. 
Inhalt:  1  Bl.  r.  leer.  —  1  v.:  REVERENDISSIMVS  lü  CHRISTO  PATER 
DNS  il  HIERONIMVS  RVFFAVLT  1|  ABBAS  SACTI  VEDASTI  1|  ET  SANCTI 
ADRIANI.  Dazu  gehört  die  Bemerkung  auf  der  Innenseite  des  Rückendeckels, 
von  späterer  Hand:  Abt  Hieron.  Ruffault  zu  S.  Vaaast  in  Arras  1537 — 1563  an 
der  Spitze  jenes  niederländischen  Benediktinerklosters.  —  2  r.  Wappen.  —  2  v. 
Tabellen.  —  3  r.  Sphären.  —  3  v.  4  r.  Tierkreis.  —  Karten :  1.  (4  v.  5  r.).  Großer 
Ozean;  ca.  1:71600000,  In  Kalifornien  die  letzten  Namen  p*.  tabursa,  y.  blanca. 
Breiten  von  60°  N — 60°  S,  10"  =  15,5  mm.  Auf  dem  Äquator  die  Meridiane 
ebenfalls  von  10  :  10°.  Meilenmaßstab :  mia  100  da  püto  a  pöto,  10  solcher  Teile 
=  22  mm.  —  2.  (5  v,  6  r.).  Atlantischer  Ozean;  ca.  1  :  71600000.  Längen  und 
Breiten  von  10:10°  angegeben.  Meilenmaßstab  wie  auf  Kart«  1,  —  3.  (6  v.  7  r.). 
Indischer  Ozean;  ca,  1  :  71600000,  Meilenmaßstab  wie  auf  Karte  1,  Breiten  von 
50°  S  — 60°  N.  —  4.  (7  V,  8  r,).  Nordwest-  und  Mitteleuropa;  ca,  1:11  Mill. 
Meilenmaßstab  (=  200  Miglien)  =  22  mm.  C.  Finisterre— C.  Creus  (1025  km)  = 
95  mm.  —  5.  (8  v.  9  r).  PjTenäenhalbinsel  und  Nordwestafirika ;  ca.  1:8170000. 
Kgl   Oes.  d.  Wiss.    Nachriditen.    Phfl.-hist  Klasse.    1916.    Beiheft,  2 


18  W.  Rüge, 

Entfernungen :  128,  120  mm ;  der  Meilenmaßstab  ist  wie  auf  der  vorigen  Karte, 
obgleich  die  Zeichnung  in  bedeutend  größerem  Maßstab  abgefaßt  ist.  —  6.  (9  v. 
10  r.)  —  8.  (11  V.  12  r,).  Das  westliche,  mittlere  und  östliche  Mittelmeer; 
ca.  1 :  6Vs  Mill.  Meilenmaßstab  (=  100  Miglien)  =  19  mm.  Gibraltar— C.  Creus 
(1000  km)  =  162  mm ;  Genua — Spartivento  (955  km)  =  154  mm ;  Issischer  Meer- 
busen—Sp.  (2160  km)  =  290  mm.   —    9.  (12  v.    13  r.),     Schwarzes   Meer;    ca. 

1  :  5  Mill.  Ohne  Meilenmaßstab.  Bosporus  —  Phasis  (1050  km)  =  204  mm.  —  10. 
(13  V.  14  r.).     "Weltkarte  in  der  üblichen  Art;  ca.  1 :  150  Mill.  —  14  v.  15  leer. 

Wernigerode,  Fürstl.  Stollberg- "Wernigerodische  Bibl.     Zi,  14. 

13.    (Baptista  Agnese),  nach  1540. 

Lederband  mit  einfachen  Goldstreifen  am  Rand,  geschlossen 
132  X  198  mm. 

Inhalt:  1.  Bl.  r.  leer,  —  1  v. :  Reuerendissimo  Illustrissimo  &  Serenissimo  jj 
Principi  ac  Domino  Domino  Adolpho  Ad:  ||  ministratori  sanctae  Coloniensis  Eccle- 
siae  II  Sacri  Romani  Imperij  per  Italiam  Archi:  |  cancellario.  Principi  Electori 
Westphaliae  et  ||  Angariae  Ducj  &c  Dno  meo  gratissimo.  Dazu  mit  Bleistift  hinzu- 
gefügt: Adolf  von  Schaumburg,   Administrator*)  1535 — 1546.  —  2  r.    Wappen.  — 

2  V.  3  r.  leer.  —  3  v.  Tabellen.  —  4  r,  Sphäre.  —  4  v.  5  r.  leer.  —  5  v.  6  r. 
Tierkreis.  —  6  v.  7  r.  leer.  —  Karten:  1.  (7  v.  8  r.).  Großer  Ozean ;  ca.  1 :  88800000. 
In  Kalifornien  der  letzte  Name:  p.  engono.  Längen  von  10:  lO**;  von  W — O  90, 
80  ...  10,  90  ...  40;  10 »=  12— 13  mm;  Breiten  von  60"  S— 60°  N.  Meilen- 
maßstab: mia  100  da  punto  a  püto,  danach  1000  Miglien  =  17  mm.  —  2.  (8  v. 
9  r.).  Atlantischer  Ozean;  ca.  1:88800000.  Längen  von  der  Mitte  nach  O  und 
W  10 — 90 ;    10°  ^  12,5  mm.     Breiten   und  Meilenmaßstab  wie  auf  voriger  Karte. 

—  3.  (9  V.  10  r.).  Indischer  Ozean;  ca.  1:88800000.  Längen  von  O— W  [10, 
20,  30]  40  ...  90,  10  .  .  .  70;  Breiten,  Maße  und  Meilenmaßstab,  wie  auf  der 
vorigen  Karte.  —  4.  (10  v.  11  r.).  Nordwest-  und  Mitteleuropa;  ca.  1:11  Mill. 
Bayonne  — C.  Creus  (410  km)  =  38  mm.    Meilenmaßstab  (250  Miglien)  =  27,5  mm. 

—  5.  (11  V.  12  r.).  Pyrenäenhalbinsel  und  Nordwestafrika;  ca.  1 :  11  Mill.  Bay- 
onne— C.  Creus  (410  km)  =  39  mm.  Meilenmaßstab  wie  auf  der  vorigen  Karte. 
--  6.  (12  V.  13  r.)  —  9.  (15  v.  16  r.).  Westliches,  mittleres,  östliches  Mittel- 
meer, Schwarzes  Meer ;  ca.  1 :  9  Mill.  Meilenmaßstab  (=  200  Miglien)  =  27,5  mm. 
Dardanellen — Bosporus  (270  km)  =  30  mm.  —  10.  (16  v.  17  r.).  Ägäisches  Meer ; 
ca.  1  : 6'/4  Mill.  Meilenmaßstab  (=  100  Miglien)  =  18,5  mm.  Dardanellen- 
Bosporus  (270  km)  =  37  mm ;  Konstantinopel — Spartivento  (1150  km)  =  190  mm; 
Kreta  W—O  (260  km)  =  37,5  mm;  Saloniki— Landermiti  (355  km)  =  72  mm;  C.  Baba 
— C.  Crio  (320km)  =  52  mm.  —  11.  (17  v.  18  r.).  Weltkarte;  ca.  1:208  Mill. 
Normal.  —  12.  (18  v.  19  r.).  Atlantischer  Ozean;  ca.  1  :  130  Mill.  Im  Osten  luid 
Westen  die  begrenzenden  Erdteile.     Grade   von  10:100  eingeteilt;    10°  =  85  mm. 

HarflP  a./Erft.  Schloßbibl.     Handschr.  61. 

14.    (Baptista  Agnese),  nach  1540. 

G-oldgepreßter  Lederband,  geschlossen  275  X  385  mm,  24  Blatt, 
276  X  370  mm. 

Inhalt:  1.  Bl.  leer.  —  2.  r.  Wappenschild,    auf  dem  von  späterer  Hand  ein- 
geschrieben ist:  Ex  Haereditate  Herwartiana.  —  2  v.   Tabellen.  —  3  r.   Sphäre. — 


*)  vielmehr  Koadjutor  (Zedier,  Universallexikon  I  543). 


Aelteres  kartographisches  Material  in  deutschen  Bibliotheken.  19 

3  V.  4  r.  Planetensphäre.  —  Karten:  1.  (4  v.  5  r.).  Großer  Ozean;  ca.  1:4774 
Mill.  Letzter  Name  in  Kalifornien  ist  punta  enguno.  —  Längen  auf  dem  Äquator 
von  W— O  40,  50  ...  90,  90  ...  10,  90  ...  50;  Breiten  eO^S— 600N;  10«  = 
2.3,5  mm.  Meilenmaßstab :  mia  100  da  punto  a  pöto ;  danach  1000  Miglien  = 
33,5  mm.  —  2.  (5  v.  6  r.).  Atlantischer  Ozean ;  ca.  1  :  477«  Mill.  Längen  von 
W— O  10,  90,  80  ...  10,  10  ...  90;  Breiten  und  Meüenmaßsteb  wie  auf  der 
vorigen  Karte.  —  3.  (6  v.  7  r.).  Indischer  Ozean ;  ca,  1 :  397t  ^^-  Längen  von 
W  —  O  35,  40,  45  ...  90,  5,  10  ...  90 ;  Breiten  ebenfalls  von  5  :  5»,  50<»  S — 
50<*  N;  5°  =  14  mm.  Meilenmaßstab :  mia  100  da  ponto  a  ponto,  danach  1000 
Miglien  =  40,5  mm.  —  4.  (7  v.  8  r.).  Nordwest-  und  Mitteleuropa ;  ca.  1 :  87« 
Mill.  Meilenmaßstab  (=  300  Miglien)  =  41,5  mm.  Entfernungen:  130,86  mm.  — 
5.  (8  V.  9  r.).  PjTenäenhalbinsel  und  Nordwestafrika ;  ca.  1:67*  Mill.  Meilen- 
maßstab (=300  Miglien)  =  57  mm ;  Entfernungen:  168,165  mm.—  6.  (9  v.  10  r.). 
Westliches  Mittelmeer;  ca.  1 :  6270000.  Meilenmaßstab  (=  300  Miglien)  =  57  mm. 
Gibraltar— C.  Creus  (1000  km)  =  158  mm;  Bayonne— C.  Cr.  (410  km)  =  69  mm; 
Genua — Spartivento  (955  km)  =  154  mm;  Venedig — Otranto  (780  km)  =  130  mm; 
Nordküste  von  Sizilien  (270  km)  =  46  mm.  --  7.  (10  v.  11  r.).  Östliches  Mittel- 
meer; ca.  1:4970000.  Meilenmaßstab  (=  150  Miglien)  =  38  mm.  Spartivento 
— Iss.  Meerbusen  (2160  km)  =  382  mm;  C.  Baba— C.  Crio  (320  km)  =  70  mm; 
Alexandrette  —  El  Areisch  (640  km)  =  123  mm.  —  8.  (11  v.  12  r.).  Schwarzes 
Meer;  ca.  1:37,  Mill.  Meilenmaßstab  (=  200  Miglien)  =  63  mm.  Entfernung: 
330mm.  —  9.  (12  v.  13  r.).  Italien;  ca.  1  : 4  Mill.  Meilenmaßstab  (=  100  Miglien) 
=  30  mm.  Genua — Spartivento  (955  km)  =:  245  mm ;  Venedig — Otranto  (780  km) 
=  205  mm;  Nordküste  von  Sizilien  (270  km)  =  71  mm.  —  10.  (13  v.  14  r.). 
Agäisches  Meer ;  ca.  1 :  2^/3  Mill.  Meilenmaßstab  (^:  100  Miglien)  =  50  mm. 
Dardanellen — Bosporus  (270  km)  =  105  mm;  Konstantinopel — Athen  (565  km)  = 
243mm;  Greta  W  — O  (260km)  =  115mm;  Saloniki  —  Landermiti  (355km)  = 
188  mm;  C.  Baba— C.  Crio  (320  km)  =  140  mm.  —  11.  (14  v.  15  r.).  Palästina; 
ca.  1:570000.  Länderkarte.  Grüngelbliches  Land,  blaue  Flüsse;  Ortsvignetten; 
besonders  ausgezeichnet  Jerusalem.  Meilenmaßstab :  mia  5  da  ponto  a  ponto, 
danach  25  Miglien  =  54  mm.  Entfernungen  (s.  nr.  10,  14):  60,  119,  285  mm.  — 
12.  (15  V.  16  r.).  Osteuropa  und  Westasien ;  ca.  1  :  13^4  Mill.  Länderkarte. 
(Überschrift:  MOSCHOVIAE  •  TABVLA).  Im  S.  bis  Südspitze  des  Peloponnes, 
im  O  bis  SCYTHIA  •  INTRA  •  IMAVM  •  MONTEM,  im  N  Küste  des  Nordmeers ; 
im  W  bis  buda.  Grünlichgelbes  Land,  kleine  Flüsse,  Städtevignetten.  Breiten- 
skala links,  440—72''  N,  l»  =  8,5  mm,  10°  =  84  mm.  Kompaßrosen.  Ohne  Meüen- 
maßstab.  Entfernungen  (vgl.  nr.  10,  12):  32,  108,  87  mm.  —  13.  (16  v.  17  r.). 
Weltkarte;  ca.  1  :  9272  Mill.  Die  normale  Form.  Längen  von  15:  15°  =  18mm, 
aber  nicht  durchgehends  gezählt.  —  14.  (17  v.  18  r.).  Pvrenäenhalbinsel ;  ca. 
1  :  3850000.  Stimmt  mit  nr.  10,  10,  nur  ist  ein  MeUenmaßstab  (=  100  Miglien) 
=  31mm  vorhanden.  Entfernungen:  274,  260,  113  mm.  —  15.  (18  v.  19  r.). 
Nordeuropa ;  ca.  1 :  137«  ^üU-  Länderkarte.  Gelblichgrünes  Land.  Island  sehr 
groß.  Viel  Ortschaften,  Bilder  von  Königen.  Im  blaugewellten  Meer  Ungeheuer. 
Links  Breitenskala  (54°)  55"— 90";  1"  =  8  mm;  lO»  =  81,5  mm.  90°  ist  unge- 
fähr der  Nordrand  der  Karte.  Lübeck  —  Rostock  (95  km)  =  20  mm;  Danzig — 
Bomholm  (40  km)  =  40  mm.  —  16.  (19  v.  20  r.).  Italien;  ca.  1 :  4  Mill.  Länder- 
karte. Grünlichgelbes  Land  mit  viel  Innenzeichnung.  Im  W  bis  rodanus  f.,  im 
O  bis  über  Saloniki,  im  S  bis  zur  Südspitze  von  Sizilien ;  im  N  bis  zu  den  Alpen. 
Kompaßrosen.     Meilenmaßstab  und  Entfernungen  stimmen  fast  völlig  mit  Karte  9. 

2* 


20  W.  Rüge, 

—  17.  (20v.  21r.).  Cypern;  ca.  1:525000.  Länderkarte.  Kompaßrosen.  Meilen- 
maßstab :  5,  10  .  .  ,  25  =  57  mm.  C.  Amauti — C.  Andreas  (225  km)  =  445  mm ; 
C.  Kormakiti— C.  Gata  (97  km)  =  187  mm.  —  18.  (21  v.  22  r.).  Greta;  ca. 
1  :  566  000.  Länderkarte.  Kompaßrosen.  Meilenmaßstab  10,  20  =  46  mm.  Länge 
der  Insel  W— O  (260  km)  =  435  mm.  —  22  v.  23  r.  Angaben  über  die  Größe 
der  Erde  u.  s.  w. ;  vgl.  oben  nr.  10,  13  v.  f.  Die  Angabe,  daß  1°  =  5673  miliaria 
ist,  stimmt  durchaus  nicht  zu  den  aus  den  Meilenmaßstäben  zu  entnehmenden 
Mlglien.  —  19.  (23  v.  24  r.).  Sizilien;  ca.  1:745000.  Länderkarte.  Kompaß- 
rosen. Meilenmaßstab  10,  20  ...  50  =  82,5  mm.  Marsala  —  Messina  (270  km) 
=  400  mm. 

München,  Universitätsbibl.     Cod.  Msc.  337*  fol. 

Litt:  Kunstmann,  Entdeckung  Amerikas  1859,  146  f.  —  S.  Rage, 
Peterm.  Mitt.,  Erg.-Heft  106,  65  (niclit  13,  sondern  18  Karten!).  — 
Oberhummer,  Die  Insel  Cypern  1903,  I  408. 

Publ. :  1.  u.  2.  Karte  bei  Kunstmann,  Atlas,  Taf.  VI,  VII  (aber 
die  östlichen  Teile  nicht  genau). 

15.    (Baptista  Agiiesc),  nach  1540. 

Sammetband  (späteren  Ursprungs),  geschlossen  177  x  254  mm, 
15  Blatt  zu  177  x  248  mm. 

Inhalt:  1.  Blatt  leer.  —  2  r.  Sphäre.  —  2  v.  3  r.  Tierkreis.  —  Karten: 
1.  (3  V.  4  r.).  Großer  Ozean;  ca.  1:71600000.  Letzter  Name  in  Kalifornien: 
punta  enguno.  Längen  auf  dem  Äquator  von  W— O:  50,  60  .  .  .  90,  90  .  .  .  10, 
90  .  .  .  50.  10''  =  15,5  mm  (aber  sehr  ungleichmäßig  abgeteilt).  Breitenangaben 
fehlen,  sind  offenbar  vergessen,  Meilenmaßstab:  mia  100  da  pöto  a  pöto,  danach 
1000  Miglien  =  21,5  mm.  —  2.  (4  v.  5  r.).  Atlantischer  Ozean;  ca.  1:71600000. 
Längen  von  der  Mitte  nach  O  und  W  10,  20  .  .  .  90,  Breiten  von  60»  S— 60»  N ; 
10'  schwanken  zwischen  12,5  und  18,5  mm.  Meilenmaßstab  wie  auf  der  vorigen 
Karte.  —  3.  (5  v.  6  r.).  Indischer  Ozean;  ca.  1:71600000.  Längen  von  W— O 
(30),  40  ...  90,  10  ...  90;  10"  sehr  ungleichmäßig  14—16,5  mm.  Breiten  fehlen. 
Meilenmaßstab  wie  auf  der  vorigen  Karte.  —  4.  (6  v.  7  r).  Nordwest-  und  Mittel- 
europa; ca.  1:11270000.  Im  Innern  Ländernamen,  blaue  Flüsse,  graue  Gebirge, 
in  LITVANI^  MAGNVS  DVCATVS  ein  grüner  Wald.  Binnenstädte  mit  Vig- 
netten. Meilenmaßstab  (=  400  Miglien)  =  43,5  mm.  Entfernungen :  98,60  mm. 
5.  (7  V.  8  r.).  Pyrenäenhalbinsel  und  Nordwestafrika;  ca.  1  :  S'/j  Mill.  Blaue 
Flösse,  blaugrüne  Gebirge,  Städtevignetten.  Meilenmaßstab  (=  200  Miglien)  = 
27,5  mm.  Entfernungen:  127,118  mm.  —  6.  (8  v.  9  r.)  —  8.  10  v.  11  r.).  West- 
liches, mittleres,  östliches  Mittelmeer;  ca.  1:6275000.  Meilenmaßstab  (=  200 
Miglien)  =  38mm.  Entfernungen:  160,  153,  130,  45,  189  mm.  —  9.  (11  v.  12  r.). 
Schwarzes  Meer;  ca.  1  :  6Vi  Mill.  Meilenmaßstab  (=  200  Miglien)  =  29  mm. 
Entfernung:  230  mm. —  10.  (12  v.  13  r.).    Nordeuropa;  ca.  1  :  21  Mill.  Länderkarte. 

Am  Nordrand  ragt  an  2  Stellen  GRVNTLADIE.  ||  PARS  herein.  ISI-ANÜIA  groß 
und  breit,  viel  zu  nahe  an  Skandinavien.  Im  SW  ein  Teil  von  Schottland  »ind 
England.  Im  S  die  holländische  und  deutsche  Küste.  Am  Nordrand  von  Skan- 
dinavien ein  rotes,  goldverziertes  Tuch  auf  einer  Stange,  \on  zwei  Menschen  an- 
gebetet, dazu  die  Beischrift :  rubeum  pannum  asta  leuatum  adorät  (vgl.  nr.  10,13). 
Das  Festland  gelbgrüu ;  im  graugrünen  Meer  zwei  Seetiere  und  ein  Schiff.  Auf 
dem  Lande  verschiedene  Könige.     Am  Westrand  Gradeinteilung,  56"—  (90°) ;  10'  = 


Aelteres  kartographisches  Material  in  deutschen  Bibliotheken.  21 

53  mm.  Ohne  Meilenmaßstab.  Skandinavien  von  N— S  (1860  km)  =  162  mm . 
Bergen— Lübeck  (790  km)  —  51mm;  Rostock— L.  (95  km)  =  13  mm;  Danzig — 
Bomhohn  (40km)  =  24mm.  —  11.  (13  v.  14  r.i.  Weltkarte;  ca.  1:143  Mill. 
Die  gewöhnliche  Form.  Längen  und  Breiten  von  15  •.-15";  IS**  =  11,25  mm.  — 
14  v.  15  r.     Maßangaben,  entprechen  denen  in  nr.  9  genau. 

Königsberg,   Universitätsbibl.     Ms.  2445. 

16.  Dominicas  Yigliarolas,  Mittelmeer,  1580 ;  ca.  1 :  9\i  Mill. 
Handzeichnung  auf  Pergament.     Dem  Titel,   den  Länder-  und 

Binnenstädtenamen,  den  Zahlen  der  Breitenskala  nach  ist  die 
Karte  nach  W  orientiert.  370  (365)  x  558  (560)  mm.  in  der  westlich 
angesetzten  Zunge  700mm.  Am  Westrand:  Presbiter  Dominicus 
Vigliarolus  Calaber  stilensis  \\  Mefecit  in  inclyta  vrbe  Neapoli  1580. 

Mittelmeer  mit  den  atlantischen  Außenküsten  von  den  Kanarischen  Inseln 
bis  Noniegia  und  suetia  mit  dem  (zu  klein  gezeichneten)  Bottnischen  Meerbusen. 
Im  O  das  ganze  Schwarze  Meer.  Feine  Küstenzeichnung,  mit  Gold  umrändert. 
Im  Inneren  dicke,  blaue  Flüsse,  einige  grofte  Städtebilder,  z.  B.  II  cairo,  latana, 
vienna,  Paris.  Viele  Fürsten,  stehend  oder  auf  dem  Tron  sitzend.  Fahnen.  Am 
Nord-  und  Südrand  je  3  Windköpfe,  ebenso  einer  am  Westrand.  Rhodos  und 
Malta  mit  weißem  Kreuz  auf  rotem  Grund.  In  der  westlichen  Zunge  Maria  mit 
dem  vom  Kreuz  abgenommenen  Jesus  auf  dem  Schöße.  Am  linken  Rand  eine 
Breitenskala,  (24°)  25"— 66o  N,  10<»  =  83  mm.  Der  daraus  berechnete  Maßstab 
(1:13373000)  stimmt  gar  nicht  zu  dem  aus  Meilenmaßstab  und  Entfernungen. 
Daher  ist  er  imberücksichtigt  geblieben.  Kompaßrosen  über  das  Ganze,  Zentral- 
rose in  Süditalien.  Am  Nord-  und  Südrand  je  zwei  Maßstäbe,  ohne  Beischrift, 
10  Teile  (=  500  Miglien)  =  63  mm.  Gibraltar— Spartivento  (1900  km)  =  203  mm; 
Konstantinopel  —  Sp.  (1150km)  =  127mm;  K.  —  Fasso  (1050km)  =  135mm; 
Spartivento — Issischer  Meerbusen  (2160  km)  =  194  mm:  Genua— Sp.  (955  km)  = 
102  mm ;  G.  —  Tunis  (850  km)  =  90  mm.  Am  Ostrand  finden  sich  Spuren ,  daß 
das  Blatt  einmal  eingeheftet  gewesen  ist. 

Berlin,   Kgl.  Bibl.  libri  picti  A.  82. 

Litt. :  Periplus  65 ,  wo  aber  (nach  Erman)  fälschlicherweise 
1530  als  Jahreszahl  angegeben  ist;  vgl.  Hamy,  bull,  de  geogr. 
bist,  et  descr.  1888,  17. 

17.  Antonios  Millo,  Seeatlas,  1586. 

Goldgepreßter  Lederband,  geschlossen  405  x  525  mm.  Größe 
der  30  Pergamentblätter  390  x  510  mm.  Die  Zeichnung  der  Karten, 
die  alle  nach  N  orientiert  sind,  ist  nicht  sehr  fein;  bunte  Farben 
und  Gold  sind  verwendet.  Kein  gemeinschaftlicher  Maßstab;  die 
Zahlen,  die  für  die  einzelnen  Karten  gegeben  werden,  sind,  wo  es 
möglich  war,  aus  der  Breitenskala  berechnet.  Die  ersten  6  Berten 
sind  von  Kompaßrosen  übersponnen.  Auf  der  letzten  Karte  steht: 
DESCRITTIOXE  DEL  ||  LA  GEOGRAFIA  MODE  \\  RNA  DI 
TVTTA  LA  G  ||  REGL\  M  •  D  •  LXXXVI  ||  ANTOXIVS  Millo  •  F. 

Inhalt:  1.  Bl.  r.  Bild  des  Meeres,  in  bunten  Farben,  darüber  MAKE  OC- 
CEANO.     Am  rechten  Rande  das  C:S:  VICENTE.  —  1.  Bl.  v.  FIGVRA  DELA 


22  W.  Rüge, 

SPHERA  ACCIDENTALE.  Darunter  eine  Sphäre.  —  2.  Bl.  r.  CORSO  DEL 
SOLE  ET  DELA  LVNA.  Zum  Gebrauch  mit  drehbaren  Scheiben  eingerichtet.  — 
2.  V.  FIGVRA  DELLA  SPHERA  SVBSTANTIALE.  Die  Erde  im  Zentrum,  die 
Sphären  des  Mondes,  der  -Planeten,  des  Zodiaco,  die  9.  Spera,  und  als  10.  Primo 
Mobile.  —  3  r.  Text  über  L'arte  da  nauicare.  —  1.  Karte  (3  v.  4  r.).  Südlicher  Teil 
von  Nordamerika,  Zentralamerika  und  Nordküste  von  Südamerika;  ca.  1 :  15300000. 
Im  W  nicht  bis  Kalifornien,  im  N  bis  TERA  NOVA,  nördlich  von  LABORADOR. 
In  Nordamerika  MONDO  NOVO  und  viele  andere  Ländernamen ;  in  Südamerika 
CASTILGIA  DE  LORO  und  PERV.  Yukatan  ist  Halbinsel.  Innenzeichnung 
mit  Flüssen,  Bergen  und  Städten.  Breitenskala  (3")  2»  S  — 65"  (66o)  N;  P  = 
7 — 7,5  mm,  10°  =  725  mm.  Zentralkompaßrose  östlich  von  Florida.  Am  Süd- 
rand: Schala  da  milgia  100  da  ponto  a  ponto,  100  =  10,5 — 11,5  mm,  1000  = 
109  mm.  Länge  von  Cuba  (1150  km)  =  105  mm.  —  4  v.  5  r.  Text  über  Cuba, 
Spagnola,  Jamaicha,  Peru.  —  2.  Karte  (5  v.  6  r.).  Südamerika;  ca.  1  :  15 V2  Mill. 
Die  Zeichnung  erinnert  an  Forlani  (III.  Ber.  nr.  26,  49).  Im  Innern  voll  von 
Bergen,  Flüssen,  Seen,  Ortschaften.  Im  Erdteil  steht  PERV.  Der  Amazonen- 
strom von  SW  nach  NO.  Südlich  des  STRETO  DE  MAGALIANES  ein  Süd- 
land TERRA  DE  FVOGO.  Breitenskala  (710)  700  S— IS»  N,  lO»  =  71,5  mm. 
Magellanstraße — Panama  (7100km)  =  505  mm.  Meilenmaßstab  unten  und  oben: 
Schala  da  miglia  100  da  ponto  a  ponto,  1000  =  108,5  mm.  —  6  v.  7  r.  Text 
über  Islanda,  isole  Hebride  et  Orcade,  Gotolandia.  —  3.  Karte  (7  v.  8  r.).  Atlan- 
tischer Ozean  zwischen  Nordwestafrika,  Südwesteuropa  und  Nordostsüdamerika; 
ca.  1  :  13  Mill.  Im  O  bis  Ragusi  uechio  an  der  Dalmatinischen  Küste ;  im  NW 
ein  Stück  von  Nordamerika.  Breitenskala  4"  S — 50"  N,  10"  =  85  mm.  Meilen- 
maßstab: Schala  de  milglia  100  da  ponto  a  ponto,  1000  ==  113—114  mm.  C.  Verde 
—Str.  V.  Gibraltar  (2830  km)  =  200  mm.  —  8  v.  9  r.  Text  über  die  Entfernung 
der  terra  di  Bacalaos  bis  Capo  di  finisterra  und  le  Almasones  zum  Capo  uerde 
u.  8.  w.  —  4.  Karte  (9  v.  10  r.).  Ost-  und  Südafrika  von  den  Syrten  und  Ka- 
merun an,  Arabien;  ca.  1:12400000 — 12  900000.  Innenzeichnung  Berge,  Flüsse, 
Seen,  Städte.  Breitenskala  38"  S — 26"  N  (aber  die  Karte  reicht  weiter  bis  in  die 
Breite  von  Konstantinopel),  10"  =  86—89,5  mm.  Unten  Schala  de  milglia  100 
da  ponto  a  ponto,  1000=  115  mm.  C.  d.  guten  Hoffnung — C.  Guardafui  (6100  km) 
=  487  mm.  —  10  v.  11  r.  Text  über  Samatra  und  die  isole  Moluche.  —  5.  Karte 
(11  V.  12  r.).  Südostasien  mit  Inseln;  ca.  1  :  13290000—13636000.  Breitenskala 
12V8"  S— 44"  N,  10"  =:  82— 837»  mm.  Meilenmaßstab:  Schala  de  miglia  100  da 
ponto  a  ponto,  1000  =  119,5  mm.  Länge  von  Sumatra  (1750  km)  =  103  mm; 
Südspitze  von  Malaka  —  Südspitze  von  Kambodscha  (800  km)  =  76  mm  ;  Nord- 
küste von  Java  (1000  km)  =  67mm,  —  12  v.  13  r.  Text:  del  naparaondo  (!).  — 
6.  Karte  (13  v.  14  r.).  Mittelmeer  und  Schwarzes  Meer ;  ca.  1  :  6530000— 66M6000. 
Viel  Wappen  und  Fahnen ;  auf  der  Pyrenäenhalbinsel  nur  ISPANIA  mit  Waj)pen. 
Breitenskala  25"N— 52"N,  10"  =  166— 170  mm.  Meilenmaßstab,  ohne  Beischrift, 
aber  die  12  Teile,  die  abwechselnd  durch  Punkte  in  5  Unterabteilungen  zerlegt 
werden,  sind  =  600  Miglien,  500  =  116  mm.  Gibraltar  —  Spartivento  (1900  km) 
=  315  mm;  Genua — Sp.  (955  km)  =  150  mm;  Konstantinopel — Sp.  (1150  km)  = 
189  mm;  Genua— Tunis  (850  km)  =  146  mm.  —  14  v.  15  r.  Text  über  die  Welt- 
karte und  Per  la  carta  da  navicar.  —  7.  Karte  (15  v.  16  r.).  Ost-  und  Nordsee ; 
ca.  1:3'/,  Mill.  Unten  rechts:  SEPTEMTRIONA  |1  L10\/M  REGION VM  ü 
SVETIAE  GOTHIAE  ||  NORVEGIAE  DANIAE  1|  ANTONIVS  Millo  ||  F.  Im  N 
bi«  über  die  ORCADES,    Südskandinavien    bis    nördlich  von  BERGE,    im  O   bis 


Aelteres  kartographisches  Material  in  deutschen  Bibliotheken.  23 

RIGA,  im  S  bis  COLONIA,  an  der  Küste  bis  CALETVM,  im  W  ein  Teil  von 
England.  Der  Inhalt  stimmt  zu  I.  Ber.  nr.  37.  Irinenzeichnung.  Breitenskala 
50»  N  —  64*'  N,  10«  =  317mm.  Meilenmaßstab,  4  große  Teile,  lu  je  5  kleinen 
Teilen.  =  200  Miglien  =  120mm.  —  16  v.  17  r.  Text:  De  la  altezza  del  Sole 
per  saper  il  locho  doue  Ihomo  si  trori.  —  8.  Karte  (17  v.  18  r.).  FLANDRIAE 
DESCRIPTIO;  ca.  1:275000.  Viel  Innenzeichnung,  Flüsse,  Wälder,  Orts- 
vignetten, Wappen;  erinnert  an  Tramezini  (I.  Ber.  nr.  67,  12).  Im  N  bis  WALA- 
CARL\  IXSVLA  (Walchem),  im  O  bis  MACLINIA  (Mecheln),  BRVXELL^, 
HANDOVERPIA;  im  S  bis  DVACVM  und  VALENTL\E ,  im  W  hört  die 
eigentliche  Zeichnung  bei  GRAVELINGA  auf,  dann  ist  noch  CALETVM  an- 
gegeben. Ohne  Gradaneaben.  Meilenmaßstab:  Miglia  di  Sandria  n°  10  =  174mm. 
Ostende  —  Douai  (96  km)  =  342  mm;  Graevelingen  —  Antwerpen  (165  km)  = 
603  mm.  —  18  v.  19  r.     Fortsetzung  des  vorigen  Textes.  —  9.  Karte  (19  v.  20  r.). 

X 
BRITANXIA  INSVLA  l|  QVAE   E  DVO  REGNA  1|  ANGLIAM  ET  SCO  Ü  TIA  • 

CON  •  HIBERNIA ;  ca.  1 : 2»/,  Mill.  Der  Titel  ist  offenbar  entstellt  aus  einem 
Titel  wie  III.  Ber.  nr.  29,  8.  Großbritannien  mit  einem  Stück  französischer  und 
belgischer  Küste.  Die  Zeichnung  erinnert  an  Kupferstichkarten  wie  z.  B.  I.  Ber. 
nr.  67,  2:  IV.  Ber.  nr.  90,  12.  Innenzeichnung.  Breitenskala  49°  N— 64"  N;  10" 
=  490  mm.  Meilenmaßstab  ohne  Beischrift,  3  große  Teile  (=  150  Meilen)  = 
92  mm.  C.  Landsend  — North  Foreland  (530  km)  =  280  mm:  C.  Duncansby  — 
N.  F.  (855  km)  =  452  mm.  —  20  t.  21  r.  Fortsetzung  des  vorigen  Textes.  — 
10.  Karte  (21  v.  22  r).  TVTA  LA  FRANCIA ;  ca.  1  :  2440000.  Im  N  bis 
LONDRA,  im  O  bis  BERXA  (Bern),  im  S  Nordsaum  von  Spanien.  Breiten 
43°  N— 52°  N,  1°  =  45,5  nun.  Meilenmaßstab  wie  auf  Karte  9,  aber  102  mm 
groß.  Paris  — Toulon  (695  km)  =  285  mm;  P.  — Bayonne  (665  km)  =  262  mm; 
Lyon— Genf  (110  km)  =  60  mm.  —  22  v.  23  r.  Fortsetzung  des  vorigen  Textes. 
—  11.  Karte  (23  v.  24  r.).  LA  SPAGNA;  ca.  1:2220000  —  2410000.  Spanien 
mit  einem  Stück  afrikanischer  Küste  bis  Arger.  Breiten  36*  N  — 44°  N,  1°  = 
46—50  mm.  Meilenmaßstab ,  4  Teile  (=  200  Miglien)  =  137  mm.  Lissabon  — 
Coimbra  (185  km)  =  60  mm;  C.  Finisterre  -  C.  Tarifa  (825  km)  =  385  mm; 
Toledo  —  Valencia  (315  km)  =  155mm.  —  24  v.  25  r.  Text:  De  la  altera  de 
li  poli.  —  12.  Karte  (25  v.  26  r.).  PAESE  DE  SVICERI;  ca.  1:853000— 
874000.  Im  N  bis  AGVSTA  VINDELICA;  im  O  bis  Verona,  im  S  bis  Alesan- 
dria, im  W  bis  Geneua.  Der  Inhalt  nicht  ganz  so  groß  wie  III.  Ber.  nr.  29,  23, 
woran  die  Bergzeichnung  erinnert.  Der  LACVS  PODAMICVS  (Bodensee)  zieht 
sich  von  SO  nach  NW.  Breiten  45*  — 48°  N,  1°  =  127— 130  mm.  Unten  bnks 
Miliaria  Eluetiae  n°  15  =  173  mm.  Mailand  —  Basel  (265  km)  =  435  mm;  Genf 
— Chur  (272  km)  =  442  mm.  —  26  v.  27  r.  Fortsetzung  des  vorigen  Textes.  — 
13.  Karte  (27  v.  28  r.).  TVTA  LA  ,|  DESCRI  !j  CION  ^  DE  ITA  i  LI.A  ;  ca.  1 :  2 
MiU.  Im  O  bis  CEFALONIA,  im  S  Stück  von  SARDEGNA  und  Sizüien,  im  W 
bis  GENEVRA  (Genf),  im  N  bis  Trieste.  Viel  feinere  Zeichnung  als  die  vorigen 
Karten,  erinnert  an  Gastaldi.  Breiten  38°— 45°,  1°  =  56  mm.  Meilenmaßstab  wie 
axd  Karte  11.  Genua  — Tarent  (810  km)  =  397  mm;  G.  — Venedig  (290  km)  = 
170  mm.  —  28v.  29r.  Fortsetzung  des  vorigen  Textes.  —  14.  Karte  (29  v.  30  r.). 
Griechenland,  mit  dem  oben  angegebenen  Titel ;  ca.  1:2220000.  Im  N  bis  Ragusi 
und  Rodosto ;  im  O  bis  zur  Westküste  von  Kleinasien,  un  W  bis  z\ir  Südostspitze 
von  Italien.  Breiten  (ganz  ungleichmäßig)  35°— 43«  N,  1°  =  ca.  50  mm.  Unten 
Meilenmagstab:    SCHA  DE  MIA    100  =  82  mm.     Saloniki  —  Athen  (305  km)  = 


24  W.  Rüge, 

235  mm;  Korfu  (Stadt)— A.  (395km)  =  245  mm  ;  C— Saloniki  (295  km)  =  200mm. 

—  30  V.     Text:  Altura  de  molti  lochi  (Polhöhen). 

Berlin,    Kgl.  Bibl.     Mscr.  Hamilton  446. 

18.    Joan  Martines,  Seeatlas,  1591. 

Großer  Atlas ,  in  goldgepreßtem  Lederband ,  290  x  413  mm 
die  Blattgröße.  Auf  Karte  14  steht:  Joan  martjnes  De  messina 
cosmographo  Del  Rey  nro  ||  Segnor  En  napoles  Any  1591.  Bis  auf 
die  letzte  Karte  sind  alle  von  Kompaßrosen  übersponnen.  Die 
Karten  sind  auf  Pergament  gezeichnet  und  gehen  immer  über 
2  Blatt.  Sie  sind  außerordentlich  fein  und  prächtig  ausgeführt. 
Die  Küstenlinien  sind  mit  Grold  oder  einer  andern  Farbe  um- 
rändert. Alle  Karten  sind  nach  N  orientiert.  4  (oder  5)  ver- 
schiedene Maßstäbe  sind  angewendet.  Sie  lassen  sich  nicht  genau 
bestimmen,  da  die  Zeichnung  nicht  überall  gleichmäßig  ist  und 
da  die  aus  den  Gradangaben,  den  Meilenmaßstäben  und  den  Ent- 
fernungen berechneten  Zahlen  nicht  übereinstimmen.  Ich  gebe  im 
folgenden  die  sich  aus  den  Gradangaben  ergebenden  Maßstäbe  an 
und  füge  die  Zahlen  hinzu,  nach  denen  man  die  anderen  berechnen 
kann. 

Inhalt:  1.  Mittel-  und  Westeuropa  bis  Dänemark,  Großbritannien  und  Irland, 
Mittelmeer,  Schwarzes  Meer;  ca.  1:12800000.  Die  zwei  Meilenmaßstäbe  zeigen 
die  größeren  Teile  durch  Punkte  abwechselnd  in  5  Unterabteilungen  zerlegt,  deren 
jede  offenbar  als  10  Miglien  anzusehen  ist.  10  große  Teile  =  60  mm.  Breiten- 
skala von  18«  N— 63"  N,  10°  =  86,5  mm.  Gibraltar  —  Spartivento  (1900  km)  = 
175  mm ;  Genua— Tunis  (850  km)  =  80  mm ;  G.— Spartirento  (955  km)  =  87  mm. 

—  2.  Nördlicher  Atlantischer  Ozean;  ca.  1  :  15 V4  Mill.  Breitenskala  von  3°  S— 
70°  N,  10"  =  72  mm,  10  Teile  des  Meilenmaßstabs  (=  500  Miglien)  =  56  mm. 
C.  Finisterre  — Südwestspitze  von  Irland  (950  km)  =  62  mm;  C.  Verde  —  Str.  von 
Gibraltar  (2830  km)  =  169  mm;  C.  V.— C.  Bojador  (1430  km)  =  95  mm.  -^  3.  Golf 
von  Mexiko  mit  den  anschließenden  Küsten  von  Nord-  und  Südamerika ;  ca.  1  :  14,8 
Mill.  Nordamerika  bis  zum  Lorenzgolf,  der  sich  tief  ins  Festland  hineinzieht,  süd- 
amerikanische Westküste  von  Panama  an.  Im  Innern  einige  Flüsse.  Breitenskala 
(6")  5"  8—68"  N,  10°  =  75  mm.  10  Teile  des  Meilenmaßstabs  (=  500  Miglien) 
=  55  mm.  Cuba  W— O  (1150  km)  =  99  mm.  —  4.  Atlantischer  Ozean  zwischen 
Südamerika  und  Guinea ;  ca.  1  :  14,8  Mill.  Nordostvorsprung  von  Südamerika, 
vom  La  Plata  bis  über  den  Orinoko  hinaus.  In  der  Nordostecke  ein  Stück  der 
Küste  von  Guinea.  Breitenskala  360  S— 16°  N,  10°  =  75  mm.  10  Teile  des 
Meilenmaßstabs  (=  500  Miglien)  =  56  mm.  —  5.  Südwestliches  Südamerika ;  ca. 
1  :  13,7  Mill.  Die  ganze  Westküste,  die  Ostküste  bis  zum  La  Plata.  Feuerland 
als  Insel,   südlich  davon  Land  angedeutet.     Bei   der  Meerenge  dazwischen  steht: 

CO 

Canal  descubierto  por  nugnos  de  silua  piloto  portuges  de  Fran:  drache  (bezieht 
sich  auf  dessen  Fahrt  1578).  Breitenskala  63°  S— 10°  N,  10°  =  80,5  —  81  mm. 
10  Teile  des  Meilenmaßstabs  (=  500  Miglien)  =  55  mm.  C.  Froward  —  Panama 
(7100  km)  =  485  mm.  —  6.  Zentral-  und  Nordamerika;  ca.  1:  14,7  Mill.  Kali- 
fornien  ist   Insel.     Unter  45°   biegt    die  Westküste   von  Nordamerika    in    spitzem 


Aelteres  kartographisches  Material  in  deutschen  Bibliotheken.  25 

Winkel  nach  O  um,  im  äußersten  NO  hängt  Nordamerika  durch  eine  ganz  schmale 
Landenge  mit  einem  nördlichen  Land  zusammen.  Breitenskala  (P)  2^  N— 53°  N, 
10"  =  75,5  mm.  10  Teile  des  Meilenmaßstabs  (=  500  Migüen)  ^  55  mm.  — 
7.  Nordküste  von  NOVA  GV^INEA  und  das  Meer  nördlich  davon;  ca.  1  :  14,7  Mill. 
Breitenskala  15«  S  — 37"  (38")  N,  10«  =  75,5  mm.  10  Teile  des  Meilenmaßstabs 
(=  500  Miglien)  =  55,5  mm.  —  8.  Atlantische  Küste  von  Afrika ;  ca.  1  :  14,5 — 15 
Mill.  Breitenskala  390  S  — 37«  N,  lO«  =  74  —  76,5  mm.  10  Teile  des  Meilen- 
maßätabs  (=  500  Miglien)  =  55,5  mm.  Nadelkap — Kongomündung  (3300  km)  = 
212  mm;  C.  Verde— Str.  t.  Gibraltar  (2830  km)  =  171mm.  —  9.  Östliche  Hälfte 
von  Afrika  mit  West-  und  Südküste  Arabiens:  ca.  1  :  14,6—15  Mill.  Breitenskala 
410  8—34"  N,  10"  =  74— 76  mm.  10  Teile  des  Meilenmaßstabs  (=  500  Miglien) 
=  55,5  mm.  Cap  d.  guten  Hoffnung — C.  Guardafiii  (6100  km)  =  455  mm;  Mada- 
gaskar (1700  km)  =  122  mm.  —  10.  Karte.  Nordindischer  Ozean.  Breitenskala 
90  s— 41*  N,  ungleich  eingeteilt;  denn  41»— 3P  =  83mm,  aber  1°  N— 9«  S  = 
73,5  mm.  10  Teile  des  Meilenmaßstabs  (=  500  Miglien)  =  55,5  mm.  Straße  von 
Omuiz— C.  Comorin  (3000  km)  =  230  mm;  Suez— Aden  (2300  km)  =  188  mm,  — 
11.  Ostasien  mit  Inseln;  ca.  1  :  14,7—15,1  MiU.  Sumatra  heißt  TßAPOBANA  (!), 
von  LWA  MAGIOR  nur  die  Nordküste,  östlich  NOVA  GVINEA.  Korea,  nicht 
benannt,  ist  Insel.  Breitenskala  IG«  S— 55*  N,  10«  =  73,5—75,5  mm.  10  Teile 
des  Meilenmaßstabs  (=  500  Miglien)  =  55,5  mm.  Länge  von  Sumatra  (1750  km) 
=  99  mm.  —  12.  Nordeuropa;  ca.  1:8,04—8,25  Mill.  Breitenskala  43°— 72»  N, 
l(y>  =  134,5— 138  mm.  10  Teile  des  Meilenmaßstabs  ==  99  mm.  Brest— Finisterre 
(720  km)  =  96  mm.  —  13.  Sizilien;  ca.  1:870000.  In  der  ganzen  Art  ab- 
weichend von  den  übrigen  Karten,  viel  Innenzeichnung,  Ortschaften,  Berge,  Flüsse. 
Ohne  Breitenskala.  Meilenmaßstab  mit  Zahlen  10,  20,  ...  150;  100  Teile  = 
167,5  mm.  Marsala — Messina  (270  km)  =  305  mm:  C.  Passaro — Messina  (172  km) 
=  200mm;  C.  F.— Marsala  (270  km)  =  313  mm.  —  14.  Weltkarte;  ca.  1  :  80  Mill. 
An  Nova  guinea  schließt  sich  ein  riesiges  Südland,  das  den  ganzen  unteren  Rand 
einnimmt.  Dann  TERRA  INCOGNITA;  es  reicht  südlich  von  iaua  maior  (Java) 
mit  dem  Namen  BEACH  |;  LVCACH  bis  15*  S  nach  N.  Um  den  Nordpol  einige 
Inseln,  eine  davon  hat  im  S  den  Namen  noua  zemla.  Elliptisches  Gradnetz,  die 
Breiten  gradlinig  von  10  :  10"  ausgezogen,  10°  =  13,5  mm.  Die  Längen,  ebenfalls 
von  10:  10**,  gekrümmt,  bis  auf  den  Mittelmeridian  0°.     Ohne  Meilenmaßstab. 

Berlin,  Kgl.  Bibl.    Msc.  Hamüton  430. 

19.    Anonymus,  Mittelmeer,  0.  J.  (16.  Jahrh.) ;  ca.  1 :  6425000. 

Handzeichnung  auf  Pergament.  Orientierung,  ob  N  oder  S, 
läßt  sich  nicht  ganz  genau  bestimmen;  574  (565)  x  345  mm.  Die 
Karte  ist  offenbar  im  0  abgeschnitten,  denn  die  Zentralkompaß- 
rose (südlich  von  Neapel)  liegt  rechts  der  Mitte. 

Mittelmeergebiet.  Im  O  bis  Satalia  in  Kleinasien,  im  W  bis  Irland,  im  N  bis 
zur  Südküste  der  Ostsee.  An  Innenzeichnimg  nur  einige  Berge  und  drei  große 
Städtevignetten.  Malta  und  Rhodos  mit  weißem  Kreuz  auf  rotem  Grunde.  Spanien 
O  — W  viel  zu  breit.  Ohne  Gradangaben.  Kompaßrosen  über  das  Ganze;  Zentral- 
rose s.  o.  13teiliger  Meilenmaßstab  =  120  mm ;  jeder  Teil  (=  50  Miglien)  ab- 
wechselnd in  5  Unterabteilungen  zerlegt.  Gibraltar  —  Spartivento  (1900  km)  = 
296  mm;  Konstantinopel  —  Sp.  (1150  km)  =  187  mm;  Genua  —  Sp.  (955  km)  =: 
149  mm;  Marseille — Algier  (750km)  =  121mm. 

Königsberg  i.  Pr.,   Universitätsbibl.  2404. 


26  W.  Rüge, 

30.  Anonymus^  Mittelmeer,  o.  J.  (Mitte  des  16.  Jahrh.)p 
ca.  1  :  6V2  MiU. 

Handzeichnung  auf  Pergament.  605  x  480  mm ,  im  innerea 
Kartenrand  gemessen.     Ohne  Titel. 

Mittelmeer  mit  Schwarzem  Meer,  im  O  bis  zum  Roten  Meer.  Im  Innern  der 
Länder  einige  große  Städtebilder,  z.  B.  von  Venedig,  Genua  u.  a.  Viele  Fahnen 
mit  Wappen.  Konstantinopel  türkisch.  Die  Zeichnung  klar  und  fein,  die  Küsten- 
linie fein  rotbraun  umrändert.  Ohne  Gradangaben.  Kompaßrosen  über  das 
Ganze,  2  Zentralrosen  im  Tyrrhenischen  Meer  und  bei  Rhodos.  Meilenmaßstäbe 
oben  und  unten.  Die  größeren  Teile  abwechselnd  durch  Punkte  in  5  Unter- 
abteilungen zerlegt,  10  große  Teile  (=  500  Miglien)  =  98,5  mm.  Spartivento — 
Issischer  Meerbusen  (2160  km)  =  289  mm;  Sp. — Konstantinopel  (1150  km)  = 
188  mm;  Sp.— Genua  (955  km)  =  146  mm;  G.— Tunis  (850  km)  =  132  mm. 

Berlin,  Institut  f.  Meereskunde,  J.  606.  Abgesehen  von  ein 
paar  Löchern,  gut  erhalten. 

31.  Anonymus.  Mittelmeer,  o.  J.  (16.  Jahrh.);  ca.  l:7V2Mill. 
Handzeichnung    auf   Pergament   579   (587)  x  390    (405)  mm. 

Orientierung  läßt  sich  nicht  angeben,  da  auch  die  großen  Länder- 
namen verschieden  orientiert  sind. 

Mittelmeer,  ohne  Schwarzes  Meer,  im  W  nicht  ganz  biz  zur  Straße  von  Gi- 
braltar. Rohe  Zeichnung,  die  Küsten  verschiedenartig  umrändert.  Grobe  Schrift. 
Im  Innern  einige  Flüsse,  besonders  in  Tunis  und  Ägypten,  mit  Seen.  Golgatha 
(ohne  Namen)  mit  3  riesigen  Kreuzen.  Sehr  bunt  ausgemalte  Windrosen,  Zentral- 
kompaßrose in  Sizilien,  auch  sonstige  bunte  Malereien.  Rhodos  und  Malta  mit 
weißem  Kreuz  auf  rotem  Grunde.  Die  Küstenlegenden  sind  italienisch,  die  großen 
Ländernamen  französisch,  z.  B.  EVROPE,  ASIE,  oder  lateinisch,  AFRICA,  BAR- 
BARIA.  Meilenmaßstab  am  Süd-  und  Nordrand ,  die  großen  Teile  abwechselnd 
durch  Punkte  in  5  Unterabteilungen  zerlegt;  10  große  Teile  (=  500  Miglien) 
=:  99  mm.  Konstantinopel  —  Spartivento  (1900  km)  =  193  mm;  Issischer  Meer- 
busen—Sp.  (2160  km)  =  293mm;  Genua— Sp.  (955  km)  =  143mm;  G— Tuniä 
(850  km)  —  133  mm. 

Berlin,   Kgl.  Bibl.     T.  4265. 

33.  Comelis  Doctszooii,  Atlantische  Küsten  von  Afrika  und 
Europa,  1607;    ca.  1:7700000. 

Handzeichnung  auf  Pergament.  Nach  N  orientiert.  720  X 
915  mm  (auf  der  Zentralrose  gemessen).  Unten  rechts  in  ver- 
ziertem Rahmen :  By  my  Comelis  Doetszoon  ||  woonende  tot  Edam 
in  de  ||  vier  heemskinderen  ||  Anno.  1607. 

Im  S  bis  12"  N,  im  N  YSLANT,  ganz  Skandinavien,  im  O  bis  zum  Ägäischen 
Meer.  Trägt  den  Charakter  der  Portulankarten.  Im  Innern  Ländernamen ,  z.  B. 
BARBARIA,  Pomeren,  Gasconge.  Westlich  von  Irland :  Brazyl.  Am  linken  Rand 
Breitenskala  120  N— VS«  N,  P  =  14,5  mm,  lO»  =  148  mm.  Centralrose  in  der 
Biskaya.  Viel  bunte  Farben  und  Gold,  einige  bunte  Kompaßrosen.  Drei  Meilen- 
maßstäbe ,  die  aber  nicht  ganz  gleichmäßig  sind,  100  Meilen  =  95,  97,  96,5  mra. 
Dazu  zweimal  die  Unterschrift:  Duytsche  Mylen  15  voor  Een  graadt.    C.  Finisterre 


Aelteres  kartographischcB  Material  in  deuUchen  Bibliotheken.  27 

— Brest  (720 km)  =  88  mm ;  Gibraltar— Spartivento  (1900  km)  =  249  mm;  Genua- 
Tunis  (850km)  =  111  mm;  G.— Spartivento  (955  km)  =  129  mm. 

Berlin,   Kgl.  Bibl.    Ziemlich  stark  zerknittert. 

33.    Hessel  Gerritsz,  Sumatra,  1620;  ca.  1:1670000. 

Handzeichnnng   auf   Pergament.     Nach   0    orientiert.     895  x 

995  mm   (in  der  Mitte  gemessen).     Oben  rechts :  CIO  lOCXX  ||  By 

Hessel  Gerritsz  ||  met  Octroy  H  vande  E.  H.  M.  Heeren  de  ||  Staten 

r 
Gren.  der  Veenighde  ||  Xederlanden, 

Sumatra  mit  den  umliegenden  Inseln,  z.  B.  Banca,  Billiton,  und  einem  Stück 
der  hinterindischen  Küste.  Küstenzeichnung-,  nur  ein  paar  Flüsse  reichen  ins 
Innere.  Aequinoctiael  ausgezogen,  die  Breiten  sind  auf  einer  Skala  am  linken 
Rande  angegeben,  von  5  :  5'  eingeteilt,  von  10  :  10'  bezeichnet:  S»  30'— 6"  20'  (25')  N, 
1»  =  66 — 67mm.  Kompaßrosen,  die  Zentralrose  im  Innern  von  SAMATRA. 
Meilenmaßstab :  Duytsche  mylen  vyftien  voor  een  graedt  der  Breedten,  5,  10  ...  50 
=  222  mm.     Länge  von  Sumatra  (1750  km)  =  990  mm. 

Berlin,  Kgl.  Bibl. 

24.  Hessel  Gerritsz,  Südostasiatische  Inseln,  1621;  ca.  1: 
5400000. 

Handzeichnung  auf  Pergament.  Nach  N  orientiert.  818  X 
860  mm.  Oben  links  :  CIO .  10 .  C .  XXI  ||  By  Hessel  Gerritsz  ||  met 
Ootroy  jl  van  de  E.  H.  M.  Heeren  ||  de  Staten  Generael  ||  der  x/eenichde 
Nederlanden. 

In  der  Südwestecke  die  Nordostküste  von  Sumatra,  asiatische  Küste  von 
MALAYA  bis  zum  Südende  von  CORAI  (Corea),  das  aber  in  seinem  weiteren 
Verlaufe  fehlt,  lAPAN,  im  S  BORNEO,  ^ELEBES,  GILOLO,  Papouas  (Neu- 
Guinea);  im  O  LVQON  mit  Manilla.  Die  Küsten  sind  bunt  lunrändert.  Breiten- 
skala in  der  östlichen  Hälfte  (3")  2°S  —  38°  (89°)  N,  P  =  20,5  mm.  Linea  ae- 
quinoctialis  und  Tropicus  Cancri  ausgezogen.  Zwei  Meilenmaßstäbe,  der  eine  zu 
100  (=  136  mm),  der  andere  zu  90  Duytsche  mylen  vyftien  voor  een  graed'  der 
Breedten.  Kompaßrosen.  Zentralrose  im  NO  von  LYCON.  Südspitze  von  Ma- 
laka — Manila  (2400  km)  =  410  mm;  Malaka — Südspitze  von  Kambodscha  (800  km) 
=  165  mm. 

Berlin,   Kgl.  Bibl. 

25.  Hessel  Gerritsz,  Indischer  Ozean,  1622;  ca.  1:10  Mill. 
Handzeichnung    auf   Pergament.      Nach    N    orientiert.     1017 

(1005)  X  856  (848)  mm.    In  Nordostafrika :  t  Amsterdam  ||  by  Hessel 

'^^ 
gerritsz:  ||  met  octroy  j|  Vande  E:  h:  m**.   beeren  de  Staten  ||  ge- 
nerael der  vereenichde  ||  nederlanden  jj  A^,  1622. 

Im  W  bis  B :  de  S :  Martin,  nördlich  von  der  Tafelbay  und  dem  Cabo  de 
bona  Esperan9a.  Dann  die  Küsten  von  Afrika  und  Asien  bis  lur  Südspitze  von 
Malaka  (von  der  Ostküste  nur  ein  kleiner  Teil  und  ohne  Namen),  SAMATRA. 
Im  Südosten  die  eben  erst  (1616)  entdeckte  Westküste  von  Australien  mit  den 
Inschriften:   tlandt   van  Eendracht,  darin  (von  S  nach  N)  de  delslandt,   F.  Hout- 


28  .  W.  Rüge, 

mans  abredhees ,  Dirckhartogs  ree ,  Jacob  remons  rivier.  Das  Rote  Meer  hat 
im  N  nur  einen  Zipfel,  den  Meerbusen  von  Suez.  Nur  Küstenzeichnung.  An  der 
Südspitze  von  Afrika  Meerestiefen  angegeben.  Kompaßrosen.  Äquator  und  beide 
Wendekreise  ausgezogen.  Die  Breitengrade  auf  einer  Skala,  die  mitten  durch  die 
Karte  geht,  47öS— 31°  N;  1»  =  11mm,  10"  =  107  mm.  Meilenmaßstab  rechts 
der  Mitte  10,  20  ...  90  Duytsche  mylen  •  15  •  op  een  graad,  =  65,5  mm ,  die 
Spatien  abwechselnd  in  5  Unterabteilungen  zerlegt.  Länge  von  Sumatra  (1750  km) 
=  163  mm;  Str.  von  Ormus  —  C.  Comorin  (3000km)  =  285  mm;  C.  d.  guten 
Hoffnung  —  C.  Guardafui  (6100  km)  =  615  mm.  Die  Karte  ist  vor  allem  wegen 
der  australischen  Entdeckungen  wichtig ;  sie  ist  5  Jahre  jünger  als  die  gedruckte 
Karte  desselben  Verfassers  von  1627,  die  in  den  Remarkable  Maps  II  4  wieder 
herausgegeben  ist. 

Berlin,    Kgl.  Bibl. 

36.  Anonymus,  Westeuropa  und  Nordafrika,  o.  J.  (Ende  d.  16., 
Anfang  d.  17.  Jahrb.);  ca.  1 :  T^/s  MiU. 

Handzeichnung  auf  Pergament.  Nach  den  großen  Länder- 
namen nach  W  orientiert,  nach  den  Zahlen  der  Breitenskala 
nach  N.    585  x  400  mm. 

Westliches  Mittelmeer,  atlantische  Küsten  von  Nordafrika  und  Westeuropa. 
Im  O  bis  C.  busardo  in  Algier,  S.  margarita  östlich  von  marseille,  im  N  bis 
ISCOSSE,  im  S  bis  c.  carbo  unter  21°  N  an  der  afrikanischen  Küste.  Ausführung 
ebenso  roh  und  plump  und  bunt  wie  auf  nr.  22.  Zentralkompaßrose  an  der  West- 
küste von  Portugal.  Kostenlegenden  italienisch,  Ländernamen  französisch,  zi  B. 
FRANCE,  ANGLETERRE,  oder  ebenfalls  italienisch,  z.  B.  OLANDA.  Auf  der 
Pyrenäenhalbinsel  nur  der  eine  Ländername  SPAGNE  und  nur  ein  Wappen ;  das 
könnte  auf  die  Zeit  zwischen  1581  — 1640  deuten,  wo  Spanien  über  Portugal 
herrschte.  Am  Westrand  in  2  mal  gebrochener  Linie  die  Breiten  (20°)  21° — 59°  N 
angegeben;  10°=  145 nun.  Meilenmaßstab  am  Südrand,  10  Teile  (=  500  Miglien) 
=  98mm.  C.  Finisterre  —  Brest  (720  km)  =  90mm;  C.  F.— Gibraltar  (825  km) 
=  122  mm;  C.  F.— C.  Creus  (1025  km)  =  174mm. 

Berlin,   Kgl.  Bibl.     T.  301. 

27.  Anonymns,  Südostasien  mit  den  Inseln,  o.  J.  (1.  Hälfte 
des  17.  Jahrh.);  ca.  1  :  5V2  Mill. 

Handzeichnung  auf  Pergament.  Nach  N  orientiert.  905  x 
745  mm  (über  die  Zentralrose  gemessen). 

Im  SW  die  Nordostküste  von  SAMATRA,  asiatische  Küste  von  MALACCA 
bis  lAPAN.  Philippinen  mit  Manilha  auf  LVSON.  Der  Südrand  schneidet  durch 
BORNEO,  gELEBES,  XILOLO  und  die  Custe  van  de  papouas.  Nur  Küsten- 
zeichnung. Aequinoctialis  und  Tropicus  Cancri  ausgezogen.  Breiten  auf  einer 
Skala  angeben  (2°  S)— 37°  N,  1°  =  20  mm,  10°  ==  202  mm.  Zentralrose  an  der 
Ostküste  von  Luson.  Meilenmaßstab  10,  20  ...  120  (=  162  mm)  und  10,  20  .  .  . 
80  (=  108  mm).  Duytsche  mylen  vyftien  voor  (oder  op)  een  graed(t).  Südspitze 
von  Malaka  —  Manila  (2400  km)  =  410  mm;  Südspitie  von  Kambodscha  (800  km) 
=  163  mm.     Die  Karte  zeigt  dieselbe  Handschrift  wie  die  von  H.  Gerritsz. 

Berlin,   Kgl.  Bibl. 


Aelteres  kartographisches  Material  in  deutschen  Bibliotheken.  29 

28.  Anonymus,  Südostasien  mit  den  Inseln,  o.  J.  (2.  Hälfte 
des  17.  Jahrb.);  ca.  1 :  10  Mill. 

Handzeichnung  auf  Pergament.  Nach  N  orientiert.  785  x 
850  mm. 

Inhalt  ähnlich  wie  I.  Ber.  nr.  18 :  im  W  bis  Vorderindien,  Ceylon,  im  N  bis 
über  Korea,  das  als  Insel  gezeichnet  ist,  die  Hauptinsel  von  Japan  liegt  ostwest- 
lich. Im  SO  NOVA  GVINEA.  Im  S  Java  (lAPAN),  aber  ohne  Südküste. 
Celebes  ganz  falsch.  Die  Zeichnung  roher  als  in  nr.  25.  .EQVINOCTIALIS  und 
TROPICVS  CANCRI  ausgezogen.  Breitenskala  in  der  Nähe  des  rechten  Randes, 
(18°)  17"  S— SG^N,  P  =  11  mm.  Zwei  Meilenmaßstäbe,  in  Asien  und  in  der  See  unter 
13"— 140  S,  ohne  Zahlen,  das  Spatium  ist  aber  zu  10  Meilen  zu  rechnen  =  7,4  mm. 
Beischrift:  Du)-tsche  mylen  tot  vyftien  in  een  graed.  Zentralkompaßrose  nord- 
westlich der  Philippinen.  Xordküste  von  Java  <1000  km)  =  84  mm;  Südspitze 
der  Halbinsel  Malaka— Manila  (2400  km)  ==  230  mm ;  bi«  zur  Südspitze  von  Kam- 
bodscha (800  km)  =   100  mm. 

Berlin,  Kgl.  Bibl. 

b.    Länderkarten. 

39.  Anonymus,  Teile  von  Mittel-  und  Osteuropa,  Ende  des 
15.  Jahrhunderts. 

Handzeichnungen  auf  Vorder-  und  Rückseite  eines  Pergament- 
blattes.    Nach  N  orientiert.     289  (293)  x  197  mm. 

1.  (Vorderseite).  Nordwestdeutschland  mit  den  Niederlanden ; 
ca.  1:3  MiU. 

Im  N  bis  lubec,  im  O  bis  pranndb'g,  im  S  bis  esling,  im  W  bis  Normandia, 
douer.  Ganz  rohe  Zeichnung.  Die  Küste  nach  Art  der  Seekarten,  die  Flußläufe 
entsprechen  nur  ganz  im  Allgemeinen  der  AVirklichkeit.  Einige  Gebirge  sind  durch 
flüchtige  braune  Pinselstriche  angedeutet.  Ortschaften,  Ländernamen,  wenige, 
flüchtig  gezogene  Grenzlinien.  Kegelprojektion,  die  unbenannten  Längen  und 
Breiten  sind  von  1°  :  1"  ausgezogen;  1°  =  36,5  mm.  Aus  der  Richtung  der  Längen- 
und  Breitenkreise  und  der  Erhaltung  der  Namen  am  unteren  Rand  ist  mit  Sicher- 
heit zu  erkennen,  daß  die  Karte  nach  O  und  S  weiter  reichte ;  wahrscheinlich  ist 
sie  nur  das  nordwestliche  Viertel  einer  Karte  von  ganz  Deutschland.  Auf  den 
beiden  westlichen  Längenkreisen  sind  Meilenmaßstäbe  eingeteilt,  links  mit  den 
Zahlen  25,  30  .  .  .  90,  rechts  5,  10  .  .  .  55.  Von  den  kleinereu  links  gehen  ca. 
1572.  von  den  größeren  rechts  ca.  12 V2  »uf  1°,  also  wird  es  sich  um  „gemeine" 
und  „große"  deutsche  Meilen  handeln. 

2,  (Rückseite).     Osteuropa,    ca.  1:7  Mill. 

Im  N  bis  über  rieg  (Riga)  und  darbot  (Dorpat  ?),  ein  Teil  von  Svecia,  im  O 
bis  zur  Halbinsel  Krim,  im  S  bis  clausenb'g,  im  W  bis  (Stralsu)nt.  Die  Zeichnung 
ist  außerordentlich  schlecht  erhalten,  zum  großen  Teil  überhaupt  nicht  mehr  zu 
erkennen.  Das  Blatt  ist  ursprünglich  nach  W  und  S  fortgesetzt  gewesen,  es  ist 
also  der  nordöstliche  Teil  einer  größeren  Karte,  die  ähnlich  wie  die  Cusanische 
Mitteleuropa  umfaßt  hat.  Küstenlinie  nach  Seekartenart.  Lauf  der  Flüsse  sehr 
ungenau,  Oder,  Weichsel,  Teil  der  Donau  mit  vielen  Nebenflüssen.  Terrain- 
zeichnung   kaum   noch   zu   erkennen.     Die  Lageverhältnisse  der  Orte  sind  stellen- 


30  W.  Rüge, 

weise  verschoben ,  z.  B.  kunigspk  liegt  nördlich  von  memel.  Landschaftsnamen 
und  viel  Grenzlinien.  Die  unbekannten  Längen  und  Breiten  sind  von  1° :  1°  aus- 
gezogen, 1°  =  16,5  mm.  Trapezf.  Proj.  A.  Wolkenhauer  (s.  u.)  setzt  die  Karten 
in  das  Ende  des  15.  Jahrhunderts ,  vor  1479 ,  und  vermutet  den  Verfasser  im 
Schülerkreise  Regiomontans. 

Koblenz,   Kgl.  Staatsarchiv. 

Litt.  u.  Publ. :  A.  Wolkenhauer,  Nachrichten  d.  K.  Gesellschaft 
der  Wissensch.  zu  Gröttingen,  phil.-hist.  Kl.  1910,  17  f.  Danach  ist 
die  vorstehende  Beschreibung  gemacht. 


B.    Gedruckte  Karten. 

a.   Einzelkarten. 

30.    Etzlaub-Glogkendon,  Mitteleuropa,  1501;  ca.  1:  3700000. 

Holzschnitt  auf  Papier,  Nach  S  orientiert.  383  x  492  (489)  mm. 
Oben  querüber :  Das  sein  dy  lantstrassen  durch  das  Romisch  reych 
von  einem  Kunigreych  zw  dem  andern  dy  an  Tewtsche  land 
stossen  von  meilen  zw  meiln  mit  puncten  verzaichnet.  Unten 
rechts:    Getruckt  von  Georg  glogk«  ||  endon  zw  Nurnbergk.    1501. 

Im  S  bis  Unteritalien,  W  bis  ANGLIAE  PARS,  PARISIVS  und  BARSALO 
(Barcelona),  N  bis  Schottland,  das  ptolemäisch  westöstlich  umgebogen  ist,  Teil 
von  DENMARCK  und  Halbinsel  Jütland,  0  bis  marieburg,  OFEN.  Straßenzüge. 
Am  rechten  Rande  Climata  cum  horis  longioris  diej.  Breitenangaben  am  linken 
Rande  58«— 40"  N,  1"  =  27,5  mm.  Unten  Meilenmaßstab  10,  20  ...  210  =  382  mm. 
Unten  in  der  Mitte  Kompaß  mit  Mißweisung.  Links  davon  steht:  Dyse  Carta 
begreift  bey  viijc  vnd  xx.  stet  vnd  hellt  inn  nach  der  brait  ijc  vnd  x  meil  Nach 
der  hoch  iic.  vnd  ||  Lxx  meil.  Vnd  lenden  daran  newn  kunigreich  Wer  nun 
wissen  wolt  wye  weit  von  einer  Stat  zw  der  andern  t1  sey  Der  zel  dy  punct  zwischn 
den  selben  zwaien  stetn,  ßo  wirt  er  dan  erkennen  dy  meil  als  vil  man  ir  zellt  (| 
Szo  aber  kain  punct  zwischn  den  furgenomen  stetn  verzaichnet  werden  Nym  ainen 
zirckl  vnnd  miß  mit  ||  im  ab  dy  weit  der  stet  dy  selbig  czirklweit  setz  hie  auf  dyse 
punct  der  ytzlicher  thut  ein  gemeine  teutsche  meil  ||  der  yde  hellt  zehntausend 
schrit :  r\j .  Rechts  vom  Kompaß  steht ;  Dy  gelegnhat  der  stet  einer  gegn  der 
andern  vermerk  also  Setz  einen  campast  auf  den  gemaltn  ader  an  |f  dy  seitten  des 
briefs  vnd  ruck  den  brief  biß  dy  zunglen  der  campast  auf  einander  sagn  den  szo 
dy  carta  ||  vnuerruckt  beleibt  ßo  ligt  ein  ytzliche  stat  wy  sy  gelegn  ist  Den  setz 
den  campast  auf  dy  punct  zwair  ||  furgenomen  stet  mit  der  seittn  vnd  merk  wy 
dy  zung  stee  also  stet  sy  auch  wen  man  zwischn  yn  wandert.  Cöln  — Dresden 
(475  km)  =  131mm-,  Regensburg  —  Berlin  (400km')  =  109  mm;  Hamburg  —  B. 
(250  km)  =  88  mm.  —  Über  den  Verfasser  vgl.  L  Ber.  nr.  33. 

Löbau,  Stadtbibl.,  angebunden  an  Ptolemaeus  von  1486.  II  A. 
F.  1.     Vgl.  Peterm.  Mitteil.  1908,  663. 

Anderes  Exempl.:  Wien,  Hauslab-Liechtenstein'sche  Bibl. 
Litt.:  A.  Wolkenhauer,  Deutsche  Geogr.  Blätter,  XXVI,  1903. 


Aelteres  kartographisches  Material  in  deutschen  Bibliotheken.  31 

31.  Orontias  Finaeus,  Weltkarte,  (1534)  1536 ;  ca.  1 :  5900 000. 
Holzschnitt   auf  Papier.     Nach  N  orientiert.     374   (zwischen 

der  Umrahmang  der  Inschriften  gemessen)  (464)  x  412  mm.  Oben 
querüber :  REGENS,  ET  INTEGRA  ORBIS  .  DESCRIPTIO.  Am 
untern  Kartenrand :  ORONTI VS  F.  DELPH.  REGI'  MATHEMATIC 
EACIEBAT.  Links  unten:  ORONTI  VS  F.  DELPH.  i|  ßegius  Mathe- 
maticarü  interpres :  ||  Studioso  Lectori,  S.  D.  P.  ||  DECIMVS  QVIN- 
TVS  CIRCITER  II  agitur  annns,  candide  Lector,  quo  vniuersam  j 
Orbis  terrarum  designationem  in  hanc  huma- 1|  ni  cordis  effigiem  pri- 

mum  redegimus aber  am  Schluß  steht  nach  Vale,  Luteci^  Pari- 

siorum  noch  Cal.  Maij,  M.  D.  XXXIIII.  Und  rechts  unten  steht 
nach  der  ANNOTATIO  anstatt  Parisiis  Folgendes:  Hiero.  Gor- 
montius  curabat  imprimi  Lutetiae  Pa=  ||  risiorum.  Anno  Christi 
M.  D.  XXXVI.  II  Virescit  uulnere  uirtus. 

Die  Zeichnung  der  Weltkarte  ist  =  Gallois,  de  Orontio  Finaeo  1890,  PI.  I. 
Herzförmige  Proj.,  10  :  10°  =  18 — 19  mm.  Die  Karte  ist  deshalb  besonders 
•wichtig,  weil  sie  die  Jahreszahl  enthält,  die  Gallois  a.  a.  O.  39  für  das  von  ihm 
publizierte  Blatt  erschlossen  hatte.  Es  ist  offenbar  die  Ausgabe,  nach  der  Gesner 
seine  bei  Gallois  zitierte  Beschreibung  gemacht  hat. 

Nürnberg,   German.  Mus.,   Halle  77. 

32.  (Orontlus  Finaeus),   Weltkarte,   1541 ;  ca.  1:8  Mill. 
Kupferstich  auf  Papier.    415  x  285  mm.     Oben  in  bandartigem 

Ornament:  NOVA,  ET  INTEGRA  VNIVERSI  ORBIS  DESCRIP- 
TIO.    Unten   in  einfachem  Rahmen :    CHRISTIAN^VS  WECHE=  ; 

lus  lectori.  S.  jj  EXCVDIMVS,   LECTOR  ||  studiose Vale!' 

Ex  scuto  Basiliensi.  ||  M.  D.  XLI. 

Weltkarte.  Asien  und  Amerika  hängen  zusammen.  Großes  Südland :  TRRRA 
AVSTRALIS  RE  ,  center  inuenta,  sed  nondü  plene  cognita.  Die  BRASIELIE 
REGIO  reicht  bis  ca.  25°  S.  In  Südamerika:  AMERICA.  An  der  Westküste 
ist  Cattigora  der  südlichste  Name.  Doppelherzförmige  Proj.  Längen-  und  Breiten- 
kreise von  10:  10°  ausgezogen,  10°  =  ca.  13,5  mm,  Nordpol — Südpol  =  248  mm, 

Nürnberg,   German.  Mus.,   Landkartensamml. ,   Erdkarten. 
Litt. :    Gallois ,   De  Orontio  Finaeo  1890,   39  Anm.  2   erwähnt 
eine  Ausgabe  von  1540,  aber  nicht  die  von  1541. 

33.  Orontius  Finaeus,  Weltkarte,   o.  J.;   ca.  1:6100000. 
Kupferstich  auf  Papier.   Nach  N  orientiert.  450  x  439  (442;  mra. 

Oben  querüber  in  bandartigem  Ornament:  COSMOGAPHIA  VNI- 
VERSALIS  AB  ORONTIO  OLIM  DESCRIPTA.  Oben  links  im 
Zwickel  Büd  von  CLAVDIVS  PTOLOMEVS,  rechts  ORONTIVS, 
unten  links  PO]\IPONIVS  MELA,  rechts  STRABONVS.  Am  un- 
tern Rand :  Jacobus  frächus.  fec. ;    rechts  Rafael,  faitel  for  (!  ?.) 

Weltkarte  in  herzföimiger  Proj.  Zeichnung  stimmt  ganz  zu  Gallois,  de  Orontio 
Finaeo  1890  PI.  I,    die  Namen  stimmen  nicht  immer.     In  Südamerika  fehlt  Catti- 


32  W.  Rüge, 

gora,  an  der  Nordküste  von  Südamerika  steht  R.  Grandis,  Plaga,  S.  Rocus,  R.  S. 
Lutiae,  auch  sonst  finden  sich  Abweichungen  in  der  Orthographie.  Das  Meer  ist 
punktiert.  10<*  =  17 — 18,5  mm.  Nordpol — Südpol  326  mm.  Gallois  kennt  diese 
Ausgabe  nicht. 

Nürnberg ,   German.  Mas. ;   Landkartensamml. ,  Erdkarten. 

34.  Giacomo  Castaldo,   Spanien,  1544;   ca.  1 :  IV2  Mill. 
Kupferstich  auf  Papier.     4  Blatt.     Nach  N  orientiert.    920  x 

669  (667)  mm.  Oben  in  der  Mitte :  LA  SPANA.  Unten  links  in 
verziertem  Rahmen :  Giacomo  Castaldo  Piemontese  de  Villa  franca, 
Cosmographo.  ||  Alli  Spettatori.  Salute.  ||  Questa  e  la  uera  descrit- 
tione  di  tutta  la  Spagna  da  me  composta  per  ||  comune  utilita  degli 
huomini  (et)  meritamente  dedicata  in  Segno  di  ||  gratitudine  al  Molto 
jH.  Signor  Don  Diego  Hurtado  de  Mendoza  ||  dignissimo  Orator 
Cesareo  nella  jnclita  Citta  di  Venetia  ....  Voi  uedetela,  legge- 
tela,  et  uiuete  felicj.  jn  Venetia.  1544.  Nach  diesem  Titel  er- 
scheint der  Zweifel  bei  Grande,  notizie  4,  ob  Villefranca  der  Ge- 
burtsort Gastaldis  ist,  unberechtigt. 

Im  NO  ein  Stück  Frankreich,  im  S  Nordrand  von  Afrika,  Berge.  Flüsse, 
Ortschaften.  Im  wellenförmig  gezeichneten  Meer  Schiffe  und  Ungeheuer.  Rechtw. 
Plattk.  Gradangaben  am  Rande.  Unten  und  oben  (2«)  10'— 21«,  P  =  48,5— 
49,5  mm;  links  und  rechts  (35«»)  10'— 450,  ^o  _  66,5— 67,5  mm.  Außerdem  sind 
links  die  längsten  Tage,  rechts  die  Klimate  in  spanischer  Sprache  angegeben. 
Ohne  Meilenmaßstab.  C.  Finisterre— C.  Creus  (1025  km)  =  738  mm;  Gibraltar — 
C.  Cr.  (1000  km)  =  680  mm ;  Almeria  —  Madrid  (410  km)  =  284  mm ;  Toledo  — 
Valencia  (315  km)  =  245  mm;  C.  Finisterre — Tarifa  (825  km)  =  593  mm. 

Breslau,   Stadtbibl.   Fa.  3. 

Andere  Exempl. :  Br.  Mus.  I  1497,  II  3873.  —  Madrid,  Bibl. 
nacional  (Wieder,  Nederlandsche  hist.-geogr.  documenten  in  Spanje 
1915,  153). 

Litt.:   Marcel,  Revue  hispanique  VI  1899,  186. 

35.  Anonymus,  Umgebung  von  Rom,   1547 ;  ca.  1 :  41 500. 
Kupferstich    auf  Papier,    6  Blatt   in  2  Reihen  übereinander. 

Nach  NOzO  orientiert.  1227  (1242)  x  1104  (1090)  mm.  Oben 
links  in  reich  verziertem  Rahmen:  Con  quanta  fatica  io  mi  sia 
ingegnato  di  esprimere  I  ques  ||  te  carte  il  paese  di  Roma,  cö  tutti 
li  edificij  et  luoghi  notabili  p  spa»  ||  tio  di.  XV  *  in  XX  •  miglia 
pon(5do  anco  in  mezo  la  pia'ta  di  Roma  ||  .  .  .  .  Unten  rechts  in 
verziertem  Rahmen:  Ex  Motu  proprio  ||  della  S'.*  di  N.  S.  PP.' 
Paulo  ni  II  et  con  Priuilegio  dlla  lö.«"*  Sig'.»  ||  di  Venet*  et  döo 
Excel!'.  Duca  di  ||  Fiorenza  p  Anj  Diecj  etcj  ||  M.  D.  XL VII. 

Im  NO  bis  TIBOLI,  SO  bis  LA  RICCIA,  8W  bis  zur  Mündung  des  ARONE 
FIVME,  NW  bis  BRACCIANO.    Viel  Innenzeichnung,  Hügel,  Bäume,  große  Orts- 


Aelteres  kartographisches  Material  in  deutschen  Bibliotheken.  33 

Vignetten,  dichtes  Straßennetz.  Ohne  Gradnetz.  Links  unten:  MISVRA  DELLE 
MIGLIA.  ;'  Tutto  questo  spatio  contiene  miglia  sei.  I,  11  ...  VI  =  215  mm. 
Tivoli— Ostia  (45  km)  =  1030  mm;  CasteU  S.  Angelo— Ostia  (20  km)  =  510  mm. 
Vielleicht  ist  es  die  Karte,  die  in  den  Epist.  Ortelianae  ed.  Hesseis,  nr.  185  erwähnt 
wird:  Ph.  Wingen  fragt  am  l.IX.  1590  an,  ob  Ortelius  die  Karte  vom  Territorium 
Komanum  in  6  Bl.  haben  will. 

Breslau,   Stadtbibl.     Gb.  158. 

36.    Oerardus  Mercator,  Europa,  1554;  ca.  l:4Mill. 

Kupferstich  auf  Papier.  15  Blatt  in  3  Reihen  übereinander. 
Nach  N  orientiert.  1469  (1454)  x  12(X)  (1195)  mm.  Oben  links  in 
reich  verziertem  Rahmen:  Beneuolo  lectori.  i|  EVROPAM  descripturi 
primum  curauimus  vt  spacia  meridianis  parallelisq$  inter^ljcepta 
q5  minimü  a  rectangulari  specie,  quam  in  terrestri  sphera  habent, 
distraherentur  ....  u.  s.  w.  über  die  mathematischen  Grundlagen 
und  die  Herstellung  der  Karte.  Darunter,  ebenfalls  in  reich  ver- 
ziertem Rahmen:  REVERENDISS.  ET  ILLVSTRISS.  DOMINO || 
D.  ANTONIO  PERRENOT  1|  ATREBATENSIVM  EPISCOPO,  i| 
IMP.  CAROLI.  V.  AVGVSTI  PRIMO  CONSILIARIO,  ||  LITE- 
RARVM  STVDIORVMQ.  OMNIVM  1|  VNICO  FAVTORI  ||  GE- 
RARDVS  MERCATOR  RVPELMONDANVS  ||  DEDICABAT.  In 
der  linken  unteren  Ecke  ohne  Rahmen:  Absolutum  &  euulgatum 
est  opus  II  Dnysburgi  anno  Diii  1554.  mense  ||  Octobri,  per  Gerar- 
dum  Mercatore  ||  Rupelmondanum.     Unten   in  der  Mitte,   ebenfalls 

ohne  Rahmen:  Cum  priuilegio  Caes.-  Mai.  ad  decennium  ne  quis  j 
in  Germania  superiore  &  inferiore,  Flandria  omnibusq^  i|  locis  qu^ 
eidem  Su^  Maiestati  parent,  audeat  hanc  Eu||rop^  tabulam  im- 
primere,  aut  alibi  impressam  vendere,  |!  constituta  poena  mulct^ 
arbitrariq  quQ  in  mandato  conti  j|  netur.  Cum  ^quali  item  priui- 
legio niustriß :  Senatus  ||  Veneti  ad  annos  totidem. 

Längen-  und  Breitenkreise  von  5  :  5"  ausgezogen,  5"  Breite  auf  dem  40.  Längen- 
kreis gemessen,  der  allein  nicht  gekrümmt  ist,  =  127 — 128  mm.  Über  die  ver- 
schiedenen Meilen  und  ihr  Verhältnis  zu  einander  berichtet  eine  große  Legende 
am  linken  Rand.  Darunter  sind  zusanunengestellt :  Italica  maiora  100  =  43  mm, 
minora  100  =  36  mm ;  Anglia  cömunia  200  =  98,5  mm ;  Scocica  communia  180 
=  96,5  mm ;  Hispan :  minima,  Franci§  com.  100  =  102  mm  ;  Gallie  com :  Hispanica 
com:  70  =  91  mm;  Burgundi§,  Lotharingi§  70  =  98mm;  Aragoni^  communia, 
Prouinci§  60  =  94,5mm;  Germanica  com:  Guasconica  60  =  103  mm;  Franconi§ 
50  =  93  mm ;  Saxonica  Gelrica  maiora  50  =  102  mm ;  Suecig,  Scanie,  Sueui§^ 
30  =  78  mm.  C.  Finisterre  — C.  Creus  (1025  km)  =  270  mm;  Gibraltar— C.  Cr. 
(1000  km)  =  240  mm;  Paris  — Toulon  (695  km)  =  183  mm;  P.  — Trier  (325  km) 
=  92  mm ;  Gibraltar — C.  Spartivento  (1900  km)  =  540  mm ;  Genua — Tunis  (850  km) 
=^  228  mm.     Breite  Zierleiste  um  das  Ganze. 

Breslau,  Stadtbibl.  Auf  Leinwand  und  Pappe  aufgezogen. 
Bunt. 

Kgl.  Ocs.  d.  WUs.   Nachriditen.   PhU..liist.  Klasse.    1916.    BeihefL  3 


34  W.  Rüge, 

PubL:  Drei  Karten  von  Gr.  Mercater.  Herausgeg.  von  der 
Ges.  f.  Erdk.,   Berlin  1891. 

Litt.:  Heyer,  Ztschr.  f.  wissensch.  Geographie  (Kettler)  VII 
1890,  379,  474,  507.  —  Reinhard,  Zur  Entwicklung  d.  Karten- 
bildes d.  Britischen  Inseln,  1909,  92.  —  Averdunk  u.  Müller,  Ger- 
hard Mercator.    (Peterm.  Mitt.,   Erg.-Heft  1914,  182,  53). 

37.  Caspar  Yopellus,  Rheinkarte,  1555;  ca.  1:600000. 

Die  1.  Auflage  der  im  I.  Ber,  nr.  46  beschriebenen  Karte.  1553 
X  542  mm  mit  Zierleiste  und  Text,  aber  ohne  schwarzen  Rahmen; 
1502  X  374  mm  innerer  Kartenrahmen.  Die  Abweichung  von  den 
Maßen  im  I.  Ber.  nr.  46  wird  auf  Rechnung  der  breiten  Zierleiste 
zu  setzen  sein.  Die  Inschriften  stimmen  überein  (in  dem  Text 
links  oben  ist  der  letzte  Buchstabe  des  Vornamens  Caspar  in  Ma- 
juskel zu  schreiben  und  rechts  oben  muß  es  heißen  Quem  priscae 
gentes  statt  Quam),  nur  die  Jahreszahl  lautet  M.  D,  LV.  Die 
Erklärung  ist  überschrieben:  BREVIS  HVIVS  RHENANI  1| 
TRACTVS  AC  POTISSIMARVM  EIVS  ||  PARTIVM  EXPLI- 
CATIO,  II  de(^;  primis  Priscorum  popu-||lorum  sedibus. 

Wolfenbüttel,   Herzog!  Bibl. 

PubL:  H.  Michow  (Hamburg)  hat  die  Ausgabe  von  1558  in 
Facsimiledruck  veröffentlicht.    Exemplare  sind  von  ihm  zu  beziehen. 

38.  Thomas  Oeminns,  Spanien,  1555;  ca.  1 :  1^2  Mill. 
Kupferstich  auf  Papier.     4  Blatt.     Nach  N  orientiert.    895  x 

724mm.     Unten  rechts  in  verziertem  Rahmen:    Inuictiß  et  Sere- 


s 


niß.  PHILIPPO  et  MARIiE  D.  G.  Regi   et  Regin^  Angl:   Frac^^ 

Neap+  Hierus  ||  et  Hiber Es  folgt  eine  Auseinandersetzung 

über  den  Wert  der  Arbeit  ...  in  hu=||ius  Pinacis  ^ditione,  qua 
exhibere  locnpletißimi  illius  Hispaniarum  regni  ueram,  quo  ad  eius 
fieri  potest,  descriptionem  (dieses  Wort  ist  nachträglich  zwischen 
den  Zeilen   zugefügt  worden)  studuimus  ....    Hunc  nostrum  la- 

ti 

borem  uisum  est  non  alij,  q;^  V.  utriusq5  Ma  dedicare,  ubi  uno 
obtutu  lustrare  ||  ingentes  amplißimi  nobilißimiq^  Regni,  cuius  hei-e- 
ditati  tu  Philippe  Rex  potentiss.  natus  es,  tu  uero  Sereniß.  Re- 
gina nomini  ||  innupsisti  fines  poßitis.  Deus  Opti.  Max.  V+  M+  in- 
columes  q5  diutissime  felicitet.  Londini.  T.  Geminus.  Oben  links 
in  bandartigem  Ornament  im  Meer:  NOVA  DESCRIPTIO  HISPA- 
NliE.  Unten  links  in  reich  verziertem  Rahmen :  Climax  Leucarum, 
quam   sub«||scripsimus,    in  singulas    leucas   quatu||or   miliaria  Ita- 

lica  continet.     Itaque folgt  Anweisung  zum  Entfernungs- 

messen.   Darüber  Excusum  Londini  per  ||  Thomam  ||  Geminum  ||  1555. 


Aelteres  kartographisches  Material  in  deutschen  Bibliotheken.  35 

Im  NO  GALLIG  PARS  ohne  Innenzeichnung,  im  S  schmaler  Streifen  von 
A&ika.  In  Spanien  Flüsse,  Berge,  Bäume,  Vignetten.  Im  gemalten  Meer  Schiffe 
und  Ungeheuer.  Unten  rechts  großes  Wappen.  Trapezf.  Proj.  Gradangaben  am 
Rande.  Unten  (3"  38'J  40'— 20o  (5'),  die  Zahlen  12—19  sind  falsch  gestochen 
als  21,  31,  41,  51,  61,  71,  91  (81  fehlt,  ist  vrohl  Tcrklebt),  1">  =  54— 56  mm  ; 
oben  (2«  35')  3«— 21°  50',  aber  die  Zahlen  der  Grade  sind  verklebt,  P  =  46  mm; 
links  (34«  47'j  36«— 45«  (12')  ;  rechte  beginnt  es  erst  bei  (34»  55'),  1«  =  69— 70  mm. 
Im  Meer  Kompaßrosen  ausgezogen.  Unten  links,  rechts  der  oben  erwähnten  In- 
schrift: SCALA  +  LEVCARVM4-HISPAXICARVM4-5,  10  ....  30  =  118  mm: 
jo  __  i73y^  Leucae.  Am  linken  Rand  in  verziertem  Rahmen:  EL  grado  de  las 
leguas  que  he<  jj  mos  sotoscrito  en  cada  una  |j  de  las  leguas  contiene  quatro  i|  millas 
de  Italia.  Dann  Anweisung  über  Entfern ungsmessen  wie  oben.  C.  Finisterre — 
C.  Creus  (1025km)  =  786  mm;  Gibraltar— C.  Cr.  (1000  km)  =  750mm;  Almeria 
—Madrid  (410  km)  =  281  mm ;  Toledo— Valencia  (315  km)  =  229 mm;  C.  Finisterre 
— Tarifa  (825  km)  =  580  mm.  Die  Zeichnung  stimmt  nicht  mit  Gastaldi  (s.  oben 
nr.  34),    sie  ist  besser,  da  Spanien  westöstlich  nicht  so  auseinandergezogen  ist. 

Breslau ,  Stadtbibl.  Rolle  34.  Anf  Leinewand  gezogen  mit 
schwarzem  Rand. 

Anderes  Exempl. :  London,  s.  Marcel. 

Litt.:  Marcel,  Revne  hispaniqae  VI  1899,  187 f. 

39.  ADonymns,  Umgebung  von  Rom.  1557:  ca.  1:314000. 
Kupferstich  auf  Papier.    Nach  NO  orientiert.    427  x  815  mm. 

Oben    in   der    Mitte    in   verziertem   Rahman:    TERRITORIO   DI 
ROMA.     Unten  rechts  in  verziertem  Rahmen:    NOVA  |  DESRIT- 
TIONE  (!)  II  DEL  TERRITORIO  l|  DI  ROÄL^  ||  CON  TVTTE  LE  I 
CITTA,  VILLE  ||;  CASTELLI,   MONTI,  ||  VIE,   FIVMI,   ET 
PONTI.  i!  1557. 

Oben  bis  Oleuano,  recht«  bis  Gaeta,  Ciprano,  unten  bis  zum  Meer,  links  bis 
Spoleti,  Ciuitauechia.  Im  punktierten  Meer  Schiff  und  Ungeheuer.  Straßen, 
Hügel,  Bäume.  Ohne  Gradangaben.  Meilenmaßstab :  Cinque  migUa  =  38  mm. 
Monte  Circello  —  Spoleto  (ISO  km)  =  428  mm;  Civitavechia  —  Ceprano  (152  km) 
=  495  mm ;  Ostia— Tivoli  (45  km)  =  213  mm. 

Breslau,  Stadtbibl.     Gb.  160. 

40.  Beniardus  a  Putte,  Holland,  1653—1558;  ca.  1 :  177000. 
Holzschnitt   auf  Papier,    9  Blatt  in   3   Reihen  übereinander. 

Nach  N  orientiert.  792  (787)  x  1 105  mm.  Oben  im  Meer  auf 
einem  von  einem  Drachen  gehaltenen  Blatt :  HoUandt.  Links  oben 
Wappen  mit  2  Säulen,  PLVS  OVLTRE.  Darunter  in  reich  ver- 
ziertem Rahmen :  D.  CAROLO.  V.  RO.  IMP.  AVG.  i|  Germaniae, 
Hispaniarnm  etc.  Regi,  ....  hoc  opus  dedicatum,  Bemardus  k 
Putte  Tjpoglyphus  ||  Antuerpianus  imitabatur.  Anno.  M.  D.  LVl. 
Darunter:  CANDIDO  LECTORI.  jj  HAbes  in  hac  tabula  Lector, 
expressam   ad    topographiae   ve-ljritatem,    Hollandornm    expensis,. 

3* 


36  W.  Rüge, 

Hollandiam  Comitatum  |  cam  prouincia  Traiectensi  .  .  .  Darunter 
dasselbe  französisch  und  holländisch.  Noch  weiter  unten :  Gheprint 
Thantwerpen  op  die  Lombaerde  ||  veste,  aldernaest  Simon  Cock, 
by  my  Ber-||naert  vanden  putte,  figuersnyder.  ||  Int  laer  ons 
Heeren.  M.  CCCCC.  ||  LVIII.  den.  XIX.  Februarij.  Unten  rechts, 
ebenfalls  in  verziertem  Rahmen :  Opus  absolutum  Anno  M.  D.  LUX. 
mense  Julio,  ||  Gubernante  Hollandiam  &  Prouinciam  Tra-  ||  iecten- 
sem  Illustriß.     Domino  Renato  Principe  Au  ||  raicae  .... 

Holland  im  N  bis  zum  Ausgang  von  De  Zuyder  Zee,  im  O  bis  Campe,  im  S 
bis  Boxtel,  südlich  von  t/Hertoghen  Bosch,  im  W  das  Meer.  Hügelketten,  Dünen, 
Wasserläufe,  Ortsvignetten,  gemaltes  Meer  mit  vielen  Schiflfen.  Oben  rechts  in  großem 
Rahmen:  Grauen  ende  Grauinnen  van  Hol:»|l laut,  Seelant  en  Vrieslant,  fortgeführt 
bis  1556.  In  der  Grundlage  stimmt  die  Zeichnung  völlig  mit  Ortelius,  theatrum  1570 
nr.  19,  sie  zeigt  aber  doch  auch  wichtige  Unterschiede.  So  z.  B.  hat  unsere  Karte 
nördlich  von  Alkmar  und  Egmont  Meer,  Ortelius  dagegen :  Die  Kynser  wech  u.  s.  w. 
Die  Insel  Wieringen  liegt  ganz  frei,  die  Ansätze  am  Lande  nach  ihr  hin  fehlen. 
Auch  im  Rheinmündungsgebiet  sind  Unterschiede  bemerkbar.  Ohne  Gradangaben. 
Im  Zuider  See  32 strahlige  Kompaßrose  mit  holländischen  Bezeichnungen.  Am 
linken  Rand  Meilenmaßstab :  Cleyne  HoUants  milen  Miliaria  minora  Holland 
1 — 6  =  184  mm;  Middelbaer  milen  Miliaria  mediocria  1 — 4  =  154  mm;  Grote 
milen  Miliaria  magna,  quinq^  milium  passuum  1 — 4  =  185  mm.  Daneben  Passus 
quinq3  ||  pedes  continet.  Leyden  —  Dordrecht  (40  km)  =  225  mm ;  L.  —  Utrecht 
(45  km)  =  253  mm ;  Herzogenbusch— U.  (46,5  km)  =  263  mm ;  Edam— U.  (46,5  km) 
=  263  mm. 

Breslau,  Stadtbibl.  Rolle  37.  Auf  Leinewand  gezogen,  bunt; 
einige  Löcher,  sonst  gut  erhalten. 

Litt.:  Denucö,  Oud-Nederlandsche  kaartmakers  I  1912,  74. 

41.    Jacobus  Daven(tria),  Brabant,  1558;  ca.  1:190000. 

Holzschnitt  auf  Papier..  6  Blatt  in  3  Reihen  zu  je  2  über- 
einander. Nach  N  orientiert.  766  (760)  X  827  mm.  Oben  in  der 
Mitte:  DVCATVS  BRABANTIvE.  Unten  links  in  einfachem 
Rahmen:  CANCELLARIO  SENATVI  ||  POPVLOQ;  BRABAN- 
TI^  II  lACOBVS  DAVEN.  ||  DEDICAVIT.  ||  Gheprint  by  my 
Arnout  Nicolai  Fi-||guersnyder,  op  die  Lombaerde  ||  Veste  tot 
Antwerpen.  ||  1558. 

Im  N  undS  nicht  ganz  so  weit  Avie  Ortelius,  theatrum  1570  nr.  16,  mit  dem  auch 
die  Zeichnung,  besonders  au  den  Küsten,  nicht  ganz  stimmt.  Im  N  bis  Mündung 
des  Mosa  fluuius,  der  das  liand  im  O  und  N  der  Hauptsache  nach  begrenzt,  aber 
im  SO  reicht  die  Zeichnung  weiter ;  Aken,  upen,  Lemborch  liegen  am  Ostrande 
der  Karte  nordsüdlich  zu  einander.  Im  S  bis  CO  •  NAMVRC  .  .  .  PARS ;  im  W 
Mündung  des  Scheide  flu.  Die  Karte  ist  bunt  bemalt,  Ortsvignetten.  Flüsse, 
Wälder,  im  SO  Berge.  Im  gewellten  Meer  SchiflFe.  Wappen.  Ringsherum  breite 
Zierleiste  mit  Fürstenbildem.  Ohne  Gradangaben.  Unten  in  der  Mitte  ein  Kompaß 
mit  üstl.  Abweichung.  Unten  rechts  Meilenmaßstab:  hueren  ghaens  5:=  118mm. 
Dazu   rechts   eine   große   Legende:    IN  dese   chaerte   is    bescreuen  nae  der  conste 


Aelteres  kartographisches  Material  in  deutschen  Bibliotheken.  37 

der  geometrien,  ende  opt  compas  met  !  grooten  arbeyt,  ende  diligentia  het  hertooch- 
dom  van  Brabant  met  sinen  fron-  i|  tieren  ....  Dann  folgt  eine  Anweisung  zum 
Distanzmessen ;  man  soll  den  Zirkel  setzen :  .  .  .  op  die  scala  hier  onder  op  hueren 
gaens  ghemaect,  om  dat  die  mylen  in  Bra-  i  bant  seer  onghelyck  syn  ....  Namur 
— Venlo  (135  km)  =  724  mm;  Aken — Antwerpen  (127  km)  =  661  mm;  Herzogen- 
busch— Namur  (140  km)  =  724  mm. 

Breslau,  Stadtbibl.  Rolle  nr.  40.  Etwas  beschädigt,  vor  allem 
im  südlichen  Teü  mehrfach  abgesplittert. 

Litt. :  Denuc^,  Oad-Nederlandsche  kaartmakers  I  1912,  49,  57. 
—  "Wieder,  Nederlandsche  bist. -geogr.  documenten  in  Spanje, 
1916,  16.  In  dem  Kartenkatalog  von  Viglius  ab  Aytta  (Messa- 
ger  des  sciences  1862,  429  f.)  wird  genannt :  Brabantiae  descriptio 
per  Jacobus  Daventriensem  1536. 

43.  Bernaerd  ran  den  Putte,  Friesland  (1545),  1559;  ca. 
1 :  180000- 

Holzschnitt  auf  Papier.  9  Blatt  in  3  Reihen  (die  oberste 
ganz  schmal)  über  einander.  Nach  N  orfentiert.  789  X  884 
(889)  mm.  Oben  in  der  Mitte  in  verziertem  Rahmen:  Frieslandt. 
Unten  links  in  reich  verziertem  Rahmen  in  lateinischer,  hol- 
ländischer, französischer  Sprache  historische  Notizen  über  Fries- 
land. Darunter:  Geprint  Thantwerpen  op  de  Lom||baer  de  veste 
in  den  gülden  Rinck  ||  by  my  Bernaerd  van  den  putte  ||  Figaer- 
snyder  •  ||  •  1559.  Am  linken  Rand  in  verziertem  Rahmen :  ANNO. 
M.  D.  XLV.  II  Generoso  Heroe  Domino  Maximiliane  ||  ab  Egmonda 
Comite  in  ßueren,  etc.  .  .  . 

Friesland  im  N  bis  z\im  Meer,  im  O  bis  oldersum,  stromauf  von  Eemden, 
im  S  bis  Lochem,  im  W  bis  Hoom.  Im  gewellten  Meer  viele  Wappen  und  Schiffe. 
Die  Zeichnung  stimmt  mit  Ortelius,  theatrum  1570  nr.  29,  der  östlich  der  Linie  von 
oldersum  sehr  dürftig  wird ,  weil  diese  Kar  tehier  nicht  weiter  reicht.  Ohne  Grad- 
angaben. Meilenmaßstab  unten :  ClejTie  Friessche  milen.  Milliaria  Phrisia  minora  1 — 4 
=  157  mm;  Middelbaer  milen  Mediocria  milliaria  1 — 3  ^  141  mm;  Groote  Friesse 
mylen  Phrisia  milliaria  magna  6500  passuum  1,2  ^  116  mm.  Daneben  Passus 
quinq5  pedes  continet.  Deventer  —  Groningen  (111km)  =  583  mm;  Leuward en 
—Gr.  (52  km)  =  282  mm;  L.— Zwolle  (28  km)  =  166  mm. 

Breslau,    Stadtbibl.  Rolle  46.     Auf  Leinewand  gezogen,  bunt. 
Litt.:  Denuc4,  Oud-Nederlandsche  kaartmakers  I  1912,  74. 

43.    Nicolaus  Stopins,  Flandern,  1559;  ca.  1:575000. 

2  Blatt,  477  (478)  x  393  (395)  mm.  Die  Karte  gleicht  sehr 
III.  Ber.  nr.  29,  13.  Aber  die  Inschrift  unten  rechts  ist  anders 
eingeteilt:  Flandria,  Caroli  Y.  Aug.  Imp.  max.  natione  Illu- 
strißima,  Belgien  ||  Prouinciae  est  Comitatus  longe  nobilissimus, 
H«jc  a  II  Septentrione  ....  Huius  igitur  —  impertire  stimmt. 
Dann  geht's   weiter:   Ad  Signum  Bibliothecae  Diui  Marci:  ||  Do- 


88  W.  Rüge, 

minicus  Zenoi  VeDetus  excidebat.  Venetijs  M  *  D  •  L  •  Villi.  Die 
Zahlen  für  die  Meilenmaßstäbe  sind:  163,5,  121,  128  mm;  für!  die 
gemessenen  Entfernungen :  426,  183  mm. 

Breslau,  Stadtbibl.  Pc.  36  und  36  a. 

Anderes  Exempl. :  Brüssel,  Kgl.  Bibliothek. 

Litt.:  J.  van  Raemdonck,  La  grande  Carte  de  Flandre  par 
Grörard  Mercator  18.  —  De  Vreese,  Leekebijdragen  tot  de  ge- 
schiedenis  van  Viaanderen  (K.  Vläamsche  Academie  voor  taal-  en 
letterkunde)  1912,  120. 

44.  Jacopo  di  Gastaldi,   Deutschland,  1559;  ca.  1:4700000. 
Kupferstich  auf  Papier.     Nach  N  orientiert.    339  (274)  x  241 

(239)  mm.  Oben  querüber,  außerhalb  der  Karte:  GERMANIA. 
Unten  links  außerhalb:  In  Venetia  appresso  ||  Donato  Bertelli  |j 
libraro  al  segno  del  ||  San  Marco.  Unten  links  innerhalb:  Opera 
di  Jacopo  di  ||  Gastaldi  Cosmografo  ||  In  Venetia  ||  MDLVUIL 
Unten  rechts  außerhalb:  Dominico  Zenoi  |I  Venetiano  Fecit. 

Inhalt  =  III.  Ber.  nr.  29,  21.  Die  Entfernung  der  Breitenkreise,  wenn  man 
senkrecht  mißt,  22,5—24  mm,  lO»  =  234,5  mm.  Cöln— Dresden  (475  km)  =  107  mm  ; 
Wien— Pettau  (200  km)  =  40  mm. 

Berlin,  Kgl.  Bibl.    L.  26. 

Andere  Exempl. :  Breslau,  Universitätsbibl.  (s.  u.  nr.  86, 13).  — 
Breslau,  Stadtbibl.  Q  a  3.  -  Br.  Mus.  1 1496,  1535.  Vgl.  I.  Ber.  nr.  54. 

Litt. :  Castellani,  catalogo  ragionato  delle  piü  rare  .  .  .  opere 
geografiche  a  stampa  .  .  .  del  coUegio  Romano  247,  nr.  94  a. 

45.  Jacobus  Dauentr(ia),  Seeland,  1660;  ca.  1:178000. 
Kupferstich  auf  Papier.    4  Blatt.    Nach  N  orientiert.    700  X 

513  mm.  Am  linken  Rand  in  verziertem  Rahmen :  Ulustriß.  Prin- 
cipi  Gulielmo  ä  Naßau  Dei  gratia  Principi  ||  Orani§,  Comiti  k 
Nassau,  Catzenellenbogen,  ....  ||  Domino  suo  Clementißimo  ||  Gu- 
lielmus  Sylvi.9  typographus  Regius  dedicabat.  Unten  rechts  in 
großem,  verziertem  Rahmen:  ZELANDIA  ||  Z6LANDIA  inferioris 
Germaniae  pars  ....  und  dann  die  holländische  Übersetzung. 
Darunter :  Cautum  est  literis  Regijs  ne  quis  hanc  ||  Zelandi^  de- 
scriptionem  intra  annos  ||  decem  vllo  modo  imitetur.  Rechts  davon : 
Jacobus  Dauentr.  ||  geograph.  regiP  faciebat.  Rechts  davon :  ANT- 
VERPLE  II  Excudebat  Gulielmus  SylviP  typographus  1|  Regius  ad 
insigne  angeli  aurei  ||  Ano  1560. 

Seeland  im  N  bis  Grauesande  an  der  Küste  nördlich  der  Rheinmündungen; 
im  O  bis  Kedichem  am  Lingen  fl.  und  Drögelen  östlich  von  Berge  und  Dordrecht, 
im  S  bis  Middelburch,  südlich  der  Rheinmündungen.  Flußläufe  und  Kanäle,  an 
der  Küste  Dünen,  im  gewellten  Meere  viel  SchifiFe.  Die  Karte  ist  bunt,  breite 
Zierleiste    darum,    links   oben   im   Meer  3    große   Wappen,      Ohne    Gradangaben. 


Aelteres  kartographisches  Material  in  deutschen  Bibliotheken.  39 

Unten  rechts  Meilenmaßstab;  übereinander:  Cleene  roilen  1,  2  ...  6  miliaria  parua 

—  173  mm;  Middelbare  5  (ohne  Zahlen)  mediocria  =  185  mm;  Faßus  continet 
qiiinque  pedes;  groot  milen  1,  2,  3,  4  magna  =  181  mm.  Middelburg  —  Ant- 
werpen (64  km)  =  384  mm;  Dordrecht— A.  (63  km)  =  376  mm;  D.— Delft  (31  km) 
=  165  mm.  Ortelius,  theatrum  1570  nr.  18  hängt  ganz  von  der  Karte  ab,  hat  aber 
viele  Feinheiten  -weggelassen,  so  die  Einteilung  des  Landes  durch  Dämme,  die 
Daventria  durch  punktierte  Linien  angegeben  hat,  wie  er  es  in  seiner  Erklärung 
rechts  sagt:  ....  Notantur  verö  aggeres  punctis  veluti  in  lineolas  paßim  per 
insulas  deductas. 

Breslau,  Stadtbibl.  Pb.  68.  Die  Karte  ist  auf  Leinewand 
aufgezogen  und  mit  einem  schwarzen  Rand  umgeben. 

Anderes  Exempl. :  Florenz,  (Wieder,  Nederlandsche  hist.-geogr. 
documenten  in  Spanje,  1915,  16). 

Litt. :  Denuce,  Oud-Nederlandscbe  kaartmakers  I  1912,  57.  — 
In  dem  Katalog  von  Viglius  ab  Aytta  (s.  o.  nr.  41)  wird  erwähnt 
Zelandiae  descriptio  per  Jacobum  Daventriensem  o.  J. 

46.    Joannes  Joliret,   Frankreich,  1560;  ca.  1:1650000. 

Holzschnitt  auf  Papier.  Nach  N  orientiert.  4  Bl.  773  (775) 
X  489  (488)  mm.  Oben  außerhalb  des  Rahmens :  Nouuelle  descrip- 
tion  des  Gaules ,  auec  les  confins  Dalemaigne,  et  Italye.  Unten : 
JOANNES  lOLIVET  INVENTOR.  1560.  Von  links  über  den 
oberen  Rand  nach  rechts  um  die  Karte  herum:  LA  TERRE  ET 
LE  CONTENT  D'ICELLE  ||  APPARTIENT  A  LETERNEL 
AVSSY  LE  MONDE  ET  ||  CEVLX  QVI  Y  HABITENT.  PSAL.  24. 
Oben  rechts  in  verziertem  Rahmen :  Aux  lecteurs  salut.  H  Suiuant 
le  commandement  du  Roy,  J'ay  faict  la  |i  Visitation  de  ses  Royau- 
mes  ....  Schließt :  Auec  priuüege  du  Roy.  Darunter  ebenfalls 
in  verziertem  Rahmen :  Aduertissement.  ||  Pour  aisement  cognoi- 
stre  II  les  prouinces  et  villes  metropolitaines  ||  .  .  .  .  A  Paris,  par  jj 
Oliuier  Truchet,  Rue  montorgueil  ||  au  bon  pasteur.  Et  Richard  !| 
Breton,  Rue  S.  Jacques,  ||  a  l'ecreuisse. 

Im  N  bis  Nimegen,  im  O  bis  Pola,  im  S  bis  Pampelune,  im  W  bis  zum  Meer. 
Die  Zeichnung  stimmt  zu  Ortelius,  theatrum  1570  nr.  9,  nur  reicht  sie  im  O  weiter.  Im 
gewellten  Meer  Schiffe.  Trapezf.  Proj.  Unten  150—37«,  1°  =  35  mm,  oben  (12VJ0) 
13«— 400,  P  =  28  mm;  links  und  rechts  (417^»)  420— 51  (»/,)»,  jo  ^  47  mm. 
Meilenmaßstab  am  linken  Hand  im  Meer,  ohne  Beischrift,  3  Teile  =  56mm. 
Paris — Antwerpen  (310  km)  =  188  mm.    P.— Toulon  (695  km)  =  350  mm;    Lyon 

—  Genf  (110  km)  =  84  mm;  L.  — Turin  (230  km)  =  172  mm;  Bayonne  —  Basel 
(835  km)  =  470  mm ;  Marseille  —  Ronen  (760  km)  =  385  mm.  Die  Karte  ist 
bisher  nur  aus  Ortelius,  theatrum  1570  nr.  9  und  dem  catalogus  auctorum  (Joannes 
Joliuetiis  Oalliam,  Parisüs,   apud  Oliuerium  Truchetum  1560)  bekannt  gewesen. 

Breslau,  Stadtbibl.  La.  7.  Auf  Leinewand  gezogen,  bunt  mit 
breitem,  schwarzem  Rand, 

Litt. :  Denuce,  Oud-Nederlandsche  kaartmakers  I  1912,  54. 


40  W.  Rüge, 

47.  Petrus  de  NoWlibus,  Umgebung  von  Rom,  1560;  ca. 
1  :  300000. 

Kupferstich  auf  Papier.  Nach  NO  orientiert.  446  (443)  x 
319  mm.  Oben  in  der  Mitte  in  verziertem  Rahmen :  PAESE  DI 
ROMA.  Unten  rechts  unter  dem  päpstlichen  Wappen :  1560.  Am 
untern  Rande  der  Karte :  Petri  de  Nobilibus  Formis. 

Inhalt  =  oben  nr.  39.  Im  punktierten  Meer  viele  kleine  Schiffe  und  ein  Un- 
geheuer. Meilenmaßstab :  Cinque  migla  (1)  =  28  mm.  Die  oben  nr.  39  angege- 
benen Entfernungen  betragen  hier  443,  515,  225  mm. 

Breslau,   Stadtbibl.    Gb.  162. 

48.  Tilemannus  Stella,   Mitteleuropa,  1560;   ca.  1:4  Mill. 
=  I.  Ber.    nr.  49  mit  folgenden  Abweichungen:    367  (368)  x 

543  (540)  mm,  kreisförmige  Umrahmung  285  x  297  mm.  Der  Titel 
oben  ist  folgendermaßen  geschrieben :  Die  gemeine  Landtaffel  des  jj 
Deutschen  Landes/  Etwan  durch  Herrn  ||  Sebastianum  Münsterum 
geordnet/  nun  aber  vernewert  vnd  ||  gebessert/  Durch  Tilemannum 
Stellam  von  Sigen.  Unten  steht :  Dem  Durchleuchtigen  vnd  Hoch- 
gebor=  ||nen  Fürsten  vnd  Herrn  /  Herrn  Johann  Albrechi||ten  Hertzogen 
zu  Meckelnburg/  Fürsten  zu  Wenden/  ||  Grrauen  zu  Schwerin/  der 
Lande  Rostock  vnd  Stargard  ||  HErrn/  seinem  Gnedigen  Herrn/  hat 
diese  LandtaiFel  ||  Dedicirt  Tilemannus  Stella  von  Sigen/  im  Jar  1560. 
Berlin,  Kgl.  Bibl.    L  20. 

49.  Martinus  Helvigius,    Italien,  1561;   ca.  1:2250000. 
Holzschnitt  auf  Papier.  Nach  N  orientiert.    517  (488)  x  333  mm. 

In  der  Mitte  unten  in  einfachem  Rahmen:  MARTIN VS  HELVI- 
GIUS Lectori  S.  D.  ||  VEteris  Italiae  situm  hac  Tabula  Ptolo»  || 
maeus  depinxit  in  opere  suo.  Estqj  haec  ||  Sexta  Europa  tabula. 
Hanc  nos  in  gratiä  stu-||diosae  iuuentutis  seorsim  excusam  edi- 
mus  ....  Tu  Lector  vale,  &  hac  tas||bula  fruere.  Datum  Vratis: 
ex  Schola  MaHlgdalaea.  Die  S.  Martini  Episcopi.  Anno  ||  CHRISTI. 
M.  D.LXI.  II  Excusa  Vratislauiae  in  Officina  Crispini  Scharffenbergij. 
Unten  rechts  ein  Monogramm  GWR,  darüber  1561,  darunter  Men. 
Nouembr. 

Italien  in  ptolemäischer  Zeichnung.  Tiber  und  Arno  hängen  nicht  zusammen. 
Im  N  Alpen,  im  W  Niceae  (Nizza),  im  S  die  Nordostspitze  von  Sizilien,  im  O  die 
Südostspitze  von  Italien.  Trapezf.  Proj.  Unten  und  oben  (28")  29"— 43°,  unten  1°  = 
85  mm,  oben  =  82  mm;  links  und  rechts  (88°)  39°  — 45«  (46«),  1°  =  44  mm. 
Rechts  vom  Titel  Meilenmaßstab:  5,  10  ...  30  Germanica,  20,  40  .  .  .  120  Italic« 
=  je  90  mm;  Genua— Tarent  (810km)  =  423  mm  ;  Rom— T.  (425  km)  =  198mm; 
Venedig— Ancona  (225  km)  =  88  mm ;  Rom— A.  (220  km)  =  90  mm. 

Breslau,    Stadtbibl.    Ga.  2. 

Litt. :  Heyer,  Zeitschr.  d.  Vereins  f.  Geschichte  und  Altertum 
Schlesiens  XXIII,  1889,  196. 


Aelteres  kartographisches  Material  in  deutschen  Bibliotheken.  41 

50.  Martinas  Ilelwig,   Schlesien,  1561 ;   ca.  1 :  550  000. 
Holzschnitt  auf  Pergament,    4  Blatt.    Nach  S  orientiert.    723 

(720)  X  566  mm.  Oben  rechts  in  verziertem  Rahmen :  Dem  Edlen 
Erennesten  vnd  Kamhafftigen  Herrn  Niclas  Rehdinger  des  Rathes 
vnd  II  Camerer  zn  Breßlaw/  entpent  Martinas  Helwig  von  der  Neiß/ 
seinen  dienst.  ||  ES  sindt  diese  zeit  Namhafftiger  Herr/  viel  vn 
mancherley  Tafeln  außgangen/  dar*  ||  durch  viel  Hochberümbte  Edle 
Lender/  auch  frembde  wilde  Barbarische  nuh  ans  ||  licht  gebracht 
vn  kündig  worden/  Darnmb  es  nicht  ein  wenig  zu  norwunön,  das 
jnn  so  II  langer  zeit  vnser  liebes  Vaterlandt  Schlesie  so  gar  hindan 
gesetzet  vn  vortunckelt  bliebe^  ||  .  .  .  .  Greben  inn  Breßlaw  den 
14.  Septemb.  jm  1561,  Jar.  Darunter  in  der  Verzierung  des  Rah- 
mens: H  KRÖN.  Am  untern  Rand  in  einfach  verziertem  Rahmen : 
Mit  Rö.  Kay.  Ma,  befreyung  ||  jm  Römischen  Reich  nit  nach  ||zu- 
drucke/  Auch  mit  besonderm  ||  Priuilegio  der  Cron  zu  Beh*||men 
aufF  Zehn  Jar,  ||  Zur  Neiß/  bey  Johan.  Creutzig,  Die  Jahreszahl 
1561  steht  auch  noch  auf  dem  südwestlichen  Blatt  unter  der  rechten 
Ecke  des  Titelrahmens. 

Im  N  bis  Peisern,  nördlich  von  BRESLAW,  im  O  bis  Schedlitz,  nördlich 
Ton  Sathor  am  VISTVLA-  FLV-,  im  S  bis  FÖNS  ODERAE,  im  W  bis  BAVDZE. 
Die  Zeichnung  ist  im  allgemeinen  gut.  Um  das  Ganze  eine  Zierleiste  mit  Wappen. 
Gradangaben  am  Rande.  Unten  (N)  42«  28'— <37»)  33',  1»  =  124  mm;  oben  (S) 
42°  26'— (370)  37/^  xo  ^  124— 128  mm;  rechts  und  links  (49")  48'— 52<»  13',  1»  = 
200  mm.  Oben  in  der  Mitte  Kompaß  mit  östlicher  Mißweisung.  Breslau  — 
Bautzen  (180  km)  =  324  mm;  Br. — Neiße  (73  km)  ==  144  mm;  Br. — Ctenstochau 
(149  km)  =  290  mm. 

Breslau,   Stadtbibl.,  in  einem  Rahmen, 

Publ,  (nach  einem  späteren  Nachdruck) :  Breslau  1889,  H,  Lesser, 
Litt. :    Heyer,   Ztschr.  d.  Vereins  f.  Greschichte  und  Altertum 
Schlesiens  XXIII,    1889,    177.   —   Katalog   der   Ausstellung    des 
XIU,  deutschen  Greographentages  zu  Breslau  1901,  21. 

51.  Joannes  Franciscus  Camocias,  Lombardei,  1560,  1562; 
ca,  1:625000, 

Die  Karte  stimmt  mit  dem  111.  Ber.  nr,  29,  26  überein,  nur  steht  hinter  dem 
letzten  Wort  Formis  in  der  linken  Ecke  noch  1562,  und  die  sich  schneidenden 
Linien  fehlen. 

Breslau,  Stadtbibl.     Grh.  65. 

53.    Anonymus,   Belgien,  1563;  ca.  1:860000. 

Die  Karte  stimmt  mit  IV.  Ber,  nr.  89,  22  völlig  überein,  nur  trägt  sie  die 
Jahreszahl  M.  D.  LXIII. 

Breslau,   Stadtbibl.     Pc.  3. 

53.    Camocius,   Großbritannien,  1563;    ca.  1:3  Mill. 
Kupferstich  auf  Papier,   Nach  N  orientiert.  341  (339)  x  470  mm. 


42  W.  Rüge, 

Oben  links  ohne  Rahmen :  BRITANNIA  •  INSVLA  •  QVAE  •  DVO  •  !| 
REGNA  •  CONTINET  •  ANGLIAM  •  ET  •  SCO||TIAM  •  CVM  •  HI- 
BERNIA  •  ADIACENTE.  Links  am  Rande  ohne  Rahmen:  H[- 
BERNIA  Insula  non  löge  a  Britans||nia  in  Oceano  sita  ..... 
Am  unteren  Rande  in  einfachem  Rahmen :  BRITANIA  Insularum 

in  Europa   existentium   maxi=||ma Am   Ende:    CVN  (!) 

PRIVLEGIO  (!)  SVMI  PONTIEICIS  (!)  MDLXIII  ||  VENETIIS, 
EX  CAMOCII  FORMIS. 

Inhalt  =  III.  Ber.    nr.  29,  8. 

Breslau,   Stadtbibl.     Ka.  5, 
Anderes  Exempl. :   Brit.  Museum. 

Litt. :  Reinhard,  Zur  Entwickelung  d.  Kartenbildes  d.  Britischen 
Inseln,  1909,  88. 

54.  Orontius  F(iuaeu8),  Frankreich,  1563;   ca.  1:3700000. 

Die  Karte  stimmt  bis  auf  die  Jahreszahl  MDLXIII  völlig  mit  HI.  Ber.  nr.  29, 10 
Oberein;  man  kann  deutlich  erkennen,  daß  die  beiden  letzten  Striche  nachträglich 
angefügt  sind. 

Breslau,   Stadtbibl.    La.  8. 

55.  Paulus  Forlani,   Holland,  1563;   ca.  1:470000. 
Kupferstich   auf  Papier.     Nach  N  orientiert.     371  x  476  mm. 

GELRI^  CLIVIiE||IVLI^,NEC  NON||ALIARVM  REGI-||ONVM 
ADIACE||NTIVM  NOVA  ||  DESCRIPTIO  ||  ANNO  MDLXIII.  |l 
VENETIIS.  II  Apud  Joannem  Franciscum  Camociü.  ||  Pauli  Forlani 
Veronensis  incidente. 

Inhalt  =  I.  Ber.  nr.  53,  wo  die  Zahl  67  mm  für  die  milliaria  magna  in 
71,5  mm  zu  ändern  ist. 

Breslau,   Stadtbibl.    Pb  42. 

56.  Joannes  Petrus  Contareni,  Europa,  1564;  ca.  1 :3V2MilI. 
Kupferstich   auf  Papier.     Nach  N   orientiert.     16  Blatt   in   4 

Reihen  übereinander.  1710  X  1270  (1264)  mm.  Oben  links  auf 
Bl.  1  in  reich  verziertem  Rahmen:  VENETIIS  ||  M  •  D  •  LXIIII  || 
lOANNlS  PETRI  CONTARENI  ||  Elegantißima  totius  Europae, 
ac  partis  Asiae,  nee  ||  non  littorum  Africae  descriptio  jn  lucem 
nunc  edis||ta,  qui  non  sine  maximis  uigilijs  eam  ab  egre  ||giJ8 
Geographis  paßim  colligens,  et  jn  aere  post-||modum  jncisam 
studiosis  spectandam  praebuit.  ||  CVM  PRIVILEGIO  PER  AN- 
NOS  XV. 

Am  N-Rande  ein  Stück  GROTLANDIA  (das  N  steht  im  Spiegelbild);  im  O  die 
Hälfte  des  Kaspischen  Meeres  und  nördliches  Ende  des  Persischen  Meerbusens; 
im  S  Nordafrika  bis  zu  den  Syrten,  nur  von  der  östlichen  Syrte  fehlt  der  südlichste 
Teil;  im  W  Meer,  das  reihenweise  punktiert  ist  und  in  dem  ein  Schiff  fährt. 
Spanien ,  Frankreich ,  Skandinavien ,  das  Mittelmeer  zu  breit  W — O  ;  daher  läuft 
Italien  nach  OSO,    und    die   Rhone   von  NO   nach  SW.     Der  Rheinlauf  ist   gut. 


Aelteres  kartographisches  Material  in  deutschen  Bibliotheken.  43 

Spera  flu  (Spree)  mündet  in  die  Ostsee.  Viel  Hügelreihen,  Flüsse,  Orte.  Gradangaben 
am  Rande.  Unten  (die  Einteilung  reicht  im  W  über  den  Rand  der  eigentlichen  Karte 
in  den  Rahmen  hinein)  (7"  3O0  8«— 8P  (20');  1°  =  23,5  mm;  oben  (275o)  305° 
— 150°  (178"),  P  =:  6 — 7  nmi.  Von  305° — 150'  sind  die  ersten  Ansätze  der  Längen 
angegeben,  als  flach  gekrümmte,  fast  von  links  nach  rechts  laufende  Linien.  Dazu 
paßt  nun  gamicht,  daß  unter  66°  der  CIRCVLO  ARTICO  als  gerade  Linie  an- 
gedeutet ist.  Links  (29°  50')  30°— 80°  (30'),  1»  =  24,5  mm ;  rechts  (29°  45')  SO» 
— 80°  (25').  Außerdem  links  die  Tabelle  der  längsten  Tage.  Südlich  von  Italien 
eine  große  Kompaßrose  und  Scala  di  miglia,  30,  60  .  .  .  360  =  148  mm.  C.  Fi- 
nisterre— C.  Creus  (1025  km)  =  320  mm;  Gibraltar— C.  Cr.  (1000  km)  =  237  mm; 
Paris— Toulon  (695  km)  =  172  mm;  P.— Trier  (325  km)  =  121mm;  Gibraltar— 
C.  Spartivento  (1900  km)  =  622  mm ;  Genua— Tunis  (850  km)  =  248  mm.  Erwähnt 
wird  die  Karte  in  den  Zugangsverzeichnissen  der  Kunstkammer  in  Dresden  vom 
Jahre  1595 :  Mappa  totius  Europae  et  partis  Asiae  nee  non  litorum  Africae  per 
Joannem  Petrum  Contarenum  ao.  64  (Hantzsch,  Landkartenbestände  12)  und  eine 
Ausgabe  von  1572  in  dem  Epistulae  Ortelianae,  ed.  Hesseis,  nr.  170.  Bisher  war 
kein  Exemplar  bekannt. 

Breslau,  Stadtbibl.     Ea.  4. 

57.  Gerärdns  Mcrcator,   England,  1564;   ca.  1:943000, 
Kupferstich  auf  Papier.     8  Blatt.    Nach  W  orientiert.     1271 

(1267)  X  872  (S76)  mm.  Oben  in  der  Mitte  in  verziertem  Rahmen: 
ANGLIAE  SCOTIAE  ||  &  Hiberni^  noua  descriptio.  Unten  links 
ohne  Rahmen:  Absolutmn  &  ||  euulgatom  Days||burgi  anno  Do  ^ 
mini  1564.  Oben  links,  ebenfalls  ohne  Rahmen:  Com  gratia  & 
priuilegio  Regiae  ||  Maiestatis  per  Brabantiam  Flan*||driam  reli- 
quamq5  Germaniam  infe||riorem  ad  annos  6.  Unten  rechts  in 
verziertem  Rahmen:  Gerardus  Mercator  lectori  salutem  ||  Obtnlit 
mihi  candide  lector  amicas  qaidam  singnlaris  hanc  Britannicarum 
insulamm  descriptionem ,  multa  sane  diligentia  &  ||  summa  fide 
congestam,  rogans  vt  pro  nostro  modulo  concinnatam  in  multa 
exemplaria  diffunderem,  quod  cum  amico  denega»||re  nollem  .... 
eam  tibi  ||  qualem  accepi  exhibeo,  .... 

Britische  Inseln.  Ohne  Gradnetz.  Unten  in  der  Mitte:  Scala  miliarium  An- 
glicorum,  50  =  91  mm.  Südwestecke — Dower  (520  km)  =:  560  mm ;  Dunsbyhead 
— D.  (885  km)  =  923  mm. 

Breslau,   Stadtbibl. 

Publ. :  Drei  Karten  von  Gr.  Mercator.  Herausgeg.  von  der 
Ges.  f.  Erdk.,   Berlin  1891. 

Litt. :  Reinhard,  Zur  Entwickelung  d.  Kartenbildes  d.  Britischen 
Inseln,  1909,  101. 

58.  Donato  Bertelli,  Italien,  1565  (?);  ca.  1:2  Mill. 

Kupferstich  auf  Papier.  2  Batt  nebeneinander.  Nach  N  orien- 
tiert. 569  (564)  x402  (398) mm.  Oben  über  der  Karte:  ITALIA 
NVOVA.    Unten    in   verziertem  Rahmen:    Cedan  l'altrui   fatiche 


44  W.  Rüge, 

al  sador  nostro  ||  Poi  che  l'Italia  habbiam  ridutto  ä  tale,  ||  Che 
non  puo  diligente  opra  mortale  ||  Altrui  mostrarla  in  piu  lodato 
inchiostro  ||  AUa  libraria  de  l'Insegna  del  •  S  *  Marco  ||  Donato  Ber- 
telli  1B6IIII1  (!)  II  Domenego.  ^E.  F. 

Italien,  im  N  Trieste,  W  Nizza,  S  Catania,  O  Durazzo.  Die  Halbinsel  läuft 
von  WNW  nach  OSO.  Innenzeichnung  mit  Bergen,  Flüssen,  kleinen  Orts- 
vignetten. Im  gestrichelten  Meer  Schiffe  und  Ungeheuer.  Rechtwinkl.  Platt- 
karte. Unten  und  oben  (28»)  290—46»,  1"  =  31,5  mm;  rechts  und  links  (38») 
390—457,0,  10  =  ca.  53  mm.  Ohne  Meilenmaßstab.  Genua— Tarent  (810  km)  = 
441  mm;  Rom— T,  (425  km)  =  222  mm;  Venedig— Ancona  (225  km)  =  105  mm; 
Rom— A.  (220  km)  =  114  mm. 

Breslau,    Stadtbibl.     Ga.  4. 

Andere  Exempl. :  Vgl.  Br.  Mus.  I  2020 :  Italia  Nuova  .... 
(By)  D.  Bertelli,  (Venice)  1558.  —  Another  copy,  with  date  altered 
to  1569. 

59.  Ferando  Berteli,  Österreich  -  Ungarn,  1565;  ca.  1 :  IV« 
Mill. 

Kupferstich  auf  Papier.  Nach  N  orientiert.  433  (429)  x  266 
(271)  mm.  Oben  in  einfach  verziertem  Rahmen:  AVSTRIA  E 
VNGARIA  NOVA  DESCRIPCIO.  Unten  rechts,  ohne  Rahmen: 
Ferando.  berteli.  exe.  1565. 

Die  Karte  deckt  sich  inhaltlich  fast  völlig  mit  IV.  ßer.  nr.  90,  60. 

Breslau,    Stadtbibl.     Na.  5. 

Anderes  Exempl. :  Madrid ,  Bibl.  nacional  ("Wieder ,  Neder- 
landsche  hist.-geogr.  documenten  in  Spanje,  1915,  154). 

60.  Ferando  Berteli,  Weltkarte,  1565;   ca.  1:45  Mill. 

734  X  403  mm.  Links  unten  steht  nur  Ferando  berteli  Exe. 
1565  (die  letzte  5  ist  aber  unklar).  Möglicherweise  ist  der  Name 
Forlani  oben  darüber  abgeschliffen,  man  sieht  noch  einen  Strich. 
Sonst  stimmt  alles  zum  I.  Ber.  nr.  67,  1. 

Breslau,   Stadtbibl.     aa.  28. 

61.  Au^ustin  Hierssfogel,  Ungarn  u.  s.w.,  1565;  ca.  1:350000. 
Holzschnitt  auf  Papier.     12  Blatt   in  3  Reihen   übereinander. 

Nach  S  orientiert.  1507  (1496)  x  802  mm.  Oben  querüber  NO\A 
ET   HACTENVS   NON   VISA   REGNORV    ATQVE   PROVIN- 

-GEL 
TIARW  PER  A/GVSTl  HIRSFO- DESCRIPTIO  •  Oben  links 
in  verziertem  Rahmen:  Zu  Ehr  der  Römischen  zu  Hungern  vnd 
Behaim  Kün.  May.  ||  Ertzhertzogen  zu  Osterreich  Ist  dise  Carta 
der  künigreich  ||  Fürstenthumb  /  Grafschafften  /  Herrschafften  /  vnd 
Landen  ||  hungern  /  Bossen  /  Crabaten  /  Dalmatien  /  windisch  lande.  || 
Siruey-Steir    darinnen   die  Fürstlich  Graffschafft   Cilly  ||  gelegen. 


Aelteres  kartographisches  Material  in  deutschen  Bibliotheken.  45 

Kemdten.  Crain.  vnd  seine  anraychenden  Herrschafften  windisch 
marck,  Metling,  Mitterburg.  ||  Karst  vnd  Görtz.  Auch  Isterreich 
so  vil  zu  gelegenheyt  der  Gränitz  diser  Christenlichen  Land  vnnd  1 
Teuscher  Nation  gegen  dem  Tyrannen  dem  Tiireken  vnd  seiner 
gegen  Gränitz  von  neten  zu  grundt  ||  vnd  mererm  verstandt  des 
Mors.  Gepürgs  vn  paß  durch  die  sein  täglich  einfell  beschehen. 
Allem  Kriegß||wesen  nützlich  vnd  fürdersam.  Durch  Augustin 
Hierßfogel  verfaßt  vnd  zusamen  tragen  worden.  Unten  links  in 
einfachem  Rahmen:  Gedruckt  zuNürmberg/  durch  ||  Hans  Weygel/ 
Formschneider/  beim  ||  Sonnen  Bad.     Im  jähr.  1565. 

Inhaltlich  und  der  Zeichnung  nach  deckt  sich  die  Karte  mit  Ortelius,  theatrum 
1570  nr.  41 ;  nur  reicht  sie  im  O  weiter.  Im  S  bis  Sara  (Zara),  im  W  bis  VILLACH, 
im  N  ungefähr  bis  zum  FL.  DRAG.  Etwas  grober  Schnitt.  Das  Bergland  stark 
markiert,  die  Flüsse  ganz  besonders  bunt.  Wälder,  Ortsvignetten.  Viel  Wappen. 
Ohne  Gradangaben.  Unter  dem  Titel  links  oben  Meilenmaßstab :  1,  2,  .  .  >  18  = 
385  mm,  aber  ohne  Beischrift.  Villach — Zara  (300  km)  ^  727  mm  ;  V. — Marburg 
a./Drau  (140  km)  =  484  mm;  Zara  —  M.  (275  km)  =  688  mm.  Die  Karte  war 
bisher  nur  aus  Ortelius,  theatrum  und  dem  catalogus  auctorum  bekannt  und  galt 
als  verschollen. 

Breslau,    Stadtbibl.     Rolle  43. 

Litt, :  Oberhummer  und  v.  Wieser,  Die  Karten  des  W.  Lazins, 
1906,  19.  53. 

63.  Joannes  Franciscas  Camotins ,  Friesland,  1566 ;  ca.  1 : 
400000. 

Kupferstich  auf  Papier.  Nach  N  orientiert  371  (368)  x 
461  mm.  Unten  links  in  verziertem  Rahmen:  FRISIAE  AN- 
TIOVISSIMAE  (!)  ||  TRANS  RHENVM  PROVINC  ||  ET  ||  ADIA- 

CENTIVM  REGIONt  ||  NOVA  ET  EXACTA  ||  DESCRIPTIO  JI 
VENETIIS  II 10:  FRANCISCI  CAMOHITn  FORMIS  AD  ||  SIG- 
NVM  PIRA.piDIS  II  -L  M  o.  D  ^  LXVI  o. 

Inhalt  =  UI.  Ber.  nr.  29,  17. 

Breslau,  Stadtbibl.     Pb.  22. 

Litt.:    Denuce,  Oud-Nederlandsche  kaartmakers  I  1912,  57. 

63.    Giacomo  Castaldi,  Donaugebiet,  1566;    ca.  1:1700000. 

Kupferstich  auf  Papier.  Nach  N  orientiert.  3  Blatt  neben- 
einander ;  das  2.  und  3.  =  I.  Ber.  nr.  67,  27  a.  29.  Ich  beschreibe 
hier  nur  das  1 .  Blatt.  336  (326)  x  498  (499)  mm.  Unten  in  der 
Mitte  in  einfachem  Rahmen:  Opera  de  M.  Giac.™°  Castaldi  Pia- 
montese  Cosmografo  in  Venetia  ||  Disegno  particolare  de  Regni, 
e  Regioni,  che  son  da  Venetia,  a  ||  Costäftnopoli,  et  da  Costan- 
tinopoli,  a  Vienna,  d'Austria,  et  da  ||  Vienna,  a  Praga  Citta  regal 
di  Boemia,  et  alla  Citta  regal  di  i|  Polonia,  et  altri  paesi  fuori  de 


46  W.  Rüge, 

detti  aiaggi,  come  si  uede  di=||stintamente  nel  disegno.  Darunter 
außerhalb  der  TJmraliinung:  Da  Paolo  Furlani  Veronese  intagliata 
con  diligentia  in  merzaria  al  scgno  della  Colona. 

Im  N  bis  Vratislaiiia,  im  W  bis  Landau  am  Isera  f.,  im  S  bis  Ancona. 
Trapezf.  Proj.  Gradangaben  am  Rande.  Unten  (33"  32')  34"— 41»  (3'),  1°  =  44,5  mm; 
oben  (320  35')  33«— 40»  (36'),  10  =  40,5  mm;  links  (43«)  44"— (50°  48')  5P,  l«  = 
63,5—64,5  mm.  Im  COLFO  DI  VENETIA  eine  16  strahlige  Kompaßrose.  Über 
dem  Titel:  Scala  di  miglia  jtaliani,  10,  20  ...  50  =  44,5  mm.  Linz  —  Wien 
(156  km)  =.  82  mm;  Fiume— W.  (355  km)  =  176  mm. 

Breslau,  Stadtbibl.     Nb.  3  und  3  a. 

Litt. :  Grande,  notizie  63.  —  Marinelli,  nr.  539. 

64.  Jacomo  Gastaldo,  Piemont,  1566;  ca.  1:400000. 
Kupferstich  auf  Papier.     Nach  N   orientiert.     487,6  (488,5)  x 

369  (367)  mm. 

Die  Karte  ist  =  IV.  Ber.  nr.  89,45,  bis  auf  die  Jahreszahl:;  Ma.D_uLXVI, 
der  man  die  Korrektur  ganz  deutlich  ansieht.  Außerdem  steht  davor:  VENETIIS, 
imd  unten  innerhalb  des  Rahmens:  Exe.  Camotij  formis. 

Breslau,  Stadtbibl.    Gb.  40. 

Andere  Exempl.:  Lafreri  nr.  56.  —  Br.  Mus.  I  52,  647,  1497; 
II  2807,  3034,  3287,  3291,  4111.  —  Supplem.  Archiv©  stör.  Lorab. 
II  1901,  2. 

Litt.:  Grrande,  notizie  60,  wo  aber  der  Titel  der  Karte  in 
vielen  Einzelheiten  ungenau  angegeben  ist. 

65.  Oroiitius  Finaeus,  Weltkarte,  1566;  ca.  1:5100000. 
Kupferstich  auf  Papier.    Nach  N  orientiert.    Innenumrahmung 

des  Blattes  584  (582)  x  515  (517)  mm.  Die  größte  Breite  der 
eigentlichen  Karte  W — 0  445  mm,  Nordpol — Südpol  392  mm.  Oben; 
Cosmographia  uniuersalis  ab  Orontio  olim  descripta.  Oben  links 
auf  einer  von  einer  Figur  gehaltenen  Tafel:  lOANNES  ||  PAV- 
LVS II  Cimerlinus  1  VERONE  ||  SIS  ||  in  aes  ||  incidebat  ||  ANNO  ||  1566. 
Unten  links  auf  der  Vorderseite  eines  Altars:  111"»**  Viro  Henrico 
Dno  Matreuors,  &  ||  Comiti  Arandelliae  etc.  Duo  suo  Colendißo.  |j 
Tunc  bene  instituti  homines  fuisse  mihi  uidentur  ....  Vale  ||  Tuq 
amplitudinis  deditiß^  ||  Jo :  Paulus  Cimerlinus  Veronen.  Unten  I  P,  c 
=  Jo.  Paulus  Cimerlinus. 

Weltkarte.  Asien  und  Amerika  hängen  zusammen,  20"  N  der  Scheitelpunkt 
der  Küste.  In  Südamerika:  AMERICA.  In  Nordamerika  kein  Oesamtname,  die 
asiatischen  Namen  reichen  sehr  weit  nach  O.  An  der  Westküste  von  Südamerika 
Cärtigora.  Südostasiens  Darstellung  ptolemfiisch  beeinflußt.  Am  Nordpol  Inseln, 
am  Südpol  großer  Kontinent,  TERRA  AVSTRALIS  NVPER  INVENTA ,  SED 
NONDVMPLENEEXAMINATA.  Zwei  Vorsprünge,  bis  25»  S  reichend,  REGIO 
PATALIS  und  BRASILLIE  REGIO.     In  Südamerika  BRASILIA.     Herzförmige 


Aelteres  kartographisches  Material  in  deutschen  Bibliotheken.  47 

Proj.;  10:10''  ausgezogen,  10°  =  19 — 20  mm  am  0"  gemessen.     Reichlicher  Bild- 
schmuck hemm. 

Breslau,    Stadtbibl.     Aa.  30. 

Andere  Exemplare :  ßrit.  Mus.  I  817,  II  4544.  —  Madrid.  Bibl. 
d.  Königs  (Bol.  soc.  geogr.  Madrid  XXVI  1889,  375).  —  Wien, 
Hauslab  -  Liechtensteinsche  Bibliothek  (Mitteil.  d.  k.  k.  geogr.  Gres. 
Wien  1886,  388).  —  Lafreri  nr.  4. 

Publ. :  F.  A.  S.  89. 

66.  Paulo  Forlani,  Griechenland,  1566;  ca.  1 :  2Vj  Mül. 

Kupferstich  auf  Papier.  2  Blatt  nebeneinander.  Nach  N  orien- 
tiert. 613  (611,5)  X  399 mm.  Oben  querüber:  TOTIVS  GRAE- 
CIAE  DESCRIPTIO.  Unten  links  in  verziertem  Rahmen :  CAN- 
DIDO  LECTORI  •  S  •  ||  QVA  diligentia  nouae  huius  Graeciae  choro- 
graphia,  II  aliarumq^nonnullarumadiacentiumregionum,  insularumq$|| 
descripta  sit,  ipsa  tabella  ostendere  poterit,  si  cum  alijs  hactenus  i: 
impreßis  conferre  non  grauaberis  ....  Vale.  ||  VENETIIS  ||  lo.  Fr. 
Camocij  aereis  formis  ad  signum  ||  Pyramidis.  ||  M-i_D-i_LXVI-i-  || 
Paulo  forlani  Veronese  fecit. 

Balkanhalbinsel  im  N  bis  Mesebria,  im  O  bis  zur  Linie  Annena — Magidus, 
im  S  ganz  Kreta,  das  aber  zu  nördlich  liegt,  im  W  bis  Taras.  Im  punktierten 
Meer  Schiffe  und  Ungeheuer.  Nur  Breitenangaben  am  linken  Band  (33'  55') 
35"— (44°  55')  45",  1°  =  36,5  mm.  Unten  rechts  Meilenmaßstab:  Migliaria  20, 
40  .  .  .  100  =  64,5  mm ;  Stadia  200,  400  ..  .  1000  =  73,5  mm.  Konstantinopel— 
Saloniki  (510  km)  =  200  mm ;   K.— Athen  (565  km)  =  230  mm. 

Breslau,  Stadtbibl.     Hc.  5. 

67.  Vincentias  Lnchinus,   Schweiz,  1566;   ca.  1:720000. 

Kupferstich  auf  Papier.  2  Blatt  nebeneinander.  Nach  N  orien- 
tiert. 565  (579)  X  400  mm.  Unten  links  in  verziertem  Rahmen: 
Jodoco  ä  Meggen  Lucernati  Praetorianorum  Praefecto  ||  Heluetios 
olim  uir  clariss.  nuc  (!)  Suiceros  Gallorum  gentem  bellicosissimam 
fuisse  ....  Am  Ende  steht:  Venetijs  Anno  1566.  Apud  Vin- 
centius  (!)  Luchinus  (!). 

Inhalt  =  III.  Ber.  nr.  29,23,  nur  reicht  die  Karte  im  W  nicht  ganz  so  weit, 
Gratianopolis  fehlt.  Auch  die  Art  der  Zeichnung  ist  dieselbe.  Ohne  Gradangaben. 
Unter  dem  Titel:  Miliaria  Eluetiae  1,  2,  3  ...  .  10  =  79  mm.  Mailand— Basel 
(265  km)  =  360  mm ;  Genf— Leuk  (der  Ort  hat  keinen  Namen)  (115  km)  =  172  mm ; 
Bern — Schaffhausen  (125  km)  =  166  mm. 

Breslau,  Stadtbibl.    Oa.  3. 

68.  NIcolads  Stopius,  Afrika,  1566;    ca.  1 :  19  Mill. 

Die  Karte  stinmit  bis  auf  die  Jahreszahl  völlig  mit  IV.  Ber.  nr.  87.36 
überein. 

Breslau,   Stadtbibl.     Ca.  8. 
Litt.:  Periplus  130. 


4S  W.  Rüge, 

69.  Mathias  Zündt,   Ungarn,  1567;  ca.  1:750000. 

Kupferstich  auf  Papier.  6  Blatt,  die  nicht  ganz  genau  an- 
einander passen,  in  2  Reihen  übereinander.  Nach  N  orientiert. 
870  X  502  (495)  mm.  Oben  querüber :  Neuwe  vnd  Gründtliche  be- 
schreibunge  Des  Ganczen  Kunigreichs  Hangern  mit  den  Anstossenden 
Landen.  Unten  in  verziertem  Rahmen:  NOVA  TOTIVS  VNGARI^ 
DESCRIPTIO  ACCVRAHITA  ET  DILIGENS  DESVMPTA  EX 
PLVRIBVS  ALIORUM  ||  EDITIS  COSMOaRAPHICIS  CHARTIS 
ET  TYPIS  ^REIS  IN*  ||  CISA  A  MATTHIA  CYNTHIO  NORIM- 
BERGENSI  ANNO  ||  A  CHRISTO  NATO  •  M-D'LXVII.  ||  Ein 
Neuwe  warhafftige  beschreibung  Des  ganczen  Vngerlandts  mit 
Sunderem  ||  fleyß  aufs  Anderen  LanthafFeln  Zu  samen  gebracht 
vnnd  in  druck  ver||ferttiget  durch  Mathias  Zündten  Zu  Nörm- 
berg.  II  Im  Jar  nach  Christi  geburt  ||  •  1567  •  ||  Cum  gratia  &  Priui- 
legio  sacrae  Caesareae  Maiestatis. 

Im  N  bis  Fontes  Tibisci  (Theisquelle),  im  O  fast  bis  zur  Mündung  des- 
Aluta,  im  S  ein  wenig  über  den  SAVW.  FLV.  hinaus,  im  W  bis  Stockraw,  ober- 
halb Wien.  Das  Donauknie  bei  Woczen  nicht  scharf  genug.  Viel  Bäume,  Städte- 
bilder ,  kämpfende  Heere.  Auf  Blatt  2  eine  Kompaßrose ;  danach  ist  die  Karte 
nach  NO  orientiert.  Ohne  Gradangaben.  Unten  Germanica  Milia,  und  zwar  mit 
2  Skalen,  die  eine  mit  8,  die  andere  mit  6  Teilen,  deren  jeder  wieder  in  4  Unter- 
abteilungen zerlegt  ist;  beide  Skalen  81  mm,  ohne  Beischrift.  Wien — Ofen  (220  km) 
=  325  mm;  W.  —  Peterwardein  (426  km)  =  605  mm;  Szegedin— P.  (115  km)  = 
135  mm. 

Breslau,  Stadtbibl.     Nc.  5  und  5*. 

Litt.:  Oberhummer  u.  v.  Wieser,  die  Karten  des  W.  Lazius, 
1906,  46,  wo  der  Titel  der  Karte  nicht  ganz  genau  angegeben  ist. 

70.  Johannes  Franciscns  Camotius^  Europa,  1568 ;  ca.  1 :  12 
Mill. 

Kupferstich  auf  Papier.  Nach  N  orientiert.  375  (377)  X  269 
(266)  mm.  Unten  links  in  verziertem  Rahmen:  EVROPAE 
BREVIS,  AC  NOVISSIMA  ||  DESCRIPTIO  •  ||  VENETIIS.  Apud 
Johannem  Fran™  Camotiü.  ||  M .  D .  LXVIII.  ||  Cum  Priuilegio. 

Im  N  bis  zur  südlichen  Hälfte  von  Skandinavien;  im  O  bis  zum  Ostende 
des  Schwarzen  Meeres,  im  S  ein  Streifen  von  Nordafrika,  im  W  bis  zum  Meer. 
Roher  Stich  mit  schlechter  Zeichnung,  das  Mittelmeer  ist  W— O  zu  groß.  Im 
punktierten  Meer  Schiffe  und  Ungeheuer.  Rechtwinklige  Plattkarte  (?).  Unten 
5o_65o  0,  5°  =  31mm;  oben  ebenso  große  Teile  abgeteilt,  aber  nicht  numeriert; 
Imks  und  rechts  SO"— öö^N,  5"  =  48  mm.  Ohne  Meilenmaßstab.  C.  Finisterre— 
C.  Creus  (1025  km)  =  81mm;  Gibraltar  — C.  Cr.  (1000  km)  =  69  mm;  Paiis— 
Toulon  (695  km)  =  46  mm;  Gibraltar— Spartivento  (1900  km)  =  158  mm  ;  Genua 
—Tunis  (850  km)  -^  67  mm. 

Breslau,  Stadtbibl.     Ea.  6. 

Andere  Exempl.:   Triest,  Lloyd  (Mitteil.  d.  k.  k.  geogr.  Ges. 


Aelteres  kartographisches  Material  in  deutschen  Bibliotheken.  49 

Wien,  XXXIV,  1891,  318).  —  Madrid,  Bibl.  nacional  (Wieder, 
ISTederlandsche  hist.-geogr.  docamenten  in  Spanje,  1915,  153). 

71.  Jacomo  Castaldo,  Polen,  1568;  ca.  1:3350000. 
Kupferstich  auf  Papier.     Nach  N  orientiert.     502  (505)  x  363 

(357)  mm.  Unten  links  der  Mtte  in  einfachem  Rahmen :  A  Benigni 
lettori.  II  Di 'M*  Jacomo  Castaldo  ui  si  rapresenta  ||  la  prima  parte 
della  descrittione  del  ||  Regno  di  Polonia,  con  la  sua  scala  di 
miglia  ||  jntagliata  da  Paolo  furlani  ueronese  al  segno  ||  della  Co- 
lonna.    Venetia  l'anno.    1568. 

Im  N  bis  zum  JTordende  des  Bottnischen  Meerbusens  und  Südende  des 
Weißen  Meers  (GOLFO  GRADVICH),  im  O  bis  Basilougrod  am  Volga.  f.,  im  S 
bis  Duneborg  (Dünaburg),  im  W  bis  Vender  lago  (Wettersee).  Flüsse,  Wälder, 
Berge,  Vignetten,  punktiertes  Meer.  Trapezf.  Proj.  Unten  (37»  50')  39°— 69", 
10"  =  160  mm;  oben  (317,«)  320—750,  10°  =  116  mm;  links  und  rechts  (59V,o) 
600—70(74)°,  100  =  330  mm.  Im  GOLFO  OSTERGOTHICO  eine  16  strahlige 
Kompaßrose.  Über  dem  Titel :  Scala  di  miglia  jtaliani,  20,  40  ...  80  ^  36  mm. 
Stockholm— Moskau  (1210  km)  =  333  mm;  Dünaburg— M.  (680  km)  =  141mm. 
1.  Ber.  nr,  67,  23  ist  das  südlich  anschließende  Blatt. 

Breslau,   Stadtbibl.     Me.  3. 

Andere  Exempl. :  Lafreri  nr.  34.  —  Br.  Mus.  II  3325. 

Publ. :  F.  A.   Fig.  79. 

Litt. :  Grrande,  notizie  65. 

72.  Oodefridus  Maschop,  Münsterland,  1568;  ca.  1:165000. 
Kupferstich   auf  Papier.     9  Blatt   in   3  Reihen    übereinander. 

Nach  0  orientiert.  1030  (1045)  x  795  (787)  mm.  Oben  in  der 
Mitte  in  einfachem  ßahmen:  REITERATA  EPISCOPATVS  ij 
MONASTERIENSIS  GEOaRA=||PHICA  DESCRIPTIO  CVI  |! 
ADDITA  EST  ET  OSNAH|BRVGENSIS  PER  GOD^IEFRIDV 
MASCHOP  II  EMBRICENSEM  ||  COSMOGRAH|PHVM  ||  Remigius 
Hogenbergus  Sculpsit.  Oben  rechts  in  einfach  verziertem  Rahmen: 
HEXRICVS  VRANIVS  RESSENSIS  AD  CANDIDVM  LECTO- 
REM.  Es  folgen  8  Distichen.  Unten  links  in  einem  einfachen 
Rahmen,  über  dem  ein  großes  Wappen  ist :  Reuerendiss :  Illu- 
strissimoq^  Principi  ac  ||  Domino  Domino  Joanni  e  Comitibus  j|  ab 
Hoya  Episcopo  Monasteriesis  !|  administratori  Osnabrugensis,  ||  po- 
stulato  paderbornesis  ||  Ecclesiarum  Bernardg  Mollerus.  Folgen 
19  Distichen.  Unten  rechts  in  verziertem  Rahmen:  Godefridus 
Maschop  Embri=||censis  ad  lectorem.  ||  Westphalia  ....  Schließt: 
Vale  10  Kai:  sep:  A^  1568. 

Die  Zeichnung  deckt  sich  mit  Ortelius  (theatrum  1570  nr.  24),  der  im  Catalogus 
auctorum  1570  als  Erscheinungsjahr  1558,  in  allen  späteren  Ausgaben  aber  richtig 
1568  angibt.    Im  O  bis  DVLMANHOEST  und  DIEFHOLT,  im  S  bis  zu  DE  LYP, 
Kgl.  Ges.  d.  Wiss.   Nachrichten.    Phüolog.-histor.  Klasse.    1916.    Beiheft.  4 


60  W.  Rüge, 

unterhalb  deren  Quelle  die  Stadt  LYP  liegt,  im  W  bis  BOICHOLT,  im  N  bis 
OLDENBORGH.  Ringsherum  eine  bunte  Zierleiste.  Ohne  Gradangaben,  unten 
rechts  Meilenmaßstab :  2  Mag,  2  C5,  3  Par  Miliaria  =  125,5  mm,  92  mm,  109  mm. 
Bocholt — Münster  (70  km)  =  445  mm;  Lippstadt— M.  (59  km)  =  344  mm;  Osna- 
brück— M.  (45  km)  =  265  mm.  Bisher  war  die  Karte  nur  in  der  Nachbildung 
bei  Ortelius  bekannt. 

Breslau,  Stadtbibl.  Rolle  32.  Die  Karte  ist  bunt,  die  ein- 
zelnen Gebiete  sind  verschieden  gefärbt,  sodaß  die  Deutlichkeit 
der  Zeichnung  und  Schrift  darunter  gelitten  hat. 

Litt. :  De  Vreese ,  Leekebijdragen  tot  de  geschiedenis  van 
Viaanderen  (K.  Vlaamsche  Academie  voor  taal-  en  letterkunde), 
1912,  116. 

73.  Joannes  und  Lucas  a  Duetecü ,  Holland,  1569,  ca.  1 :  250000. 
Kupferstich   auf  Papier.     6  Blatt   in   2  E-eihen   übereinander. 

Nach  N  orientiert.  864  (867)  X  817  mm.  Am  linken  Rand  von  Bl.  1 
in  reichverziertem  Rahmen:  IN  DESE  CAERTE  j|  is  beschreuen 
nae  der  conste  ||  der  Greographie  tgraefscap  vä  ||  HoUandt,  ende 
tlandt  van  ||  IJtricht  met  die  omleggen=||de  andere  Landen  daer 
ae=||stotende,  Oock  alle  niewe  ||  dijckaigien  aenwaßen  ende  ||  andere 
veranderinghen ,  ||  ....  Darunter:  Joannes  a  Duetecü  Lucas  a 
Duetecü  (|  fecerunt.  ||  Anno.  1569.  geprint  ||  in  HoUandt  in  des  || 
Grrauenhage  bij  mij  ||  Nicolaus  Liefrincx  ||  Voortstaede  op  die  Zale. 
Bl.  4  links :  Met  gratie  en  priuilegie  der  Coninclijke  Ma'.^  .... 

Im  N  bis  zum  Südende  des  DoUaert,  O  bis  NOORTHOORN  südlich 
davon,  S  bis  zu  den  Rheinmündungen.  Ein  feiner  Stich  mit  vielen  Einzelheiten, 
Wasserläufen,  Kanälen,  Wäldern,  Ortsvignetten.  Im  Meer  Schiffe.  Ohne  Grad- 
angaben. Im  ZVYDER  ZEE  eine  32  strahlige  Kompaßrose.  Am  linken  Rand 
von  Bl.  4  Meilenmaßstab:  Cleyne  Hollantsche  mylen,  1,  2  ...  6  =  131mm; 
Middelbare  Hollantsche  mylen  1,  2,  3,  4  =  110  mm;  Grote  Hollantsche  mylen 
1,  2,  3,  4  =  131mm.  Leyden — Dordrecht  (40  km)  =  158  mm;  Leyden — Utrecht 
(45  km)  =  178  mm;  Edam— U.  (46,5  km)  =  191  mm. 

Breslau,  Stadtbibl.  Pb.  5.  Auf  Leinewand  aufgezogen,  bunt 
mit  schwarzem  Rand  darum. 

Litt.:  Denucö,  Oud-Nederlandsche  kaartmakers  I  1912,  202. 

74.  Pyrrhus  Ligorius,   Belgien,  1569  (?);   ca.  1:860000. 
Kupferstich  auf  Papier.     Nach  N  orientiert.     487  x  370  ram. 

Unten  links  in  verziertem  Rahmen:  La  noua  &  uera  descrittion  j| 
della  Gallia  Beglica.  Unten  rechts:  DESCRIPTIO  TOTIVS  GAL- 
LI.^  BEL||GICiE  II  Pyrrho  Ligorio  Neapolit.  auctore.  ||  KOMM. 
M.  D.  LXVIIII  (oder  LXIIIIII?,  die  Striche  sind  nicht  genau  zu 
erkennen)  ||  Michaelis  Tramezini  formis.  Non  sine  Summi  ||  Pont, 
et  Veneti  Senatus  priuilegio  ad  decefiium  ||  Sebastianus  de  Regibus 
Clodiensis  incidebat. 


Aelteres  kartographisches  Material  in  deutschen  Bibliotheken.  51 

Zeichnung  und  Inhalt  =  IV.  Ber.  nr.  89,22.  Dag  Meer  ist  stark  gewellt. 
Meilenmaßstab  unten  rechts:  Mill.  Gallica.  ji  1,  2  .  ,  .  5  =  19,5  mm  |i  Pro  Bra- 
bantia  ij  Hannoniae  parte  et  ||  pro  Campinia  j|  5  Teile  !|  Pro  Flandria  occiden,  ||  Leodio 
Luxemburgo  e  Arduea  |j  5  Teüe  |j  Pro  inferiori  Germania  Campa«  li  nia  Cliuia  Guel- 
dria  jl  5  Teile  '' .  Die  Entfernungen  von  IV.  Ber.  nr.  89,22  sind  hier  425,  331,  260, 
164,  110  mm. 

Breslau,  Stadtbibl.     Pc.  4. 

Litt.:  Denuce,  Oud-Xederlandsche  kaartmakers  I  1912,  202. 

75.  Bartolemaeus  Scultetus,  Meißen  und  Lausitz  (1568)  1569 ; 
ca.  1:860000. 

Holzschnitt  auf  Papier.  Nach  N  orientiert.  356  (355)  x  261 
(259)  mm.  Oben  außerhalb  des  Randes  :  Tabula  chorographica  Mis- 
niae  &  Lusatiae  regionum.  ||  Landtaffel  der  Marggraffthümer  Meissen 
vnd  Lausitz/  sampt  den  Grrentzen  ||  anderer  anstossenden  Re- 
gionen: Darinnen  furnemlich  jre  Städte/  Schlösser/  Flecken  vnd 
Märckt  etc.  auch  die  Wasserflüß  /  Grebirg  vnd  ||  Wald  /  etc.  soviel 
dißmals  müglich  vnd  im  wissen/  ordentlich  begriffen/  mit  jren 
Orten  vnd  Stellen/  wie  sie  allesampt  von  vnd  gegen  j|  einander 
gestalt  vnd  gelegen  sind.  Außgangen  vnd  gedruckt  zu  Görb'tz 
M.  D.  LXIX.  Im  Maio.  Links  in  einfachem  Rahmen:  Dem  durch- 
leuchti*||gisten/  Hochgeborne  Fürsten  ||  vnd  Herrn/  Herrn  Au- 
guste /  Her||tzogen  zu  Sachssen,  des  heiHgen  j|  Rom.  Reichs  Ertz- 
marschalchen  ||  .  .  .  .  seinem  gnedigste  Herrn  ||  zu  sondern  ehren 
vnd  wolgefal^ljlen/  Jetzund  anf englich  vF  auffs  |j  new  beschrieben 
vn  zugericht.  |j  Durch  jrer  Chur.  F.  Gr.  vnterthe-jjnigsten  vnd  ge- 
horsamsten. I!  M.  Bartolemaeum  Scultetum  Gor.  ||  der  Geometrischen 
künsten  JI  liebhaber.  Unten  links  in  einfachem  Rahmen:  Epigr.  In 
Tab.  Misniae.  C.  M.  G.  L.  Dann  8  Distichen.  Über  dem  Meilen- 
maßstab links:  MENSE  \\  Martio;   rechts:  1568. 

Im  N  bis  Belitz,  nordöstlich  von  WITTENBERG,  im  O  bis  LAVBEN, 
östlich  von  GÖRLITZ,  im  S  bis  PRÄGE,  im  W  bis  Gothen  (Gotha).  Bunte 
Flüsse,  Wälder,  Berge,  Ortschaften.  Zeichnung  im  allgemeinen  gut.  Gradangaben 
am  Rande.  Trapezf.  Proj.  Unten  (280  15')  20'— 32«  30'  (34'),  1°  =  83  mm ;  oben 
(28°  9')  10'— 320  40'  (42'),  1°  =  78,5  mm;  links  und  rechts  (50°  6')  10'- 52°  (4'), 
l»  =  129mm.  Oben  rechts  Kompaß  mit  östlicher  Abweichung.  Unten:  SCALA 
MILLIARIVM  GERMANICORVM  ||  Grosse  meilen  17  =  165  mm  iJ  Kleine  meilen 
20  =  172mm.  Leipzig  —  Dresden  (100  km)  :=  101  mm;  Strehla  —  Joachimstal 
(112  km)  =  116  mm. 

Breslau,  Stadtbibl.     Sd.  3. 

Publ. :  Schmidt,  Kurfürst  August  von  Sachsen  als  Geograph, 
1898,  9.  —  Hantzsch,  Die  ältesten  gedruckten  Karten  der  sächs.- 
thüringischen  Länder,  1905,  Taf.  II.  Diese  Reproduktionen  sind 
aber  nach  einem  Abzug  von  den  noch  vorhandenen  Holzstöcken 
gemacht,  auf  denen  Titel  und  Inschriften  fehlen. 

4* 


52  W.  Rüge, 

76.  Petrns  Laickstcen  und  Chrlstianus  Sgrothenus,  Palästina, 
(1556)  1570;  ca.  1:288000. 

Kupferstich  auf  Papier.  9  Blatt  in  3  Reihen  übereinander. 
Nach  N  orientiert.  1084  (1083)  x  1034  mm.  Oben  in  der  Mitte 
in  bandartigem  Ornament:  Noua  descriptio  amplissimae  Sanctae 
Terrae,  quam  M'.  ||  Petrus  Laicksteen  Astronomus  perambulauit 
ac  visitauit.  ||  An^.  redetionis.  1556.  per  Christianum  Sgrothenum 
Eeg.  Ma*'^  Hispan.  etc.  ||  Geogräphum  collecta.  a*^.  1570.  Auf  dem 
6.  Bl.  in  reich  verziertem  Rahmen :  REVERENDISS.  IN  CHRISTO 
PATRI II  ET  ILLVSTRISS.  DOMINO.  ||  D.  OERARDO  A  GROIS- 
BEECK  EPISCOPO  ||  LEODIENSI,  DVCI  BVLLONENSI,  MAR- 
CEL ||ONI  ERANCIMONTANO,  COMITI  LOS=||SENSI,  ETC. 
SACR.  ROMAN.  IMPERH  ||  PRINCIPI,  OMNIVM  BONARV 
ARTIV  II  PATRONO.  i|  HIERON YMVS  COCVS,  ||  PICTOR,  DE- 
VOTIS'IISIME  DEDIHICABAT.  Unten  links  in  reich  ver- 
ziertem Rahmen:  M,  Petrus  Laicksteen  Astronomus  ||  Lectori  |[ 
Quamtü  (!)  Studium  et  laborem  in  his  finibus  amplissimae  Sanet". 
terr§  ||  peragrandis,  propter  veram  ac  solidam  rerum  et  locorum 
cognitionem  ||  assequendam   subiuerimus ,    facile    ij    ....  ||  ...  . 

agnoscere    possunt Porro   quem   admodü  ||  Sancte    Terr^ 

descriptionem  per  suas  locorum  certas  distantias  atque  i|  mensuras 
distinctam,  studio  nostro  et  labore  particulatim  quidem  ||  assequuti 
sumus,  ita  eandem  summatim  quasi  ex  vna  tabula  assequi  ||  prae 
iBgenij  tenuitate  non  valemus.  Quamobrem  hoc  totum  ||  negocium 
M.  Christiane  Sgrotheno.  Reg.  Ma^'^.  Hispan.  etc.  ||  Meli  Geograph, 
commisimus,  vt  hunc  nostrü  laborem  ex  vna  tabula  ||  colligeret 
.  ...  II  ...  .  Vale.  Darunter,  unter  dem  Maßstab:  Cautum  est 
Regio  Priuilegio  ne  quis  hanc  nouam  Sancte  Terr§  descriptio- ||ne 
pr^ter  Hyeronimum  Cock  hinc  ad  decennium  imprimat  sub  poenis  in 
eodem  indictus  (!)  ||  prout  latius  patet  in  literis  debite  super  eo  ex- 
peditis  Bruxellae  IX  die  ||  junij.  1570.  —  ||  Vander  Aa.  In  der  linken 
unteren  Ecke :  Joannes  ä  Duetecum  ||  Lucas  a  Duetecum.  Fecerunt. 
Unten  rechts  in  reich  verziertem  Rahmen  lange  Erklärung:  Pale- 
stinam  ....  Im  Toten  Meer  (LACVS  ASPHALTITES)  in  ein- 
fachem Rahmen :  Imprimö  en  Anuers  pres  ||  du  Pand  des  tapissiers, 
ä  II  l'enseigne  des  quatre  Vents,  ||  en  la  maison  de  Jerony^Hmus  Cocq. 

Palästina,  im  N  bis  feerithus,  im  O  bis  Mons  Arnon  im  NO  vom  Toten  Meer, 
im  S  bis  zum  südlichen  Teil  des  Toten  Meeres,  im  W  bis  zum  Meer.  Die  Richtung 
der  Küste  ist  gut.  Viel  Flüsse,  Jordanlauf  stark  gewunden.  Berge,  Ortschaften 
mit  kleinen  Vignetten,  Angabe  des  Wegs  der  Israeliten:  Via  per  quam  filij  Israel 
venerunt  ....  Im  fein  gewellten  Meer  viel  SchiflFe  und  einige  Ungeheuer.  Ohne 
Gradangaben.    Stundenmaßstab  unten  links:  HORiE  ITINERIS  1,  2 12  = 


Aelteres  kartographisches  Material  in  deutschen  Bibliotheken.  53 

159  mm.    Joppe — Jerusalem  (55  km)  =  204  mm;  Sidon — Gaza  (250  km)  =  870  mm; 
S.— Tiberias  (89  km)  =  291  mm. 

In  der  linken  oberen  Ecke  ist  eine  Spezialkarte,  die  in  kleinerem  Maßstab 
ein  größeres  Gebiet  umfaßt.  Nach  N  orientiert.  348  x  522  mm.  In  einem  Orna- 
ment, das  einem  aufgewickelten  Blatt  gleicht:  Candido  Lectori  ||  Quod  vastum  .... 
ünde  non  invtile  fore  putaui,  si  minorem  ||  hanc  Tabulam  tanquam  subsidiariam, 
maiori  |[  isti  adderem ,  in  qua  descriptionem  Sancte  Terr§  |j  integre  quidem  sed 
angustiori  spacio  repetiuimus,  !' et  errabundum  iUud  iter,  per  desertum  annis  || 
quadraginta  filiorum  Israel  simul  explicuimus  ....  Vale.  Im  N  bis  Berithus,  im 
O  bis  Xahaliel  östlich  vom  Nordende  des  Toten  Meeres,  im  S  bis  ChajTo  und 
PARS  MARIS  RVBRI,  im  W  bis  Chayro.  Ausführung  wie  auf  der  Hauptkarte 
mit  Angabe  des  Marsches  der  Israeliten.  Ohne  Gradangaben.  Stundenmaßstab  : 
Horae  itineris  1,  2  ....  10,  20,  30  =  88,5  mm.  Die  oben  gemessenen  Ent- 
fernungen betragen  hier  43,  196,  65  mm.  Danach  ist  der  Maßstab  ca.  1  :  1300  000. 
Die  Karte  wird  erwähnt  von  Ortelius,  theatrum  1595 :  Petrus  L.  ludaeam  per- 
lustrans  eins  loca  descripsit,  quam  descriptionem  Christianus  Schrot  in  tabulam 
redegit.    Exstat  Antverpiae  apud  Hieronymum  Cock  1570. 

Breslau,  Stadtbibl.     Bb.  55. 

Litt. :  Röhricht,  Bibl.  geogr.  Palaestinae,  1890,  60i  nr.  67.  — 
Denuce,  Oad-Nederlandsche  kaartmakers  I  1912,  126.  —  Wieder, 
Nederlandsche  hist.-geogr.  documenten  in  Spanje,  1915,  41. 

77.    Remigius  Hogenbers,   Flandern,  o.  J. ;  ca.    1:370000. 

Kupferstich  auf  Papier.  Nach  N  orientiert  494  (497)  x  360 
(364)  mm.  Oben  links  in  einfachem  Rahmen:  FLAXDRIAE  RE- 
GENS EXACTAQ-  II  DESCRIPTIO^  Dann  kommt  noch  eine 
Zeichenerklärung.  Unten  rechts:  Insculpebat  Remigius  Hooghen- 
berchghe  Macchlinien. 

Flandern  im  W  bis  Bolongne,  CALETVM  (Calais),  N  bis  MIDDELBVRGVM 
auf  WALACHRIA  INS\TA  (Walcheren),  O  bis  MACLINIA,  S  bis  DVACVM 
(Douai).  Die  Zeichnung  deckt  sich  genau  mit  CeUarius,  speculum  orbis  1578,  36. 
Mit  der  Hand  koloriert.  Nur  für  die  bedeutenderen  Siedlungen  lateinische  Namen 
und  Vignetten ,  sonst  einfache ,  rot  ausgefüllte  Kreise  mit  modernen  Namen.  Im 
wellenförmig  schraffierten  Meer  ein  Schiff,  Kopf  eines  Ungeheuers,  Wappen. 
Rechtw.  Plattk.  Gradangaben  am  Rande.  Unten  und  oben  (22«  51')  23«— 26«  50' 
(53')  0,  1°  =  123  mm;  rechts  und  links  (49«  590  500—51»  40'  (50'),  P  =  196  mm. 
Unten  links  Meilenmaßstab:  lusta  Miliaria  Flandrica  itineris  Vnius  höre,  1,  2  .  .  .. 
13  =  166,5  mm,  ^üliaria  maius  (!)  9  =  127  mm;  Miliaria  magna  9  =  142  mm. 
Calais  —  Antwerpen  (185  km)  =  480  mm;  Ostende  —  Douai  (96  km)  =  270  mm; 
Antwerpen  —  Gent  (51km)  =  135  mm;  A.  —  Middelburg  (62  km)  =  173  mm; 
Brügge— Calais  (100  km)  =  262  mm;  Ostende— Ypem  (43  km)  =  118  mm.  Die 
Karte  ist  einer  Handschrift  beigefügt,  die  über  Flandrische  Fürsten  u.  s.  w.  handelt 
und  in  der  das  letzte  Datum  1562  ist.  Danach  ist  es  nicht  unwahrscheinlich, 
daß  die  Karte  ungefähr  aus  dieser  Zeit  stammt. 

München,  Hof-  und  Staatsbibl.  cod.  icon.  265.  De  Vreese  (s.  u.) 
116  f.  setzt  sie  zwischen  1553  und  1562. 

Publ.  u.  Litt.:  De  Vreese,  Leekebijdragen  tot  de  geschiedenis 


B4  W.  Rüge, 

van  Vlaandern  (K.  Vlaamsche  Academie  voor  taal-  en  letterkunde) 
1912,  95. 

78.  Anonymus,   Corsica,  o.  J. ;  ca.  1:625000. 
Kupferstich  auf  Papier.   Nach  N  orientiert.  187  x  293  (290)  mm. 

Oben  links  in  einfachem  Rahmen :  CIRNVS  siue  Corsica  jnsula  est 
jn  II  mari  ligustico  circuitus  322.  mill.  paf||suü  uinni  et  annimälium 
ferrocißimi  ||  et  gignit  homines  fortes  ad  labores  et  ||  militiam. 

Inhalt  und  Zeichnung  der  Karte  =  III.  Ber.  nr.  29,  31.    Vgl.  IV.Ber.  nr.  67. 

Breslau,  Stadtbibl.     Gc.  72. 

79.  Anonymus,   Malta,  o.  J.;  ca.  1:170000. 
Kupferstich  auf  Papier.     Nach  W.  orientiert.     181  x  248  mm. 

Oben  links  in  verziertem  Rahmen :  Melita  insula,  ab  Sicilia  disiun- 1( 
cta Cotono  seu  Goßipio.     In  der  Insel  MALTA. 

Malta  mit  einem  Stück  der  Isola  di  gozzo  am  oberen  Kartenrand.  Sonst 
stimmt  alles  zu  IV.  Ber.  nr.  90,  106. 

Breslau,  Stadtbibl.     Grc.  30. 

80.  Anonymus,   Majorca,  o.  J. ;   ca.  1 :  485  000. 
Kupferstich    auf    Papier.     Nach   W    orientiert,     aber   rechts 

MEZZODI,  links  TRAMONTANA.     177  (178)  x  249  mm. 

Alles  übrige  stimmt  mit  I.  Ber.  nr.  67,  4  überein. 

Breslau,  Stadtbibl.     Fb.  61. 

81.  Anonymus,   Menorca,  o.  J. ;   ca.  1:200000. 
Kupferstich    auf    Papier.      Nach  N    orientiert,    aber    rechts 

PONENTE,   links  LEVATE,  unten  MEZZODI.     172  x  241  mm. 

Sonst  alles  =  I.  Ber.  nr.  67,  5 ,  wo  das  1.  Wort  des  Textes  in  MINORICA 
zu  ändern  ist  und  beim  letzten  die  Endsilbe  nicht  sicher  gelesen  werden  kann. 

Breslau,  Stadtbibl.    Fb.  .66. 

83.    Anonymus,  Neapolitanisches  Reich,  o.  J. ;  ca.  1  :  IV4  Mill. 
Kupferstich  auf  Papier.     Nach  NO  orientiert.     486  x  326  mm. 
Oben  in  bandartigem  Ornament:  REGNO  DI  NAPOLI. 

Unteritalien  von  der  Linie  Rom  —  Ancona.  Sizilien  bis  zum  Etna ;  dieses 
Stück  ist  aber  als  selbständige  Insel  gezeichnet.  Die  Namen  der  Himmelsrichtungen 
LEVANTE,  OSTRO,  PONENTE  sind  ganz  ausgeschrieben;  man  kann  erkennen, 
daß  bei  allen  die  letzten  Buchstaben  nachträglich  angesetzt  sind.  Unten  in  der 
Mitte  Scala  de  le  Miglia  20,  ...  80  =  71  mm.  Die  Entfernungen  haben  mit 
Abweichungen  von  1 — 3  mm  dieselbe  Größe  wie  die  im  III.  Ber.  nr.  15.  Vgl.  I.  Ber. 
nr.  64. 

Breslau,  Stadtbibl.     Gb.  184. 

83.    Anonymus,  Sardinien,  0.  J. ;  ca.  1:1  Mill. 

Inhalt  und  Zeichnung  =  I.  Ber.  nr.  67,  51.  Nur  fehlt  der  Name  des  Ver- 
fassers, und  die  Länge  der  Insel  von  S — N  (270  km)  ist  =  268  mm. 

Breslau,  Stadtbibl.     Gc.  61. 


Aelteres  kartographisches  Material  in  deutschen  Bibliotheken.  55 

84.  Anonymns,  Sardinien,  o.  J.;  ca.  1:930000. 
Kupferstich   auf  Papier.      Nach   N    orientiert.      201  (199)  x 

301  mm.  Links  oben  in  verziertem  Rahmen:  Sardinia  insula, 
inter  Africü,  et  Tyr»||rhenü  pelagus  sita :  magnitudine  |j  562  mill. 
pas :  .  .  .  .  fonti=||bus,  salubribus,  prestantißima. 

Ausführung  =  IV.  Ber.  nr.  90,  103  b.  » 

Breslau,  Stadtbibl.    Gc.  60. 

85.  Joannes  Franclscus  Camocius,  Palästina,  ohne  Jahr ;  ca. 

1:580000. 

Kupferstich  auf  Papier,  Nach  0  orientiert.  481  (478)  x 
249  mm.      Oben    querüber    in    einer    Zeile:    SITVS,     TEERE, 

SANCTE,  IVXTA,  NVMERV,  FILIOI^,  ISRAEL,  PER,  APICES, 

SEY,  PVCTA,  DIVISVS  (das  erste  I  ist  in's  D  hineingesetzt). 
Unten  rechts :  Apud  Joannem  Franciscum  Camocium. 

Palästina  mit  Einteilung  für  die  einzelnen  TRIBVS.  Im  O  bis  Bosra,  nunc 
idumea,  S  bis  Gaza  und  Bersabe,  W  bis  zum  Meer,  N  bis  Sidon.  Rechtw.  Plattk. 
nach  der  Gradeinteilung  am  Rande,  aber  die  Zählung  der  Grade  ist  unverständlich. 
Unten  und  oben  5,  10,  15  ...  .  80,  82;  jeder  Teil,  der  wieder  in  6  Unter- 
abteilungen eingeteilt  ist,  =  29  mm ;  links  und  rechts  (45)  40,  35  ....  5,  1  Teil 
=  31mm.  Sidon— Tiberias  (89km)  =  181  mm;  S.— Gaza  (250km)  =  438mm; 
Joppe — Jerusalem  (55  km)  =  ca.  80  mm. 

Breslau,  Stadtbibl.     Bb.  57. 

Litt. :  Röhricht,  Bibliotheca  geographica  Palaestinae  1890,  610, 
nr.  135. 

b.    Sammelbände. 

86.  In  der  Universitätsbibliothek  zu  Breslau  ')  findet  sich  ein 
dünner  Band  (ohne  Signatur)  in  sehr  verbrauchtem  und  verbeultem 
Pergament ,  geschlossen  290  X  470  mm.  Er  enthält  27  Karten, 
lauter  Kupferstiche.  Außerdem  ist  eine  anonyme  Weltkarte  lose 
hineingelegt  =  IV.  Ber.  nr.  87,  2.  Die  eingehefteten  Karten  sind 
folgende : 

1.  Ant(onius)  Sal(amanea) ,  Weltkarte,  o.  J.  ==  HI.  Ber. 
nr.  29,  3.    Anderes  Exempl. :   Breslau,  Stadtbibl.     Aa.  24. 

2.  Jacobus  Gastaldi,  Weltkarte,  1560  =  in.  Ber.  nr.  29,  4. 

3.  Nicollo  del  dolflnatto,  Atlantischer  Ozean,  1560  =  IV.  Ber. 
nr.  89,  74. 

4.  Anonymns,  Irland,  o.  J. ;  ca.  1:2  Mill. 

1)  Der  im  F.  A.  136  erwähnte  Atlas,  der  sich  in  der  Breslauer  Stadt- 
bibliothek befand,  ist  aufgelöst  worden ;  die  meisten  der  oben  aufgeführten  Karten 
werden  aus  ihm  stammen. 


56  W.  Rüge, 

Nach  S  orientiert.  180  (184)  x  265  (258)  mm.  Oben  links  in 
einfachem  Rahmen:  HIBERNIA  siue  IRLANDA  insnla  ||  maxima 
inter  Britanniam  &  Hifpaniam  si=||ta  ....  &  musica  gaudent. 

Inhalt  =  I.  Ber.  nr.  67,  7.  Dundalk— Galway  (195  km)  =  103  mm.  Die  Insel 
NO— SW  (490  km)  =  244  mm. 

5.  Anonymus,  Island,  o.  J.  =  IV.  Ber.  nr.  90,  11. 

6.  Anonymus,  England,  1556  =  III.  Ber.  nr.  29,  8. 

7.  Vincentius  Luchinus,  Spanien,  1559  =  IV.  Ber.  nr.  90, 14. 

8.  Anonymus,  Majorca,  o.  J.  =  IV.  Ber.  nr.  87,  44. 

9.  Anonymus,  Menorca,  o.  J.  =  IV.  Ber.  nr.  87,  45. 

10.  Michaelis  Trämezini,  Flandern,  1555  =  I.  Ber.  nr.  67, 12. 

11.  Michaelis  Tramezini,  Brabant,  1558  =  III.  Ber.  nr.  29, 14. 

12.  Michaelis  Tramezini,  Friesland,  1558  =  III.  Ber.  nr.  29, 17, 

13.  Jacopo  di  Gastaldi,  Deutschland,  1559  =  oben  nr.  44. 

14.  Anonymus,  Österreich-Ungarn,  o.  J.  =  I.  Ber.  nr.  67,  30. 

15.  Ant(onius)  Salamanca,  Schweiz,  1555  =  III.  Ber.  nr.  29, 23. 

16.  Jäcomo  Gastaldo,   Piemont,    1556  =  III.  Ber.  nr.  29,  25. 

17.  Anonymus,  Lombardei,  1556  =  IV.  Ber.  nr.  90,  82,  nur 
steht  in  dem  Schild  unten  links  nur  die  Jahreszahl  1556  und  kein 
Name. 

18.  Hieronimo  Bell'  Armato,  Toskana,  1558  =  IV.  Ber. 
nr.  51. 

19.  Anonymus,  Gebiet  von  Rom,  1557;  ca.  1:270000. 

Die  Karte  stimmt  mit  IV.  Ber.  nr.  90,  89  überein,  nur  die  Jahreszahl  weicht 
ah  und  die  Worte  Con  priuilegio  fehlen. 

20.  Anonymus,  Neapolitanisches  Reich,  o.  J. ;  ca.  1 :  1100000. 

Nach  NO  orientiert.  481  x  303  (302)  mm.  Oben-  in  band- 
artigem Ornament:  REGNO  DI  NAPOLI.  Unten  links  steht 
nichts. 

Inhalt  =  III.  Ber.  nr.  15.  Ohne  Gradnetz  und  Kompaßrosen.  In  der  Mitte 
unten  Meilenmaßstab :  Scala  de  le  Miglia  =  73  mm,  aber  ohne  Einteilung.  Die 
letzten  sechs  der  III.  Ber.  nr.  15  angegebenen  Entfernungen  haben  hier  folgende 
Maße:   377,  210,  260,  243,  242,  360  mm.     Vgl.  IV.  Ber.  nr.  89,  52  und  90,  97. 

21.  Anonymus,  Corsica,  o.  J.  =  IV.  Ber.  nr.  67. 

22.  Fabius  Licinius,  Sardinien,  o.  J.  =  III.  Ber.  nr.  29,  30. 

23.  Anonymus,  Elba,  o.  J.  ==  III.  Ber.  nr.  29,  32. 

24.  Anonymus,  Sicilien,  o.  J.  =  I.  Ber.  nr.  67,  50. 

25.  Sebastianus  de  Regibus,  Kreta,  1559  =  I.  Ber.  nr.  67,  58. 

26.  B.  F.,  Cypem,  1560  =  I.  Ber.  nr.  67,  61. 

27.  Anonymus,  Ansicht  von  Parma. 


Aelterea  kartographisches  Material  in  deutschen  Bibliotheken.  57 

Anhang. 

Zum  Schluß  sind  noch  die  Karten  anzuführen,  die  schon  in 
den  vorigen  Berichten  genau  beschrieben  sind,  und  von  denen  sich 
noch  andere  Exemplare  gefunden  haben, 

Luchinus,  Lombardei,  1558  =  IV.  Ber.  nr.  90,  82. 

Exempl. :  Breslau,  Universitätsbibl.  Schles.  Ges.  B.  Mappe 
X  16. 

Nelli,  Afrika  und  Asien,  1564  (1565)  =  I.  Ber.  nr.  67,  73—75. 

Exempl.:  Breslau,  Stadtbibl.     Ca.  6,  1—3. 

Bertelli,  Italien,  1565  =  I.  Ber.  nr.  67,  36. 

Exempl. :  Breslau,  Stadtbibl.     Gr  a.  3. 

F.  Bertelli,  Menorca,  o.  J.  =  I.  Ber.  nr.  67,  5. 

Exempl.:  Breslau,  Stadtbibl.     Fb.  65. 

Gastaldi,  Korsica,  o.  J.  =  I.  Ber.  nr.  67,  42. 

Exempl.:  Breslau,  Stadtbibl.     Gc.  70. 

(Cornelius  Anthonii),  Dänemark  und  die  umliegenden  Länder, 
1562  =  I.  Ber.  nr.  67,  20. 

Exempl. :  Breslau,  Stadtbibl.     I  a.  3  und  3». 

F.  BerteUi,  Gotland,  o.  J.  =  I.  Ber.  nr.  67,  22. 

Exempl.:  Breslau,  Stadtbibl.     Ib.  50. 

Luchinus,  Lombardei,  1558  =  IV.  Ber.  nr.  90,  82. 

Exempl. :  Breslau,  Universitätsbibl.  Schles.  Ges.  B.  Mappe 
X  16. 

Oleatus,  Holland,  1567  =  I.  Ber.  nr.  67,  14. 
Exempl.:  Breslau,  Stadtbibl.     Pb.  3. 


n.   Texte. 
A.    Handschriften. 

a.    Entdeckungsgeschichte. 

1.  Monetarius  (Münzer),  Brief  an  Johann  II.  (Bruchstück), 
1493. 

Papierhandschrift.  Enthält  einen  Teil  des  Briefes,  den  Hie- 
ronymus  Münzer  am  14.  Juli  1493  an  Johann  II.  von  Portugal 
über  den  Seeweg  nach  Kathay  in  lateinischer  Fassung  gerichtet 
hat.    Die  portugiesische  Übersetzung  s.  u.  nr.  48. 

München,  Hof-  u.  Staatsbibl.  in  Incun.  c.  a.  424.     4*^. 


58  W.  Rüge, 

Publ.  u.  Litt. :  Stauber,  R.,  Die  Schedeische  Bibliothek  (Studien 
u.  Darstellungen  aus  d.  Grebiet  d.  Greschichte  VI  2,  3,  hrsg.  von 
Grauer t)  1908,  89,  251.  —  Vignaud,  Histoire  critique  de  la  grande 
Entreprise  de  Chr.  Colomb,  1911  II  414  f.,  447  f.,  620  f.  —  Vgl. 
außerdem  u.  nr.  48. 

3.   Monetariiis  (Müiizer),  Entdeckung  von  Guinea,  1494,  1495. 

Papierhandschrift.  Enthält  Itinerarium  siue  ||  Peregrinatio 
Excelle||ntissinii  viri  artiü  ||  ac  vtriusqve  medicine  ||  doctoris  Hie- 
roni  II  monetarij  de  Felt=||kirchen  Ciuis  ||  Nuremberg=||ensis.  Darin 
fol.  280  f.  Nachrichten  De  Inuentione  AfFrice'  maritime  et  occi- 
dentalis  vel  genee  Per  Infantem  heinricum  Portugallie. 

München,  Hof-  und  Staatsbibl.     Clm.  431. 

Publ.  (nicht  ganz  genau)  u.  Litt. :  Kunstmann ,  Abb,  Akad. 
München,  philos.-philol.  Cl.  VII,  IL  Abt.  289.  348  f. 

3.  Valentin  Ferdinand,  Portugiesische  Entdeckungen,  1504, 
1505,  1507. 

1.  Papierhandschrift.     Über  die  Fahrt  Kabrals. 
Stuttgart,  Kgl.  Landesbibl.    Mscr.  Histor.  nr.  248,  Bl.  54— 55. 
Publ.:   Künstmann,    Abb.  Akad.  München,   philos.-philol.  Cl. 

1860,  VIII,  LAbt.  788  f. 

2.  Dieselbe  Handschrift,  Bl.  57—58.  Über  die  Fahrt  der 
Portugiesen  nach  Indien  1505.  Beginnt:  Valentinus  Morauus  doc- 
tori  praestantissimo  Conrado  Peutinger  Augustensi.  S.  und  schließt: 
Vale  ex  Vlixbona  Die  XVI  Augusti  Anno  M.  D.  V. 

Publ. :  a.  a.  0.  S.  787  f.  ~  B.  Greiff  (26.  Jahresbericht  d. 
histor.  Kreisvereins  im  Regierungsbezirk  von  Schwaben  u.  Neu- 
burg f.  d.  Jahr  1860),  Augsburg  1861,  172  hat  den  2.  Teil  des 
Briefes  nach  einer  Handschrift  der  Augsburger  Stadtbibliothek 
veröffentlicht  (s.  u.  nr.  4). 

3.  Papierhandschrift.  Über  die  portugiesischen  Entdeckungen 
an  den  afrikanischen  Küsten  in  Indien,  auf  den  atlantischen  Inseln 
und  Inselgruppen,  1507.  Die  einzelnen  Bestandteile  des  Sammel- 
werks und  die  Stellen,  an  denen  sie  publiziert  sind,  findet  man 
am  bequemsten  zusammengestellt  bei  S.  Rüge,  27.  Jahresbericht 
des  Vereins  für  Erdkunde  zu  Dresden  1901,  146  f.  —  Über  V.  Fer- 
dinand vgl.  Böhme,  Die  großen  Reisebeschreibungen  des  16.  Jahr- 
hunderts, 1904,  9. 

München,  Hof-  und  Staatsbibl.     Cod.  Hisp.  Cl.  I  27. 

4.  Briefe  und  Berichte  über  die  frühsten  Reisen  nach  Amerika 
und  Indien,  aus  Dr.  Conrad  Peutlngers  Nachlaß.  Papierhand- 
schriften. 


Aelteres  kartographisches  Material  in  deutschen  Bibliotheken.  59 

Augsburg,  Kreis-  und  Stadtbibliothek. 

Publ. :  ß.  Greiff  (26.  Jahresbericht  d.  histor.  Kreisvereins  im 
Eegierungsbezirk  von  Schwaben  u.  Neuburg  f.  d.  Jahr  1860), 
Augsburg  1861,  113  f.  —  Hümmerich,  Vasco  da  Gama  1898,  193 
(das  Original  zu  dem  4,  Stück  der  Sammlung  bei  Greiff  S.  133  f.). 

5.  SpriD^er,  Indienfahrt,  Anfang  des  16.  Jahrhunderts. 
Papierhandschrift,    10  Blatt,    30  Zeilen   auf  der  vollen  Seite. 

Rings  um  den  Text  ein  breiter  Saum  freigelassen.  Geschrieben 
Anfang  des  16.  Jahrhunderts,  also  bald  nach  der  Rückkehr  Sprin- 
gers 1507.  Ohne  Bilder.  1.  Bl.  r. :  Relatio  balthasaris  Springer 
de  maxia  sua  ||  marina  peg'natioe  ex  ptib5  hollandie  i  vlix||bonä 
portugalie  ac  deide  p  occeanü  australe  (!)  ||  versus  polü  ätharticü 
in  indiam  et   ei9  isulas  ||  Ego  balthasar   Springer  induct9  pre|Icibus 

amicorü  simnl  et  ai  mei  ||  attractus  delectatione 10.  Bl,  v. : 

a  quo  discedetes  I  directü  ||  xv  die  nouebris  tande  vlixbone  portü 
itrauim9.     Fis. 

Gießen,  Universitätsbibl.     Handschr.  nr,  219,  Bl.  36 — 45. 

Publ. :  Voyage  Iitt(5raire  de  deux  religieux  Benödictins,  heraus- 
gegeben von  Martene  und  Durand,  Paris  1724,  361  ff. 

Litt. :   Schulze,  Balthasar  Springers  Indienfahrt  1902,  8. 

6.  Rem,  Lucas,  Tagebuch  aus  den  Jahren  1494 — 1541.  Papier- 
handschriften. 

Augsburg,  Kreis-  und  Stadtbibliothek. 
Publ. :  B.  Greiff,  a.  a.  0.  1  f. 

7.  Anonymus^  New  Zeitung  auß  presillanndt,  1514. 
Papierhandschrift.     Auf  der  Außenseite   steht  die  Aufschrift: 

„New  Zeitung  auß  presillanndt".  Der  Text  beginnt:  „Zeytung  So 
ain  schiff  pracht  hat  So  von  portugal  außgefaren  ist"  und  gibt 
den  Anfang  des  gedruckten  Flugblattes  (s.  u.  nr.  73.  74)  mit  Jahres- 
zahl: „Wißt  das  auf  12  october  1514  ain  Schiff  aus  presillanndt 
hie  ankörnen  ist  .  .  .  ." 

Augsburg,  Fuggersches  Archiv,  Brasilien  1515,  65.  1,  3. 

Litt. :  Häbler,  Zeitschr.  d.  Ges.  f.  Erdk.,   Berlin  1895,  352. 

8.  Pirkheimer,  Abschrift  der  „Newen  zeittung"  (s.  nr.  78), 
datiert  vom  19.  III.  1522. 

Nürnberg,  Stadtbibl.     Pirkheimers  Handschr.  nr.  99. 

9.  Wolfgäng  Sedelius,  Abschrift  zweier  Briefe,  1531. 
Papierhandschrift.     Auf  Bl.  1   steht  Ff  Vuolgang9   Sedeli9  || 

Anno  dnj.  1531. 

Bl.  326:  DVE  EPISTOLE  HL||STORICE  DE  INSVLIS  || 
INDIE    DE    ALAN:  11  DATO    DL  II  VI    CAHIROHILI  l|  HISPANIE 


60  W.  Buge, 

EEaiS  ROMANI=||Q(VE)  IMPERII  CiESARlS  NV=||PER  INVEN- 

TIS  II  QVAS  VO-'IICANT  ||  MO^||DO  ||  NOVAM  HISPANIA.  — 
Bl.  327:  EPISTOLA  PRIOR  lOANHINIS  SEBASTIANI  DOL=  || 
CANONIS    CAPITA=||NEI    INVICTISsHSIMI    CARO  ||LI    HIS  || 

PA=||NIE  REGIS,  ETÖ.  ROMANI  ||  IMPERII  CESARIS  SEM=  || 
PER    AVaVSTI  II  EIDEM    DEH|STL||NATA,     NARRATIVA 

RERV  II  QVAS  IN  OCEANO  NVPER  ||  EXPERTI  SVNT  LV^JI 
STRATORES  ||  HISPA=||NI.  —  Del  Cano  war  auf  der  Fahrt  von 
Magalhaes  Führer  der  Victoria. 

Publ. :  Schmeller,  Abh.  Akad.  München,  philos.-philol.  Gl.  IV  1, 
1844,  264  f. 

Bl.  335;  EPISTOLA  •  ALTERA  ||  DE  INSVLIS  PER  FERHI 
DIN  AND  VM  II  MAGELLA=||NVM  ||  POR.||TVGALLENSEM 
NONNVL»||LOSQ(VE)  ALIOS  AD  HOC  ||  NEGOCIVM  ||  DELECHJ 
TOSIISVB  INVICTISSIMO  IMPE=||RATORE  CAROLO  HIS=|| 
PANIE  REGE  NV||PER  INVEN^ITIS  AB  ||  AVH|THORE 
H ACTEN VS  NOBIS  ||  INCOGNITO  EDL||TA.  —  Beginnt  Bl. 
336:   Renerendissime  ac  illustrissie  ||  princeps  &  domine,    domie  j| 

mi    unice    humillimam   c6||mendationem die||bus    una    ex 

quinque  illis   nauibus Schluß  Bl.  378:    Datum  uallis  oleti. 

Die 0*||ctobris.     Anno  Domini.  M.  D.  22.  —  Es  ist   eine 

Abschrift  des  Briefes  des  Maximilianus  Transylvanus  über  die  Fahrt 
des  Magalhaes.     S.  u.  nr.  83.  84. 

Bl.  341  zwei  Karten:  1.,  Südostasien  nach  Ptolemaeus,  2.,  Säd- 
ostasien  nach  den  'Hydrographi'.  121  x  52  mm.  Nach  N  orientiert. 
Vorder-  und  Hinterindien,  der  westliche  Teil  der  4.  Halbinsel, 
mit  Sinus  Gangeticus  und  Sirius  magnus.  Hinterindien  lang  nach  S 
gezogen  wie  auf  der  Carta  Marina  Waldseemüllers  von  1516. 
Längen  sind  offenbar  unten  und  oben  eingeteilt,  aber  ohne  Zahlen 
und  nicht  übereinstimmend  in  der  Größe  mit  denen  der  darüber- 
stehenden Ptolemäischen  Zeichnung.  Breitenangaben  rechts  und 
links  von  (ca.  7°)  10"  8—30"  N,  5«  =  6,75  mm. 

München,  Hof-  und  Staatsbibl.     Clm.  18695. 

Litt.:  Schmeller  a.  a.  0. 

b.    Segelanweisungen. 

10.    Anonymus,  Portolan,  1296. 

Pergamenthandschrift.     106  Blätter    zu  21  Zeilen.     1.  Bl.  r. : 

IN    nomine    dni    nri    ihn    xpi    amen.      Incipit    liber    conpassuü. 

0  0  0  ..  .  .  _  .  j 

M.  CG  :  Lxxxxvj.    De   mense  januarij   fuit  inceptu   opus  istud. 


Aelteres  kartographisches  Material  in  deutschen  Bibliotheken.  61 

Lo  conpasso  de  nanegare.  A  questo  sie  lo  compasso  e  la 
starea  de  la  terra  sicomo  se  regnarda  en  qnante  millara  pere 
starea  en  primamente  da  lo  capo  de  san  ui^eco  auenire  de  nere 
spagna  uer  leuante.  Segelanweisimg  für  das  Mittelmeer  mit  dem 
Schwarzen  Meer,  BL  105  und  106  sind  von  anderer  Hand  ge- 
schrieben. Bl.  106  V.  schließt:  Qua  e  cöplito  de  uol9ere  tucto. 
entorno  lo  mare  maiore  da  leuäte  e  da  ponente  cioe  lo  mare 
maiore  de  romania  dentro  a  costantinopoli.  Explicit  Über  portuum 
totius  maris  in  quo  potest  nauigari  deo  gratias  Amen.  Qui  scripsit 
scribat  semper  cum  domino  uiuat.  —  Es  ist  der  älteste  datierte 
Portolan,  der  bekannt  ist.  Er  fehlt  bei  Kretschmer,  Die  ita- 
lienischen Portolane  des  Mittelalters,  1909,  und  stimmt  mit  keinem 
der  dort  veröffentlichten  Portolane  überein. 

Berlin,  Kgl.  Bibl.     Mscr.  Hamilton  396. 

11.  AnODymas,  Seebuch,  14.  Jahrh. 

Papierhandschrift,    70  Blätter.     Segelanweisungen   für  die  at- 
lantischen Küsten  Europas. 

Hamburg,  Kommerzbibl. 

Publ. :  Koppmann,  Das  Seebuch,  1876. 

12.  Anonymus,  Portolan,  15.  Jahrh. 
Papierhandschrift.     67  Blatt,    die  in   2  Spalten   auf  38  Zeilen 

beschrieben  sind.  Beginnt :  Questo  sie  portolan  ch(e)  nauega  p  tuto 
el  mondo.  Chomezando  da  lisbona  he  vegneremo  p  la  banda  de 
ponente,  e  si  zerzeremo  tuto  el  mondo  AI  nome  del  bon  yh(e)u. 
Chomenzeremo  da  lisbona  fino  al  chauo  de  san  vizezo  sie  mia. 
170.  p  ost*^  algüa  chossa  x/sso  el  garbi.  Es  folgt  eine  Segel- 
anweisung  für  Küsten  und  Inseln  des  Mittelmeers,  einschließlich 
des  Schwarzen  Meers.  Bl.  65  v.  kommt  die  atlantische  Außen- 
küste :  Questo  sie  chöpasso  e  portolano  |I  d  tarifa  p  tuta  la  spagna 
e  la  galizia  el  cholfo  d  baiona  i  torno  i  torno  (I),  E  p  la  Stagna 
e  p  lo  rasso  d  san  maio  e  p  tuta  normädia  e  pichardia  i  fina  I 
flandra  e  po  torna,   p  la  engelterra  i  fina  al  chauo  de  chornouaia 

Bl.  67  V. :    Sapie   ch(e)    nuy   semo   passadi  i  engelterra  e 

vegneremo  p  la  chosta  i  fina  a  la  girlanda.  Finis  deo  gras. 
Laus  deo  sit  nome  dni  bnditum  (!).  Amen.  —  Der  Portolan  fehlt 
bei  Kretschmer,  Die  italienischen  Portolane  des  Mittelalters,  1909, 
und  stimmt  auch  mit  keinem  der  dort  veröffentlichten  Portolane 
überein. 

Berlin,  Kgl.  Bibl.  Cod.  Ital.  172  fol. 

13.  Christoforus  Bondelmont,  Inselbuch,  1420. 
Papierhandschr.  in  Leder  gebunden,  162  x  305  mm.     Auf  dem 


62  W.  Rüge, 

1.  Bl.  des  Textes:  CHRISTOFORVS :  BON||DELMONT:  FIO- 
RENTIA:  PR||ESBITER.  HVNC :  MISIT :  CAR=||DINALI: 
lORDANO:  DE  VRSL||NIS:  M.  CCCC.  XX. 

98  Blatt.  Beschreibung  von  Kreta  und  den  griechischen  In- 
seln in  der  gekürzten  Fassung.  Im  Text  Inselkarten.  Außerdem 
Bl.  81  eine  kreisrunde  Weltkarte  von  145  mm  Durchmesser.  Rohe 
Umrisse.  Afrika  selbständiger  Erdteil,  ohne  Zusammenhang  mit 
Südostasien.  Bl.  82  v.  und  83  r.  Italien;  ca.  1:3700000.  Zeich- 
nung der  Küsten  gut;  Innenzeichnung  gibt  Flüsse,  Grebirge,  Städte. 
Arno  und  Tiber  hängen  zusammen.  Genua  —  Tarent  (810  km)  = 
233  mm;  Nordküste  von  Sizilien  (270  km)  =  70  mm;  Ancona  — 
Tarent  (470  km)  =  140  mm;  Alessandria — Ravenna  (290  km)  = 
70  mm. 

Berlin,  Kgl.  Bibl.     Msc.  Hamilton  108. 

Publ. :  Die  oben  beschriebene  Weltkarte  im  Periplus  S.  111, 
Fig.  50. 

Litt.:  Legrand,  Description  des  lies  de  l'Archipel  par  Chr. 
Buondelmonte  (Publ.  öcole  langues  Orient,  viv.  4^  serie ,  XIV. 
1897).  —  Jacobs,  Cristoforo  Buondelmonti  (Festschr.  f.  A.  Wil- 
manns,  1903),  3 13  f. 

14.  Anxerinus  (Bondelmont),  Inselbuch. 
Papierhandschrift,      Bl.  21—51    enthält    den  über   insularum. 

Beginnt:  Constitui  pater  reuerendissime  iordane  cardinalis  meis 
itineribus  tibi  librum  ||  insularum  cicladum  atc[5  aliarum  in  cir- 
cuitu  sparsarum  destinare  figur  H  arum  vna  atc[5  suis  temporibus 
priscis  usque  in  hodiernum  gestis.  Schließt  auf  Bl.  51:  Christo- 
phorus  ego  anxerinus  venerande  pater  primum  tibi  affectanter 
misi  ...  —  Über  die  Form  Anxerinus  vgl.  Legrand,  a.  a.  0.  XXVI. 

Düsseldorf,  Staatsarchiv  G.  13. 

Litt. :  s.  vor.  nr. 

15.  Duarte  Barboso,  Küstenbeschreibung  des  Indischen  Ozeans, 
Anfang  des  16.  Jahrhunderts. 

Papierhandschriften. 

Spanische  Fassung. 

München,  Hof-  und  Staatsbibl.     Cod.  hisp.  8  und  12. 

Litt.:  E.  J.  Stanley,  A  description  of  the  coasts  of  East 
Africa  and  Malabar  in  the  beginning  of  the  sixteenth  Century  by 
Duarte  Barbosa.  Hakluyt  Soc.  1866.  —  Wieder,  Nederlandsche 
hist.-geogr.  documenten  in  Spanje,  1915,  188. 

Deutsche  Fassung.  Beginnt:  Absclirifft  der  relaciones  vnnd 
bericht  So  durch  Duraten  Barboso  ain  portugalisch  treffenlicher 


Aelteres  kartographisches  Material  in  deutschen  Bibliotheken.  63 

vnnd  bey  Kho  Mt  von 'portugal  ansechlicher  glaubwirdigcr  man 
So  die  gesagtenn  ding  alle  selbs  persönlich  gesehen  vnnd  als  ainer 
der  auf  den  erstenn  schiffen  so  weilenndt  Kunig  Emanuel  von  por- 
tugal  jm  .  .  .  [freigelassen,  nad  dann  nicht  ausgefüllt]  Jar  zu  er- 
findung  frembder  lennder  vnnd  Innsulen  per  India  ausgesanndt  selbs 
erfaren  Vnnd  dem  Khunig  von  portugal  also  nach  lenngs  was  sie 
vff  sollicher  fart  von  Cabo  de  buena  sperantza  bis  genn  Callicut 
Narsingna  thina  Vnnd  Maluco  zu  wasser  vnnd  auf  Lannd  gesehenn 
vnnd  erfaren,  sowol  die  art  vnnd  gelegenhait  der  Lennder  als  die 
Ceremonias  Vnnd  gebreuch  der  Innwonner  zu  bericht  geschribenn 
vnnd  coroniciert  hat.  —  Bl.  124:  Dis  Buch  hab  Ich.  Iheronimus 
Seits  vonn  Augßpurg  aus  spanischer  Zunge  Inns  teutsch  bracht 
vnnd  verteutschet  auff  28  tag  nouembris  Im  Jar  1530  .  .  . 

Stattgart,  Kgl.  Landesbibl.  Mscr.  (Geschichte)  nr.  213  fol.  — 
Ebenfalls  deutsche  Fassung  in  München,  Hof-  und  Staatsbibl. 
Cgm.  934  und  953. 

Holländische  Fassung.  16.  Jahrhundert.  Beginnt:  De  cabe 
van  sint  sabasteam.  Alz  men  ghepasseert  es  de  cabe  van  bona 
esperanca 

Heidelberg,  Universitätsbibl.     Cod.  Pal.  G-erm.  150. 

Litt.:  Wilken,  Fr.,  Geschichte  der  Bildung,  Beraubung  und 
Vernichtung  der  alten  Heidelbergischen  Büchersammlungen,  1817, 
362  f.  —  Wille,  Die  deutschen  Pfälzer  Handschriften  des  16.  und 
17.  Jahrhunderts  in  der  Universitätsbibl.  in  Heidelberg,  1903,  18. 
Beide  haben  nicht  erkannt,  daß  es  eine  Übersetzung  von  Duarte 
Barboso  ist. 

16.  (De  Nicolay,  Sieur  d'Arfreville),  La  navigation  d'environ 
le  royaume  d'Escosse,  Mitte  des  16.  Jahrhdts. 

Pergamenthandschrift  in  weichem,  goldgepreßtem  Ledereinband, 
geschlossen  165  x  223  mm,  19  Blatt.  —  1.  ßl.  r.  leer.  —  v.  Kompaß- 
rose. —  2.  Bl.  r.:  LA  NAVIGATION  D'ENVIRON  i|  Le  Royaume 
d'Escosse,  auec  les  ||  haures,  Raddes,  profonditez,  däijgez,  &  aprou- 
chemens  des  Portz  ||  &  Isles  adiacentes  du  i3  Roy^  —  2.  Bl.  v. 
leer.  —  3.  Bl.  r. :  La  Nauigation  d'Escosse.  ||  Geste  nauigation  est 
diuisee  |j  en  quatre  parties  |1  LA  Premiere,  contient  le  passage  de- 
puis  Ij  l'Haure  du  Lith,  aux  principalles  ||  parties  d'Escosse,  tirant 
au   fluue   de   ||   Humbre.  ||  La   seeonde  du  mesme   haure   du   lith, 

iusqs  II  a  Doungesby,  en  Cathnes.  ||  La  tierce,  de  Doungesby  iusques 
a  la  11  Mule  ||  de  Kynteir.  ||  La  quatrieme,  et  derniere  partie,  de  la 
mule  II  de  Kynteir  iusques  a  la  mule  de  Gallouay  et  ||  ä  la  riuiere 
de  Soluay.  j|  En  chascune  des  dictes  naui^  j|  gations  sont  declarees 


64  W.  Rüge, 

V.  choses  II  La  premiere  est  la  course  de  la  Maree.  ||  Le  temps  que 
la  mar  entre  &  sort.  ||  —  3.  Bl.  v.  L'aprouchement  des  costes  || 
Xies  veues  d'vne  terra  a  l'aultre  ||  Las  Haures,  E-addes,  profonditez 
&  II  les  dangiers.  —  Der  Text  reicht  bis  Bl.  15  v.  und  schließt: 
Ein  de  la  nauigation  d'enuiron  ||  la  coste  d'Escosse.  —  Bl.  16  leer. 
Bl.  17  doppalt  so  groß  wie  die  andern,  zusammengefaltet,  enthält 
eine  Karte  von  Schottland ;  ca.  1 :  2  Mill.  Handzeichnung  auf  Per- 
gament. Nach  N  orientiert.  285  (275)  X  376  mm.  Überschrift: 
Charte  de  la  Nauigation  du  Royaume  d'Escosse.  Ohne  Verfasser 
und  Jahr.  Schottland  und  der  nördliche  Strich  von  England,  im 
N  die  ORCHADES  INSVLAE,  im  W  die  HEBRIDES  INSVLAE, 
und  HYBERNIAE  PARS.  Hauptsächlich  Küstenzeichnung,  recht 
gut,  völlig  frei  von  Ptolemaeus,  ohne  die  für  die  Seekarten  cha- 
rakteristische Zeichnungsweise.  Im  Innern  Flüsse,  Berge,  aber 
keine  Städte,  Landschaftsnaman.  Diese  Namen  sind  englisch,  die 
der  Meere  und  Inselgruppen  sind  lateinisch.  Längenkreise  oben 
und  unten  15*^ — 22^  0,  1"  =  34,5  mm;  Breitenkreise  rechts  und 
links  56°— 62'^N,  P  =  53,5  mm.  Außerdem  32  strahlige  Kompaß- 
rosen. Am  rechten  Rand  die  ptolemäischen  Angaben  über  die 
Tageslängen.  Rechts  unten  außerhalb  des  Randes  Meilenmaßstab, 
Milliaria,  6  Teile,  die  wieder  halbiert  sind,  =  64,5  mm,  ohne  In- 
schrift. Edinburg  —  Glasgow  (65  km)  =  30  mm;  C.  Duncansby — 
innerster  Winkel  des  Solway  F.  (400  km)  =  240  mm ;  CD.  — 
Edinburg  (300  km)  =  188  mm.  —  Bl.  18  leer.  —  Bl.  19  r.  Mond- 
tafel, V.  leer.  —  Das  Ganze  ist  eine  kürzere  Fassung  von  „La 
navigation  du  roy  d'Escosse,  Jacques  cinquiesme  du  nom,  autour 
de  son  royaume  ....  soubz  la  conduite  d'Alexandre  Lyndsay  .... 
par  De  Nicolay,  Sieur  d'Arfreville  . . . ."  Paris  1583  (nach  einer  Mit- 
teilung der  Verwaltung  der  Stadtbibl.  in  Breslau,  die  unter  der 
Signatur  4  F  1289  den  seltenen  Druck  besitzt). 
Berlin,  Kgl.  Bibl.     Ms.  Hamilton  38. 

c.  Lehrbücher. 

17.  Johannes  Eck,  Introductorium  breve  cosmographicum, 
1506. 

Papierhandschrift.  1.  Bl.  r. :  Introductoriü  breue  Cosmogra- 
phicü  II  Jo.  eccij  ad  Ptolemej  ||  tabulas  vtilissimü  ||  1506.  Darunter 
von  jüngerer  Hand:  Ex  Biblioth.  Academ.  Ingolstadt  —  Bl.  3  r. 
beginnt  der  Text  mit  allgemeinen  Definitionen  und  Inhaltsver- 
zeichnis. —  Bl.  4  r.  f.  Definition  der  Kugel ,  des  Kreises  u.  s.  w. 
Einteilung  des  Himmels  in  Grade,  die  Zonen.  Dabei  die  Be- 
merkung:  An  autem  illa  zona  inter  Tropi  Capricorni  sit  habitata, 


Aelteres  kartographischeB  Material  in  deutschen  Bibliotheken.  65 

diu  dubitatü  foit  ....  Sed  temporibus  nostris  Regia  classis  Lu- 
sitani^  nüc  Portugallia  dicta  Alberico  Vesputio  dnctore  scrupnlum 
Omnibus  deposuit.  Eins  navigatione  inuenta  est  ea  zona  habitata 
a  magna  multitudine  hominum.  —  Weiterhin  über  Parallelen,  Kli- 
mata, Gradeinteilung  und  Größe  der  Erde.  Den  Beschluß  macht 
eine  kurze  Länderkunde  von  Asia,  Aphrica,  Europa.  Die  neuen 
Entdeckungen  werden  nicht  berührt,  nur  ganz  nebenbei  wird  ein- 
mal Albericus  Vesputios  genannt.  Am  Schluß  ein  Jo.  Eckij  pro- 
loquiü,  unterschrieben  1506,  1508,  1510.  Der  Text  zeigt  mehr- 
fach enge  Berührung  mit  Waldseemüllers  Cosmographiae  intro- 
ductio  1507. 

München,  TJniversitätsbibl.  Cod.  Msc.  800,  4°.  —  Basel,  TJni- 
versitätsbibl.    A.  N.  VII  1  nr.  7. 

Litt. :  S.  Günther,  Joh.  Eck  als  Geograph  (Forschungen  zur 
Kultur-  und  Litteraturgesch.  Bayerns  ü.  1894). 


B.    Drucke. 
a.    Entdeckungsgeschichte. 

1.   Einzelschriften. 

18.    Colnmbns,  Epistola,  o.  0.  u.  J. 

1.  Bl.  r.  (in  gotischer  Schrift):  a  Epistola  Christof ori  Colom: 
cui  ^tas  nostra  multü  debet :  de  ||  Insulis  Indi^  supra  Gangem  nuper 
inuentis.  Ad  quas  perqui=||rendas  octauo  antea  mense  auspicijs 
(et)  ^re  inuictissimi  Fernan-Udi  Hispaniarum  Regis  missus  fuerat: 
ad  Magnificum  dnm  Ra||phaelem  Sanxis :  eiusdem  serenissimi  Regis 
Tesaurariü  missa:  ||  quam  nobilis  ac  litteratus  vir  Aliander  de 
Cosco  ab  Hispano  ||  ideomate  in  latinum  conuertit:  tertio  kal's 
Maij  •  M  •  cccc  •  xciij  •  ||  Pontificatus  Alexandri  Sexti  Anno  Primo.  |( 
QUoniam  susceptQ  prouinti^  rem  perfectam  me  cösecutum  |j  fuisse 
gratum  tibi  fore  scio :  ....  —  4.  Bl.  r.  Ende  des  Briefes :  H^c  vt 
gesta  sunt  ||  sie  breuiter  enarrata.  üale.  Ulisbon§  pridie  idus 
Martij.  |1  Christoforas  Colom  Ocean^  classis  Pr^fectus.  —  4.  Bl.  v. : 
CI  Epigramma  '  R  •  L  ■  de  Corbaria  Episcopi  Montispalusij  •  j|  Ad 
Inuictissimum  Regem  Hispaniarum. 

4°.     4  Blatt.     Ohne  Paginiening. 

Coblenz.  Stadtbibl. ;  Beiband  zu  Methodius.  —  Maihingen, 
Undat.  4«  32.  —  Freiburg,  Universitätsbibl.  I.  8015.  —  Freiberg, 
Gymnasialbibl.    Xn  4°   12. 

Kgl.  Oes.  d.  Wiss.   Nachrichten.   Phi].>hist  Klasse.    1916.    Beiheft.«  5 


66  W.  Rüge, 

Publ. :  Rüge,  Gesch.  d.  Zeitalters  d.  Entdeckungen  1881,  262 
(1.  Seite). 

Litt.:  Harrisse,  BAV  nr.  1.  —  Racc.  Col.  I  1,  LX  nr.  1. 
(ein  Exempl.  soll  in  München,  royal  libr.,  sein;  stimmt  nicht), 
VI  20  nr.  43. 

19.  Columbus,  Epistola,  o.  0.  u.  J. 

1.  Bl.  r.  (in  gotischer  Schrift):  De  Insulis  inuentis  ||  Epistola 
Cristoferi  Colom  (cui  etas  nostra  ||  multü  debet :  de  Insulis  in  mari 
Indico  nup  ||  inuetis.  Ad  quas  perquirendas  octauo  antea  ||  mense: 
auspicijs  et  ere  Inuictissimi  Fernandi  ||  Hispaniarum  Regis  missus 
fuerat)  ad  Mag=||nificum  dnm  Raphaeles  Sanxis:  eiusde  sere-  |[ 
nissimi  Regis  Thesaurariü  missa.  quam  nobi||lis  ac  litterat9  vir 
Aliander  b  Cosco:  ab  His-||pano  ydeomate  in  latinü  conuertit: 
tercio  kl's  ||  Maij.  M.  cccc.  xciij.  Pontificatus  Alexandri  ||  Sexti 
Anno  Primo. 

(Q)Uoniam  suscepte  prouintie  rem  p*||fectam  me  <^secutum 
fuisse:  grata  tijjbi  fore  scio :  ....  —  8.  Bl.  v. :  Hec  vt  gesta 
sunt  sie  breuiter  enar=||rata.  Uale.  Ulisbone  pridie  ydus  Marcij.  |j 
Cristofor9  Colom  Oceane  classis  Prefect9.  ||  Epigrama,  R.  L.  de  Cor- 
baria  Episcopi  ||  Montispalusij  ||  Ad  Inuictissimü  Rege  Hispaniar(uin). 

80.     8  Blatt.     Pag. :  I,  II,  III  [4—8]. 

Basel,  Universitätsbibl.  D.  E.  VIII,  10  nr.  4.  —  München, 
Hof-  und  Staatsbibl.  S''.  Rar.  6^  früher  Cim.  231b.  —  Berlin, 
Kgl.  Bibl.  U  X  7470. 

Litt.:  Harrisse,  BAV  nr.  2.  —  Racc.  Col.  I,  1,  LX  nr.  2; 
XI  21,  nr.  47. 

20.  Columbus,  Epistola,-  Rom,  1493. 

l.Bl.  r.  (in  gotischer  Schrift):  ff  Epistola  Christofori  Colom: 
cui  etas  nostra  multum  debet:  de  ||  Insulis  Indie  supra  Gangem 
nuper  inuetis.  Ad  quas  perquiren||das  octauo  antea  mense  au- 
spiciis  (et)  ere  inuictissimorum  Fernandi  ||  ac  Helisabet  Hispaniar(um) 
Regü  missus  fuerat:  ad  Magnificü  dnm  ||  Gabrielem  Sanches : 
eorundem  serenissimorum  Regum  Tesaus||rariü  missa:  Qua  ge- 
nerosus  ac  litteratus  vir  Leander  de  Cosco  ab  ||  Hispano  idiomate 
in  latinü  cöuertit:  tertio  Kaien  Maij.  M.  cccc.  ||  xc.  iij.  Pontificatus 
Alexandri  Sexti  Anno  Primo. 

QUoniam  suscepte  prouincie  rem  perfectam  me  conse||cutum 
fuisse  grata  tibi  fore  scio:  ...  —  3.  Bl.  v.:  Hec  vt  gesta  sunt  sie 
breuiter  enarrata.  Uale.  ||  Uilisbone  pridie  idus  Martij.  ||  Christo- 
forus  Colom  Oceane  classis  Prefectus.  ||  a  Epigramma.    R.  L.  de 

Corbaria   Epi   Montispalusij.      Ad   In  ||  victissimum   Regem    Hispa- 


Aelteres  kartographisches  Material  in  deutschen  Bibliotheken.  67 

niarum.  —  An  Ende  der  Seite:   CI  Impressit  Rome  Eucharius  Ar- 
meniens Anno  dni  •  M  *  ccccxciii.  —  4.  Bl.  leer. 

4°.     4  Blatt.     Ohne  Paginierung. 

München,  Hof-  nnd  Staatsbibl.  4°.  Cim.  231.  —  Breslau, 
Stadtbibl.  4  V  74,  15. 

Litt.:  Harrisse,  BAV  nr.  3.  —  Racc.  Col.  I  1,  LXI  nr.  8; 
VI  19  nr.  42.  —  Proctor  I,  2,  3870. 

21.    Colambus,  Epistola,  o.  0.  u.  J. 

l.Bl.  r.  (in  gotischer  Schrift):  d  Epistola  Christo  fori  Colom: 
cni  etas  nostra  multü  debet:  de  |!  Insalis  Indie  snpra  Gangem  nuper 
inuetis.  Ad  quas  perqren||da3  octano  antea  mense  auspiciis  et  ere 
inuictissinior(um)  Fernädi  et  ||  Helisabet  Hispaniar(am)  Regü  missus 
fuerat:  ad  magnificum  dnm  ||  Gabrielem  Sanchis  eorunde  serenissi- 
nior(nm)  Regnm  Tesanrariü  ||  missa:  qua  nobilis  ac  litteratas  vir 
Leander  de  Cosco  ab  Hispa||no  idiomate  in  latiuum  cöuertit  tertio 
Kal's  Maü.  M.  cccc.  xciii  ||  Pontificatus  Alexandri  Sexti  Anno  primo.  I| 
Quoniam  suscepte  prouintie  rem  perfectam  me  consecntum  faisse 
gratum  tibi  fore  scio  ....  —  3.  Bl.  v, :  Hec  ut  gesta  sunt  sie 
breniter  enarrata.  Uale.  ||  Ulisbone  pridie  Idus  Martij.  ||  Christo- 
forus  Colom  Oceane  classis  Prefectas.  —  4.  Bl.  v. :  a  Epigramma ' 
R  •  L  •  de  Corbaria  Episcopi  Montispalusii  ji  Ad  Inuictissimum  Ra- 
sern Hispaniamm. 

4*'.     4  Blatt.     Ohne  Paginierung. 

Hamburg,  Commerzbibl.  1173,  1,  2  (2  ExempL). 

Litt.:  Harrisse,  BAV  nr.  4  (das  dort  erwähnte  Münchener 
Exemplar  ist  nicht  vorhanden).  —  Racc.  Col.  1 1,  LXI.  nr.  9.  VI  19 
nr.  41. 

32.    Colambus^   Epistola,   Paris,   o.  J. 

1.  Bl.  r.  (in  gotischer  Schrift):  H  Epistola  de  insulis  re||pertis 
de  nouo.  Impressa  ||  parisius  in  cäpo  gaillardi  ||  —  1.  Bl.  v. :  Epi- 
gramma. R.  L.  de  corbaria  ||  Episcopi  Montispalusti.  Ad  ||  In- 
uictissimü  Regem  hispaniarü.  ||  4  Distichen.  —  a.  ij  r. :  Epistola  Chri- 
stofori  Co||lom :  cui  etas  nf a  multü  debet :  de  Insulis  indie  supra 
Gangem  ||  nuper  inuentis.  Ad  quas  perquiredas  octano  antea  mense 
aujjspicijs  et  ere  inuictissimi  Fernandi  Hispaniarum  Regis  missus  jj 
fuerat:  ad  magnificü  dSj  Raphaelem  Sanxis:  eiusde  serenissi||mi 
Regis  Tesanrariü  missa :  qua  nobilis  ac  If  atus  vir  Aliäder  ||  de 
Cosco  ab  Hispano  ideomate  in  latinü  conuertit:  tercio  kl's  ||  Maij. 
M.  cccc.  xciij.  Pötificatus  Alexädri.  VI.  Anno  primo :  ||  quoniä 
suscepte  prouin||cie  re  perfecta  me  consecutü  fuisse  gratü  tibi 
fore   scio :  ||  .  .  .  .  —  4.  Bl.   v. :    Hec  vt  gesta  sunt  ||  sie   breuiter 

5* 


68  W.  Rüge, 

enarrata.    TJale.    Ulisbone  pridie  Idns  Marcij.  ||  Christof orus  Colom 
Oceane  classis  Prefectus. 

40.     4  Blatt.     Pag.:  [al,  aij,  [aj,  4]. 

Göttingen,  Universitätsbibl.     8*'.    Hist.  Amer.  I  502. 

Litt.:  Harrisse  bei  Promis,  V.,  Lettera  di  Cristoforo  Co- 
lombo  (1892).  —  Racc.  Col.  I  1,  LX  nr.  4,  VI  21  nr.  48. 

33.    Columbus,  de  insulis  nuper  inuentis,  1494. 

1.  Bl.  r.  (in  gotischer  Schrift) :  In  laudem  Serenissi  ||  (von  hier  an 
Antiqua)  mi  Ferdinandi  Hispaniar(um)  regis/  Bethi=||cae  &  regni 
Granatae/  obsidio/  victoria/  &||triüphus/  Et  de  Insulis  in  mari 
Indico  II  nuper  inuentis.  —  Darunter  Holzschnitt,  73  x  110  mm, 
König  von  Spanien,  darüber  (in  gotischer  Schrift):  Fernandus- 
Rex-  hyspanie.  —  Bl.  [dds]  r.:  l-4-9'4-  ||  NIHIL  SINE  CAUSA*  i| 
I  •  •  B.  —  V.  (in  gotischer  Schrift) :  De  Insulis  nuper  in  ||  mari  In- 
dico repertis.  —  Darunter  Holzschnitt,  75  x  111  mm,  Landung  des 
Schiffes  darstellend,  mit  der  Überschrift  (in  gotischen  Buchstaben) : 
Insula  hyspana.  —  Bl.  [dde)  r.  (in  gotischer  Schrift):  De  Insulis 
nuper  inuentis  ||  (in  Antiqua) :  Epistola  Christoferi  Colom  (cui  etas 
nostra  mul'||tum  debet :  de  Insulis  in  ms^ri  Indico  nuper  innen*  jl 
tis:  ad  quas  perquirendas  octauo  antea  mense:  au=|jspiciis  &  ^re 
inuictissimi  Fernandi  Hispaniarü  E,e=||gis  missus  fuerat)  ad  Magni- 
ficü  dominü  ßaphae'||lem  Sanxis:  eiusdem  serenissimi  Regis  The- 
saurari||um  missa:  quam  nobilis  ac  litteratus  vir  Aliander  |i  de 
Cosco:  ab  Hispano  ideomate:  in  latinum  con=||uertit:  tercio  Ka- 
lendas  Maii.  M.  cccc.  xciij.  Pontifis||catus  Alexandri  Sexti  Anno 
primo.  —  Bl.  ee  v.  Holzschnitt  79  x  112  mm,  Meer  mit  den  Inseln 
Fernäda ,  hyspana ,  ysabella ,  saluatoris ,  Conceptois  marie  und 
Schiffen.  —  Bl.  ee  iij  v.  Holzschnitt  75  x  113  mm,  Küste  einer 
Insel,  mit  der  Überschrift:  Insula  hyspana.  —  Bl.  [eeej  r.  (in  An- 
tiqua) :  Vale.  Vlisbon^  /  pridie  ydus  Marcii.  |1  Christoforus  Colom 
Oceanic^  classis  Praefectus.  —  Bl.  [e  ee]  v.  Holzschnitt,  75  x  114  mm, 
dazu  Zierleiste  oben  und  unten,  Schiff  mit  vollen  Segeln,  quer 
darüber  (in  gotischen  Lettern):  Oceanica  Classis. 

4".  Der  eigentliche  Brief  steht  auf  7  Blatt  [dde],  ee,  eeii, 
eeiij,  eeiiij,  [ee5,6],  dazu  der  Holzschnitt  auf  [dds]  v.  Der  Brief 
ist  Anhang  zu  dem  Festspiel,  das  Carolus  Verardus  zur  Feier  des 
Falls  von  Granada  gedichtet  hat.  Bl.  aa  ij  r.  (in  Antiqua): 
Caroli  Verardi  Caesenatis  Cubicularii  Pontificii  in  ||  historiam  Bae- 
ticam  ad  R.  P.  Raphaelem  Riarium  jj  S.  Georgii  Diaconum  Car- 
dinalem. 

Heidelberg,  Universitätsbibl.  Cod.  Heid.  366,  78.  —  Karlsruhe, 
Hof-  und  Landesbibl.  cod.  Rastatt  23.  —  Basel,  Universitätsbibl. 


Aelteres  kartographisches  Material  in  deutschen  Bibliotheken.  69 

E.  C.  IV.  99.  40.  —  München,  Hof-  und  Staatsbibl.  4°.  P.  0.  lat. 
123,  5  und  Inc.  c.  a.  4°.  1163.  —  WeiBenburg  i.  Bayern,  Stadt- 
bibL  Nr.  734.  —  Breslau,  Stadtbibl.  Ink.  92.  —  Freiberg,  Gym- 
nasialbibl.  XII  4°.  12,  aber  nur  die  ersten  Blätter.  —  Bremen, 
Stadtbibl.  VII.  IIb.  24  nr.  14.  —  Hamburg,  Stadtbibl.  AC  VI  79. 
Leipzig,  Universitätsbibl.  libri  sep.  6591  b,  und  1843  i/6.  —  Mann- 
heim, Öffentl.  Bibl.  Inc.  97.  96.  —  Bamberg,   Kgl.  Bibl.Inc.  III  33. 

—  Bonn,  Universitätsbibl.  DK  215.  —  Michelstadt,  Kirchenbibl. 
A  SOb.  -  Wolfenbüttel,  Herzogl.  Bibl.  (früher  Helmstedt,  T  609  i). 

Litt. :  Harrisse,  ß  A  V  nr.  15.  — 

24.  Columbus,  Brief,  Straßburg,  1497. 

1.  Bl.  r.  (in  gotischer  Schrift) :  Eyn  schön  hübsch  lesen  von 
etlichen  inßlen  il  die  do  in  kurtzen  zyten  funden  synd  durch  de  |! 
künig  von  hispania+  vnd  sagt  vö  großen  wunliderlichen  dingen 
die  in  deselbe  inßlen  synd+  —  Darunter  Holzschnitt:  Der  König 
mit  Begleitung  vor  Christus.  —  1.  Bl.  v.  leer.  — aij  r:  DEr  houpt- 
man  der  schiffung  des  mors  Cristoferus  co-||lon  von  hispania 
schribt  dem  künig  von  hispania  v5  |1  den  inßlen  des  lands  Indie  .  .  . 

—  [bs]  r. :  Getüetschet  vß  der  katilonischen  zungen  vndvß  (I)  dem 
latin  II  zu  Ulm+  ....  —  Am  Schluß  [bs]  r. :  Getruckt  zu  straßburg 
vff  grüneck  vö  meister  Bartlomeß  ||  küstler  ym  iar+M  +  cccc  +  xcvij-t- 
vff  sant  Jeronymus  tag+  —  [bs]  v.  Derselbe  Holzschnitt  wie  am 
Anfang.  —  [bi]  leer. 

4«.     8  Blatt.     Pag.:  [a],  aij,  [aa,,],  b.  bij,  [b,,^]. 

Bamberg,  Kgl.  Bibl.  Ic.  U  17.  —  München,  Hof-  und  Staats- 
bibl. 4P.  Cim.  231«  Rar.  6«.  —  München,  Universitätsbibl.  4°.  Inc. 
Germ.  16  (das  1.  Blatt  fehlt). 

Publ. :  Häbler,  Der  deutsche  Kolumbusbrief,  1900.    (Facsimile). 

—  Buge,  Gesch.  d.  Zeitalters  d.  Entdeckungen  1881,  263  f.  (1.  und 
3.  Seite). 

Litt. :  Harrisse,  B  A  V  nr.  19.  —  Schmidt,  Repertoire  bibliogr. 
strasbourgeois  1893,  IV  2,  V  nr.  1  (beschreibt  den  Holzschnitt  mit 
den  Worten:  le  roi  d'Espagne  re^oit  Colomb.).  —  Racc.  Col.  VI  27 
nr.  69  (Holzschnitt:  Colombo  ricevuto  dal  Re  di  Spagna). 

25.  Yespucci,  Mundus  novus,   Augsburg,   1504. 

1.  Bl.  r.  (in  gotischer  Schrift):  Mundus  Nouus.  —  1.  Bl.  v. : 
Albericus  vespucius  Laurentio  ||  Petri  de  medicis  salutem  plurimam 
dicit.  II  —  4.  Bl.  V. :  Ex  italica  in  latinam  linguam  iocOdas  inter- 
pres  häc  epistolam  vertit  vt  ||  latini  oes  intelligant  qy,  multa  mi- 
räda  in  dies  reperiant  (et)  eor(um)  comprima||tur  audacia  qui  celü 
et  maiestatem  scrutari :    et  plus  sapere  q5  Uceat   sapere  ||  volunt: 


70  W.  Rüge, 

quando  a  tanto  tempore  quo  mundus  cepit  ignota  sit  vastitas  || 
terre  (et)  que  contineätur  in  ea.  ||  Magister  johänes  otmar:  vindelice 
impressit  Auguste  ||  Anno  millesimo  quingentesimo  qnarto.  Laus  Deo. 

4^*.     4  Blatt.     Ohne  Paginiening. 

Mainz,  Stadtbibl.  Incun.  b.  19.  4P.  —  München,  Universitäts- 
bibl.  Hist.  aux.  910.  4°.  (Libri  rari  4) ;  es  fehlen  aber  die  letzten 
beiden  Worte:  Laus  Deo. 

Litt.:  Harrisse,  BAV  nr.  31.  —  Racc.  Col.  VI  205  nr.  1323. 

—  Proctor  II  10662.  —  Zu  den  verschiedenen  Ausgaben  des  Ve- 
spnccibriefes  (nr.  25 — 45)  ist  zu  vergleichen :  Sarnow  und  Trüben- 
bach, Mundus  Novus  1903. 

36.  Vespucci,  Von  den  nawen  Insulen,  Leipzig,  1505. 

1.  Bl.  r.  (in  gotischer  Schrift):  Von  den  nawen  Insulen  vnnd  || 
Landen  so  itzt  kurtzliche  erfun]|den  sint  durch  den  Konigk  von  |{ 
Portugal.  —  Darunter  Holzschnitt,  einen  wilden  Mann  darstellend. 

—  A  ij  r. :  Von  der  nawen  werlt  |I  CI  Das  erste  Capittel.  ||  OL  Al- 
bericus  Vespucius  sageth  vil  heyles  ||  vnd  gutes  Laurencio  Petri 
de  medicis.  —  8.  Bl.  r. :  Vß  welscher  tzungen  yn  die  Latinisch, 
vn  itzt  II  yn  Deutsch,  eyn  guter  swatzman  dise  Epistel  jj  gekart 
hat,  das  alle  latinischen  vnd  deutsche  ||  verstehn  wieuil  Wunders 
tegliche  gefunden  wirt,  vn  der  ||  künheit  ader  freuelich  vornehmen 
vndergetruckt  vnd  ge||stilt  werde,  die  den  hymmel  vn  sein  ge- 
walt  vnd  maiestat  ||  erfaren  wollen,  vn  mehr  wissen  wollen  dan 
sich  getzimt  ||  So  doch  vö  solcher  tzeit  her  do  die  werlt  hat  an- 
gefang||en,  vnbekant  sey  gewesen  die  weyte  des  erdtreichs,  vnd  |I 
das  yn  yr  ist.  —  d  Gletruckt  tzu  Leybsigck  durch  Wolfgangk  |[ 
Müller  (sunst  Stöcklin)  nach  Cristgeburth  ||  ym  funfftzehenhun- 
dertisten  vnd  funiften  iare. 

40.     8  Blatt.     Pag.:  [A,]  A  ij,  Aiij,  [A,],  B,  B  ij,  Biij,  [BJ, 

Leipzig,  Universitätsbibl.  Libri  sep.  6600.  —  Jena,  TJniver- 
sitätsbibl.  Ph.  XL  q.  1  (6).  —  Zwickau,  Ratsschulbibl.  XXII. 
IX.  6.   40. 

Litt.:  Harrisse,  BAV  add.  nr.  20  (das  dort  genannte  Exem- 
plar ist  nicht  mehr  zu  finden).  —  Racc.  Col.  VI  207  nr.  1330. 

37.  VespuccI,   Von  der  nüwen  Welt,  Straßburg,  1505. 

Das  1.  Blatt  fehlt.  A  ij  r. :  a  Von  der  Nüwen  weit.  ||  Al- 
bericus  vesputius  sagt  vil  heils  IJ  vn  guts  Lauretio  petri  de  me- 
dicis II  Das  erst  Capitel.  ||  IN  vergangnen  tagen  .  .  .  Letztes  Bl.  r. : 
Q  Vß  Italischer  zung  in  die  Latinisch  vii  yetz  in  teüt||sch  Ein 
guter  schwatzman  dise  epistel  gekert  hat,  das  ||  alle  latinischen 
vn   teütschen   verstäden   wie   vil    wun||ders   teglich   funden   wirt/ 


Aelteres  kartographischcB  Material  in  deutschen  Bibliotheken.  71 

vnd  deren  kienheit  od'  freuel  ||  fümemmen  vnd'trnckt  vnd  gestilt 
werde/  die  den  hytjmel  vnd  syn  gewalt  vn  mayestat  erfaren 
wollet/  vn  II  mer  wissen  wöllent  dan  sich  gezymet/  So  doch  von  j) 
soUicher  zyt  her  do  die  weit  hat  angefangen  vnbekät  1|  sye  ge- 
wesen die  wyte  des  ertrichs  vn  des  das  in  ir  ist.  CI  Gretruckt  zu 
Straßburg  von  Mathis  hüpff||vff.  in  dem  Füntzehenhundertste  vn 
fünffte  Jar.  jj 

40.     Ursprünglich  8  Blatt.     Pag.  :A],  A  ij,  A  iij,  [A^;,  B,  Bij,  ßs,*]- 
Berlin,    Kgl.  Bibl.     TJt.  2778.  —  Die   Ausgabe    wird   in   der 
Litteratur  nicht  erwähnt;   sie  fehlt  auch  bei  Schmidt,   Repertoire 
bibliogr.  strasbourgeois  1893. 

28.    Vespucci,  De  ora  antarctica,  Straßburg,  1505. 

1 .  Bl.  r.  (in  gotischer  Schrift) :  De  ora  antarctica  ||  per  regem 
Portugaliie  ||  pridem  inuenta.  —  Darunter  zwei  HoLzschnitte ;  oben : 
vier  nackte  Wilde,  unten:  fünf  Schiffe.  —  1.  Bl.  v. :  a  M.  Ring- 
mannus  Philesius.  U.  ||  Jacobo  Bruno  suo  Achati.  S.  p.  d.  —  Der 
Brief  schließt :  TJale  cursim  Argentine  ex  scholis  nris  Kai'.  Augusti 
Anno  M.  d.  v.  —  2,  Bl.  r.:  er  De  terra  sub  cardine  Antarctico 
per  regem  Portugaliie  pri'||dem  inuenta.  M.  Ringmanni  Philesij 
Carmen.  ||  Rura  papyriferus  ...  (11  Disticha)  .  .  non  naso  Rhino- 
cerontis.  Aue.  —  2.  Bl.  v. :  Albericus  vespatius  Laurentio  pe|ltri 
de  medicis  salute  plimä  dicit.  ||  —  6.  Bl.  r. :  EX  Italica  in  Latinam 
linguä  iocundus  interpres  hanc  eplam  ||  vertit.  vt  Jatini  omnes  in- 
telligant  45  multa  miranda  indies  rejlperiant,  et  eorum  cöprimatur 
audacia.  qui  Celum  et  maiestate  scrulltari:  et  plus  sape  q5  liceat 
sape  volunt.  qfi  a  tanto  tempore  quo  mun  dus  cepit  ignota  sit  va- 
stitas  terre.  et  que  contineätur  in  eo.  —  Dann  die  Dreiecksfigur 
und  darunter :  Et  ego  Johänes  michaelis  cJicus  |j  TJibergensis  diocef' : 
....  pns  et  psO'  naliter  fui  Rhome  in  palacio  sctissimi  dni  nostri 
Julij  pape  -ii-  in  9si||storio  publico:  Dum  et  qn  oratores  reg5 
Portugaliie  fecerim  (I)  prefa  to  sanctissimo  dno  Julio  obedientiä. 
et  inter  cetera/  de  et  sup   ista  ter^jira/  vt  premittit/  nouiter  in- 

uenta:  quod  pfiti  meo  cyrogpho  ptestor.  ||  Impressum  Argentine 
per  Mathiam  hupfuff.     M.  v^  v.  |j  6.  Bl.  v.  leer. 

40.     6  Blatt.     Pag.:  [Aj,  ,],  Aüj,  Aiüj,  [A5, «]. 

Berlin,  Kgl.  Bibl.  Libri  rari.  oct.  229.  —  Darmstadt,  Groß- 
herzgl.  Hofbibl.  0.  2382,  10.  —  Stuttgart,  Kgl.  Landesbibl.  Geogr. 
Vespucci  4".  —  München,  Universitätsbibl.  Itin.  125.  4".  (Libri 
rari  3).  —  Freiburg  i.  Br.,  Universitätsbibl.  J.  5567.  —  München, 
Hof-  und  Staatsbibl.  4«.  Rar.  5^  früher  Cim.  230°  —  Straßburg, 
Universitätsbibl.    Do.  XXVII  Cimelien. 


72  W.  Rüge, 

Litt.:  Harrisse,  BAV  nr.  39.  —  (D'Avezac),  Martin  Hyla- 
comylus  (Extrait  des  Annales  des  voyages  1866),  91.  —  Racc. 
Col.  VI  206  nr.  1324.  —  Proctor  11  10011.  —  Schmidt,  Reper- 
toire bibliogr.  strasbourgeois  1893,  V  nr.  41. 

39.    Vespucci,  Von  den  nüwen  Insulen,   Straßburg  1506. 

1.  Bl.  r.  (in  gotischer  Schrift):  Von  den  nüwe  In=|isule  vnd 
landen  so  yetz  kürtzlichen  ||  erfunden  synt  durch  den  Künig  von 
Portugall.  —  Darunter  dieselben  Holzschnitte  wie  in  nr.  28.  — 
1  ßl.  V.  zwei  Holzschnitte:  1)  Alter  und  junger  Mann  am  Meer, 
in  dem  ein  Schiff  und  vier  Ungeheuer  sind;  2)  König  und  ein 
Mann  am  Meer,  links  ein  Schiff.  —  Aij  r. :  fl  Von  der  Nüeven 
weit.  II  Albericus  vespotius  sagt  vil  heils  ||  vn  guts  lauretio  petri 
de  medicis.  —  Letztes  Bl.  r. :  Vß  Italischer  zug  in  die  Latinisch 
vn  yetz  in  teut||sch  Ein  guter  schwatzmä  dise  epistel  gekert 
hat,  das  ||  (letztes  Bl.  v.)  alle  latinischen  vnd  teütschen  verstanden 
wie  vil  II  Wunders  teglich  funde  wirt,  vn  deren  kienheit  oder  ||  freuel 
fürnemmen  vndertruckt  vnd  gestilt  werde/  ||  die  den  hymmel  vnd 
syn  gewalt  vnd  mayestat  er=||faren  wöllent/  vnd  mer  wissen 
wöUent  dan  sich  ge|zymet/  So  doch  vö  sollicher  zyt  her  do  die 
weit  hat  II  angefangen  vnbekant  sye  gewesen  die  wyte  des  ert=|j 
richs  vnd  des  das  in  ir  ist.  etc.  ||  0[  Gretruckt  zu  Straßburg  in  dem 
fünfftzejjhundersten  vnd  sehß  Jar.  —  Auf  diesem  Bl.  ist  der 
zweite  Holzschnitt  vom  1.  Bl.  v.  wiederholt. 

4".     8  Blatt.     Pag. :  [A^],  Aij,  Aiij,  [A,],  B,  Bij,  Biij,  [B,]. 

Berlin,  Kgl.  Bibl.     4P.     Ut  2780. 

Litt.:    Harrisse,  BAV  nr.  40.  —  Racc.  Col.  VI  207  nr.  1333. 

—  Schmidt,  Repertoire  bibliogr.  strasbourgeois  1893,  V  nr.  50  (mit 
anderer  Zeilenabteilung). 

30.    Vespucci,  Von  den  newen  Insulen,  Leipzig,  1506. 

1.  Bl.  r.  (in  gotischer  Schrift):  Von  den  newen  lusulen^)  vnd 
Ian=||den  so  yetz  kürtzlichen  erfundenn  ||  seynd  durch  den  Kunig 
von  Portygal.  —  Darunter  zwei  Holzschnitte,  der  obere  stellt  vier 
nackte  Menschen  dar,  der  untere  eine  Landung  von  fünf  Schiffen. 

—  Aij  r. :  Albericus  vesputig  sagt  vil  heyls  |I  vnd  gutes  Laurentio 
Petri  de  medicis.  —  6.  Blatt  v. :  Auß  Italischer  tzung  in  die  Latinisch 
vnd  itzund  in  deutzsch  ||  eyn  guter  schwatzman  diße  epistel  gekert 
hat/  das  alle  latinische  ||  vnd  deutzschen  verstanden  wie  vil  Wunders 
teglich  funde  wirt  ||  vnd  deren  kunheyt  oder  freuel  furgenommen 
vndergedruckt  vn  ||  gestilt  werde/  die   den   hymel  vii  seyn  gewalt 


1)  Der  2.  Buchstabe  ist  u  statt  n. 


Aelteres  kartographisches  Material  in  deutschen  Bibliotheken.  73 

vn  mayestat  erfarn  |j  woUent/  vn  mer  wissen  wollent  den  sich  ge- 
tzymet  So  doch  vö  |i  solchertzeit  her  do  die  weit  hat  angefange 
vnbekant  sey  gewesen  ||  dy  weyte  des  ertreichs  vnd  das  do  yn  yr 
ist.  II  Gedrückt  tzu  Leypsick  durch  Baccalariü  Martinum  ji  Landeß- 
berg  Im  iar  Ttausentfunfhundert  vnd  sechs.  —  Darunter  zwei 
Wappenschilde. 

40.     6  Blatt.     Pag.:  [A],  Aij,  Aiij,    >,_«;. 

Bremen,  Stadtbibl.  XII.  4.  b.  94  No.  6. 

Litt.:  Harrisse.  BAV  nr.  41.  („Excessively  rare  Tract").  — 
Racc.  Col.  VI  206  nr.  1334.  —  Proctor  H  11278. 

31.  Vespucci,   Van  den  nygen  Insulen,  Magdeburg,  1506. 

1.  Bl.  r,  (in  gotischer  Schrift) :  Van  den  nyge  Insulen  vnd  || 
landen  so  ytzandt  kortliken  ||  befunden  sindt  dorch  den  ko=||ningk 
van  Portugal.  —  Darunter  Holzschnitt,  der  offenbar  aus  zwei 
Stücken  zusammengesetzt  ist.  Links  zwei  nackte  Wüde,  rechts 
ein  stehender  Mann,  der  einem  sitzenden  König  einen  Brief  über- 
reicht. —  1.  Bl.  V.  leer.  —  Aij  r. :  Van  der  nygen  werlt  ||  Dat 
erste  Capittel  |!  <I  Albericus  Vespucius  secht  vele  heyles  ||  vnd 
gudes  Laurentio  Petri  de  medicis.  ||  IN  vorgangen  dagen  ...  — 
8.  Bl.  r. :  UTh.  welscher  tungen  in  de  latinische  /  vn  ytzundt  ||  in 
düdes  ein  goder  dichter  dysse  Epistel  gekert  1|  hefft.  dat  alle  la- 
tinischen vnd  düdischen  vorsthan/  wo  ||  vele  Wunders  degelik  ge- 
funden wert  /  vnd  der  könheit  ||  edder  freuelick  vomemen  vnder- 
gedrücket  vn  gestiUet  |l  werden/  de  den  hemel  vnd  syne  gewalt 
vnd  mayestat  [1  erfaren  wollen  /  vnd  mer  weten  wollen  den  sick 
tymet  ||  So  doch  van  solliker  tydt  her  dat  de  werlt  heft  ange«  |} 
fangen  vnbekant  sindt  gewest  de  wyde  des  ertrickes  /  ||  vnd  wat 
in  ör  iß.  |i  Gedruckt  to  Magdeborch  van  Jacob  ||  Winter.  Na  Cristi 
vnses  leuen  heren  ge|lborth  Tusent  veffhundert  vnd  seß  Jar 

4«.     8  Blatt.     Pag.:    ;A],  Aij,  [A3,,],  B,  Bij,  [63,4]. 

Braunschweig,  Stadtbibl.  C  57.  4''.  Der  Druck  ist  bis  jetzt 
unbekannt. 

32.  Yespucci,  Mundus  novus,  0.  0.  u.  J. 

1.  Bl.  r.  (in  gotischer  Schrift):  Mundus  Nouus.  —  1.  Bl.  v. : 
Albericus  vespucius  Laurentio  |!  Petri  de  medicis  salutem  plurimam 
dicit.  II  —  4.  Bl.  V. :  Ex  italica  in  latinam  linguam  iocüdus  interpres 
häc  epistolam  vertit  vt  ||  latini  oes  intelligant  q5  multa  miräda  in 
dies  reperiant  et  eor(um)  comprimajitur  audacia  qui  celü  et  maiestatem 
scrutari :  et  plus  sapere  qs  liceat  sapere  ||  volunt :  quando  a  tanto 
tempore  quo  mundus  cepit  ignota  sit  vastitas  ||  terre  et  que  con- 
tineätur  in  ea.  ||  Laus  Deo. 

4'\     4  Blatt.     Ohne  Paginierung. 


74  W.  Rüge, 

Hamburg,  Commerzbibl.  1174,  4. 

Litt. :  Harrisse,  ß  A  V  nr.  22.  —  Racc.  Col.  VI  203  nr.  1310. 

33.  Vespucci,  Mundus  novus,  o.  0.  u.  J. 

1.  ßl.  r.  (in  gotischer  Schrift) :  Mundus  nouus.  ||  (in  Antiqua) : 
ALBERICVS  VESPVTIVS  LAVRENTIO  ||  PETRI  DE  MEDICIS 
SALVTEM  PLVRI||MAM  DICIT.  ||  —  4.  ßl.  v.  (in  gotischer  Schrift): 
Ex  Italica  in  Latinam  linguam  iocundus  interpres  hanc  epistolam  || 
vertit  vt  latini  omnes  intelligant  qj  multa  miranda  indies  reperian|| 
tur.  et  eorum  comprimatur  andacia.  qui  Celum  et  maiestatem  scru- 
tari.  et  ||  plus  sapere  q5  liceat  sapere  volunt.  quando  a  tanto  tem- 
pore quo  mundus  ||  cepit  ignota  sit  vastitas  terre.  et  que  con- 
tineantur  in  eo.  ||  (in  Antiqua)  LAVS  DEO. 

4°.     4  Blatt.     Ohne  Paginierung. 

Hamburg,  Commerzbibl.  1174,  3.  —  Darmstadt,  Großherzogl. 
Hofbibl.  0.  2382,  12.  —  Nürnberg,  German.  Mus.  ßibl.  Scheurl 
4°  385  (387). 

Litt. :  Harrisse,  B  A  V  nr.  23.  —  Racc.  Col.  VI  203  nr.  1311. 

34.  Tcspucci,  Mundus  novus,  o.  0.  u.  J. 

1.  ßl.  r.  (in  gotischer  Schrift) :  Mundus  nouus.  ||  Albericus 
Vesputius  Laurentio  Petri  ||  de  medicis  Salutem  plurimam  dicit.  |( 
—  4.  ßl.  V.:  tt  Ex  Italia  (!)  in  Latinä  linguä  iocundus  interpres 
hanc  epistolä  ||  vertit.  vt  latini  omes  intelligant  qj  multa  miräda 
indies  reperian||tur.  et  eor(um)  cöprimatur  audatia.  qui  Celum  et 
maiestate  scrutari.  et  ||  plus  sapere  qj  liceat  sapere  volunt.  qn  a 
tanto  tepore  quo  müdus  ||  cepit  ignota  sit  vastitas  terre.  et  que 
contineant(ur)  in  eo.  ||  Laus  deo. 

4".     4  Blatt.     Ohne  Paginierung. 

Würzburg,  Universitätsbibl.     It.  q.  233. 

Litt. :  Harrisse,  ß  A  V  nr.  24.  —  Racc.  Col.  VI  203  nr.  1312. 

35.  Vespucci,  Mundus  novus,  o.  0.  u.  J. 

1.  ßl.  r.  (in  gotischer  Schrift):  Müdus  nouus.  ||  d  Albericus 
vesputius  Laurentio  petri  de  medicis  ||  Salutem  plurimam  dicit.  — 
4.  ßl.  r. :  EX  Italica  in  Latinam  linguam  iocundus  interpres  häc 
episto||lam  vertit.  vt  latini  omnes  intelligant  q5  multa  miräda  in 
dies  II  repiantur.  (et)  eor(um)  (com)primatur  audacia.  qui  Celum  (et) 
maiestatem  ||  scrutari.  (et)  plus  sapere  q5  liceat  sapere  volunt.  qn  a 
tanto  tpe  quo  muu'ljdus  cepit  ignota  sit  vastitas  terre.  (et)  que 
(con)tineantur  in  eo.  ||  Laus  deo.  —  4.  Bl.  v. :  Holzschnitt,  Jungfrau 
Maria  mit  dem  Jesuskind  und  einer  Heiligen. 

4".     4  Blatt.     Ohne  Paginierung. 

Cöln,  Stadtbibl.     G.B.  XI,  174*. 


Aelteres  kartographisches  Material  in  deutschen  Bibliotheken.  75 

Litt. :  Vielleicht  =  Harrisse,  B  A  V  add.  nr.  12,  wenn  die  Ab- 
weichungen des  dort  angegebenen  Textes  auf  ungenaue  Wieder- 
gabe zurückzuführen  sind.  —  Racc.  Col.  VI  205  nr.  1320. 

36.  Tespucci,  Mundus  novus,  o.  0.  u.  J. 

1.  ßl.  r.  (in  gotischer  Schrift):  Mundus  ||  Nouus  —  1.  Bl.  v. : 
Albericvs  vespucius  Laurentio  Petri  de  me||dicis  salutem  plurimam 
dicit.  II  —  4.  Bl.  r. :  Ex  italica  in  latinam  linguam  iocundus  inter- 

pres  hanc  epistolam  vertit,  vt  latini  oes  ||  intelligant  qj  multa  mi- 
randa  indies  reperiantur  et  eorum  comprimatur  audatia  q  jj  celum 
et  maiestatem  scrutari  et  plus  sapere  q5  liceat  sapere  volunt. 
quando  a  tanto  tempO'||re  quo  müdus  cepit  ignota  sit  vastitas 
terre.   et  que  contineantur  in  ea.  ||  Laus  Deo.  —  4.  Bl.  v.  leer. 

4".     4  Blatt.     Ohne  Pagir.ierung. 

Hamburg,  Commerzbibl.  1174,  5. 

Litt.:  Harrisse,  B  A  V  nr.  30;  add.  nr.  14.  Harrisse  vermutet 
richtig,  daß  beide  Nummern  dieselbe  Ausgabe  sind;  die  'mysterious 
abbreviations'  der  Beschreibung,  die  er  für  nr.  30  benutzt  hat, 
sind  die  Anfangs-  und  Endworte  der  einzelnen  Seiten.  —  Racc. 
Col.  VI  205  nr.  1319. 

37.  Vespucci,  Mundus  novus,  o.  0.  u.  J. 

1.  Bl.  r.  (in  gotischer  Schrift) :  Mundus  Nouus  ||  <I  De  natura 
et  maribus  (et)  ceteris  id  gnis  getj  ||  que  i  nouo  müdo  opera  (et) 
impesis  serenissimi  ||  portugallie  regis  superioribus  änis  inuento  || 
Albericus  vesputius  Lauretio  petri  de  medicis  Salute  plurimä 
dicit  —  4.  Bl.  r. :  EX  Italica  in  Latinam  linguam  iocundus  interpres 
häc  episto||lam  vertit.  vt  latini  omnes  intelligant  qj  multa  miräda 
in  dies  ||  repiantur.  et  eor(um),  (con)primatur  audacia.  qui  Celum 
(et)  maiestatem  ||  scrutari  (et)  plus  sapere  q5  liceat  sapere  volunt. 
qn  tanto  tpe  quo  mundus  ||  cepit  ignota  sit  vastitas  terra  (et)  que 
(con)tineantur  in  eo  ||  tt  Laus  deo. 

4**.     4  Blatt.     Ohne  Paginierung. 

Göttingen,  Universitätsbibl.     Hist.  Amer.  I  621. 

Litt.:  Harrisse,  BAV  nr.  29.  —  Racc.  Col.  VI  204  nr.  1316. 

38.  Tespucci,   De  novo  mundo,  (Rostock,  1505). 

1.  Bl.  r.  (in  gotischer  Schrift) :  Epistola  Albericij.  ||  De  nouo 
mundo.  —  Darunter  Holzschnitt  in  einfachem  Rahmen,  links  "Wilder 
mit  Bogen  und  zwei  Pfeilen,  rechts  eine  Wilde.  —  1.  Bl.  v.:  Mundus 
nouus  II  Albericus  Vesputius  laurentio  petri  jj  de  medicis  Salutem 
plurimam  dicit.  —  4.  Bl.  r. :  Ex  italica  in  latinä  linguä  iocundus 
interpres  hanc  epistolam  vertit  vt  latini  omnes  ||  intelligant  qua 
multa  miranda  indies  reperiätur  et  eor(um)  cöprimatur  audacia  qui 


76  W.  Rüge, 

celn  (!)  II  et  maiestate  eius  scrutari  et  plus  sapere  qua  liceat  sapere 
volunt  quädo  a  tanto  tempo||re  quo  mundus  cepit  ignota  sit  vastitas 
terre  et  que  contineantur  in  ea  —  4.  Bl.  v.  Halbkugel  der  Alten  Welt. 

Fol.     4  ßlatt.     Pag.:  [a],  aij,  [a^,  J. 

Frankfurt,  Stadtbibl.     Amer.  gen,  12.     fol. 

Publ. :  Sarnow  und  Trübenbach,  Mundus  Novus  1903.  (Facsi- 
mile). 

Litt.:  Harrisse,  BAV  add.  nr.  13.  -  Racc.  Col.  VI  205 
nr.  1321. 

39.  Vespucci,  o.  0.  (Paris)  u.  J. 

1.  Bl.  r.  (in  gotischer  Schrift) :  Alberic9  vespucci9  lauretio  || 
(in  Antiqua)  petri  francisci  de  medicis  Salutem  plurimä  dicit.  — 
Darunter  ein  Buchdruckerzeichen  in  Holzschnitt,  zwei  AiFen  am 
Fuß  eines  Baumes,  auf  einer  am  Baum  hängenden  wappenschild- 
ähnlichen Tafel  steht  (in  gotischer  Schrift):  felix.  Unter  dem 
Bild  (in  gotischer  Schrift) :  lehan  lambert  —  1.  Bl.  v.  leer.  — 
6.  Bl.  r.  (in  Antiqua):  €f  Ex  italiaca  in  latinä  linguam  iocundus 
interpres  hanc  episto=||lam  vertit  vt  latini  omnes  intelligant  qj 
multa  miranda  indies  re||periantur.  &  eorum  cöprimatur  audacia. 
qui  celum  &  maiestatem  ||  scrutari/  &  plus  sapere  q  liceat  sapere 
volunt  qn  a  tanto  tempore  ||  quo  mundus  cepit  ignota  sit  vastitas 
terre  &  q  cötineantur  in  ea. 

4".     6  Blatt.     Pag.:  [a.j,  a.  ii.,  a.  iii,  [4—6]. 

Stuttgart,  Kgl.  Landesbibl.     Geogr.  Vespucci.     4*^. 

Litt.:  Harrisse,  BAV  nr.  26.  —  Racc.  Col.  VI  204  nr.  1814. 

40.  Vespucci,  Von  der  neu  gefunden  Region,  Nürnberg,  o.  J. 

1.  Bl.  r.  (in  gotischer  Schrift):  Von  der  new  gefunnde  Re- 
gion die  wol  II  ein  weit  generint  mag  werden/  Durch  den  Cristen- 
lichen  Kü||nig  von  Portugall  /  wunnderbarlich  erfunden.  —  Darunter 
Holzschnitt:  Der  König  von  Portugal  mit  Panzer  und  Schwert, 
in  der  Rechten  das  Scepter  haltend,  in  der  Linken  das  Schild  auf 
den  Boden  stützend.  —  1.  Bl.  v. :  Albericus  Vespuctius  Laurentio 
Petri  Francisci  ||  de  medicis  vil  grüeß.  ||  —  6.  Bl.  r. :  ci  Auß  Ita- 
lischr  sperach  in  latein  der  hübsch  Tolmetsch  dise  Epistel  gezogenn  || 
hat  vmb  das  dlle  (!)  lateiner  verstannden  wie  vil  grosser  wunder- 
lichen dinngen  ||  von  tag  zu  tag  funden/  Vnd  die  freuelmut  vertruckt 
werden  denen  die  den  hyljmel  vnd  gottes  maiestat  zu  erfaren  vnnd 
mer  wissen  vnd  versteen  wollen  dan  ||  gebürlich  ist  So  von  so  vil 
zeyt  her  als  die  weit  geschaiFen  unbekant  gewesen  jj  ist  die  wilde 
gelegenheit  des  ertrichs  vnd  der  menschen  vnd  die  darin  ||  won- 
hafftig  seind/  Auß  latein  ist  dist  missiue  in  Teütsch  gezogeauß 
dem    exem>||plar    das    von    Pariß    kam    ym    malen    monet    nach 


Aelteres  kartographisches  Material  in  deutschen  Bibliotheken.  77 

Christi  geburt/  Fünfftzenhun||dert  vnnd  Fünffjar.  ||  tK  Gredruckt 
yn  Nüremberg  ||  durch  Wolffganng  !|  Hueber.  !|  —  Darunter  drei 
Wappen. 

40.  6  Blatt.     Pag.:  [A,],  Aij,  Aiij,  [A^—,]. 

Hamburg.  Commerzbibl.  1174,  6.  —  Frankfurt  a.  M.,  Stadt- 
bibl.  Bist.  B.  IV  53,  9.  —  München,  Universitätsbibl.  4«.  Itin.  123 
(4«  Libri  rari  2).  —  München,  Hof-  und  Staatsbibl.    4«.    Cim.  230^ 

Litt.:  Harrisse,  B  AV  nr.  33.  -    Racc.  Col.  VI  206  nr.  1326. 

41.  Yespuccl,  Von  der  neu  gefunden  Region,  0.  0.  u.  J. 

1.  Bl.  r.  (in  gotischer  Schrift):  Von  der  neüw  gefunden  Re- 
gion II  die  wol  ain  weit  genent  mag  werden/  durch  den  Cristen- 
lichen  ||  künig  von  portugal  wxmderbarlich  erfunden.  —  Darunter 
Holzschnitt  91  X  116  mm.  den  König  von  Portugal  darstellend.  — 
1.  Bl.  V.:  Albericus  Vespuctius  Laurentio  ||  Petri  Francisci  de  me- 
dicis  vil  grüß.  —  7.  Bl.  v.:  (^T*  Auß  ytalischer  sprach  in  latein 
der  hübsch  Tolmetsch  dise  Epi||stel  gezogen  hat  vmb  das  alle  la- 
teiner  verstanden  wie  vil  grosser  ||  wunderlichen  dingen  von  tag 
zu  tag  funden.  Vnd  die  freuelmüt  ||  vertrackt  werden  denen  die 
den  hymel  vnd  gottes  maiestat  zu  erfajren  vnd  mer  wissen  vnd 
versteen  wollen  dann  gebürlich  ist.  So  ||  von  so  vil  zej't  her  als 
die  weit  geschaffen  vnbekannt  gewesen  ist  ||  die  wilde  gelegenhait 
des  erdtrichs  vnd  der  menschen  vnd  dingen  ||  die  darinn  wonhafftig 
seind  Auß  latein  ist  diß  missiue  in  Teutsch  ||  gezogen  auß  dem 
Exemplar  das  von  Pariß  kam  im  mayen  mo'jjnet  nach  Christi  ge- 
burt.    XV.  hundert  vnd  fünff  jar. 

40.     8  Blatt.     Pag.:  ;A,  A,;.  Aiij,  Aiiij,  [A^-sl. 

München,  Hof-  und  Staatsbibl.  4°.  Rar.  b\  früher  Cim.  230' 
(das  8.  Blatt  ist  nicht  vorhanden). 

Litt. :  Harrisse,  B  A  V  nr.  34  (das  wohl  nicht  ganz  genau  ist). 
—  Racc.  Col.  VI  207  nr.  1332.  —  Proctor  II  10613  (?). 

43.    Vespncci,  Von  der  neu  gefunden  Region,  0.  0.  u.  J. 

1.  Bl.  r.  (in  gotischer  Schrift) :  Von  der  neu  gefunden  ||  Re- 
gion so  wol  ein  weit  genempt  mag  werden/  ||  durch  den  Criste- 
lichen  künig/  von  Portigal/  ||  wunderbarlich  erfunden  '  —  Darunter 
Holzschnitt:  König  von  Portugal  mit  Schild.  —  1.  Bl.  r. :  Albericus 
Vespuccius  Laurentio  ||  Petri  Francisci  de  Medicis  viel  grüß.  — 
Am  Ende:  üß  ytalischer  sprach  in  latin  der  hüpsch  Tollmetsch 
dyß  II  epistel  gezoge  hat  vmb  das  alle  latiner  verstände  wie  vil  || 
grosser  wunderlichen  dingen  von  tag  zu  tag  funde/  Un  ||  die  frefel- 
müt  vertruckt  werde  dene  die  den  himel  vnd  got||tes  maiestat  ze 
erfaren  vnd   me   wissen   vn   verstau   wollen  j|  denn  gebürlich   ist  / 


78  W.  Rüge, 

So  von  so  vil  zitt  har  als  die  weit  ge=  1|  schaffen  vnbekät  gewesen 
ist  die  wilde  gelegeheyt  des  ert||riclis  vnd  der  mensche  vfi  dinge 
die  dar  in  wöhaiFt  synd  ||  Uß  latin  ist  diß  missiue  in  Tütsch  ge- 
zogen vß  dem  exemjlplar  das  von  Pariß  kam  im  Meyen  monet 
mitle  Nach  ||  Cristus  geburt  -XV-  hundert  vnd  fünfF  iar. 

4«.     8  Blatt.     Pag.:  [A],  Aij,  Aiij,  Aiiij  [A,^,]. 

Basel,  Universitätsbibl.     F.  P,  VII^  8  nr.  4.     4P. 

Litt. :  flarrisse,  B  A  V  nr.  37.  —  Racc.  Col.  VI  206  nr.  1327. 

43.  Vespucci,  Von  der  neu  gefunden  Region,  o.  0.  u.  J. 

1.  Bl  r.  (in  gotischer  Schrift) :  Von  der  neu  gefunden  Region 
die  wol  II  ein  weit  genent  mag  werden/  durch  den  Cristenlichen 
künig  II  von  portigal/  wunderbarlich  erfunden.  —  Darunter  Holz- 
schnitt ,  König  von  Portugal  mit  Scepter  in  der  Rechten.  — 
1.  Bl.  V. :  Albericus  Vespuctius  Laurentio  Petri  ||  Francisci  de  me- 
dicis  vil  grüß.  —  7.  Bl.  v. :  ö  Auß  y talischer  sprach  in  latein  S. 
hübsch  Tollmetsch  dyße  Epi'||stel  gezogen  hat  vmb  das  alle  lateinner 
verstanden  wie  vil  grosser  ||  wunderlichen  dingen  von  tag  zu  tag 
funden/  Vnnd  die  freuelmut  [|  vertriickt  werden  denen  die  den  hymel 
vnd  gottes  maiestat  ze  erfa||ren  vnd  mer  wissen  vnnd  versteen 
wollen  dann  gebürlich  ist/  So  ||  von  so  vil  zeytt  her  als  die  weit 
geschaffen  vnbekannt  gewesen  ist  ||  die  wilde  gelegenheyt  des  ert- 
richs  vnd  der  menschen  vnd  dyngen  ||  Die  darinn  wonhafftig  seind/ 
Auß  lateyn  ist  dyß  missiue  in  Teusch  ||  gezogen  auß  dem  Exemplar 
das  von  Paryß  kam  im  meyen  mo=||net  Nach  Christi  geburt.  XV. 
hundert  vnd  funff  jar. 

4".     8  Blatt.     Pag.:  [A],  Aij,  Aiij,  Aiiij,  [As—g,,  A«  leer]. 

Bamberg,  Kgl.  Bibl.  Inc.-  typ.  Ic.  II  17.  —  Dresden,  Kgl.  Bibl. 
Eist.  Amer.  149,  36. 

Litt. :  Harrisse,  B  A  V  nr.  38.  (Die  Abweichungen  sind  wohl 
auf  Ungenauigkeit  der  Wiedergabe  zurückzuführen).  —  Racc.  Col. 
VI  206  nr.  1320.  —  Proctor  II  10982.  —  Rüge,  Zeitalter  der  Ent- 
deckungen 1881,  333  f.,  wo  auch  Bl.  1  facsimiliert  ist. 

44,  VespuccJ,  Von  der  neuen  gefundenen  Region,  o.  0.  u.  J. 
1.  Bl.  r.  (in  gotischer  Schrift):   a  Von  der  neu  wen  gefunde  || 

Region/  die  wol  ein  wellt  genennt  mag  werden.  ||  durch  den 
Cristenlichen  künig  von  Portugal/  gar  ||  wunderlich  vnd  selczam 
erfunden.  —  Darunter  ein  Holzschnitt,  mit  der  Überschrift:  Der 
künig  von  Portugal.  —  1.  Bl.  v. :  Albericus  vespuccius  Lau||rencio 
Petri  francisci  de  medicis  vil  grüß  k.  —  10.  Bl.  v.:  €S  Auß  yta- 
lischer  sprach  in  latein  der  hübsch  Tull'||metsch  dise  Epistel  ge- 
zogen  hat   vmb   das   alle  lateijjner  verstanden  wir  (!)  vil   grosser 


Aelteres  kartographisches  Material  in  deutschen  Bibliotheken.  79 

wunderlichen  din=|!gen  von  tag  zu  tag  fanden  Vn  die  fräuelmüt 
ver=l|merckt  werden/  denen  dye  den  hymel  vnnd  gottes  ||  mayster 
zu  erfaren  vnd  mer  wissen  vnnd  versteen  ||  wollen  dann  gepürlich 
ist  So  von  so  vil  zeyt  her  j|  als  die  weit  geschaffen  vnbekannt  ge- 
wesen ist  die  il  willde  gelegenheyt  des  erdtrichs  vf  der  menschen  || 
vnnd  dingen  die  darinn  wonhafftig  seind.  Auß  la||tein  ist  diß  mis- 
siue  in  teütsch  gezogen  auß  dem  ex'ljemplar  das  von  Pariß  kam  jm 
Mayen  monat  na||ch  Cristi  gepurdt  XV.  hundert  vnd  fünff  jar. 

4».     10  Blatt.     Pag.:  >],  aij,  aiij,  ßt—g],  b.  bij,  j,  J. 

München.  Hof-  und  Staatsbibl.    4".     Rar.  5^  früher  Cim.  230»«. 
Litt. :    Harrisse.    B  A  V   add.    nr.  21    (nicht   ganz    genau).  — 
Racc.  Col.  VI  207,  nr.  1331. 

45.  Vespucci,  Die  neu  gefundenen  Menschen,  o.  0.  u.  J. 
Das    sind    die   new  gefunde   mensche   od   volcker  In  form  vii 

gestalt  Als  sie  hie  stend  durch  de  Cristenlichen  ||  Künig  von 
Portugall/  gar  wunnderbarlich  erfunden.  —  Darunter  Holzschnitt 
240  X  170  mm,  Meerenge  mit  drei  Schiffen,  auf  dem  Lande  rechts 
und  links  Indianer  und  Indianerinnen.  Darunter  beginnt  der 
Text :  a  Albericus  vespuctius  Laurentio  petri  Franciscij  vil  grues 
....  Schluß:  Vnd  dise  Epistel  auß  Yta||lischer  sprach  in  Latein/ 
vn  yetz  gedeutsch.  Der  hübsch  tholmetsch  gezoge  hat.  Vmb  das 
alle  lateiner  vn  deutsche  v'standen/  wie  vil  grosser  vn  wunder- 
licher dinge  ||  von  tag  zu  tag  gefunden/  vn  offenbar  werden. 
Vndiß  missiue  in  deutsch  gezoge/  Auß  dem  exemplar  das  von 
Pariß  kam  ym  Mayen  monat.  Nach  Cristi  geburt  ||  Fünfftzehen- 
hundert  vn  funff  Jare. 

Gut  altkolorierter  Einblattdruck,  Breite  und  Höhe  der  Schrift- 
kolumne 245  X  376  mm,  42  Zeilen.  Es  ist  eine  Art  Auszug  aus 
der  gewöhnlichen  Fassung  des  Vespuccibriefs ;  er  enthält  vor  aUem 
die  Schilderung  der  Sitten.  Der  Text  stimmt  nicht  durchaus  mit 
dem  der  vollständigen  Ausgaben. 

Wolfenbüttel,  Herzogl.  Bibl.  26  QuodHb.  Heimst.  2°.  Der 
Druck  ist  bis  jetzt  unbekannt. 

46.  Yespuecl,  Reisen,  Straßburg,  1509. 

1.  Bl.  r.  (in  schwabacher  Schrift):  Diß  büchlin  saget  wie  die 
zwe  II  durchlüchtigste  herre  her  Fernandus.  K.  zu  Castilien  jj  vnd 
herr  Emanuel.  K.  zu  Portugal  haben  das  weyte  ||  mör  ersuchet  vnnd 
fanden  vil  Insulen/  vnnd  ein  Nüwe  ||  weit  von  wilden  nackenden 
Leuten/  vormals  vnbekant.  —  Darunter  Holzschnitt,  Stadt  an  der 
Küste,  links  oben  in  bandförmigem  Rahmen :  LISIBOXA,  an  der 
Küste  ein  Schiff,  König  und  sein  Begleiter  am  Lande,  auf  sie  treten 


80  W.  Rüge, 

von  rechts  her  zwei  Männer  zu,  der  erste  mit  einem  Brief.  — 
Aij  r. :  Vorred  vö  der  nüwen  weit  ||  Dem  durchleüchtigsten  fürste  |f 
vnd  herren/  harren  Reinharten  künig  zu  Hierusalem  ||  vnd  Sycilien/ 
hertzogen  zu  Lotringen/  Embeüt  Ame||ricus  Vesputius  sein  de- 
mütige ere  erbüt  mit  zymlicher  ||  sein  selbs  emphelung.  —  Es  folgt 
nun  der  Bericht  über  die  vier  Reisen  Vespuccis ;  am  Schluß  (Fö  r.) 
steht:  Americus  Vesputius  zu  Lißbon.  —  (F5  v.):  Derselbe  Holz- 
schnitt wie  auf  dem  Titelblatt.  —  (Fe  r.):  Gedruckt  zu  Straßburg 
durch  Johäne  Grüniger  ||  Im  iar.  M  •  CCCCC  •  IX  •  viF  mitfast.  Wie 
du  aber  dye  ||  kugel  vn  beschreibung  der  gantzenn  weit  verston 
soltt/  II  würst  du  hernach  finden  vnnd  lesen. 

40.  32  Blatt.  Pag.:  [A],  Aij,  Aiij,  Aiiij ;  B,  Bij,  Biij,  Biiij  [B5,  «],  C,  Cij, 
Ciij,  Cüij,  [C5,.],  D,  Uij,  Diij,  Diiij,  E,  Eij,  Eiij,  Eiiij,  [E5,  e],  F,  Fij,  Fnj, 
Fiiij,  [F5,6]- 

Wolfenbüttel,  Herzogl.  Bibl.     Cimeliotheca  VI,  87.    4». 

Litt.:  Harrisse,  BAV  add.  nr.  31.  —  Racc.  Col.  VI  210 
nr.  1346. 

47.  Genau  denselben  Text  gibt  eine  andere  Ausgabe;  nur 
in  der  Schlußbemerkung  bietet  sie  „vif  Letare"  anstatt  „vif 
mitfast". 

Stuttgart,  Kgl.  Landesbibl.  Geogr.  Vespucci.  4*^.  —  Frei- 
burg i.  Br.,  Universitätsbibl.  I.  4672°.  —  München,  Hof-  u.  Staats- 
bibl.  40.  Am.  A.  390.  —  Nürnberg,  German.  Mus.  Inc.  7633.  — 
Straßburg,  Universitätsbibl.     Do.  XXV  Cimelien. 

Litt.:  Harrisse,  B  A  V  nr.  62.  —  Racc.  Col.  VI  210  nr.  1345. 
—  Fischer  und  v.  Wieser,  Cosmographiae  introductio,  1907,  26.  — - 
Schmidt,  Repertoire  bibliogr,  strasbourgeois  1893,  I  nr,  101. 

48.  Montario  (Münzer),  Brief  an  Johann  II.,  Anfang  des 
16.  Jahrh. 

1.  Bl.  r.  (in  gotischer  Schrift):  Tractado  da  spera  do  mundo 
tyrada  de  latim  em  li||guoagem  com  ha  carta  que  huü  gramde 
doutorale  |1  man  mando  ua  orey  de  purtugall  dom  Joham  el  se- 
güdo.  —  Darunter  eine  Sphäre.  Das  Buch  ist  ein  Auszug  aus  der 
Sphaera  mundi  des  Johannes  de  Sacrobosco. 

Der  Brief  steht  Bl.  [es]  v.  24.  Zeile  f.:  A  cartta  que  enuiou 
hieronimo  montario  doutor  alemä  ||  da  ^idade  de  norüb'ga  em  ale- 
mania  ao  serenissimo  rey  do  ||  Joham  0  següdo  de  portugall  sob' 
o  descob'mento  do  ma||ar  o^eano  (et)  p(ro)uen9a  do  gnde  cü  de  catay 
tirada  de  lati  en  li||guajen  por  instre  aluaro  da  torre  mstre  en 
theologia  da  or||dem  de  sam  domingos  pregador  do  dicto  senhor 
rey  .  .  .  und  schließt:   vale.   de  numberga  vi||la  da  alta  alemanha 


Aeltereß  kartographisches  Material  in  deutschen  Bibliotheken,  81 

a.  14.  de  julho:  salutis  de  mill  (et)  quaHtrogemtos  (et)  nouventa 
(et)  tres  änos. 

4".     20  Blatt.     Pag.:  [aj—J,  b,  [ba—J,  ebenso  c— e. 

München,  Hof-  und  Staatsbibl.     Rar.  204. 

Publ.  u.  Litt.:  E.  do  Canto,  im  Archive  dos  A^ores  I  1878 — 
1880,  444.  —  Harrisse.  Discovery  of  North-America  1892,  393.  — 
Grauert  im  Histor.  Jahrbuch  d.  Görres-Gesellschaft  1908,  315.  — 
Vgl.  oben  nr.  1. 

49.  Emanael,  König  von  Portugal,  Brief  (Rom  1505). 

1.  Bl.  r.  (in  gotischer  Schrift):  ff  Copia  de  vna  littera  del 
Re  de  Portagallo  mädata  ||  al  Re  de  Castella  del  viaggio  (e)  successo 
de  India.  ||  BEnche  catholico  Re  (e)  signore  dapoi  il  trafico  (e)  co- 
mer=||tio  in  le  parte  de  India  .... 

Unvollständig,  4.  Bl.  [a*]  v.  schließt,  mitten  im  Satz  aufhörend : 

fece  arma||re  certe  naue  p  venire  sopra  le  quatro  nre  le 

quäle  p.  XX.  giorni.  —  Handelt  von  der  Reise  Cabrals  1500  und, 
von  [su]  v.  an,  von  der  Fahrt  des  Gronzalvo  Maletra  nach  Indien  1501 
Es  fehlt  die  Hälfte.  Bisher  sind  nur  drei  Exemplare  dieses  Briefes 
bekannt. 

4°.     4  Blatt.     Pag.:  a,  aij,  [ag,  J. 

München,  Hof-  und  Staatsbibl.    4».    Eur.  346,  46. 

Publ.:  Burnell,  A.  C,  The  Italian  Version  of  a  Letter  from 
the  King  of  Portugal  to  the  King  of  Castilla.  London  1881 
(nicht  im  Handel).  —  Peragallo,  P.,  Carta  de  el-rei  D.  Manuel  ao 
rei  catholico.  Lisboa  1892  (auch  in  den  Memorias  da  Academia 
Real  das  sciencias  de  Lisboa  1892).  —  Facsimileausgabe  von  Eu- 
genio  do  Canto  1906  (nicht  im  Handel). 

Litt. :  Racc.  Col.  VI  86  nr.  561—562». 

50.  Emanuel  rex  Lnsitaniae^  Obedientia,  o.  0.  u.  J. 

1 .  Bl.  r.  (in  Antiqua) :  Obedientia  Potentissimi  Emanuelis  Lu- 
sitaniae  ||  Regis  &c.  per  clarissimum  Juris.  V.  consultum  ||  Dieghum 
Pacettü  Oratorem  ad  JuKü  •  11  •  Pont  •  ||  Max  •  Anno  Dni  •  M  •  D  •  V  • 
Pridie  No  •  Junü  •  ||  PEriclem  Atheniensem  Oratorem  illum  ce||le- 
berrimü:  ....  —  Schluß  4.  Bl.  v. :  .  .  .  .  Deum  Optimum/  maxi- 
mum/  II  praecantes  /  ut  te  secundü  felicemqs  ppetuo  tueatur.  ||  DIXI. 

4".    4  Blatt.     Ohne  Paginierung. 

Zeitz,  Kgl.  Stiftsbibl.     Epist.  quart.  27,  2. 
Litt. :  Racc.  Col.  VI  86  nr.  562.   —  Harrisse,   Americus  Ves- 
puccius  1895,  28. 

51.  Emanuel  rex  Lusitaniae^  Obedientia,  o.  0.  u.  J. 

1.  Bl.  r.   (in  Antiqua):    a  Obedientia   Potentissimi  Emanuelis 

Kgl.  Oes.  d.  Wiss.  Nachrichten.    Philolog.-histor.  Klasse.    1916.    Beiheft.         6 


82  W.  Rüge, 

Lusitaniae  ||  Regis  zc-f-per  clarissimum  Juris +V-i-cösultum  Die  -  || 
ghum  Pacettum  Oratorem  ad  Julium  -|-Il4-Ponti+  ||  Max -|- Anno 
Dni  +  M  +  D  +  V  +  Pridie  No  -f-  Junii  +  ||  PEriclem  Atheniensem 
Oratorem  illü  ||  celeberrimum  :J:  ....  —  Schluß  4.  Bl.  v. :  .  .  .  . 
Deum  Optimum  /  ma-||ximum/  praecantes/  ut  te  secundum  felicemqs 
per-||petuo  tueatur+  ||  DIXI+ 

Handelt  von  den  portugiesischen  Kämpfen  in  Afrika,  Arabien 
und  Indien. 

4P.     4  Blatt.     Ohne  Paginierung. 

Frankfurt  a.  M.,  Stadtbibl.     Praed.  2324,  22. 
Publ. :    Facsimileausgabe   von  Eugenio   do  Canto    1906    (nicht 
im  Handel). 

53.    Anonymus,  Fahrt  von  Lissabon  nach  Indien,   o.  0.  u.  J. 

1.  Bl.  r.  (in  gotischer  Schrift):  Den  rechte  w^eg  auß  zu  faren 
von  Liß||bona  gen  Kallakuth.  vö  meyl  zu  meyl  ||  Auch  wie  der 
kunig  von  Portigal  yetz  newlich  vil  galeen  vn  na||ben  wider  zu 
ersuchen  vnd  bezwingen  newe  land  vnnd  jnsellen  ||  durch  kalla- 
kuth in  Indien  zu  faren.  Durch  sein  haubtman  also  |(  bastelt  als 
hernach  getruckt  stet  gar  von  seltzsamen  dingen.  —  Darunter 
Holzschnitt,  Insel  mit  Berg,  stehender  junger  Mann  mit  Hellebarde 
links,  liegender  Wilder  mit  Bogen  rechts.  Dazwischen  ein  Dreieck. 
Rechts  im  Meer  Teil  eines  Schiffes.  —  1.  Bl.  v. :  Holzschnittkarte 
der  östl.  Halbkugel,  die  Asia,  Europa,  Affrica  in  rohen  Umrissen 
zeigt.  Dazu  der  Text:  ff  Dise  Spere  nach  Ptholomeus  beschrei- 
büg  des  ertrichs  wirt  I|  euch  lernen  vnd  vnder  weyssen  die  gelegen- 
hait  der  landen  bey  ||  welcher  linien  vnd  gradus  Auch  ist  die 
nach  gesetzt  figur/  in  yr  |j. halten  alle  vor  geschribne  ding  von 
newen  inseln  vnd  lande  die  ||  man  yetz  in  kurtz  gefunden  hat/ 
das  dan  den  philozophi  lange  ||  zeit  verporgen  ist  gewessen.  Man 
vind  auch  dar  in  verzeichnet  ||  Nurmberg  Lißwona  vnd  kallakuth 
mit  puncten  vnd  ainzalig  ||  puchstaben  in  diser  figur.  - —  4.  Bl.  r. : 
Der  Holzschnitt  von  Bl.  1  r.  wiederholt,  v.  leer. 

4°.     4  Blatt.     Ohne  Paginierung. 

Hannover,  Kgl.  Bibl.  XII  A,  2».  —  Frankfurt  a.  M.,  Stadtbibl. 
Mise.  var.  538,  9.  —  Freiburg  i.  Br.,  Universitätsbibl.  J.  4672  m,  3. 
—  Zwickau,  Ratsschulbibl.  XXIV.  X.  14,  8.    4". 

Litt.:  Ternaux-Compans  nr.  75.  —  Weller  nr.  305.  —  Brunet 
IV  1135.  —  Teilweise  abgedruckt  bei  Sarnow  und  Trübenbach, 
Mundus  Novus  1903,  12.  —  Proctor  II  11047. 

53.    Anonymus,  Fahrt  von  Lissabon  nach  Indien,  o.  0.  u.  J. 
1.  Bl.  r.  (in  gotischer  Schrift):  Den  rechten  weg  auß  zu  faren 


Aelteres  kartographisches  Material  in  deutschen  Bibliotheken.  83 

vö  Liß=||bona  gen  Kallaknth  von  meyl  zu  meyl  jj  Auch  wie  der 
Kunig  von  Portigal  yetz  newlich  vill  Graleen  vnd  ||  nahen  wider 
zu  ersuchen  vnd  bezwingen  newe  landt  \Tid  Insellen  /  ||  durch  kalla- 
kuth  in  Indien  zu  faren  Durch  sein  haubtman  also  be=||stelt  als 
hernach  getruckt  stet  gar  von  seltzsamen  dingen.  —  Darunter  Holz- 
schnitt wie  auf  der  anderen  Ausgabe,  s.  o.  nr.  52.  —  1.  Bl.  v. :  Holz- 
schnittkarte der  östl.  Halbkugel,  die  Asia,  Europa,  Affrica  in  rohen 
Umrissen  zeigt.  Dazu  der  Text:  ü  Dise  spere  nach  Ptholomeus 
beschreybung  des  erdreychs  wirdt  |j  euch  lernen  vnd  vnderweysen 
die  gelegenheyt  der  landen  bey  weLjjcher  linien  vnd  grads  Auch 
ist  die  nach  gesetzt  figur/  in  jr  halten  alle  jl  nach  geschribne 
ding  von  newen  Inseln  vnd  landen  die  man  yetz  ||  in  kurtz  ge- 
funden hat '  das  dan  den  Philosophi  lange  zeyt  verborgen  Ij  ist  ge- 
wesen. Man  findt  auch  darin  verzeychnet  Nürnberg/  Liß'||bona 
vn  kallakuth  mit  pückten  vii  einzalig  buchstaben  in  der  figur.  — 
4.  Bl.  r. :  Derselbe  Holzschnitt  wie  1.  Bl.  r.:  4.  Bl.  v.  leer. 
4°.     4  Blatt.     Ohne  Paginierung. 

Bamberg,  Kgl.  Bibl.  Inc.  typ.  Ic.  IL  17.  —  Wolfenbüttel, 
Herzogl.  Bibl.  —  München,  Universitätsbibl.  4*^.  Libri  rari  5 
(4°  Hist.  aux.  1270,  7). 

Litt.:  Weller  nr.  304.  —  Proctor  II  10966.  —  Außerdem 
vorige  nr. 

54.    Emanuel,  rex  Portugaliac,  G-esta.  Rom.  1506. 

1.  Bl.  r.  (in  gotischer  Schrift) :  GEsta  proxime  per  Portugalen  jj 
ses  in  India:  Ethiopia:  (et)  aliis  ||  orinetalibus  (I)  terris.  —  1.  Bl.  v. : 
leer.  —  II  r. :  d  Gesta  (pro)xime  p  portugaleii  in  india :  ethiopia 
(et)  alijs  orientalllibus  terris.  a  serenissimo  Emanuele  portugalie 
rege  ad  R.  d.  |j  d.  G.  epm.  portuen  sacroscte  Ro.  ec.  cardinale 
portugalen  mi=||ssa:  (et)  de  eiusde  dni  Cardinalis  mädato  honora- 
bilis  viri  Pe=||tri  alfonsi  malherio  decretor(um)  doctoris  ac  eiusde 
dni  Cardinajjlis  pfati  capellani  industria  (et)  correctiöe  in  vrbe  im- 
pressa.  ||  QUis  loquet(ur)  potetias  dni :  .  .  .  —  6.  Bl.  r. :  ö  Impressum 
Rome  per  Joannem  Besicken  An=||no  •  M-  cccccvi  •  Die  •  vij  •  mensis 
Xouembris. 

4».     6  Blatt.     Pag.:  [1],  Il.iij,  [4—6:. 

München,  Hof-  und  Staatsbibl.     4°.     Hist.  As.  233. 

Litt. :  Temaux-Compans  nr.  77.  —  Graesse  III  73.  —  Brunet 
II  1571.  —  Harrisse,  Americus  Vespuccius  1895,  30  f.  —  BuU. 
geogr.  hist.  et  descr.  1906,  246. 

Publ. :  Facsimileausgabe  von  Eugenio  do  Canto  1906  (nicht  im 
Buchhandel). 

6* 


84  W.  Rüge, 

55.  Emannel^  rex  Portngaliae^  Gesta,  Cöln,  1507. 

1.  Bl.  r.  (in  gotischer  Schrift):  GEsta  proxime  per  Portuga-j( 
lenses  i  India.  Ethiopia.  (et)  alijs  ||  orietalibns  terris.  —  Darunter 
ein  Holzschnitt,  das  Christuskind  mit  zwei  Frauen  darstellend. 
Unten  und  rechts  eine  Zierleiste.  —  1.  Bl.  v. :  derselbe  Holz- 
schnitt, oben,  unten,  rechts  eine  Zierleiste.  —  2.  BL  r. :  Copia 
quarüdä  rerum  nouiter  ||  gestarum  per  serenissimü  regem  portigalie 
missa  ex  E-omana  curia  Se||quitur  et  de  verbo  ad  verbü  (con)cordat 
put  notarius  infra  scriptus  in  fine  ||  fidem  facit.  ||  €1  Gesta  proxime 
p  portugalen  in  india.  ethiopia  (et)  alijs  orietalib(us)  terr(is)  ||  a  sere- 
nissimo  Emanuele  portugalie  rege  ad.  R.  d.  d.  G.  Epm  portuen  |{ 
sacrosancte  Ro.  ec.  cardinale  portugalen  missa.  (et)  de  eiusdem  dni 
Cardi||nalis  mädato  honorabilis  viriPetri  alfonsi  malhereo  decretor(um) 
docto||ris  ac  eiusdem  domini  Cardinalis  prefati  capellani  industria 
(et)  corre=||ctione  in  vrbe  impressa.  ||  QUis  loquet(ur)  potetias  dSi: 
....  —  4.  Bl.  V. :  d  Impressum  Rome  per  Joannem  Besicken  Anno 
•  M  •  cccccvi  •  Die  ||  vij  •  mensis  Nouembris  ||  ff  Presens  copia  col- 
lationatione   diligenti   facta   concordat   cum   sua   ||   vera    original! 

copia  ex  Romana  Curia  missa.   qd  ego  Joänes approbatus 

notarins  auctoris ||tate  manu  propria  hie  subtus  me  subscribens.  |[ 
ff  Impressum  colonie  Anno  dni  •  M  •  ccccc  vij  •  ||  Prima  die  mensis 
Februarij  p  me  Joannem  ||  Landen  commorante  infra  sedecim  do- 
mos.  —  Darunter  zwei  kleine  Holzschnitte. 

4°.     4  Blatt.     Ohne  Paginierung. 

Gießen,  Universitätsbibl.  S  7725  (9)  Inc.  —  Cöln,  Stadtbibl. 
G.  B.  XI,  498». 

Litt.:  Panzer,  Annales  XI  395  nr.  137.  —  Temaux-Compans 
nr.  81.  —  Brunet  II  1571.  —  Graesse  III  73.  —  Harrisse,  Americus 
Vespuccius  1895,  30  f.  —  Proctor  II  10487. 

56.  Emannel,  rex  Portugaliae,  Gesta,  Nürnberg,  1507 

1.  Bl.  r.  (in  gotischer  Schrift) :  Gesta  proxime  p  Portugalen.  in 
In||dia.  Ethiopia  (et)  alijs  orietalibus  terris.  a  serenissimo  Emanuele  [) 
portugalie  rege  ad  R.  d.  d.  G.  epm  portuefi.  sacrosctc  Ro.  ecctie  |[ 
cardinale  portugalen.  missa.  et  de  eiusde  dni  Cardinalis  mäda-||to 
honorabilis  viri  Petri  Alfonsi  malherio  decretorü  doctoris  ac  ||  eiasds 
dni  Cardinalis  prefati  capellani  industria  (et)  correctiöe  in  ||  vrbe 
edita.  —  Darunter  das  portugiesische  Wappen,  links  von  einem 
federgeschmückten  Wilden ,  rechts  von  einer  nackten  Frau  ge- 
halten. —  l.Bl.  V.:  Quis  loquet(ur)  potetias  dni —  4.  Bl.  r. : 

Impressum  Nurenberge  per  dnm  Jo-||hannem  Weyssenburger.  Anno 
(HD)  vij. 

40.     4  Blatt.     Pag.:  [A],  Aij,  Aiij,  [A4]. 


Aelterea  kartographisches  Material  in  deutschen  Bibliotheken.  85 

Hannover,  Kgl.  Bibl.  XII  ^  2*  (vgl.  Incunab.  Katalog  244).  — 
Frankfurt,  Stadtbibl.  Bist.  B.  IV.  53.  6.  —  München,  Hof-  und 
Staatsbibl.     4^     Hist.  Asiae  234. 

Litt. :  Panzer,  Annales  VII  445  nr.  43,  —  Brunet  II  1571.  — 
Temaux-Compans  nr.  80  (dort  aber  ungenauer  Titel).  —  Graesse 
III  73.  —  Harrisse,  Americus  Vespuccius  1895,  30  ff.  —  Proctor 
II  11048. 

57.  £manuel,   rex   Portugaliae,   Taprobane    insule 

acqnisitio,  o.  0.  u.  J. 

1.  Bl.  r.  (in  gotischer  Schrift) :  Taprobane  Insule  |!  Orientalis 
Ethiopie  acquisitio/  ||  Et  potentissimi  inibi  Regis.  sex  alijs  regib9 
imperantis  sub=||iugatio  /  naualisq5  belli  victoriosa  cam  Sarracenis 
propu'ljgnatio:  ac  alia  gloriosa/  per  Portugalen  nouiter  de  Anno  || 
domini  MiUesimoquingentesimoseptimo  gesta.  —  1.  Bl.  v.  leer.  — 
ij  r. :  SAnctissimo  in  christo  ac  bea||tissimo  patri  dno  dno  Julio 
diuina  (pro)tiidentia  ||  summo  pontifici:  deuotissini9  eius  sanctitat(i8) 
fili9  II  Emanuel  dei  gra  rex  Portugalie :  et  Algarbior(um)  .  . .  hüilima 
btör(um)  pedum  ||  oscula.  —  Feldzug  gegen  Taprobane.  Am  Ende 
von  ij  r. :  ....  proxime  Don  Laurentiü  de  Almeida  filiü  armata 
classe  mi'ljsit.    (sc.  der  Vizekönig)  ad  infestäda  hostiü   littora   ac 

terras.  q  etiä  /  vt  erat  iussus.  ||  accessit  ad  insulä  illä  nominatissimä 
Taprobanam.  alter(uni)  ali||quando  orbem  existimatä :  nüc  ipsor(um) 
lingua  Zejlom  appel||latam  ....  Schluß  auf  iij  v. :  Ex  oppido  jj 
Abrantes.  XXV  •  Septembris  •  M  •  D  •  Vn.  —  4.  Bl.  leer. 

4".     4  Blatt.     Pag. :  [1],  ij,  iij,  [4]. 

Bamberg,   Kgl.  Bibl.    Inc.  typ.  E.  VI.  7.    —    München,   Hof- 
und  Staatsbibl.     4^.     Hist.  As.  177. 
Litt.:  Brunet,  Suppl.  2,  727. 

58.  Emanuel,  rex  Portugaliae,  Epistola,  o.  0.  u.  J. 

1.  Bl.  r.  (in  gotischer  Schrift) :  Epistola  serenissimi  Regis  Por- 
tu||galie  ad  Juliü  papam  Secunjdü  de  victoria  contra  Lnfiijdeles  ha- 
bita.  —  1.  Bl.  v.  leer.  —  2.  Bl.  r.  (in  Antiqua):  SAnctissimo  in 
xpo  patri  &  dno  domino  !|  lulio  diuina  prouidetia  summo  Pontifijjci 
Deuotissimus  eius  -f  S  +  filius  Emanuel  ||  dei  gratia  Rex  Portugalie 

&  algarbior(um) —  4.  Bl.  v. :  Ex  oppido  ||  Abrantes   +  xxv  4- 

Septembris  +  M  +  cccccvii  + .     Inhalt  =  nr.  57. 

4".     4  Blatt.     Ohne  Paginiening. 

München.  Hof-  und  Staatsbibl.   4°.    Hist.  Asiae  178  (mit  gleich- 
zeitigen handschriftlichen  Bemerkungen). 
Litt.:  Brunet  n  968. 


86  W.  Kuge, 

59.  Emaniie]^  König  von  Portugal,  Geschichte,  o.  0.  u.  J. 
(Deutsche  Ausgabe  von  nr.  54—56). 

1.  Bl.  r.  (in  gotischer  Schrift):  Geschichte  kurtzlich  durch  die 
von  II  Portugalien  jn  India/  Morenland/  vnd  andern  erdtrich 
—  Darunter  das  portugiesische  Wappen,  mit  Krone  darüber, 
links  von  einem  federgeschmückten  Wilden,  rechts  von  einer 
nackten  Frau  gehalten.  —  1.  Bl.  v. :  Geschieht  kurtzlich  durch 
die  vö  porijtugalien  in  India.  Morenland  vnnd  andern  ertrich  des 
auff=||gangs  von  dem  durchleuchtigisten  Emanuele  Konig  portu- 
ga=||lie  zu  dem  hochwirdigisten  hern/  herren.  G.  bischofF  por- 
tuensem  ||  AUerheiligisten  Römischen  kirchen  Cardinal  portugalien- 
sem  II  zugeschickt  vnd  von  yetzgemeltes  Cardinais  gebiet  durch 
dye  II  kunstreichikeit  vii  besserung  des  hochwirdigen  maus  Petri 
Alponsi  Malherio  jn  den  geistlichen  rechten  Doctor  Auch  des  ob  || 
gemeltes  cardinals  Capella  zu  Rom  gemacht.  —  Am  Ende  der 
Seite :  Darüb  nott  geacht  ||  durch  obgemelten  aller  weysten  konig  zu 
senden  jn  gewappeten  ||  (Bl.  2)  schijÖPen  vor  vergäges  jar  M.  ccccc.  vj. 
als  läge  jar  vö  jm  da  hyn  ||  auß  gewöheit  gesandet  hat  ein  forder- 
lichen haubtman  ....  Darüb  da  hyn  gesant  den  wolgeborn  vn 
strege  man  ||  für  sich  ei  königlicher  stathalter  herre  Franciscü  vö 
Almeida  ...  —  6.  Bl.  r.  am  Ende:  .  .  .  vnd  seine  hawßfraw:  wirt 
bereyten  sich  als  ein  vertrawtte  ||  gesponß  gezirt  mit  yerem  man. 

40.     6  Blatt.     Pag.:  [A],  Aij,  Aiij,  Aiiij,  [A,,,  «]. 

Dresden,  Kgl.  Bibl.  Hist.  Amer.  149,  44,  2.  —  Frankfurt, 
Stadtbibl.     Mise.  var.  538«. 

Litt.:  Schulze,  Balthasar  Springers  Indienfahrt,  1902,  68. 

60.  Emannel,  rex  Portugaliae,  epistola,  0.  0.  u.  J. 

1  Bl.  r.  Wappen.  Darunter  (in  gotischer  Schrift):  Sere- 
nissimi Emanuelis  Portu=||gallie  Regis  ad  Julium.  II.  Pont.  ||  max. 
Epistola  de  Prouinciis :  Ciui||tatibus :  Terris :  (et)  locis  Orietalis  || 
partis:  sue  ditioni  fideiq^  christia=||ne  nouissime  per  eum  subactis.  — 
1.  Bl.  V.  leer.  —  2.  Bl.  r.  (in  Antiqua):  SAnctissimo  in  xpo  patri 
ac  Beatissimo  ||  domino  dno  Julio  diuina  prouidentia  ||  summo  Pon- 
tifici  Deuotissimus  eiusde  ||  Sanctitatis  filius  Emanuel  dei  gra  rex  || 
Portugalliae  &  Algarbiorum  ....  —  4.  Bl.  v. :  Ex  Al'||chochete 
•  xij  •  Junii  +  M  +  d  -H  viii  + 

Handelt  von  dem  Feldzug  der  Portugiesen  gegen  Arabien, 
Socotra,  Ormus  1506. 

4°.     4  Blatt.     Ohne  Paginierung. 

Frankfurt  a.  M.,  Stadtbibl.  2324,  24.  —  München,  Hof-  und 
Staatsbibl.    H.  Eccl.  263. 

Litt. :  Panzer,  Annales  XI  500  nr.  27»».  —  Brunet  II  968. 


Aelteres  kartographisciies  Material  in  deutschen  Bibliotheken.  87 

61.  Emanoel,  König  TOn  Portugal,  Brief,  o.  0.  u.  J.  (Deut- 
sche Ausgabe  von  ur,  60). 

1.  Bl.  r.  (in  gotischer  Schrift):  Ein  abschrifft  eines  sandtbriefes 
So  II  vnserm  allerheyligisten  vater  dem  Bapst  Julio  dem  andern 
ge||sandt  ist/  von  dem  allerdurchleuchtigisten  Fürsten  vnd  herren,  || 
herren  Emanuel  Kunig  zu  Porthogal  ic.  an  dem  zwelfften  tag  ||  des 
Brachmonds/  jm  .  M .  ccccc .  viij  .  jare/  von  wunderbarlichen  ||  raysen 
vnd  schieffarten/  vnd  eroberung  landt/  stet  vnd  merckt/  ||  auch 
grosser  manschlachtung  der  hayden.  —  Darunter  Holzschnitt, 
Überreichung  des  Briefes  an  den  Papst  darstellend.  —  1.  Bl.  v. : 
C[  Dem  allerheyligsten  vater  in  Christo  vnd  allerseligsten  herren  1| 
Herren  Julio ,  auß  götlicher  Ordnung  allerhösten  bischoffe  /  sagt  H 
seiner  heyligkeyt  andechtigster  sune  Emanuel  (vö  gotes  gnaden  ^ 
Kxmig  zu  Porthogal/  vnd  Algarbien/  ....  —  4.  Bl.  v. :  Datum 
auß  Alcochetbe  am  zwelfften  tage  Jxinij/  des  Brach»  ijmondes/  jm 
funfftzehenhunderten  \Tid  achten  Jaren.  ||  ü  Damach  am  viervnd- 
zwayntzigisten  tage  Julij/  des  Hew=||mondes/  auch  in  disem  jare 
Tausent  funffhundert  vnd  achten/  ||  ist  außgangen  schrifftliche  bot- 
schaffte auß  Lißbona/  von  einem  ||  erbern  glaubwirdigen  kauff- 
manne/  welches  namen  wol  bekant  ||  ist/  wie  das  diser  obgemelte 
allerdurchleuchtigiste  kunig  zu  Por^jlthogal  habe  gesandt  in  Bar- 
baria  funfftzig  schieffe  wol  gerüste/  j|  Vnd  damit  bey  sibenhundert 

raysigen   zu   Roße/   vnd   bey   vier||tawsent   fußknechten/ 

Was  aber  sein  Kunigkliche  maiestate  mit  sulchem  volcke  ||  schaffen 
wolle,  ist  ditzmals  in  der  gemeyn  noch  vnbekante/  .... 

4«.     4  Blatt.     Pag. :  [1],  ij,  üj,  [41. 

München,  Hof-  und  Staatsbibl.    4°.    Eist.  As.  179. 

Litt. :  Weller  nr.  426.  —  Proctor  n  11080  [a.  1508  July  24.]. 

62  a.    Sprenger,  Merfart,  1509. 

1.  Bl.  r.  (in  gotischer  Schrift) :  Die  Merfart  vn  erfarung  nüwer  [| 
Schiffung  vnd  Wege  zu  viln  onerkanten  Inseln  vnd  Kü»||nigreichen 

wie   ich  Balthasar  Spreljger    sollichs   selbs:    in   kurtzuer- 

schyne  zeiten:  gesehen  vn  erfaren  habe,  ic  —  Darunter  in  Holz- 
schnitt   ein  Wappen,    unter    diesem    (in  Antiqua):   GEDRVCKT  |( 

ANNO  ^  II  M  -^  D-^iX-^  II  —  1.  Bl.  V.:    Sprengers   Wappen.  — 

jx 

8.  Bl.  r.  Bild:  GENEA,  Wilder  mit  drei  Speeren  nach  rechts; 
V.  Büd:  GENNEA,  Wüde  mit  zwei  Kindern.  —  4.  Bl.  v.  Bild: 
Baum.  —  5.  Bl.  v.  Bild :  Wilder  mit  kleinem  Knaben.  —  6.  Bl.  r. 
Bild:  Wilde  mit  Kind  an  der  Brust.  —  7.  Bl.  r.  Bild:  Baum.  — 
8.  Bl.  r.  Bild:  Mann  in  faltigem  Gewand.  —  v.  Bild:  Frau  mit 
Knaben  an  der  Hand.  —  10.  Bl.  v.  Bild:   INDIA  MAI®,  Wilder 


88  W.  Rüge, 

mit  Speer.  —  11.  Bl.  r.  Bild:  "Wilde  mit  langem  Haar.  —  12. Bl.  v. 
Bild:  -INDIA-MAIOR,  Wilder  mit  Schwert  und  Schild  nach 
rechts.  —  13.  Bl.  r.  Bild :  Wilder  mit  Bogen  nach  links.  —  Schluß 
dij  V.:  Die  Merfart  Balthasar  Sprengers  in  einer  Sum  geoffen- 
bart II  hat  hie  ir  end  erlangt  Im  iar  noch  Christus  geburt  •  1  *  5  •  0  •  9  • 

—  Als  15.  Bl.  angehängt  der  nach  links  gehende  Zug  des  Königs 
von  Grutschin.  Darüber  steht  (in  gotischen  Buchstaben):  Die  Co- 
ninck  van  Gutschin  met  sinen  hoffluyden  ||  REX  G-OSCI  SIUE  GUT- 
SCMIN. 

4».     14  Blatt.    Pag.:  [ai_,],  b,  [,-^],  c,  [^-,],  [d],  dij. 

Frankfurt  a.  M.,  Stadtbibl.  Mise.  var.  538,  7.  —  München,  Hof- 
und  Staatsbibl.  4".  lt.  sing.  330,  11;  in  diesem  Exemplar  steht 
über  dem  letzten  Bild  (in  gotischer  Schrift,  die  obere  Hälfte  fast 
ganz  wegeschnitten) :  Der  Triumph  des  Kunigks  von  Gutschin  mit 
seinen  Spieleuten  vnd  [Hofgsyjnde,  ||  TRIVMPHVS  REGIS  GOSCI 
SIVE  GVTSCMIN-  -iSs-  —  Rechts  unten  steht  1509. 

Publ. :  Fr.  Schulze,  Balthasar  Springers  Indienfahrt,  1902 
(Facsimile). 

Die  Sprenger'sche  Tndienfahrt  behandeln  folgende  Holzschnitte : 

63  b.    Balthasar  Springer,  Indienfahrt  1508. 

5  Blatt,   je  280  mm  hoch   und  210  mm  breit,    neben  einander. 

1)  Links  oben  Springers  Wappen  mit  dem  Namen :  B.  Springer. 

—  Dann  der  folgende  Text:  Dise  nachuolgenden  figüren  des 
wandeis  vnnd  gebrauchs  der  künigreich  mitthilffe  des  j|  almech- 
tigen  gots,  Von  küniglicher  würde,  Emanuel  zu  Portugal  be« 
sucht,  gefunde  vn  ||  zum  tail  bestriten  auch  mitteutscher  nacion 
namhaffiger  kaufleüt,  Der  Fucker,  Wel||ser,  Höchstetter,  Hirsch- 
fögel  Der  im  Hof  vnd  anderen,  des  ich,  Balthassar  Springer  vö  jj 
Filß  als  ain  bestelter  von  wegen  der  Welser  zu  Augspurg  mich 
auf  söliche  schiffung  vnd  sölichs  erfarn  vnd  ||  selbs  angeben  hab, 
zum  trucke,  wie  hie  gesehen  wirtt.  ||  '  H  •  Burgkmair  zu  Augspurg.  — 
Dann  ein  Bild:  .IN.GENNEA,  Kind  nach  rechts,  Mann  nach  rechts, 
Frau  und  Kind  nach  links.  Der  zu  dem  Bild  gehörige  Text  be- 
ginnt: Zum  dem  ersten  zu  Lisibona  ainer  Portugalische  haubtstat 
füre  wir  auß  an  de  xxx  ||  tag  martii  im  iar  M  ccccc  vn  v  .  .  .  .  — 

2)  Text:  Darnach  füren  wir  in  das  land  AUago  das  geet  byß 
an  den  anstoß  Arabia  .... 

Dazu  ein  Bild:  .IN  ALLAGO,  Frau  mit  Kind  nach  rechts, 
Mann  nach  rechts,  Kind  nach  links. 

8)  Text:  Als  wir  in  Arabiam  kamen  sahen  wir  sy  beklaidet 
als  hie  nachfiguriert  ist  ...  . 


Aelteres  kartographisches  Material  in  deutschen  Bibliotheken.  89 

Dazu  ein  Bild:  .IN.ARABIA,  Mann  nach  rechts,  Kind  und 
Frau  nach  links. 

4)  Text:  Von  Cananor  dem  künigreich  schifften  wir  in  groß 
Indiam  da  gond  die  mensche  gantz  nackent  .... 

Schließt:  In  Callicuten  seind  vil  leut  auß  sant  Thomas  landt, 
die  auch  chrysten  seind  vnd  volck  vö  an|idern  landen  vnd  na- 
tionen  ic/ 

Dazu  ein  Bild:  GROS.  INDIA.,  Frau  nach  rechts  mit  Papagei, 
Kind  nach  links,  dabei  das  Wort  MAMAHE,  zwei  Wilde  nach 
links. 

5)  Fortsetzung  des  Bildes,  sechs  Wilde,  einer  greift  die  Frau 
an  die  Brust.     Kein  Text. 

Schloß  Ramhof.  Familienarchiv  der  Welser.  (Die  Beschreibung 
ist  nach  der  photographischen  Nachbildung  im  Maximiliansmuseum 
in  Augsburg  gemacht). 

6)  Drei  Blatt,  jedes  260 — 265  mm  hoch  und  alle  zusammen 
1108  mm  breit.  DER  KVNIG  VON  GVTZIN  mit  großem 
Gefolge.      Links     oben    an    dem    Rest    eines    Baumes    auf    einer 

Tafel   die   Inschrift :    tt  t»  •      Offenbar    hat    eine   Art    Titel    hin- 
Jd  B 

kommen  sollen;   denn  der  Baum  ist  eckig  verschnitten,   und  auch 

die  Waffen  der  rechts  folgenden  Leute  sind  abgeschnitten. 

Nr.  6  gehört  offenbar  zu  No.  1 — 5. 

Berlin.  Kupferstichkabinet,  Hans  Burckmaier  111  M,  B  77. 

63  c.    Dasselbe  1511. 

Holzschnitt.     5  Blatt,  1880  m  (zusammengesetzt)  x  260  mm. 

1)  Links  oben:  Dise  nachuolgende  figuren-  des  wandeis  vnd 
gebra=||uchs  der  künigreich-  mit  hüff  des  almechtigen  go^Htes-  von 
königlicher  wird  zu  portegal  besucht  •  gefunden  ||  vnd  zum  tavl  be- 
stritten vnd  hat  Balteser  Springer  von  ||  tiltz  (!)  durch  sein  selbs 
wacknus  vnd  erfaren  wider  vnd  vö  1|  newen-  vnnd  gantz  recht  in 
diser  form  zu  bringen  anzugeben-  vnnd  derhalb  gelaub  vnd  warhafft 
vnderri=||cht  gethann  •  vnnd  damit  das  •  so  vor  in  seine  namen  ||  ge- 
druckt worden  oder  hiafur  änderst  dan  wie  herin  be=|!griffe  vn  zu 
sehe  ist-  gedruckt  wurde  domit  dyselbe  abgelait.  —  Darunter: 
Der  nackenden  moren  wandel  mit  wer  in  ||  Genea.  —  Dazu  ein 
Bild:  IK- GENEA.  Mann  mit  drei  Speeren  in  der  Mitte,  links 
Kind,  rechts  Frau  mit  Kind.  —  Weiter  rechts :  Die  bedeckung 
vnnd  zier  der  Altten  vnnd  ||  Jungen  in  aliago  vnd  ir  geschiech 
von  led||er  also.  —  Darunter  Büd:  IN  ALLAGO,  das  noch  hin- 
überreicht auf  das  2.  Blatt. 


90  W.  Rüge, 

2)  Oben  die  Inschrift:  Der  Arrabischen  art  sitten  vnd  be- 
clayd||ung  von  mann  vnnd  Weibspersonen.  —  Darunter  Bild:  IN 
ARABIA.  —  Weiter  rechts  :  Also  ist  der  gebrauch  menschlicher  \\ 
geschlechte  in  dem  grossen  Indien.  —  Darunter  das  Bild:  DAS 
GROS  INDIA.  Links  Frau  mit  Kind,  bei  dem  beigeschrieben  ist: 
MAMANE;  rechts  Frau  mit  zwei  Kindern.  Das  Bild  reicht  auf 
das  3.  Blatt. 

3)  Figurenreiches  Blatt,  im  Hintergrund  ein  Zug  mit  Kamelen 
und  Elephanten. 

4)  und  5)  An  das  vorhergehende  Bild  schließt  sich  eine  Dar- 
stellung des^efolges  des  Königs  von  Gutzin  an.  An  einem  Baum 
steht  1511.  Oben  rechts:  Des  konigs  zu  gutzin-  hoffleut  vnnd 
vnderthon  gebrauche  ||  vnd  monier  vnnd  auch  der  konig  zu  kananor  • 
banderan  •  ||  vnnd  kolan  also  wonend  •  xxxx  ■  meil  hinter  kalekut  || 
DER  KVNIG  VON  GVTZIN. 

Berlin,  Kupferstichkabinet  111  M.  (nach  Mitteilung  der  Ver- 
waltung ist  es  ein  nicht  sehr  alter  Druck).  —  Dresden,  Kupfer- 
stichkabinet der  Sekundogenitur  656,  86184 — 188  (nach  Mitteilung 
der  Verwaltung  sind  es  spätere  und  schlechte  alte  Abdrücke). 

63  d.    Dasselbe,  1509,  1541. 

Auf  Bl.  1  links  unten  steht:  Jörg  Glogkendon  und  auf  Bl.  4 
auf  einer  am  mittleren  Baum  hängenden  Tafel  1509.  Außerdem 
sind  an  den  Unterrändern  noch  fortlaufend  spätere  Papierstreifen 
mit  je  5  neunzeiligen  Versen  in  Druckschrift  angeklebt,  von  denen 
der  letzte  die  Unterschrift  trägt :  Albrecht  Glockenthon  lUuminist  || 
l-5'4-l- 

Gotha,  Museum  des  Herzogl.  Hauses.  (Ich  habe  die  Blätter 
nicht  selbst  gesehen  und  verdanke  die  Angaben  darüber  der  Di- 
rektion des  Museums). 

Publ. :  V.  Derschau  und  Becker,  Holzschnitte  alter  deutscher 
Meister  in  den  Originalplatten  gesammelt  1808.  (II  ß.  25,  1508, 
Bl.  6). 

Litt.:  Bartsch,  Le  peintre  graveur  1808,  VII  222,  nr.  75  u. 
223  nr.  77.  —  Passavant,  le  peintre-graveur  1862,  III  267.  —  Frei- 
herr von  Welser,  Holzschnitt  von  Hans  Burkmair  (Zeitschr.  d. 
histor.  Vereins  für  Schwaben  und  Neuburg  II  1875,  123).  — 
Muther,  Deutsche  Bücherillustration  1888,  131  f.  zu  nr.  1 — 5  der 
Ausg.  1508.  —  Harrisse,  Americus  Vespuccius  1895,  42  f.  — 
Schulze,  Balthasar  Springers  Indienfahrt  1902,  10.  —  Dodgson, 
Catalogue  of  early  german  and  flemish  woodcuts  in  the  British 
Museum  II  1911,  71. 


AeltercB  kartographißchee  Material  in  deutschen  Bibliotheken.  91 

63.    (Tespucci-SprcD^er),   De  nono  mondo,   Antwerpen,  o.  J. 

Flügblatt  276  x  400  mm.  Überschrift  (in  gotischer  Schrift) : 
De  nouo  mondo.  —  Darauf  56  Zeilen  in  großem  Druck,  25  Zeilen  in 
kleinerem  Druck.  Am  Schluß:  Actum  antwerpie  p  me  Johanne  || 
de  doesborch.  —  Zerfällt  in  6  Abschnitte,  zu  9,  15.  9,  12,  11,  25 
Zeilen.  Vom  2.  Abschnitt  an  hat  jeder  eine  neue  Überschrift,  die 
immer  ganz  rechts  am  Rande  steht:  De  Genea,  De  Allago,  De 
Arabia,  Maior  India.  India  seu  regnum  Gutschi[n]. 

Der  1.  Abschnitt  beginnt:  Flgura  degetiü  i  Armenica  (Druck- 
fehler für  America)  mire  (sed  nö  önino  cognite)  magnitudis  insula 
Geminis  nauigatioib9  in  occi||detali  occeano  ab  äo.  dni.  M.cccc.xcvi. 
vsq;^  ad  M.  cccc.  xcix.  decursis  p  magni  et  excelletis  virü  Albericü  || 
vesputiü  iussu  et  mädato  Icliti  regis  lusitanie  ....  ma||iore 
sni  pte  iueta  ....  —  Es  folgen  einige  Bemerkungen  aus  dem 
Briefe  des  Vespucci.  —  Der  2.  Abschnitt  beginnt :  NOuam  por- 
tugaleze  nauigatioej  a  biuitate  lisiböa  pfecim(us)  ...  —  Der  3.  Ab- 
schnitt beginnt :  Post  hec  deueni(mus)  ad  Allago  cöterminä  Arabie 
.  .  .  .  —  Der  4.  Abschnitt  beginnt:  VEnietibus  nob'  i  Arabia  vi- 
dim(us)  eos  vestitos  i  modum  figuratum  ....  —  Der  5.  Abschnitt 
beginnt :  TAnde  ad  regnü  gosci  siue  gutschi  vt  recetiorib(us)  cosmo- 
graph(is)  placet  peruenimus  ....  —  Der  6.  Abschnitt  beginnt :  Ex 
regno  Cananor  deueni(mus)  ad  idiä  maiore  ....  Hier  haben  nur 
die  ersten  drei  Zeilen  die  normale  Länge,  Z.  4 — 25  sind  viel 
kürzer,  weil  der  Raum  rechts  von  einem  Bild  eingenommen  wird. 

Abschnitt  2 — 6  geben  einen  kurzen  Bericht  über  die  Indien- 
fahrt Balthasar  Sprengers  von  1505 — 1506  (s.  o.  nr.  62»),  aller- 
dings ohne  seinen  Namen  zu  nennen.  Diese  Fassung  ist  bisher 
unbekannt,  sie  deckt  sich  inhaltlich  am  meisten  mit  der  vlämischen 
Ausgabe,  vgl.  Coote,  the  voyage  from  Lisbon  to  India  1505 — 1506. 
London  1894.  Am  linken  Rand  des  Blattes  ist  ein  Streifen  von 
67  mm  Breite  für  sechs  Holzschnitte  freigelassen,  in  einfachen 
Rahmen  (ungefähr  67  x  67).  Der  oberste  hat  keine  Überschrift 
(wohl  abgeschnitten),  er  stellt  einen  Wilden  mit  Kopfschmuck  dar, 
und  eine  Frau,  mit  demselben  Schmuck,  die  zwei  kleine  Kinder 
säugt.  Am  linken  Rand  ist  unter  einem  Baumstamm  ein  Feuer 
gemacht,  in  dessen  Rauch  Teile  eines  menschlichen  Körpers  ge- 
räuchert werden.  Die  nächsten  Holzschnitte  GENNEA,  IN  *  AL- 
LAGO, IN:  ARABIA.  MAIOR:  INDIA  (gilt  für  zwei)  und 
der  7.  rechts  unten  ohne  Bezeichnung  (ca.  147  x  110)  sind  ver- 
kleinerte Spiegelbilder  der  Burkmaierschen  Holzschnitte.  Vgl. 
nr.  62»-'^. 

Auf  der  Rückseite   ein  die  ganze  Fläche  einnehmender  Holz- 


92  W.  Rüge, 

schnitt  mit  der  Überschrift:  Nonü  preceptü  Non  con||cupisces 
uxorem  proximi  tui. 

Rostock,  Universitätsbibl.,  früher  eingeklebt  in  Opera  Hie- 
ronymi,  Basil.  1516,  Bd.  5.  6.  Das  Blatt  ist  am  Rande  teilweise 
beschnitten  und  vielfach  beschädigt,  hier  und  da,  besonders  in  der 
rechten  unteren  Ecke,   sind  Löcher  von  Bohrwiirmern  gefressen. 

Litt. :  W.  Rüge,  Deutsche  Litteraturztg  1903,  359.  —  Sarnow 
und  Trübenbach,  Mundus  Novus  1903,  10. 

64.  Emanuel^  rex  Fortugaliae,  Epistola,  Rom,  1513. 

1.  Bl.  r.  (in  Antiqua):  EPISTOLA  1|  Potentissimi /  ac  in- 
uictissimi  Ema«||nuelis  Regis  Portugaliae  &  Algarbiorum.  ||  &c. 
De  Victoriis  habitis  in  India  ||  &  Malacha.  Ad.  S.  in  Christo 
Patrem  &  ||  Dnm  nostrum  Dnm  Leonem  •  X  •  j]  Pont.  Maximum.  — 
Darunter  das  portugiesische  "Wappen.  —  1.  Bl.  v.  leer.  —  Aii  r. : 
[sJAnctissimo  in  Christo  Patri/  ac  bea||tißsimo  Dno  Dno  nostro 
E.  S.  ad»||ditissimus  filius  Emanuel  Dei  grajjtia  Rex  Portugalliae 
&  Algarbior(um)  ||  .  .  .  .  —  6.  Bl.  r. :  Dat.  in  Vrbe  nostra  Olisipone. 
8.  idus  II  Junias  Anno  Dsi.  M.  D.  XIII.  ||  Romae  impressa  per  Ja- 
cobum  II  Mazochium.  9.  Augusti.  —  Brief  des  Königs  Emanuel  von 
Portugal  an  Leo  X.  über  die  Eroberung  von  Malaka  durch  die 
Portugiesen  1511.  —  Abgedruckt  bei  Grynaeus,  Novus  orbis  1532, 
184  f. 

40.     6  Blatt,     Pag.:  [A],  Aii,  Aiiij,  [A^-g]. 

München,  Hof-  und  Staatsbibl.     A.  gr.  a.  277,  11. 

Litt. :  Ternaux-Compans  nr.  99.  —  Brunet  II  969 ;  suppl.  1,  441. 

65.  Emanuel,  rex  Portugaliae,  Epistola,  Wien,  1513. 

1.  Bl.  r.  (in  Antiqua) :  EPISTOLA  POTENTISSIMI  ||  ac  In- 
uictissimi  Emanuelis  Regis  Portugaliae,  ||  &  Algarbiorum4-  &c+-  De 
Victoriis  ha'||bitis  in  India,  &  Malacha+  ||  Ad+  S+  in  Christo  Patre  || 
&  Dominü  nostrü+  ||  D04-  Leonem+  X+ 1|  Pont^  Maxi=||mum+  —  1.  Bl.  v.: 
lACOBVS  SPIEGEL  SELESTENSIS  IMPE.  LEGVM  ||  Licetia- 
tus.  Cqs.  Secret.  &  archiducalis  ab  epl'is.  Lectori  S.  ||  QVAM  PRI- 
mum  sequente  ad  Leonem  Pont.  Max.  epistola  ...  ex  urbe  .  .  . 
Reueredissio  Georgio  Anti||stiti  Viennen,  .  .  .  missam  rei  nouita||te 
captus  relegisse  ...  —  2.  Bl.  r. :  SAnctissimo  in  Christo  Patri, 
ac  beatissimo  ||  Domino  Domino  nostro+  E+  S+  additissimus  ||  filius 
Emanuel  Dei  gratia  Rex  Portugalliae  &  I|  Algarbior(um)  ....  — 
4.  Bl.  v. :  Dat+  in  Vrbe  nostra  01isiphone+  8.  Idus  Iunias^-  Anno 
Do'||mini+  M^  D+  XIII+  ||  Viennae  impressa  per  Hieronymü  Vietore  || 
&  Joannem  Singrenium+  xvi+  Ka'||lendas  Octobris+ 

4°.     4  Blatt.     Ohne  Faginierung. 


Aelteres  kartographisches  Material  in  deutschen  Bibliotheken.  93 

München.  Hof-  und  Staatsbibl.     A'\    Eist.  As.  181. 
Litt.:    Panzer,    Annales   IX  18   nr.  97.  —  Temaux - Compans 
nr.  101.  —  Brunet  11  969 ;  snppl.  1,  441. 

66.  Emannel,  rex  Portugaliae,  Epistola,  Cöln.  1513. 

1.  Bl.  r.  (in  gotischer  Schrift):  EPISTO||la  Potentissimi  ac  in- 
uictissimi  ||  Emanuelis  Reg(is)  Portagaüe  et  Al||garbior(um)  ic  de 
victorijs  habit(is)  ||  in  India  (et)  Malacha.  ad  ||  S.  in  christo  pf  em  ||  et 
dum  nostr(am)  |]  dnm  Leoljne  -x-  ||  pöt.  ||  Maximum.  —  Darunter  das 
portugiesische  Wappen.  —  1.  Bl.  v. :  SAnctissimo  in  Christo  patri/  ac 
beatissimo  dno/  do'||mino  nostro  E.  S.  additissimus  filius  Emanuel  || 
dei  gratia  Rex  Portugallie  (et)  Algarbior(um)  ....  —  3.  Bl.  v. : 
d  Dat(um)  in  Vrbe  nostra  Olisipone.  8.  Idns  lunias.  Anno  ||  domini. 
M,  D.  Xin.  II  tt  Colonie  jmpressa  per  Hermannü  |i  Guytschaiff. 
17.  (viell.  15.)  Septembri.  —  4.  Bl.  r. :  grober  Holzschnitt,  Jung- 
frau Maria  mit  Christuskind  im  Strahlenkranz.  —  4.  Bl.  v.  leer. 

4'\     4  Blatt.     Nur  das  Blatt  ij  ist  paginiert. 

Berlin,  König!  Bibl.     Qq  1983  R. 

Litt.:   Procter,   IE,  I,  10574  (fälschlich  1515  statt  1513). 

67.  Emanuel,  rex  Portngaliae,  Epistola,  Erfurt.  1513. 

1.  Bl.  r.  (in  Antiqua):  EPISTOLA  POTENTISSIMI  AC  ||  in- 
uictissimi  Emanuelis  Regis  Portugaliae  &  ||  Algarbiorum.  &c.  De 
victorijs  habi=||tis  in  India  &  Malacha.  Ad.  S.  in  |i  Christo  patrem 
&  dominü  ||  nostrum  dominü  Leojinem.  X.  Pont.  ||  Maxi'jjmü.  —  Dar- 
unter das  Dr ackerzeichen  von  M.  Maler  in  Erfurt,  ein  Lowe  hält 
ein  Schild  mit  zwei  verschränkten  M.  Auf  bandförmigem  Ornament 
in  gotischer  Schrift:  Mathes  ||  Maler  de  ||  Erffor^||dia:-  —  1.  Bl.  v. : 
[slAnctissimo  in  Christo  Patri/  ac  beatissimo  ||  dno  Dno  nostro 
E.  S.  additissimus  filius  |[  Emanuel  dei  gratia  Rex  Portugalliae  & 
Al||garbior(um)  ....  —  4.  Bl.  v. :  Dat.  in  Vrbe  nostra  Olisipone. 
Vin.  idus  Iu=||nias  Anno  domini.  M.  D.  XTTT.  ||  a  Impressum  Er- 
phordi^  per  Mattheum  maier. 

4°.     4  Blatt.     Papinierung:  [A],  Aij,  Aiij,  [A*]. 

Bamberg,  Kgl.  Bibl.  Inc.  typ.  E.  VI.  27.  —  Maihingen,  FürstL 
Oettingen-Wallersteinsche  Fideikommißbibl.  IV  13.  140.    4^ 
Litt. :  Panzer,  Annales  VI  505  nr.  73.  —  Brunet  11  969. 

68.  Emanuel,  rex  Portugaliae,  Epistola,  o.  0.  u.  J. 

l.Bl.  r,  (in  gotischer  Schrift):  Epistola  Potentissimi  ac  Inuicti'jf 

ssimi  Emanuelis  Regis  Portugal||lie  (et)  Algarbior(um)  ic.  de  Victo- 
riis in  II  India  (et)  Malacha:  Ad  S.  in  xpo  ||  Patrem  (et)  dominü 
nostrum  dnm  ||  Leonem-  XPont.  Max.  —  Darunter  das  portugiesische 
Wappen.  —  1.  Bl.  v.  leer.  —  2.  Bl.  r.  (in  Antiqua):   SAnctissimo 


94  W.  Rüge, 

in  xpo  Patri/  ac  Beatissimo  dno  dno  nostro  ||  E.  S.  additissimus 
filius  Emanuel  Dei  gratia  Rex  Porta=|!galliae  &  Algarbior(um)  / 
....  —  4,  Bl.  r. :  Dat(uin)  in  ||  Vrbe  nf  a  Vlyxbon.  Octauo  Id. 
lunias.  Anno  diii.  M.  D.  XIII. 

4°.     4  Blatt.     Ohne  Paginierung. 

München,  Hof-  und  Staatsbibl.     4^     Hist.  As.  180. 
Litt.:    Ternaux-Compans  nr.  101.  —  Proctor  II  11091  (?).  — 
Stauber,  Die  Schedeische  Bibliothek  1908,  174. 

69.  £Dianuel,  rex  Portugaliae,  Epistola,  o.  0.  u.  J. 

1.  Bl.  r.  (in  gotischer  Schrift):  Epistola  potentissi||mi  ac  inuictis- 
simi  Emanuelis  re=|lgis  Portugalie  et  Algarbio=||rü.  ic.  de  victorijs 
habitis  ||  in  India  (et)  Malacha.  ad  |j  S.  in  christo  patre  et  ||  dnm  no- 
strü.  dnm  |i  Leone  decimü.  ||  pont.  maximü  i|  M.  D.  XIII.  —  Darunter 
in  Holzschnitt  das  portugiesische  "Wappen.  —  1.  Bl.  v.  leer.  — 
2.  Bl.  r. :  Sanctissimo  in  christo  patri.  ac  be=||atissimo  dno  dno  E.  S. 
Additissim^  filip  Emanuel  dei  gracia  ||  rex  Portugalie  et  Algar- 
biorü  ....  —  4.  Bl.  r. :  Dat  in  vrbe  ||  nostra  Olisipone.  viij.  idus 
lunias.     Anno  düi.  M.  D.  xiij. 

4^.     4  Blatt.     Ohne  Paginierung. 

Frankfurt,  Stadtbibl.  Hist.  B.  IV.  53.  7.  —  München,  Hof- 
«nd  Staatsbibl.     4".     Hist.  As.  180^ 

Litt. :  Ternaux  -  Compans  nr.  101.  —  Brunet  II  969  (es  laßt 
sich  nicht  sicher  erkennen,  welche  Ausgabe  dort  gemeint  ist). 

70.  Emanael^  rex  Portugaliae,  Triumphus,  o.  0.  u.  J. 

1.  Bl.  r.  (in  Antiqua):  TRIVMPHVS  EMANVELIS  CHRISTI  || 
anissimi  Porthugalliorum  Regis  de  infide||libus  Acquisitus  Leoni-X- 
Pon.  max.  ||  Epistolari  munere  conscriptus.  —  Darunter  in  Holzschnitt 
das  portugiesische  Wappen.  —  1.  Bl.  v.:  REVERENDISSIMO  IN 
CHRISTO  PATRI  |1  D.  Henrico  familie  baronü  de  heuen,  antistiti 
Curien.  ||  &  Argentinen.  e  ecclie  Thesaurario :  loaü.  Grui||da  Eiusde 
ElemosinariP  sese  cömendat  ||  INGrENTI  me  gaudio  affecit  reuere- 
dissime  pr  victoria  !|  Regis  portugallie   de   sarraceni  qua  epta  eius 

ad.  P.  Max.  ||  declarat Ar||gentoraci- iij  -non.  octob.  1.5.1.3. 

—  Aij  r.:  EPISTOLA  POTENTISSIMI :  AC  INVICTIS||simi 
Emanuelis  Regis  portugallie  et  Algarbiorü  ||  De  victorijs  habitis 
in  India  &,  Malacha.  Ad  |(  S.  in  Christo  patre  &  dominü  nostrü 
do||minum  Leonem.  X.  Pont.  Maximum.  ||  SANCTISSIMO  I  christo 
pfi :  ac  beatissimo  |j  Dno  Dno  nf o  E.  S.  additissimus  filius  Emäuel  || 
Dei  gfa  Rex  portugallie  &  Algarbiorü  ....  —  4.  Bl.  v. :  Dat.  in 
■  Vr||be  nostra  Olisipone.  8.  yd9  Junias  Anno  dni.  M.  d.  xiii. 

4».     4  Blatt.     Paginierung:  [A],  Aij,  Aiij,  [A,]. 


Aelteres  kartographisches  Material  in  deutschen  Bibliotheken.  95 

München.  Hof-  nnd  Staatsbibl.     4°.     Port.  6«. 
Litt.:  Brunet  II  969.  —  Proctor  II  9928. 

71.  Emanuel,  König  ron  Portugal,  Brief,  Augsburg,  1513. 
(Deutsche  Ausgabe  von  nr.  64 — 70). 

1.  BI.  r.  (in  gotischer  Schrift):  Abtruck  ains  Ia=ijteinisehen 
sandtbrieues  an  babst=||liche  heiligkeit/  von  kiinigklicher  wurde  zu 
Portegall/ li  dis  iars  ausgangen/  von  «1  eroberte  stadt  Malacha / 
an  II  deren  künigreychen  vnnd  herrschaftn  in  India  auch  |!  gegen 
aufgangk  der  Sunnen /  erstlich  zu  Rom  auf  'IX*  |i  tag  Augusti  in 
latein  getruckt;  vnd  nachmaln  auf  *  V'  ||  tag  Septembris  ,  zu  Augs- 
purg  in  tewtsch  gebracht/  ||  zum  teil  articul  weis  gestelt/  alles 
dest  bas  zu  vermer=||cken  ,  vnd  in  gedachtnus  zu  erhalten/  — 
Darunter  das  portugiesische  Wappen.  —  5.  Bl.  v. :  ö  Geben  in 
vnser  Stadt  Olisipone  auf  den  sechsten  |!  tag  des  Monats  Junij  jn 
dem  Fünfzehenhundersten  vn  drei'||tzehenden  jare/  des  herrn  .  .  .  . 
Getruckt  zu  Augspurg  ||  Durch  Erhart  ögHn.  —  Bl.  6  leer. 

4°.     6  Blatt.     Pag.:  [A],  Aij.  Aüj,  [A,_,]. 

Berlin,  Kgl.  Bibl.  Flugschr.  1513,  1.  —  München,  Universitäts- 
bibl.     4».    ffist.  3395;  Hof-  und  Staatsbibl.     4°.    Hist.  As.  182. 

Litt. :  Panzer,  Annalen  I  355  nr.  758.  —  Ternaux  -  Compans 
nr.  96.  —  Proctor  II  10714. 

72.  Emanael,  König  von  Portugal,  Obedientia.  o.  0.  u.  J. 
(nach  1513). 

1.  Bl.  r.  (in  Antiqua):  EMANVELIS  LVSITAN:  AL||GAR- 
BIOR:  AFRICAE  AETHI||OPIAE  ARABIAE  PERSIAE  ||  IN- 
DIAE  REG.  mVICTISS:  ||  OBEDIENTIA.  —  Darunter  das  por- 
tugiesische  Wappen,  ringsherum  eine  breite  Zierleiste.  —  A  ij  r. : 
Dieghi  Pacecchi  lur  +  Consult  +  In  praestanda  Obej|dientia  pro 
Emanuele  Lusitanor:  Rege  In||uictiss:/  Leoni  +  X.  Pont  +  Opt  +  || 
Max  +  dicta  Oratio  +  ||  ELoquar   an    sileam?  ....  —  bij  v. :   In 

Dei   Opt  +  Max  -|-  |(  gloriam   sempiternä  Amen  -\ 7.  und  8.  Bl. 

Verse.  —  Handelt   von   den  Kämpfen   der   Portugiesen   in  Indien 
und  Afrika. 

4".     8  Blatt.     Pag.:  [a],  aij,  [aj,  J,  b,  bij,  [bj,  *]■ 

Stuttgart.  Kgl.  Landesbibl.  Span.  u.  portug.  Gesch.  Emanuel 
4».  —  München.  Hof-  und  Staatsbibl.  4°.  A  Gr.  a.  277,  10  und 
4°.    Eur.  346,  51. 

Litt. :  Brunet,  Suppl.  1,  441.   —    Racc.  Col.  VI  91  nr.  582^^^ 

73.  Anonymus,  Copia  der  neuen  Zeitung  aus  Presilgland, 
o.  0.  u.  J.  (s.  0.  nr.  7). 

1.  Bl.  r.    (in  gotischer  Schrift):    Copia   der  Newen  Zejtungfj 


96  W.  Rüge, 

auß  Presillg  Landt.  —  Darunter  Holzschnitt,  der  eine  Stadt  an 
der  Meeresküste  darstellt,  gegenüber  zwei  felsige  Inseln.  Auf 
dem  Meer  ein  großes  Schiff,  das  offenbar  die  Inseln  beschießt. 
Außerdem  noch  fünf  Schiffe,  von  denen  drei  ganz  klein  sind.  — 
1.  Bl.  V.  leer.  —  Aij  r. :  ITem  wist,  das  auff  den  Zwelfften  ||  tag  des 
Monadts  Octobers  Ein  Schiff  auß  Presillg||landt  hye  an  ist  kummen 
....  —  3.  Bl.  V.  am  Ende :  Sie  sagen  auch  das  volck  an  dem  |[ 
selbigen  ort  werdt  biß  in  Hundert  vnd  Viertzig  Jar  alt.  —  [A4]  leer. 
4».     4  Blatt.     [AJ,  Aij,  [A3,,]. 

Dresden,  Kgl.  Bibl.  Hist.  Amer.  149,  44,  1.  —  München,  Hof- 
und  Staatsbibl.  4".  Am.  A.  96.  —  Zwickau,  Ratsschulbibl.  XXIV. 
X.  14,  15.    4*'.  —  Leipzig,  Universitätsbibl.     Libri  sep.  2231. 

Publ. :  S.  Rüge  im  4.  u.  5.  Jahresbericht  d.  Vereins  f.  Erdkunde 
ÄU  Dresden  1868.  —  v.  Wieser,  Magalhäes-Straße  1881,  85  99  f. 

Litt,  (außer  den  genannten  Schriften) :  Weller ,  Die  ersten 
deutschen  Zeitungen  (Bibl.  d.  litter.  Vereins  zu  Stuttgart  CXI.  Band 
1872)  87  (die  Angabe  über  das  Leipziger  Exemplar  trifft  nicht  zu). 
—  Häbler  in  der  Ztschr.  der  Gesellsch.  f.  Erdkunde  zu  Berlin 
1895,352.  —  L.  Rosenthal  bot  in  seinem  Katalog  111,  1904,  nr.  395 
ein  Exemplar  für  16000  Mk.  an. 

74.  Anonymus,  Copia  der  neuen  Zeitung  aus  Presilg  Land, 
Augsburg,  0.  J.  (s.  0.  nr.  7). 

1.  Bl.  r.  (in  gotischer  Schrift):  Copia  der  Newen  eytung  (!)  || 
ausz  Presilg  Landt  —  Darunter  das  portugiesische  Wappen.  — 
1.  Bl.  V.  leer.  —  2.  Bl.  r.:  ITem  wist  dz  auff  den  Zwelff=||ten 
tag  des  Monadts  Octobers  Ein  Schiff  auß  ||  Presillig  land  hye  an 
ist  komen  ....  —  4.  Bl.  r. :  Sy  sagn  auch  ||  das  volck  an  dem 
selbigen  ort  werd  biß  in  hunndert  vnnd  ||  viertzig  Jar  alt.  ||  ff  Ge- 
truckt  zu  Augspurg  durch  Erhart  öglin. 

4".     4  Blatt.     Ohne  Paginiening. 

München,  Hof-  und  Staatsbibl.  4».  Eur.  346,  47.  —  Nürnberg, 
German.  Mus.  Bibl.  Scheurl.  433  (370)  p.  41. 

Publ. :  Weller,  die  ersten  deutschen  Zeitungen  (Bibl.  d.  litter. 
Vereins  zu  Stuttgart  CXI.  Band.  1872)  87. 

Litt. :  s.  vorige  nr. 

76.    Anonymus,  Die  Schiffung,  0.  0.  u.  J. 

1.  Bl.  r.  (in  gotischer  Schrift) :  Die  schiffung  mitt  t|  dem  Lanndt 
der  II  Gulden  Insel  gefunde  durch  ||  Hern  Johan  vö  Angliara  ||  Hawpt- 
man  des  Cristenjjlichen  Künigs  vö  His||pania.  gar  hübsch  ||  ding  zu 
höre  mit  ||  allen  yren  leben  ||  vnd  sit'||ten  Hh  —  Darum  eine  breite 
Zierleiste.  —  1.  Bl.  v.  leer.  —  2.  Bl.  r. :   Mit  der  hilff  des  Aller- 


Aelteres  kartographisches  Material  in  deutschen  Bibliotheken.  97 

gütigisten  vnd  grossn  gottes  /  zu  ziehe  ||  an  die  end  vns  auff  gelegt 
vö  dem  Christenliclien  vnnd  aller  |1  Säligisten  Carolo  künig  vö 
Hispania.     Ich   aller   getrewester  ||  diener  Johan   von  Angliara  vn 

vnwirdiger  Hawptman do  schied  wir  vns  von  dannen  auß 

beneich  vnsers  Christen«||lichen  Künigs  von  Calesse  in  Hispania 
anß  zufarn  in  Gali'||cut/  ...  —  Schluß  3.  Bl.  v. :  Vnd  antwortten 
die  schanckung  auff  ||  das  best  /  Wie  vns  der  ander  anß  der  andern 
Insel  gegebenn  ||  hett.  —  4.  Bl.  leer. 

4°.     4  Blätter.     Ohne  Paginierung. 

München,  Hof-  und  Staatsbibl.  4^  It.  sing.  330,  1.  —  Ham- 
burg, Commerzbibl.  1175. 

Litt.:  Harrisse,  BAV  nr.  102. 

76.  Emaunel,  rex  Portugaliae,  Epistola,  o.  0.  u.  J. 

1.  Bl.  r.  (in  Antiqua):  EPISTOLA  ||  INVICTISSim  REGIS  |1 
Portugalliae  ad  LEONEM  ||  X.  P.  M.  super  foedere  ||  inito  cum 
Presbyte-liro  lOANNE  ||  Aethiopiae  ||  Rege.  —  1.  Bl.  v. :  EXEM- 
PLVM  LITTERARVM  SEREJiniss.  &  Inuictissimi  Regis  Portu- 
galliae, ad  Sanctis'llsimü  Domino.  N.  snper  Rebus  gestis  in  man  || 
Rubro,  &  foedere  inito  cü  presbytero  ||  Joäne  rege  Aethiopiae  po- 
tetissimo.  ||  SAnctissimo  in  Christo  Patri  ac  beatissimo  ||  dno,  dno 
nfo.  E.  S.  deuotissim9  tilius  Ema»|[nuel  Dei  gra  Rex  PortugaUiae 
&  Algar=||bior(um)  ...  —  2.  Bl.  v.  ,  .  .  Datü  OLisipone  Octauo 
Idus  M[aj]  (?)  II  Anno  Natalis  Dominici.  M.  D.  XX. 

4°.     2  Blatt.     Ohne  Paginierung. 

München,  Hof-  und  Staatsbibl.  4".  Port.  36,  1  (etwas  be- 
schädigt). 

77.  Anonymus,  Sendbrief,  Nürnberg,  1520. 

1.  Bl.  r.  (in  gotischer  Schrift):  Ein  auszng  ettlicher  jj  send- 
brieff  dem  aller  durchleüchtigisten  ||  großmechtigiste  Fürsten  vnd 
Herren  Herren  Carl  Römischen  vnd  ||  Hyspanische  König  ic.  vn- 
serm  gnedigen  hern  durch  ire  verordent  ||  Hauptleut  /  von  wegen 
einer  newgefunde  Inseln,  der  selbe  gelegen||heit  vnd  jnwoner 
sitten  vn  gewonheite  inhaltend  vor  kuriizuerschi=||nen  tagen  zu- 
gesandt. —  Darunter  Holzschnitt,  Kampf  zwischen  Landtruppen 
und  Schiff  darstellend.  —  1 .  Bl.  v.  leer.  —  2.  Bl.  r. :  ALs  man 
zalt  nach  Christi  ge-Hpurt  tausendt  fünffhunderi;  vnd  nenntzehen 
Jar  ....  —  7.  Bl.  v. :  Getruckt  in  der  keiserlichen  Stat  Nürm- 
berg  durch  ||  Fryderichen  Peypus/  vnd  seligklich  volend  ||  am 
17.  tag  Marcij  /  des  jars  do  man  ||  zalt  nach  Christi  vnsers  lieben  j) 
heiTen  geburt.    M.  D.  XX.  —  8.  Bl.  leer. 

Die  Flugschrift  berichtet  über  die  Expeditionen  von  Francisco 

Kgl.  Ges.  d.  Wiss.    Nachriditen.    PhU.-hist  Klasse.    1916.    Beiheft.  >  7 


98  W.  Rüge, 

Herandez  de  Cordoba  nach  Yukatan,   von  Juan  de  Grrijalva  und 
Cortes. 

40.     8  Blatt.     Pag.:  [A],  Aij,  iij,  [AJ,  B,  Bij,  Biij,  [BJ. 

Frankfurt,  Stadtbibl.  Eist.  B.  IV,  53,  19.  —  München,  Hof- 
und  Staatsbibl.  4P.  Am.  A.  26.  —  Zwickau,  Ratsschulbibl.  4P. 
XXIV.  VIII.  18,  21.  —  Augsburg,  Stadtbibl.,  wo  aber  die  Signatur 
Aij  fehlt. 

Litt. :  Harrisse,  B  A  V  nr.  105.  —  Grallois,  les  göographes  alle' 
mands  1890,  90.  —  Winsor,  Narr,  and  crit.  bist.  II  403.  —  Proctor 
I  nr.  11135. 

78.  Anonymus^  Neue  Zeitung,  0.  0.  u.  J. 

1.  Bl.  r.  (in  gotischer  Schrift) :  Newe  zeittung.  von  dem  lande, 
das  die  |1  Sponier  funden  haben  ym  1521.  iare  genant  Jucatan.  || 
Newe  zeittung  vö  Prußla/  vö  Kay  :  Ma  :  hofe  18  Martze.  1522.  || 
Newe  zceyt  von  des  Turcken  halben  von  Offen  geschrieben.  — 
Unter  dem  Titel  Holzschnitt,  der  die  Opferung  kleiner  Kinder 
darstellt.  —  1.  Bl.  v. :  Item  die  Sponier.  seint  außgefaren.  zu  || 
SuuUia  bis  in  die  insel  Caba.  ...  —  4.  Bl.  v. :  .  .  .  .  vil  ander 
ding  sagt  man  von  dem  landt  /  vn  ||  schreybt  das  vil  dauon  zu- 
schreyben  werbe.  —  Dann  kommen  auf  Bl.  B  und  Bij  die  beiden 
andern,  auf  dem  Titel  genannten  Flugschriften. 

40.     4  Blatt.     Pag.:  [A,  Aij],  Aiij,  [AJ,  —  S.  o.  nr.  8. 

Berlin,  Kgl.  Bibl.  Flugschr.  1522,  4.  —  Freiberg,  Grymnasial- 
bibl.  —  Wolfenbüttel,  Herzogl.  Bibl.  108,  17  Quodl.  4P.  —  Dresden, 
Kgl.  Bibl.  Eist.  eccl.  E  225,  31.  —  Hamburg,  Stadtbibl.  H  A  VI 
151.  —  Augsburg,  Stadtbibl.  4".  Grs.  —  Breslau,  Universitätsbibl. 
B.  rec.  III  Qu.  in  123. 

Litt.:  Harrisse,  BAV  add.  nr. 70.  —  Weller,  Die  ersten  deut- 
schen Zeitungen  (Bibl.  d.  litter.  Vereins  zu  Stuttgart  CXI.  Band, 
1872)  91. 

79.  Anonymus,  Newe  zeytung,  0.  0.  u.  J. 

1.  Bl.  r.  (in  gotischer  Schrift):  Ein  schöne  ||  Newe  zeytung  so 
Kayserlich  ||  Mayestet  auß  India  yetz  ||  nemlich  zukommen  seind.  | 
Gar  hüpsch  vö  den  Newen  ||  ynseln  /  vnd  von  yrem  sy tten  1|  gar 
kurtzweylig  zu  leesen.  —  Unter  dem  Titel  Wappen  mit  zwei- 
köpfigem Adler,  von  Greifen  gehalten.  Um  das  Ganze  eine  breite 
Zierleiste.  —  1.  Bl.  v. :  H  Etlych  newe  zeytung.  So  Kayserlich  | 
Mayestat  auß  India  yetzund  nemlych  ||  zu  kommen  seind.  —  Die 
Flugschrift  handelt  von  Columbus,  Cortes,  Magalhaes  (Wagelanus). 

4».  8  Blatt.  Pag.:  [A],  Aij,  iij,  [AJ,  B,  Bij,  Biij,  [BJ.  Ohne  Angabe  ron 
Ort  und  Jahr ;  aber  auf  B  iij  5.  Zeile  v.  unten  iteht :  .  .  .  am.  vj  H  tag  Septembria 
diaes.  zxij.  Jar  /  nur  aiui  mit.  XTÜj.  perione  ||  wider  komen  .... 


Aelteres  kartographisches  Material  in  deutschen  Bibliotheken.  99 

Frankfurt  a.  M.,  Stadtbibl.  Eist.  B.  IV,  53,  17.  —  München, 
Hof-  und  Staatsbibl.  4°.  Am.  A.  430.  —  Nürnberg,  German.  Mus. 
Bibl.  Scheurl  444  (417)  p.  348.  —  Wolfenbüttel,  Herzogl.  Bibl. 
188    Quodlibetica   4°. 

Publ, :  Weller,  Die  ersten  deutschen  Zeitungen  (Bibl.  d.  litter. 
Vereins  zu  Stuttgart  CXI.  Band,  1872)  38,  91. 

Litt. :  Wieser,  Magalhäes-Straße  75,  Anm.  1.  —  Harrisse,  B  A  V 
nr.  115.' 

80.  Cortes,  Carta  de  relacion,  Sevilla,  1522. 

1.  ßl.  r.  im  oberen  Teil  tronender  König  in  Holzschnitt, 
darunter  (in  gotischer  Schrift) :  Carta  de  relaciö  ebiada  a  su.  S. 
majestad  del  epa'||dor  nro  senor  por  el  capitä  gcneral  dela  nueoa 
spana :  llamado  fernädo  corI|tes.  En  la  ql  haze  relaciö  8  las  tierras 
y  prouicias  sin  cueto  q  hä  descubierto  ||  nueuamete  en  el  yucatä 
del  ano   de  .  xix .  a  esta  pte :  y  ha  sometido  ala  Corona  ||  real  de 

SU  S.  M [di]  V. :   <!  La  presente   carta  de  relacion  fue  im- 

pressa  en  la  muy  noble  (y)  muy  leal  ciudad  de  Se=||ailla:  por 
Jacobo  cröberger  aleman.  A.  viij.  dias  de  Nouiebre.  Ano  de 
M.  d.  (y)  xxij. 

Fol.  28  Blatt.  Pag.:  [a],  aij,  aiij,  aiiij,  [ag-j];  b,  bij,  biij,  biüj,  [bj—g], 
c  =  b,  d,  dij,  [d„  J. 

Göttingen,  Universitätsbibl.     4''.     Eist.  Amer.  II  138. 
Litt.:  Harrisse,  BAV  nr.  118. 

81.  Cortes,  Carta  tercera  de  relacion,  Sevilla,  1523. 

1.  Bl.  r.  im  oberen  Teil  derselbe  Holzschnitt  eines  tronenden 
Königs,  darüber  (in  gotischer  Schrift):  «  Carta  tercera  de  relaciö: 
embiada  por  FemäUdo  cortes  capitan  (y)  justicia  mayor  del  yacatan 
llamado  la  nueua  espana  ||  del  mar  oceano :  al  muy  alto  y  poten- 
tissimo  cesar  (y)  luictissimo  senor  dö  ||  Carlos  emperador  ....  de 
las  11  cosas  sucedidas  (y)  muy  dignas  de  admiracion  en  la  conquista 
y  recupe'l|racion  de  la  muy  grande  (y)  marauillosa  ciudad  de  Te- 
mixtitan:  ....  [da]  r:  d  La  psente  carta  8  relaciö  fue  impressa 
e  la  muy  noble  (y)  muy  leal  ciudad  8  seuilla  por  ||  Jacobo  cröberger 
alemä :  acabo  se  a.  xxx,  dias  de  marpo :  ano  b  mill  (y)  quinietos 
(y)  ixiij. 

FoL     30  Blatt.     Pag.:    [a],  aij,  aiij,  «üij,   [aj-g],    b,  bij,  büj,  biiij,  [b,—,], 

c  =  b,  d,  dij,  diij,  diiij,  [dj,  g]. 

Göttingen,  Universitätsbibl.     4P.    Hist.  Amer.  II  138. 
Litt.:  Harrisse,  B AV  nr.  121.; 

83.  Schöner,  de  nuper  .  .  .  repertiis  insulis,  Kircherenbach, 
1523. 

7* 


100  W.  Rüge, 

1.  Bl.  r.  (in  Antiqua):  DE  NVPER  1|  SVB  CASTILIAE  AC 
POE,TVGA=||liae  Regibus  Serenißimis  repertis  Insalis  ac  E,egi-|| 
onibus,  Joannis  Schöner  Charolipolitani  episto||la  &  Globus  Geo- 
graphicus,  seriem  nauiga||tionum  annotantibus.  Clarißimo  at'||q5 
disertißimo  uiro  Dno  ßeynie=|[ro  de  Streytpergk,  ecclesiae  ||  Baben- 
bergensis  Cano|[nico  dicatae.  —  4.  Bl.  r. :  Timiripae,  Anno  Incar- 
nationis  do||minicae  Millesimo  quingente=||simo  uigesimoter||tio. 

4".     4  Blatt.     Ohne  Paginierung. 

Bamberg,  Kgl.  Bibl.     R.  B.  Mise,  o  5/2. 

Publ. :  Varnhagen,  Reimpression  fidele  d'une  lettre  de  Jean 
Schöner  ....  ecrite  en  1523.  St.  Pötersbourg,  1872.  —  Wieser, 
Magalhäes  -  Straße  1881,  116.  —  Stevens  and  Coote,  Johannes 
Schöner  1888  (Facsimile). 

Litt. :  Stevens  and  Coote,  a.  a.  0.,  152.  —  Schottenloher,  Zen- 
trale., f.  Bibliothekswesen  1907,  152. 

83.  Maximiliaiiiis  Transylvanus,  de  Moluccis  insulis,  Köln,  1523. 
1.  Bl.  r.    (in   Antiqua)   innerhalb    eines    breiten    Zierrahmens: 

DE  MOLVCCIS  IN  11  (cursiv)  sulisj  itemq;  alijs  pluribus  mirädis, 
quae  ||  nouissima  Castellanorum  nauigatio  Se=||reniss.  Imperatoris 
Caroli.  V.  auspicio  ||  suscepta,  nuper  inuenit:  Maximiliani  ||  Transyl- 
uani  ad  Reuerendiss.  Cardina-||lem  Saltzbnrgensem  epistola  lectu 
per-||quam  iucunda.  ||  —1.  Bl.  v. :  REVERENDISSIME  (cursiv)  ac 
Illustriss.  Domine,  do-||mine  mi  unice,  humilli.  commen.  Redijt  his 
diebus  ||  una  ex  quinq ;  illis  nauibus  ...  —  [B?]  v. :  ...  in  occi- 
dentem  remeauvit.  Reuerendissimae  ||  D.  T.  me  humillime  com- 
mendo.  Datum  Vallisoleti  die  ||  XXIIII  Octobris  M.  D.  XXII.  || 
E.  Reuerendiss.  ac.  Illustriss.  D.  T.  1|  Humillimus  &  per||petuus 
seruitor.  |1  Maximilianus  ||  Transyluanus.  ||  Coloniae  in  aedibus 
Eucharij  Ceruicomi.  Anno  uir-Hginei  partus.  M.  D.  XXIII. 
mense  ||  lanuario.  —   Vgl.    oben  nr.  9. 

8«.  16  Blatt.  Pag.:  [A],  Aij,  Aiij,  A,  (!),  Av,  [A^-g],  B,  Bij,  Biij,  8 inj,  Bv, 
[B._«J,  [Bh]  leer. 

Bamberg,  Kgl.  Bibl.  R.  B.  Mise.  o.  5<  —  Freiburg  i.  Br., 
Universitätsbibl.    J.  5763,  m. 

Publ. :  Stevens  and  Coote,  Johannes  Schöner  1888  (Facsimile). 
—  Wieser,  Magalhäes  -  Straße  1881,  109  f.     (Der  einleitende  Teil). 

Litt.:  Harrisse,  BAV  nr.  122.  —  Wieser,  a.  a.  0.  107  f.  — 
Gallois,  les  göographes  allemands  1890,  90.  —  Denncö,  Eerste 
vlaamsch  taal-  en  gescbiedkundig  congres. 

84.  Maxiinilianas  Transilvanus^  de  Moluccis  insulis,  Rom, 
1524. 


Aelteres  kartographisches  Material  in  deutschen  Bibliotheken.  101 

l.Bl.  B  r.  (in  Antiqaa):  MAXDIILIANVS  CAESARIS  ||  IN- 
VICTISSIMI  A  |i  SECRETIS  |1  Reuerendissimo.  D.  D.  Mathaeo  Car- 
dinaH  ||  Salzeburgensi.  .S.  P.  D.  |1  [r]EDIIT  HIS  DIEBÜS  ||  una 
€x  quiiiq5  Ulis  nanibus  ...  —  [De]  r. :  .  .  .  in  occidentem  remeaait. 
—  [De]  V.:  ROMAE  IN  AEDIBVS  ||  F.  MINITII  CALVI  ||  ANNO 
M.  DXXIIII.  II  MENSE  ||  FEB. 

40.     14  Blatt.     Pag.:  B,  Bü,  [B3,  J,  C,  Cü,  [Cj,  J,  D,  Du,  Diu,  P«-,]. 
München,  Hof-  und  Staatsbibl.    It.  sing.  159''^.  4*.    (Die  ersten 
4  Blatt  fehlen). 

Litt.:  S.  nr.  83  und  Harrisse,  B  AV  nr.  124. 

85.  Anonymus,  Letera,  o.  0.  u.  J. 

1.  ßl.  [A]  r.  (in  Antiqua):  LETERA  DE  ||  (in  gotischer  Schrift) : 
La  nobil  cipta :  nouamente  ritrouata  alle  ||  Indie  con  li  costumi  (e) 
modi  del  suo  Re  (e)  ||  soi  populi :  Li  modi  del  suo  adorare  con  la  || 
bella  vsanza  de  le  donne  loro:  (e)  de  le  dua  p||sone  ermafrodite 
donate  da  quel  Re  al  ||  Capitano  de  larmata.  ||  (in  Cursiv) :  ERamo 
gia  partiti,  da  le  Ysole,  aquistate,  &  con  ||  buon  uento,  nauigando, 
con  quatro  naue,  per  il  cappo,  |j  di  bona  salate,  per  x  . . .  ii  giorni 
•continui,  solcamo  molte  mijlglia  di  mare,  a  Saluamento  ...  —  Am 
26.  Tage  treffen  sie  auf  eine  Küste,  mit  einer  großen  Stadt.  — 
Aij  r. :  Imprima,  la  Citta  e  nominata  Zhaual  &  ha  uno  bellissi'||mo 
porto.  —  [A4]  V. :  Sono  ormai  •  vi  •  mesi,  che  qua  se  ritrouamo, 
doue  con  la  gra^pia  de  N.  S.  habbiamo.  principiata  una  chiesa 
dedicata  a  San||ta  maria  gloriosa,  de  bona  salute,  ....  —  Schließt: 
El.  V.  S.  V.  AI  Suo.  D.  L.  S.  ||  Data  in  Peru  adi.  xxv.  de  Nouem- 
bre.  IJDel  MDXXXIIIL 

4».     4  Blatt.     Pag.:  [A],  Aij,  [A„  J. 

München,  Hof^  und  Staatsbibl.    4".    It.  sing.  330,  7. 

Litt.:  Brunet  III  1021.  —  Harrisse,  B  A  V  nr.  191  (.  .  .  of  the 
original  of  this  plaquette,  we  can  find  no  traces).  —  Racc.  CoL 
VI  103  nr.  641  (andere  Ausgaben). 

86.  Anonymus,  Newe  Zeytung,  o.  0.  u.  J. 

1.  Bl.  r.  (in  gotischer  Schrift) :  Newe  Zeytung  ||  aus  Hispanien 
vnd  II  Italien.  ||  Mense  Februario.  ||  1534.  ||  —  1.  Bl.  v.  leer.  — 
2.  Bl.  r. :  Newe  zeitung  |[  vom  Türeken.  —  iij,  r.  in  der  Mitte: 
Newe  Zeitung  aus  Hispania.  ||  Di^ Keyserliche  Maiestet  Hauptleut 
vnd  Agen||ten  haben  abermals  in  Indien  newe  Insel  gefun^jlden  vn 
erobert/  Dan  es  haben  K.  M.  Stathalter  j|  aus  Panumja/  in  India 
gelege/  warhafftigKch  ge||schriben  vnd  seiner  Maiestet  anzeygt/ 1| 
das  auff  den  jj  xv.  tag  Martij  im  xxxiij.  jar/  in  Nichacunhna  ein  || 
schiff  aus  Perhu  ankomen  sey ,  welches  brieff  von  ||  Francisco  Pis- 


102  W.  Rüge, 

cario  K.  M.  oberster  regente/  gebra=||cht  hat,  wie  sie  zu  Perhu 
angelendet/  das  eingeno'||men  haben  ...  —  Den  Schluß  des  Flug- 
blattes bildet  eine  Nachricht  über  eine  Gresandtschaft  zu  den  Türken, 
die  datiert  ist:  Dat.  vt  supra  xviij  ||  Januarij.  Anno  1534. 

40.     4  Blatt.     Pag. :  [1],  ij,  iij,  [4], 

Frankfurt  a.  M.,  Stadtbibl.    Hist.  B.  IV,  58,  36.  —  München, 
Hof-  und  Staatsbibl.    4«.    Türe.  82/3  m. 
Litt.:  Harrisse,  BAV  nr.  195. 

87.  Anonymus^  Copey  etlicher  Briefe,  o.  0.  u.  J. 

1.  Bl.  r.  (in  gotischer  Schrift) :  Copey  etlicher  brieff  ||  so  auß 
Hispania  kumme  ||  seindt/  anzaygent  die  eygenschafft  des/ 1|  Newen 
Lands/  so  newlich  von  Kay.  ||  May.  Armadi  auffdem  newen  ||  Mör 
gefunden  ist  worden/  ||  durch  die  Hispanier.  ||  M.  D.  XXXV.  — 
1.  Bl.  V.:  ITem  es  ist  vor  etlichen  ||  Jaren/  durch  Kay.  May. 
beuelch  außge==||faren  auß  Hispania/  ein  Hispanischer  Her/  ||  Fran- 
cisco de  Pysaria  genandt  ....  —  3.  Bl.  r. :  Solches  gut  hat  obf| 
genanter  Herr  Francisco  de  Pisaria/  sampt  mannen  ||  vnnd  frawen/ 
vnnd  auch  Indianischen  schafe  von  ||  Elperu  durch  Nycoarchua  gehn 
Sant.  Lucas  in  ||  Antholosia  mit  zway  schyffen  geschickt  /  welches  I| 
leyt  jnn  hohe  Hispania/  bey  Hispaly/  wo  sy  an  kuine  ||  sein  jm 
Mertzen  des  vierundreysigist  Jar/  —  4.  Bl.  r. :  Solche  zeyttung 
ist  auß  II  Hyspanischer  sprach/  in  die  Frantzösische  getransfer||tirt 
worden/  darnach  in  Nyderlendisch  vnd  Hoch»||teusch  (!)  sprach. 
Dise  zway  schyff  hat  ein  glaub wür^ljdiger  Mann  mit  nammen 
Mayster  Adolff  Kay.  ||  May.  Secretari  in  Hyspania  abladen  sehen. 

4°.     4  Blatt.     Ohne  Paginierung. 

Berlin,  Kgl.  Bibl.  Flugschr.  1535,  23.  —  München,  Univer- 
sitätsbibl.  4".  Libri  rari  5.  —  München,  Hof-  und  Staatsbibl.  4". 
Am.  A.  95.  —  Nürnberg,  German.  Mus.  Bibl.  Scheurl.  479  (499)  p.  233. 

Litt.:  Harrisse,  BAV  add.  nr.  108. 

88.  Anonymus,  Nuova  della  presa  della  gran  Citta  de  Diu, 
o.  0.  u.  J. 

1.  Bl.  r.  (in  gotischer  Schrift):  Nuoua  della  pre||sa  della  gran 
Citta  de  Diu  per  lo  ||  inuittissimo  Re  di  Portogal'ljlo,  (e)  de  lar- 
tegliaria,  (e)  gran||dissimo  tesoro,  che  den||tro  vi  si  trouo.  —  Darunter 
das  portugiesische  Wappen.  —  1.  Bl.  v.  leer.  —  A  ij  r.  (in  Antiqua) : 
DE  VNA  LITTERA  D'ENVERS  ||  scritta  alli  VIII.  de  Luglio. 
M.  D.  XXXVI.  II  PEr  littere  de  29+  &  de  30+  di  ||  Magio  de  Lis- 
bona  de  mio  fra^ytello,  ho  inteso  come  Simone  ||  Ferriera  era 
gionto  con  un  Ga||leone  de  l'India,  &  portaua  lit'||tere  de  Nuno 
de  Cugna  ...  —  Schließt  [A*]  r. :  ...  a'l  Papa,    come  Capo,   &  a 


Aelteres  kartographisches  Material  in  deutschen  Bibliotheken.  103 

l'altri  II  Prencipi   Christiani.  —  Handelt  von  der  Erwerbung   der 
Stadt  Diu  1535. 

40.     4  Blatt.     Pag.:  [A],  Aij,  [A3,,]. 

München,  Hof-  und  Staatsbibl.    4.    Hist.  As.  598. 

Litt. :  Temaux-Compans,  nr.  231.  —  Brunet,  Suppl^m.  2,  51. 

89.  Johannes,  rex  Portugaliae,  Litterae,  0.  0.  u.  J. 

1 .  Bl.  r.  (in  gotischer  Schrift) :  Serenissimi  atq5  ||  (in  Cursiv- 
schrift)  Inuictissimi  Portugalliae  &  Algarbiorum  Regis  ||  Litterae, 
Ad  Sanctissimum  +D+  N+  Paulum -r  III  +  i|  Pont  +  Max  +  Super  insigni 
Victoria,  Rebusqs  ||  feliciter  in  Oriente  gestis+  —  Darunter  das  por- 
tugiesische Wappen.  —  1.  Bl.  v. :  Sanctissime  in  Christo  Pater,  ac 
beatissime  Doniine+  ||  J0anne8  +  D+G+  Rex  Portugalliae  ||  &  Algar- 
biorum citra  &  ultra  ||  mare  ...  —  [B2]  v. :  ...  Datae  Eborae  die  || 
XX  +  Julij  +  M  +  D  +  XXXVI  +  —  Bericht  über  die  Erwerbung  von 
Diu  1535. 

40.     6  Blatt.     Pag.:  [A],  Aij,  [A3,  4],  B,  [B,]. 
München,  Hof-  und  Staatsbibl.    4'^.    Hist.  As.  437. 
Litt.:  Ternaux-Compans,  nr.  249  führt  eine  Ausgabe  an:  Viennae 
Austriae.    J.  Syngrenius.  —  Graesse,  Supplem.  281. 

90.  Johannes,  rex  Portugalliae,  Literae,  0.  0.  u.  J. 

1.  Bl.  r.  (in  Antiqua):  SERENISSIMI  ||  ATQVE  IXVICTIS- 
SIMI  II  portugalliae  &  Algarbiorum  Rc'ljgis  Literae,  ad  S.  D.  N. 
Pau'jllum  III.  Pont.  Max.  super  in||sigm  uictoria,  rebusq5  jj  foe- 
liciter  in  Oriente  ||  gestis.  —  1.  Bl.  v.  leer.  —  Aij  r. :  SANC- 
TISSIME II  IN  CHRISTO  PATER,  AC  ||  beatissime  Domine.  || 
10 ANNES  D.  G.  REX  PORTV-Jlgalliae  &  Algarbiorum,  citra  & 
ulljtra  mare  ...  —  Biij  v. :  Datae  Eborae,  die  XX.  Julij.  An. 
D.  II  M.  D.  XXXVI.  —  [B4]  r.:  Alma,  Spicifera,  Elana,  ||  CERES,  ß 
—  Darunter  Holzschnitt,  weibliche  Figur,  mit  der  Unterschrift: 
Ni  purges  &  molas,  non  ||  comedes.  —  [B4]  v.  leer. 

40.     8  Blatt.     Pag.:  [A],  Aij,  Aüj,  [A,],  B,  Bij.  Büj,  [B^]. 

Darmstadt,  Großherzogl.  Hofbibl.  O.  1178. 
Litt.:  Brunet,  Supplem.  1,  698. 

91.  Cartier,  Brief  recit,  Paris,  1545. 

1.  Bl.  r.  (in  Antiqua):  Brief  recit,  &  ||  succincte  narration, 
de  la  nauiga^lltion  faicte  es  ysles  de  Canada,  Ho«||chelage  &  Sa- 
guenay  &  autres,  auec  ||  particulieres  meurs,  langaige,  &  ce||ri- 
monies  des  habitans  d'icelles :  fort  ||  delectable  ä  veoir.  —  Unter 
einem  Buchdruckerzeichen,  (Mann  links,  Baumstamm,  an  dem  ein 
Wappen  mit  R  hängt,  rechts) :  Auec  priuilege.  ||  (Cursiv)  On  les  uend 
ä  Paris  au  second  pillier  en  la  grand  ||  salle  du  Palais,  &  en  la  rue 


104  W.  Rüge, 

neufue   nostredame   a  ||  l'enseigne    de  lescu    de    fräce,    par  Ponce 
Roffet  dict  ||  Faucheur,  &  Anthoine  le  Clerc  freres.  ||  1545. 

8".  48  Blatt.  Pag.:  [A],  Aü,  Aiii,  Aiii  (statt  Aiiii),  [Ag-«],  b,  bii,  biii, 
biiii,  [bä-g],  C,  D,  E,  F  =  b  (bei  E  steht  Ej  statt  Eii). 

Berlin,  Königl.  Bibl.     Libr.  impr.  rar.  Oct.  160. 

Publ. :  D' Avezac ,  Bref  recit  et  succincte  narration  .... 
Reimpression.     Paris,  1863. 

Litt.:  Harrisse,  BAV  nr.  267.  (Kennt  nur  ein  Exemplar  im 
Brit.  Mus.). 

2.   Sammelwerke. 

93.    Montalboddo,  Paesi  nuovamente  retrouati,  Vicentia,  1507. 

1.  Bl.  r.  (in  gotischer  Schrift):  CUM  PßlüILEGIO  ||  (Auf 
bandartigem  Ornament):  ^  Paesi  Noaumente  retrouati.  Et  Nouo 
Monde  da  Alberico  Vesputio  Florentino  intitulato.  —  1.  Bl.  v. 
leer.  —  2.  Bl.  r.  (in  Antiqua):  Tabula  Cömunis.  ||  El  primo  che 
ha  trouato  la  nauigatione  per  Loceano  uerso  ||  mezodi.  c.  i.  — 
Das  Inhaltsverzeichnis  endet  6.  Bl.  r. :  Q  Finis  Tabule  cömunis.  — 
6.  Bl.  V. :  Cl  Montalboddo  Fracan.  al  suo  amicissimo  Joänimaria  || 
Anzolello  Vicentino.  S.  —  [Da]  v. :  o;  Stampato  in  Vicentia  cü 
la  impensa  de  Mgf  o  ||  Henrico  Vicentino :  &  diligente  cura  & 
indu||stria  de  Zämaria  suo  fiol  nel.  M.  ccccc  vii.  a  ||  di.  iii.  de  No- 
uembre.  ||  Cum  gratia  &  1|  priuilegio  p  äni.  x.  como  nella  ||  sua 
BoUa  appare:  che  p||söa  del  Dominio  Ve||neto  nö  ardisca  i||pri- 
merlo.  |1  *  ||  . 

40.  6  Einleitungsblatt  und  120  Blatt.  Pag.:  [-f],  +  ii,  +  iii,  [+4-6],  a, 
all,  [&3,  4]  u.  8.  w.  bis  t,  dann  v — z,  &,  ^,  F^,  A — D. 

München,  Universitätsbibl.  4°.  Itin.  16  {4P  Libri  rari  1).  — 
München,  Hof-  und  Staatsbibl.    4°.    It.  coli.  26  yi. 

Litt.:  (D' Avezac),  Martin  Hylacomylus  (Extrait  des  Annales 
des  voyages  1866)  67.  —  Harrisse,  BAV  add.  nr.  26.  —  ßacc. 
Col.  V  2,  138,  209;  VI  156  nr.  1000.  —  Rüge  in  der  Festschrift  der 
Hamburgischen  Amerikafeier  1892,  108,  126.  —  Böhme,  Die  großen 
Reisesammlungen  des  16.  Jahrhunderts  1904,  15  f.  —  Rivista  geogr. 
Ital.  XII  1905,  284. 

93.  Archangelus  Madri^nanus,  Itinerarium  Portugallensium, 
Mailand,  1508.    (Übersetzung  von  nr.  92). 

1.  Bl.  r.  (in  gotischer  Schrift) :  Itinerariü  Portugallcsiü  e  Lusi- 
tania  in  Indiä  (et)  in||de  in  occidentem  (et)  demum  ad  aquilonem.  — 
Darunter  Karte  von  Afrika,  Holzschnitt,  170  x  227  mm.  —  1.  Bl.  v. 
(in  Antiqua):  Presbyteri  Francisci  Tantii  Cornigeri  Epigramma 
Ad    Jafredum   Cai|rolum.      Delphinatus    Praesidem    &    Mediolani 


Aelteres  kartographisches  Material  in  deutschen  Bibliotheken.  105 

Senatus  Vicecancellariü.  ||  De  Itinerario  Portngallensium.  Ab  Ar- 
chägelo  Careualensi  Latinitate  |j  donato.  —  Dann  7  Distichen.  — 
Aii  r. :  Magnifico  Domino  Jafredo  Karoli.  I.  V,  cösalto  Delphinatos 
praesidi :  1|  ac  Medioläi  nicecäcellario  :  uiro  eruditissimo :  Archan- 
gelus  Madrigna|(nus  Careualensis :  ordinis  cisterciensis.  S.  D.  P. 
—  8.  Bl.  r.  Schluß  des  Briefes:  Mediolani  kalendis  Juniis 
.  M  .  CCCCC  .  Vin.  II  FINIS.  —  B  r.:  ITIXERARIVM  Portn- 
gallensium ex  Vlisbona  i  Indiam  nee  ||  non  in  Occidentem  ac  Se- 
temptrione :  ex  Vernaculo  sermone  in  ||  latinum  tradactum.  Inter- 
prete  Archangelo  Madrignano  Medio||lanense  Monacho  CareuallensL|| 
Jo.  Mariae  Vicentino  Montaboldus  Francanus  salutem.  ||  —  Letztes 
Bl.  V. :  Operi  suprema  manus  imposita  est  kalendis  quintilibus. 
Ludouico  gali{liar(um)  rege  huius  urbis  Iclite  sceptra  regete.  Julio 
secüdo  pötifice  maxi»||ma  orthodoxä  iide  feliciter  moderäte:  anno 
nrae  salutis.  M.  D.  VIII. 

Fol.  96  Blatt.  Pag.:  [A],  Aii,  Aüi,  Aüü,  [Aj-g],  B,  Bii  ii.  s.w.  wie  Ä, 
ebenso  C ;  D,  D  ü,  Düi,  [D*-«],  E,  F  wie  B  ;  G  wie  D;  H  wie  B ;  I  wie  D ;  K,  L, 
M  wie  B ;  N  wie  D.  Außerdem  sind  die  Blätter  von  B  an  oben  paginiert,  mehr- 
fach allerdings  falsch. 

Heidelberg,  Universitätsbibl.  A.  566'.  —  Karlsruhe,  Hof-  und 
Landesbibl.  *Mc.  40  (stark  zerfressen).  —  München,  Universitäts- 
bibl. fol.  Itin.  14\  —  München,  Hof-  und  Staatsbibl.  Fol.  It. 
sing.  31.  —  Augsburg,  Stadtbibl.  2  Exemplare.  Adlig,  von  Ano- 
nius  1514  fol.  und  Adlig,  von  Ludovicus  1511  fol.  —  Breslau, 
Universitätsbibl.  Bist-  an-  H-  fol.  6.  In  diesem  Ex.  stehen  hinter 
[As]  zwei  Blätter  aa,  [aa2]  mit  einem  Index:  Index  subsequentis 
operis.  —  Göttingen,  Universitätsbibl.  Itiner.  176^.  Die  letzten 
Bogen  M  und  N  sind  falsch  gebunden.  —  Berlin,  Kgl.  Bibl.  Ps. 
5985.  —  Dresden,  Kgl.  Bibl.  Geogr.  B.  22  fol.  —  Mainz,  Stadt- 
bibl. E.  4.  a.  60;  es  fehlt  Bl.  Aij — [A?]  —  Hamburg,  Commerz- 
bibl.  1126. 

Publ. :  Die  Karte  von  Afrika  in  verkleinertem  Maßstabe :  F.  A.  66 
Fig.  37.  —  Böhme,  Die  großen  Reisesammlungen  des  16.  Jahr- 
hunderts 1904,  26. 

Litt. :  Harrisse,  B  A  V  nr.  58.  —  Wieser,  Magalhäes  -  Straße 
1881,  16  f.  -  F.A.  40.  67.  —  Periplas  129.  —  Racc.  Col.  V  2, 
139,  VI  152  nr.  985.  —  Böhme,  a.  a.  0.  25  f. 

94.  Rachamer,  Newe  unbekanthe  Landte,  Nürnberg,  1508 
(Übersetzung  von  nr.  92). 

1.  Bl.  r. :  Auf  einem  verschlungenen  Bande :  Newe  ||  vnbe- 
kanthe  ||  landte  ||  Und  ||  ein  ||  newe  ||  weldte  ||  in  ||  kurtz  ||  verganger  |j 
zeythe  ||  erfunden.  —  Letztes  Bl.  vor  dem  Register  v. :   d  Also  hat 


106  W.  Rüge, 

ein  endte  dieses  Büchlein,  weL||ches  auß  wellischer  sprach  in 
die  dewtschen  1|  gebrachte  vnd  gemachte  ist  worden,  durch  ||  den 
wirdige  vnd  hochgelahrten  herre  Job=||sten  Rnchamer  der  freyen 
künste,  vnd  artz=||enneien  Doctore  &c.  Vnd  durch  mich  Geor»||gen 
Stüehßen  zu  Nüreinbergk,  Gedrückte  ||  vnd  volendte  nach  Christi 
vnsers  lieben  herj[ren  geburdte.  M.  ccccc.  viij.  Jare,  am  Mit'||woch 
sancti  Mathei,  des  heiligen  apostols  ||  abenthe  der  do  was  der 
zweyntzigiste  tage  ||  des  Monadts  Septembris. 

Fol.  68  Blatt.  Pag.:  [ai],  aij,  aiij,  aiiij,  [ag,  g],  b,  bij,  biij.  büij,  [bj,  «], 
c — k  =  b;  1,  lij,  liij,  [IJ.  Dann  das  Register  auf  Blatt  i,  ij,  iij,  [4].  Text  in  zwei  Spalten. 

Hamburg,  Commerzbibl.  1174.  —  München,  Universitätsbibl. 
fol.  Libri  rari  3  u.  4.  —  Leipzig,  Universitätsbibl.  Mathem.  34/6 
und  Hist.  Helv.  7.  —  Oldenburg,  Großherzogl.  Bibl.  —  Berlin, 
Königl.  Bibl.  fol.  P  s  5987.  —  Nürnberg,  Stadtbibl.,  math.  fol.  786. 
—  Göttingen,  Universitätsbibl.  Itinerar.  263".  —  "Wolfenbüttel, 
Herzogl.  Bibl.  156,  10,  Quodlib.  fol.  —  Schweinfurt,  Stadtbibl. 
Nr.  7082.  —  Dresden,  Kgl.  Bibl.  Geogr.  B.  23. 

Litt.:  Harrisse,  BAV  nr.  57.  —  Proctor  II  11081.  —  Rüge, 
Gesch.  d.  Zeitalters  d.  Entdeckungen  1881,  233  und  in  der  Fest- 
schrift der  Hamburgischen  Amerikafeier  1892,  108,  126.  — 
(D'Avezac),  Martin  Hylacomylus  (Extrait  des  Annales  des  voyages 
1866),  67.  —  Böhme,  Die  großen  Reisesammlungen  des  16.  Jahr- 
hunderts 1904,  29  f.  —  Racc.  Col.  V  2,  139;    VI  153  nr.  986. 

95.  Gheteleii,  Nye  vnbekande  lande,  Nürnberg,  1508.  (Über- 
setzung von  nr.  94). 

1.  Bl.  r.  (in  gotischer  Schrift):  Nye  vnbekande  lande.  Unde 
eine  nye  Werldt  iu  korter  vergangener  tyd  gefunden.  (Jedes 
Wort  steht  einzeln,  ebenso  angeordnet  wie  bei  der  hochdeutschen 
Ausgabe  nr.  94). 

1.  Blatt  V.,  auf  zwei  kleinen,  voranstehenden  Zeilen:  Enem 
etliken  anschouwer  desses  Bokes  entbuet  Jj  Henningus  Ghetelen 
sinen  denst  vn  vrüntschop  |I 

Dann :  Myt  gunst  vn  wyllen  des  werdigen  vnde  hochgelereden 
heren  Josten  Ruchamer  Jj  der  vryen  künste  vnde  arstedye  Doctoren 
IC.  welker  dyt  Boeck  hefft  erstmaels  gemaket  ||  vth  den  waischen 
in  hochdfidesch,  dorch  bede  vnde  anlangent  euer  siner  gude  vründe  || 
So  hebbe  ick  Henningus  Ghetelen  (vth  der  keyserliken  vryen  Stadt 
Lübeck  geboren)  ||  vor  my  genamen,  dyt  Boeck  to  maken  vnde  to 
wandelen  vth  def  hochdfideschen  in  ||  myne  moderlike  sprake, 
alse  men  redet  in  den  loffwerdigen  Hensesteden,  vnde  ok  in  den  [| 
wyd  beropenden  landen  Sassen  Marcke  Pomeren  Prüssen  Mekelen- 
borch  Hülsten  ic.  .  .  .  Dixi. 


Aelteres  kartographisches  Material  in  deutschen  Bibliotheken.  107 

Am  Ende  der  Seite :  Eiusdem  Henninghi  Ghethelen  Lnbecensis  || 
&  adolescentuli  Hexastichon  Ad  lectores. 

Euomit  insignis  Stuchs  calcographia  Georgi 
Tentonico:  ex  Franco:  iam  nona  regna  stilo. 

Quo  patet  aethiopum  mores  &  regna:  reuelat 
En  mnndi  populos :  &  simulachra  noui. 

Mira  (legas)  nostris  animalia  pandit  ocellis 
Monstra  sed  hnmanis  enolat  apta  iocis. 

H 
TELOS 

a 

Hierauf  folgt  der  Text,  xind  zwar  in  zwei  Kolumnen. 
[U]  V.  rechte  Kolumne:  a  Also  heflPt  dyt  Boeck  einen  ende/ 
welker  j]  vth  Walscher  sprake  in  de  Hoechdfideschen  ||  gebracht  vnde 
gemaket  is,  dorch  den  werdi»||gen  vnde  hoechgeleerden  heren  Jostcn 
Ru'ljchamer  der  vryen  künste  vnde  arstedyen  Do»  ctoren  ic.  Dar 
na  dorch  Henningü  Ghetelen  ||  vth  der  keyserliken  Stadt  Lübeck 
gebaren  in  ||  desse  sine  Moderliken  Sprake  vorwandelt.  j|  Vnde 
dSreh  my  Jürgen  Stiichßen  to  Nü=||reinberch  Gredrücket  vn  Vulendet 
na  Christi  ||  vnses  leuen  heren  gebort.  M.  ccccc.  viij.  jare  ||  am  Auende 
Elizabeth  der  hilligen  Wedewe  ||  dede  dar  was  am  achteyenden 
dage  Nouc'llbris  des  Wyntermaens.  || 

Henninghi  Ghetelen  Lnbecensis  ||  Distichon.  || 

Vasta  periclo  sceptra  graui  scrntata  Colübi. 
Regis  et  insignis  Emanuelis  ope. 
H 
TELOS 
G. 
Hierauf  Register  I,  11,  III,  [*].     [*]  r.   am  Ende  der  rechten 
Columne :  Also  hefft  ein  ende  dat  Register  ||  auer  dyt  Bokelin. 

Fol.  Pag.:  [a],  aü,  aiii,  aiiii,  [aj,  a,],  b,  bii,  büi,  büii,  [bj,  b,]  u.  s.  w, 
bis  [k,],  1,  lij.  liij,  p,]. 

Königsberg,  Stadtbibl.  N  104/2.  —  Stuttgart,  Kgl.  Landesbibl. 
Geogr.  Lande,  4°.  (Es  fehlen  darin  [a],  aiii,  aiiii).  —  Wolfen- 
büttel, Herzogl.  Bibl.  26  Quodl.     Heimst.  2«. 

Litt.:  Harrisse,  BAV  add.  nr.  29  mit  außerordentlich  vielen 
Fehlern.  —  Gut,  bis  auf  wenige  Fehler,  ist  die  Abschrift  in  dem 
Catalogue  de  la  collection  ....  de  feu  M.  Serge  Sobolewski,  List 
und  Franke  1873  nr.  4070.  —  Über  Hans  (Johannes)  van  Ghetelen 
vgl.  K.  E.  H.  Krause  (Jahrbücher  des  Vereins  für  niederdeutsche 
Sprachforschung,   Bremen  1877,    96 — 98),   der   seine   Angaben   mit 


108  W.  Rüge, 

den  Worten  schließt:  „Den  Verbleib  des  Sobolewskischen  Exem- 
plars der  „„Nyen  unbekanden  lande""  zu  erfahren,  wäre  auch  für 
die  Kenntnis  der  mnd.  Sprache  von  Bedeutung".  Dieses  Exemplar 
ist  in  die  Carter-BTOwn-ßibliothek  in  Providence  R.  J.  gekommen ; 
D.  B.  Shumway  ^)  hat  darüber  gehandelt  (in  derselben  Zeitschrift 
1907,  53;  1908,  113).  —  Racc.  Col.  V  2,  139;  VI  153  nr.  987. 

96.  Mathurin  du  ßedouer,  Le  nouveau  monde,  Paris,  o.  J. 
(Übersetzung  von  nr.  92.) 

1.  Bl.  r.  (Das  Gesperrte  ist  rot):  SEnsuyt  le  nou=j|ueau 
möde  et  na||uigations:  fai'||ctes  par  Emeric  de  vespuce  Florentin/ 
Des  II  pays  et  isles  nouuellemet  trouuez/  aupauät  || 
a  nous  Tcögneuz/  Tat  en  lethiope  q  arrabie  ||Calichut  et  aul- 
tres  plusieurs  regions  esträ||ges  Träslate  de  Italien  en 
Lägue  fräcoyse  ||  par  mathurin  du  redouer  licencie  es 
1 0  i  X.  —  Darunter  Holzschnitt,  den  Tierkreis  darstellend.  Am  Ende 
der  Seite:  On  les  vent  a  Paris  en  la  rue  neufue  nostrejl 
dame  a  lenseigne  de  Lesen  de  France.  —  Letztes  Bl.  v. : 
CT  Cy  finist  le  liure  intitule  le  nouueau  monde,  et  nauigaciös  ||  de 
almeric  de  vespue  des  nauigaciös  faictes  par  le  roy  de  por=||tugal 
es  pays  des  mores  et  autres  regiös  et  diuers  pays.  In||prime 
nouuellement  a  Paris. 

4''.  92  Blatt.  Pag.:  [A],  Aij,  A  iij,  [A^],  ai,  aii,  aiii,  [a^],  u.  s.  w.  bis  t; 
e,  m,  t  haben  8  Blatt,  z.  B.  ei,  eii,  eiii,  eiii,  [eg—g].  Daneben  geht  oben  eine 
Paginierung  her  von  ai  an  =  Fueil.  i,  aii  =  Fueillet  ii,  u.  s.  w. ;  aber  c  i  = 
FueiUet  X  (anstatt  IX),  so  geht's  weiter,  daher  ist  [tg]  =  LXXXIX,  eigentlich 
LXXXVIII ;  Fueillet  XXXVI  ist  falsch  als  XXXII  bezeichnet. 

Hamburg,  Commerzbibl.  1173. 

Litt. :  Harrisse,  ß  A  V  nr.  83  oder  add.  nr.  46.  —  Racc.  Col. 
V  2, 139 ;  VI  164  nr.  989.  —  Böhme,  die  großen  Reisesammlungen 
des  16.  Jahrhunderts  1904,  36  f. 

97.  Mathurin  du  Redouer,  Le  nouveau  monde,  Paris,  o.  J. 
1.  Bl.  r.  (in  gotischer  Schrift,  das  Gesperrte  rot):    SEnsuyt 

le  Nou  =  ||ueau  monde  (et)  na||uigations:  Fai'||ctes  par  Emeric 
de  vespuce  Florentin/  Des  ||  pays  (et)  isles  nouuellemet 
trouuez/  au  pauät  a||  no9  Icongneuz  Tat  en  lethiope  q  arabie'/ 

cali'llchut/  (et)  aultres  plusieurs  regiös  esträges  -XIX 

Darunter  der  Tierkreis.  —  tt  On  les  vend  a  Paris  a  lenseigne 
Sainct  iehan  bap||tiste  en  la  Rue  neufue  Nostre  dame 
pres  Saincte  gene«||  uiefue  des  ardans.  Jehan  iannot.  — 
Letztes  Bl.  v. :  OL  Cy  finist  le  liure  intitule  le  nouueau  möde/  (et) 

1)  Den  Hinweis  auf  dessen  Aufsätze  verdanke  ich  Herrn  Geheimrat  Sievers 
in  Leipzig. 


Aelteres  kartographisches  Material  in  deutschen  Bibliotheken.  109 

nanigatiös  |I  de  Almeric  de  vespue/  des  nauigatiös  faictes  p  le  roy 
de  porlltugal  es  pays  des  mores  et  aultres  regions  et  diaers  pays  || 
Imprime  nonuellement  a  Paris  par  Jehan  Janot. 

4*.  92  Blatt.  Pag. :  jwie  nr.  96,  nur  ist,  von  einigen  Versehen  im  einzelnen 
abgesehen,    die  Seitenzählung  oben  richtig;    sie  endet  daher  auch  mit  LXXX^^II. 

Wolfenbütte],  Herzogl.  Bibl.  13518,  früher  Helmstedt,  Ehe- 
mal, üniversitätsbibl.    T.  81. 

Litt.:  Harrisse,  BA V  nr.  84.  —  Racc.  Col.  V  2,  139;  VI  154 
nr.  990.  —  Böhme,  (s.  nr.  96)  36  f. 

b.    Segelanweisnngen. 

98.  Bartolomeo  da  li  Sonetti,  Isolario,  (Venedig,  Guilelmus 

Tridinensis  [Anima  miaj,  frühestens  1485)  ^). 

Ohne  Titel.  Der  Verfasser  nennt  sich  Bl.  2  r. :  per  me  bon 
venitian  bartholomio  da  li  soneti  ....  und  Bl.  3  r. :  per  me  bar- 
tolomeo da  li  sonetti.  —  1.  Bl.  r. :  AI  Diuo  Cinquecento  cinque  e 
diece  \\  Tre  cinq5  a  do  Mil  nulla  tre  e  do  vn  ceto  ||  nulla.  questa 
opra  dar  piu  cha  altri  lecce.  —  Über  die  Bedeutung  dieser  Worte 
und  ihre  Beziehung  auf  den  Dogen  Juan  Mocenico  (1478 — 1485) 
vgl.  E.  Jacobs  bei  Hiller  v.  Gärtringen,  Die  Insel  Thera  1899 
I,  380  f.  —  Beschreibung  der  griechischen  Inseln,  dazu  Karten. 

56  Blatt  in  Lagen  zu  12,  10,  8  (als  b  paginiert),  6,  6,  8,  6. 

Berlin,  Kgl.  Bibl.    Inc.  4215,  5. 

Litt,  (außer  Jacobs):  Castellani,  catalogo  ragionato  delle  piu 
rare  e  piü  importanti  opere  geografiche  a  stampa,  che  si  conser- 
vano  nella  biblioteca  del  CoUegio  Romano  1876,  66.  —  Periplus 
71.  —  F.A.  36.  104. 

99.  Anonym as,  Portolan,  Venedig,  1490. 

1.  Bl.  leer.  —  aij  r. :  Questa  e  vna  opera  necessaria  a  tutti  li 
nauigäti  chi  vano  in  di=|iaerse  parte  del  mondo  per  laqual  tutti  se 
amaistrano  a  cognoscere  ||  starie  fundi  colfi  vale  porti  corsi  dacque 
e  maree  comiciando  da  la  ||  cita  de  cadex  in  spagna  dretamente 
fina  nel  porto  de  le  schiuse  pas||sando  p  icanali  fra  laixola  de  in- 
gelterra  e  la  terra  ferma  scorendo  le  ||  bäche  de  fiädra  fina  ala 
ixola  de  irlanda  mostrando  tuti  i  corsi  e  tra||uersi  dal  ponepte  fino 
al  leuante  doue  exercitano  naueganti  chi  va|[no  per  mar  e  per  ogni 
parte  diel  mondo.  cü  iloro  nauili  nauegädo. 

Letztes  Blatt  v. :  Finito  lo  libro  chiamado  portolano  composto 
per  vno  zentilo||mo  veniciano  lo  quäl  a  veduto  tute  queste  parte 
anti  scrite  le  ||  quäle  sono  vtilissime  per  tuti  inanichanti  che  voleno 

1)  Nach  Mitteilung  des  Herrn  Prof.  Vouillieme  in  Berlin. 


110  W.  Rüge, 

securamen||te  nauichar  (con)  lor  nauilij  indiuerse  parte  del  mondo  |I 
Laus  deo  amen  ||  Impresso  cum  diligentia  in  la  citade  de  Venexia 
per  Bemar||dino  rizo  da  nouaria  stampador  1490  adi  6  nouembrio. 

8».  82  Blatt.  Pag.:  [a],  aij,  aiij,  aiiij,  [aj-g],  b,  bij,  biij,  biiij,  [bj-g], 
ebenso  c,  d,  e;  f,  fij,  fiij,  [4-«],  [A],  Aij,  A  iij,  Aiiij,  [As-«],  B,  Bij,  Biij,  Biüj, 
[Bs-g],  ebenso  C,  D;  E,  Eij,  [E3,  J. 

BerHn,  Kgl.  Bibl.    Inc.  4135,  5. 

Publ. :  Kretschmer,  Die  italienischen  Portolane  des  Mittel- 
alters 1909,  420-552.  Vgl.  dazu  S.  220.  —  Proctor  4957.  — 
Reichling,  Appendiees  ad  Hainii  -  Copingeri  repertorium  typo- 
graphicum  1908  f.    III  1907,  156. 

c.  Lehrbücher. 

100.  Anonymns ,  Der  deutsche  Ptolemäus ,  (Nürnberg ,  G. 
Stuchs^),  ca.  1487-1490). 

1.  Bl.  V.  (in  gotischer  Schrift):  Inuitatio  lectoris  in  cosmo- 
graphiam  claudi  ||  ptolomei  Alexandrini  nouiter  ideomate  germa«!] 
no  cötextam  incipit  foeliciter.  —  Folgen  12  Distichen.  —  az  r. :  Ein 
einleitung  diss  buchleins  |1  yn  die  kunst  Cosmographia.  —  Ohne 
Kolophon. 

S*".  35  Blatt  und  eine  Weltkarte.  Pag.:  [a],  aj,  [aj—J,  bj,  bj,  [bj—g],  c,, 
Ca,  [C3— s],  dl,  d,,  [dg-g],  ei,  [Cj-J,  [ej  fehlt. 

München,  Hof-  und  Staatsbibl.  8".  Inc.  s.  a.  74.  —  Berlin, 
Kgl.  Bibl.    Inc.  1915^). 

Publ.  u. Litt. :  Jos.  Fischer,  S.  I.,  Der  „deutsche  Ptolemäus",  1910 
(nach  dieser  Facsimileausgabe  habe  ich  die  Beschreibung  gemacht). 

101.  Ludd,  speculi  orbis.  declaratio,  Straßburg,  1507, 

1.  Bl.  r.  (in  gotischer  Schrift):  Speculi  Orbis  succinctiss.  sed  || 
neqg  poenitenda  neq^  ||  inelegans  Declara'||tio  et  Canon.  —  Darunter 
Holzschnitt  mit  dem  Planetensystem,  rechts  von  oben  nach  unten : 
Foelices  animae  quibus  haec  cognoscere  primum  ||  Inqj  domos  su- 
peras  scandere  cura  fnit.  —  Links,  ebenfalls  von  oben  nach  unten : 
Non  frustra  signorum  obitus  speculamur  et  ortus  1|  Temporibusq^ 
parem  diuersis  quattuor  annnm.  —  Darunter:  Renato  SiciliaeRegi  ic. 
dicatum.  —  l.Bl.  v. :  Philesij  Vogesigenae  tl  öCötvxov  de  exi'ljmijs 
laudibus  inclytiss.  ||  Renati  Solymorum  ||  ac  Siciliae  regis  ic.  (]  et 
Gualteri  Luddi  |1  einsde  aleretis.  —  Folgen  10 Distichen:  Ipsum-paret. 
—  aij  r:  Inclytissimo  Renato  Hieru'||salem/  et  SiciliQ  Regi.  ic. 
Duci  Luthoringi^  ||  ac  Barn.  Gualterus  Ludd  eiusdem  ||  a  secretis 
et  Canonicus  Deodatensis  11  sese  humiliter  cömendat.  —  Schließt :  Val« 


1)  Nach  Mitteilung  von  Herrn.  Prof.  Voulli^m«  in  Berlin. 


Aelteres  kartographisches  Material  in  deutschen  Bibliotheken.  Hl 

Kex  iuclytissime  /  et  me  habeas  cömendatü  |[  ex  oppido  diui  Deo- 
dati  Anno  Millesimo  qngentesimo  (et)  septimo.  ||  —  4.  Bl.  v. :  Decla-|| 
rationis  in  spe^ljculü  orbis  p  Grualthe||rü  Ludd  Canonicü  dini  || 
Deodati  Illustrissimi  Rena||ti  Solymorum  ac  Siciliae  regis  |j  ic 
secretarium  dignissimü  ||  diligenter  paratam  ||  et  indnstria  Joan'||nis 
Grüingeri  ||  Argetin.  im^Hpressum  ||  Finis. 

40,    4  Blatt.    Pag.:  [a],  aij,  aiij,  [a*].    Daneben  oben  Fo.  II,  Fo.  III.,  IIII. 

Leipzig,  Universitätsbibl.     Mathem.  34,  4. 

Litt.:  (D'Avezac),  Martin  Hylacomylus  (Extrait  des  Annales 
des  voyages  1866),  61.  (Seine  Beschreibung  stimmt  nicht  ganz).  — 
Harrisse,  B  A  V  nr.  49  (übersetzt  die  versicoli  falsch).  —  Wieser, 
Magalhäes- Straße  1881,  118  Anm.  —  Gallois.  Les  geographes  alle- 
mands  1890,  45.  —  Schmidt,  Repertoire  bibliogr.  strasbourgeois 
1893,  nr.  85.  —  Proctor  11  nr.  9904. 

102.  Ladd,  Erclämis  vnd  vßlegnng,  Straßbarg,  1507. 

1.  Bl.  r.  (in  gotischer  Schrift):  Erclämis  vnd  vßlegung  der 
Fi'IIgar  vnd  Spiegels  der  weit.  —  Darunter  Holzschnitt  mit  dem 
Planetensystem.  —  1.  Bl.  v. :  Vorred  ||  An  den^dnrchleachtigsten 
Renatum  Künig  zu  ||  Hierusalem  vnd  Sicüien  etc.  Hertzoge  !|  zu 
Lutringen  vnd  Bar  etc.  ||  So  die  menschen  . .  || . .  hab  ich  Walter  Lud 
de||mütiger  Thumherr  zu  sant  Diedolt  .  .  .  Datum  zu  sant  Diedolt 
in  dem  M  •  ccccc  •  vnd  vj  •  üar.  —  4.  Bl.  v. :  End  der  erclärniß 
Speculi  orbis/  durch  de  wirdige  herre  Herr  Waltem  Ludden  ||  ge- 
macht/ vn  Joänem  Grüninger  zu  Straßburg  getruckt.  Anno« 
M  •  ccccc  vij. 

Folio.  4    Blatt.    Pag. :  [a],  a  ij  und  oben  II,  a  iij  und  oben  III,  [a^]  oben  IIII. 

Breslau,  Universitätsbibl.  Phys.  IV.  fol.  115.  (Das  einzige 
bekannte  Exemplar). 

103.  TValdseemüUer,  Cosmographiae  introductio,  St.  Die, 
25.  IV.  1507. 

l.Bl.  r.  (in  Antiqua):  COSMOGRAPHIAE  INTROÜV-ÜCTIO/ 
CVM  QVIBVSIIDAM  GEOME||TRIAE  ||  AC  ||  ASTRONOHMIAE 
PRINCIPIIS  AD  II  EAM  REM  NECESSARHS.  ||  Insuper  quatuor 
Americi  Ve'||spucij  nauigationes.  ||  Vniuersalis  Cosmographi^  de- 
scriptio  II  tam  in  soHdo  q5  piano  /  eis  etiam  ||  insertis  quQ  Ptholo- 
m^o  II  ignota  a  nuperis  ||  reperta  sunt.  |i  DISTICHON.  |i  Cum  dens 
astra  regat/  &  terrae  climata  Caesar  ||  Nee  tellus  nee  eis  sydera 
maius  habent.  ||  —  1.  Bl.  v.:  MAXIMILIANO  CAESARI  AV- 
GVSTO  II  PHILESrV'S  VOGESIGENA.  ||  Cum  tua  sit  vastum 
Maiestas  sacra  per  orbem  |1  .  .  .  5  Disticha  .  .  .  |1  Qui  mira  praesens 
arte   parauit   opus.  1|  0  Takoe  |j  —  Aij  r.:   DiyO  MAXIMILIANO 


112  W.  Rüge, 

CAESARI  AV||GVSTO  MARTINVS  ILACO||MILVS  FOELI- 
CITA||TEM  OPTAT.  ||  Si  multas  adijsse  regiones,  &  populorü 
vltimos  II  vidisse/  nö  sola  voluptariü  sed  etiam  in  vita  cöduci||bile 
est  ....  quis  oro  inuictissime  Caesar  Maximiliane,  regio||na  .... 
Quis  inquä  ||  illorü  omniü  ritus  ac  mores  ex  libris  cognoscere  iul|- 
cundü  ac  vtile  esse  inficias  ibitV  Sane  (ut  dicä  quod  ||  mea  fert 
opinio)  ....  Schließt  Aij  v. :  ....  me  satis  foecisse  intellexero. 
Vale  Caesar  inclytissi.  ||  Ex  oppido  diui  Deodati.  Anno  post  natu 
Saluatoljrem  supra  sesquimillesimü  septimo.  —  bij  r.  schließt  die 
EinleituDg:  Finis  introductionis.  —  bij  v. :  Philesius  Vogesigena  || 
Lectori  ||  ßura  papirifero ....  11  Distichen  ....  Rhinocerontis  ha- 
bens  II  o  Telog,  —  biij  r.:  QVATVOR  AMERICI  VEHISPYTII  NA- 
VIGATIONES  II  Eins  qui  subsequente  ter=||rarum  descriptio=||ne  de 
vulgari  ||  Gallico  in  ||  Latinü  ||  trästu||lit.  ||  Decastichon  ad  lectorem:  || 
Aspicies  ...  5  Distichen  .  .  .  non  facientis  opus.  —  Dann:  Item 
distichon  ad  eundem  |j  Cum  noua  —  habes  ||  o  Tsloq.  \\  —  biij  v. : 
lUastrissimo  Renato  Iherusalem  ||  &  Sicili^  regi/  duci  Lotho||ringiQ 
ac  Barn.  Ame=||ricus  Vesputius  hu=||mile  reuerentiä  &  ||  debitä  re- 
cöme||dationem.  -•-  [fe]  r. :  Americus  Vesputius  in  Lisbona.  —  Auf 
dem  Rest  der  Seite  ein  Buchdruckerzeichen  mit  S.  D. ;  G.  L. ; 
N.  L. ;  M,  I.  (Diese  ineinander  geschlungen).  —  Darunter :  Finita, 
vij.  kl'  Maij  ||  Anno  supra  sesqui||millesimum  vij.  —  Zu  beiden 
Seiten  je  ein  Distichon :    Vrbs  Deodate  —  premet. 

4".  52  Blatt.  Pag.:  [A],  Aij,  Aiij,  Aiiij,  [A5,  ^],  B,  Bij,  Biij,  [B4],  a,  aij,  aiij, 
aiiij,  dann  ein  eingelegtes  Blatt,  [aj-a],  b — d  =  a;  e,  eij,  eiij,  [e^],  f,  fij,  füj,  fiiij,  [fö,«]. 

Schlettstadt,  Stadtbibl.  —  Leipzig,  Universitätsbibl.  Ges.  Werke 
65,  3.  —  Göttingen,  Universitätsbibl.    Geogr.  623.    4". 

Publ. :  Fischer  und  v.  "Wieser,  Cosmographiae  Introductio,  1907 
(Facsimile).  —  v.  Wieser,  Die  Cosmographiae  introductio  des  Martin 
Waldseemüller,  1907. 

Litt.:  (D'Avezac),  Martin  Hylacomylus  (Extrait  des  Annales 
des  voyages  1866).  —  Harrisse,  B  A  V  nr.  44 ;  add.  24.  ^  Racc.  Col. 
V  2,  139  VI  209,  nr.  1340. 

104.  Waldseemüller,  Cosmosgraphiae  introductio,  St.  Di^, 
25.  IV.  1507. 

l.Bl.r.  (in  Antiqua):  COSMOGRAPHIAE  INTRODVCTIO/  || 
CVM  QVIBVSDAM  |i  GEOMETRIAE  ||  AC  ||  ASTRONO  ||  MIAE 
PRINCIPIIS  II  AD  EAM  REM  NECESSARIIS  ||  Insuper  quatuor 
Americi  Ve«||spucij  nauigationes.  ||  Vniuersalis  Cbosmographiae  (!) 
descriptio  ||  tarn  in  solide  qjplano,  eis  etiam  ||  insertis  quQ  Ptholo- 
m§o  II  ignota  a  nuperis  |!  reperta  ||  sunt.  ||  DISTICHON  ||  Cum  deus 
astra  regat/   &  terrae  climata  Caesar  ||  Nee  tellus  nee  eis  sydera 


Aelteres  kartographisches  Material  in  deutschen  Bibliotheken.  113 

malus  habent.  —  1.  Bl.  v. :  DJ  VO  MAXIMILIANO  CAESARI 
SEM^iiPER  AVGVSTO;  GYXNASIVM  (!)  VOS||AGENSE  NON 
RÜDIBVS  INDOIICTISVE  ARTIVM  HVMANI||TATIS  COM- 
MENTATORItlBVS  NVNC  EXVL=||TANS:  GLORIAM  ||  CVN 
FOELICI  II  DESIDERAT  ||  PRIXCIPAljTV.  ||  SI  MVLTAS  ADI- 
ISSE  REGIONES  ET  ||  populorü  vltimos  vidisse/  nö  solum  vo- 
luptarium  / 1|  sed  etiam  in  vita  condacibile  est.  .  .  .  Quis  o  Caesar 
inuictissime  |(  regionum  ...  —  A  ij  r. :  Qais  inquä  illorü  onmiü 
ritus  ac  mores/  ex  libris  ||  cognoscere:  iucundum  ac  vtile  esse 
inficias  ibit?  Sa^jlne  (vt  sapientum  fert  opinio)  ....  —  Schließt 
Aij  V.:  ...  nos  satisfecisse  intellexmimus.  Vale  caesar  injjcly- 
tissime.  Ex  superius  memorato  sancti  Deodati  ||  oppido.  Anno 
post  natum  Saluatore  supra  sesquiUmillesimam  septimo.  —  Von 
da  an  =  nr.  103. 

München,  Hof-  und  Staatsbibl.  4«.  Math.  A.  152^  (ßl.  Aij 
—  [As]  falsch  gebunden).  —  Zwickau,  Ratsschulbibl.  XXIV,  XII. 
2, 17.  —  Würzburg,  Universitätsbibl.  It.  q.  233.  —  Dresden,  Kgl. 
Bibl.  Lit.  Rom.  B.  3031/3.  —  Halle,  Universitätsbibl.  Oa  958  (an 
Oc  184).  —  Berlin,  Kgl.  Bibl.  Libri  impr.  rar.  Quart  10  (=  Po. 
5054  nr.  20).  —  Leipzig,  Universitätsbibl.  Astronom.  438.  — 
Bonn,  Universitätsbibl.     4^.     0.  379  V  2,  139  f. 

Litt. :  S.  vorige  nr.  Harrisse,  ßA  V  nr.45.  —  Racc.  Col.  V  2, 139  f. 

105.  (VTaldseemüller),  Cosmographiae  introductio,  St.  Di^, 
29.  VIII.  1507. 

1.  Bl.  r.  (in  Antiqua) :  COSMOGRAPHIAE  ||  INTRODVCTIO  || 
CVM  QVIBVSIiDAM  GEOME||TRIAE  ||  AC  ||  ASTR0X0;MIAE 
PRIXCIPIIS  AD  11  EAM  REM  NECESSARIIS  ||  Insuper  quattuor 
Americi  ||  Vespucij  nauigationes.  ||  Vniuersalis  Cosmographiae  de- 
scriptio  tarn  ||  in  solido  qjplano/  eis  etiam  insertis  i|  quae  Ptholo- 
m^o  ignota  a  nu.peris  reperta  sunt.  ||  DISTHYCON  (!)  ||  Cum  deus 
astra  regat/  &  terrae  climata  Caesar  ||  Xec  tellus/  nee  eis  sydera 
malus  habent.  II—  1.  Bl.  v. :  DIVO  MAXIMILIANO  CAESARI 
SEÄliPER  AVGVSTO  GYMNASIVM  jj  VOSAGENSE  NON  RV- 
DIBVS  II INDOCTISVE  ARTIVM  HV  MANITATIS  COMMENJi- 
TATORIBVS  NVNC  EX  iVLTANS  GLORIAM  ||  CV]\I  FOELICI  IJ 
DESIDERAT  i|  PRINCI|PATV.  ||  SI  MVLTAS  ADUSSE  RE- 
GIONES  ET  II  populorum  vltimos  vidisse/  non  solum  voluptari«H 
um:  sed  etiam  in  vita  conducibile  est  .  .  .  Quis  o  Caesar  in=||nic- 
tissime  (!)  regionum  .  .  .  ||  A  ij  r. :  Quis  inquä  illornm  (I)  omniä  ritus 
ac  mores/  ex  li.||bris  cognoscere:  iucüdum  ac  vtile  esse  inficias 
ibit?  II  Sane   (vt  sapientü  fert  opinio) Schließt  Aij  v. :  .... 

Kgl.  Oes.  d.  Wiss.  Nichrichten.    Philolog.-histor.  Klasse.    1916.    Beiheft.         8 


114  W.  Rüge, 

nos  satisfecisse  itellexerimus.  Vale  caesar  m(!)||inclytissiine.  Ex 
superius  memorato  sancti  Deodati  ||  oppido.  Anno  post  natum 
Saluatore  supra  sesqui=|jmillesimum  septimo.  —  [D4]  r.  schließt  die 
Introductio  mit  den  Worten:  Finis  introductionis.  Es  beginnt 
neue  Paginierung:  A  r.:  QVATTVOR  AMERICI  ||  VESPVTII 
NAVI||GrATIONES  ||  Eins  qui  subsequente  terrarum  ||  descriptione 
vulgari  Gral=j|lico  in  latinum  ||  transtulit.  ||  Decastichon  ad  lectorem.  || 
Aspicies  ...  5  Distichen  .  .  .  non  facientis  opus.  —  Dann :  Item  di- 
stychon  ad  eunde  ||  Cum  noua  —  habes  ||  o  Tslog,  ||  A  v. :  Philesius 
Vogesigena  |(  Lectori  ||  B,ura  papirifero  ...  11  Distichen  .  .  .  Rhi- 
nocerontis  habens.  ||  0  Tskog,  —  Aij  r. :  lUustrissimo  renato  Ihera- 
salem  &  Sicili^  ||  regi/  duci  Lothoringi^  ac  Barn.  Ame||ricus  Vespu- 
cius  humilem  re=||uerentiam/  &  'debitam  re»||cömendationem.  j|  — 
[fi]  r. :  Americus  Vesputius  in  Lisbona.  —  Dasselbe  Buchdrucker- 
zeichen wie  in  der  1.  Auflage  (s.  0.  nr.  103).  Darunter:  Finitü 
iiij.  kr  Septem II bris  Anno  supra  ses||quimillesimü.  vij.  —  Zu  beiden 
Seiten  die  Disticha:  Vrbs  Deodate.  —  premet. 

40.  52  Blatt.  Pag.:  [A],  Aij,  Aiij,  Aüij,  [„ ,],  B,  Bij,  Büj,  Büij,  [„ ,], 
C,  Cij,  [3,4],  U,  Dij,  Diij,  [DJ,  A,  Aij,  Aiij,  Aüij,  Av,  [,-s],  b,  bij,  büj,  [J, 
c  =  b,  d,  dij,  diij,  diiij,  dv,  [n-g],  e,  f  =  b. 

Erfurt,  Kgl.  Bibl.  Matbem.  q.  184.  (Die  Reisen  des  Vespucci 
fehlen).  —  Stuttgart,  Kgl.  Landesbibl.  Greogr.  Introductio.  4^.  (es 
fehlen  Bl.  Diij,  [D4]).  —  München,  Universitätsbibl.  4».  863.  Math. 
(Inclusum  74).  Darin  die  Glareanuskarten ;  vgl.  III.  Ber.  nr.  8.  9, 
aber  viel  kleiner  als  die  Bonner.  260  x  190  mm  das  Blatt.  — 
Basel,  Universitätsbibl.  A.  N.  VII.  1  nr.  5.  4".  —  Freiburg  i.  Br., 
Universitätsbibl.  I  2047.  —  Augsburg,  Stadtbibl.  —  Leipzig,  Uni- 
versitätsbibl. Astronom.  438*  (ohne  die  Reisen  des  Vespucci).  — 
Berlin,  Kgl.  Bibl.  4°.  Ut  2790  (nur  die  Reisen  des  Vespucci).  — 
Dresden,  Kgl.  Bibl.  Geogr.  C.  546  (nur  die  Reisen  Vespuccis).  — 
Wolfenbüttel,  Herzogl.  Bibl.    4".    Cim.  V  86. 

Litt.:  S.  nr.  103.  —  Harrisse,  BAV  nr.  46.  —  Racc.  Col.  VI 
209  nr.  1341. 

106.  Waldseemüller,  Cosmographiae  introductio,  St.  Diö,  29. 
Vm.  1607. 

Stimmt  Bl.  [Aj,  Aij,  [As,  Ae]  mit  der  1.  Auflage  (nr.  103) 
überein,  sonst  gleicht  sie  völlig  der  3.  Auflage  (nr.  106);  [Ae] 
endet  daher :  Hinc  &  Vergilius  in  Geor,  während  B  r.  beginnt : 
Quinqj  tenent  coelum  zonae,  sodaß  fehlt:  gicis  ait. 

München,  Hof-  und  Staatsbibl.  4^.  Am.  A.  174  (das  einzige  in 
Europa  befindliche  Exemplar). 

Litt.:  S.  nr.  103.  •—  Harrisse,  B  A  V  nr.  47. 


Aelteres  kartographisches  Material  in  deutschen  Bibliotheken.  115 

107.  Waldseemüller,  Cosmographiae  introductio,  Straßburg, 
1509. 

1.  Bl.  r.  (in  gotischer  Schrift) :  Cosmographie  intro||ductio  :  com 
qnibusdam*)  Geome»||trig  ac  Astronomie  princi;|pijs  ad  eam  rem  ||  ne- 
cessarijs.  \\  Insuper  quattuor  Americi  Ue||spacij  nauigationes.  |j  Uniuer- 
salis  Cosmographi^  descriptio  ||  tarn  in  solido  q5  piano  /  eis  etiam  |j 
insertis  qu^  Ptholom^o  ||  ignota/  a  nuperis  ||  reperta  sunt.  ||  Cum  deus 
astra  regat/  et  terr^  climata  C^sar  ||  Nee  tellus/  nee  eis  sydera  maiu3 
habent.  —  1.  Bl.  v. :  Maximiliano  Cesari  ||  Augusto.  Philesius  || 
Uogesigena.  ||  Cum  tua  ....  (5  Distichen)  ....  arte  parauit  opus.  — 
Aij  r. :  Diuo  Maximiliano  ||  Cesari  Augusto  Martinus  ||  Ilacomüus 
foelicitate  ||  optat.  ||  SI  multas  adijsse  regiones  ||  et  populor(um)  vlti- 
mos  vidisse  /  nö  solü  voluptariü  55  ||  etiä  in  vita  gducibile  est  .... 
quis  oro  inuictissime  C^sar  ||  Maximiliane  regionü  ....  Quis  inquä 
illor(um)  omniü  ||  ritus  ac  mores  ex  libris  cognoscere  iucundü  ac  vtile 
esse  inficias  ||  ibit.  Sane  (vt  dicä  qd  mea  fert  opinio  ||  .  .  .  Schließt : 
.  .  .  me  satis  foecisse  intellexero.  Vale  C^sar  inclytissi.  jj  Ex  oppido 
diui  Deodati.  Anno  post  uatu^  Saluatorem  sapra  ||  sesquimillesimum 
septimo.  —  Dr.  (in  gotischer  Schrift) :  Quattuor  Americi  vespu'||tij 
Nauigationes.  ||  Philesius  Uogesigena  ||  Lectori.  ||  Rura  papirifero  . . . 
11  Distichen  .  .  .  non  nasum  Rhinocerontis  habens.  —  Dann:  Item  di- 
stichon  ad  eundem  ||  Cum  noua  ...  —  lector  habes.  —  D.  v. :  An- 
teloquium  H  Eins  qui  subseqnente  (!)  terra^Hrum  descriptione  de  vul- 
gari  Gallico  ||  in  Latinü  transtulit  Decasti'||chon  ad  lectorem.  || 
Aspicies  ...  6  Distichen  .  .  .  facientis  opus.  |i  Illustrissimo  Renato 
Hieru||salem  (et)  Sicili?  regi/  duci  Lothoringi«j  ac  ||  Barn.  Americus 
Uespatius  hu=||mile  reuerentiä  (et)  debitä  1|  recömendatione.  — 
[Fs]  r. :  Americus  Uesputius  in  Lisbona.  1|  Pressit  apad  Argen- 
tora»||cos  hoc  opus  Ingeniosus  vir  Joannes  ||  grüniger.  Anno  post 
natu  sal'||uatore  supra  sesquimil^Hlesimü  Nono.  ||  Joanne  Adelpho 
Malicho  Argentinen  castigatore. 

40.  32  Blatt.  Pag.:  [A],  Aii,  Aiü,  [AJ,  B,  Bü,  Biii,  [B*],  C,  Cü,  Ciü, 
Ciüi,  [C3,,],  D  =  B,  E  =  C.  F,  Fü,  Fiü,  Füü,  V,  [F.-g]. 

Berlin,  Kgl.  Bibl.  Po.  5050.  4P.  —  Darmstadt,  Großherzogl. 
Hofbibl.  Gr  67,  5.  —  Göttingen,  Universitätsbibl.  Geogr.  623\  — 
Cöln,  Stadtbibl.  Gß  Vin253V  —  Jena,  Universitätsbibl.  Math.  VI! 
q.  16  (5).  —  München,  UniversitätsbibL  4".  Math.  864,  —  Frei- 
burg i.  Br.,  Universitätsbibl.  J.  8146  (aber  nur  der  2.  Teil  mit  den 
R,eisen  des  Yesputius,  von  D  an),  —  München,  Hof-  und  Staats- 
bibl.  4P.  Math.  A.  152V  —  Augsburg,  Stadtbibl.  (ohne  die  Reisen 
des  Yesputius). 

1)  Das  i  sieht  einem  t  lehr  ähnlich. 


116  W.  Rüge, 

Litt. :  Harrisse,  B  A  V  nr.  60.  —  Racc.  Col.  VI  209  nr.  1342. 

—  C.  Schmidt,  Repertoire  bibliogr.  strasbourgeois  1893.  I  nr.  109. 

—  Proctor  n  nr.  9915. 

108.  (WaldseemüUer),   Cosmographiae  introductio,  o.  0.  u.  J. 
1.  Bl.  r.  (in  gotischer  Schrift):  Cosmographie  introdu=||ctio  cum 

quibusdä  geome||trie  ac  Astronomie  principijs  ad  eam  rem  necessarijs. 

—  Darunter  ein  Holzschnitt.  Unter  diesem :  Disthycon.  ||  Cum  deus 
astra  regat.  (et)  terre  climata  Cesar  ||  Nee  tellus,  nee  eis  sydera 
maius  habent.  —  1.  Bl.  v.  beginnt  gleich  der  Text,  der  sieh  als  eine 
Kürzung  der  WaldseemüUer'schen  Introductio  darstellt.  Er  schließt 
11.  Bl.  V.:   Finis  introductionis.     Die  Reisen  des  Vespucci  fehlen. 

4».     12  Blatt.     Pag. :  [Aj-J,  B,  [B^-^],  C,  [Cj-*],  [CJ  ist  leer. 

Würzburg,  Universitätsbibl.  It.  q.  236.  Dieser  Auszug  ist 
bisher  nicht  bekannt. 

109.  Anonymus,  Der  Weltkugel  Beschrybung,  Straßburg,  1509. 
1.  Bl.  r.  (in  gotischer  Schrift) :  Der  weltkugel||Beschrybüg  der 

weit  vnd  deß  gä||tze  Ertreichs  hie  angezögt  vn  vergleicht  einer 
rotunde  ||  kuglen/  die  dan  sunderlich  gemacht  hie  zu  gehörede/ 
dar||in  der  kauffmä  vnd  ein  ietlicher  sehen  vn  mercken  mag  jj 
wie  die  menschen  vnde  gegQ  vns  wone  vn  wie  die  Son||vmbgang/ 
herin  beschriben  mit  vil  seltzame  dinge.  —  Darunter  kreisförmiger 
Holzschnitt,  in  ganz  rohen  Umrissen  Europa,  Afrika,  einen  Teil 
von  Asien  und  den  äußersten  Vorsprung  von  Südamerika  (nüw 
weit)  darstellend.  —  1.  Bl.  v. :  Die  figur  der  hymlische  spheren  || 
da  bey  du  die  nachgonde  ding  ||  alle  verston  magst  Ist  alsus.  — 
Darunter  die  entsprechende  Figur.  —  Aij  r. :  Ein  kurtze  liepliche 
vorrede  in  die  be||schreibung  des  Ertreichs.  —  Von  Aiij  r.  folgt 
dann  in  12  Kapiteln  eine  astronomische  Geographie.  Schluß  auf 
dem  16.  Bl.  r. :  (xetruckt  zu  Straßburg.  Von  Johanne  ||  grüniger. 
im  Jar.  M.  D.  IX.  vff  ostern  ||  Johanne  Adelpho  castigatore.  — 
[Ce]  V.  leer. 

40.  16  Blatt.  Pag.:  [A],  Aii,  Aüi,  Aiüi,  [A5, ,],  B,  Bii,  [83,4],  C,  Cii, 
[Cs],  Ciiii,  [C5,,]. 

Stuttgart,  Kgl.  Landesbibl.  Geographie.  Vespucci.  4".  —  Frei- 
bnrg  i.  Br.,  Universitätsbibl.  J.  4672  m.  —  Nürnberg,  German.  Mus. 
Inc.  6661. 

Litt. :  Harrisse,  B  A  V  add.  nr.  82.  —  Racc.  CoL  VI  210  nr.  1345. 

—  Schmidt,  Repertoire  bibliogr.  strasbourgeois  1893.  I  nr.  103.  — 
Fischer  und  von  Wieser,  Cosmographiae  introductio  1907. 

110.  Anonymus,  Globus  mundi,  Straßburg,  1509.  (Lateinische 
Ausgabe  von  nr.  109.) 


Aelteres  kartographisches  Material  in  deutschen  Bibliotheken.  117 

1.  Bl.  r.  (in  gotischer  Schrift):  Globus  mundi  ||  Declaratio  sine 
descriptio  mnndi  ||  et  totius  orbis  terrarum.  globulo  rotundo  com- 
parati  ut  spera  soli||da.  Qua  cuiuis  etiä  mediocriter  docto  ad 
oc[ula  viderje  licet  an=||tipodes  esse,  quo(rum)  pedes  nostris  oppo- 
siti  sunt.  Et  qu[alit]er  in  vna-||quaq5  orbis  parte  homines  vitam 
agere  queunt  salutare.  sole  sin-!|gula  terr^  loca  illustrante.  qu^ 
tarnen  terra  in  vacuo  a[er]e  pendere  ||  videtur :  solo  dei  nutu  suste- 
tata.  aliisqs  permultis  de  quarta  orbis  !|  terrarn  parte  nuper  ab 
Americo  reperta.  —  Darunter  die  alte  Hemisphäre  (wie  in  nr.  109).  — 
1.  Bl.  V. :  Globus  mundi  |I  Figura  sphere  celestis.  qua  seque||tia 
cuncta  intelliguntur.  —  Aij  r. :  De  mundi  globo  ||  Breue  antelo- 
quium  in  de||scriptionem  orbis  terre.  —  14.  Bl.  r.:  üalete  feliciter  ex  || 
Argentina  vltima  Augusti.  Anno  post  natu  saluatore.  M.  D.  IX.  || 
Joannes  grüniger  impri||mebat.     Adelpho  ||  castigatore. 

40.  14  Blatt.  Pag.:  [A],  Aij,  Aüj,  [AJ,  B,  Bij,  [B,, ,],  C,  Cij.  [C,],  Ciiij, 
[Ca.  ,]. 

Berlin,  Kgl.  Bibl.     4».     Po  1659,  1. 

Publ. :  Faksimile  bei  U.  Höpli,  Maüand  1896.  —  F.  A.  S.  40, 
Fig.  22  (die  Hemisphäre). 

Litt.:  Harrisse,  BAVnr.  61.  —  (D'Avezac),  Martin  Hyla- 
comylus  (Extrait  des  Annales  des  voyages  1866),  114.  —  Racc.  Col. 
VI  210  nr.  1345.  —  Gallois,  Les  geographes  allemands  1890,  48.  — 
Schmidt,  Repertoire  bibliogr.  strasbourgeois  1893,  I  nr.  104.  — 
Proctor  II  nr.  99. 

111.    Ringmann,  instructio,  Straßburg,  1511. 

1.  Bl.  r.  (in  Antiqua):  INSTRVCTIO  MANVDVCTIONEM  || 
PRESTANS  IN  CARTAM  ITINEÜRARIAM  MARTIXI  HILA- 
COjMILI:  CVM  LVCVLEN||TIORI  IPSIVS  EV'iROPAE  ENAR=|| 
RATIONE  II  A  RINjlGMANNO  PHILESIO  COXSCRIPTA.  — 
A  ij  r. :  lUustrissimo  principi  Anthonio  Lothoringi^  ac  ||  Barri 
Duci.  IC.  Martinus  Hylacomilus  sese  ||  humiliter  commodat  .... 
Vale  princeps  illustrissime  Ex  oppido  diui  Deodati.  ||  Anno  dni. 
M.  D.  xi.  kl.  Martij.  —  B  r. :  Descriptio  Europae  ||  Philesius  Vo- 
gesigena  Martino  Hylacomilo  S.  P.  D.  —  Eiij  v. :  Argentorati  Ex 
Officina  Impressoriae  Joannis  Gruninger :  j|  3  ulio  Secundo  Pontifice 
Maximo  in  ecclesia  praesi=|idente,  Maximilianoqj  Caesare  Rhomano  || 
Augusto:  inclyto :  victorioso,  Et  ||  Ludouico.  xij.  poten»||tissimo 
Gallo||rum  rege  ||  Christiani  orbis  habe»||nas  vnanimiter  ac  f^li- 
cissime  tra||ctantibus.  Anno  salutis.  M.  D.  xi.  Men||se  Aprili.  — 
Die  Karte,  zu  der  der  Text  gehört,  ist  von  Fr.  v.  Wieser  1893 
In  München  publiziert  worden. 

40.     24  Blatt.     Pag.:  [A],  Aij,  Aüj    und  III,    [A,]  IUI,    B  und  V,  Bij  und 


118  W.  Rüge, 

VI,  Biij  und  VII,  [BJ  und  VIII,  C  und  IX,  Cij  und  IX  (!),  Ciij  und  X  (!), 
Ciüj  und  XV  (!),  [Cs-g],  XII,  XII,  XV,  XV  (!),  D  und  XV  (!),  Dij  und  XVI, 
Diij  und  XVII,  [DJ,  XVIII,  E  und  XIX,  Eij  und  XX,  Eiij  und  XXI,  [E,]  leer. 

Jena,  Universitätsbibl.  Greogr.  I.  q.  2.  —  München,  Univer- 
sitätsbibl.  4°.  Hist.  aux.  722.  —  München,  Hof-  und  Staatsbibl. 
It.  coli.  22«".  4»;  pract.  25,  11.  4°;  H.  sept.  59,  1.  4».  —  Nürn- 
berg, German.  Mus.  Bibl.  Scheuri  433  (370)  p.  1.  —  Berlin,  Kgl. 
Bibl.  4".  Ps  3000.  —  Wolfenbüttel,  Herzogl.  Bibl.  83,  früher 
Heimst.    4P. 

Litt. :  Panzer  VI  52.  213.  —  (D'Avezac),  Martin  Hylacomylus 
(Extrait  des  Annales  des  voyages  1866),  136  f.  —  Gallois,  Les 
geographes  allemands  1890,  57.  —  Proctor  II  9922  (wo  irrtümlich 
introductio  steht). 

113.    Ringmann,  instructio,  Straßburg,  1511. 

1.  ßl.  r.  (in  Antiqua):  INSTRVCTIO  MANVDVCTIONEM  || 
PRESTANS  IN  CARTAM  ITINE||RARIAM  MARTINI  HILA- 
COPILI:  CVMLVCVLEN«||TIORI  IPSIVS  EV.||ROPAE  ENAR»|| 
RATIONE  II A  RIN||GMANNO  PHILESIO  CONSCRIPTA.  —  Aij  r. : 
lUustrissimo  Principi  Anthonio  Lothoringiae  ac  ||  Barri  Duci:  Mar- 
tinus  Hylacomylus  sese  ||  humiliter  commendat  . .  .  VALE  princeps 
illustrissime  ||  Ex  oppido  Diui  Deodati.  —  B  r. :  Descriptio  Euro- 
pae  II  Philesius  Vogesigena  Martino  Hylacomylo  S.  P.  D.  —  Eiij  v. : 
Argentorati  Ex  Officina  Impressoria  Joannis  Gruninger:  ||  Julio 
Secundo  Pontifice  Maximo  in  ecclesia  presi'||dete  Maximilianoq^ 
Caesare  Rhomano  ||  Augusto :  inclyto :  victorioso.  Et  ||  Ludouico. 
XII.  poteu'lltissimo  GaL||lo=||rum  Rege.  ||  Christiani  orbis  habe||nas: 
vnanimiter  ac  felicissime  tra||ctantibus.  Anno  salutis.  M.  D.  XI. 
Men=||se  Aprili. 

4".  22  Blatt.  Pag.:  [A],  Aij  und  oben  II,  A  üj  und  III,  [AJ  IUI,  B  und  V 
B  ij  und  VI,  B  iij  und  VII,  [B^\  VIII,  C  und  IX,  C  ij  und  X.  C  iij  und  XI,  [C^-,] 
XII,  XIII,  XIIII,  D  und  XV,  Dij  und  XVI,  Diij  und  XVII,  [DJ  XVIII,  E  und 
XIX,  Eij  und  XX,  Eiij  und  XXI,  [EJ  leer. 

Dresden,  Kgl.  Bibl.  Lit.  Rom.  B.  3031/4.  —  München,  Hof- 
und  Staatsbibl.     A.  gr.  a.  277,  6. 

Litt. :  S.  vorige  nr.  und  Schmidt,  Repertoire  bibliogr.  stras- 
bourgeois  1893,  I  nr.  121. 

113.  Joannes  Schöner,  luculentissima  .  .  .  descriptio,  Nürn- 
berg, 1515. 

1.  Bl.  r.  (in  gotischer  Schrift):  Luculentissima  quaedä  ||  terrae 
totius  descriptio :  cü  multis  vtilissimis  Cos«  ||  (in  Antiqua)  mogra- 
phiae  iniciis.  Nouaq^  &  4  ante  fuit  verior  Europae  nostrae  for- 
ma-jltio.    Praeterea,  Fluuiorü:  montiü:  prouintiarü :  Vrbiü:  &  gen- 


Aelteres  kartographisches  Material  in  deutschen  Bibliotheken.  119 

tium  (J  plnri=||morü  vetustissima  nomina  recentioribus  admixta  vo- 
cabulis.  Malta  etiä  ||  quae  diligens  lector  noua  vsuiqj  fatura  in- 
ueniet.  ||  (in  gotischer  Schrift)  Ad  Lectoie  Joannis  Hiltner  Lichten- 
felsen.  ||  (in  Antiqaa)  EPIGRAMMA.  ||  —  Folgen  vier  Distichen.  || 
(in  gotischer  Schrift) :  Cum  Priuilegio  Inuictis.  Romanorü  Impera.  || 
Maximiliani  per  Octo  annos :  ne  quis  imprimat :  ||  aut  imprimere 
procuret  Codices  hos :  cum  Globis  ||  Cosmographicis :  sub  mulcta 
quinquaginta  flore=||norum  Renen,  et  amissione  omniü  exemplarium. 

—  1.  Bl.  V.  Wappen.  —  a  ij  r. :  Reuerendissimo  in  chril|sto  Patri 
ac  domino.  Dno  Georgio  ecclesiae  ||  (in  Antiqua)  Babenbergen. 
Episcopo  dignissimo:  domino  ac  patrono  suo  grati^Hosissimo:  Joannes 
Schoner  Charolipolitanus :  praesbyter:  Mathema||ticus  humüime  (!) 
sese  cömendat  ....  Anno  deificae  natiuitatis  Millesimo-Hquingen- 
tesimodecimoquinto  Nono  Calendas  Aprilis.  —  [Ls]  r. :  CT  Impressum 
Noribergae  i  excusoria  officina  ||  Joannis  Stuchssen.  Anno  domini. 
1515. 

4°.  80  Blatt.  Pag.:  [a],  aii,  aiii,  aüü,  av,  [a,— g],  b,  bü,  biü,  büii,  bv. 
Ob],  [A].  Aü,  Aiü,  Aiüi,  Av,  [A.-»],  B,  Bii,  Biü,  Büii,  Bv,  [B«-»],  C,  Cii, 
Ciü,  Ciiii,  ebenso  D,  E,  F;  G,  Gii,  Giii,  ^G*; ;  H,  I  =  B;  K.  Kii,  Kiü,  Kiiü, 
[Kj—g],  L,  Lii,  Lüi,  Liiii,  Lv,  [L,].  Von  Aii  =  Fo.  1  an  sind  die  Blätter 
auch  noch  gezählt  [L,]  ^=  Fo.  65. 

Hannover,  Kestner-Museum  II  293.  —  Göttingen,  Universitäts- 
bibl.  4°.   Geogr.  363.  —  Nürnberg,  Stadtbibl.  math.  4».  861  und  860. 

—  Leipzig,  Universitätsbibl.  Lndr.  u.  Vk.  107  f.  —  München,  Hof-  und 
Staatsbibl.  4".  Geogr.  univ.  102*.  —  München,  Universitätsbibl.  4*^. 
Hist.  aux.  656.  —  Stuttgart,  Kgl.  Landesbibl.  Geogr.  —  Wolfen- 
büttel, Herzogl.  Bibl.  72.    Quodl.  4°.—  Bamberg,  Kgl.  Bibl.  M.V.l. 

—  Augsburg,  Stadtbibl.  —    Jena,  Universitätsbibl.    Geogr.  I  q  3. 

Litt.:  Harrisse,  BAV  nr.  80.  —  Wieser,  Magalhäes  -  Straße 
1881,  19  f.  —  Gallois,  Les  geographes  allemands  1890,  78  f.  102  f. 

—  Stevens  and  Coote,  Johannes  Schöner  1888,  149  nr.  2  (nicht  ganz 
genau).  —  Schottenloher  im  Zeutralbl.  f.  Bibliothekswesen  XXIV 
1907,  145. 

114.    J<»aniies  Schöner,  luculentissima  . . .  descriptio,  o.  0.  u.  J. 

1.  Bl.  r.  (in  gotischer  Schrift):  Luculentissima  quedam  ter||re 
totius  descriptio :  cü  mul|jtis  vtilissimis  Cosmographie  iniciis. 
Nouaq5  ||  et  q5  ante  fuit  verlor  Europe  nostre  forma||tio.  Preterea. 
Fluuiorum.  montium  pro||uintiarü  vrbium  et  gentium  q^  plu  i'rimorü 
vetussima  (!)  nomina  recetio||ribus  admixta  vocabulis.  1|  Multa  etiam 
qne  dili||gens  lector  no||ua  vsuiqj  fujjtura  inue||niet  ||  Ad  lectorem 
Jannes  (I)  Hilt||ner  Lichtenfelsen.  Epigramma.  —  Folgen  vier  Di- 
stichen.   Das  Privileg  fehlt.  —  l.Bl.  v.:  Reuerendissimo  in  christo  |i 


120  W.  Rüge, 

patri  ac  domino  Domino  Greorgio  ecclesie  Babeber||ge5.  episcopo 
dignissimo :  domino  ac  patrono  suo  gra||ciosissimo :  Joannes  Schoner 
Charolipolitanus  ps||byter:  mathematic9  humilime  sese  commendat. 
....  [A  ii]  r. :  ...  Anno  deifice  natiuitatis  Millesimoquingentesimo  || 
decimoqninto  (!)  Nono  Caledas  Aprilis.  —  Nicht  nur  der  übrige 
Satz  des  Buches  weicht  von  dem  der  vorherigen  nr.  völlig  ab, 
sondern  es  fehlen  auch  z.  B.  die  Register,  die  in  nr.  113  auf 
Blatt  aiiii — [be]  stehen.  Auch  das  Register  am  Ende  (nr.  113, 
Blatt  Liiii  v. — [Le]  r.)  und  die  Angabe  von  Druckort  und  Druck- 
jahr fehlen.  Das  Buch  schließt  mit  den  9  Distichen  des  Joannes 
Hiltner  auf  einen  Himmelsglobus  Schöners. 

4".  74  Blatt.  Pag.:  [A],  Aii,  Aiii,  [A^-g],  b,  bij,  [bg,  J,  ci,  [cj],  ciii, 
[c,],  B,  [Bj],  Biii,  [BJ,  A,  Aij,  [A3,,],  ebenso  B,  C;  D,  Dij,  Diij,  [D*-,] 
E— G  =  A,  nur  statt  Gij  steht  da  Fij,  Hi,  Hij,  [H3, ,],  Ii,  lii,  [I3,  J  K,  L  =  A; 

M,  [M,_,],  N,  Nij,  Niij,  Niiij,  Nv,  [Ne]. 

Lübeck,  Stadtbibl.  Greogr.  4**.  533.  Das  einzige  bisher  be- 
kannte Exemplar  dieser  Ausgabe;  das  von  J.  Fischer,  Die  Ent- 
deckungen der  Normannen  in  Amerika  1902,  60  f.,  Anm.  3  erwähnte 
Exemplar  der  Münchener  Hof-  und  Staatsbibl.,  das  wahrscheinlich 
mit  dem  Lübecker  übereinstimmt,  läßt  sich  nicht  auffinden. 

115.  Frauciscus  Moiiachus,  De  orbis  situ  ac  descriptione, 
Antwerpen,  1524  (?). 

1.  ßl.  r.  (in  Antiqua):  DE  ORBIS  ||  SITV  AC  DESCRIPTIONE, 
AD  RE  II  (in  Cursivschrift)uerendiss.  D.  archiepiscopum  Panormi- 
tanum,  ||  Erancisci,  Monachi  ordinis  Fräciscani,  ||  epistola  sane  qua 
luculenta.  In  qua  ||  Ptolemaei,  caeterorumqj  supe||riorü  geogra- 
phorum  haljjlucinatio  refellitur,  [j  aliag;  praeterea  ||  de  recens  ||  inuen|| 
tis  II  terris,  mari,  insulis.  Deditione  papae  Joannis  De  situ  ||  Para- 
disi,  &  dimensione  miliarium  ad  pro||portione  graduum  coeli,  prae- 
clara  ||  &  memoratu  digna  recen||sentur.  —  1.  Bl.  v.  und  2.  Bl.  r. : 
Die  östliche  und  die  westliche  Halbkugel  mit  den  Überschriften 
(in  Antiqua) :  Hoc  orbis  Hemisphaerium  cedit  regi  Lusitaniae  und 
Hoc  orbis  Hemisphaerium  cedit  regi  Hispaniae.  —  2.  v. :  lOANNES 
CARONDELETVS,  AR.||CHIEPISCOPVS  PANORMITA.||NVS 
FRANCISCO  MONA'IICHO  SVO  S.  ||  —  Ab  r. :  REVERENDISS. 
PARITER,  AC  IL'lllustrissimo  domino  Archiepiscopo  Panormi||tano, 
Joanni  Carondeleto,  Fran'||ciscus  Monachus,  Salute.  —  [B?]  v. : 
EXCVDEBAT  MARTINVS  CAE.||sar,  expensis  honesti  viri  Ro- 
landi  BoUaert,  com'||morantis  Antuerpiae  iuxta  portam  Ca«||merQ, 
sub  intersignio  maio'||ris  falconis  albi.  —  [Bs]  v.  Buchdrucker- 
zeichen von  Martin  Kaiser,  auf  einem  Band:  SOLA  FIDES  SVF- 


Aelteres  kartographiBches  Material  in  deutschen  Bibliotheken.  121 

FICIT.  —  Darunter  zwei  Löwen  zu  beiden  Seiten  eines  "Wappens  M  K. 
Unter  dem  Ganzen  steht  1524  (die  letzte  Zahl  ist  nicht  klar). 

8«.     16  Blatt.     Pag.:  [A„  ,],  A3.  A„  [\^-,l  B,  B,,  [B3],  B^,  [ß,-s]- 

Stuttgart,  Kgl.  Landesbibl.    Geogr.    12°. 

Publ, :  Gallois,  de  Orontio  Finaeo  87—105.  —  Die  beiden  Halb- 
kügeln:  Gallois  a.  a.  0.  43.  —  Periplus  fig.  41  (nach  einer  andern 
Ausgabe).  —  Harrisse,  Discovery  of  North- America  548.  —  Michow 
in  der  Festschrift  der  Hamburgischen  Amerika-Feier  1892,  18. 

Litt. :  Gallois  a.  a.  0.  41  und  Les  geographes  allemands  202.  — 
fiarrisse,  BAV  nr.  131  und  a.  a.  0.  282  f.  548  f.  —  S.  Rüge, 
Peterm.  Mitt.  Erg. -Heft  106,  47.  —  Kretschmer,  Entdeckung 
Amerikas  415.  —  Periplus  98.  100,  Anm.  1.  —  Denuce,  Eerste 
vlaamsch  taal-  en  geschiedkundig  congres. 

116.  FrÄnciscus  Monachus,  Dasselbe,  de  orbis  situ  ac  de- 
scriptione,  Antwerpen,  1565. 

Titel  (in  Antiqua):  DE  ORBIS  ||  SITV,  AC  DESCRI-|1PTI0XE, 
AD  REVERENDISS.  ||  D.  Archiepiscopum  Panormitanum ,  Fran-|| 
cisci,  Monachi  ordinis  Franciscani,  epistola  |)  sane  quam  luculenta 
....  ANTVERPIAE,  ||  Excudebat  Joannes  Withagius.  ||  Anno  1565. 

8«.  19  Blatt.  Pag. :  [FJ.  F,.  F3,  F„  ¥,.  [F.-«],  G,  G„  G3,  G„  G„  [G«_,], 
H,  H„  [H3]. 

Berlin,  KgL  Bibl.  8».  18,  2.  —  München,  Hof-  und  Staatsbibl. 
8°.    It.  sing.  448,  1.  —  Celle,    Kirchenministerialbibl.    Ta  103:6. 

117.  Laurentins  Friess,  TJslegung  der  Mercarthen,  Straßburg, 
1525. 

l.Bl.  r.  (in  gotischer  Schrift):  USlegung  der  Mer||carthen  oder 
Cartha  Marina  ||  Darin  man  sehen  mag/  wa  einer  in  der  weit 
sey  /  vnd  wa  ein  ietlich  ||  Land  /  Wasser  vnd  Stat  gelege  ist.  Das 
als  in  de  biichlin  zefinde.  —  1 .  Bl.  v. :  Dem  Ersamen  hern  Jo- 
hann Grieninger  ||  Barger  vnd  Buchtrucker  zu  Straßburg  |[  embüwt 
ich  Laurentins  Frieß/  natürlicher  ||  Philosophus  heyl  |I  .  .  .  .  Geben 
zu  Straßburg  vfF  die  stund  do  die  Sonne  was  im  •  xxj  •  grad  vnd  || 
xl  •  minuten  der  fisch,  des  Jars  do  man  zalt.  1525.  —  [Ee]  xxxiii  r. : 
Getruckt  zu  Straßburg  von  ||  Johannes  Grieninger/  vnd  ||  vollendet 
vff  vnser  Lie||ben  Frawen   abent  der  1|  geburt.    Jm  Jar  ||  1'5*2*5. 

Fol.  33  Blatt.  Pag.:  [A],  Aij  — [E,];  daneben  sind  die  Blätter  durch  la- 
teinische Zahlen  bezeichnet,  die  aber  vielfach  falsch  sind.  Diese  „Uslegung"  ist 
der  Text  zu  IV.  Ber.  nr.  36. 

Königsberg,  Stadtbibl.  N  104^.  —  München,  Universitätsbibl. 
2°  libri  rari  5.  —  Maihingen,  Fürstl.  Öttingen  -  Wallersteinsche 
Fideikommißbibl.  IV  214  fol.  —  Göttingen,  Universitätsbibl. 
Geogr.  624  fol. 


122  W.  Rüge, 

Litt. :  Harrisse,  B  A  V  nr.  133.  —  Gallois,  Les  geographes 
allemands  1890,  65.  —  Fischer  und  v.  Wieser,  Die  älteste  Karte  mit 
dem  Namen  Amerika  1903,  22.  —  Fehlt  bei  Schmidt,  Repertoire 
bibliogr.  strasbourgeois  1893. 

118.  Laurentius  Frisins^  Uslegung  der  mercarthen,  Straß- 
burg, 1527. 

1.  Bl.  r.  (in  gotischer  Schrift) :  USlegung  der  mercar||then  oder 
Cartha  Marina  Darin  ||  man  sehen  mag  /  wo  einer  in  der  weUt  sey  / 
vnd  wo  II  ein  yetlich  Landt/  Wasser  vnd  Stadt  ||  gelegen  ist.  Das 
alles  in  dem  ||  büchlin  zu  finden.  —  Darunter  der  Doppeladler.  — 
1.  Bl.  V.:  Dem  Ersamen  Johan  Grrieninger  Bürger  vnd  ||  ßuch- 
trucker  zu  Straßburg/  ||  embüwt  ich  Lauretius  ||  Frieß/  natürli'||cher 
Philoso'llphus  heyl  ....  Geben  zu  Straßburg  vff  ||  die  stund  da  die 
Sonne  was  im  •  xxi .  grad  vnd  •  xl  •  minuten  der  fisch.  ||  des  Jars 
da  man  zalt  M.  D.  XXV.  —  [Dsj  XVI  r. :  Getruckt  zu  Straßburg 
von  II  Johannes  Grieninger/  vnd  ||  vollendet  vif  sant  Erasi||mus  tag. 
Im  Jar.  II  1.5.2.7. 

Fol.  26  Blatt.  Pag.:  [A],  Aij,  Aiij  und  III  [A^-g],  B,  Bij,  [B^-g],  C,  Cij 
und  XV,  Ciij  und  XV,  Ciiij  und  XVI,  [C5]  XVIII,  [Cg],  D  und  XIX,  D  ij  und 
XX,  Diij  und  XXI,  Diiij  und  XXII,  Dv  und  XXIII,  [D«]  XXIIII,  [D,]  XXV, 
[Ds]  XVI  [!]. 

Dresden,  Kgl.  Bibl.  Geogr.  A  45.  —  München,  Universitäts- 
bibl.  2«.  Libri  rari  6.  (2<>  Eist.  aux.  633").  —  München,  Hof-  und 
Staatsbibl.  fol.  Geogr.  univ.  28.  (Die  Paginierung  von  A  ist  ab- 
weichend). —  Basel,  Universitätsbibl.  ET  I  4*  fol.  —  Hamburg, 
Commerzbibl.  1237. 

Litt.:  S.  vorige  nr.  —  .Harrisse,  BAV  add.  nr.  83.  — 
Schmidt,  Repertoire  bibliogr.  strasbourgeois  1893,  I  nr.  233. 

119.  Laurentius  Frless,  Underweisung  und  Ußlegunge  der 
Cartha  Marina,  Straßburg,  1530. 

1.  Bl.  r.  (in  gotischer  Schrift) :  UNderweisung  ||  vnd  vßlegunge  || 
der  Cartha  Marina  oder  die  mer||carte/  Darin  man  sehen  mag/ 
wa  einer  in  d'  weit  sy/  vnd  wa  ein  ytlich  ||  land/  wasser  vnd  stet 
lige/  als  in  de  büchlin  angezögt  vn  in  d'  charte  zu  sehen.  — 
1.  Bl.  V.:  Dem  ersamen  Johaü  Grienynger  Bürger  vnnd  Buch- 
trucker II  zu  Straßburg  /  enbüwt  ich  Laurentius  Frieß  ||  natürlicher 
Philosophus  heyl  ....  Geben  zu  Staßburg  (!)  vff  die  stund  da  die 
Sonne  was  im  •  xxi .  gad  (!)  vnd  ||  xl.  minuten  der  fisch,  des  Jars 
da  man  zalt  M.  D.  xxv.  —  [De]  r. :  Gedruckt  zu  Straßburg  von  |t 
Johannes  Grieninger  vnd  ||  vollendt  vfi"  Sant  Jörge  ||  abent.  Jm 
jar  M.  D.  xxx. 


Aelteres  kartographisches  Material  in  deutschen  Bibliotheken.  123 

Fol.  22  Blatt.  Pag.:  [A,,,],  Aiij,  Aiüj,  [A5,,],  B,  Bij,  Biij,  [B^],  C,  C  ij, 
Cüj,  Ciiij,  [C5,,],  D,  Dij,  Diij,  Diüj,  [D5,e]. 

"Wolfenbüttel,  Herzogl.  Bibl.  9.  5.  Geographicornm.  —  Mün- 
chen, Hof-  und  Staatsbibl.    fol.    Geogr.  nniv.  28*. 

Litt. :  S.  nr.  118.  —  Künstmann,  Entdeckung  Amerikas  1859, 
138 f.  -  flarrisse,  BAV  nr.  158;  add.  nr.  90.  —  Schmidt,  Re- 
pertoire bibliogr.  strasbourgeois  1893,  I  nr.  246. 

120.  Joannes  Schöner,  oposculum  geographicum,  Nürnberg, 
1533. 

1.  Bl.  r.  (in  Antiqua):  lOANNlS  SCHO'||NERI  CAROLO- 
STADII  OPVSCVHILVM  GEOGRAPHICVM  EX  DIVERSORVM 
Llljbris  ac  cartis  summa  cura  &  diligentia  colle'Hctum,  accommo- 
datum  ad  recenter  ela^Hboratum  ab  eodem  globum  de=||scriptionis 
terrenae.  ||  lOACHim  CAJIERARII.  —  Folgen  5  Distichen.  — 
1.  Bl.  V.:  Globus.  -  A2  r.:  ILLVSTRISS.  PRINCIPI  AC  DO- 
MINO, DOMI||mino  (!)  Joanni  Fridericho  Duci  Saxoniae,  Mar- 
chioni  ||  Misniae.  Electori  Imperiali  etc.  Domino  S.  bejlnigniss. 
Joannes  SchÖnerus  Carolo=|lstadius  S.  D.  —  Schließt  A2  v. :  Ex 
urbe  Norica  Id.  Nouembris.  ||  Anno  XXXIII.  —  Ohne  Kolophon. 

40.  22  Blatt.  Pag. :  [AI,  A„  A3,  [A4],  B,  B„  B3,  [BJ,  ebenso  C,  D ;  E, 
E„  E„  E„  [Es,  e],  [E,]  leer. 

Dresden,  Kgl.  Bibl.  Geogr.  A  600,  52,  4";  Geogr.  A.  529 
(Blatt  [E«]  fehlt).  —  Berlin,  Kgl.  Bibl.  Po.  5240.  —  Frankfurt, 
Stadtbibl.  Astronom.  290.  —  Bonn,  Universitätsbibl.  M  246  =  0.381, 
4°.  —  Jena,  Universitätsbibl.  Geogr.  I  q.  4°.  —  München,  TJniver- 
sitätsbibl.  S-B  Math,  ^fs  40  (ßi  ^ßg]  f^hit);  40.  Eist.  aux.  618.  — 
München,  Hof-  und  Staatsbibl.  4^.  Geogr.  univ.  103.  —  Breslau, 
Universitätsbibl.  Hist.  un.  II.  Qu.  731.  —  "Wolfenbüttel,  Herzogl. 
Bibl.    171,  56  Quodlib.    4».  —  Nürnberg,  Stadtbibl.  Geogr.  860«. 

Litt.:  Harrisse,  BAV  nr.  178.  —  Stevens  and  Coote,  Johannes 
Schöner  1888,  158,  nr.  19  (nicht  ganz  genau). 

121.  Sebastianus  Cabotus,  declaratio  chartae  novae  navi- 
gatoriae  domini  almirantis,  1544. 

1.  Bl.  r.  (in  Antiqua):  DECLARATIO  ||  CHART  JE  NOV^ 
NAYIHIGATORIiE  DOMINI  |i  ALMIRANTIS.  ||  —  Aij  r.:  genau 
dasselbe.  Dann :  No.  1.  ||  ARCHITALASSVS  Dominus  ||  Christo- 
phorus  Colon:  natione  Ligur,  ||  .  .  .  Nun  kommen  16  Nummern,  in 
denen  die  einzelnen  Punkte  der  Karte  beschrieben  werden.  —  No.  17.  || 
SEBASTIANVS  Cabotus  dux  &  archigaH|bernius  S.  c.  c.  m.  dni. 
Caroli  Imperatoris  huius  nomi»||nis  quinti,  &  regis  Hispaniae  do- 
mini  nostri   summam  ||  mihi   manum   imposuit,   &  ad  forma  hanc 


124  W.  Rüge, 

protrahens,  ||  plana  figura  me  deliniauit,  anno  ab  orbe  redempto, 
na»||tiuitate  domini  nostri  Jesu  Christi  M.  D.  XLIIII.  ...  —  Dij  r, 
beginnt  ein  spanischer  Text:  LOS  Astrologos  acerca  de  los  anti- 
guos  diuidian  ||  latierra  segn  su  latitud  en  siete  partes  ...  —  D  ij  v. 
beginnt  der  spanische  Text:  DECLARATIO  1|  TABVL^  NAVI- 
GATORTiE  II  DEL  ALMIRANTE,    aber  er  enthält  22  Nummern. 

4«.  24  Blatt.  Pag.:  [A],  Aij,  Aiij,  [A,],  B,  Bij,  Biij,  [B,]-[F,]  regel- 
mäßig. 

München,  Universitätsbibl.  4^  Libri  rari,  f  (4°  Hist.  aux. 
1270.  S.-N.  74).     (Das  einzige  in  Europa  bekannte  Exemplar.) 

Litt. :  Winship,  Cabot  bibliography  1900,  19  nr.  55.  —  Über 
die  Karte   selbst  vgl.  S.  Rnge,   Peterm.  Mitt.   Erg. -Heft  106,  66. 


Aelteres  kartographisches  Material  in  deutschen  Bibliotheken. 


125 


Namensverzeichnis. 

I.  Karten. 

(Enthält  auch  die  in  den  früheren  Berichten  aufgeführten  Karten;  I  =  I.  u.  II. 
Bericht ,  III  =  III.  Bericht  u.  s.  w. ;  weggelassen  ist  die  Rubrik  „Anonymus". 
Die  in  Klammern  stehenden  Zahlen  bezeichnen  die  Karten  und  Drucke,  auf 
denen  der  Name  nicht  an  erster  Stelle  steht  oder  für  die  er  nur  vermutungsweise 

angenommen  ist.) 


Van  der  Aa  V  76. 

A.  A.  IV  89,  106. 

G.  A.  IV  85,  83.  89,  95.  91,  U. 

Adam  (IV  63). 

Agnese  I  7.  (8).  V  3—15. 

Amman  IV  62. 

Apianus,  Georgius  (IV  39). 

— ,  Petrus  IV  40.  86, 1. 

— ,  Philippus  IV  86,  26—48. 

Argaria  IV  85,  86. 

....  atinia  III  7. 

Aventinus  IV  34.  39.  90,46. 

Avinea  IV  87.  76. 

D.  B.  IV  70.  87, 72. 

F.  B.  IV  88,  6. 

N.  B.  IV  90,  2. 

Beatricius  IV  85,  81,  89.  89, 92. 

Becharius  IV  4. 

Behaim  IV  92. 

Beke  IV  44. 

Bell'  Armato   I  67,  19.    IV   51.   87,  22. 

90,84.  91,11.  V  86,18. 
Bertel(l)i,  Donato  (IV  77.  86, 66).  90,  60. 

91,21  (V  44).  V  58. 
Bertel(l)i,  Ferando  I  67,  4,  5,  9,  15,  17, 

22,  36,  38,  48,  51,  53—56,  77,  79,  81. 
(I  54.  59.  67,  1,  3,  19,  24,  41,  61, 
73—75,  82).  ni  24.  25.  (III  21.  26). 
IV  59.  61.  64.  82.  85,  38,  39,  73.  86, 
69,  72,  76,  84,  85.    87,  4,  12,  17,  42. 

88,  2,  7,  10,  19.  89,  41,  48.  90,  111. 
91,  2,  16,  32,  34,  36.  Anhang.  (IV  86, 
69.  90,  115a).    V  59,  60.  Anhang. 

— ,  Luca  I  67,  68.    IV  86,  116.    87,  64. 

89,  103.    (IV  65). 
Bökel  I  25  (26.  27). 
Boleavus  IV  87,  24. 
Bonhomme  IV  90,  80,  99. 
Bonifacio  IV  91,  43. 

Bossius   I   67,  12,  (16.    III    29,  14—18, 

23,  40). 
Bramb.  IV  86,  75. 
Breton  (V  46). 
Breuille  IV  87,  75. 


Bruegel  IV  87,  67. 
Bulionius  (de  Huillon)  I  42. 
Bossemacher  (IV  74). 

Caesar  (IV  44). 

Camotius  (Camocius)  I  67, 62.  III  29, 26. 
(29,  4,  48).  IV  85,  (59),  62.  87,  (13), 
20,  25,  (27  ,  28,  (35,  36),  41.    91,  28. 

V  51.  53.  (55).  62.  (66).  70.  85. 
Cartarus  (Karterus)  FV  60.  (61). 
Castaldi  s.  Gastaldi. 

Cerrus  IV  79.  91,  35. 

Cimerlinus  (V  65). 

Clusius  IV  86,  13, 14. 

Cock,  Hieronymus,  I  39.  52.  67,  67,  (40. 
42).  IV  86,  82.  87,  52,  70,  79.  90,  32. 
(V  76). 

Cock,  Simon  (V  40). 

Contareni  V  56. 

Copo  111  26.    IV  91,  9. 

Cornelius  Anthonii  I  37.  (67,  20).  V  An- 
bang. 

Crato  (IV  86,  104). 

Creutzig  (V  50). 

Nie.  Cusanus  I  32.  IV  Anhang. 

J.  (a)  Daventria  1 43.  (56.  57).   IV  89, 25. 

27.    V  41.  45. 
Desliens  III  3. 
J.  u.  L.  a  Deutecum  (Duetecum)  I.  (50). 

58.  66.    IV  86,  11,  100,  121.    90,20, 

34.    V  73.  (76). 
Doetszoon  V  22. 
Dreuer  I  28. 
Duchettus  IV  50.  91,  12. 

Eriinger  IV  37. 

£(t)zlaub   (I  38.    IV  24.  25.  32.  38.  76. 

V  30). 

ß.  F.  I  67,  61.    V  86,  26. 
Fernandez  III  I.  2. 

Finaeus  HI  29,  10.  IV  43.  86,  16  b.  V 
31.  (32).  33.  54.  65. 


126 


W.  Rüge, 


Florianus  III  29,  1,  2.    IV  85,  1.  89,  la, 

Ib.    90,  4. 
Forlani  Forlano  (Furlani)  I  53.  (54).    67, 

1,  3,  11,  18,  (19,  23,  29),  33-35,  37, 

39,  41,  59,  (60),  69, 78.  III  21—23.  (27. 
29,  4).    29,  45,  (48),   49.    IV  65.  85, 

4,  17,  18,  31,  36,  63,  69—70,  2.  86,  2, 
15,  68,  71,  109,  122.  87,  6,  9,  11,  13, 
26,  29,  31,  (36),  37—39,  66,  88.  88, 
8,  9,  12,  13.  89,  19,  36,  75,  79,  1,  2, 
88.  90,  18,  79,  128,  131.  91,  8,  An- 
hang.   V  55.  (63).  66.  (71). 

Frachus  (V  33). 
Freducci  I  3.  4. 
Frisius  IV  36. 
Froschower  IV  72  b. 

Gastaldi  (Gastaldo,  Castaldi)  I  40.  51. 
54.  59.  63.  67,  23,  24,  27,  29,  42, 
60,  82.  III  19.  27.  29,  4,  21,  24,  25, 
33,  40,  42—44.    IV  73.  77.  80.  81.  85, 

5,  28,  29,  32—34,  45—47,  51a,  55,  66, 
67.  86,  21,  67,  69,  70,  92,  92a,  94—97, 
110—114.  87,  1,  14,  15,  (16),  19,  27, 
32—35.  88,  1,  14.  89,  4,  31—33,  (37 
—39),  43,  45,  54,  56,  71,  72.     90,  6, 

40,  56,  57,  71,  73,  76,  121,  122,  125, 
126.  91,  8,  30,  31,  38—42,  44—46. 
Anhang.  V  34.  44.  63.  64.  71.  86,  2, 
13,  16.  Anhang. 

Della  Gatta  HI  29,  47.  IV  85,  65.  89,  70. 

90, 123. 
Geminus  V  38. 
Gemma  Frisius  I  70. 
Gerritsz  V  23—25. 
Giolito  (III  29,  21,  25). 
Glareanus  III  8.  9.    IV  23. 
Glockendon  (Glogkendon)  (IV  38).   V  30. 
Gormontius   (Gourmont)    (I  35.     IV  43. 

V  31). 
Grienynger  (Griginger)  IV  (36).  90,59. 

Hanns  IV  31. 

Hartmann  IV  96. 

Heiden  III  33. 

Helvigius  V  49.  50. 

Hierssfogel  V  61. 

Hofmeister  (IV  72). 

Hogenberg  (I  67,  25).   IV  86,  23,  59,  62. 

90,  42.     V  (72).  77. 
Hörnern  III  5. 
Hood  IV  21. 
Hübscbmann  (IV  90,64). 

Isengrinius  (IV  57). 

Joachimius  IV  78. 

G.  de  Jode  I  47.  (48.  50.  56—58.  61.  63). 

IV  86,  (6,  7,  19,  64—66),  64,  91.    90, 

43,  44. 


Jolivetus  IV  86,  17.    V  46.  98. 
Jovius  IV  90,  91. 

A.  V.  K.  s.  Cartarus. 
Kaerius  IV  86,  63. 
Krön  (V  50). 

Lafreri  I  55.  67,  43,  47,  64.  IE  29,  35, 
(40).  IV  (50).  85,  6,  (33),  37.  52,  80, 
(86),  87,  88,  90,  92.  86,  78,  83.  89, 
5,  47,  60,  87,  90,  96—101.  90,  91, 
105,  107.     91,   19,  20,  37. 

Laicksteen  V  76. 

Lazius  I  60.  (61).    IV  86,  56  a,  86—89. 

90,  61. 

Licinius  I  (51).  67,  28,  (42).  IH  29,  (25), 
30,  31,  (42,44),  67.  IV  85,(29,  33), 
50,51,(55).  (86,94,  111).  87,  (32), 
49.     89,  (57),  58.     90,    71,    104  a,b. 

91,  17,  18.     V  86,  22. 
Liefrincx  (V  73). 

Ligorius  I  45.  67,  26,  44,  49,  57.  III  29, 
11.  IV  85,  13,  20,  30,  44,  54.  86, 
16  a.  87,50.  89,13,18,53.  90,25, 
63.     91,  23.     V  74. 

G.  L.  A.  =  Lily  (IV  90,  12). 

Lorichs  I  24. 

Lucbinus  IV  52.   89,  42,  49.     90,  14,  82, 

86.  91,6,15.     V  67.   86, 7.  Anhang. 
Lützenkircben  (IV  84). 
Lycostbenes  (IV  57). 

B.  M.  IV  90,  124. 
Magdeburg  HI  13.  20. 
Maiolo,  Jacobus  IV  14. 
— ,  Vesconte  IV  11. 
Martines  V  18. 

Mascbop  IV  90,  45.     V  72. 
Mellinger  I  67,  32.    IV  Anhang. 
Mercator,  A.  III  14. 
— .  G.  I  (70).   71.    IV  86,  3—5,  8-10. 

Anbang.    V  36.  57. 
Meyerpeck  I  67,  6.    IV  (78).  86,  60. 
Michaelis  I  23. 
Millo  I  14.     V  17. 
Mogiol  IV  G3. 
Mompere  IV  87,  90. 
de  Mongenet  IV  97. 
Münster  (I  49).    IV  3.  85.  (56).    (V  48). 
Murer  IV  72. 
Mu^inus  I  43. 

Julius  de  Musis  (IV  85,  2.     89,  2). 
G.  a  Myrica  (I  70). 

Nelli  I  67,  66,  73,  (74).    IV  86,  81,  93. 

87,  56.     V  Anbang. 
A.  Nicolai  (I  37.     V  41). 

Nicolaus  Nicolai  (Nicolo  del  dolfinatto) 
I  34.  III  29,  48.  IV  87,  8.  89,  74. 
90,  7.     V  86,  3. 

D«  NobilibuB  V  47. 


Aelteres  kartographischeB  Material  in  deutschen  Bibliotheken. 


127 


Olaus  Magnus  I  (35).     IV  45. 

Olgiatus  (Oleatus)  I  67,  13, 14.     (IV  86, 

69.     91,  40,  42).     V  Anhang. 
Oliua  I  15. 

Oporinus  (IV  86,  56  a). 
Orlandi  (IV  50). 
Orontius  (IV  85,  17). 
Ortelius  IV  86,  6,  7,  18,  19,  98,  99,  115, 

118.  90,  8,  26,  48,   50,   52,  55,   81, 
102,  114.   120,  127. 

Örtl  IV  30. 

Oterschaden  IV  88,  15,  16. 

A  :  pa  IV  71. 

Pagano  IV  87,  23.     90,  117,  118. 

Panades  III  4. 

Stefano  du  Perac  III  29,  70,  71. 

Pograbius  IV  86,  93. 

Sta.  Por.  IV  89,  34. 

Praetorius  III  34.     IV  95. 

Ptolemaeus  I  2.     IV  2. 

Bernardus  a  Putte  (Puteanus)  I  (31).  44. 

(65).     V  40.  42. 
Pyramius  I  36. 

Rafael  (V  33). 

Seb.  a  Regibus  (di  Re)  I  (45).  67,  2,  (26, 
49,  57),  58.  III  29,  7,  (38).  IV  85, 
10,  (13,  14).  89,  11,  18.  90.  115  b. 
91,  1.     V  (74).     86,  25. 

Reich  IV  46. 

Reinel  IV  5.  (12). 

Ribero  I  (10).  11. 

RoseUi  V  2. 

Ruscelli  IV  85,  3.     89,  6a,b. 

A.  S.  IV  85,  79.    89,  89.    90,  83. 

J.  S.  IV  53. 

Salamanca,  Antonius  III  29,  3, 19,  23,  27, 

46,55,61,68.    IV  85,  41,  66.    89,20. 

90,  5,  41,  92.     91,  5.     V  86,  1,  15. 
— ,    Franciscus    lU  29,  38.     IV  85,  53. 

90,  112. 
Saluat  de  Pilestrina  IV  9. 
8ambucus  IV  90,  64,  66. 
Scharffenbergius  (V  49). 
Schissler  III  10—12. 
Schöner  (I  68.  69.    lU  SO).    IV  93. 
Scolari  (IV  81). 
Scultetus  V  75. 

Sebastianus  III  29,  59.     IV  85,  84. 
Secco  I  50.     IV  85,  14.    89,  15.    90,  15. 
Seltzlin  IV  86,  50,  51. 
Sgrothenus  (Sgrothonus)   IV  86,  57,  58, 

119,  120.     V  76. 


Sophianus  IV  86,  89  a,  b. 

Speckel  IV  86,  52. 

N.  St.  IV  85,  59.    86,  101.   87,  40.   88,  3. 

Stella  I  49.    III  17.    IV  56.  86, 103,  104. 

V  48. 

Stopius  III  29,  13.     IV  85,  59.     86,  65. 

87,  36.     89,  23,  68.     V  43,  63. 
Susato  IV  87,  10. 
Sylvius  (V  45). 

Tettius  IV  90,  98. 

Thevet  IV  87,  80. 

Thomas  de  Rubis  (IV  45). 

Thoms  I  22. 

Tomasso  IV  90,  47. 

Torrentinus  (IV  44). 

Tramezini  I  (45.  57).  67, 12,  16,  (26,  49, 
57).  III  29,  14—18,  22.  IV  85,  2, 
(13,  14),  21—26.  89,  2,  3,  24.  26,  28, 
35.  90,  27,  31,  35,  37,  38,  54,  90.  91, 
22,  25-27,  29.     V  (74).  86,  10—12. 

Truchet  (V  46). 

Tschudi  TV  hl. 

A.  V.  IV  90,  3. 

Vavassore  IV  41.  42. 
Vaz  Dourado  IV  20. 
Vico  (III  29,  21). 
Vigliarolus  V  16. 

Vopell  (Vopelius)  I  31.  46.  47.  65.  III  32. 
IV  58.    84.    86,  53—56.     90,  43,  44. 

V  37. 

H.  W.  IV  84. 

Waldseemüller  I  (29).  30. 

Wechelus  (V  32). 

Weygel  (Weigel)  (IV  54.    V  61). 

Wied  I  41,  67,  25.     IV  86,  77,     90,  58. 

van  den  Wijngaerde  IV  87,  74. 

Woeiriot  (IV  86,  79). 

Wurm  (IV  54). 

W    Z    IV  28 

Zalterius  I  67,  70,  76.    IV  76.  (79.  80). 

85,  (17),   68,  95.     87,  7.     88,  5,  18. 
89,  (76),  88, 

Zell  Christoph  (IV  46). 

Zeell  (Zell),  Heinrich  III  16.    IV  86,  25. 

Zenoi  (I  67,  54).     III  29,  9,  (10).    IV  66. 

86,  (16  b),  66.     87,  18,  21,  58,  62—64, 
82,  84—86.     89,  14.     (V  43.  44). 

Z(i)mmermann  (IV  86,  86—89). 
Zündt(en) ,  (Cynthius)  I  67,  63,    IV  74. 

86,  61,  80,  102.     87,  61,  83,  87.     90, 

70,  109,  116.     V  69. 


n.   Texte. 


Anonymus  7.  10—12.  52.  58.  73—75.  77. 

79.   85—88.   99.    109.   110. 
Anthoine  le  Clerc  91. 


Anierinus  14. 

Archangelus  Madrignanus  93. 

Argenteus  90. 


128        W.  Iluge,   Aelteres  kartographisches  Material  in  deutschen  Bibliotheken. 


Barboso  15. 

Bartolomeo  da  li  Sonetti  98. 

Besicken  54.  55. 

BoUaert  115. 

Bondelmont  13. 

Burgkmair  62  b, 

Cabot  121. 
Calvus  84. 
Caesar  115. 
Cartier  91. 
Cervicornus  83. 
Columbus  18—24. 
Cortes  80.  81. 
Cronberger  80.  81. 

Job.  de  Doesborch  63, 

Eck  17. 

Emanuel,    König  von  Portugal  49 — 51. 
54—61.  64—72.  76. 


Faucheur  91. 
Ferdinand  3. 

Franciscus  Monachus  115. 
Frieß  117.  118.  119. 


116. 


Gaillardus  22. 

Ghetelen  95. 

Glogkendon  Albrecht  und  Jörg  62  d. 

Grüni(n)ger  (Grieninger)  46.  47.  101, 102. 

107.  109—112.  117-119. 
Guytschaiff  66. 

Henrico  Vicentino  92. 

Hueber  40. 
Hüpffvflf  27.  28. 

llacomilus  103.  106.  107. 

Janot  97. 

Johannes,  König  von  Portugal  89.  90. 

Kaiser  115, 
Küstler  24. 


Landen  55. 
Landeßberg  80. 
Ludd  101.  102. 

Maler  67. 

Mathurin  de  Redouer  96.  97. 

Maximilianus  Transylvanus  83.  84. 

Mazochius  64. 

Montalboddo  92. 

Monetarius,  Montario  s.  Münzer. 

Mulichus  107. 

Müller  26. 

Münzer  (Montario,  Monetarius)  1.  2.  48. 

de  Nicolay  16, 

Öglin  71,  74. 
Otmar  25. 

Peutinger  4. 
Peypus  77. 
Pirkheimer  8. 
Ptolemaeus  100. 

Rem  6. 

Ringmann  111.  112. 
Roffet  91. 
Ruchamer  94. 

Schöner  82.  113.  114.  120. 

Sedelius  9. 

Seits  15. 

Singrenius  65. 

Springer  (Sprenger)  5.  62  a— d.  63. 

Stöcklin  26. 

Stüchßen  94.  95.  113. 

Vespucci  25—47.  63. 
Victor  65. 

Waldseemüller  103.  (104.  105).  106.  107. 

(108). 
Weyssenburger  56. 
Winter  31. 
Withagius  116. 


J 


AS  Akademie  der  Wissenschaften, 

182  Göttingen,     Philologisch- 

G8122  Historische  Klasse 
1916  Nachrichten 


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