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Full text of "Nachrichten"

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Nachrichten 


von  der 


Königlichen  Gesellschaft  der  Wissenschaften 

zu  Göttingen. 


Philologisch -historische  Klasse 

aus  dem  Jahre  1918. 


Berlin, 

Weidmannsche   Buchhandlung. 
1918. 


SFP    2  19/0 


^/fs/ry  or  if^^'S 


in 


Druck  der  Dieterichschen  Univ. -Buchdruckerei  (W.  Fr.  Kaestner)  in  Göttingen. 


Register 

über 

die  Nachrichten  von  der  Königl.  Gesellschaft  derWissenschaften 

zu  Göttingen. 

Philologiscli"  historische  Klasse 

aus  dem  Jahre  1918. 


Seite 
Bechtel,  F.,  Zur  Kenntnis  der  griechischen  Dialekte        .     .     .     .  397 
Bonwetsch,  N.,  Zur  handschriftlichen  Überlieferung  des  Danielkom- 
mentars Hippolyts 313 

—  Briefe  des  Historikers  Heinrich  Leo  an  Frau  von  Quast       .  347 
Hermann,  E.,    Silbischer    und  unsilbischer  Laut    gleicher  Artikula- 
tion in  einer  Silbe  und  die  Aussprache  der  indogermanischen 
Halbvokale  u  und  i 100 

—  Sachliches  und  Sprachliches  zur  indogermanischen  Großfamilie  204 

—  Die  böotische  Betonung 273 

—  Etymologisches 281 

.Tacobsohn,  H.,    Die    ältesten    Berührungen    der    Russen    mit    den 

nordostfinnischen  Völkern  und  der  Name  der  Bussen   .      .     .  300 

Littmann,  E.,  Ge'ez- Skidien.    III 318 

Lid-zbarski,  M.,  Ein  manichäisches  Gedicht 501 

Oldenberg,  H.,    Die    vedischen  Worte   für    „schön"    und    „Schön- 
heit" und  das  vedische  Schönheitsgefühl 35 

—  Jätakastudien 429 

Bahlfs,  A.,    Über  einige  alttestamentliche  Handschriften  des  Abes- 

sinierklosters  S.  Stefano  zu  Eom             . 161 

Reitzenstein,  R.,    Livius    und  Horaz    über    die  Entwicklung  des 

römischen  Schauspiels 233 

—  Die  Scholien  zu  Horaz  Od.  I.  14 393 

Robert,  C,  Der  Argonautenkatalog  in  Hygins  Fabelbuch     .      .      .  469 

Schramm,  E.,  MovdyxcDV  und  onager 259 


Seite 

Schröder,  E.,  Beiträge  zur  Textkritik  Herborts  von  Fritzlar    .     .  35 

—  Die  Heimat  des  Linzer  Entechrist 340 

—  Reimstudien.    I 378 

—  Reimstudien.  II 407 

—  Zur  Überlieferung-  und  Textkritik  der  Kudruu.    iil.    IV  .      .  506 
Set  he,  K.,    Ein  ägyptischer  Vertrag   über   den  Abschluß  einer  Ehe 

auf  Zeit  in  demotischer  Schrift 288 

Zachariae,  Th.,    Über    die  Breve  Noticia    dos    erros    que    tem    os 

Gentios  do  Concäo  da  India • 1 


über  die  Breve  Noticia  dos  erros  que  teiii  os  Gentios 
do  Coneao  da  India, 

Von 

Theodor  Zachariae. 

Vorgelegt  in  der  Sitzung  vom  26.  Oktober  1917  von  H.  Oldenberg. 

Unter  den  portugiesischen  Abhandlungen  über  den  Hinduismus, 
die  Caland  und  Fokker  in  holländischer  Übersetzung  veröffentlicht 
haben  (Drie  oude  Portugeesche  Verhandelingen,  Amsterdam  1915), 
ist  namentlich  die  dritte:  Over  der  Oost-Indiane n  Goden 
en  Grodheden  geeignet,  unser  volles  Interesse  in  Anspruch  zu 
nehmen.  Es  ist  eine  reizvolle  Aufgabe,  die  mannigfachen  Schick- 
sale der  Abhandlung  zu  verfolgen  und  ihren  ursprünglichen  Um- 
fang sowie  den  Namen  und  die  Zeit  ihres  Verfassers  festzustellen. 
Was  ich  früher  hierüber  zu  sagen  vermochte,  habe  ich  in  meiner 
Anzeige  der  Drie  oude  Verhandelingen  (GGrA.  1916,  592  ff.)  nie- 
dergelegt. Seit  dieser  Zeit  ist  neues,  handschriftliches  Material  in 
meine  Hände  gelangt.  Auf  Grund  dieses  Materials  möchte  ich  die 
Untersuchung  noch  einmal  aufnehmen  und  meine  früheren  Angaben 
berichtigen,  ergänzen  and  erweitern.  Wenn  ich  z.  B.  die  Vermu- 
tung aussprach  (a  a.  0.,  S.  602),  daß  die  von  Caland  herausgegebne 
Abhandlung  nur  ein  Teil  der  portugiesischen  Abhandlung  sei,  so 
kann  ich  jetzt  mit  Bestimmtheit  behaupten ,  daß  sich  das  portu- 
giesische Original  nicht  nur  mit  den  indischen  Gottheiten,  sondern 
auch  mit  anderem,  namentlich  mit  den  Sitten  und  Bräuchen  der 
Inder  befaßte,  daß  dieses  Original  ungefähr  noclf  einmal  so  grpß 
war  wie  die  Abhandlung,  die  Caland  in  hollandischem  Gewände 
zum  Druck  befördert  hat. 

Die  anonyme,  von  Einigen  dem  berühmten  Jesuitenmissionar 
Joäo  de  Brito  zugeschriebene  Abhandlung  Breve  Noticia  dos 

Kgl.  Ges.  d.  Wiss.  Nachrichten.   Phil.-hist.  Klasse.   1918.  Heft  1.  1 


2  TheodorZachariae, 

errosque  tem  os  Grentios  do  Concäo  da  India  ist,  wie  es 
scheint,  verloren  gegangen.  Möglich  ist  es  allerdings,  daß  noch 
eine  Handschrift  auf  einer  Bibliothek,  etwa  in  Rom  oder  Lissabon, 
aufbewahrt  wird.  Jacquet,  dessen  Arbeiten^)  wir  sofort  kennen 
lernen  werden,  behauptet  sogar,  daß  die  Abhandlung  im  Druck 
erschienen  sei.  Er  schreibt  in  der  Inde  Francaise  II  50,  n.  1 : 
L'ouvrage  du  P.  J.  de  Britto  a  d'ailleurs  ^t^  int^gralement  publik 
ä  Lisbonne  il  y  a  quelques  annees.  Diese  Behauptung  dürfte  aber 
auf  einem  Irrtum ,  auf  einer  Verwechslung  beruhn.  Das  Diccio- 
nario  bibliographico  Portuguez  führt  einen  solchen  Druck  nicht 
auf;  ebensowenig  J.  C.  de  Figaniere  in  seiner  Bibliographia  histo- 
rica  Portugueza  (Lisboa  1850).  Dieser  Gelehrte  nennt  die  beiden 
Abhandlungen,  die  Caland  und  Fokker  an  erster  und  zweiter  Stelle 
veröffentlicht  haben  (die  Relacäo  das  Escripturas  dos  gentios  da 
India  oriental  und  die  Noticia  summaria  do  Gentilismo  da  Asia) 
unter  Nr.  988  und  964 :  sollte  er  den  Druck  der  Noticia  dos  erros 
übersehn  haben  ,  wenn  ein  solcher  wirklich  vorhanden  wäre  ?  So 
gut  wie  sicher  ist,  daß  Jacquet  den  Druck,  von  dem  er  spricht, 
niemals  gesehn  hat.  Sonst  versteht  man  nicht,  warum  er  sich  nie 
auf  die  Noticia  beruft,  wozu  er  genug  Anlaß  gehabt  hätte;  man 
versteht  nicht,  weshalb  er  die  Zitate  aus  Brito,  die  ihm  begeg- 
neten, nicht  auf  ihre  Quelle  zurückführt. 

Vorläufig  sind  wir,  wenn  wir  uns  ein  Bild  von  der  Noticia 
dos  erros  machen  wollen,  angewiesen  auf  die  Zitate  daraus  und 
auf  dieÜbersetzungen  und  Umarbeitungen,  die  dem  Werke 
zuteil  geworden  sind. 

Zitate  aus  der  Noticia,  gewöhnlich  unter  dem  Namen  des  P. 
de  Brito,  finden  wir  in  den  Schriften  des  Karmeliten  Paulinus  a 
S.  Bartholomaeo  und  in  dem  Traite  de  la  Religion  des  Ma- 
labars  gentils.  Paulinus,  dem  ein  vollständiges  MS.  der  Breve 
Noticia  vorgelegen  hat,  zitiert  den  Brito  ziemlich  oft^).  In  der 
Regel  nennt  er  ihn  nur  beim  Namen;  seltner  gibt  er  Zitate  im 
Wortlaut.    Zu  den  Zitaten,    die  ich  bereits   in  den  GGA.  1916, 


1)  Über  die  Arbeiten  Jacquets  auf  dem  uns  blcr  beschäftigenden  Gebiete 
Tgl.  F.  Neve,  Memoire  sur  la  vie  d'Eugöne  Jacquet  p.  41: — 49  (Memoires  couron- 
ne's  et  memoires  des  savants  ^trangers  publ.  par  l'Academie  Royale.  Tome  27. 
Bruxelles  1856). 

1)  Barone  führt  in  seinem  Buche:  Vita,  precursori  ed  opere  del  P.  Paolino 
da  S.  Bartolommeo  (Napoli  1888)  unter  den  Vorläufern  des  Paulinus  auch  den 
Giovanni  de  Brito  auf  (p.  90) ;  ohne  ersichtlichen  Grund.  Denn  mit  keinem  Worte 
gedenkt  er  der  Tatsache,  daß  Paulinus  den  Brito  wiederholt  zitiert  und  ein  be- 
stimmtes, ihm  zugeschriebnes  Werk,  die  Breve  Noticia,  namhaft  macht. 


über  die  Breve  Noticia  dos  erros  que  tem  os  Gentios  do  Concäo  da  India.  3 

595 f.  599 f.  angeführt  habe,  kommt  noch  eine  Stelle,  die  Paulinus 
in  seiner  India  orientalis  christiana,  Romae  1794,  p.  231  aus  dem 
6.  Kapitel  der  Noticia  mitteilt:  Todas  as  terras  säo  da  Coroa, 
näo  ha  vassallo,  que  tehna  (tenha)  nemhuma  quinta,  nemhuma  her- 
dade,  nemhum  campo  de  semeadura,  que  possa  deixar  a  seas  filhos  ^). 
Ihrem  Umfang  nach  bedeutender  sind  die  Zitate,  die  in  dem  Trait^ 
de  la  Religion  des  Malabars  begegnen.  Einige  davon  werde  ich 
weiter  unten  anführen.  Leider  sind  sie  vielfach  in  ziemlich  ver- 
derbter Gestalt  überliefert,  wenigstens  in  den  Münchner  Hss.  des 
Werkes,  den  einzigen  Hss.,  die  ich  habe  einsehn  können. 

Die  Religion  des  Malabars,  wie  ich  das  Werk  kurz  bezeichnen 
will,  besteht  aus  einer  Vorrede  und  drei  Teilen  mit  32-h38-j-31  Ka- 
piteln. Handschriften  befinden  sich  in  München  (beschrieben  im  Cat. 
codicum  manu  scriptorum  Bibl.  Reg.  Monacensis  VII  p.  14.  338)  und 
in  Paris  (Cat.  des  manuscrits  de  la  Bibl.  de  1' Arsenal  II  p.  454  no.  2242. 
Cat.  des  mss.  de  la  bibl.  Sainte-Genevieve  T  p.  272  no.  528.  Omont, 
Cat.  general  des  manuscrits  fran<jais,  ancien  suppl.  fran9ais  I  p.  305 
no.  9092;  siehe  auch  weiter  unten).  Auszüge  aus  dem  Werke  hat  E. 
Jacquet  gegeben^).  Zuerst  im  Nouveau  Journal  Asiatique  VIII  (1831) 
535  ff.,  IX  562  ff.,  X  291  ff.  454  ff.  478  ff.,  sodann  in  der  Inde  Fran- 
9aise^}  II,  Paris  1835,  p.  1 — 119.  Die  in  der  Inde  Fran9aise  veröf- 
fentlichten sehr  umfangreichen  Auszüge  sind  auch  als  Sonderdruck  er- 
schienen u.  d.  T.  Reche rches  sur  la  religion  des  Malabars, 
ouvrage  extrait  d'un  manuscrit  inedit  de  la  Bibliotheque  Royale,  et 
public  par  E.  Jacquet.  Paris,  Arthus  Bertrand,  o.  J.  Exemplare  dieses 
Sonderdrucks  befinden  sich  in  Göttingen  und  München.  In  zahlreichen 
Anmerkungen  hat  sich  Jacquet  bemüht,  den  Text  der  Religion  des  Ma- 
labars, soweit  er  ihn.  mitteilt,  zu  erläutern.     Das  Richtige  zu  treffen,  ist 


1)  In  Manuccis  Storia  do  Mogor  (Berliner  Hs.,  Phillipps  1945,  Bd.  III 
"S.  117)  entspricht:  Toutes  les  terres  apartiennent  a  la  couronne,  il  n'y  a  aucun 
particulier  qui  aye  en  propre  cham  ou  heritage  ou  aucune  possetion  quelconque, 
qu'il  puisse  laisser  a  ses  enfans  (vgl.  Manucci  übers,  von  Irvine  III  46) ;  in  De 
la  Flottes  Essais  historiques  p.  251:  Toutes  les  terres  appartiennent  au  Prince, 
et  aucun  vassal  ne  possede  en  propre  un  domaine,  ou  un  champ  qu'il  puisse  lais- 
ser ä  ses  enfans.  Diese  Stelle  ist  es  auch,  die  Paulinus  im  Sinne  hat,  wenn  er 
in  seiner  Reise  nach  Ostindien  (Berlin  1798  S.  54)  den  Pater  Johannes  de  Brito 
zitiert,  'dessen  noch  zur  Zeit  ungedruckte  Nachrichten'  er  in  Händen  habe.  Vgl. 
auch  S.  164  ('Alle  Ländereien  ohne  Ausnahme  gehören  dem  Könige').  169.  308  if 

2)  Einen  kurzen  Auszug  aus  der  Religion  des  Malabars,  nach  der  Münchn  i- 
Handschrift  Gall.  666,  gab  Stanley  in  seiner  Übersetzung  des  Duarte  Barbuo.i, 
London  1866,  p.  231  (=  Inde  Francaise  II  p.  72). 

3)  Den  vollständigen  Titel  dieses  wichtigen ,  wohl  nur  auf  größeren  Biblio- 
theken vorhandenen  Werkes  gibt  W.  Siegling  bei  Baines,  Ethnography  p.  204. 
Vgl.  auch  Jotffnal  Asiatique  XI  (1827)  126  ff.  Auf  die  Auszüge  aus  der  Religion 
des  Malabars  in  der  Inde  Francaise  hat  mich  Prof.  L.  Scherman  hingewiesen.  Ich 
bin  ihm  für  diesen  Hinweis  den  größten  Dank  schuldis^ 

1* 


4  Theodor  Zachariae, 

ihm  nicht  immer  geglückt.  Das  gilt  namentlich  von  seinen  Versuchen, 
die  Eigennamen,  die  meist  in  der  Tamilform  gegeben  werden ,  auf  die 
Sanskritfoimen  zuiückzuführen.  Hier  ein  Beispiel.  In  der  Eeligion  de» 
Malabars  II  1 0  (Inde  Fr.  II  7 7  f.)  wird  die  Bhasmäsura-Legende 
mitgeteilt.  Statt  Bhasmäsura  fand  Jacquet  die  handschriftliche  Lesart 
Pastmasouren  vor,  die  er  für  offenbar  falsch  hält.  In  einem  Original- 
text ist  ihm  die  Legende  nicht  begegnet;  er  hat  sie  nur  in  der  Relation 
des  Erreurs  (s.  unten)  und  in  den  Essais  historiques  eur  l'Inde  gefunden,, 
wo  der  Name  des  'Kiesen'  in  den  Formen  Pai-mesouren  und  Parame- 
thom'en  erscheint.  Daher  setzt  Jacquet  Paramesouren  in  den  Text,  d.  h. 
die  Tamilform  von  Skr.  Paramesvara,  das  aber,  wie  Jacquet  selbst 
zum  Ueberfluß  bemerkt ,  ein  gewöhnlicher  Name  des  Siva  ist.  Sollte 
der  Held  einer  Legende,  in  der  auch  Siva  eine  Rolle  spielt,  den  Namen 
Pai'amesvara  führen?  Das  ist  sehr  unwahrscheinlich.  Ich  zeige  jetzt, 
daß  die  Legencle  und  ihr  Held,  Bhasmäsura,  zu  der  Zeit  als  Jacquet 
schrieb  nicht  so  unbekannt  waren,  wie  man  aus  seinen  AVorten  schließen 
müßte.  Man  vergleiche  die  Ceremonies  et  coutumes  religieuses  des  peuples 
idolatres  (Amsterdam  1723)  I  2  p.  90  (Paimejuran) ;  [Ziegenbalgs]  Be- 
sclireilbung  der  Eeligion  und  heiligen  Gebräuche  der  malabarischen  Hin- 
dous  (1791)  S.  157,  wo  der  Name  des  'Riesen'  nicht  genannt  wird; 
Polier,  JVIythologie  des  Iiidous  (1809)  I  221  ff.  (Basraagut;  wohl  nur 
Druckfehler?);  Wilks,  llistorical  Sketches  bei.  Rhode,  lieber  religiöse 
Bildung  der  Hindus  II  L24  (Busm-Asur;  vgl.  Indian  Antiquary  II  50); 
.  die  Cpllec9ao.  de  noticias  para  a  historia  e  geografia  das  na^öes  ultra- 
marinas  I  1  (Liaboa  1812)  p.  10  (morte  de  hum  gigante  chamado  Bas- 
masur)  und  Dubois,  Moeurs,  institutions  et  ceremonies  (=  Hindu  man» 
ners  transl.  by  Beauchamp,  Oxford  1897,  p.  523:  Bhasmäsura). 

.  Die  Kelxgion  des  Malabars  gehört  dem  1.  Viertel  des  18.  Jhs.  an 
(s.  Inde  Pran9aise  II  32  n. ;  Catalogus  codd.  mss,  Bibl.  Reg.  Monacensis 
^n  14.  338).  Die  von  Jacquet  zwar  aufgeworfne,  aber  nicht  gelöste 
Frage  nach  dem  Namen  des  "Verfassers  läßt  sich  vielleicht  beantworten. 
In  Omonts  Catalogue  general,  nouv.  acquisitions  fran^aises  1  (1899) 
werden  unter  den  Nrr.  454 — 55  zwei  Hss.  mit  dem  Titel  Traitte  (oder 
Relation)  de  la  religion  d^s  Malabars  (de  la  coste  Ooromandelle)  auf- 
geführt und  einem  M.  Tessier,  prestre  missionnaire ,  zugeschrieben. 
Stimmen  diese  Hss.,  woran  doch  kaum  zu  zweifeln  ist,  inhaltlich  mit 
den  von  Jacquet  exzerpierten  Hss.  überein,  so  wäre  Tessier  als  der  Ver- 
fasser der  Religion  des  Malabars  anzusehn,  und  dieser  Tessier  könnte 
identisch  sein  mit  dem  von  Norbert  erwähnten  Jacques  du  Querelai 
Tessier,  Procm'eur  gen6ral  des  Missions  ^trangeres  de  Paris,  'qui  faisoit 
ea  residence  or^dinaire  a  Pondicheri^  (Memoires  historiques  I  344.  393. 
II  26;  vgl.  Irvine  zu  Manucci  IV  79).  In  der  Münchner  Handschrift 
Gall.  262  (Schlußbemerkung)  heißt  der  Verfasser  'une  personne  des  mis- 
sions  etrangeres',  und  von  der  anderen  Münchner  Hs.  wird  gesagt:  ce 
manuscrit  vient  ^videmmtnt  de  la  iiiaison  des  Missions  Etraugercs.  Siehe 
auch  Jacquet,  N.  Journal  Asiatique  X  (1832)  472. 

,. ..  Wm.mejßämi  tuas-zu  den  Übersetzungen    und  Umarbeitungen 
Jer  Bre:ve  Noticia^dos  eirros. 
^'      Die  lilt €Ste  "Ober setznng  du r f te  die  s6id^.  die  N  i  c ^c  o  1  a  o  M^  r 


über  die  Breve  Noticia  dos  erros  que  tem  os  Geutios  do  Concäo  da  India.  5 

n u c c i  seiner  Storia  do  Mogor^)  eingefügt  hat.  Sie  steht  in 
der  englischen,  von  William  Irvine  angefertigten  Übersetzung 
dieses  Werkes  im  3.  Bande  S.  1 — 76.  Die  dieser  Übersetzung  zu- 
grunde liegende  Handschrift  ist  die  jetzt  in  Berlin  aufbewahrte 
Handschrift  ^)  Phillipps  1945.  Hier,  im  3.  Teile  der  Hs.,  hebt  sich 
das  uns  beschäftigende  Stück  schon  rein  äußerlich  als  etwas  Be- 
sonderes heraus:  Manucci  bedient  sich  darin  der  französischen, 
dagegen  in  dem  unmittelbar  vorhergehenden  sowie  in  dem  folgenden 
Abschnitt  (Dos  Ellefantes)  der  portugiesischen  Sprache*). 
Auch  sind  vor  dem  übersetzten  Traktat  drei,  dahinter  vier 
Blätter  leer  gelassen.  Ahnlich  liegen  die  Verhältnisse,  nach  den 
Angaben  Irvines  in  der  Einleitung  zu  Manucci  S.  XLIII  vgl.  LXX  f., 
in  der  Venediger  Hs.  der  Storia.  Auch  hier  ist  die  Übersetzung 
der  Breve  Noticia  in  französischer  Sprache  überliefert  ^).  Der  Ver- 
dacht liegt  nahe,  daß  Manucci  nicht  das  portugiesische  Original, 
sondern  eine  französische  Übersetzung  dieses  Originals  benutzt  hat. 
Wie  dem  auch  sei:  er  hat  die  Übersetzung  der  Breve  Noticia  iür 
sein  eignes  Werk  ausgegeben;  bemerkt  er  doch  in  der  Inhalts- 
angabe des  3.  Teiles  der  Storia :  Cinquiesmement  je  donnerai  une 
Courte  Relation  de  la  Religion  des  G-entils  (vgl.  Ma- 
nucci übers,  von  Irvine  II  330). 

Manuecis  Übersetzung  wird  mit  einem  'Avertissement'  ein- 
geleitet. Ob  er  dieses  Avertissement  selbst  verfaßt  oder  dem  por- 
tugiesischen Original  entlehnt  hat,  läßt  sich  kaum  feststellen.  Das- 
selbe dürfte  von  dem  Schlußwort  (Irvine  III  75  f.)  gelten.  Die 
eigentliche  Abhandlung  hebt  an  mit  der  Überschrift  Brieve  Re- 
lation de  ce  que«les  Grentils  croyent  de  Dieu,    et  des  sentimens. 


1)  Storia  do  Mogor  or  Mogul  India  (1653—1708)  by  Niccolao  Manucci,  Ve- 
netian.  Translated  l)y  William  Irvine.     4  vols.     London  19ü7 — 1908. 

2)  Wie  die  Hs.  aus  Frankreich  über  Holland  und  England  nach  Berlin  ge- 
langt ist,  beschreibt  Irvine  in  der  Einleitung  zu  seiner  Übersetzung.  Siehe  auch 
Irvine,  Note  ou  N.  Manucci  and  bis  'Storia  do  Mogor',  im  Journal  of  the  R. 
Asiatic  Society  1903,  723  ft', 

3)  Je  nach  der  Nationalität  seiner  Schreiber  bedient  sich  Manucci  in  der 
Berliner  IIs.  der  französischen  und  portugiesischen,  in  dem  Venediger  Codex  (Ir- 
vine, Introduction  p.  XXXIII  ff.)  auch  der  italienischen  Sprache.  In  einem  Schreiben 
an  den  Senat  von  Venedig  bemerkt  er  über  den  Venediger  Codex:  Nor  must  it 
be  thought  Strange  if  various  languages  appear  in  the  work  now  sent,  for  accor- 
ding  to  the  amanuensis  whom  I  chanced  upon,  did  I  compose  the  work  sometimes 
in  French,  sometimes  in  ltalian,-and  occasionally  iu  Portuguese  (Irvine  p.  XXXV; 
vgl.  XXXIII.  XXXVII.  XLIII.  LXX  f.). 

4)  Nach  Irvine  S.  XLIII  ist  auch  die  Hand  des  Schreibers  im  Venediger 
Codex  dieselbe  wie  in  der  Berliner  Handschrift  Bd.  III  S.  90—135. 


6  Theodor  Zachariae, 

qn'ils  ^ont  de  son  essence;  das  Ganze  besteht  aus  neun  Kapiteln 
mit  mehreren  Unterabteilungen,  während  das  Original,  wie  wir 
bestimmt  wissen,  aus  sieben  Kapiteln  bestand'). 

Nach  seiner  eigenen  Angabe  hat  Manucci  im  J.  1700  (oder 
frühestens  1699;  s.  Irvine  S.  LXXIV)  die  französische  Übersetzung 
der  Breve  Noticia  seinem  Schreiber  in  die  Feder  diktiert^).  Eine 
andre  französische  Übersetzung  ist  ungefähr  zur  selben  Zeit  ent- 
standen, jedenfalls  vor  1709,  denn  in  diesem  Jahre  erschien  sie 
zum  ersten  Male  im  Druck.  Als  ihr  Verfasser  gilt  der  französi- 
sche Arzt  Dellon,  der,  in  der  2.  Hälfte  des  17.  Jhs.,  mehrere 
Jahre  in  Indien  zubrachte.  Seine  Reisebeschreibung  erschien  zu- 
erst in  Paris  1685.  Außerdem  schrieb  er,  angeblich  wenigstens^ 
eine  Relation  de  l'Inquisition  de  Goa  (zuerst :  Leiden  1687).  Dellon 
soll  nämlich  von  der  Inquisition  in  Goa  ins  Gefängnis  geworfen 
und  im  J.  1676  nach  Lissabon  gebracht  worden  sein.  Dort  gelang 
es  ihm,  sich  zu  befreien  und  nach  Frankreich  zurückzukehren.  Auf 
dem  Schiff,  das  ihn  nach  Lissabon  trug,  befand  sich  auch  ein  por- 
tugiesischer Jesuitenmissionar,  ein  'Religieux  tres-spavant  et  tres- 
pieux',  der  ein  von  ihm  selbst  verfaßtes  Manuskript  über  die  Re- 
ligion der  indischen  Heiden  bei  sich  hatte,  das  er  in  Portugal  zum 
Druck  befördern  wollte.  Unterwegs  aber  ereilte  ihn  der  Tod.  Vor 
seinem  Tode  übergab  er  Dellon  das  Manuskript,  das  dieser  dann 
ins  Französische  übersetzte.  Soweit  der  Bericht^).  Was  daran 
wahr  ist,  wissen  wir  nicht.  Vielleicht  ist  der  Bericht  nur  eine 
Erdichtung.  Wird  doch  auch  Dellons  Relation  de  l'Inquisition  de 
Goa  für  eine  Erdichtung,  eine  Fälschung  gehalten.  Aber  die  Tat- 
sache besteht,  daß  die  Breve  Noticia  am  Ende  des  17.  oder  im 
Anfang  des  18.  Jhs.  nach  Europa  gebracht,  rtnd  daß  die  erste 
Hälfte  der  Abhandlung  alsbald  in  französischer  Übersetzung  ge- 
druckt wurde*).    Der  erste  Druck   befindet   sich   in   dem   seltnen 

1)  Über  Manuccis  Übersetzung  und  ihr  Verhältnis  zum  Original  handle  ich 
weiter  unten  in  einem  besondern  Abschnitt. 

2)  Daß  Manucci  diktiert  hat,  ergibt  sich  aus  zwei  Stellen  im  Berliner 
MS.,  wo  er  sich  versprach  und  sofort  wieder  verbesserte,  was  sein  Schreiber  wört- 
lich nachgeschrieben  hat.  Die  erste  Stelle  lautet:  I^e  ressentiment  qu'eut  Bruma 
jedisRutrim,  dese  voir  ainsi  decouvert  par  Bruma;  die  zweite:  La,  disent 
ils,  demeure  Rutrim  avec  ses  femmes,  la  est  aussi  son  Taureau  avec  ses  femmes 
jeveux  dire  son  taureau  qui  est  la  raonture  dont  il  se  sert  (vgl.  Manucci 
übers,  von  Irvine  II,  11.  24). 

3)  Vgl.  meine  ausführliche,  oben  «.  T.  wiederholte  Mitteilung  in  den  G.G.A. 
1916,  594  und  das  Journal  des  Scavans  XLV,  ^33  f. 

4)  Es  wäre  möglich,  daß  diese  Übersetzung,  so  gut  wie  die  des  Manucci, 
bereits  auf  indischem  Boden  verfaßt  und  in  dieser  Gestalt  nach  Europa  gebracht 
wurde. 


über  die  Breve  Noticia  dos  erros  que  tem  os  Gentios  do  ConcSo  da  India.         7 

Buche:  Voyages  de  M'  Dellon;  avec  sa  Relation  de  l'Inquisition 
de  Goa,  augmentee  de  diverses  pieces  curieuses;  et  l'Histoire 
des  Dieux  qu'adorent  les  Gentils  des  Indes.  3  Tomes. 
Cologne  (fingierter  Druckort)  1709.  Eine  sehr  ausführliche  An- 
zeige des  Buches  erschien  im  Journal  des  S^avans  45  (Amsterdam 
1709),  S.  530—543.  Die  Histoire  des  Dieux  wurde  wieder  abge- 
druckt in  den  Ceremonies  et  coutumes  religieuses  des  peuples  ido- 
lätres  I  2  S.  83—100  (Amsterdam  1723).  Nach  der  holländischen 
Übersetzung  der  Ceremonies  et  coutumes  wurde  die  Abhandlung 
herausgegeben  und  mit  Anmerkungen  versehen  von  W.  Caland  in 
den  Drie  oude  Portugeesche  Verhandelingen  over  het  Hindoeisme, 
Amsterdam  1915,  S.  149—206. 

Die  Histoire  des  Dieux  umfaßt  19  Kapitel.  Die  ersten  17 
Kapitel  entsprechen  den  ersten  6  Kapiteln  in  Manuccis  Übersetzung 
(Manucci  III  S.  1—37).  Dagegen  haben  Kap.  18—19,  übrigens  auch 
das,  was  am  Schluß  des  17.  Kapitels  über  die  Seelenwanderung 
gesagt  wird,  bei  Manucci  keine  Entsprechung.  Der  auch  für  Kap. 
19  geltende  Titel  des  18.  Kapitels  lautet:  Qui  fait  voir,  que  la 
plüpart  des  points  de  la  doctrine  des  Gentils,  ont  du  rapport  a  ce 
qu'enseigne  le  Christianisme.  Daß  beide  Kapitel  auf  das  portugie- 
sische Original  zurückgehn,  ist  nicht  zu  bezweifeln.  Hier  treten 
zwei  Zeugnisse  des  Paulinus  beweisend  ein.  Wenn  in  Kap.  19 
(S.  201  Caland)  ein  Greis  namens  Tirruvalluven  als  der  Held 
der  Flutsage ^)  auftritt,  so  bemerkt  Paulinus,  Systema  Brahma- 
nicum  p.  80:  R.  P.  Brito  ex  traditione  Brahmanum  Madur^ensium 
regem  illum,  quem  Vishnu  a  diluvio  liberavit,  dicit  fuisse  Tiruva- 
luven,  qui  unacum  saa  filia  periculum  evasit.  Ebenso  kennt  Pau- 
linus die  Worte,  die  in  Kap.  19  auf  die  Darstellung  der  Flutsage 
unmittelbar  folgen  (On  trouve  encore  dans  ces  memes  Livres  une 
peinture,  et  une  idee  grossiere  des  combats  de  David  et  de  Sam- 

son ),   da   er   im  Systema  Br.  p.  145  schreibt:   Alii^)  eum 

(Rämam)  Samsonem  esse  arbitrantur  ut  R.  P.  Johannes  Brito. 

Da  Dellons  Übersetzung  (die  ich,  weil  der  Name  des  Ver- 
fassers nicht  feststeht,  immer  als  'französische  Übersetzung' 
zitieren  werde)  jetzt  in  Calands  Ausgabe  der  holländischen  Über- 

1)  Tiruvalluven  als  Held  der  Flutsage  ist  mir  bis  jetzt  nur  noch  in  einer 
Lebensbeschreibung  des  gleichnamigen  Dichters  (Tiruvalluvar)  bei  Graul,  Biblio- 
theca  Tamulica  II  190  begegnet.  Bevor  Tiruvalluvar  von  der  Frau  eines  Vellälan 
an  Kindesstatt  angenommen  wurde,  schwamm  er,  als  Brahma,  der  Zukunft  kundig, 
in  einem  ausgehöhlten  Kürbis  auf  der  'großen  Flut'  daher  und  wurde  von  Siva 
beauftragt,  die  verwüstete  Welt  wiederherzustellen. 

2)  Zu  den  *Alii'  gehört  der  Pater  Bouchet  (Lettres  edifiantes  XI  33  f.). 


g  Theodor  Zachariae, 

Setzung  bequem  zugänglich  ist,  so  habe  ich  an  dieser  Stelle  wenig 
mehr  darüber  zu  sagen.  Bemerken  will  ich  nur,  daß  die  französi- 
sche Übersetzung  ausführlicher  oder  wortreicher  ist,  als  das  Ori- 
ginal, soweit  man  nach  den  Bruchstücken,  die  davon  erhalten  ge- 
blieben sind,  urteilen  kann.  Die  Übersetzung  ist  z.  T.  mehr  Pa- 
raphrase als  Übersetzung.  Manucci  dagegen  scheint  sich  durchweg 
enger  ans  Original  angeschlossen  zu  haben. 

Eine  dritte  Übersetzung,  richtiger  vielleicht  Umarbeitung,  der 
Breve  noticia  dos  erros  ist  die  Relation  des  erreurs  qui  se 
trouvent  dans  la  religion  des  Malabars  gentils  de  la  cöte  de  Co- 
romandel  (so  der  Titel  nach  Jacquet,  N.  Journal  Asiatique  X,  472). 
Jacquet,  dem  wir  Mitteilungen  über  diese  Abhandlung  verdanken 
(a.  a.  0.  und  im  2.  Bande  der  Inde  Francaise) ,  hat  3  Hss.  der  Bi- 
bliotheque  Royale  (jetzt  Bibliotheque  Nationale)  in  Paris  benutzt. 
Ich  selbst  kenne  nur  2,  jetzt  für  mich  leider  unerreichbare  Hss. 
der  Nationalbibliothek,  verzeichnet  in  Omonts  Catalogue  general, 
nouv.  acquisitions  francaises  I  (1899)  p.  69  no.  451  und  p.  288 
no.  1823.  Eine  dritte  Hs.,  die  Jacquet  nicht  gekannt  hat,  finde 
ich  angeführt  bei  Backer-Sommervogel,  Bibliotheque  des  ecrivains 
de  la  Compagnie  de  Jesus  V  1780  und  beschrieben  im  Katalog  der 
Bibliothek  zu  Saint-Calais  unter  No.  9  (Cat.  genöral  des  manuscrits 
des  bibliotheques  publiques  de  France,  Departements,  t.  XX  p.  283). 
So  kurz  diese  Beschreibung  auch  ist,  sie  ist  doch  ausführlicher  als 
die  der  Pariser  Hss.  bei  Omont.  Da  sie  von  dem  (angeblichen) 
Verfasser  sowie  von  den  früheren  Besitzern  der  Hs.  berichtet,  so 
soll  sie  hier  fast  vollständig  mitgeteilt  werden. 

'Relation  des  erreurs  qui  se  trouvent  dans  la  religion  des  gentils 
Malabars  de  la  coste  Coromandelle,  dans  l'Inde,  augmentee  de  plusieurs 
remarques  touchant  les  meteors  et  les  pianettes  .  .  .  par  le  R.  P.  Ro- 
bert Nobily,  de  la  Compagnie  de  Jesus,  missionnaire  aux  Indes 
Orientalles'. 

'Cette  relation  est  divisee  en  sept  chapitres  .  .  .'  La  seconde  partie 
a  une  pagination  speciale;  eile  est  relative  ä  'la  gentilite  du  Bengala'. 
—  Cet  ouvrage  du  celebre  missionnaire  n'est  pas  Signale  ^)  dans  la  Bi- 
bliotheque des  ecrivains  de  la  Compagnie  de  Jesus  t.  II  (1872). 

On  lit,  au  fol.  A:  'Ce  präsent  livre  appartient  a  moy  Jean  Louis 
Morinet,  le  jeune,  maitre  pemiquier  a  Vendome.  1741'.  —  On  lit,  en 
outre,  a  l'interieur  de  la  couverture  de  la  fin :  'Michel  Morinet,  aubergiste 
ä  Montoire'. 


1)  Dies  ist  jedoch  geschehn,  mit  einem  Verweis  auf  den  Katalog  der  Biblio- 
thek zu  Saint-Calais,  in  der  Neubearbeitung  der  Backerschen  Bibliotheque  von 
Carlos  Sömmervogel  (V  1780;  wo  man  den  sinnstörenden  Druckfehler  metiers 
statt  mete'ors  berichtigen  möge). 


über  die  Breve  Noticia  dos  erros  que  tem  os  Geiitios  do  Concao  da  India-  9 

Wir  erfahren  aus  dieser  Beschreibung,  daß  die  Hs.  zwei  Ab- 
handlungen enthält:  die  Relation  des  erreurs  und  eine  Abhandlung 
über  das  Heidentum  von  Bengalen.  Als  Verfasser  dieser  Abhand- 
lungen (oder  nur  der  ersten?)  wird  Robert  Nobily  genannt 
—  jener  berühmte  Jesuitenmissionar,  dem  man  -auch  den  Ezour- 
vedam  zugeschrieben  hat  ^).  Indessen  eine  Schrift  über  das  ben- 
galische Heidentum  kann  er  nicht  verfaßt  haben,  da  er  niemals  in 
Bengalen  war.  Aber  auch  als  den  Autor  der  Relation  des  erreurs 
kann  man  ihn  nicht  betrachten,  wie  ich  meine  schon  deshalb  nicht, 
weil  im  7.  Kapitel  dieser  Schrift  von  Roberto  de'  Nobili  in  der 
dritten  Person  gesprochen  wird  (N.  Journal  Asiatique  X,  474  ff.). 

Da  ich  handschriftliches  Material  nicht  benutzen  kann,  da 
meine  Versuche,  etwas  Näheres  über  die  Pariser  Hss.  zu  erfahren, 
fehlgeschlagen  sind,  so  kann  ich  nur  mit  Hilfe  der  überlieferten 
Bruchstücke  und  der  Mitteilungen,  die  Jacquet  gemacht  hat,  zeigen, 
daß  die  Relation  des  erreurs  als  eine  Übersetzung  oder  Umarbei- 
tung der  Breve  noticia  dos  erros  angesehn  werden  muß  —  eine 
Tatsache,  worauf  uns  übrigens  schon  die  Ähnlichkeit  der  Titel 
hinweist.  Zunächst  wird  ein  längeres  Zitat  gegeben^)  in  den  Er- 
läuterungen zum  Ezourvedam,  Yverdon  1778,  II  209  iF.  (Die  Sit- 
tenlehre der  Braminen  übers,  von  Ith,  Bern  und  Leipzig  1794,  II 
1^5  ff.).  Vv'^enn  es  da  von  dem  Berge  Meru  heißt,  daß  er  auf  acht 
Elefanten  ruhe,  diese  auf  einer  Schildkröte,  und  diese  wieder  auf 
einer  Schlange  (Sesa  oder  Adisesa) ;  wenn  es  ferner  heißt,  daß  die 
Inder  auf  die  Frage,  worauf  sich  diese  Schlange  stützt,  die  Ant- 
wort schuldig  bleiben ;  und  daß  durch  die  Bewegungen  der  Schlange 
die  Erdbeben  hervorgerufen  werden  —  so  kehrt  das  alles,  und 
zwar  z.T.  wörtlich  wieder  bei  Manucci  III  31  f.  und  im  14.  Kapitel 
der  französischen  Übersetzung  (vgl.  Caland  S.  188 f.)  Die  Quelle 
aber  ist  letzten  Endes  die  portugiesische  Noticia  dos  erros.  Das 
läßt  sich  beweisen.  Paulin us  nämlich,  Musei  Borgiani  Velitris  Co- 
dices manuscripti  (1793)  p.  231  teilt  mit,  daß  'R.  P.  Johannes  a 
Brito  in  cod.  Lusitano  mss.  Dos  erros  dos  gentios  do  Con- 
cao  da   India   cap.  4.'    den   Meruberg   Magä   Meru   ranmadam 


1)  Vgl.  Inde  Frangaise  II,  117.  Backer-Sommervogel ,  Bibliotheque  II  566. 
Jules  Vinson,  Revue  de  Linguistiqae  35  (1902),  281  ff. 

2)  Aus  einem  MS.  der  Bibliotheque  du  ßoi  de  France  *Sur  les  erreiiis  des 
Indiens  de  la  cote  de  Malabar'.  Diese  Bezeichnung  des  Titels  ist  entschieden 
fulsch.  ('Die  Malabaren'  und  'die  Malabarküste'  sind  vei  »vechselt  worden.  Vgl. 
Hobson-Jobson  u.  d.  W.  Malabar.)  Richtig  dagegen  ist  aie  Angabe,  daß  das  Zitat 
.'Ti  vierten  Kapitel  des  Manuskriptes  steht.  Ich  war  im  Irrtum,  wenn  ich  in 
den  GGA.  1916,  601  die  Richtigkeit  bezweifelte. 


10  Tlreodor  Zachariae, 

genannt  habe.     Dies  ist  aber  genau  die  Form,  die  in  der  französi- 
schen Übersetzung  Kap.  14  (vgl.  Kap.  4)  gebraucht  wird  ^). 

Einen  mehr  oder  weniger  wörtlichen  Auszug^)  aus  dem  7. 
Kapitel  der  Relation  des  erreurs  hat  Jacquet  gegeben  im  N.  Jour- 
nal Asiatique  X  473 — 78  (wiederholt  in  der  Inde  Fran^aise  II 
115  ff.).  Daß  dieses  Stück  im  wesentlichen  aus  der  Breve  noticia 
geschöpft  ist,  erscheint  zweifellos,  wenn  wir  zwei  größere  Bruch- 
stücke dieser  Schrift,  die  zufällig  in  der  Religion  des  Malabars 
erhalten  sind,  zur  Vergleichung  heranziehn.  Eines  dieser  Bruch- 
stttcke  werde  ich  weiter  unten  mitteilen.  Außerdem  hat  Jacquet 
öfters  Stellen  aus  der  Relation  des  erreurs,  einige  Male  ohne  sie 
ausdrücklich  zu  nennen,  in  den  Noten  zur  Religion  des  Malabars, 
im  2.  Bande  der  Inde  Francaise,  zitiert  (vgl.  S.  17.  77  f.  68.  65). 
Fast  alle  diese  Zitate  lassen  sich  auch  bei  Manucci  oder  in  der 
französischen  Übersetzung  der  Breve  noticia  nachweisen.  Es  gibt 
allerdings  Ausnahmen.  Wenn  z.  B.  nach  Jacquet,  Inde  Fr.  II  95 
n.  2  in  der  Relation  des  erreurs  gesagt  wird,  'que  les  Tamouls 
considerent  comme  une  relique  de  Hanoumän^)  la  celebre  dent 
de  Bouddha  qui  fut  solemnellement  brulee  a  Ceylan  par  le  celebre 
Constantin  de  Bragance'  — ,  so  kann  ich  nicht  bestimmt  behaupten, 
daß  diese  Angabe  auf  die  Breve  noticia  zurückgeht. 

Dennoch  können  über  die  außerordentlich  nahen  Beziehungen 
zwischen  Noticia  und  Relation  keine  Zweifel  bestehn.  Was  schließ- 
lich den  Ausschlag  gibt,  ist  die  Zahl  und  der  Inhalt  der  Kapitel 
in  der  Relation  des  erreurs.  Wir  werden  später  sehn,  daß  diese 
Kapiteleinteilung  auch  die  der  Noticia  dos  erros  ist.  Daß  die  Zahl 
der  Kapitel  in  der  Relation  sieben  beträgt,  haben  wir  oben  aus 
dem  Katalog  der  Bibliothek  zu  Saint- Calais  erfahren.  Die  Kapitel- 
überschriften hat  Jacquet  in  der  Inde  Francaise  II  4  mitgeteilt. 
Sie  lauten : 

I.  Erreurs  des  Malabars  au  sujet  de  la  divinite ; 
n.  Erreurs  des  Malabars  au  sujet  du  paradis  et  de  l'enfer; 

1)  Vgt.  Manucci  III  10.  31.  De  la  Flotte,  Essais  Historiques  p.  238.  Le 
Gentil,  Voyage  dans  les  mers  de  l'Inde  I  189  {Margameruparrmadam\  Quelle: 
die  Ceremonies  et  coutumes). 

2)  Es  ist  zu  bedauern,  daß  sich  Jacquet  Änderungen  erlaubt  hat;  'j'ai  en- 
tierement  renouvcle  le  style',  bemerkt  er.  Er  hat  nämlich  an  der  Sprache  des 
Verfassers  Anstoß  genommen ;  er  meint,  dieser  habe  über  dem  Studium  des  Tamil 
und  des  Telinga  seine  Muttersprache  vergessen.  Aber  läßt  sich  das  mangelhafte 
Französisch  des  Verfassers  nicht  einfach  aus  der  Annahme  erklären,  daß  er  ein 
portugiesisches  Werk,  die  Breve  noticia,  benutzte  und  oft  wörtlich  übersetzte ? 

3)  Vgl.  Manucci  III  238.  IV  450.  Baldaeus ,  Abgötterey  der  ostindischen 
Hey  den  S.  453  fg.    Purchas,  Pilgrimage  (1626)  p.  561. 


über  die  Breve  Noticia  dos  erros  que  tem  os  Gentios  do  Concäo  da  India.       H 

III.  Errenrs  des  Malabars  au  sujet  de  Täme; 

IV.  Errenrs  des  Malabars  au  sujet  du  monde; 
V.  Erreurs  des  Malabars  au  sujet  de  rhomme; 

VI.  Gouvernement,    coutumes,    rites   nuptiaux   et  fun^raires   des 

Malabars ; 
VII.  Opinion  que  les  Malabars  ont  des  Europ^ens  ou  Piranguis  ^). 

An  vierter  Stelle  ist  die  Bearbeitung  der  Breve  noticia  zu 
nennen,  die  uns  geboten  wird  in  dem  Buche' von  D  e  laFlotte^): 
Essais  historiques  sur  l'Inde,  pröced^s  d'un  Journal  de  voy- 
ages  et  d'une  description  geographique  de  la  cote  de  Coromandel, 
Paris  1769,  und  zwar  in  dem  Abschnitt  De  la  religion  des  Indiens 
S.  163—326.  Wie  De  la  Elotte  auf  S.  167  angibt,  hat  er  eine 
Handschrift^)  ausgezogen,  die  im  J.  1767  aus  Pondichery  (an  die 
Kgl.  Bibliothek  in  Paris?)  durch  die  Vermittlung  des  Herrn 
Porcher''),  ehemaligen  Grouverneurs  von  Karikal,  gesandt  worden 
war.  Daß  diese  Hs.  eine  Hs.  der  Relation  des  erreurs  ist,  ist  sehr 
wohl  möglich,  ja  durchaus  wahrscheinlich  ^).  Doch  läßt  sich  nichts 
Bestimmtes  ausmachen.  Nur  so  viel  scheint  sicher :  De  la  Flotte 
hat  allerdings  seine  Vorlage  oft  fast  wörtlich  ausgeschrieben,  oft 
hat  er  sie  aber  auch  gekürzt,  andrerseits  hat  er  auch  Zusätze  ge- 
macht. Daß  ihm  Fehler  untergelaufen  sind,  darf  nicht  Wunder 
nehmen.     Ich  bespreche  einige  Einzelheiten. 

De  la  Flotte    kennt   keine  Einteilung    in   Kapitel.     Doch    sind    die 
einzelnen  Abschnitte  mit  TJeberschriften  versehn,  und  diese  Ueberschriften 


1)  Willkürliche  Änderung  Jacquets;  die  handschriftliche  Lesart  ist:  Pa- 
ranguis  (N.  Journ.  Asiatique  X,  473  n).  Dieselbe  Schreibung  in  einem  Zitate 
aus  dem  7.  Kapitel  der  Breve  noticia  in  der  Religion  des  Malabars  II  12.  Siehe 
auch  Sonnerat  I  58.    Müllbauer,  Geschichte  S.  172. 

2)  Der  Verfasser  fuhr  1757  nach  Indien,  nahm  an  den  Kämpfen  der  Fran- 
zosen (unter  Lally)  mit  den  Engländern  Teil,  geriet  in  englische  Gefangenschaft 
und  wurde  nach  London  gebracht.  Hier  erhielt  er  seine  Freiheit  wieder  und 
kehrte  1761  nach  Frankreich  zurück. 

3)  Die  Hs.  (jetzt  in  der  Nationalbibliothek?)  enthält  Bilder  der  indischen 
Gottheiten.  Eins  von  diesen  Bildern  ist  wohl  das  Bild  des  Braraa  in  den  Essais 
historiques  p.  171. 

4)  A.  P.  Porcher  des  Oulches,  conseiller  du  Grand  Conseil  de  Pondichery 
et  commandant  de  Karikal  (s.  Vinson,  Revue  de  Linguistique  35,  296) ;  Schwieger- 
vater des  besser  bekannten  Herrn  von  Maudave  (Modave).  Aus  den  Händen  Mo- 
daves  erhielt  Voltaire  (1760)  den  berühmten  —  oder  berüchtigten  —  Ezourvedam. 

5)  Daß  nahe  Beziehungen  zwischen  der  Relation  des  erreurs  und  den  Essais 
historiques  De  la  Flottes  bestehn,  ja  daß  dieses  Werk  wahrscheinlich  von  jenem 
abhängig  ist,  ist  von  Jacquet  nicht  erkannt  worden.  Und  doch  war  er  nahe  an 
der  richtigen  Erkenntnis:  s.  Inde  Frangaise  II,  77,  n.  0. 


22  TheodorZacliariae, 

stimmen  im  allgemeinen  mit  den  Kapitelüberscliriften  in  den  Parallel- 
texten, bei  Manucci  u.  s.  w.,  überein.  Auch  die  Anordnung  des  Stoffes 
ist  dieselbe  wie  in  den  Paralleltexten ;  mit  einer  Ausnahme :  von  dem 
Inhalt  des  7. — 9.  Kapitels  bei  Manucci  'De  la  Politesse,  Gouvernement 
et  Coutumes  que  les  Gentils  observent  entre  eux'  bringt  De  la  Flotte 
zunächst,  wohl  in  Uebereinstimmung  mit  der  Relation  des  erreurs,  den 
Abschnitt  'Du  Gouvernement  des  Indiens'  p.  251  und  dann  ei'st  handelt 
er  von  der  'Politesse  des  Indiens'  p.  265.'  Bei  Manucci  dagegen  steht 
der  Abschnitt  über  die  Politesse  an  erster  Stelle;  ebenso  in  der  Breve 
noticia,  wie  wir  einer  JMitteilung  des  Paulinus  in  seiner  India  orientalis 
christiana  p.  160.   231   entnehmen  können. 

Von  kleineren  Abschnitten  bei  De  la  Flotte,  die  sich  bei  Manucci 
nicht  finden,  und  die  er  wohl  alle  seiner  handschriftlichen  Vorlage  ent- 
nommen hat,  mögen  genannt  werden:  lieber  den  Sälagräma-Stein  S.  198. 
ßudräksa  201.  Untergeordnete  Gottheiten  207.  Musik  210.  Tempel  212 
(mit  Ansicht).  Medizin  244.  Anatomie  245.  Betel  268.  Indische  Büßer 
312.  Auf  S.  317—21  bringt  De  la  Flotte  die  Uebersetzung  von  22 
Versen  des  Kural  ^)  nach  einer  Hs.,  die  der  oben  erwähnte  Oberst  De 
Mondave  (so !)  aus  Indien  mitgebracht  hatte  und  die  sich  jetzt  in  der 
Nationalbibliothek  befindet. 

Weitere  Unterschiede  zwischen  De  la  Flotte  und  den 
Paralleltexten.  —  Sehr  auffällig  ist  die  Kasteneinteilung  S.  168. 
246  ff.  Der  Autor  unterscheidet  4' Kasten,  die  Brahmanen,  die  ßajas, 
die  Choutres  und  die  Sandalen  (Candälas).  Die  Brahmanen  sind  aus 
dem  Haupte,  die  Kajas  aus  den  Schultern,  die  Choutres  aus  den  Füßen, 
die  4.  Kaste  ist  aus  einem  abgeschnittnen  üliede  des  Brahma  entstanden 
(nach  S.  168  die  Choutres  aus  den  Schenkeln,  die  'niedrigen  Kasten' 
aus  den  Füßen !).  Die  Kaufleute  treten  als  eine  Art  Unterabteilung  der 
Brahma nenkaste,  nicht  als  besondre  Kaste  auf  (les  Banians  pretendent 
avoir  le  meme  avantage  que  ]es  Brames  S.  246).  Dagegen  hat  man 
nach  der  französischen  Uebersetzung  der  Breve  noticia  Kap,  3.  17  (vgl. 
Manucci  III  7  f. ;  35)  5  Kasten  zu  unterscheiden :  die  Brahmanen,  Rajas, 
Oomatis  (Kaufleute) ,  Xutres  und  die  Niger  oder  Xandalam,  welch 
letztere  wieder  in  4  Zweige  zerfallen^).  Auch  im  7.  Kapitel  der  Re- 
lation des  erreurs  (N.  Journ.  Asiatique  X  475)  werden  unterschieden: 
Brahames,  Radjas,  Oomittis,  Chouttas,  gens  de  basse  extraction;  und  R. 


1)  Vgl.  Jacquet,  Inda  l'rangaise  II,  49,  n.  4.  Die  Kunde  vom  Kural  ge- 
langte schon  früh  nach  Europa.  Bereits  Diogo  do  Couto  (V,  G,  4)  verbreitet  sich 
über  den  Inhalt  von  Tiruvalluvars  Dichtung  und  gibt  die  Zahl  der  Verse  ganz 
richtig  mit  1330  an.  Fast  wörtlich  dasselbe  liest  man  bei  Giuseppe  di  Santa 
Maria,  Prima  speditione  all'  Indie  orientali  (Roma  1666)  II  17  p.  157.  Siehe  sonst 
auch  die  Hallischen  Missionsberichte  I  885  ff. 

2)  GGA.  1916,  612  ff.  Irviae  zu  Manucci  III  35.  Thurston,  Gastes  and 
Tribes  VI  43  :  The  Panchamas  are,  in  the  Madras  Census  Kcport,  1871,  summed 
up  as  being  'that  great  division  of  the  people,  spoken  of  by  themselves  as  the 
fifth  caste,  and  described  by  Buchanan  and  other  writers  as  the  Pancham 
Bandam'.  According  to  buchanan,  the  Pancham  Bandum  'consist  of  four  tribes, 
the  Parriar,  tl.e  Baluan,  the  Shekliar,  and  the  Toti'. 


über  die  Brevc  Noticia  dos  crros  que  tem  os  Gentios  do  Concäo  da  India.       ]3- 

de'  Nobili  nennt  in  seiner  Verteidigungsschrift  die  drei  höheren  Kasten; 
Brahmanen ,  Eajahs,  Comatis  ^). 

Auffällig  ist  ferner,  daß  nach  De  la  Flotte  S.  189  Koutren  dem 
Vinaguien  (Ganesa)  das  Haupt  abschlägt.  Nach  der  französischen  Ueber- 
setzung  Kap.  8  (Caland  S.  168)  tötet  Virabhadra  den  Vinäyaka ; 
ebenso  nach  der  Relation  des  erreurs  (s.  Jacquet,  Inde  Fran9aise  II  17 
n.  1).  —  Sonderbar  liest  sich  der  Satz  S.  226:  *Un  cygne  lui  [dem 
Brahma]  sert  de  monture,  et  quelquefois  un  cheval  pour  ses  voyages'. 
Die  Paralleltexte  wissen  nichts  davon,  daß  Brahma  bisweilen  auch  das 
Pferd  als  Reittier  gebraucht.  —  S.  227  wird  der  Fluß  Vaycarani  (Vai- 
tarani)  une  riviere  de  fer  genannt.  Fer  mag  Dinickfehler  für  feu  sein, 
"üebrigens  ist  der  eiserne  Fluß  übergegangen  in  den  Ezourvedam  II 
160  Anm.  —  Nach  den  Paralleltexten  hat  der  Verfasser  der  Breve  no- 
ticia keine  näheren  Angaben  über  die  Fischinkarnation  machen 
können  (Manucci  III  10;  Fr.  Uebers.  Kap.  4 :  On  ne  s^ait  pas  quel  fut 
le  motif  de  cette  metamorphose).  Dagegen  bemerkt  De  la  Flotte  S.  172 
f.  über  den  Nara-Avadaram  (so !) :  La  premiere  incarnation  de  Vichenou 
fut  en  poisson ,  pour  servir  de  gouvernail  a  l'arche  du  de- 
in ge.  Er  fügt  noch  hinzu:  11  paroit  constant  que  toutes  les  nations 
conservent  l'epoque  d'un  dringe.  Les  Brames  disent  que  Vichenou  fut 
engendre  une  seconde  fois  sur  les  eaux  qui  couvroient  la  surface  de  la 
terre,  dans  la  feuille  d'un  arbre,  nomme  Arrechel^),  dont  tous  les 
Gentils  se  servent  dans  les  ceremonies  de  leurs  mariages.  Ce  Dieu  ainsi 
regenere  prend  le  nom  de  Parapatera-Sahy^).  Auch  von  diesem 
Zusatz  findet  sich  in  den  Pai'alleltexten  keine  Spur. 

Als  bemerkenswert  will  ich  noch  den  Gebrauch  des  "Wortes  va- 
rangue  (ou  galerie  formte  par  un  petit  auvent  que  soutiennent  des  co- 
lonnes  de  bois  fort  minces)  S.  27öf.  hervorheben.  Die  gewöhnlich(Bn 
französischen  Wörterbücher  kennen  das  Wort  nur  in  der  Bedeutung 
'Bauchstück  eines  Schiffs'.  Bei  Sachs- Villatte  finde  ich  als  Beleg  für 
die  Bedeutung  Veranda*)  die  Stelle:  George  Sand,  Indiana  24;  im 
Hobson-Jobson  s.  v.  Veranda  eine  Stelle  aus  Sonnerats  Reisebeschreibung, 
mit  der  Bemerkung:  'There  is  a  French  nautical  term,  varangue^  *the 
ribs  or  floor-timbers  of  a  ship',  which  seems  to  have  led  the 
writer  astray  here'.     Man  beachte  aber,   daß  varandam  im  Diction- 


1)  Müllbauer,  Geschiebte  der  katholischen  Missionen  S.  192.  Die  Kömati» 
werden  in  Südindien  von  den  Brahmanen  als  Vaisyas  angesehn  (Thurston,  Gastes 
and  Tribes  VII  271  ;  anders  Sonnerat,  Voyage  I  51)  und  niclit  selten  als  3.  Kaste 
bezeichnet  (Lettres  ediliantcs  XIV  23).  Nacli  einem  Zitat  aus  dem  'Paganisme 
Indien'  im  Ezourvedam  11  82  n.  machen  die  Comattis  den  angesehnsten  Teil  der 
3,  Kaste  aus. 

2)  Tamil  arasu,  Skr.  inppala,  Ficus  religiosa.  Vgl.  Fra  Paolino,  Heise  nach 
Ostindien  S.  98. 

3)  Wohl  =  Skr.  vatapattrasäyl.  Vgl.  Vatapatrachai  bei  Sonnerat  I  294, 
Vätapairahn  bei  Jouveau-Dubreuil,  Archeologie  du  Sud  de  l'Inde  11  69. 

4)  Zur  Etymologie  des  noch  immer  nicht  sicher  erklärten  Wortes  verandor 
vgl.  Hobson-Jobson  u.  d.  W. ;  Hugo  Schuchardt  in  der  Zs.  für  romanische  Philo- 
logie XIII  491  Anm. 


-^^  Theodor  Zach ariae, 

naire  Tamoul-FraiKjais  erklärt  wird  mit   'varande,    (ouplus    ordinai- 
^rement)  varangue,  corridor,  portique',  etc. 

So  viel  über  die  Bearbeitungen  und  Übersetzungen  ,  die  der 
ßreve  noticia  zuteil  geworden  sind.  Wir  sind  jetzt  vorbereitet 
zur  Beantwortung  der  Frage  nach  dem  Aufenthaltsort,  dem  Namen 
und  der  Zeit  des  Verfassers,  sowie  nach  der  Einteilung,  dem  Um- 
fang und  dem  Inhalt  seiner  Abhandlung. 

Wo  der  Verfasser  residierte,  wo  seine  Missionsstation  lag, 
ergibt  sich  aus  dem  Titel  der  Abhandlung:  Breve  noticia  dos 
erros  que  tem  os  Grentios  do  Concäo  da  India.  Er  schildert  die 
Religion,  die  Regierung,  die  Sitten  und  Grebräuche  {governo  e  costu- 
mes)  der  Bewohner  von  Concäo.  Was  ist  unter  Concäo  zu  ver- 
stehn?  Es  liegt  nahe,  an  das  Konkan,  den  wohlbekannten  Land- 
strich an  der  Westküste  Indiens,  zu  denken.  Allein  die  Annahme, 
daß  sich  der  Verfasser  in  dieser  G-egend  aufhielt,  verbietet  sich 
durchaus,  schon  deshalb,  weil  dort,  wo  er  lebte  und  schrieb,  sicher- 
lich kein  KonkanT,  sondern,  wenigstens  vorzugsweise,  Tamil  ge- 
sprochen wurde.  Dafür  treten  u.  a.  beweisend  ein :  mjvaralicai  ^) 
die  unreife  Frucht  der  Bryonia  laciniosa ;  das  Sätzchen  Arruma- 
gamtumei  'möge  uns  der  Sechsgesichtige  helfen'  (GrGrA.  1916,  606); 
Nalle-Pamhou  (Tamil  nalla-pämhu  'die  gute  Schlange')  =  Sesa ;  die 
Götternamen  FuUeyar  (Fillaiyär,  Ganesa)  und  Velayadam  (=  Su- 
brahmanya;  GGA.  1916,  615);  der  Plural  Baxader;  die  Feminina 
Bramnate  (ebenda  S.  611  f.)  und  Andichi  'Frau  eines  Andi^  (De  la 
Flotte  192) ;  das  Wort  turumhii  'Strohhalm'  (Manucci  III  70).  Der 
Aufenthaltsort  des  Verfassers  muß  im  Süden  Indiens,  in  einer  Ge- 
gend, die  von  einer  Tamil  sprechenden  Bevölkerung  bewohnt  war, 
gesucht  werden.  Ich  meine,  diese  Gegend  ist  der  Korigudesa  (Kon- 
gamandalam) ,  d.  h.  der  Landstrich  Südindiens,  der  allgemein  mit 
den  heutigen  Distrikten  Coimbatore  und  Salem  (genauer:  mit  den 
südwestlichen  Täluks  von  Salem)  identifiziert  wird^).  Der  Koh- 
gudeäa  liegt  oder  lag  südlich  von  Maisüc.  Daß  aber  die  Portu- 
giesen das  genannte  Gebiet  mit  dem  Namen  Concäo  bezeichnet 
haben,  dafür  haben  wir  das  Zeugnis  des  Paulinus  ^)  in  seiner  India 

1)  S.  die  Belege  bei  Caland,  Drie  oude  Portugeesehe  Verhandelingen  S.  212  f. 

2)  Imperial  Gazetteer  of  India,  neue  Ausgabe,  X  358.  Coimbatore  heißt 
fioch  heute  Kongunäd.  Das  Dict.  Tamoul-Frangais  sagt:  Kongu,  pays  qui  fait 
partie  du  Malealam  ou  du  pays  malabare  et  meme  du  Coimbatour  et  du 
Maissour.  Die  Könige  des  Landes  werden  aufgezählt  in  der  Tamilchronik 
Kongudesaräjäkkal  (ein  Plural:  'die  Könige  des  Kongulandes'.  Lassen  I.  A.  II* 
1035  hat  fälschlich  Kongudesaräjakula  dafür  eingesetzt). 

3)  Auch   die  Landschaft  Concäo,   die  Paulinus   in   seiner  Reisebeschreibung 


über  die  Breve  Noticia  dos  erros  que  tem  os  Gentios  do  Concao  da  India.      J[5 

Orientalis  christiana  (Romae  1794).  In  der  Erklärung  der  dem 
Buche  beigegebenen  Karte  sagt  er  S.  235  f. :  In  mediterraneis  sub 
gradu  13.  usque  ad  11.  est  regnum  Concam,  quod  Lusitani 
scribunt  Concao,  et  Arabes  apud  Renaadotium  ^)  Kenkem,  und 
S.  237  bemerkt  er :  In  Pdlacaticsheri  incipit  Missio  Christiana  regni 
Concam,  et  inde  versus  ortum  excurrendo  numerat  paroecias 
Caramuttampatti,  Dharäburam,  Mettupäleam,  Pudupäri,  Cälcaveri, 
Calangäni,  Dharmapuri  ^).  Ob  die  Angaben  des  Paulinus  ganz 
richtig  sind,  namentlich,  ob  sie  für  die  Zeit  gelten,  in  der  der  Ver- 
fasser der  Breve  noticia  lebte,  muß  dahingestellt  bleiben.  Übrigens 
werden  dieselben  acht  paroeciae  oder  ecclesiae,  die  nach  S.  237  zur 
Mission  des  Reiches  Concam  gehören,  von  Paulinus  S.  159  zur  Mis- 
sion von  Concam  und  Maisür^)  gerechnet. 

Das  Concao  wurde  schon  früh  in  den  Wirkungskreis  der  Je- 
suiten gezogen.     Nach  Salem  unternahm  Roberto   de'  Nobili     der 

(deutsch  von  Forster,  Berlin  1798)  wiederholt  erwähnt,  ist  ohne  Zweifel  mit  dem 
Kongudesa  identisch.  Forster  irrt  sich,  wenn  er  in  dem  geographischen  Index, 
den  er  seiner  Übersetzung  beigefügt  hat,  S.  470  Concao  als  'ein  Reich  in  der 
Nachbarschaft  von  Bombay'  bezeichnet. 

1)  Gemeint  ist  S.  157  der  Anciennes  relations  des  Indes  et  de  la  Chine, 
Paris  1718. 

2)  Calangäni  kann  ich  nicht  identifizieren.  Über  die  andern  Orte  will  ich 
bemerken:  Cälcaveri  im  Salem  District  ist  noch  heute  Missionsstation  (Manual  of 
the  Salem  District  I  163).  Caramuttampatti  wird  von  Müllbauer  S.  226  als  Mis- 
sionsstation genannt.  In  Dharäburam  im  Coimbatore  District  bestand  bereits 
1608  eine  Kapelle  der  Jesuiten  (Sewell,  Lists  I  219.  Imperial  Gazetteer  X  361). 
In  Dharmapuri  (Salem  District)  residierten  die  Missionare  Susiapere  Swämiar  und 
Antoniar,  die  im  J.  1675  von  Joäo  de  Brito  besucht  wurden  (Salem  District  Ma- 
nual I  165).  Mettupäleam  (Mettupälaiyam)  liegt  in  Coimbatore  am  Fusse  der 
Nilagiris  (Sewell  I  217;  ein  andrer  Ort  desselben  Namens  ib.  219).  Pdlacäticsh^ri 
(Pälakkäduseri),  an  dem  Paß  zwischen  Malabar  und  Coimbatore  im  heutigen  Ma- 
labar  District,  ist  nach  Fra  Paolino,  Reise  S.  177  vgl.  141  die  letzte  im  Westen 
befindliche  Stadt  des  Königreichs  Concam.  Zu  Pudupäri  vgl.  Budhapadi  oder 
Budapari  (in  Maisür)  bei  Fra  Paolino  S.  35 ,  Pudäppadi  in  den  Hallischen  Mis- 
sionsberichten III  807. 

3)  In  der  Nähe  von  Maisür  lebte  der  Verfasser  der  Breve  noticia 
sicherlich;  zeigt  er  sich  doch  vertraut  mit  einem  eigentümlichen,  zu  seiner  Zeit 
in  Maisür  herrschenden  Brauche.  De  la  Flotte  S.  257  f.  berichtet  darüber:  *Un 
genre  de  cruaute  inouie  qui  existe  dans  les  Etats  du  M  a  i  s  s  o  u  r,  c'est  que,  lors- 
qu'il  nait  un  enfant  au  Roi,  on  envoie,  par  le  conseil  des  Brames,  mettre  le  feu 
ä  plusieurs  villages  pour  tirer  Thoroscope  de  cet  enfant,  et  comme  les  maisons 
sont  presque  toutes  couvertes  de  chaume,  elles  s'embräsent  avec  tant  de  vivacite, 
que  la  plüpart  des  habitaus  perdent  souvent  la  vie  avec  leurs  biens'.  Dasselbe 
berichten  Manucci  III  52  (wo  aber  das  Reich  Maisür  nicht  genannt  wird)  und 
Jacquet,  Inde  Frani^aise  II,  35  n.  2  nach  den  'anciens  voyageurs'.  Was  für  Rei- 
sende meint  er?     Sollte  er  nicht  aus  der  Relation  des  erreurs  geschöpft  haben? 


Iß  The'odor  Zachariae, 

Begründer  der  Madura-Mission,  seine  erste  Missionsreise  außerhalb 
Madaras  (1623).  Der  erste  Ort,  wo  er  verweilte,  war  Öendaman- 
galam^).  Es  ist  nicht  unmöglich,  daß  der  Verfasser  der  Breve 
noticia  zu  den  Missionaren  gehörte,  die  Nobili,  nach  dem  Zeugnis 
des  Paulinus,  ins  Concäo  schickte :  Prosperum  suorum  laborum  suc- 
cessum  perspiciens  advocat  alios  socios,  quos  mittit  in  regnum  Con- 
cam, seu  ut  Lusitani  scribunt  Concao,  quod  tunc  regi  Ma- 
dhurensi  subjectum  erat  (India  er.  christiana  p.  155). 

Wie  aber  lautet  der  Name  des  Verfassers  der  Breve  noticia? 
Dellon,  der  den  Verfasser  persönlich  gekannt  zu  haben  behauptet, 
hat  den  Namen  leider  nicht  genannt.  Und  auch  wenn  uns  ein 
vollständiges  Manuskript  der  Breve  noticia  zugebote  stünde,  so 
würden  wir  hier  den  Namen  des  Verfassers  schwerlich  angegeben 
finden:  die  Breve  noticia  ist  ein  anonymes  Werk,  genau  so  wie 
die  beiden  Abhandlungen,  die  Caland  und  Fokker  in  den  'Drie 
oude  Portugeesche  Verhandelingen'  an  erster  und  zweiter  Stelle 
veröffentlicht  haben. 

Nun  aber  besteht  eine  bestimmte  Überlieferang,  wonach  der 
berühmte  Jesuitenmissionar  Joäo  deBrito^)  der  Verfasser  der 
Breve  noticia  gewesen  ist.  Auf  diese  wenig  bekannte,  z.  B.  von 
Backer-So mmervogel  gar  nicht  erwähnte  Tatsache  hat  zuerst  Ca- 
land ^)  hingewiesen.  Paulinus  zitiert  in  verschiedenen  seiner  Werke, 
besonders  häufig  im  Systema  Brahmanicum,  die  Breve  noticia  unter 
dem  Namen  des  Brito.  Dasselbe  tut,  erheblich  früher,  der  Ver- 
fasser der  Religion  des  Malabars.  Dazu  kommt  ein  Zeugnis  in 
Norberts  M^moires  historiques  (Besancon  1747),  ein  Zeugnis,  das 
ich  nicht  übergehen  möchte.  In  einem  Briefe  vom  7.  September 
1740  bei  Norbert  II  408  ff.  ist  von  der  Seligsprechung*)  des  Brito 
die  Rede.  Über  dieselbe  Angelegenheit  finden  wir  in  einem  an- 
deren Briefe  (vom  16.  Sept. ;  bei  Norbert  IL  412  ff.)  die  folgende 
Bemerkung : 

Apr^s  avoir  acheve  ma  lettre,    j'ai   re9u  de  M.  l'Eveque  ^)    de  Me- 


1)  Müllbauer  S.  196  ff.     Manual  of  the  Salem  District  I,  47.  164.  165. 

2)  Brito,  geboren  1647  in  Lissabon,  wirkte  von  1673  bis  1693  in  Indien. 
Am  4.  Februar  1693  erlitt  er  den  Märtyrertod.  Der  Name  wird  oft  Britto  ge- 
schrieben; aber  Brito  schreiben  portugiesische  Autoritäten  wie  Barbosa  Machada 
(Bibliotheca  Lusitana  II  613)  und  Francisco   de  S.  Maria  (Anno  historico  I  212). 

3)  De  auteur  der  derde  oude  Portugeesche  verhandeling  over  het  Hindoeisme. 

(Toevoegsel  aan  de  verhandeling Drie  oude  Portugeesche  verhandelingen 

over  het  Hindoeisme.)    Amsterdam,  November  1915. 

4)  Diese  erfolgte,  nach  Backer-Sommervogel  11  191,  am  18.  Mai  1852. 

o)  Kaum   dreißig  Jahre   nach  Britos  Tod   yrurde   vom  Bischof  zu  Meliapor 


über  die  Breve  Noticia  dos  erros  que  tem  os  Gentios  do  Concäo  da  India.        17 

liapure  une  lettre  Pastorale,  avec  ordre  expres  de  la  lire  k  la  grande 
Messe  et  de  Tafficher  ä  la  porte  de  nos  Eglises;  ce  que  nous  avons 
execute  avec  la  derniere  exactitude.  Cette  Pastorale  contenoit  un  Man- 
dement  de  la  S.  CoDgregation  des  Kits  sur  deux  questions:  Savoir  si 
quelques-uns  de  nos  Chr^tiens  avoient  connoissance  d'un  livre  intitul6 
La  vie  de  T Idole  Brach mane,  traduit  du  Malabare  en  Portugais 
par  leE.  P.  Jean  deBritto  Missionnaire  de  la  Societe  de  Jesus 
dans  le  Boyaume  de  Tanjaours.  En  second  lieu,  si  quelqu'un  possedoit 
ou  avoit  vu  l'image  de  ce  Pere  avec  des  habits  de  Gentils. 

Im  Folgenden  ist  leider  nur  von  dem  Bildnis  des  Brito  die 
Rede.  Das  Buch  aber,  worauf  sich  die  erste  Frage  der  Riten- 
kongregation bezieht,  das  Buch,  das  der  P.  Jean  de  Brito  von  der 
Gesellschaft  Jesu  aus  dem  Malabarischen  d.  h.  aus  dem  Tamil  ins 
Portugiesische  übersetzt  haben  soll,  ist  kein  anderes  als  die  No- 
ticia dos  erros,  zitiert  u.  d.  T.  La  vie  de  l'Idole  Brachmane.  Einer 
der  ersten  Abschnitte  der  Noticia  führt  nämlich  die  Bezeichnung : 
Da  vida  deBroumha  (Religion  des.  Malabars  II  8.  10 ;  vgl. 
N.  Journ.  Asiatique  X  470.  Manucci  III  7). 

Es  i'ragt  sich  aber  sehr,  ob  die  Überlieferung,  wonach  Brito 
die  Breve  noticia  verfaßt  hat,  glaubwürdig  ist.  Selbst  die  Autori- 
täten, die  das  Werk  unter  dem  Namen  des  Brito'  zitieren,  sind 
ihrer  Sache  nicht  sicher.  Der  Verfasser  der  Religion  des  Malabars 
sagt  an  zwei  Stellen  (II  1.  8)  ausdrücklich,  daß  man  die  Noticia 
dem  Brito  nur  zuschreibt.  Dasselbe  tut  Paulinus  in  der  Gram- 
matica  Samscrdamica  p.  3,  wo  'Anonymus  quidam  e  S.  J.  Mis- 
sionarius'  als  der  Verfasser  der  Noticia  bezeichnet  und  der  Name 
Brito  nur  in  der  Anmerkung  z.  d.  St.  genannt  wird;  und  in  der 
India  orientalis  christiana  p.  231  n.  leitet  Paulinus  ein  Zitat  aus 
dem  6.  Kapitel  der  Noticia  mit  den  Worten  ein :  'Si  P.  Joanni  de 
Britto,    seu   auctori   libri    manuscripti:    Breve  noticia  dos 

erros ,    credimus,   regum   Bisnagari,    Maissur,    et  Concam 

auctoritas  et  regimen  absolut  um,  asper  um,  et  tyrannicum  erat'. 

Es  scheint  in  der  Tat,  als  hätte  man  dem  Brito  die  Noticia 
nur  zugeschrieben,  weil  er  ein  berühmter  Mann  war:  genau  so, 
wie  man  den  noch  berühmteren  Jesuitenmissionar  R.  de'  Nobili 
zum  Verfasser  der  Relation  des  erreurs  gestempelt  hat  (s.  oben 
S.  9).  Auch  lassen  i^ich  Gründe  anführen,  wonach  sich  Britos 
Verfasserschaft  als  wenig  wahrscheinlich,  ja  als  fast  unmöglich 
herausstellt.  Sicherlich  besaß  Brito  die  Begabung  und  die  Kennt- 
nisse,   die  ihn  zur  Abfassung  einer  Schrift  über  die  Religion   und 


auf  Anordnung   der  Kongregation   der  Riten   in  Rom   der  Informationsprozeß  be- 
züglich der  Beatifikation  eingeleitet.    (Müllbauer  S.  235.) 

Kgl.  Ges.  d.  Wiss.    Nachrichten.    l»hil.-hist.  Klasse.    1918.    Hek  1.  2 


18  Theodor  Zachariae, 

die  Sitten  der  indischen  Heiden  befähigten.  Liest  man  aber  die 
Biographien  des  Brito  oder  auch  nur  das,  was  Müllbauer  S.  231  ff. 
über  ihn  berichtet,  so  kommt  man  zu  der  Überzeugung,  daß  Brito 
während  seiner  angestrengten  Missionstätigkeit  die  für  literarische 
Arbeiten  nötige  Ruhe  und  Muße  nicht  gefunden  haben  kann.  Dem, 
was  J.  H.  Nelson  ^)  über  diesen  Punkt  bemerkt  hat,  wird  man  nur 
beistimmen  können. 

Ferner  dürfen  wir  nicht  vergessen,  was  Dellon  über  das  von 
ihm  übersetzte  MS.  der  Breve  noticia  berichtet.  Er  will  es  von 
dem  Verfasser,  einem  Missionar,  im  J.  1676  auf  der  Fahrt  von 
Groa  nach  Lissabon  erhalten  haben.  Ist  dieser  Bericht  glaubwürdig 
—  was  allerdings  zweifelhaft  ist  — ,  so  kann  Brito  unmöglich  der 
Verfasser  sein.  Brito  kam  erst  1673  nach  Indien  und  brachte  zu- 
nächst einige  Zeit  in  Goa  zu,  um  seine  theologischen  Studien  zu 
vollenden  (Müllbauer  S.  231).  Vor  dem  Jahre  1676  war  er  kei- 
nesfalls imstande,  eine  Schrift  über  'die  Irrtümer  der  Heiden  des 
Concäo'  zu  verfassen.  Außerdem  soll  der  Verfasser  dieser  Schrift, 
nach  Dellons  Bericht,  im  J.  1676  auf  der  Fahrt  nach  Europa  ge- 
storben sein.  Aber  Brito  trat  erst  1688  eine  Reise  nach  Europa 
an;  er  starb  auch  nicht  auf  der  Überfahrt,  sondern  erst  1693  in 
Indien. 

Endlich  ist  eine  bestimmte  Zeitangabe,  die  uns  im  16.  Kapitel 
der  französischen  Übersetzung  entgegentritt,  zu  beachten.  Danach 
soll  das  Kaliyuga  vor  48448  Jahren  begonnen  haben.  Diese  An- 
gabe ist  allerdings  höchst  sonderbar  ^).  Auch  weichen  die  Parallel- 
texte ab ;  bei  Manucci  (vgl.  III  33)  lautet  die  Zahl  quatre  cents 
mille  quatre  cents  quarante  huict,  bei  De  la  Flotte  242 :  quarante 
mille  quatre  cens  quarante-huit.  Indessen  stimmen  die  Zehner 
und  Einer  in  allen  drei  Angaben  überein.  Es  ist  daher  wahr- 
scheinlich,   daß   sichs   um   das  Jahr  48   irgend  eines  Jahrhunderts 


1)  The  Madura  country,  Madras  1868,  part  IIL,  p.  223 :  Though  sufficiently 
qualified  by  his  talents  and  by  bis  education  to  be  an  author,  De  Britto  did  not 
Imitate  the  example  of  Robert  de  Nobilibus;  and  if  he  was  the  author  of  any 
works,  they  have  perished  and  nothing  is  known  of  them.  It  seems  probable 
however  that  his  purely  missionary  labors  occupied  his  whole 
time  and  attention  and  left  him  no  leisure  for  composition  .  .  .  . 
Whilst  Robert  has  left  behind  him  voluminous  and  able  contributions  to  polemical 
literature,  John  has  left  nothing  but  a  series  of  letters,  adniirable  as  memorials 
of  the  life  and  labors  of  a  truly  pious  man  but  of  no  great  literary  value.  — 
Zu  bemerken  ist  hierzu,  daß  Nelson  von  der  Noticia  dos  erros,  die  dem  Brito 
zugeschrieben  wird,  offenbar  keine  Kenntnis  besaß. 

2)  Eine  andre  sonderbare  Angabe  über  die  Dauer  des  Kaliyuga  findet  man 
in  einem  Briefe  des  P.  De  la  Lane  v.  J,  1709  (Lettres  ^difiantes  XI  232). 


über  die  Breve  Noticia  dos  erros  que  tem  os  Gentios  do  Concäo  da  India.       19 

des  Kaliyuga,  d.  h.  um  das  Jahr  47  eines  christlichen  Jahrhunderts 
handelt.  Da  aber  nur  das  17.  Jh.  der  christlichen  Ära  in  Frage 
kommen  kann,  so  gewinnen  wir  das  Jahr  1647  als  das  Jahr,  wo 
die  Breve  noticia  geschrieben  wurde  ^).  Der  Annahme,  daß  diese 
Schrift  wirklich  so  alt  ist,  steht,  soviel  ich  zu  sehen  vermag,  nichts 
•entgegen.  Ist  aber  1647  das  Abfassungsjahr,  so  kann  Brito  un- 
möglich der  Verfasser  sein,  denn  er  erblickte  erst  i.  J.  1647  das 
Licht  der  Welt. 

In  diesem  Zusammenhang  will  ich  noch  auf  ein  anderes  Datum 
aufmerksam  machen.  Wenn  die  unten-)  aus  der  Relation  des 
erreurs  angeführte  Stelle  wörtlich  aus  dem  portugiesischen  Original 
übersetzt  ist  —  woran  ich  nicht  im  geringsten  zweifle  — ,  so  muß 
der  Verfasser  der  Noticia  elf  Jahre  in  der  Madura- Mission  tätig 
gewesen  sein,  als  er  seine  Abhandlung  niederschrieb. 

Ich  glaube  gezeigt  zu  haben,  daß  die  Überlieferung,  wonach 
Joäo  de  Brito  der  Verfasser  der  Noticia  war,  auf  sehr  schwachen 
J^üßen  ruht.  Dennoch  wäre  es  möglich,  daß  dieser  Überlieferung 
etwas  Wahres  zugrunde  liegt  ^).  Vielleicht  war  nicht  der  berühmte 
Joäo  de  Brito  der  Verfasser,  sondern  irgend  ein  andrer,  weniger 
bekannter  Brito.  Es  hat  verschiedene  Jesuitenmissionare  mit  dem 
Namen  Brito  gegeben,  die  in  Indien  wirkten.  Da  ist  vor  allen 
der  P.  Emmanuel  de  Brito  zu  nennen,  der  i.  J.  1657  nach  Indien 
^ing  und  daselbst  am  23.  Dez.  1671  starb*).  Seine  Residenz  war 
Congupatti  (Kongupatti).  Ich  kann  diesen  Ort  nicht  identifizieren. 
Doch  geht  aus  dem  Namen  selbst  sowie  aus  den  Angaben  Müll- 
bauers hervor,  daß  der  Ort  im  Kongudeäa  d.  h.  im  Concäo  zu 
suchen  ist,  in  der  G-egend  also,  wo  der  Verfasser  der  Noticia 
gewohnt  haben  muß.  Ich  nenne  noch  den  Erzbischof  Stephan 
Britto^)  und  den  P.  Johannes  de  Brito  'den  Jüngeren'  (Müllbauer 
:S.  237). 


1)  Die  obigen  Ausfiihrungen  gründen  sich  auf  eine  Mitteilung,  die  ich  Herrn 
Prof.  Jacobi,  einer  Autorität  auf  dem  Gebiete  der  indischen  Chronologie,  verdanke. 

2)  Voilä  ce  que  m'ont  permis  de  reconnaitre  de  frequens  rapports  avec  les 
Malabars,  pendant  les  onze  annees  que  j'ai  assiste  ä  la  mission  du  Madure 
(Nouveau  Journal  Asiatique  X  474.) 

3)  Auf  diese  Möglichkeit  hat  mich  Herr  Prof.  Caland  in  einer  briefliclu  n 
Mitteilung  hingewiesen. 

4)  A.  Franco ,  Annus  gloriosus  Societatis  Jesu  in  Lusitania,  Viennae  1720, 
-p.  750,  Müllbauer  S.  222.  Caland  verweist  mich  auf  das  mir  nicht  zugängliche 
Buch  von  Auguste  Jean:  Le  Madure,  l'ancienne  et  la  nouvelle  mission,  Bruxelles 
1894,  p.  74. 

5)  Müllbauer  S.  297  ff.  Aus  einer  Schrift  des  (oder  eines?)  Stephanus  de 
Brito  wird  eine  Stelle  zitiert  von  Samuel  Purchas,  Pilgrimage  (London  1626)  p.  554. 

2* 


20  Theodor  Zach ariae, 

Ich  gebe  jetzt  eine  Übersicht  über  die  in  der  Noticia  behan- 
delten Stoffe^).  Vorausgeschickt  sei,  daß  die  Kapiteleinteilung 
des  portugiesischen  Originals,  wie  aus  Anführungen  bei  Paulinus 
u.  s.  w.  hervorgeht,  nur  in  der  Relation  des  erreurs  unversehrt 
erhalten  ist.  Beide  Texte,  die  Noticia  und  die  Relation,  umfassen 
sieben  Kapitel.  Dagegen  weichen  Manucci  und  die  französische 
Übersetzung  in  der  Zählung  der  Kapitel  mehr  oder  weniger 
vom  Original  ab,  und  De  la  Flotte  zählt  die  Kapitel  überhaupt 
nicht.  Doch  sind  die  Überschriften  der  Kapitel  und  vermut- 
lich auch  die  der  Unterabteilungen  (Paragraphen)  in  den  drei  zuletzt 
genannten  Paralleltexten  aus  dem  portugiesischen  Original,  größten- 
teils wörtlich,  übernommen  worden.  Ich  werde  dies  an  einigen 
Beispielen  zeigen.  Eine  genaue  Aufzählung  aller  Überschriften 
würde  zu  viel  Raum  beanspruchen. 

Das  erste  Kapitel  handelt  von  G-ott  und  seinem  Wesen;  vo» 
den  drei  großen  Gröttern  der  'falschen  Trinität'  (Brahma,  Visnu^. 
Rudra).  Bei  Manucci  entspricht  Kap.  I  (Bd.  III  S.  3 — 22  in  Irvines 
Übersetzung);  in  der  fianzösiscben  Übersetzung:  Kap.  I — X;  bei 
De  la  Flutte:  S.  163—198. 

Kap.  II:  Was  die  Heiden  vom  Paradies  und  von  der  Hölle 
sagen;  =  Manucci  Kap.  II,  frz.  Übersetzung  Kap.  XI— XII,  De 
la  Flotte  S.  221—233. 

Kap.  III:  Von  der  Seele;  =  Manucci  Kap.  III,  frz.  Über-^ 
Setzung  Kap.  XIII,  De  la  Flotte  S.  233—234. 

Kap.  IV:  Was  die  Heiden  von  dieser  Welt  sagen;  von  den 
Planeten;  von  den  Zeitaltern.  Manucci  Kap.  IV — V,  frz.  Über- 
setzung Kap.  XIV-  XVI,  De  la  Flotte  S.  234—244. 

Kap.  V:  Vom  Menschen  (Kasteneinteilung) ''^).  Manucci  Kap.  VI;, 
frz.  Übersetzung  Kap.  XVII  (Ce  que  les  Indiens  croyent  de  l'homme. 
Über  Kap.  XVIII— XIX  der  frz.  Übersetzung  vgl.  oben  S.  7); 
De  la  Flotte  S.  246-250.  Manucci  gibt  in  seinem  IX.  Kapitel 
(Bd.  III  S.  68),  worin  er  die  Hochzeitsbräuche  behandelt,  einen 
Verweis  auf  das  V.  Kapitel.  Diesen  Verweis  scheint  er  wörtlich 
dem  portugiesischen  Original  entnommen  zu  haben ;  denn  die  Stelle, 


1)  Zu  einer  genaueren  In!  aUsaugabe  felilt  es  mir  an  Kaum.  Übrigens  sind 
die  französische  Übersetzung  der  Notiria  (in  Calands  Ausgabe  der  holländischen 
Übersetzung)  sowie  Manuccis  Übersetzung  (in  Irvines  englischer  Übersetzung)  leicht 
erreichbar. 

2)  Aus  diesem  Abschnitt  wird  ein  längeres  Zitat  in  der  Religion  des  Malabars- 
II,  1  gegeben,  und  zwar  soll  es  aus  dem  vierten  Kapitel  des  Originals  staminen,. 
Ich  weiß  zur  Zeit  keine  sichre  Erkläining  für  diese  Angabe  zu  liefern. 


über  die  Breve  Noticia  dos  erros  que  tem  os  Gentios  do  Concäo  da  India        21 

worauf  sich  der  Verweis  bezieht,  steht  bei  ihm  selbst  nicht  im  V., 
sondern  im  VI.  Kapitel. 

"Wir  kommen  jetzt  zu  den  Abschnitten  des  Originals,  die  nur 
in  den  Übersetzungen  Manuccis  und  De  la  Flottes  einigermaßen 
vollständig  erhalten  sind. 

Das  VI.  Kapitel  führt  nach  Paulinus,  India  or.  christiana  p.  160 
im  Original  den  Titel:  *Da  Politica,  Groverno,  e  costumes 
destes  Grentios  etc.';  bei  Manucci:  'De  la  Politesse,  Gouverne- 
ment et  Coutumes  que  les  Grentils  observent  entre  eux'.  Der  Titel 
von  Kap.  VI  §  2  lautet  nach  Paulinus  1.  c.  p.  231  n.:  *Do  modo  do 
governo  que  guardäo  entre  sy'  =  'De  la  maniere  de  Gouverne- 
ment qu'ils  ont  parmi  eux'  bei  Manucci. 

Dem  VI.  Kapitel  des  Originals  entspricht  Kap.  VII — IX 
S.  37-73  bei  Manucci,  und  S.  251-312  bei  De  la  Flotte.  Daß 
De  la  Flotte  (oder  bereits  seine  Vorlage?)  eine  Umstellung  der 
Paragraphen  dieses  Kapitels  vorgenommen  hat,  ist  oben  S.  12 
bemerkt  worden.  Größere  Zitate  aus  Kap.  VI  finden  sich  in  der 
Religion  des  Malabars  II  1.  8.  19. 

Das  VI.  Kapitel  ist  nicht  nur  das  umfangreichste,  sondern 
unstreitig  auch  das  wichtigste  und  interessanteste  Kapitel  der 
portugiesischen  Abhandlung.  Der  Autor  handelt  hier  von  den 
Grußformen,  von  Kleidung  und  Wohnung,  von  der  Art  wie  man 
ißt,  von  erlaubten  und  verbotnen  Speisen,  von  der  Regierung,  von 
der  Art  wie  man  die  Steuern  eintreibt,  vom  Kriege  (leur  maniere 
de  faire  la  guerre,  De  la  Flotte  p.  258).  Besonders  ausführlich 
behandelt  er  die  Hochzeitsbräuche:  nach  einigen  allgemeinen  Be- 
merkungen bespricht  er  der  Reihe  nach  die  Bräuche  der  Brah- 
manen,  Räjas,  Kaufleute,  Südras  und  Parias.  Zuletzt  folgt  eine 
Darstellung  der  Toten-  und  Bestattungsgebräuche. 

Ich  kann  es  mir  nicht  versagen,  aus  dem  Abschnitt  über  die  Hoch- 
zeitsbräuche Einiges  hervorzuheben.  Wenn  ein  Brahmane,  der 
zu  heiraten  wünscht,  seinen  zukünftigen  Schwiegervater  um  die  Hand 
seiner  Tochter  gebeten  hat,  so  verläßt  er  das  Haus  der  Braut  und  betritt 
ein  anderes  Haus,  wo  ihn  die  Verwandten  der  Braut  erwarten.  Nachdem 
er  sich  eine  Zeit  lang  mit  ihnen  unterhalten  hat,  gibt  er  vor,  zornig  zu 
sein,  steht  plötzlich  auf,  zieht  ein  Paar  alte  Schuhe  an,  nimmt  einen 
Stab  in  die  Hand,  steckt  ein  Buch  unter  seinen  Arm  und  sagt,  daß  er 
eine  Pilgerfahrt  antreten  wolle.  Er  geht  wirklich  weg,  wird  aber 
alsbald  von  den  Verwandten  der  Braut  zurückgeholt  mit  dem  Versprechen, 
ihn  ohne  Verzug  zu  verheiraten  (Manucci  III  56  vgl.  IV  441).  Diese 
von  dem  Portugiesen  gut  geschilderte,  auch  unter  den  Bräuchen  der 
Räjas  (s.  Manucci  III  62)  erwähnte  Zeremonie  heißt  paradesapravesa  oder 
(gewöhnlich)  Kasiyatra  und  wird  namentlich  von  den  Vaidiki  Brahmanen 
in  Südindien  geübt;  s.  Thurston,  Ethnogi-aphic  Notes  in  Southern  India 


I  Theodor  Zachariae, 

p.  1,  Gastes  and  Tribes  of  Southern  India  I  279.  357.  369.  Sie  kommt 
aber  auch  vor  bei  den  Pallans  und  Kamsälas  (Ethnographie  Notes  26  f.y 
Gastes  and  Tribes  Y  479.  III  146),  bei  den  Devängas,  Kavarais,  Kömatis 
und  bei  den  Räzus  oder  Räjus  (Gastes  and  Tribes  II  163.  III  264.  332. 
VI  253).  Aus  dem  weiteren  Verlauf  der  brahmanischon  Hochzeitsfeier- 
lichkeiten führe  ich  an :  Les  parents  le  (le  mari^)  relevent  par  la  main  et 
le  fönt  assoir  conjointement  avec  la  mariee  sur  un  balancier  fait  de 
planches  qui  est  attache  avec  des  cordes  a  une  solive,  puis  les  uns  les 
fönt  balancer  et  les  autres  chantent  leur  louanges  (soManucci;. 
8.  Manucci  11156  vgl.  58;  ausführlicher  De  la  Flotte  290).  Vgl.  dazu 
Thurston,  Gastes  and  Tribes  VII  258 :  During  the  marriage  ceremonies 
of  Brähmans  and  some  non  -  Brähman  castes ,  the  bride  and  bridegroom 
are  seated  in  a  swing  within  the  marriage  booth,  and  songs  called 
uyyäla  patalu  (swing  songs)  are  sung  by  women  to  the  accompaniment 
of  music;  I  280  (Brahmanen) ;  III  332  (Kömatis);  VI  255  (Räzus) i).  — 
Von  der  Witwenverbrennung  handelt  der  Portugiese  an  zwei 
Stellen;  s.  Manucci  III,  60.  65  f.  —  In  dem  Abschnitt  über  die  Bräuche 
der  Räjas  ist  das  Fischorakel  bemerkenswert.  'Ils  (les  nouveaux  mariez) 
jettent  dans  un  grand  vaisseau  qui  est  la  tout  prest  et  plein  d'eau  un 
poisson  imaginaire  fait  d'une  drogue  qui  est  comme  de  la  farine, 
et  qu'un  des  parents  des  nouveaux  mariez  tient  par  une  corde  le  faisant 
aller  d'un  cot^  et  dautre  autour  de  leau;  alors  le  marie  pour  montrer 
son  adresse  tire  une  petite  fleche  avec  un  are  sur  le  poisson;  et  si  il  le 
touche,  tout  le  monde  chante  ses  louanges  et  dit  qu'il  est  fort  adroit 
au  maniment  des  armes ,  fort  vaillant  et  fort  fortune ;  et  si  il  manque 
ils  le  disent  malheureux  et  maladroit'.  So  Manucci  III  64  (Berliner  Hs.). 
Daß  es  sich  bei  der  Zeremonie  um  ein  Orakel  handelt,  tritt  in  dem 
Paralleltext  De  la  Flotte  S.  300  f.  besser  hervor.  übrigens  läßt  dieser 
Autor  die  Braut,  nicht  den  Bräutigam,  nach  dem  künstlichen  Fisch 
schießen.  Dieselbe  Abweichung  in  einer  Mitteilung  Jacquets  (Inde  Fran- 
Qaise  II  12,  wo  die  Braut  drei  Pfeile  abschießt).  Hat  er  aus  der  Re- 
lation des  erreurs  geschöpft  ?  —  Ausgehend  von  einer  Stelle  im  Baudhä- 
yanagrhyasütra ''')  habe  ich  diese  Zeremonie,  und  verwandte  Zeremonien  ^), 


1)  Der  Brauch  wird  niclit  erwähnt  von  Frazer*  in  dem  Exkurs  'Swinging  as 
a  magical  rite',  Golden  Bough^  II  449—56.  Eine  Puppe  ist  an  die  Stelle  der 
Brautleute  getreten  in  dem  Brauche,  den  Crooke,  Folk-Lore  XI  (1900)  p.  23 
schildert:  When  in  Madras  the  Reddi  brings  home  bis  bride,  a  swing  is  hung 
from  the  house-beam,  a  wooden  doli  is  hung  in  it,  and  swung  by  husband  and 
wife,  while  the  women  sing  songs,  obviously  a  charm  to  make  tbeir  union 
fertile. 

2)  I  13.  Vgl.  dazu  Faweett  im  Madras  Government  Museum  Bulletin  III 
(1900)  p.  65  und  Thurston,  Castes  and  Tribes  V,  202,  wo,  anders  als  bei  Baudhä- 
yana,  ein  Brahmacärin  eine  Frage  an  den  Bräutigam  richtet. 

3)  Zu  der  in  der  WZKM.  18,  300  aus  Baldaeus,  Abgötterey  S.  606  ange- 
führten Stelle  stimmt  Faria  y  Sousa,  Asia  Portuguesa  114,6,2:  [Los  Nobios] 
vienen  a  un  caldero  de  agua  que  estä  prevenido  con  pecesvivos;  ycdun 
pano  que  toman  los  dös ,  cada  uno  per  su  punta ,  van  pescando  como  con  red. 
Cogidos  los  peces,  tomanlos  reverentemente  con  la  mauo  derecha,  y  ponenlos  sobre 
las  cabe^as.    Green  que  si  cogieren  muchos,  tendran  muchos  hijos,  y  al  contrario. 


über  die  Breve  Noticia  dos  erros  que  tem  os  Gentios  do  Concäo  da  India.       23 

ausführlich  besprochen  in  der  Wiener  Zs.  f.  d.  Kunde  des  Morgenlandes 
18,  299  ff.  22,  431  ff.  Siehe  noch  Thurston,  Gastes  H  306.  IV  87.  V  203. 
VI  240.  —  In  dem  Abschnitt  über  die  Bräuche  der  'marchands  ou  bouti- 
quiers'  d.  h.  der  Kömatis  (Manucci  III  67  ff. ;  bei  De  la  Flotte  ausgelassen) 
ist  die  Angabe  von  Interesse,  dal5  die  Kaufleute  nicht  heiraten  können, 
ohne  den  Schuhmacher  des  Ortes  vorher  zu  benachrichtigen,  also  ojine 
ihn  um  Erlaubnis  zu  bitten.  Als  Grund  wird  angeführt,  daß,  der  Sage 
nach,  die  Kaste  der  Komatis  aus  der  Verbindung  eines  Brahmanen  mit 
der  Frau  eines  Schustere  hervorgegangen  ist.  Zu  der  Sitte  und  ihrer 
Begründung  vgl.  Baines,  Ethnogi-aphy  p.  36.  Thurston,  Ethnographie 
Notes  88  ff. ,  Gastes  and  Tribes  III  325  ff.  —  In  dem  Abschnitt  über 
die  Öüdra  -  Hochzeiten  beschränkt  sich  unser  Autor  auf  wenige  Bemer- 
kungen über  die  Bräuche,  die  in  der  Kaste  der  D  i  e  b  e  (d.  h.  der  Kallana 
nach  Irvine  zu  Manucci  III  69)  üblich  sind.  Bei  diesen,  sowie  bei 
einigen  andren  niedrigen  Kasten,  herrscht  eine  'barbarische'  Sitte :  Wenn 
ein  Mann  seiner  Frau  überdrüssig  ist,  so  übergibt  er  ihr  einen  Stroh- 
halm, 'den  man  Turumbo  (Tamil  turumbu)  nennt',  und  die  Ehe  gilt  als 
geschieden.  Auch  kann  sich  eine  Frau  ihres  Mannes  entledigen,  indem  sie 
ihn  nötigt,  ihr  den  Strohhalm  zu  geben  (Manucci  III  70 ;  De  la  Flotte  306). 
In  Übereinstimmung  damit  schreibt^)  Thurston,  Gastes  III,  79  nach  dem 
Census  Report  v.  J.  1891 :  As  a  token  of  divorce  a  Kallan  gives  bis 
wife  a  piece  of  straw  in  the  presence  of  bis  caste  people.  In  Tamil 
the  expression  'to  give  a  straw'  means  to  divorce,  and  'to  take  a  straw' 
means  to  accept  divorce. 

Das  VII.  Kapitel  führt  im  Original  den  Titel:  Do  conceito 
que  estes  Gentios  tem  dos  Europöos;  bei  Manucci:  De  lo- 
pinion  qu'ont  les  Gentils  des  Europiens  et  des  Maure  s^);  in  der 
Relation  des  erreurs :  De  Topinion  que  les  Malabars  ont  des  Euro- 
peens  ou  Paranguis;  bei  De  la  Flotte  321:  Prejug^s  des  Indiens 
contre  les  Europeens.  Von  dem  Inhalt  dieses  Kapitels  können  wir 
uns 'ein  ziemlich  genaues  Bild  machen,  da  wir  außer  der  Wieder- 
gabe bei  Manucci  und  De  la  Flotte  ein  großes  Stück  des  VII.  Ka- 
pitels der  Relation  des  erreurs  in  Jacquets  Veröffentlichungen 
(s.  oben)  und  zwei  größere  Bruchstücke  des  Originals  (zitiert  in 
der  Religion  des  Malabars  II 12)  zur  Verfügung  haben.    Aus  einer 

1)  S.  auch  Jacquet,  Inde  Frangaise  II  8  n. :  Les  Tamouls  norament  la  repu- 
diation  touroumhou,  litteralement  paille,  parce  que  le  mari  la  signifie  en  rompant 
un  fetu  de  paille  dont  un  beut  est  entre  ses  doigts  et  l'autre  entre  ceux  de  son 
epouse.  —  Zum  Brechen  des  Strohhalms  vgl.  Baldaeus  S.  608». 

2)  Manucci  beginut  das  Kapitel  mit  dem  Satze:  *Les  Gentils  apellent  tous 
les  Europiens  et  les  Maures,  qui  sont  aux  Indes,  faranguis'.  Daran  hat 
Irvine  (zu  Manucci  III  73)  Anstoß  genommen,  indem  er  schreibt:  'This  inclusion 
of  Mahomedans  among  Farangis  is  an 'exceedingly  disputable  Statement'.  Ich  be- 
merke dazu,  daß  Manuccis  Behauptung  —  die  Ausdehnung  des  Namens  Faranguis 
auf  die  Muhammedaner  —  sicherlich  nicht  in  seiner  Vorlage,  dem  portugiesischen 
Original,  gestanden  hat.  Die  andern  Ausflüsse  des  Grundwerks,  die  Relation  des 
erreurs  (N.  Journ.  Asiatique  X  473)  und  de  la  Flotte,  Avissen  nichts  davon. 


24  Theodor  Zach ariae, 

Vergleich ung  der  genannten  Texte  ergibt  sich,  daß  Manucci  und 
De  la  Flotte  wohl  den  Anfang  des  Kapitels  annähernd  genau 
wiedergegeben  ^) ,  von  dem  übrigen  Inhalt  aber  ein  großes  Stück 
ganz  ausgelassen  haben.  Es  kann  kein  Zweifel  darüber  bestehen, 
daß  sich  der  portugiesische  Autor  in  seinem  letzten  Kapitel  nicht 
nur  'über  die  Meinung,  die  die  Heiden  von  den  Europäern  haben', 
sondern  auch  über  die  Madura- Mission ,  der  er  selbst  angehörte, 
namentlich  über  ihren  berühmten  Gründer  Roberto  de'  Nobili  aus- 
gesprochen hat^  Dies  letztere  Stück  ist  nur  in  der  Relation  des 
Erreurs  erhalten  geblieben:  und  daß  es  echt  ist,  daß  es  auf  das 
portugiesische  Original  zurückgeht,  dafür  treten  die  genannten 
Bruchstücke  des  Originals  beweisend  ein.  Beide  Bruchstücke,  na- 
mentlich das  zweite,  finden  ihre  genaue,  z.  T.  wörtliche  Entspre- 
chung in  der  Relation  des  Erreurs  ^).  Zur  Erhärtung  des  Gresagten 
stelle  ich  das  zweite  Bruchstück  ^)  und  die  entsprechende  Stelle  in 
der  Relation  des  Erreurs  (N.  Journal  Asiatique  X  476  f.)  einander 
gegenüber. 

Breve  noticia  dos  erros.  Relation  des  erreurs. 

0    modo    que    o    Grande   Padre  Le  P.  Nobili   et   les   autres  mis- 

Roberto  Nobili  da  nossa  Companha  sionnaires    de    son    ordre    n'avaient 

6  OS  inais  padres  seus  companheiros  rien  neglige  de  ce  qui  pouvait  leur 

guardaräo    [por    semelhar]    os  Bra-  donner    quelque    ressemblance    avec 

hammes    Sanyasis  *)     destas     terras  les  Brahames  sannyasis ;  ils  allaient 

[estäva]  vestendo-se  de  hums  pannos  vetus    d'une    toile    teinte   en   jaune 

tintos    de  cave  ^) ,    que    e    como  al-  fonce,  la  barbe  et  les  cheveiix  ras^s, 


1)  Manucci  gibt  sonst  noch  zu  einer  früher  gemachten  Bemerkung  (que  les 
Gentils  re  connoissent  point  de  plus  grande  felicite  au  monde  que  la  compagnie 
de  la  femme;  vgl.  Manucci  III  33?)  einen  Nachtrag,  in  dem  er  die  bekannten 
4  Klassen  der  Frauen  {Padmani,  Chaterni,  Ästeni,  Sengueni)  aufzählt.  De  la 
Flotte  hat  nichts  liievon.  Statt  dessen  betont  er,  daß  nichts  der  Ausbreitung  des 
Christentums  in  Indien  mehr  gescliadet  habe,  als  die  Unmäßigkeit  der  ersten  Er- 
oberer ;  und  um  zu  zeigen,  was  für  einen  Abscheu  die  Inder  vor  der  Trunkenheit 
haben,  erzählt  er  eine  Geschichte,  die  sich  in  Outremalour  (Uttiranmerür ;  Sewell, 
Lists  1  192)  abgespielt  haben  soll. 

2)  Die  Übereinstimmung  würde  gewiß  noch  größer  sein,  wenn  Jacquet  einen 
wörtlichen  Abdruck  seiner  besten  Hs.  gegeben  hätte.  Über  sein  Verfahren  bemerkt 
er  selbst:  Je  n'ai  conserve  de  l'ouvrage  que  les  faits  et  l'ordre  dans  lequel  ils 
sont  exposes;  j'ai  entierenient  renouvele  le  style. 

3)  Bei  der  Herstellung  des  Textes  hatte  ich  mich  des  Beistandes  eines  Ro- 
manisten, des  Herrn  Prof.  Alfons  Hilka,  zu  erfreuen.  Für  seine  Mühwaltung 
spreche  ich  ihm  auch  an  dieser  Stelle  meinen  Dank  aus. 

4)  Nobüi  nannte  sich  Brahamme  Sanyasi  Romano.  Siehe  N.  Journal  Asia- 
tique X,  475.    Jacquet,  Inde  Frangaise  H  62  n.  6. 

5)  Rüter  Oker;  Tamil  kävi  (vgl.  Dubois,  Hindu  manners  p.  531.  547).  Jaune 
fonce  im   französischen  Text  ist   willkürliche  Änderung  Jacquets;   seine  Hs.  hat: 


über  die  Breve  Noticia  dos  erros  que  tem  os  Gentios  do  Concäo  da  India.       25 

magre,  andando  con  cabecj-a  et  barba  les    oreilles    percees    et    traversees, 

rapada,  furadas  oreillas  et  trazendo  comme  Celles   des    penitens  Indiens, 

nestas  hums    päozinhos  de  amargo-  par  de  petits  morceaux   de  bois  de 

zeira ')  ou  de  outro  arbousto,  a  que  margousier   tres-legers    (car  il  n'est 

chamäo  päo  leve'*^)  (porque  e  contra  pas  permis  au  Brahame  sannyasi  de 

a    profissäo    dos    religiosos    a    que  se  parer  de  pendans  d^oreilles  d'or, 

chamäo  Sanyasis  a  trazer  [arjrecadas  d'argent  ou  d'autre  m^tal).    Us  por- 

de  ouro  ou  prata  ou  qualquer  outra  taient  de  la  main    gauche    un  petit 

jöia  dos  ditos  metaes),  trazendo  na  vase  de  cuivre,  et  de  Tautre  un  bäton 

mäo  esquerda  ^j  hum  vaso  de  cobre  de    leur    hautem-,    divis^   par   sept 

como    panella,    e    na    direita    hum  noeuds  bion  formes,  et  dont  l'extre- 

bordäo  da  sua  mesma  altura*)   con  mite  supdrieure    etait    garnie    d'une 

sette  nös  naturaes  ^),  e  neste  atado  ^)  banderole  de  meme  couleur  que  les 

häo  [hum  pannoj  pequeno  da  mesma  pieces  de  vetenient. 
cor  do  vestido    a    modo  de  bande- 

rinha.  ' 


Anhang:  Manuccis  Übersetzimg  der  Breve  noticia. 

Von  den  Übersetzungen  oder  Bearbeitungen,  die  der  Breve 
noticia  dos  erros  zuteil  geworden  und  bis  jetzt  näher  bekannt  ge- 
worden sind,  ist  Manuccis  Übersetzung  unstreitig  die  wichtigste. 
Erstreckt  sich  doch  die  sonst  schätzenswerte  französische  Über- 
setzung in  Dellons  Inquisition  de  Goa  nur  über  die  erste  Hälfte 
der  Noticia,  und  De  la  Flottes  Übersetzung  geht  nicht  unmittelbar 

couleur  de  caß  (wirklich  so?).     Zum  Verständnis   von   cafe   verweist  Jacquet  auf 
Dubois,  Moeurs  et  Institutions  des  pays  de  l'Inde  II  261. 

1)  Amargozeira ,  der  Nimba-ßaum;  vom  portugiesischen  amargoso  'bitter'. 
Tgl.  amergousin,  De  la  Flotte  298.  Siehe  auch  Fra  Paolino,  Reise  S.  415  und 
Hobson-Jobson  s.  v.  Margosa. 

2)  Fäo  leve  (v.  1.  pano  leue)  'leichtes  Holz'.  Was  für  eine  Holzart  gemeint 
ist,  kann  ich  nicht  sagen.  Geht  ^tres-legers^  der  französischen  (von  Jacquet  zurecht- 
gestutzten?) Übersetzung  auf  den  pao  leve  des  portugiesischen  Textes  zurück? 

3)  In  der  Tat  trägt  Nobili  das  Gefäß  in  der  linken  Hand  auf  dem  Bildnis 
in  Irvines  Manucci  III  104.  Der  Samnyäsi  bei  Sonnerat  I  256  (Tafel  08)  trägt 
«s  in  der  rechten. 

4)  The  staif  must  be  exactly  his  own  height.  —  Dubois,  Hindu  raanners  p.  534. 

5)  Paulinus,  Systema  lirahmanicum  p.  57:  Ad  manum  dexteram  Guru  tradit 
discipulo  scipionem  vel  clavam,  quae  Vil.  nodos  naturales  habere  debet. 
Siehe  auch  Dubois  531.  534.  Man  beachte  bien  formes  im  französischen  Texte 
als  Übersetzung  des  potugiesischeu  naturaes. 

6)  atudo  {a  tiido)  die  IIss. ;  atado  ist  Hilkas  Konjektur,  Sie  wird  bestätigt 
durch  Faria  y  Sousa,  Asia  Portuguesa  II,  4,  6,  8:  Entregale  (nämlich:  der  Guru 
dem  Novizen)  una  vara,  con  otro  pedaco  de  pano  de  la  misma  suerte,  atado  en 
la  punta;  y  un  sombrero  de  paja.  —  Man  sehe  das  Fähnchen  am  Stabe  des 
Samnyäsi  bei  Sonnerat  I  256  (Tafel  68). 


26  Theodor  Zachariae, 

auf  das  portugiesische  Original  zurück.  Überdies  hat  er  seine 
Vorlage  an  vielen  Stellen  gekürzt.  Unter  diesen  Umständen  dürfte 
eine  kritische  Betrachtung  von  Manuccis  Übersetzung  wohl  am 
Platze  sein.  Auf  den  ersten  Blick  scheint  es  ja  allerdings  schwierig 
zu  sein,  an  Manuccis  Arbeit^)  Kritik  zu  üben,  da  das  portugie- 
sische Original  nicht  zugänglich ,  vielleicht  sogar  für  immer  ver- 
loren ist.  Dennoch  erweist  sich  eine  Kritik  als  ausführbar.  Es 
sind  inmierhin  einige  Bruchstücke  des  Originals  erhalten  geblieben, 
und  vor  allem  lassen  sich  Manuccis  Angaben  meistens  mit  Hilfe 
der  genannten  Paralleltexte  kontrollieren. 

Bei  den  folgenden  kritischen  Bemerkungen  lege  ich  die  Les- 
arten der  Berliner  Handschrift  zugrunde,  und  nicht  Irvines  Über- 
setzung, da  diese  nicht  immer  zuverlässig  ist.  Fälle,  wo  ich  Fehler 
Manuccis  nur  vermute,  lasse  ich  fast  ausnahmslos  beiseite.  Fehler, 
die  bereits  in  seiner  Vorlage  gestanden  haben  könnten,  darf  man 
ihm  nicht  zur  Last  legen. 

Rudra,  sagt  der  Portugiese  (s.  das  Original  in  den  GGrA.  1916, 
600)  erlangte  von  seiner  Mutter  Paräsakti  die  Macht,  alles  zu  zer- 
stören und  zu  vernichten ,  was  seine  Brüder ,  Brahma  und  Visnu, 
erschaffen  und  erhalten  haben  würden  (criassem  e  conservassem). 
In  der  französischen  Übersetzung  richtig:  auroient  cre^  et  conservö 
(vgl.  De  la  Flotte  p.  201:  Routr^n  a  la  puissance  de  detiaiire  et 
d'an^antir  ce  que  Brama  a  cree,  et  ce  que  Vichenou  conserve); 
falsch  aber  bei  Manucci:  tout  ce  que  ses  freres  feroient  et  cree- 
roient.  Irvine  macht  daraus :  all  tbat  his  brother  (Singular !)  should 
do  or  create;  siehe  Manucci  III  6. 

Nach  der  französischen  Übersetzung  (am  Schluß  des  4.  Kapitels) 
und  nach  De  la  Flotte  175  wird  dem  Visnu  unter  der  Figur  eines 
Ebers  Verehrung  dargebracht.  Manucci  III 1 1  sagt  das  Gegenteil. 
Nicht  minder  auffällig  ist  Folgendes.  In  der  Erzählung  von  der 
Zwerginkarnation  (Manucci  III,  1 2  f.)  ist  König  Mahäbali  bereit, 
der  Bitte  Vispus  um  drei  Fuß  Land  zu  willfahren  und  zur  Be- 
kräftigung seines  Geschenkes  das  Schenkungswasser  über  Visnus 
rechte  Hand  zu  gießen.  Das  sucht  der  Morgenstern  (Sukra),  der 
Ratgeber  Mahäbalis,  zu  hintertreiben:  er  dringt  mit  Hilfe  der 
Zauberkunst  in  den  Ellbogen  des  Königs  ein,  um  ihn  am  Gießen 
zu  verhindern.     Dieser  läßt  den  Ellbogen  mit  einem  Stilett  Öffnen; 


1)  Es  ist  möglich,  daß  die  Übersetzung  gar  nicht  von  Manucci,  sondern  von 
einem  Anonymus  herrührt.  Da  er  sie  aber  für  sein  Eigentum  ausgegeben  hat,  so 
wird  er  die  Verantwortung  dafür  tragen  und  sich  eine  Kritik  gefallen  lassen 
müssen. 


über  die  Breve  Noticia  dos  erros  que  tem  os  Gentios  do  Concäo  da  India.       27 

der  Morgenstern  wird  bei  dieser  Operation  eines  Auges  beraubt. 
—  Wie  Manucci  zu  dieser  Darstellung  gekommen  ist,  ist  nicht 
abzusehen:  hat  er  willkürlich  geändert?  Die  frz.  Übersetzung 
Kap.  5  und  De  la  Flotte  p.  177  weichen  durchaus  ab.  In  diesen 
Texten  schlüpft  der  Morgenstern  in  die  Kehle  des  Königs  und 
verschließt  sie,  'afin  que  l'eau  qu'il  avoit  d^ja  dans  la  bouche  n'en 
put  pas  sortir'  ^). 

In  den  Geschichten,  die  von  Kr§na  erzählt  werden,  kommt  bei 
Manucci  der  Satz  vor:  apres  s'estre  mari^  avec  deux  femmes,  il 
(Chrisne)  alla  courir  les  bordeis  avec  seize  mille  Bergers  (he 
took  to  frequenting  houses  of  ill  fame  along  with  sixteen  thousand 
cowherds;  Irvine,  Manucci  III  16).  ßergers,  von  Irvine  nicht 
beanstandet,  muß  ein  Fehler  für  bergeres  sein.  Dies  geht  aus  den 
Paralleltexten  (z.B.  aus  De  la  Flotte  184)  hervor;  überdies  werden 
die  16000  Frauen  oder  Konkubinen  des  Krsna  im  Harivaipsa  und 
in  anderen  Quellen  erwähnt  (Baldaeus  535.  Ziegenbalg,  Grenealogie 
S.  99.     Sonnerat  I  169). 

In  der  Sage  vom  Ursprung  des  Vinäyaka  (Ganesa)  bei  Manucci 
III  18  heißt  es ,  daß  Virabhadra  den  König  Daksa  Prajäpati  und 
viele  Andere  getötet  habe,  und  daß  Einige  von  den  Überlebenden 
dem  Vinäyaka  den  Kopf  abschnitten  (il  y  en  eust  de  ceux  qui 
etoient  restez  qui  couperent  la  teste  de  Vinaigem).  Dies  ist  ent- 
schieden falsch,  d.  h.  nicht  aus  dem  portugiesischen  Original  stam- 
mend. Virabhadra  ist  es,  der  dem  Vinäyaka  das  Haupt  abschlug; 
siehe  oben  S.  13. 

Als  falsch  wird  es  auch  bezeichnet  werden  müssen,  wenn  Ma- 
nucci III,  31  behauptet,  der  Meruberg  werde  von  einem  (einzigen) 
Elefanten  getragen;  siehe  GGA.  1916,  601. 


1)  Nach  dem  Bericht  des  Baldaeus  (den  schon  Caland  angezogen  hat:  Drie 
oude  Port.  Verhandelingen  S.  159)  verstopfte  der  Planet  Venus  den  Hals  des 
Wasserkruges,  sodaß  kein  Wasser  daraus  laufen  konnte  (Baldaeus  488).  Ganz 
nahe  steht  die  Religion  des  Malabars  in  der  Inde  Frangaise  II,  21,  ein  Text,  den 
ich,  weil  er  nicht  leicht  erreichbar  ist,  genauer  mitteilen  will.  Bali  schickte  sich 
an,  dem  Zwerg  (Vis^u)  Wasser  auf  die  rechte  Hand  zu  gießen:  mais  aussitöt  le 
gourou  [Choukouren]  s'introduisit  dans  le  pot  et  en  boucha  l'ouverture  avec  sa 
tete,  pour  empecher  l'eau  de  couler.  Le  nain,  ä  qui  cette  ruse  n'avait  pa» 
echapp^,  poussa  une  paille  dans  Pouverture  du  vase  pour  le  deboucher,  et  creva 
un  oeil  au  gourou.     Weiter  abstehend  die  Darstellung  des  al-Berüni  (India  Kap.  46 , 

Sachaus  Übers.  I  397):  Venus brought  in  the  jug,    but  had  corked  the 

spout,  so  that  no  water  should  flow  out  of  it,  whilst  sbe  closed  the  hole  in  the 
cork  with  the  kusa-grass  of  her  ringlinger.  But  Venus  had  only  one  eye;  she 
missed  the  hole,  and  now  the  water  flowed  out.  —  Andere,  ältere  Darstellungen 
des  Vorgangs  sind  mir  nicht  bekannt. 


28  '     Theodor  Zachariae, 

Manucci  III  33  sagt,  daß  die  drei  ersten  Weltalter  wahrhaft 
goldne  Zeitalter  gewesen  seien,  u.  a.  wegen  ihrer  (langen)  Dauer. 
Aus  den  Paralleltexten  ergibt  sich  aber,  daß  der  portugiesische 
Autor  vielmehr  'la  prodigieuse  dur^e  de  lavied.es  hommes 
d'alors'  betont  hat.  Wird  doch  auch  nachher,  auch  von  Manucci 
selbst,  beim  Kaliyuga  die  Kürze  des  menschlichen  Lebens 
hervorgehoben. 

Von  der  fünften  Kaste  (s.  oben  S.  12)  sagt  Manucci:  ils  la- 
pellent  dans  leur  langue,  Chandalon  ou  negr  e  s.  Irvine  gibt  (III  35) 
negres  mit  blacks  wieder.  Ich  glaube  aber  nicht,  daß  man  ein 
Recht  hat,  die  Mitglieder  der  5.  Kaste  vorzugsweise  als  'Schwarze' 
zu  bezeichnen.  Es  sei  nur  verwiesen  auf  die  Ausführungen  in  der 
Relation  des  Erreurs  N.  Journ.  Asiatique  X  475,  wonach  die  Ma- 
labaren  'alle  mehr  oder  weniger  schwarz'  sind.  Dem  sei  wie  ihm 
wolle :  Manuccis  negres  ist  entschieden  falsch.  Die  frz.  Übersetzung 
hat  Niger,  und  das  ist  sicherlich  auch  die  Lesart  des  Originals. 
Tatsächlich  kommt  Niger  vor  in  einem  Fragmente  des  Originals, 
das  in  der  Religion  des  Malabars  II,  l  angeführt  wird.  Dazu 
tritt  das  Zeugnis  des  Fra  Paolino,  der  in  seiner  Reisebeschreibung 
S.  310  vgl.  288.  291  die  geringeren  Kasten  Ciandala  (Ciandaler) 
oder  Nisha  (Nisher)  nennt.  Aber  was  ist  und  was  bedeutet  Niger? 
Ich  sehe  Niger  als  einen  Plural^)  an,  als  einen  Plural  wie  z.  B. 
Nastigiur  (so  zu  lesen ;  s.  Manucci  III,  44.  IV  441  und  vgl.  Nax- 
tagher,  Lettres  edifiantes  XI  252);  Raxader  in  der  frz.  Übersetzung 
Kap.  19  (=  Tamil  hriksadar;  s.  Caland  in  den  Drie  oude  Port. 
Verhandelingen  S.  201  und  vgl.  Fuwhaders  bei  Sonne  rat  I  189.  198); 
bhüder  bei  Paulinus,  Syst.  Br.  p.  298 ;  Clwutrer,  Bhaf/avadcr,  Xatrier 
u.  s.  w.  im  ßhagavadam  p.  17.  19.  29.  58.  Ich  halte  ferner  Niger 
für  ein  aus  dem  Sanskrit  entlehntes  Tamilwort;  Niger  ist  =  Skr. 
nicäh ,  die  Geringen,  Niedrigen,  Gremeinen,  ^les  gens  de  la  plus 
basse  extraction',  N.  Journal  Asiatique  X475. 

III  44  bezeichnet  Manucci  die  Laksmi  als  die  Mutter  des 
Visnu  (von  Irvine  nicht  beanstandet !).  Diese  falsche  Angabe  kann 
Manucci  nicht  dem  Original  —  das  zufällig  in  der  Religion  des 
Malabars  II 19  überliefert  ist  —  entnommen  haben ,  denn  hier 
steht  richtig:  mulher.  Um  übrigens  zu  zeigen,  wie  schlecht  Ma- 
nucci unterrichtet  war,  bemerke  ich,  daß  er  III 350  sagt,  Visnu 
habe  die  Savati  (Sävitri)  o  d e  r  Parvati (!)  geheiratet.  Auch  III  338. 
349  wird  Sävitri  als  Visnus  Frau  bezeichnet. 


1)   Die  frz.  Übersetzung  Kap,  17  gebraucht  Niger  auch  als  Singular  und 
büdet  einen  Plural  Nigers. 


über  die  Brcve  Noticia  dos  erros  que  tern  os  Gentios  do  Concäo  da  India.        29 

Ich  gebe  schließlich  noch  ein  größeres  Brachstiick  des  Originals 
(aus  der  Religion  des  Malabars  II  19)  und  stelle  Manuccis  Über- 
setzung gegenüber  (s.  Manucci  III  44  und  vgl.  De  la  Flotte  283  f.)» 
Die  von  mir  durch  Sperrdruck  hervorgehobene  Stelle  ist  von  Ma- 
nucci entschieden  mißvercitandon  und  falsch  wiedergegeben  worden. 
Freilich  wäre  es  möglich,  daß  in  der  Handschrift,  die  er  benutzte, 
die  ursprüngliche  Lesart  nicht  mehr  rein  erhalten  war. 

Breve  noticia  dos  erros.  Manucci  (Berliner  Hs.). 

Para  alcan^ar  indulgentia  plenaria  Pour  obtcnir  indulgence  pleiniere 

de  todos  seus  peccados,    dizem  ser  de  tous  leur  pechez,  ils  disent  qu'il 

necessaria  huma   bebida  que  Consta  est   necessaire  d'avoir   un    breuvage 

de  leite,  manteiga,  tairo  ^),  orina  et  compose  de  lait,    de  beure,    dvrine, 

bosta  de  vacca,  et  com  esta  mesinha  et    de   fiente    de  vache,    et  qu'avec 

dizem    se    väo  näo  so  os  peccados,  cette  medecine    non  seulement   tous 

mas    tambem    todas    infamias    que  les    pechez    s'en    vont,    mais    aussi 

vieräo^)  a  os  Brahammes,  os  toutes  les  infamies,  car  alors  les 

quaes    sös   podem    alcan9ar  este  ju-  Bramenis  iuterviennent ,  parce 

bileo ;    et  säo  obrigados  a  primeira  que  il  n'y  a  qu'eux  seuls,  qui  puis- 

vez  ^)    quando    se  cazäo ,    quando  a  sent  obtenir  ce  jubile,  ce  qu'ils  sont 

mulher  tem  o  primeiro  mes,  et  tarn-  obligez    de    faire    la    premiere    foi& 

bem  quando  qualquer  outro  tem  dia  qu'ont  se  marie,    quand  les  femmes 

aziago^).      Os  homes    que  säo  mais  ont  leur  premier  mois,   aussi  quand 

spirituaes    et    que    tem    desprezado  il  arrive   quelque   jour  malheureux. 

todo    o    mondo,    mandäo    bostas    a  Les  hommes    les    plus    spirituels  et 

casa  ^)  antes  de  comer,  et  ali  mesmo  qui  meprisent  le  monde,  fönt  frotter 


1)  Die  Hss.  schwanken  zwischen  cairo  und  tairo.  Für  richtig  halte  i<b 
tairo,  und  sehe  darin  die  indoportugiesische  Form  des  Tamilwortes  iatjir  (the 
common  term  in  S.  India  for  curdied  milk.  It  is  the  Skt.  dadhi ,  Hind.  ddhi  of 
Upper  India :  Hobson-Jobson  s..  v.  tyre).  Vgl.  Tayrsamoutram,  mer  caillee  Baga- 
vadam  p.  125;  Tair  ou  lait  caille  Sonnerat  I  171  n.;  andre  Stellen  im  Hobson- 
Jobson  1.  c.  — .  Manucci  hat  tairo  ganz  ausgelassen.  Doch  gibt  er  III,  346  die 
Bestandteile  des  i^ancagavya  {Jcslram  dadhi  iatJiä  cäjyain  mütram  gomayam  eva 
ca)  richtig  an:  düng,  urine,  milk,  buttermilk,  butter.  De  la  Flotte  nennt  nur 
3  Bestandteile.  Die  dem  oben  aus  dem  Original  zitierten  Bruchstück  entsprechende 
Stelle  lautet  bei  ihm :  Pour  effacer  les  peche's  les  plus  gravcs ,  il  suffit  encore 
d'avalcr  un  breuvage  compose  de  lait,  de  beurre  et  d'un  peu  de  bouze  de 
vache.  Les  Brames  sont  Obligos  d'user  une  fois  de  cette  boisson,  quand  ils  se 
marient,  ou  quand  leurs  femmes  ont  leurs  premiers  mois. 

2)  'die  den  Brahmanen  zustoßen  (werden)'.  Manucci  scheint  das  Dativ- 
zeichen a  vor  OS  Brahammes  übersehen  zu  haben.     [Hilka.] 

3)  Irvines  Übersetzung  der  Stelle:  'It  (the  jubilee)  is  obligatory  when  marrying^ 
for  the  tirst  time'  ist  ungenau. 

4)  Die  Hss. :  outra  endia  {India)  aziado.  Die  Herstellung  des  Textes  nach 
einem  Vorschlage  Hilkas.     Manucci  las  vielleicht  entra  'tritt  ein'  statt  outra. 

5)  Hier  ist  wohl  das  Verbum  esfregar  'reiben'  ausgefallen.     [Hilka.] 


30  Theodor  Zachar  iae, 

sem  outro  prato  nem  sal  se  ^)  man-  la  maiaon  avec  de  la  fiente  de  vache 
däo  laiiijar  o  que  ande  [sie]  comer,  avant  que  de  manger,  et  la  meme 
e  comem.  sans  autre  ceremonie  fönt  servir  leur 

repas  et  mangent. 

Ich  wende  mich  zu  Irvines  Übersetzung  von  Manucci 
im — 76.  Die  Berliner  Hs.,  worauf  sich  die  Übersetzung  gründet, 
ist  sehr  gut  geschrieben  und  fast  fehlerfrei.  Dennoch  ist  es  Irvine 
nicht  gelungen,  eine  ganz  einwandfreie  Übersetzung  herzustellen. 
Das  hat  z.  T.  offenbar  darin  seinen  Grund,  daß  die  Kopie  der  Hs., 
die  sich  Irvine  hat  anfertigen  lassen,  nicht  immer  genügte. 

Die  indischen  Wörter  und  Namen  erscheinen  bei  Irvine  öfters 
nicht  in  der  Grestalt,  wie  sie  die  Hs.  bietet;  auch  ist  die  Zurück- 
führung  auf  die  entsprechenden  Sanskritwörter  nicht  immer  ge- 
lungen. Manucci  III  8  nennt,  sonderbar  genug  und  sicher  nicht 
in  Übereinstimmung  mit  dem  Original,  die  dritte  Kaste  Ca tharis 
ou  Marchands  boutiquiers.  Irvine  setzt  Catharis  =  Khatris,  Ksha- 
triyas.  Das  erste  Äquivalent  mag  richtig  sein  (vgl.  Baines,  Eth- 
nography  p.  34) ;  das  zweite  ist  falsch.  III  30  Saladaland  ist  nicht 
=  Sutala,  sondern  Talätala;  Backchadaland  nicht  =  Grabhastimat, 
sondern  Easätala;  Chuduland  nicht  =  Nitala,  sondern  Sutala. 
Falsch  ist  die  Gleichung  Parubravastu  =  Parama-vastu  III  24. 

Die  Worte  -'the  reason  of  which  I  will  here  state'  1118,5 
V.  u.  sind  irreleitend.  Nicht  hier,  sondern  erst  nachher  {cy 
apres  hat  die  Hs. !)  wird  der  Grund  angegeben,  weshalb  Brahma 
keine  Tempel  hat;  s.  III  11.  Woher  Irvines  'king  of  penitent 
monks,  called  Mongis'  (III14  vgl.  IV 563)  stammt,  ist  mir  un- 
klar. In  der  Hs.  steht:  *une  sorte  de  moines  penitens  qu'ils  apel- 
lent  Mongis\  Ob  Irvines  Q-leichsetzung  von  Mongis  mit  mimi  richtig 
ist,  weiß  ich  nicht.  Die  Paralleltexte  (frz.  Übers.  Kap.  6  und  De 
la  Flotte  179)  lassen  uns  hier  ganz  im  Stich.  III  24  wird  von 
Rudra  gesagt:  'he  has  numerous  mistresses'.  In  der  Hs.  steht 
aber  *ils  (nämlich  die  Bewohner  des  Kailäsa)  ont  une  grande 
quantitö  de  maistresses'.  Übrigens  liegt  der  Verdacht  nahe,  daß 
Manucci  hier  falsch  übersetzt  hat  (vgl.  Kap.  11  der  frz.  Über- 
setzung). Nach  S.  29  sollen  von  den  14  Welten  7  über  und  6 
unter  dieser  Erde  liegen.  In  der  Hs.  heißt  es  aber:  'sept  au 
dessous  de  la  terre  et  six  au  dessus'.  Ebenso  falsch  und  gegen 
die  Hs.  ist  die  Angabe  S.  30,  daß  sich  unter  der  irdischen  Welt 
(dem  hhüJoha)  die  Luftwelt  (der  hhuvarlolca)  befinde.  S.  30,  4  v.  u. 
heißt  es  vom  Janaloka,  der  Welt  der  Eiesen :  'in  which  place  there 


1)  So  nach  Hüka;  die  Handschriften:  nem  falsa  mandäo. 


über  die  Breve  Noticia  dos  erros  que  tem  os  Gcntios  do  Concäo  da  India.        31 

are  many  such,  of  all  degrees'.  Das  ist  keine  richtige  Wieder- 
gabe der  handschriftlichen  Lesung:  'dans  lequel  lieu  il  y  en  a 
beaucoup  de  toutes  sortes  d'  E  s  t  a  t  s'.  Vgl.  die  frz.  Übers.  Kap.  14  : 
*lä  on  trouve  des  personnes  de  toutes  Tribus,  et  de  tous  etats'. 
Nach  S.  31  soll  das  Gewicht  des  goldnen  Meruberges  24  Karat 
betragen.  In  der  Hs.  steht  aber  deux  cents  quatre  vingt,  in  Über- 
einstimmung mit  S.  10,  wo  dieselbe  Zahl  gegeben  wird.  Im  por- 
tugiesischen Original  stand  wahrscheinlich  eine  viel  höhere  Zahl : 
12080;  wenn  der  Relation  des  Erreurs  zu  trauen  ist  (s.  GGrA.  1916, 
601).  In  dem  Abschnitt  über  die  Grußformen  S.  38  heißt  es,  daß 
sich  ein  Brahmane,  wenn  er  eine  Person  besucht,  ohne  irgend- 
welchen G-ruß  hinsetzt  und  während  der  Unterhaltung  Titel  wie 
^Herrlichkeit',  'Exzellenz'  u.  s.  w.  gebraucht.  So  die  Hs.  (auch  De 
la  Flotte  267 :  il  traite  la  personne  qu'il  visite ,  de  seigneurie, 
d'excellence,  etc.).  Aber  Irvine  übersetzt :  the  host  accords  him 
(dem  Brahmanen)  the  titles  of  lordship  or  excellency.  Auch  S.  58 
The  next  day  they  rub  oil  on  the  head  of  the  bride  ist  gegen 
die  Hs. ,  wo  la  teste  du  marie  steht.  S.  72,  18  they  bathe  the 
body:  die  Hs.  liest  levent  le  corps,  nicht  lavent.  S.  72,  3  v.  u. 
the  deeeased:  in  der  Hs.  steht  la  mort  (ebenso  bei  De  la  Flotte 
310). 

Diese  Beispiele  mögen  genügen,  um  zu  zeigen,  daß  Irvine  nicht 
immer  richtig  übersetzt  hat.  Wie  schon  bemerkt,  erklärt  sich  das 
Meiste  von  dem,  was  ich  habe  aussetzen  müssen,  wohl  aus  der 
Mangelhaftigkeit  der  Kopie  der  Berliner  Hs.,  die  Irvine  ins  Eng- 
lische übertrug.  Dies  gilt  namentlich  auch  von  den  folgenden 
beiden  Fällen,  die  ich  etwas  ausführlicher  besprechen  möchte. 

Was  auf  S.  18  zu  lesen  steht:  'He  (Rudra)  in  bis  rage  drew 
forth^)  a  horse-whip  and  struck  it  on  the  ground  with  all  bis 
strength,  and  by  force  of  bis  blow  there  was  born  instantly  a 
giant'  (nämlich  Virabhadra),  ist  durchaus  gegen  die  sonstige  Über- 
lieferung. Nach  dem  Bhägavatapuräna  bei  Muir  0.  S.  T^.  IV  382 
ist  der  Gegenstand,  den  der  erzürnte  Siva  auf  die  Erde  wirft, 
«ine  Haarlocke  (vgl.  Bagavadam  S.  103  f. ;  Taylor,  Cat.  Raisonne 
III  101).  Dieselbe  oder  eine  ganz  ähnliche  Überlieferung  in  der 
Religion  des  Malabars  I  17  (Inde  Francaise  II  16) ,  bei  Faria  y 
Sousa,  Asia  Portuguesa  II  4,  1,  15  (De  lacabellera  de  Ixora 
derramada  por  el  suelo  nacio  Virapatrem)  uud  bei  Polier  (WZKM. 
-23,  226).     Es   gibt   allerdings  auch   noch  andre  Berichte  über  den 


1)    Die  Handschrift  hat:  se  tira.     Dieses   se  kommt  in  Irvines  Übersetzung 
nicht  zu  seinem  Recht. 


32  Theodor  Zachariae, 

Ursprung  des  Virabhadra  *).  Daß  aber  der  Verfasser  der  Breve 
noticia  der  eben  angegebenen  Überlieferung  gefolgt  ist,  erhellt  aus 
der  französischen  Übersetzung  Kap.  8:  s'arrachant  une  poignee 
de  cheveux.  Manucci  wird  also  seinem  Schreiber  schwerlich 
fouet  de  chevaux  in  die  Feder  diktiert  haben,  was  man  doch 
nach  Irvincs  Übersetzung  annehmen  müßte.  In  der  Tat  lautet 
auch  die  Lesung  der  Hs.  ganz  anders,  nämlich:  couet^)  de  che- 
veux, 'Haarschopf.  Die  Schuld  an  Irvines  Übersetzungsfehler 
trägt  ohne  Zweifel  der  Abschreiber  der  Handschrift.  Es  ist  we- 
nigstens sehr  unwahrscheinlich,  daß  Irvine  die  richtige  Lesart  vor 
sich  gehabt,  sie  zu  fouet  de  chevaux  umgeändert  und  danach  über- 
setzt hat.  Denn  der  Ausdruck  couet  de  cheveux  kehrt  noch  dreimal 
in  der  Hs.  wieder  (S.  108.  112.  113)  und  wird  von  Irvine  richtig 
mit  'lock  of  hair'  oder  'tail  of  hair'  übersetzt  (s.  Manucci  III  3L 
39.  40). 

In  dem  Abschnitt  über  die  Hochzeitsbräuche  der  Brahmanen 
S.  56  erscheint  ein  Wort  scuderis  in  dem  Satze  'He  (the  brother 
of  the  bride)  seats  her  on  a  scuderis\  Die  Erklärung  dieses  sonder- 
baren Wortes  hat  Irvine  und  seinen  Mitarbeitern  viel  Kopfzer- 
brechen, und  zwar,  wie  wir  sehen  werden,  unnötiges  Kopfzer- 
brechen verursacht.  Irvine  will  das  Wort  vom  lateinischen  sudarium 
ableiten.  Er  fügt  hinzu :  I  have  seen  sudaris  used  in  Scotch  ^)  for 
a  handkerchief;  but,  quoting  Padfield.  'Hindu  at  home',  p.  123, 
Mr.  Frazer  points  out  that  'the  bride  is  brought  out  seated  in  a 
kind  of  wicker  basket',  not  on  a  handkerchief.  Das  Zitat  aus 
Padfield  beweist  nicht  das  Greringste  für  die  Bedeutung  des  Wortes 
scuderis.  Ferguson  (s.  Manucci  IV  441)  meint,  scuderis  sei  identisch 
mit  dem  einheimischen  Wort  gudrl  a  quilt  (s.  Hobson-Jobson  s.  v. 


1)  Virabhadra  springt  bewaifnet  aus  Sivas  drittem  Auge  hervor:  Germann 
zu  Ziegenbalg,  Genealogie  S.  168;  Arunäcalapuräna  bei  Taylor,  Cat.  Raisonne 
]II,  140.  Oder  er  entsteht  aus  dem  Schweiß,  der  dem  erzürnten  ^iva  auf  der 
Stirn  ausbricht:  Ziegenbalg  S.  166  (aus  dem  Skandapuräi:ia) ;  Rogerius,  Open- 
Deure  II  2  p.  91  ed.  Caland;  Sonnerat,  Voyage  I  183  f.;  Jouveau-Dubreuil,  Archeo- 
logie  du  Sud  de  l'Inde  II  50  (legende  tamoule).  Oder  er  geht  aus  Öivas  Mund 
hervor :  Väyupuräpa  I  30,  122, 

2)  Cotiet  in  der  Bedeutung  'Haarschopf'  fehlt  in  den  Wörterbüchern.  Das 
Wort  ist  die  Diminutivform  von  altfrz.  coue  (nfrz.  queue;  lat.  cauda).  Zur  Be- 
deutung vgl.  it.  coda  Zopf,  frz.  queue  Haarzopf  (der  Männer),  span.  coleta  Haar- 
zopf, und  namentlich,  worauf  mich  Prof.  Hilka  hinweist,  couette  im  Supplement  zu 
Sachs- V illatte :  ^couettes  de  cheveux,  Haarlockchen  an  den  Schläfen  und  hinten 
am  Halse'. 

3)  Vgl.  Donaldson,  Supplement  to  Jamieson's  Scotch  Dictionary,  p.  231. 


über  die  Breve  Noticia  dos  erros  que  tem  os  Gentios  do  Concäo  da  India.       33 

goodry)  ^).  Irvine  verweist  dazu  auf  Manucci  III 70 ,  wo  es  heißt, 
daß  die  Braut  auf  eine  Matte  gesetzt  wird  (was  auch  sonst  vor- 
kommt; vgl.  z.B.  Fra  Paolino,  Eeise  280.  Thurston,  Gastes  V  482). 
Auch  mit  diesem  Zitat  wird  nichts  bewiesen.  Überdies  ist  auf 
S.  70  von  den  Hochzeits brauchen  der  'Diebe';  S.  56,  wo  scuderis 
steht,  von  den  brahmanischen  Hochzeiten  die  Rede. 

Das  Wort  scuderis  zerfließt  vor  unseren  Augen  in  nichts,  wenn 
wir  den  Paralleltext  De  la  Flotte  S.  290  f.  herbeiziehn,  der  Irvine 
und  seinen  Mitarbeitern  leider  unbekannt  geblieben  ist.  Hier  lesen 
wir:  Un  des  plus  proches  parens  de  la  fille  la  prend  entre  ses 
bras  et  la  porte  sur  un  monceau  de  riz.  Es  ist  also  klar,  daß 
wir  scuderis  in  scii  de  ris  zerlegen  müssen.  In  der  Berliner  Hs. 
endlich  ist  ganz  deutlich  sac  ^)  de  ris  geschrieben.  Dies  ist  also  die 
richtige  Lesart,  wenigstens  für  Manucci.  Ob  sie  auch  der  Lesart 
des  Originals  genau  entspricht,  ob  nicht  vielmehr  De  la  Flotte  mit 
seinem  monceau  de  riz  das  Original  genauer  wiedergegeben  hat, 
ist  nicht  leicht  zu  sagen.  Denn  in  den  Berichten  über  die  Hoch- 
zeitsbräuche lesen  wir  zwar  nicht  selten  von  Reis  häufen,  worauf 
die  Braut  (oder  das  Brautpaar)  sitzt  oder  steht;  es  ist  aber  auch 
die  Rede  von  Reispäckchen,  oder  von  Körben,  die  mit  Reis  gefüllt 
sind  ^j. 

Die  Erläuterungen,  mit  denen  Irvine,  von  verschiedenen 
Gelehrten  unterstützt,  seine  Übersetzung  ausgestattet  hat,  sind 
ungenügend.  Vieles,  was  hätte  erklärt  werden  sollen,  wird  nicht 
erklärt ;  und  die  Erklärungen ,  die  gegeben  werden ,  sind  nicht 
selten  verfehlt.  Schwerlich  richtig  sind  die  von  Frazer  und  Bamett 
beigesteuerten  Erklärungen  von  Larres  S.  20  (=  Laris  bei  De 
la  Flotte  192).  Professor  Hultzsch  verweist  mich  auf  das  Diction- 
naire  Tamoul-Francais  s.  v.  llädar,  wo  dieses  Wort  (ein  Plural)  zu 
Skr.  Lata  gestellt  und  mit  'peuples  — ,  yoghis  de  Guzerate'  erklärt 


1)  Derselbe  Ferguson  erklärt  das  bei  Manucci  III 339  vorliegende  Wort 
ramade  (a  sort  of  four-cornered  tent)  für  ein  T a m il w o r t ;  s.  Manucci  IV  454. 
Es  ist  aber  viel  wahrscheinlicher,  daß  ramade,  wie  auch  Irvine  bemerkt,  ein  por- 
tugiesisches Wort  ist  (ramada).  Übersehen  hat  Irvine:  Baldaeus  408,  wo iJa- 
made  und  Pandaal  (oder  'Himmel-läube')  als  Synonyma  erscheinen. 

2)  Über  dem  Worte  sac  scheint  sich  eine  Rasur  zu  befinden. 

3)  Indian  Antiquary  24,228  (The  Chitpävan  bride  and  bridegroom  stand  on 
rice  heaps).  Thurston,  Ethnographie  Notes  p.  29.  70.  78;  Gastes  and  Tribes 
I  283.  284.  357.  II  138.  Jolly,  Über  einige  indische  Hochzeitsgebräuche  (Album 
Kern,  Leiden  1903)  S.  180.  Siehe  auch  Crooke,  Populär  Religion  and  Folk-Lore 
of  Northern  India  II  26  f. 

Kgl.  Oes.  d.  Wiss.  Nachrichten.   Phil.-hist.  Klasse.  1918.    Heft  1.  3 


34  Theodor  Zach ariae,  Über  die  Breve  Noticia  usw. ' 

wird^).  Der  Name  der  Sekte  (?  die  Handschrift  hat  sexte)  Vanan- 
gamory  S.  38  (vgl.  De  la  Flotte  267  n.)  ist  nur  in  seinem  ersten 
Bestandteile  von  Frazer  richtig  erklärt  worden.  Der  zweite  Teil 
des  Wortes  ist  nicht  =  Tamil  mori  'Wort',  sondern  mudl  'Haupt'. 
Das  Dictionnaire  Tamoul - Fran^ais  erklärt  Vanangä - miidiyati  mit: 
'Douryodhanen  qui  ne  plia  jamais  la  tete  pour  saluer  personne, 
QU  pour  sesoumettre;  celui  qui  ne  salue,  ne  respecte  per- 
sonne'. Die  Identifikation  der  Nastiguer  (so,  nicht  Nostiguer, 
ist  mit  der  Handschrift  zu  lesen)  S.  44  mit  den  Jainas  hätte 
nicht  als  zweifelhaft  hingestellt  werden  sollen.  Werden  doch  zwei 
Eigentümlichkeiten  dieser  Nastiguer  (=  nästikäh)  hervorgehoben, 
die  für  die  Jainas  charakteristisch  sind.  Einmal  wird  gesagt,  daß 
sich  die  Nastiguer  den  Bart  nicht  rasieren  lassen,  sondern  die 
Haare  mit  einer  kleinen  Zange  ausreißen.  Man  denkt  sofort  an  die 
iSvetämbara  Jainas,  die  das  Haupthaar  durch  Ausraufen  entfernen 
{liiTlcitamürdhajäh  WZKM.  16,  37).  Ferner  heißt  es ,  daß  man  die 
Nastiguer  nicht  essen  sehen  darf;  sie  selbst  dürfen,  wenn  sie  essen, 
keine  menschliche  Stimme  hören;  daher  lassen  sie  während  des 
Essens  ein  kupfernes  Gefäß  vor  ihrer  Tür  anschlagen.  Das  ist 
also  ungefähr  das,  was  ßühler  von  den  Digambaras  berichtet:  At 
their  meals  they  sit  perfectly  naked,  and  a  pupil  rings  a  bell 
to  keep  off  all  strangers  (Indian  Antiquary  VII  28;  vgl. 
dazu  W.  Crooke,  Populär  Religion  1293).  Der  Name,  den  die 
Einheimischen  der  Witwe  geben,  bedeutet  nach  Manucci  wörtlich 
*la  femme  qui  a  coup4  le  Taly'.  Frazer  bei  Irvine  zu  Manucci 
III  71  bemerkt  dazu:  'There  is  no  special  word'.  Das  Tamilwort 
für  Witwe,  das  Manucci  (oder  vielmehr  der  Verfasser  der  Breve 
Äoticia  dos  erros)  im  Auge  hat,  lautet,  wie  mir  Herr  Prof.  Hultzsch 
mitteilt,  täli-y-arutt-aval. 


1)  Über  die  Sekte  der  Larres  (Larer,  Lader)  vergleiche  man  die  Hallischea 
Miseionsberichte  I  378.  III  309.  805  und  die  Inde  Frangaise  II  68  n.  5  (Quelle : 
die  Relation  des  Erreurs?)  sowie  den  erläuternden  Text  zu  Lieferung  19,  Tafel  6. 


Die  vedischen  Worte  für  „schön"  und  „Schönheit" 
und  das  vedische  Schönheitsgefühl. 

Von 

H.  Oldonberg. 

Vorgelegt  in  der  Sitzung  vom  8.  Februar  1918. 

Für  die  Erkenntnis  davon,  wo  das  vedische  Indien  Schönheit 
gesehen  hat  und  wie  es  sie  gesehen  hat,  ist  es  zuvörderst  wichtig 
die  bezüglichen  sprachlichen  Ausdrücke  zu  betrachten,  wobei  es  sich 
empfiehlt,  mehrere  nur  benachbarte,  auch  einige  nur  scheinbar 
hierher  gehörige  mit  zu  berücksichtigen.  Auf  jene  eben  bezeich- 
neten Hauptfragen  selbst  dann  wenigstens  kurz  einzugehen  möchte 
ich  mir  nicht  versagen. 

1.  An  die  Spitze  stelle  ich  das  hier  offenbar  in  erster  Linie 
in  Betracht  kommende  Wort:  srt  mit  dem  zugehörigen  und,  wie 
sich  von  selbst  versteht,  sehr  deutlich  auch  als  zugehörig  empfun- 
denen sreyas,  srestha  ^).  Bekanntlich  sind  diese  Worte  so  gut 
awestisch  wie  vedisch.  Wenn  Rv.  VI,  41,  4  vdsyän — sreyän  neben 
einander  steht  und  es  in  den  jüngeren  Veden  heißt  yäthä  nah 
sreyasah  Jcdrad,  yäthä  no  väsyasah  Tcdrat  (Ts.  I,  8,  6,  2  und  Parallel- 

1)  Vgl.  snye  sreyämsalt  Rv.  V,  60,  4 ;  srestlialt,  .  .  .  sriyd  II,  33,  3.  S.  auch 
Ait.  Br.  V,  22,  5 ;  Sat.  Br.  III,  4, 2,  2 ;  XI,  1,  6,  23 ;  XII,  4,  1, 11  und  sonst  sehr  häufig. 
Hier  führe  ich  auch  den  bekannten  Vers  aus  der  Suöahsepaerzählung  an:  nänä 
sräntäya  snr  asti  .  .  .  päpo  nr^advaro  janalb  (Ait. Br.  VII,  15, 1):  in  den  geläufigen 
Gegensatz  von  §reyän  und  päpiyän  ist  statt  des  ersteren  snlli  eingetreten.  Die- 
selbe Zusammengehörigkeit  von  Nomen  und  Steigerungsgraden  kommt  im  Awesta 
zum  Ausdruck,  s.  Bartholomae  WB.  unter  sräy-.  Ich  bemerke  noch,  daß  ich 
in  der  folgenden  Untersuchung  über  sri  nicht  im  Einzelnen  Stellung  nehme  zu 
den  Auflassungen  von  Pischel,  Ved.  Stud.  I,  53 f.  Sie  beruhen  auf  seiner  An- 
schließung  von  sri  an  Wgl.  sri- ;  daß  die  irrig  ist,  wird,  hofi'e  ich,  durch  die  Ge- 
samtheit der  folgenden  Erörterungen  bewiesen. 

3* 


36  H.  Oldenberg, 

stellen),  so  zeigt  die  übereinstimmende,  im  Awesta  mehrfach  be- 
legte Verbindung  von  sraesta  mit  vahista^  srayan  mit  vanhan^  daza 
der  Eigenname  Sriräva'»hu,  daß  hier  indoiranische  Denk-  und  Rede- 
weise vorliegt. 

Wie  später  sn  die  Vorstellung  zugleich  der  Schönheit  und 
der  Wohlfahrt  in  sich  schließt,  so  berühren  sich  diese  beiden 
Nuancen  auch  im  vedischen  Gebrauch  des  Worts.  Es  ist  wichtig 
ihr  Verhältnis  klar  zu  stellen.  Der  Forscher,  der  sich  wohl  zuletzt 
darüber  geäußert  hat,  Geldner  (Glossar),  setzt  als  Grundbedeu- 
tung an  „Auszeichnung,  Vorrang"  und  gelangt  von  da  zu  den  Be- 
deutungen a)  „Schönheit,  Pracht",  pl.  „Putzsachen,  Zieraten, 
Herrlichkeiten",  b)  „hoher  Rang,  Ehre,  Herrlichkeit,  Glück,  Reich- 
tum,  pl.  Glücksgüter,  Reichtümer".  Ich  habe  meine  Bedenken 
gegen  den  Versuch ,  die  mit  einem  Wort  wie  diesem  verbundene 
Vorstellung  in  ihrem  konkreten  Leben  und  mit  der  ihr  eignen 
Färbung  durch  eine  solche  Häufung  deutscher  Worte,  wie  sie  in 
der  lexikographischen  Praxis  ja  nun  einmal  üblich  ist,  zum  Aus- 
druck zu  bringen.  Die  Nuancen,  die  es  wiederzugeben  gilt,  lassen 
sich,  wie  ich  meine,  oft  mit  andern  Mitteln  genauer  erreichen,  als 
durch  derartige  über  allzu  unbestimmte  Weiten  sich  verstreuende 
Wortmassen :  ich  denke  vielmehr  an  eine  in  die  Form  einer  bloßen 
Wortübersetzung  nicht  faßbare  Beschreibung  des  Vorstellungs- 
bildes. Bei  andern  der  zu  untersuchenden  Worte  werde  ich  Ge- 
legenheit haben  hierauf  zurückzukommen.  Spezielle  Zweifel  aber 
erweckt  mir  das  eben  wiedergegebene  Bedeutungsarrangement.  Zu 
ihrer  Begründung  gehe  ich  von  der  Vergleichung  des  Awesta  aus. 
Werden  da  verschiedenste  Wesen  als  srtra  beschrieben,  so  erscheint 
m.  E.  als  ungezwungener  Bedeutungsansatz,  wie  es  auchBartho-^ 
lomae  (WB.)  ansieht,  einfach  „schön".  Wenn  das  Mädchen,  in 
d  essen  Gestalt  Ardvl  Sürä  Anähitä  erscheint  (Yt.  5,  64),  das  Pferd, 
n  dessen  Gestalt  TiStrya  erscheint  (Yt.  8, 18),  srira  ist,  wenn  die 
Arme  der  Göttin  srua  und  weiß  heißen  (Yt.  5,  7) ,  und  an  vielen 
gleichartigen  Stellen,  deutet  nichts  dahin,  daß  etwas  andres  als 
jene  Bedeutung  anzunehmen  ist:  wobei  es  sich,  wie  Bartho- 
lomae  zeigt,  überwiegend  um  Schönheit  von  Sichtbarem,  daneben 
dann  von  Hörbarem  handelt.  Im  Einklang  damit  nun  tritt,  wifr 
ich  glaube,  auch  in  den  rgvedisclien  Belegen  so  vielfach  und  viel- 
seitig das  Moment  der  Schönheit  hervor  und  anderseits  fehlt  es  so 
entschieden  an  speziellen  Indizien  der  einen  Vergleich  mit  Andern 
einschließenden  Vorstellung  von  Auszeichnung  und  Vorrang^),  daß 

1)   Bei  sre?tha  sre§thatama  haftet  das  Moment  des  Vorrangs   offenbar   am. 
Superlativ,  nicht  am  Wortstamm. 


Die  vedischen  Worte  für  „schön"  u.  „Schönheit"  u.  d.  vedische  Schönheitsgefühl.     37 

ich  allein  in  der  ersteren  die  wahrscheinliche  Hauptbedeutung  des 
indoiranischen  und  rgvedischen  srt  erkennen  kann:  wobei  sich  von 
selbst  versteht,  daß,  wenn  wir  von  „Schönheit"  sprechen,  zunächst 
vorbehalten  bleibt,  wie  weit  sich  die  Vorstellung  der  Alten,  der 
wir  kurzweg  jenes  Wort  anheften ,  mit  unsrer  Schönheits Vorstel- 
lung deckt. 

Ich  mustere  nun  zur  Begründung  und  näheren  Präzisierung 
des  Gresagten  die  Belege  des  Rv.  durch  und  hebe  zuvörderst  die 
stattliche  Reihe  von  Stellen  hervor,  an  denen  Ableitungen  von  drs- 
die  Beziehung  der  sri  auf  erfreulichen  Anblick  erweisen.  So 
VII,  15,  5  spärhä  ycisya  sriyo  drse ;  X,  45,  8  drsänö  ruhmd  itrviyä 
vy  adyaut  und  gleichfalls  mit  Erwähnung  des  riihnd  IV,  10,  5  tdva 
svädisthägne  sdmdrstih  .  .  .  sriye  riihnö  nd  rocata  upäJce  (wozu  man 
noch  vergleiche  I,  188, 6  surukme  hi  supesasädhi  sriyd  virdjatah)  ; 
II,  1,  12  tdva  spärhe  vdrna  d  samdrsi  sriyah ;  IV,  1,  6  nsyd  sresthä 
suhhdgasya  samdrk;  1,  122,  2  süryasya  sriyd  siidrsl  hiranyaih;  IV,  23,  6 
sriye  sudrso  vdpur  asya  sdrgäh ;  V,  3,  4  tdva  sriyd  sudrso  deva  devah ; 
V,  44,  2  sriye  sudrsih;  IV,  36,7  srestham  vah  peso  (zu  diesem  Wort 
vgl.  das  eben  angeführte  T,  188,  6 ;  auch  V,  57,  6  vUvä  vah  srir  ddhi 
tanusu  pipise ;  X,  1 10,  6  ddhi  sriyam  siikrapisam  dddhäne)  ddhi  dhäyi 
darsatdm ;  VI,  63,  6  yuvdm  snbhir  darsatdbhir  äbhih  suhhe  pustim 
uhathuh  sürydyäh;  X,  91,  2  sd  darsatasrir  dtithir  grhe-grhe.  Das 
Obige  zeigt,  wie  mit  dem  Leitmotiv  drs-  sich  andre  verwandte 
verbinden,  die  alle,  wie  ruJcmd^  pis-,  pesah,  auf  Schönheit  der  Er- 
scheinung deuten.  Ich  füge  weiter  zunächst  einige  Stellen  hinzu, 
in  denen  jedesmal  die  Vorstellung  von  Licht  oder  Grlanz  auftritt. 
1, 87,  6  sriydse  Mm  hhänühhih  sdm  mimilcsire ;  VII,  77,  5  asme  sresfhebhir 
hhämlbhir  vi  bhähi;  X,  91,  5  tdva  sriyo  varsyäsyeva  vidyiitas  citrds 
ciJätra  usdsäm  nd  ketdvah;  I,  113,  1  iddm  srestham  jyötisäm  jyotir 
ägäc  citrdh  praketö  ajatiista  vibhvä;  I,  92,  6  sriye  chdndo  nd  smayate 
vibhäti;  V,  61,  12  yesära  sriyddhi  rödasi  vibhrdjante ;  IV,  5,  15  asyd 
sriye  .  .  .  dmJcam  ddma  a  ruroca.  Weiter  mit  der  schon  im  Obigen 
mehrfach  begegnenden  Hindeutung  auf  Sichreinigen,  Sichschmücken 
u.dgl.:  V,  3,  3  tdva  sriye  mar  üto  marjayanta;  VIII,  7,  25  subhrd 
vy  änjata  sriye  (das  Schlagwort  subh-  wie  oben  VI,  63, 6,  unten 
VII,  72,  1) ;  X,  77,  2  sriye  mdryäso  (die  erscheinen  auch  V,  59,  3, 
s.  unten)  anjtnr  aljnvata;  IV,  22,  2  sriye pdrusnim  u§dmäna  ürnäm^). 
Sodann  folgende  verschiedenartige,   durchweg  dem  Vorangehenden 


1)  Auch  daß  Indra  den  Vajra  in  die  Hände  nimmt,  geschieht  sriye  I,  81,  4: 
die  Phantasie  ist  natürlich  geneigt,  den  Gott  als  durch  alles,  was  zu  seinem  Auf- 
zuge gehört,  geschmückt  anzusehen. 


38  H.  Oldenbcrg, 

und  unter  einander  sich  ungezwungen  anschließende  Stellen :  1, 179, 1 
minäti  sriyam  jarima  tammäm,  wo  die  ganze  Situation  des  Gresprächs 
von  Agastya  und  Lopamudrä  auf  „Schönheit"  deutet;  mit  tanü 
auch  VII,  72, 1  spärhdyä  sriyä  tanvä  suhhänä  (snhh-  wie  mehrfach 
oben)  und  I,  88,  3  sriye  Mm  vo  ddhi  tanusu  vdsih  (s.  auch  sogleich 
X,  85,  30) ;  VIII,  20,  12  änlkesv  ddhi  sriyah  (cimka  auch  oben  IV, 
B,  16);  V,  59,  3  gäväm  iva  sriydse  srngam  uttamdm  .  .  .  mdryä  iva 
sriydse  cetathä  narah.  Umgekehrt  mit  asnrd:  VI,  28,  6  asrirdm  cit 
krnuthä  suprdtikam  (diese  Stelle  mit  prdtika  halte  man  neben  die 
erwähnten  mit  dnilca) ;  im  Zusammenhang  mit  dem  befleckten  Braut- 
hemd ^)  X,  85,  30  asrirä  tanür  (dies  Subst.^  wie  mehrfach  oben)  hha- 

Nach  allen  diesen  Stellen  scheint  mir  klar,  daß  der  Besitz 
der  Sri  für  die  rgvedische  Vorstellung  in  erster  Linie  nicht  sowohl 
ein  Hervorragen,  Ausgezeichnetsein,  als  vielmehr  wohlgefällige 
Erscheinung  bedeutet.  JDer  asnrd,  der  von  seinem  Mißgeschick 
befreit  wird  (VI,  28,  6),  wird  dadurch  nicht  etwa  unter  den  andern 
hervorragend,  sondern  er  wird  suprdtlka.  In  mannigfachsten  Formen 
spezialisiert,  mit  den  verschiedensten  andern  Schlagworten  sich 
verbindend,  bald  auf  das  der  Person  an  sich  innewohnende  gute 
Aussehen  hinweisend  bald  auf  Greschmücktheit :  so  zeigt  sich  die 
Bedeutung  „Schönheit"  bz.  „schön"  als  die  beherrschende  und  in 
ihrer  Übereinstimmung  mit  dem  Awesta  als  die  indoiranische  Haupt- 
bedeutung des  Worts  ^). 


1)  Nicht  unähnlich  der  Verbindung,  in  der  sn  Brb.  Ar.  Up.  VI,  4,  6  erwähnt 
wird. 

2)  Über  die  dritte  Stelle  mit  nsrlrä  VIII,  2, 20  asnrd  iva  jdmätä ;  vgl.  P  i  s  c  h  el , 
Ved.  Stud.  II,  77^ff.,  wage  ich  kein  sicheres  Urteil.  Ich  vermute,  daß  es  sich  um 
einen  Schwiegersohn  handelt,  der  wegen  seiner  häßlichen  Erscheinung  (oder  seiner 
wenig  glänzenden  Lebenslage  ?  s.  die  weiteren  Ausführungen  über  sri)  im  Hause  des 
Schwiegervaters  unbeliebt  ist  und  sich  von  dort  fern  hält.  Der  Bedeutungsansatz 
„unnobel"  scheint  mir  unbegründet. 

3)  Dazu  stimmt  auch  die  Auswahl  der  Götter,  denen  derRv.  sri  beizulegen 
pflegt.  Im  allgemeinen  sind  die  Götter  überhaupt  als  solche  den  Sterblichen  an 
sri  überlegen:  wenigstens  VI,  48,  19  wird  das  ausgesprochen.  Unter  ihnen  aber 
finden  offenbar  Unterschiede  statt.  Agni  mit  seiner  leuchtenden  Erscheinung  tritt 
als  Besitzer  von  sri  besonders  hervor.  Ferner  die  Maruts  mit  ihrem  prächtigen 
Aufzuge  und  die  Asvin  in  ihrer  Jugendschönheit,  durch  die  sie  die  Sonnentochter 
gewinnen,  weiter  Ugas.  Es  scheint  bezeichnend,  daß  Indra  zwar  mehrfach  sri 
beigelegt  wird,  diese  aber  doch,  wenn  ich  mich  nicht  täusche,  im  Verhältnis  zur 
Ausdehnung  der  an  ihn  gerichteten  Lobpreisungen  mehr  zurücktritt.  Auch  für 
Varupa  ist  offenbar  die  sri  nicht  charakteristisch.  Wenn  es  sich  um  hohe,  andern 
überlegene  Stellung  im  Weltdasein  handelte,  wäre  das  schwer  verständlich.  Daß 
Püsans  sri  gelegentlich  von  des  Sängers  Höflichkeit  betont  wird,  mag  damit  zu- 
sammenhängen,   daß  es  bei  ihm  besonders  nah  lag  sie  zu  vermissen.    Dem  Soma 


Die  vedischen  Worte  für  „schön"  u.  ^Schönheit"  u.  d.  vedische  Schönheitsgefühl.     39 

Zur  weiteren  Charakteristik  der  Vorstellung  weise  ich  zunächst 
auf  die  Häufigkeit  des  Plurals  hin;  gern  ist  von  den  visväh  sriyah 
jemandes  die  Rede.  Daß  bei  solchem  Plural  konkret  an  „Putz- 
sachen, Zieraten"  gedacht  sei  (Geldner,  Griossar),  glaube  ich  kaum ; 
ich  finde  dafür  keinen  Anhalt,  der  z.  B.  in  den  Stellen  über  den 
Prunkaufzug  der  Maruts  schwerlich  fehlen  würde.  Vielmehr  ver- 
stehe ich  die  visväh  sriyah  nach  Art  von  visvani  paümsyä,  amrtäni 
visvä,  Ji'ävyäni  visvä:  es  ist  die  Gesamtheit  der  Schönheitspotenzen 
gemeint,  die  dem  schönheitbegabten  Wesen  anhaften.  Bezeichnend 
ist  V,  57,  6 :  rstdyo  vo  mariito  cmsayor  adhi  sdha  öjo  hähiör  vo  hälam 
hitdm,  nrmnä  sirmsv  äyudhä  rdthesu  vo  visvä  vah  srir  ädld  taniim 
pipise:  also  ähnlich  wie  auf  dem  Streitwagen  die  Waffen,  befinden 
sich  die  Schönheitskräfte  einem  Schmuck  gleich  auf  den  göttlichen 
Leibern.  Das  hier  erscheinende  ädhi  kehrt  in  diesem  Zusammen- 
hang häufig  wieder :  ämJcesv  ädhi  sriyah ,  visvä  ädhi  sriyo  \Uiita, 
soptö  ädhi  sriyo  dhire  usw.;  es  scheint  danach,  daß  die  sriyah  als 
auf  dem  Körper  ruhend  vorgestellt  wurden  ^).  Auch  ädhi  ni  dadhuh 
findet  sich  I,  72,  10,  vgl.  43,  7.  Es  ist  ja  bekannt,  wie  die  alter- 
tümliche vedische  Vorstellungsweise  die  Eigenschaften  der  Wesen 
oder  Dinge  zu  Substanzen  verkörpert ,  denen  ein  gewisses  luftig 
konkretes,  mystisches  Eürsichsein  zukommt.  Das  Satapatha  Bräh- 
maria  XI,  4,  3,  1  erzählt,  wie  die  srl  des  Prajäpati ,  durch  dessen 
Tapas  vertrieben,  aus  ihm  herauskam  (iidalcrämat ,  hier  also  ihm 
innewohnend  gedacht).  Sie  stand  leuchtend,  glänzend,  wogend  da 
als  ein  göttliches  Weib. 

Doch  von  diesen  Bemerkungen  über  die  Daseinsform  der  srt 
müssen  wir  noch  weiter  auf  den  rgvedischen  Gebrauch  des  Worts 
zurückkommen.  Bisher  nicht  erwähnte  Verbindungen,  in  denen  es 
erscheint,  schließen  sich  leicht  an  die  beschriebenen  an.  Neben 
der  weitaus  vorherrschenden  Verwendung  für  Schönheit  des  Sicht- 
baren kann  es  sich  auch  um  Hörbares  handeln :  X,  95,  6  sriye  gdvo 
nä  dhcnävo  ^navanta.  Weiter  werden  geistige  Wesenheiten  wie 
dälsa  X,  31,  2,  Handlungen  oder  Wirkungen  wie  saxä  I,  164,  26, 
sdvfman  VI,  71,  2  =  X,  36,  12,  dvas  VIII,  9,  13  als  sreyas  oder 
sristla  bezeichnet.  Im  Hinblick  auf  die  weitere  Entwicklung  der 
.stZ- Vorstellung  verdienen  besondere  Beachtung  die  Stellen,  an 
denen  Dinge  wie  rayi,  värya,  drävina,  hhöjana  (V,  82,  1)  als  srestha 
(auch  rmji  als  susri  IX,  43,  4)  bezeichnet  werden.  Auch  hier  reichen 
wir  leicht  mit   der  ungefähren  Bedeutung  „schön"  :   wie   man   auf 

schreiben  einige  Stellen  sri  zu;  bei  ihm  greifen  die  durch  das  Schlagwort  snnäti 
bezeichneten  speziellen  Fragen  ein,  von  denen  unten  zu  sprechen  ist. 

1)  So  wird  auch  gern  von  Sichbekleiden  mit  sri  gesprochen  (II,  10,  I; 
111,38,4;  IX,  94,  4). 


40  H.  Oldenberg, 

dem  Wort  Iphigeniens,  daß  die  Götter  dem  Vater  „die  schönen 
Schätze^  erhalten  haben,  natürlich  keinen  Bedeutungsansatz  etwa 
„schön"  =  „reichlich"  aufbauen  wird.  Bezeichnend  ist  VII,  15,  5 
spärhä  yäsya  sriyo  äfse  rayir  vlrdvato  yathä:  man  sieht,  wie  hier 
die  schöne  Erscheinung  Agnis  mit  der  Schönheit  von  Reichtum 
verglichen  wird^).  Nun  bleiben,  an  solche  Stellen  doch  wohl  an- 
zuschließen, Äußerungen  folgender  Art  übrig :  I,  43,  7  asme  soma 
sriyam  ddhi  ni  dheJä  satdsya  7irnäm,  mähi  srävas  tuvinrmndm;  1, 188, 8 
tä  (die  Gröttinnen  Bhärati  usw.)  nas  codayata  sriye]  V,  79,  4  dich 
Usas  preisen  maghair  magJioni  susriyah ;  VIII,  8, 17  Tcrtdm  nah  susriyo 
narä ;  VI,  26,  8  Prdtardanih  Jcsatrasrtr  astu  srestho  gJiane  vrtränäm 
sandye  dhdnänäm ;  Käth.  XXXVIII,  2  tesäm  (der  Ahnen)  srir  mdyi 
Jcalpaiäm.  Offenbar  handelt  es  sich  da  nicht  um  körperliche  Schön- 
heit. Wenn  wir  die  Weiterentwicklung  der  Bedeutung  von  sri  im 
folgenden  Zeitalter  (s.  unten)  berücksichtigen ,  die  sich  m.  E.  hier 
anspinnt,  werden  wir  wahrscheinlich  finden,  daß  glänzende  Lebens- 
stellung gemeint  ist.  Ist  aber  nicht  deutlich,  daß  von  der  Haupt- 
bedeutung ein  leichter  Weg  —  wenn  man  überhaupt  von  einem 
solchen  sprechen  will  —  hierher  führt?  Die  „Schönheit",  die  dem 
vedischen  Sänger  vorschwebt ,  hat  offenbar  einen  starken  Anflug 
von  Grlanz,  Prunk,  Greschmücktheit ;  das  gebt  aus  den  oben  beige- 
brachten Stellen  hervor.  Statt  „schön"  könnte  man  auch  versucht 
sein  „ansehnlich"  zu  sagen.  Zu  den  Wesenheiten,  die  „schön"  zu 
heißen  pflegen,  gehört  Besitz,  Reichtum.  Ist  es  da  nicht  natürlich, 
daß  das  glänzende,  prunkreiche  Dasein  dessen,  der  im  Leben  obenan 
steht,  ebenfalls  als  sri  erscheint^)?  — 

Ehe  wir  den  Rgveda  verlassen,  muß  noch  der  besonderen, 
schwierigen  Probleme  gedacht  werden,  welche  die  Beziehung  der 
sri  auf  den  Soma  bietet.  Sie  hängen  eng  mit  etymologischen 
Fragen  zusammen. 

Wo  von  der  Versetzung  des  Soma  mit  Milch  u.  dgl.  die  Rede 
ist,  wird  bekanntlich  oft  das  Verb  sri-  gebraucht  (snnanti,  srinitaj 
srtndn,  srmändh]  richtiger  der  Überlieferung  entgegen,  mit  der  ge- 
wohnten Änderung  *srin^  zu  schreiben;  dann  sntd^).     Der  Beisatz 


1)  So  wird  rayi,  drävina  u.  dgl.  gern  als  citrd  bezeichnet,  rayi  ist  auch 
candrä,  dyumänt\  die  pu^ti  ist  sudfsi  IV,  16,  15,  u.  dgl.  mehr. 

2)  Gehört  hierher  auch  die  schwierige  Stelle  isur  nä  sriyd  isudheh  X,  95,  3, 
wo,  wie  es  scheint,  das  nächtliche  Aufspringen  des  Purüravas  mit  dem  Zumvor- 
scheinkommen  eines  Pfeiles  aus  dem  Köcher  verglichen  wird?  Wenn  das  sriye 
geschieht:  ist  da  an  den  Glanz  gedacht,  zu  dessen  Erringung  der  Pfeil  dienen 
soll,  oder  an  das  schöne  Aussehen  des  pfeilbewehrten  Helden? 

3)  Hierher  gehört  auch  srayana  Käty.  Sr.  IX,  6,  9.  10. 


Die  vedischen  Worte  für  „schön"  u.  „Schönheit"  u.  d.  vedische  Schönheitsgefühl.     41 

selbst  heißt  oft  äsir;  hierzu  P.  p.  p.  äsirta  VIII,  2,  9.  Wie  verhält 
sich  das  alles  zu  sri? 

Wir  gehen  von  näherer  Betrachtung  des  Verbs  srinäti  aus. 
Vielfach  wird  diesem  die  Bedeutung  „mischen"  zugeschrieben,  so 
daß  göbhih  snnlta  matsardm  heißt:  „mit  Kuh(milch)  mischt  den  be- 
rauschenden". Mir  scheint  das  unzutreffend.  Das  Pancavimsa  Br. 
berichtet  wiederholt,  wie  es  irgend  einem  Wesen  schlecht  ergeht 
[sa  dugdho  riricäno ''manyata ;  sa  vyahhramkda):  dieses  „sieht"  darauf 
irgend  ein  Säman,  irgend  welche  Sämans:  tenätmänam  samasrinät 
prajayä  pasubhir  indriyenn  ;  tair  ätmänam  samasrinät  (IX,  6,  7 ;  XIV, 
3,  22) ;  das  geschieht  bhesajäyaiva  säntyai  (XVI,  12,  5).  Da  paßt 
„mischen"  nur  recht  gezwungen.  Vollends  XVIII,  11,  1 :  Indra 
vyabhramsata  und  tena  (nämlich  durch  das  sräyantlya)  ätmänam 
samasrinät ;  dem  entsprechend  der  Mensch  pmnir  evätmänam  sarnsri- 
näti.  Und  VIII,  2,  10  Prajäpatis  retas  ist  zur  Erde  niedergefallen: 
tad  asrmad  idam  me  mä  dusad  iti  —  an  welchen  Stellen  offenbar 
von  „mischen"  keine  Rede  sein  kann,  vielmehr  etwas  Ahnliches 
wie  „stärken"  gemeint  sein  muß;  über  den  genaueren  Inhalt  der 
Vorstellung  später.  Ahnlich  Taitt.  Br.  1,2,6,7:  von  zwei  Per- 
sonen, die  in  einem  Ritus  auftreten,  yad  evaisäm  suJcrtam  ya  räddhihy 
tad  anyataro  ^bhisrinäti ;  yad  evalsärn  dusJcrfam  yäräddhlh,  tad  anya- 
taro  'pahauti.  Böhtlingk  (Wörter b.)  gibt  hier  für  abhisnnäti 
die  Bedeutung  „herbeiführen,  verschaffen":  offenbar  mit  Unrecht; 
wie  würde  sich  das  mit  dem,  was  wir  sonst  von  sri-  wissen,  ver- 
einigen? Gremeint  muß  etwa  sein  —  wieder  unter  Vorbehalt  der 
genaueren  Nuance  —  „kräftigen".  Nach  alldem  scheint  mir  klar, 
daß  somam  srmanti  keineswegs  heißt:  „sie  mischen  den  Soma  (mit 
Milch)",  sondern  ungefähr:  ^.sie  kräftigen  den  Soma",  was  aller- 
dings eben  durch  die  Milchbeimischung  geschiebt  V). 

Mit  dem  Verb  srä-  „kochen",  mit  dem  man  dies  sri-  zusammen- 
gebracht hat ,  hat  es  m.  E.  nichts  zu  tun  ^).  Die  Bedeutungen 
liegen  weit  auseinander;  das  den  Ritualtexten  geläufige  Praesens 
jenes  Verbs   ist   srapayati,   dessen  Verschiedenheit   von   srinoti  in 


1)  Nicht  ühel  wird  Panc.  Br.  VIII,  2,  10  asnt),ät  mit  sad  dkarot  gleichgesetzt. 
Ähnlich  ist  auch  die  mehr  oder  minder  ausgesprochene  Gleichsetzung  von  srinäti 
mit  samardhayati  Sat.  ßr.  IV,  1,4,8;  2,  1,  11,  vgl.  4,  2,  13.  Doch  verlieren  die 
Stellen  dadurch  an  Wert,  daß  samardhayati  überhaupt  in  den  Brähmanaerklä- 
rungen  besonders  beliebt  ist. 

2)  Wenigstens  nicht  in  den  historischen  Zeiten,  mit  denen  wir  uns  hier  be- 
schäftigen. Wie  in  der  Urzeit  „die  beiden  Basen  *kerä-  und  *keräi^  (B  rüg  mann 
IF.  XVII,  364;  Reich elt,  KZ.  XXXIX,  21)  sich  zu  einander  verhalten  haben, 
bleibt  hier  außer  Betracht. 


42  H.  Oldenberg, 

dem  Spruch  havyam  prlnihi  havyam  ^rmihi  havyam  srapaya  (Käth, 
XL,  12)  hervortritt.  Zu  diesem  srapayati  gehört  Ppp.  srta  (z.  B.  Gobh. 
I,  7,  7  f.  Jcusalasrtam  iva  sthällpälcam  srapayet  .  .  .  srtam  ahhigliärya 
usw. ;  Asv.  G.  I,  10,  8.  12  nanä  srapayet  .  .  .  srtäni  havTrpsy  abhi- 
ghärya  usw.) ;  dagegen  zu  srmäti  gehört  snta  (man  halte  Rv.  VIII, 
82, 5  göhhih  sntäh,  IX,  109,  15  gohhih  sritdsya  usw.  sowie  das  Kom- 
pos.  gösrlta  neben  IX,  109, 17  göbhih  snnändh ;  IX,  107,  2  snndnto 
göbJäh  usw.)-  Natürlich  wird  man  sich  nicht  irre  machen  lassen, 
wenn  Käth.  XXVII,  4  zur  Vorschrift  payasä  maiträvarunam  srlnäti 
die  nähere  Bestimmung  gefügt  wird  srtena  srmäti  (vgl.  Sähkh.  Ör. 
XIII,  6, 3):  da  stehen  die  beiden  ähnlichen  Worte,  wie  auf  der 
Hand  liegt,  rein  zufällig  neben  einander.  Genauere  Prüfung  aber 
verlangen  Stellen  wie  vor  allem  Ts.  VI,  5,  9,  1.  2.  Inbezug  auf 
den  häriyojana  fordert  Agni:  nd  mdyy  ämdm  hosyasUi.  Man  weiß 
sich  zu  helfen :  tarn  dhändbhir  asrlnät^  tdm  srtdm  bhütdm  ajuhot.  Der 
Anschein  nun  aber,  daß  da  asrmät  und  srtdm  zur  selben  Wurzel 
gehören,  ist  trügerisch,  srtd  heißt  hier  wie  überall  ,, gekocht",  wie 
zum  Überfluß  der  Gegensatz  von  ämd  beweist.  Das  feststehende 
Ritual  des  liäriyojana  aber  zeigt,  daß  von  einem  wirklichen  Kochen 
dieses  Soma  nicht  die  Rede  ist;  asrmät  bedeutet  offenbar  wie  sonst 
die  Stärkung  der  Opfergabe  (durch  einen  Beisatz)  ^),  und  die  Stelle 
läuft  darauf  hinaus,  daß  der  Soma,  den  man  (in  mystischem  Sinn) 
als  srta  aufzufassen  wünscht,  zu  dieser  Eigenschaft  dadurch  gelangt, 
daß  man  ihn  asrmät :  ein  Wortspiel,  wie  dergleichen  in  den  Bräh- 
manas  ja  überhäufig  ist^).  Man  wird  dieselbe  Auffassung  in  der 
Beschreibung  des  pätnivata  Käth.  XXVIII,  8  wiedererkennen^); 
ebenso  wird  man  das  hier  aufgewiesene  Wortspiel  in  der  langen 
Spruchreihe  bei  Apastamba  Sraut.  XII,  19,  5  wiederfinden:  srtau 
stiiali  präimpänau  me  srmltam ;  srto  'si  vyänam  me  srlnihi  etc. :  welche 
beliebte  Vermischung  der  beiden  Vorstellungen  es  begreiflich  macht, 
daß  der  Fassung  bei  Apastamba  loc.  cit.  srtas  tvmn  srto  ^ham  in 
Käthaka  XXXV,  11  gegenübersteht  sritas  tvam  srito  1mm  ^). 

1)  Vgl.  Sat.  Br.  IV,  4,  3,  7  im  gleichen  Zusammenhang :  atha  dJiänä  ävapati. 
Das  besagt  dasselbe  wie  wenn  es  bei  Apastamba  XIII,  17,2  hai^t  balivlbhir  dhänä- 
hhih  sritvä.  Vgl.  zur  Sache  Caland- Henry  384.  Die  Stelle  von  Ts.  hat  Keith 
richtig  wiedergegeben. 

2)  Vgl.  auch  Käth.  XXIII,  9  p.  163,  14;  ^aitr.  S.  IV,  7,  4  p.  98,  12.  —  Ent- 
sprechend ist  zu  beurteilen  Sat.  Br.  III,  8,  3,  20  agnis  tvä  srlnätv  ily  agnir  hy 
etac  chrapayati :  ein  ähnliches  Wortspiel  wie  das.  I,  6,  4,  7.  8  anderseits  mit  sftena 
und  asrayan  vorliegt  (s.  auch  Tb.  III,  7,  6,  12;  Ait.  Ar.  11,  1,  4 ;  Rv.  Khila  zu  V,  87, 
Vers  10). 

3)  Wenn  dort,  wie  ich  glaube,    Caland  richtig  konjiziert  (s,  die  Ausgabe). 

4)  Träfe  es,  entgegen  aller  Evidenz,  doch  zu,  daß  srlnäti  und  srta  zusammen- 


Die  vedischen  Worte  für  „schön"  u.  „Schönheit"  u.  d.  vedische  Schönheitsgefühl.     43 

Nach  diesen  Feststellungen  über  das  Verb  srinäti  ^)  und  in- 
sonderheit seiner  Ablösung  von  srä-  „kochen"  muß  nun  seine  Be- 
ziehung zu  dem  das  Hauptobjekt  unserer  Untersuchung  bildenden 
Subst.  sri  geprüft  werden.  Hier  scheint  mir  eine  solche  Nähe  der 
beiderseitigen  Vorstellungen  und  überhaupt  so  mannigfache  Bezie- 
hung sich  aufzudrängen,  daß  ich  es  schwer  finde  —  wofür  ich  auch 
schlechterdings  kein  Motiv  entdecken  kann  —  nur  zufällige  Klang- 
ähnlichkeit anzunehmen.  Rv.  VIII,  72,  13  heißt  es  ä  sute  sincata 
sriyam  rödasyor  ahhisriyam:  da  wird  der  Beisatz  des  Soma  direkt 
Sri  genannt^).  Wie  hier  das  Nomen  ahhisri,  das  doch  fraglos  mit 
dem  so  oft  von  der  Milchversetzung  des  Soma  gebrauchten  Verb 
abhi-sri-  zusammengehört,  neben  sri  steht,  wird  man  auch  adhva- 
ränäm  ahhisriyam  VIII,  44,  7,  adhvardnäm  ahhisriyah  X,  66,  8  nicht 
von  adhvarasri  trennen;  enthält  der  gangbaren  Annahme  ent- 
sprechend dies  das  Subst.  ,s;l^},  so  stellt  sich  hier  wieder  eine 
Verbindung  zwischen  diesem  und  dem  Verb  sn  dar.  Weiter  ver- 
weise ich  auf  IV,  41,8  sriye^)  nd  gäva  upa  somam  asthur  iiidram 
giro  värunam  me   manlsah:   da  wird   die  sri,    welche  die  Kühe  = 


gehören  können,  brauchte  immer  noch  nicht  zu  folgen,  daß  ein  (in  der  Tat  trotz 
dem  Dhätup.  nicht  vorhandenes)  srinäti  „er  kocht"  (so  PW.  1.  sri-)  anzusetzen 
ist.  Sondern  es  wäre  zu  fragen,  ob  nicht  das  gewöhnliche,  vielmehr  allein  existie- 
rende srinäti  mit  srä-  eben  nur  in  einer  gleichlautenden  Ableitung  zusammentriflft 
(ähnlich,  doch  nicht  ganz  so,  Simon  Ind.  verbor.  zum  Kätb.  p.  199  Anm.).  Wie 
freilich  der  bei  alldem  vorausgesetzte  Sprung  von  srinäti  zu  srta  grammatisch  zu 
rechtfertigen  wäre,  bliebe  mir  dunkel.  * 

1)  Ich  glaube  recht  getan  zu  haben ,  mich  dabei  allein  auf  die  altindischen 
Materialien  zu  stützen  und  durch  Gleichsetzungen,  die  versucht  worden  sind,  wie 
von  srlnäsi  mit  lat.  cUnäs  (Bartholomao  Studien  II,  140)  mich  nicht  beeinflussen 
zu  lassen. 

2)  Vgl.  auch  die  Zusammensetzungen  Jcsirasri  usw.  * 

3)  Determinatives  Kompositum.  Doch  könnte  auch  wurzelhaftes  Nomen 
agentis  als  Schlmßglied  vorliegen  (Typus  haviräd,  Wackernagel  Gramm.  II  p.  174  f.). 
Dieselben  Möglichkeiten  bei  yajnasri,  janasri,  devasri.  Dagegen  possessives  Kom- 
positum ist,  neben  dem  schon  durch  den  Akzent  als  solches  charakterisierten 
märyasri,  offenbar  darsatasri  (vgl.  yuvdm  srlbhir  darsatäbhiJi  VI,  63,  6),  saktusri, 
kßnasri,  ghrtasri,  ksatrasri  (vgl.  Av.  VI,  54,  1;  Sat.  Br.  II,  1,  3,  7;  Ait.  Br.  I, 
30,30),  harisri,  vermutlich  auch  agnisri,  ganasri.  Freilich  kann  bei  mehreren 
dieser  Komposita  (wie  saTctus'ri  etc.)  auch  an  wurzelhaftes  Nomen  agentis  mit 
neutralem  oder  passivischem  Sinn  als  Schlußglied  (vgl.  Wack.  a.  a.  0.  175)  gedacht 
werden.  —  Unverkennbar  scheint  mir,  beiläufig  bemerkt,  auch  das  Enthaltensein 
von  sri  in  den  Neutris  bahilisri,  antahsri  §at.  Br.  XI,  4,  2, 10  f.  (anders  PW.  und 
Eggeling).  —  Man  vergleiche  zu  einigen  dieser  Zusammensetzungen  Wackernagel 
a.a.  0.  297.  301,  Keuter  KZ.  XXXI,  205.  212. 

4)  Zugleich  an  einen  Infinitiv  des  Verbs  sri-  hier  zu  denken  (Geldner  Gloss.) 
finde  ich  keinen  Grund;  der  geläufige  Dat.  sriye  scheint  mir  auszureichen. 


44  H.  Oldenberg, 

Milchbeisätze  dem  Soma  bringen,  mit  der  sri  verglichen,  die  die 
Preislieder  den  Gröttern  mitteilen ;  nicht  der  mindeste  Anlaß ,  da 
die  Verwendungen  des  Worts  von  einander  und  vom  Verb  sn- 
loszureißen.  "Wenn  es  darum  Ts.  I,  3,  10,  1  heißt  srtr  asy,  agnis 
tvä  snnätu,  wird  der  an  sich  ja  mögliche  Gedanke  an  bloßes  Wort- 
spiel doch  als  unmotiviert  abzuweisen  sein. 

Gehören  also,  wie  ich  das  für  kaum  zweifelhaft  halte,  das 
Nomen  und  das  Verb  zusammen,  so  scheint  sich  mir  für  die  Be- 
deutungsentwicklung Folgendes  zu  ergeben,  sri  „Schönheit"  ist 
keineswegs  zu  beurteilen  als  „das  Bedeutungselement  des  Harmo- 
nischen der  Vereinigung  hervorkehrend"  (Brugmann  IF.  XVII, 
365),  denn  das  Verb  sn-,  auf  das  hin  dieser  Ansatz  gemacht  ist, 
bedeutet  kein  Vereinigen,  sondern  wie  oben  vorläufig  und  an- 
näherungsweise festgestellt  wurde,  etwa  ein  Kräftigen.  Jetzt 
werden  wir  dies  nun  auf  Grund  des  über  das  Substantiv  Er- 
mittelten bestimmter  dahin  formulieren  können,  daß  in  rgvedischer 
Zeit  vielmehr  ein  Mitteilen  von  Schönheit  —  d.  h.  Ansehnlichkeit, 
Pracht,  Geschmücktheit  —  gemeint  gewesen  sein  wird^).  Ver- 
mutlich hat  sich  dann*  auch  beim  Verb ,  entsprechend  wie  beim 
Substantiv,  die  Vorstellung  des  Erhebens  zu  glücklicher,  reicher 
Fülle  immer  mehr  vorangeschoben. 

Ehe  wir  diese  Weiterentwicklung  des  Substantivs  betrachten, 
muß  noch  nach  dem  Verhältnis  der  eben  besprochenen  Worte  zu 
äsir,  äsirta  gefragt  werden.  Die  enge  sachliche  Nachbarschaft,  die 
im  Ritual  zwischen  asir  und  srlnäti  besteht,  braucht  nicht  erst 
hervorgehoben  zu  werden.  Aber  die  bisherigen  Erörterungen 
scheinen  mir  als  das  Wahrscheinliche  herauszustellen  —  was 
offenbar  auch  rein  sprachlich  nur  durch  gewagteste  Hypothesen 
vermieden  werden  kann  — ,  daß  etymologischer  Zusammenhang 
nicht  besteht^).  Auf  der  einen  Seite  handelt  es  sich  um  die  Vor- 
stellung des  Schönmachens.  Auf  der  andern  doch  wohl  um  die 
des  Mischens,  Vereinigens ;  man  hat  ja  keinen  Grund  die  gang- 
bare Zusammenstellung  von  äsir  mit  awest.  sar-  und  gr.  xsqccvwiil 


1)  In  diesem  Sinn  wird  denn  auch  snndn  . .  .  divam  I,  63, 1  und  wohl  das 
allerdings  sehr  dunkle  äsnnitädisam  X,  61,3  zu  verstehen  sein,  sräi/antalb  VIII, 
99,3  scheint  mir  dagegen  zu  Wzl.  srä-  zu  gehören;    s.  meine  Note  zu  der  St. 

2)  Willkommene  Bestätigung  gibt  mir  Wackernagel,  dessen  Ansicht  ich 
erbat  und  der  mir  schreibt:  „Vom  morphologischen  Standpunkt  wäre  es  am  be- 
quemsten mindestens  drei  Wurzeln  scheiden  zu  können:  1)  sr-  mit  der  Erwei- 
terungsform srä-  „kochen",  2)  sir-  „mischen,  vereinigen"  [wozu  doch  wohl  auch 
yugasaram  in  Käth.  und  Ms.],  3)  sri-  (Bedtg.?)."  Die  Bedeutung  von  sri-  hoffe 
ich  meinerseits  durch  die  obigen  Ausführungen  herausgestellt  zu  haben. 


Die  vedischen  Worte  für  „schön"  u.  „Schönheit"  u.  d.  vedische  Schönheitsgefiihl.      45 

aufzugeben.  Daß  dann  das  Zusammentreffen  der  Gebrauchssphäre 
und  der  ähnliche  Klang  die  Worte  für  das  Gefühl  der  Redenden 
einander  angenähert  hat,  ist  denkbar;  insonderheit  mag  darauf, 
daß  anstelle  eines  zu  äsir  gehörigen  *srnäti  vielmehr  die  Wendung 
mit  srinäti  gewählt  wurde,  das  Bestreben  hingewirkt  haben,  Zu- 
sammengeraten mit  srnäti  „er  zerbricht"  zu  vermeiden  ^).  Ob  ander- 
seits zwischen  äsir  und  srä-  im  letzten  Grunde  Zusammenhang 
besteht,  ist  hier  nicht  zu  untersuchen.  — 

Wir  werfen  jetzt  einen  Blick  auf  den  Gebrauch  von  sri  in 
der  jüngeren  vedischen  Zeit.  Die  Vorstellung  der  sri  als  Schön- 
heit geht  offenbar  nicht  verloren;  man  sieht  sie  ja  noch  in  viel 
späterer  Zeit  fortleben.  In  den  Brähmanas  und  verwandten  Texten 
aber  dominiert  durchaus  die  Bedeutung  des  Worts,  die  wir  im 
Rgveda  neben  „Schönheit"  treten  gesehen  haben  (oben  S.  40):  glän- 
zende Lebensstellung.  Von  den  Asuras,  die  ein  rituelles  Versehen 
begangen  haben,  'wird  gesagt:  „Ihre  sn  ist  zurückgegangen;  sie 
waren  im  Glücke  (bhadra),  aber  sie  werden  unterliegen"  (Tb.  I,  1, 
4,4).  Ein  bestimmtes  Opfer  wird  für  den  vorgeschrieben,  der 
„fähig  zur  srt  ist  und  doch  auf  gleicher  Stufe  mit  den  Seinigen 
verbleibt"  (Ts.  II,  2,  8,  6).  sn  wird  mit  bhüman  gleichgesetzt;  wer 
auf  Erden  hhüyistham  vmdate,  ist  srestha ;  für  den,  der  sri  erreicht, 
wird  die  vmä  gespielt  (Sat.  Br.  III,  1,  1,  12;  XI,  1,  6,  23;  XIII,  1, 
5, 1).  Gern  verbindet  sich  sri  mit  hhätl  (Av.  XII,  1,  63,  vgl.  IX, 
5,  31),  rästra,  Isatra,  annädya  u.  a.  mehr,  besonders  mit  yasas.  Mit 
Pathos  ist  davon  die  Rede,  daß  auch  die  mächtigsten  Könige 
sterben  müssen  „ihre  große  sri  verlassend"  (Maitr.  Up.  I,  4).  In 
der  Rituallehre  stellte  sich  als  ein  so  zu  sagen  technischer  Begriff 
der  des  gatasn  („der  die  h-i  erreicht  hat")  fest:  den  drei  Kasten 
entsprechend  der  gelehrte  Brahmane,  der  Dorf  Vorsteher  und  der 
räjanya  (Weber,  Ind.  Stud.  X,  20).  Offenbar  trat  bei  dem  hier 
besprochenen  Gebrauch  von  sn  zunächst  die  Rücksicht  auf  die 
glänzende  Erscheinung  des  glücklichen,  gehobenen  Daseins 
hervor  ^) ;  dieses  Vorstellungselement  mag  sich  dann  abgeschwächt 
haben  und  geschwunden  sein^):  durch  welche  Annahme  strenge 
Kontinuität  der  Bedeutungsentwicklung  erreicht  wird. 


1)  Anders,  nicht  überzeugend,  über  das  Verhältnis  von  ^srnäti  zu  srinäti 
J.  Schmidt,  Festgr.  an  iloth  186,  worauf  mich  Wackeruagel  hinweist. 

2)  Man  sehe,  wie  es  Ait.  Br.  VII,  34,  9  f.  von  großen,  glücklichen  Königen 
heißt:  äditya  iva  ha  sma  sriyäm  pratisthitäs  tapanti.  Die  Stelle  ist  charakte- 
ristisch für  dies  Hervortreten  des  Motivs  glänzender  Erscheinung  bei  dem  in 
Kede  stehenden  Gebrauch  von  sri. 

3)  Dieser  Schwund  ist  wohl  noch  stärker  als  bei  sri  bei  sreyas^  srestha  ein- 


46  H.  Oldenberg, 

3.  Die  bemerkenswerteste  Tatsache  aber  in  diesem  Zeitalter 
ist  die  sich  vollziehende  Vereinigung  der  Vorstellungen  und  Aus- 
drücke von  srl  und  lak§mt. 

Die  Grundtatsachen  über  das  letztere  Wort  sind  im  Ganzen 
durchsichtig  und  richtig  erkannt.  Indem  ich  hier  an  sie  erinnere, 
versuche  ich  in  einigen  Beziehungen  einen  schärferen  Ausdruck  für 
sie  zu  finden. 

Die  Verwandtschaft  von  laksmt  mit  Idksman  „Zeichen,  Merk- 
mal" liegt  auf  der  Hand.  Wenn  später  Kälidäsa  spielend  sagte 
malinam  api  himämsor  lak§ma  laJcsmvn  tanoti^  so  hat  schon  in  sehr 
viel  früherer  Zeit  das  Satapatha  Brähmana  (VIII,  4,  4, 11,  vgl.  5, 
4,  3)  auf  den  Zusammenhang  beider  Worte  hingedeutet :  yasya  dak- 
§inato  laksma  hhavati  tarn  punyalaksmlka  ity  äcaksate.  laksman  ist 
das  äußere  Merkmal  glücklicher  oder  unglücklicher  Disposition; 
laksmi  ist  diese  Disposition  selbst,  die  durch  ein  laksman  angezeigt 
wird  oder  angezeigt  werden  kann^).  Über  die  Daseins  weise  einer 
solchen  laksmi  unterrichtet  uns  die  vedische  Hauptstelle  Av.  VII,  11 5. 
Einhundert  und  eine  laksmi  werden  dem  Menschen  angeboren.  Ge- 
flügelt können  sie  ihm  anfliegen,  sich  auf  ihm  festsetzen  wie  eine 
Flechte  auf  einem  Baum.  Zauber  (beschrieben  Kauä.  S.  XVIII, 
16  ^,)  macht  die  böse  laksmi  verschwinden ;  Gott  Savitar  entfernt 
sie;  mit  Nägeln  kann  man  sie  dem  Feind  anheften.  Die  guten 
laksmis  aber  sollen  verweilen.  Diese  Doppelseitigkeit  der  laksyni- 
Vorstellung,  die  stehend  in  den  Bei  werten  hhadra,  siva,  besonders 
punya,  und  anderseits  i^äjja  zum  Ausdruck  kommt,  tritt  dann  weiter- 
hin zurück,  und  es  bleibt  ausschließlich  oder  fast  ausschließlich 
der  günstige  Sinn  des  Worts.  Damit  nun  ist  dieses  der  Vorstel- 
lung der  srl,  wie  wir  sie  sich  entwickeln  gesehen  haben,  ganz  nah 
gerückt.  Beiderseits  handelt  es  sich  um  dasselbe  Ideal  von  Wohl- 
befinden und  Daseinsglanz.  Wie  sich  das  in  einer  Vielheit  von 
laksmis  hypostasiert,  gibt  es  viele  sriyaJi  (oben  S.  39).    Die  Nuance, 


getreten.    Wenn  ein  allbekannter  Vers  der  Katha  Up.  (II,  1)  das  sreyas  dem  preyas 
gegenüberstellt  und  jenes   als  das   höchste  Ideal  der  asketischen  Weltanschauung 

versteht,   ist  Beziehung  auf  Glanz  schlechterdings   nicht  mehr  vorhanden  und  

in  unsrer  Ausdrucksweise  —  nicht  mehr  vom  Schönen   sondern   vom  Guten   die 
Rede. 

1)  Daß  Jakßmi  geradezu  im  Sinne  von  laksman  stehen  kann,  bezweifle  ich. 
•Das  Pet.  Wb.  nimmt  das  für  den  ältesten  Beleg  des  Worts  an,  den  einzigen  rg- 
vedischen  (aus  junger  Gegend  des  Rv.)  bJiadrai^ätn  Idksmir  nihiiädhi  väci  X,  71,  2: 
zu  welcher  Auffassung  ich  keinen  Anlaß  finde.  Man  könnte  etwa  noch  an  Av.  I, 
18,  1,  Ts.  II,  1,  5,  2,  Tb.  II,  1,  2, 2  denken ;  daß  aus  diesen  Stellen  ein  wirkliches 
Zusammenfließen  der  beiden  einander  immerhin  nahstehenden  Vorstellungen  folge, 
glaube  ich  doch  nicht. 


Die  vedischen  Worte  für  „schön"  u.  „Schönheit"  u.  d.  vedische  Schönheitsgefühl.     47 

daß  srl  jenes  Glück  an  sich,  laksmi  ursprünglich  die  Disposition 
dazu  bedeutet,  konnte  sich  natürlich  leicht  verwischen,  sns  ca 
laksniis  ca  stehen  neben  einander  an  der  Spitze  einer  Reihe  segen- 
bedeutender Begriffe  Taitt.  Ar.  (Andhrarezension)  X,  64  (vgl.  63), 
und  Vs.  XXXI,  22  erscheinen  hri  und  Laksmi  zusammen  als  zwei 
göttliche  Weiber.  Hinausgehend  über  solche  Verbindung  tritt 
dann  vollkommene  Identifikation  ein.  Ein  vergleichsweise  altes 
Denkmal  dieser  ist  das  für  die  Greschichte  der  hier  behandelten 
Vorstellungen  wichtige  Srlsükta,  das  am  Ende  von  Rv.  V  ange- 
fügte Khila  ^).  Manche  Züge  der  Ausdrucksweise,  dazu  die  Häufig- 
keit der  Messung  u ^  in  den  Silben  5 — 8  der  Slokazeile  ver- 
bieten es,  das  Sükta  allzu  hoch  hinaufzurücken.  Aber  anderseits 
wird  es  bekanntlich  von  der  Brhaddevatä  erwähnt,  und  in  jenen 
Silben  tritt  nicht  ganz  selten  noch  die  alte  Messung  u  —  ui.^  auf 
(z.  B.  sriyam  devirn  upa  hvaye,  sriyam  väsaya  me  grJie)]  höheres  Alter 
als  der  altbuddhistischen  kanonischen  Poesie  ist  danach  wohl  wahr- 
scheinlich. In  diesem  Sükta  nun  besteht  zwischen  Snr  devi, 
Mutter  Öri  und  anderseits  Laksmi  offenbar  kein  Unterschied  mehr ; 
so  werden  sie  beide  ärdrä  (v.  4.  13.  14),  beide  padmamälini  (v.  11. 
14)  genannt^).  Wenn  wir  im  Satapatha  Brähmana  (s.  oben  S.  39) 
den  Beginn  einer  vorläufig  noch  vagen  göttlichen  Personifikation 
der  6ri  beobachten  konnten,  ist  jetzt  die  Göttin  der  späteren  Zeit 
im  wesentlichen  fertig;  auch  die  Lotosblume  spielt  in  ihrem  Bilde 
schon  die  spätere  Rolle:  die  Göttin  wird  als  padme  sthitä,  padma- 
varnäj  padmamälini  beschrieben.  Nur  der  Ehebund  mit  dem  in 
seiner  späteren  Wesenheit  jetzt  doch  wohl  nicht  vorhandenen  Visnu 
ist  noch  nicht  geschlossen.  Wenn  die  europäische  Wissenschaft  — 
in  unbestimmtem  Gedanken  an  Griechenland  ?  —  von  einer  Göttin 
des  Glückes  und  der  Schönheit  zu  sprechen  pflegt,  so  scheint 
mir  fraglich,  ob  das  hier  zutrifft.  Genauer  ist  wohl,  daß  die 
Oöttin  schön,  insonderheit  schön  geschmückt  ist,  und  daß  sie  über 
"Glück  und  Wohlstand  herrscht.  Sie  ist  suvarnarajatasraj,  yasasä 
jvalanti  usw.;  ihr  lotushaftes  und  lotusreiches  Wesen  wurde  schon 
berührt.  Was  man  aber  von  ihr  erbittet,  sind  Rinder,  Pferde, 
Gold;    da  sollen  Elefanten   brüllen;    kirti   und  vrddhi  soll  sie  ver- 


1)  Vgl.  Scheftelowitz,  Apokryphen  des  Rgveda  p.  72 ff. ;  Macdonell 
zu  Brhaddevatä  V,  91.  —  Daß  gelegentlich  doch  noch  in  viel  späterer  Zeit  Sri  und 
Laksmi  unterschieden  werden,  ist  nicht  verwunderlich.  Vgl.  Hopkins,  Epic 
Mytii.  224;  Jätaka  521  v.  6. 

2)  Die  entgegengesetzten  feindlichen  Mächte  heißen  nicht  mehr  „böse  lak§mi^ 
sondern  alalc^mi.  So  auch  Gobh.  IV,  6,  3  ;  Äpast.  Mantrap.  I,  1,  5.  Die  lahm^ 
ist  also  jetzt  etwas  an  sich  gutes. 


48  H.  Oldenberg, 

leihen,  Hünger,  Durst,  alle  dbhüü  und  asamrddJü  abwehren.  Durch 
die  späteren  Zeiten  verfolge  ich  das  Bild  der  Göttin  Sri  hier  nicht 
eingehender.  Ich  begnüge  mich  kurz  auf  eine  epische  und  eine 
altbuddhistische  Schilderung  ihres  Wesens  zu  verweisen,  welche 
von  weit  auseinanderliegenden  Standpunkten  die  Göttin  recht  ver- 
schieden einschätzend  doch  in  der  Bestätigung  des  eben  Gesagten 
zusammentreffen^).  Im  Epos  (MBh.  XII,  8343  ff.) ^ tritt  ärl-Padmä 
in  strahlender  Schönheit  und  glänzendem  Schmuck  auf.  Alle,  sagt 
sie,  erstreben  meine  Wesenheit.  Ich  bin  Gedeihen,  Festigkeit,  Ge- 
lingen. Bei  siegreichen  Königen  wohne  ich,  bei  den  Gerechten 
und  Wahrhaften.  Früher  weilte  ich  bei  den  Asuras,  solange  die 
alle  Tugenden  übten;  da  sie  sich  aber  der  Sünde  zuwenden,  ver- 
lasse ich  sie  und  gehe  zu  Indra  über.  Die  Buddhisten  auf  der 
andern  Seite  erzählen  im  Jätaka  535^),  wie  zwischen  den  Götter- 
frauen Asä  Saddhä  Siri  Hiri  eine  Art  Parisurteil  stattfindet.  Siri, 
schön  wie  der  Morgenstern,  spricht:  „Wem  ich  Freude  wünsche, 
der  genießt  jegliche  Lust".  Aber  ihr  wird  entgegengehalten,  daß 
ohne  sie  auch  der  Kundige  und  Weise  es  zu  nichts  bringt;  der 
Träge,  Niedriggeborene,  Häßliche  (arüpima)  aber  hat  von  ihr  be- 
schirmt Erfolg.  So  ist  sie  unwahr  und  ermangelt  der  rechten 
Unterscheidung.  Der  Preis  wird  ihr  versagt.  Ihn  erhält  Hiri. 
Von  einer  Göttin  der  Schönheit  ist  in  diesem  Bilde  der  schönen 
Göttin  kaum  etwas  zu  spüren^). 

8.  Ein  weiteres  hier  zu  betrachtendes  Wort  ist  b  ha  drei.  Es' 
bietet  kaum  erhebliche  Schwierigkeiten.  Für  die  älteste  Zeit  ist 
bhadrd  offenbar  das,  was  vermöge  seiner  Wesenheit,  seiner  Kräfte 
und  Eigenschaften  für  den  Inhaber,  den  Nahestehenden,  den  Inter- 
essierten wertvoll  ist,    Glück   und  Freude   bedeutet.     Wählt  man 


1)  Daneben  wäre  unter  dem  vergleichsweise  Älteren  besonders  noch  das 
Kapitel  Vis^u  Dharm.  XCIX  heryorzuheben. 

2)  Schon  der  Dighanikäya  (I  p.  11)  weiß  übrigens  vom  Sirivhäyana.  Die 
später  so  überaus  häufige  Darstellung  der  Sri  mit  den  wassergießenden  Elefanten 
(vgl.  Vis9u  Pur.  I,  9,  102)  findet  sich  schon  auf  einem  Tore  von  Sänci. 

3)  Doch  überblicke  ich  die  späteren  Materialien  nicht  in  der  Vollständig- 
keit, die  gänzliche  Sicherheit  geben  könnte.  Daß  das  Appellativum  srl  auch 
in  der  späteren  Sprache  neben  dem  Glanz  des  Glückes  immer  noch  den  Glanz 
und  die  Schönheit  der  äußeren  Erscheinung  umfaßt,  wurde  schon  bemerkt;  im 
Naisadhiya  (III,  36)  wird  geradezu  im  Dual  sriyau  gesagt,  d.  h.  nach  dem  Komm. 
MntisatnpaUi,  womit  die  Getrenntheit  der  allmählich  auseinander  gefallenen  zwei 
Arten  der  srl  in  aller  Form  konstatiert  wird.  Ausgeschlossen  ist  es  danach  nichts 
daß  auch  die  Göttin  in  vollerem  Sinn,  als  es  die  bis  jetzt  von  mir  durchgesehenen 
Materialien  ergeben,  Anspruch  auf  den  Charakter  einer  Göttin  der  Schönheit  be- 
sitzen könnte. 


Die  vedischen  Worte  für  „schön"  u.  „Schönheit"  u.  d.  yedische  Schönheitsgefühl.     49 

die  etwas  umständliche,  doch  wesentlich  zutreffende  Übersetzung 
„glückbringend",  so  darf  man  dabei  nicht,  dem  deutschen  Wortsinn 
entsprechend,  an  einen  Mechanismus  denken,  durch  den  ein  irgendwo 
außerhalb  liegendes  „Glück"  herangeholt  würde.  Sondern  was 
hhadrd  ist,  spendet  Glück  von  sich  selbst  aus,  oder  etwa  —  offenbar 
ein  Nebenfall  —  es  steht  (wie  im  Fall  des  glücklichen  Omens)  in 
mystisch -zauberhafter  Korrespondenz  mit  der  glückspendenden 
Macht,  ist  in  gewissem  Sinn  mit  ihr  identisch.  Daß  eine  Bedeu- 
tung „glänzend,  strahlend"  zu  Grunde  liege,  ist  willkürliche  An- 
nahme Graßmanns  (vgl.  ßergaigne,  Rel.  vM.  III,  317).  Das 
Wort  war  indoiranisch,  wie  das  awestische  Ä^(6adra  lehrt;  ich  ver- 
mute, daß  es  schon  in  der  Vorzeit  häufig  war,  wie  es  im  Rgveda 
als  beliebtes  Schlagwort  häufig,  bisweilen  im  selben  Vers  mehrfach 
wiederholt  ist;  im  Awesta  wird  es,  bis  auf  jenen  E,est,  deshalb 
ausgestorben  sein,  weil  die  zarathustrische  Weltanschauung  spe- 
ziellere Werte  als  den  des  hhadrd  hervorzuheben  gewohnt  war. 

Zur  Veranschaulichung  der  Vorstellung  von  hhadrd  gebe  ich 
von  der  übergroßen  Masse  der  Materialien  eine  Auswahl. 

hhadrd  sind  die  Götter  im  allgemeinen  oder  der  einzelne  Gott, 
von  dem  der  Betende  Glück  erwartet,  I,  123,11;  VIII,  19,  19; 
X,  3,  3;  72,5.  Des  Gottes  Körper  oder  Erscheinung  IV,  11,  1; 
X,  69,  1.  Seine  Hand,  die  dem  Beter  rädhas  darbietet  IV,  21,  9, 
vgl.  hhadrahasta  I,  109,  4.  Seine  saläi^  sein  sdvas  I,  83,  3 ;  94,  15. 
Seine  Gnade  I,  114,  9;  III,  1,  21;  30,  7.  Sein  Schutz  V,  1,  10;  X, 
142,  1.  'Seine  räti  I,  168,  7  und  oft.  Die  an  ihn  gerichtete  An- 
rufung, das  ihm  gebrachte  Opfer  VIII,  19,  19;  X,  53,  3;  64,  11. 
hhadrd  ist  oder  soll  sein  die  innewohnende  geistige  Kraft  {mdnas^ 
hrdtu  u.  dgl.)  I,  67,  2;  123,  13;  X,  25,  1.  Die  Mutter,  die  das  Kind 
gesund,  stark,  glücklich  gebiert  X,  134, 1  ff. ;  die  schöne,  beglückende 
Frau   oder  Geliebte   1,95,6;    V,  80,  6;   X,  27,  12   (vgl.   hhadrajäni 

V,  61,  4).  hhadrd  ist  ferner,  was  der  Mensch  (oder  event.  der  Gott) 
als  wertvolles  Gut  besitzt  IV,  58,  10 ,  das  Haus  VI,  28,  6  (vgl. 
Sähkh.  G.  111,  5,  3),  das  Feld  V,  62,  7,  die  Rosse  I,  115,  3,  das 
Kleid  I,  134,  4;   III,  39,  2;   IX,  97,  2.     Der   gute  Ruf  oder  Ruhm 

VI,  1,  12.  Die  günstige  laJcsmi  X,  71,  2  (vgl.  oben  S.  46).  Der  er- 
freuliche oder  glückbringende  Anblick  wie  des  Agni,  der  Sonne, 
der  Morgenröte  IV,  6,  6;  VI,  1,  4;  64,2;  VIII,  102,  15;  X,  69,  1 
(vgl.  auch  hhadrasoci).  Der  günstige,  ominöse  Laut  oder  das  gün- 
stige Omen  überhaupt  I,  89,  8 ;  II,  42,  2.  3 ;  43,  2.  3  (s.  auch  das 
Khila  hinter  II,  43,  und  vgl.  bhadravdc,  hhadravädin).  Der  günstige 
Tag  V,  49,  3,  vgl.  Av.  VI,  128.  Dies  ist  das  hhadrdm  am  anusäsana, 
daß   man   dadurch   den  Weg  findet,    den   man  sonst  nicht  keniien 

Kgl.  Ges.  d.  Wiss.    Nachrichten.   Phil.-hist.  Klasse.    1918.    Heft  1.  4 


50  H-  Oldenberg, 

würde  X,  32,  7.  Schließlich  ist  hhadrdm  ganz  im  allgemeinen  das 
Glück,  das  man  sich  wünscht  VII,  96,  3;  VIII,  47,  12  (vgl.  Av. 
VII,  8,  1;  18,  2-  Ms.  IV,  14,  14,  p.  239,  16):  visvam  täd  hhadrdm  ydd 
ävanti  deväh  II,  23,  19. 

An  diese   positiven  Feststellungen  knüpfe  ich  zwei  negative. 

Zunächst:  das  Moment  der  Schönheit,  des  schönen  Anblicks 
ist  in  der  Vorstellung  von  hhadrd  keineswegs  wesentlich  enthalten. 
Wird  ein  Weib  bhadrä  genannt,  heißt  das  nicht  eigentlich,  daß 
sie  schön  ist.  Sondern  sie  ist  ein  wertvoller,  erfreulicher  Besitz 
wie  irgend  ein  andrer;  daß  die  Marut  hhadrajäni  sind,  steht  auf 
einer  Linie  damit,  daß  die  Aävin  bhadrahasta  sind,  oder  daß  das 
uns  fördernde  göttliche  sdvas  hhadrd  ist.  Die  Stellen,  wo  Schön- 
heit, speziell  Frauenschönheit  im  Spiel  ist,  treten  — :  anders  im 
Fall  von  sri  —  im  Ganzen  der  Belegmassen  nicht  derartig  hervor, 
daß  auf  besondere  Beziehung  von  hhadrd  auf  eine  solche  Vorstel- 
lung geschlossen  werden  könnte. 

Ferner  bemerke  ich,  daß  ich  in  der  ältesten  Zeit  hhadrd  nur 
von  Wesenheiten  gebraucht  finden  kann,  deren  Besitz,  Nähe,  Gunst 
usw.  für  die  genannten  oder  nicht  genannten  in  Frage  kommenden, 
sie  besitzenden  usw.  Subjekte  beglückend  oder  erfreuend  ist,  nicht 
aber  von  diesen  Subjekten  als  glücklichen  selbst.  Der  Sänger  ver- 
langt nach  zahlreichen  Dingen  oder  Einflüssen,  die  alle  hhadrd 
sein  müssen.  Aber  er  spricht  nicht  den  Wunsch  aus:  mögen  wir 
hhadräh  sein^).  Wenn  der  Gott  hhadrd  heißt,  bedeutet  das  nicht, 
daß  er  sich  göttlicher  Seligkeit  erfreut,  sondern  daß  er  für  seinen 
Verehrer  glückbringend  ist;  hhadrd  no  agnir  ähuto  hhadrd  rätih 
suhhaga  hhadrd  adhvardh  VIII,  19, 19  —  eine  Stelle  wie  diese  läßt 
das  klar  erkennen^).  Wenn  Geldner  (Glossar)  über  VI,  28,  6 
(an  die  Kühe)  hhadrdm  grhdm  Icrmäha  hhadraväcah  anders  urteilt 
und  dort  die  Bedeutung  „gesegnet,  glücklich"  annimmt,  so  glaube 
ich  oben  (S.  49)  die  Stelle  in  einen  Zusammenhang  eingeordnet  zu 
haben,  der  zeigt,  daß  es  sich  in  der  Tat  um  den  für  den  Besitzer 


1)  In  der  Verwünschung  derer  ye  .  . .  hhadrdm  düsäyanli  svadhdbhilj,  VII, 
104,9,  ist  hhadrd  natürlich  nicht  der  Glückliche,  sondern  der  brave  Mensch,  der 
Outes  um  sich  verbreitet,  im  Gegensatz  zum  bösen  Zauberer. 

2)  So  wird  zu  einem  Gott  gesagt  hhadro  me  'si,  und  das  Brähmai;ia  fügt 
erklärend  hinzu  hhadro  hy  asyaißa  hhavati.  Sat.  Br.  III,  3,  4,  14.  —  Aus  dem  Rv. 
könnte  als  vereinzelte  Ausnahme  von  dem  hier  Festgestellten  X,  72,  5  in  Betracht 
kommen  tarn  (scU.  dditim)  devd  dnv  ajäyanta  hhadrd  amrtahandhaoa^.  Daß  das 
mit  den  devä  hhadräs  santo  von  Tb.  (s.  weiterhin)  auf  eine  Linie  zu  stellen  ist, 
ist  an  sich  nicht  ausgeschlossen,  freilich  in  Anbetracht  des  sonstigen  rgvedischen 
Gebrauchs  durchaus  zweifelhaft. 


Die  vedischen  Worte  für  „schön"  u.  „Schönheit"  u.  d.  vedische  Schönheitsgefühl.      51 

l)eglückenden  Besitz  eines  schönen,  erfreulichen  Hauses  handelt. 
In  der  jüngeren  Vedazeit  indessen  ist  das  offenbar  anders  ge- 
worden. So  an  einer  Stelle  der  Maitr.  Samh.  (I,  6,  9,  p.  100,  6), 
die  Geldner  neben  die  eben  besprochene  rgvedische  stellt:  annena 
vaisijo  bhadro  hhavati.  Weiter  Ts.  VI,  5,  1 ,  4  tasmäcl  eJcam  yantam 
bahavo  ^nu  yanti,  tasmäd  eJco  bahUnäm  bhadro  bhavati]  Tb.  I,  1,  2,  2 
devä  vai  bhadräs  santo  ^ghim  ädhitsanta  ...  §  3  yak  purä  bhadrah 
san  päptyänt  syät  usw. ;  I,  1,  4,  4  (vgl.  oben  S.  45)  prattcy  esäm  srir 
agät;  bhadrä  bhütvä  paräbhavisyantUi^).  Der  Übergang,  der  hier 
von  der  Vorstellung  des  Griückbringenden  zu  der  des  Glückge- 
nießenden sich  vollzogen  hat,  kann  nicht  befremden. 

Ehe  ich  bhadrd  verlasse,  einige  Bemerkungen  über  die  das 
Element  bhand-  enthaltenden  Worte.  Deren  an  sich  zweifellose 
Zusammengehörigkeit  mit  bhadrä^)  wird  durch  das  Aussehen  der 
Belegstellen  vollauf  bestätigt.  Nacht  und  Morgenröte  sind  bJdnda- 
mäne  I,  142,  7;  III,  4,  6^):  vgl.  dazu  I,  95,  6  (von  denselben  Göt- 
tinnen) tibhe  bhadre  josayete  nä  mene  *).  Agni  bhandate,  ist  bhändistha 
III,  8,  4  ^) ;  V,  1,  10,  wie  er  bhadrd  ist ;  V,  1,  10  wird  dicht  neben 
seiner  Benennung  als  bhändistha  sein  särma  bhadräm  ausdrücklich 
hervorgehoben.  Den  Indra  erreicht  niemand  sdvasä  nd  bhanddnä 
VIII,  24,  17 :  vgl.  bhadrena  sdvasä  I,  94,  15.  Danach  scheint  mir 
zweifellos,  daß  bhandate  nicht  bedeutet  „jauchzenden  Zuruf  emp- 
fangen" (BR.,  ähnlich  Geldner  Gloss.)  oder  „glänzen"  (Gr.),  son- 
dern   „sich  als   bhadrd  betätigen ^^     Vermutlich  ist   die  Ansetzung 


1)  In  diesen  Sätzen  ist  der  Gegensatz  von  bhadra  und  päpa,  sodann  die 
Verbindung  von  bhadra  und  srl  hervorzuheben.  Jener  Gegensatz  tritt  schon  im 
Rv.  1,190, 5  auf,  blickt  dort  auch  X,  164,  1.5  durch.  Was  srl  anlangt,  so  ist 
hier  zu  erwähnen,  daß  in  der  jüngeren  Vedasprache  mehrfach  mit  dem  Kompa- 
rativ sreyas  als  sinneszugehöriger  Positiv  bhadra  zusamineagöSchob3a  ist:  so  i.i 
den  häufig  angeführten  Sprüchen  bliadräd  abhi  sreyalj.  prehi,  bhadrän  najjt,  sreydjTk 
sam  anaista  deväh,  bhadram  ca  me  sreyas  ca  nie ;  ähnlich  auch  mehrfach  in  der 
5io&/ia-Sammlung  des  Sämaveda.  Man  beachte  noch  die  Zusammengehörigkeit,  in 
der  die  Göttinnen  §ri  und  Bhadrakäli  erscheinen  Sänkh.  G.ll,  14,  14;  Manu  111,89 
(Bhadr.  dialektische  Form  für  bhadraTcärl?  Vgl.  Jät.  V  p.  60).  Bei  der  oben 
S.  45  besprochenen  Entmcklung  der  M-Vorstellung  ist  das  alles  begreiflich. 

2)  Auch  Yäska  ist  sich  ihrer  bewußt  gewesen  {bhadre  bhandanvje  Nir.  XI,  19) . 

3)  Man  beachte  die  Vorliebe  für  bTiand-  in  den  ersten  Hymnen  von  II I. 

4)  Danach  wird  man  es  ablehnen  (trotz  bhadravati  Tb.  III,  4,  1, 15,  was  BH. 
mit  fraglichem  Recht  als  „Freudenmädchen"  verstehen),  die  yösä  bhadrd,  der  die 
Morgenröte  V,  80,  6  verglichen  wird,  mit  Pischel,  Ved.  Stud.  1,309  als  Hetäre 
zu  deuten. 

5)  Hier  bhandate  . . .  kavili,  womit  zu  vergleichen  ist  bhändistha  ime  kamyajjk 
Rv.  Khila  I,  8,  2  (Scheftelowitz  p.  63),  bezüglich,  scheint  es,  auf  die  priesterlichen 
Sänger,  die  als  Besitzer  glückverbreitender  Kunst  dies  Beiwort  verdienten. 

4* 


^2  H.  Oldenberg, 

von  ^ Zuruf  empfangen"  durch  hhdnäamänah  sitmdnmahhih  III,  2,  12 
veranlaßt.  Dies  scheint  mir  zu  bedeuten :  „sich  als  bhddrd  beweis 
send  infolge  der  (Anrufungen  der)  sumdnman^^)\  zum  Gebrauch 
des  Instr.  vgl.  Delbrück  Ai.  Syntax  §  87.  hhanddnä  bedeutet  ent- 
sprechend das  Sichbetätigen  als  hhadrd.     Dazu  das  Denominativum 

■Üandanäy-.  Da  dies  von  den  Feinden  gebraucht  wird  {jaM  sdtrühr 
abhij  d  bhandanäyatdh  IX,  85,  2),  kann  es  nicht  soviel  heißen  wie 
^hhadrd  sein".  Der  Grott,  scheint  mir,  soll  die  Feinde  scklagen, 
die  gögen  uns  sich  um  die  hhanddnä  (der  Mächte,  welche  ihnen 
hhadrd  sind)  beeifem,  diese  hhanddnä  gegen  uns  in  Wirksamkeit 
setzen  2).     Zu  hhandddisü  endlich  vgl.  ZDMG.  LXII,  474. 

4.     Um    seiner   späteren  Geltung  willen  ist  hier  weiter  cäm 
zu  betrachten. 

Die  rgvedischen  Belege  ergeben  mit  Sicherheit  die  ungefähre 
Bedeutung,  doch  kaum  die  genaue  N'uance.  Dadurch,  daß  da» 
Wort  in  den  Brähmarias  stark  zurücktritt,  entgeht  uns  wesent- 
licher Anhalt.  Es  ist  l<lar,  daß  es  sich  um  ein  lobendes  Beiwort 
wie  ungefähr  „angenehm"  handelt,  cäm  ist  besonders  der  Soma 
oder  sein  mdda,  Opfer  und  Gebet,  überhaupt  was  dem  Gott  dar- 
geboten wird;  weiter  der  Name  der  Götter.  In  Vergleichen  heißt 
es :  c.  wie  der  rayi  (I,  58,  6),  wie  dtyäh  suhhvdh  (V,  59,  3),  tksenyasa 
ähyo  na  cäravah  (IX,  77,  3;  d.  h.  wie  Kühe?  Vgl.  meine  Note  zu 
der  St.).  „Angenehm"  paßt  zur  Ableitung  von  Wzl.  M-  (Bar- 
tholomae  Air.  WB.  462)^).  So  steht  es  mehrfach  neben  priyd 
(IX,  34,  5 ;  X,  5B,  1 ;  vgl.  die  bald  anzuführende  Stelle  des  Ait.  Br. 
und  Av.  II,  36,  4,  wo  cäru  neben  priyd,  pistd,  sdmpriya  steht).  Aber 
'  dem  Wort  wohnt,  scheint  es,  nicht  der  subjektive  Charakter  bei,, 
der  in  der  Regel  eine  Angabe   darüber   erwarten  ließe,    wem  die 

"  betreffende  Wesenheit  angenehm  ist ;  vielmehr  verhält  es  sich  im 
Ganzen  wohl  etwa  wie  wenn  wir  „lieblich"  sagen,  ohne  ausdrück- 
lich ein  Subjekt  des  Liebens  namhaft  zu  machen.  In  dieser  Hin- 
sicht unterscheidet  sich  cäru  m.  E.  von  priyd.  Die  Angaben  Graß- 
manns  allerdings  würden  zu  einer  andern  AuiFassung  führen,  aber 
ich  glaube,  daß  da  Mißverständnisse  im  Spiel  sind.  So  gibt  Gr. 
für  cäru  unter  der  Bedeutung  „jemandem  [D.  L.]  lieb,  angenehm, 
wert"    beispielsweise    die  Belege   matir  agndye  VI,  8,  1,    indriydm 

1)  Vgl.  auch  indra  ukthehhir  hhandistJiah  Sänkh.  Sr.  VII,  10, 13.    Dem  bhdn- 
damänajf,  sumünmabhi^  steht  uab  d  hhändisthasya  sumatim  cikiddhi  V.  1,  10. 

2)  ahhy  ä  verbinde  ich  wegen    der  Wortstellung  mit  bhandanäyatdh,    nicht 
mit  jahi.  —  Hillebrandt,  Lieder  des  Rv.  34,  übersetzt  „heranlärmen". 

3)  Vgl.  lat.   carus.    Doch  ist   die  Etymologie  ja  bestritten;   vgl.  Güntert 
IF.  XXXVII,  85. 


Die  vedischen  Worte  für  „schön"  u.  „Schönheit"  u.  d.  vedische  Schönheitsgefühl.      53 

jdne§u  I,  55,  4.  Die  erste  Stelle  nun  lautet  laisvänaräya  matir  nä- 
vyasi  sücih  söma  iva  pavate  cärur  agnäye;  die  zweite  cäru  jdne^u 
prabrtwanä  indriydm.  Es  scheint  klar,  daß  da  nicht  zu  verbinden 
ist  „angenehm  dem  Agni",  sondern  „läutert  sich  dem  Agni";  nicht 
^angenehm  den  Leuten"  (wörfcl.  „unter  den  L."),  sondern  ^unter 
den  Leuten__v erkündend".  Leicht  mißverstehen  könnte  man  den 
Spruch  bei  Apastamba  Sr.  XXIV,  12,  6:  cäriim  adya  devehhyo  väcam 
udyäsa7n  cärum  brahmabhyas  cärwn  maniisyehhyas  cärum  naräsamsäyä- 
numatäm  pitrbluh  :  auch  hier  aber  hängen^die  Dative  in  der  Tat  nicht 
von  cärum  ab,  sondern  vom  Verb,  vgl.  Säiikh.  Sr.  I,  5,  9  madhuma- 
Um  adya  devehhyo  väcam  vadisyämi  cärum  manusyehhyah.  Von  In- 
teresse ist  Ait.  Br.  IV,  17,  3  f.  sarvasya  vai  gävah  premanam  sarvasya 
cärutäm  gatäh,  sarvasya  premänam  sarvasya  cäruiäm  gacchati  ya  evam 
veda.  Hier  ist  in  der  Tat  das  Subjekt,  welches  das  Objekt  als 
cäru  empfindet,  namhaft  gemacht^):  vielleicht  weil  der  Satz  durch 
das  vorangehende  preman  in  diese  Bahn  gelenkt  war.  Der  Unter- 
schied zwischen  cäru  und  hJiadrä  ist  natürlicB  nicht  scharf^);  un- 
gefähr ist  er  wohl  damit  ausgedrückt,  daß  das  letztere  das  Glück- 
bringende, das  erste  mehr  das  Angenehme,  Wohlgefallen  Erre- 
gende ist.  Wenn  das  Opfer  oder  seine  Elemente  sowohl  cäru  wie 
bhadrä  heißen ,  ist  bei  cäru  deren  den  Göttern  angenehme ,  bei 
bhadrd  ihre  für  die  Menschen  segensreiche  Natur  gemeint  •).  Beim 
Soma  tritt  hervor,  daß  er  cäru  ist;  das  göttliche  säfman,  der 
menschliche  Jcrätu  sind  bhadrä.  cäru  kann  natürlich,  so  gut  wie  in 
vielen  andern  Beziehungen,  auch  da  stehen,  wo  es  sich  um  Schön- 
heit der  Erscheinung  handelt;  so  I,  72,  10  (sriyarn  cärum)]  IV,  6,6; 
IX,  77,  3;  102,  6;  vgl.  auch  II,  8,  2.  Aber  so  wenig  wie  bei  bhadrä 
ist  das  ein  wesentlicher  oder  auch  nur  hervortretender  Zug.  Später 
wird  das  bekanntlich  anders,  wo  cäru  oder  vielmehr  dessen  Zu- 
sammensetzungen insonderheit  inbezug  auf  Frauen,  die  schönäugigen, 
schönlächelnden  usw.,  große  Beliebtheit  gewinnen. 

5.  Bisher  ist  uns  ein  Adjektiv  geeignet  z.  B.  ein  Weib  als 
„schön"  zu  charakterisieren  noch  nicht  begegnet.  Das  Wort, 
welches   dies    leistet ,    ist   halyäna.     Indra   hat    eine   halyäntr  jäyä 


1)  Welche  Möglichkeit  auch  für  den  Rv.  durch  das  Gesagte  nicht  ausge- 
schlossen werden  soll ;  wie  II,  2,  8  ätithis  cärur  äyäve. 

2)  Selhstvcrständlich  kann  dieselbe  Wesenheit  zugleich  eins  und  das  andre 
sein,  IV,  6,  6. 

3)  Man  vergleiche,  um  nur  weniges  anzuführen,  für  cäru  I,  137,  2;  III,  52,  5 ; 
IV,  49,  2 ;  VII,  98,  2 ,  und  berücksichtige  die  eben  besprochene  Verbindung  mit 
priyä  usw.,  auch  mit  matsarä  IX,  30, G;  72,  7  =  86,21.  Für  bhadrä:  IX,  96,  1; 
X,  62, 1  usw. 


54:  H.  Oldenberg, 

III,  53,  6.  Die  Ghrtagüsse  nahen  Agni  wie  yösäh  halyänyah  IV,  58,  8. 
Soma  freut  sich  an  den  Wassern  Jcalyänihhir  yuvatlhhir  nd  mdrydk 
X,  30,  5.  Aber  auch  ein  männliches  Wesen,  Agni  wird  als  Jcalyäna 
angeredet  I,  31,  9.  Dies  sind  alle  rgvedischen  Belege  ^) ;  man  sieht, 
daß  sie  sich  durchweg  auf  persönliche  Schönheit  menschlicher  oder 
göttlicher  Wesen  beziehen.  Dasselbe  trifft  auf  den  Atharvaveda 
zu,  nur  kommt  dort  (V,  17,  18)  die  schöne  dhenü  hinzu  ^).  Betrachtet 
mau  die  angeführten  Stellen,  dazu  die  Erwähnung  der  Jcanyh  ka- 
lyänt  und  dMlyäni  Av.  "XX,  128,  8.  9,  striyau  kalyänim  cätikalyänim 
ca  Sat.  Br.  XI,  6,  1,  7 ,  den  schönen  {kalyäna)  Mann  PB.  XIII,  6,  9, 
dann  Sänkh.  Sr.  XII,  21,  2,  3.  4  und  die  janapadakalyäni  der  Bud- 
dhisten, so  wird  man  nicht  bezweifeln,  daß  dies  der  normale  Ausdruck 
für  schöne  persönliche  Erscheinung  war.  In  der  jüngeren  Veda- 
sprache  ist  die  Gebrauchssphäre  weiter;  k.  erscheint  als  Beiwort 
u.  a.  von  väc,  von  loka ;  angenehme  Funktionen  und  Eindrücke  der 
verschiedenen  Geisteskräfte  und  Sinnesorgane  heißen  kalyäna  (Sat. 
Br.  XIV,  4,  1,  3 ff.);  wer  eine  schöne  d.  h.  gute,  jenseitigen  Lohn 
verdienende  Tat  vollbracht  hat,  sagt  kalyänam  akaravam  (das.  XIV, 
7,  2,  27)  *).  Die  Verteilung  der  Belege  läßt  vermuten,  daß  das  gegen- 
über der  Beziehung  auf  Persönliches  sekundär  ist.  Insonderheit 
über  die  in  der  letztangeführten  Stelle  vorliegende  ethische  Ver- 
wendung des  Worts  wird  man  zuversichtlich  so  urteilen^). 


1)  Drei  der  vier  Stellen  stehen  in  Anhangshymnen  bz.  im  X.  Buch.  Zusammen 
mit  dem  l  und  n  scheint  dies  das  Wort  als  minder  alt  zu  erweisen.  Doch  ist 
schwer  zu  glauhen,  daß  ein  gleichwertiges  Wort  nicht  auch  in  ältester  Zeit  vor- 
handen gewesen  sei.  Wurde  damals  noch  ^karydvjta  (von  dem  kalyäi^a  sein  n  be- 
zogen hätte?  vgl.  Wackernagel  Gramm.  I,  193)  oder  vielleicht  srira  gesagt 
(man  bemerke  den  Gegensatz  von  asUlam  und  kalyänam  Käth.  XII,  10,  p.  173,  7 ; 
vgl.  auch  PB.  II,  17,4  mit  V,  9,14)?  Daß  Belege  fehlen,  kann  doch  wohl  nur 
Zufall  sein. 

2)  Vgl.  kalyäni  von  einer  schönen  Kuh  Ts.  VII,  1,  5,  7 ;  6, 6. 

3)  Hier  noch  aus  dem  Sat.  Br.  einige  Zeugnisse  für  die  sehr  begreiflichen 
Berührungen  von  kalyäm  mit  nahstehenden  Ausdrücken.  III,  5,  4, 17 ;  IV,  6,  9, 19 
erscheint  k^  ais  ungefähres  Synonymum  von  hhadra.  111,4,4,27  steht  sreyämsam 
lokam  jayati  wie  IV,  5,  8, 11  kälyäi^xim  Idkam  ajai§U.  Auch  mit  sädhu  vermischt 
sich  der  Gebrauch  von  kalyäna^  XI,  1, 5, 7  und  an  der  eben  angeführten  Stelle 
XIV,  7, 2, 27. 

4)  Leu  mann  KZ.  XXXIl,  309  hat  vermutet,  daß  fcaZ2/ä9^  ein  dem  bekannten 
-ä«t-Typus  zugehöriges  Femininum,  das  Masc.  Neutr.  kalyäna  erst  daraus  gebüdet 
ist.  Das  Überwiegen  femininischer  Belege  in  älterer  Zeit  wäre  ein  überzeugen- 
deres Argument  dafür,  wenn  in  den  betreffenden  Textschichten  sich  für  das  Masc. 
etwa  kalya  fände.  Da  das  nicht  der  Fall  ist,  möchte  ich  in  jenem  Überwiegen 
des  Fem.  eben  nur  sehen,  daß  man  Frauenschönheit  mehr  als  Männerschönheit 
beachtete. 


Die  vedischen  Worte  für  „schön"  u.  „Schönheit"  u.  d.  vedische  Schönheitsgefühl.     55 

6.  Daß  der  Wzl.  siihh-  und  ihren  Ableitungen  die  Vorstel- 
lung des  Sichschön machens,  von  Putz  und  Prunk  beiwohnt, 
ist  klar  und  bekannt^).  Belege  wie  die  folgenden  sind  häufig: 
Jiiranyena  maninä  mmb}iamänähI,SS,8;  gomätaro  yäc  chuhhdyante 
afijibJiis  tanü§u  stihhrä  äadhire  virükmatah  I,  85, 3 ;  sahlie  riihndm 
nd  darsatdm  nikhätam  I,  117,  5  usw.  Es  braucht  sich  nicht  durch- 
aus um  die  Verwendung  von  Schmuck  zu  handeln.  Auch  von  den 
Enten ,  die  sich  putzen ,  heißt  es  tanväh  sumhhata  sväh  X,  95,  9. 
Schließlich  kann  der  Dichter  auch  von  der  einfach  schönen  oder 
ansehnlichen  Erscheinung  als  etwas  Geschmücktem  sprechen,  wo 
dann  die  dem  subh-  beiwohnende  Vorstellung  doch  im  Grunde  die- 
selbe bleibt :  so  bei  gösv  dsve^u  subhrisu  I,  29,  1  (vgl.  V,  34,  8),  wo 
übrigens  die  Vorstellung  von  Putz,  den  die  Tiere  an  sich  tragen, 
nicht  ausgeschlossen  ist;  spärhdyä  sriyä  tanvä  subhänä  VII,  72,  1. 
Die  Vorstellungen  von  sri  und  sübh,  die  hier  zusammentreffen  (vgl. 
oben  S.  37),  sind  doch  deutlich  nuanciert.  Die  Sonne,  Agni  be- 
sitzen vor  allem  sri.  Die  fehlt  den  Marut  keineswegs,  aber  sie, 
die  reich  geschmückt  in  ihrem  Prachtaufzug  einherziehen  {ydc 
chübJiarn  yäthdnä  narah),  sind  doch  vor  allem  Besitzer  der  sübhah  ^). 
Bezeichnend  scheint,  daß  den  für  das  Opfer  zubereiteten  Soma  die 
Milchgüsse  srmanti,  die  Lieder  dagegen  stmibhanti:  die  sri  ver- 
schmilzt mit  dem  Wesen  selbst;  sübh  hängt  diesem  mehr  äußer- 
lich an^). 

7.  Die  Bedeutung  „Schönheit*'  wird  in  Ansprach  genommen 
für  vdpus;  vdpu^e,  subhe,  snye  sollen  synonym  sein:  so  Geldner 
(Ved.  Stud.  III,  95  Anm. ;  Glossar) ,  der  neben  „Pracht ,  Farbe, 
Schönheit"  u.  dgl.  dann  dem  Substantiv  die  Bedeutungen  ^.Indieaugen- 
fallen.  Staunenerregen,  Bewunderung"  und  „Schauspiel,  Wunder" 
gibt.  Auch  hier  kann  ich  in  solch  bunter  Häufung  verschiedener 
Bedeutungen*)  nicht  die  zutreffende  Lösung  des  Problems  sehen. 
Vielmehr  liegt  uns   meines  Erachtens   der  Versuch   ob ,   von  der 

1)  Die,  wie  es  scheint,  speziell  dem  Präkrt  angehörige  Bedeutung  sobhä  = 
mäyä  (Lüders  SB.  Berl.  Akad.  1916,  734 f.)  kommt  hier  natürlich  nicht  in 
Betracht. 

2)  Indessen,  was  auflFallen  kann,  nicht  sie  sondern  die  Asvin  sind  es,  die 
stehend  subhäs  pdti  genannt  werden. 

3)  Was  natürlich  bei  der  Mannigfaltigkeit  vedischer  Gedankenfiguren  doch 
auch  die  Vorstellung  von  der  wie  ein  Kleid  angelegten  sri  (S.  89  A.  1)  nicht  aus- 
schließt. Ein  Vergleich  etwa  der  Belege  der  Dative  sriye  und  subhe  läßt  neben 
der  Berührung  den  hier  angedeuteten  Unterschied  durchaus  empfinden. 

4)  Wie  deren  Daseinsberechtigung  zu  erweisen  ist,  sehe  ich  in  der  Tat  nicht. 
Worauf  beruht  z.  B.  die  Ansetzung  von  „Farbe"  ?  Eine  Stelle  wie  I,  62,  8  {krsnebhih 
,  . .  rmaäbhir  väpurbhilt)  reicht  dazu  nicht  aus. 


5ß  H.  Oldenberg, 

zunächst  festzuhaltenden  Wahrscheinlichkeit  ausgehend,  daß  die 
init  dem  Wort  verknüpfte  Vorstellung  einheitlich,  überall^  giltig 
gewesen  sein  wird,  diese  aufzuzeichnen. 

Nun  wird  väpus  und  die  mit  ihm  zusammengehörige  Wort- 
grappe,  wie  dem  Vedaleser  geläufig  ist,  in  der  Tat  sehr  häufig 
von  glänzenden,  schönen  Erscheinungen  gebraucht :  dem  Licht  Agnis, 
d^m  Wagen  der  Asvin  usw.  Ich  sehe  aber  nicht,  wie  man  mit 
einem  allein  hierauf  basierten  Bedeutungsansatz  dem  Vers  VI,  66, 1 
gerecht  werden  kann  vdpur  ml  tdc  ciJcihise  cid  astu:  es  wird  dann 
davon  gesprochen,  daß  die  irdischen  Kühe  und  die  so  anders  ge- 
artete Prsni  den  gemeinsamen  Namen  dhenü  führen.  „Das  muß 
doch  auch  dem  Kundigen  ein  Wunder  sein",  übersetzt  v.  Bradke 
(Festgr.  f.  Roth  121),  und  ich  wüßte  nicht,  wie  man  wesentlich 
anders  sich  ausdrücken  will;  vdpiis  muß  hier  eben  etwas  sein,  das 
in  der  ßegel  allein  für  den  Unkundigen,  nur  in  besonderen  Fällen 
auch   für    den  Kundigen   dasein   kann.      Damit  halte   man   weiter 

V,  47,  5  zusammen:  iddm  vdjmr  nivdcanam  janäsas  cdranti  ydn  nadyds 
tasthiir  dpnh  usw. :  auch  hier  ist  nicht  von  Schönem,  Prachtvollem, 
sondern  von  rätselhaft  Scheinendem,  Staunen  Erweckendem  die 
Rede.  Nicht  anders  steht  es  mit  vdpuso  vdpustaram  X,  32, 3.  Auch 
bei  III,  1,  4  deväso  aguim  jdnman  vapusyan  liegt  es  nah,  an  das 
Staunen  über  die  wanderbare  Erscheinung  des  neugebornen  Gottes 
zu  denken.  Findet  sich  nun  von  hier  aus  nicht  leicht  der  Weg 
zu  jenen  Stellen,  an  denen  lichte,  glänzende  Erscheinungen  vdpus 
heißen?  Mir  scheint,  daß  überall  die  Vorstellung  des  Erstaun- 
lichen hinreicht^),  welche  die  einander  so  eng  verwandten  Mög- 
lichkeiten von  Bewunderung,  Verwunderung,  Wunder  in  gleicher 
Weise  umfaßt.  Daß  cltrd^  vor  allem  darsatd  u.  dgl.  gern  neben 
vdpus  tritt,  daß  vapusyo  vibhävä  stehende  Verbindung  ist,  begreift 
sich  von  dieser  Annahme  aus  ebenso  leicht,  wie  bei  einer  Be- 
deutung „Pracht,  Schönheit'^;  dasselbe  gilt  von  der  Neigung  von 
vdpus  sich  mit  dem  Verb  chand-  zu  verbinden  (fad  in  nie  cJtantsat 
vdpuso  vdpustaram  X,  32,  3,  sd  tue  vdpus  chadayad  asvinor  yo  rdthdh 

VI,  49,  5):  welche  Ausdrucksweise  kann  natürlicher  sein  als  „das 
und  das  scheint  mir  staunenswürdig"  ?    Damit  sind  wir  nun  etwa 


1)  Damit  meine  ich:  überall  im  j^v.  und  der  nahestehenden  Literatur.  Die 
prinzipiell  auch  innerhalb  dieser  Grenzen  anzuerkennende  Möglichkeit,  daß  Ver- 
schiebungen, Spaltungen  der  Bedeutung  stattgefunden  haben  (die  Beweislast  fällt 
dem  zu,  der  solches  behauptet),  tritt  natürlich  sehr  viel  stärker  in  den  Vorder- 
grund, wenn  wir  die  Folgezeiten  mit  in  Betracht  ziehen. 

2)  Auf  die  für  den  vorliegenden  Zweck  unwesentliche  Unterscheidung  adjek- 
tivischen und  substantivischen  Gebrauchs  gehe  ich  nicht  ein. 


Die  vedischen  Worte  f  iir  „schön"  u.  „Schönheit"  u.  d.  vedische  Schönheitsgefühl.      57 

auf  den  Standpunkt  des  Pet.  WB.  zurückgelangt,  das  auf  das  ho- 
merische ^av^a  Ideöd-ac  hinweist:  überflüssig  dürfte  diese  Ausein- 
andersetzung mit  jener  eine  allzu  unbestimmte,  schillernde  Phy- 
siognomie ergebenden  lexikographischen  Technik  doch  nicht  ge- 
wesen sein ,  speziell,  auch  um  im  Hinblick  auf  die  uns  beschäfti- 
gende Frage  nach  den  Ausdrücken  für  „Schönheit"  und  Verwandtes 
der  Wortgruppe  ihre  Stelle  anzuweisen. 

8,  Schwer  zu  bestimmen  ist  die  genaue  Bedeutung  von  valgü. 
Vom  Verb  vuhj-^  das  springende  oder  wogende  Bewegung  beaeichnet 
(Pferde,  Affen,  frohe  Menschen,  dann  Wasserwogen,  der  wogende 
Busen),  entfernt  sich  der  Gebrauch  des  Adj.  auffallend.  Die  Zu- 
sammengehörigkeit wird  man  kaum  bezweifeln,  aber  eine  besonders 
entschiedene  selbständige  Entwicklung  des  Adj.  annehmen  müssen. 
Dessen  rgvedische  Belege  beziehen  sich  teils  auf  die  Asvin,  teils 
—  wie  auch  recht  häufig  später  (auch  im  Päli)  —  auf  Reden.  Die 
ersteren  Stellen  ließen  sich  allenfalls  mit  der  Bedeutung  des  Verbs 
in  Einklang  bringen.  Soll  man  dies  bei  den  letzteren  durch  Heran- 
ziehung davon  erreichen,  daß  die  Gröttin  Väc  salilä  ist  (Säiikh.  Gr. 
I,  24, 10)  ?  Schwerlich ;  die  Belege  weisen  mehr  auf  den  freund- 
lichen, einschmeichelnden  Charakter  der  Rede,  als  auf  deren  Wogen 
hin  (vgl.  auch  vaJgüyäti  IV,  50,  .7),  und  in  dieselbe  Richtung  zeigt 
die  jüngere  Vedaliteratur ,  z.B.  Av.  II,  36,  1  vom  Weibe:  jfistn 
varesn  sämanesu  valgiih;  TAr.  IV,  11,  3  scheint  v.  etwa  synonym 
mit  samyüdhäyäh.  Kurzweg  „schön"  ist  wohl  nicht  zu  übersetzen. 
Ich  vermute,  daß  das  Wort  nicht  sowohl  wohlgefälligen  Eindruck 
an  sich  hervorhebt,  als  vielmehr  die  geschickte,  glückliche  Bewe- 
gung, die  solchen  Eindruck  weckt.  Das  paßt  auf  die  Aävin  und 
deren  freundliches  Nahen  nach  der  Nacht.  Nur  wenn  Av.  XII, 
3,32  vom  Barhis  gesagt  wird  pnydm  hrdds  cdksuso  valgv  asUf, 
müßte  Abblassen  der  Wortbedeutung  oder  phantasievolle  Aus- 
schmückung der  Vorstellung  angenommen  werden. 

9.  Schießlich  führe  ich  noch  eine  Reihe  mehr  oder  weniger 
den  hier  behandelten  Bedeutungen  nahestehender  Worte  auf,  bei 
denen  bloße  Erwähnung  oder  eine  kurze  Bemerkung  genügen  wird. 
Die  Grenzen  für  das  hier  zu  Berücksichtigende  scharf  zu  ziehen 
ist  natürlich  unmöglich. 

Auch  citrd  scheint  mir  mit  Unrecht  in  der  oben  erwähnten 
Weise  mit  einer  Menge  von  Bedeutungen  ausgestattet  zu  werden, 
wie  „farbenprächtig,  bunt,  schillernd,  schimmernd,  prangend,  blitzend, 
blinkend;  überh.  prächtig,  sehenswürdig,  wunderbar",  dann  „deut- 
lich,  vernehmbar",    ..bunt,   mannigfaltig,    verschiedenartig",    wozu 


58  H.  Oldenberg 

noch  substantivisch  ;, Ausgezeichnetes,  Sehenswürdigkeit,  Natur- 
wunder, Naturschönheit"  gefügt  wird  (Gr  eidner,  G-lossar).  Die 
häufigen  Stellen,  an  denen  citrä  sich  mit  dem  Verb  cit-  verbindet 
(citrdm  cihite  u.  dgl. ;  s.  I,  113, 4 ;  II,  34, 10 ;  lY,  14,  3 ;  23,  2 ;  VI,  6, 7 
usw.),  veranschaulichen,  wie  lebendig  der  etymologische  Zusammen- 
hang für  das  Bewußtsein  der  Vedazeit  war.  Die  so  sich  ergebende 
Bedeutung  „was  (vor  anderm)  wahrgenommen  wird"  ^),  scheint  mir 
überall  durchaus  zu  passen^).  Wahrgenommen  wird  natürlich 
werden  vorzugsweise  das  Helle,  Farbenprächtige,  Bunte,  auch  das 
Schimmernde,  das  Blitzende;  darum  bedeutet  citrd  doch  weder 
^bunt"  noch  „schimmernd"  noch  „blitzend";  wie  sollte  auch  ein 
und  dasselbe  Wort  für  denselben  Elreis  von  Redenden^)  so  Ver- 
schiedenes bedeuten^)?  Der  Vorstellung  des  Schönen,  wie  diese 
in  der  Vedazeit  gestaltet  gewesen  ist,  steht  citrä  offenbar  nah 
genug,  daß  die  Erwähnung  des  Worts  hier  gerechtfertigt  ist;  um 
mehr  als  eine  gewisse  Nachbarschaft  handelt  es  sich  nicht. 

Hier  erwähne  ich  weiter  dar s ata  (darsatas ri,  vgl.  oben 
S.  43  A.  3),  sudrs,  susamdrs ^  siidfsilca  (sudfsikarüpay 
sudrsihasamdrs;  Gegensatz  durdfsiJcd),  auch  susamJcäsd. 
Diese  Worte  geben  Grelegenheit,  an  das  s  u-  als  einen  allerältesten 
Ausdruck  der  Wertschätzung  zu  erinnern,  in  dem  praktische,  ästhe- 
tische, moralische  Bewertung  noch  uiigeschieden  vereint  ist :  wofür 
Belege  überflüssig  scheinen.  Die  meisten  der  angeführten  Zusam- 
mensetzungen (nicht  darsatd)  treten  nur  in  gelegentlichem  Gre- 
brauch  auf. 

rüpä  „die  Gestalt"  kann  wie  später  (z.B.  Sat.  Br.  IX,  4,  1,4? 
XIII,  Ij  9,  6)  so  wahrscheinlich  schon  im  Rv.  auch  „schöne  Gestalt, 
Schönheit"  bedeuten.    Die  Belege  sind  nicht  unbedingt  sicher ;  mit 


1)  Wobei  auch  innere,  geistige  Wahrnehmung  in  Betracht  kommt.  Über- 
wiegend aber  begreiflicherweise  Gesichtswahrnehmung. 

2)  Auch  für  das  substantivierte  Neutrum,  citräni  (vgl.  BR.  citra  4;  Geldner^ 
Ved.  Stud.  111,142;  Caland  Ai.  Toten-  und  Bestattungsgebräuche  32)  sind  be- 
sonders in  die  Augen  fallende  Objekte. 

3)  Denn  auch  hier  untersuche  ich  nicht,  was  in  späteren  Zeitaltern  ge- 
worden ist. 

4)  Wo  dann  bei  der  Verteilung  der  Stellen  auf  die  Bedeutungen  subjektives 
Ermessen  eine  Rolle  spielt,  die  mir  doch  bedenklich  scheint.  Warum  soll  beispiels- 
weise bei  citrdm  isam  I,  63, 8  die  Bedeutung  „bunt,  mannigfaltig"  vorliegen ,  da- 
gegen bei  citräm  bhcjanam  VII,  74,  2  die  Bedeutung  „prächtig"  u.  dgl.  (Geldner)  ? 
Steht  etwas  dem  entgegen ,  die  eine  Steile  aufzufassen  wie  die  andre  ?  Oder 
woher  wissen  wir,  daß  in  Tb.  III,  8,  1,  1  citrä  naksatram  hhavati,  citrdm  vä  etat 
"kdrma  yäd  asvamedhä^  bei  citräm  an  Mannigfaltigkeit  und  nicht  an  die  in  die  Augen 
fallende  Gewichtigkeit  und  Pracht  gedacht  ist? 


Die  vedischen  Worte  für  „schön"  u.  „Schönheit"  u,  d.  vedische  Schönheitsgefühl.     59 

bloßer  Bedeutung  „Gestalt"  auszukommen  ist  schließlich  möglich. 
Doch  liegt  im  Hinblick  auf  die  jüngere  Vedazeit  und  auf  den  be- 
sonders glaublichen  Bedeutungsübergang  kein  Anlaß  vor  sich  gegen 
die  andre  Bedeutung  zu  sträuben;  ich  möchte  sie  etwa  I,  71,  10; 
IX,  65,  18  wahrscheinlich  finden').  Daneben  werden  dann  gele- 
gentlich Ausdrücke  für  „Schönheit"  und  „schön"  durch  Hinzufü- 
gnng  eines  Adjektivs  zu  rüpd  oder  eines  Vordergliedes  der  Zu- 
sammensetzung gebildet :  so  sre^thai  rüpaih  X,  112,  3;  stirüpd 
VIII,  4,  9  (vgl.  I,  4, 1 ;  Gregensatz  virüpa)  und  das  schon  erwähnte 
sudrsikarüpalY^h^lh^  dann  anavadyärüpa  ^,^%,^^  wozu 
ich  —  ohne  Vollständigkeit  zu  erstreben  —  aus  der  Brähmaija- 
literatur  rüpasamrddha  füge;  dies  freilich  wohl  vielmehr  voll- 
kommene Korrektheit  der  Erscheinung  bezeichnend  als  Schönheit; 
rüpasamrddha  ist  der  Wohlgekleidete  Sat.  Br.  XIII,  4,  1,  15. 

Hatten  wir  es  hier  mit  Ausdrücken  zu  tun,  die  den  Gesichts- 
sinn betreffen,  so  wird  svädti  „süß",  svädmän  und  svddman 
,, Süßigkeit"  natürlich  in  erster  Linie  von  der  Geschmacksempfin- 
dung gebraucht.  Aber  —  wohl  mit  steigender  Häufigkeit  in  den 
jüngeren  Partien  des  Rv.  —  süß  heißt  auch  der  Freund  und  die 
Freundschaft,  das  Zusammensitzen  {samsäd)  der  pitdrah]  es  gibt 
süßes  Denken  und  vor  allem  süße  Rede;  süß  ist  die  Gabe  (räti, 
VIII,  68,  14).  Es  ist  begreiflich,  daß  bei  solchen  Wendungen  jemand, 
dem  das  Betreffende  süß  ist,  gern  genannt  wird  oder  leicht  dazu- 
gedacht  werden  kann.  An  svädti  sind  die  mddhti  enthaltenden 
Ausdrücke  anzuschließen. 

ranvd  —  unter  den  Bedeutungen,  die  man  dem  Wort  gibt, 
findet  sich  auch  „schön"  —  wird,  wie  auf  der  Hand  liegt,  durch 
seine  Etymologie  definiert  als  das,  was  von  Wohlsein,  Befriedi- 
gung   erfüllt   oder   damit  verbunden  ist^):    wobei   sowohl  an  das 


1)  Hier  macheich  auf  das  rüpatamadL^B  §at.  Br.  aufmerksam.  Mir  scheint 
das  zu  bedeuten  „das  ausgesprochenste  rüpa^,  nicht  „farbigst"  (BR.). 

2)  Bei  dieser  Gelegenheit  bemerke  ich  über  das  mit  ranvä  so  eng  zusam- 
mengehörige rdna,  daß  ich  gegen  die  herkömmliche,  befremdend  aussehende  Doppel- 
ansetzung der  Bedeutung  1.  „Ergötzen",  2.  „Kampf"  (das  Bindeglied  soll  die  Vor- 
stellung der  Kampfeslust  abgeben)  Bedenken  habe.  Ich  glaube,  die  zweite  Bedeu- 
tung ist  für  den  Veda  zu  streichen,  obwohl  sie,  wie  mir  scheint,  auf  Grund  miß- 
verständlicher Auffassung  des  Veda,  bekanntlich  in  der  späteren  Sprache  lebendig 
gewesen  ist.  Die  dafür  in  Anspruch  genommenen  Belege  scheinen  mir  doch  nicht 
ganz  auszusehen  wie  die  von  yüdh.  Ich  veranschauliche  meine  Auffassung  von 
rdna  an  dem  für  die  Bedeutung  „Kampf"  angeführten  Beleg  ^(über  Agni)  dhanam- 
jayö  räne-rafie  (1,74,3;  VI,  16,  15;  vgl.  Av.  V,  2,  4).  Die  Deutung  knüpfe  ich 
daran  an,  daß  es,  in  Konformität  mit  diesem  Wortlaut,  ein  dhanajit  und  ebenso 
ein  ranyajit  gibt.    ra^yajU  ist  nun  der  gojit,  asvajit,   zu  dem  man  sagt  prajdvad 


60  H.  Oldenberg,  . 

Subjekt,  das  diese  Stimmung  empfindet,  gedacht  sein  kann,  wie 
daran,  was  sie  erregt.  Die  am  Soma  sich  freuenden  Götter  werden 
mit  ndro  ranväh  verglichen  (VII,  59,  7);  ramä  sind  die  mit  Agni 
vereinten  ndro  nrsddane  (V,  7,  2) ;  anderseits  ist  ranvd  das  okah  ^) 
(IV,  16,  15;  vgl.  h§etra7n  mi  ranvdm  ücuse  X,  33,  6),  di\Q  pusti  (I,  65,  5; 
II,  4,  4;  vgl.  IV,  16, 15)  u.  dgl.  mehr. 

Keine  vollkommen  scharf  gezeichnete  Physiognomie  —  wie  ja 
nicht  befremdet  —  zeigt  vämd.  Klar  ist  der  Zusammenhang  mit 
van-f  und  zwar  unter  den  so  weit  auseinander  gehenden  Gebrauchs- 
typen  dieses  Verbs  (oder  dieser  Verba  ?)  doch  wohl  mit  Äußerungen 

rätnam  d  hhara  (auch  rdtna  zu  ran-  gehörig,  wie  ja  längst  vermutet  ist  ?),  IX, 
59,1.  Und  ränya  sind  solche  Dinge,  wie  für  Indra  der  Soma  IX,  96, 9  (vgl. 
Pischel,  Ved.  Stud.  1,66).  Es  scheint  mir  nicht  hinreichend  begründet,  daß 
man  auch  für  ränya  eine  Bedeutung  „Kampf"  in  Anspruch  genommen  hat  (BR.). 
Die  einzige  Stelle,  die  ernstlich  bedenklich  machen  könnte,  ist  X,  112,  5  ydsya 
säsvat  papivdn  indra  sätrün  anänukrtyd  ränyä  cahärtha  (vgl.  Gaedicke,  Akku- 
sativ 269).  Der  Vers  ergibt  doch  offenbar  kein  sicheres  Resultat.  Er  kann  sehr 
wohl  bedeuten,  daß  Indra  an  den  Feinden  unnachahmliche,  (ihm,  uns)  Wohlge- 
fallen schaffende  Taten  getan  hat  (vgl.  krte  cid  dtra  marüto  rananta  VII,  57,  5). 
ranyajit  wird  dementsprechend  der  sein,  welcher  Wohlsein  erzeugende  Güter  er- 
siegt. Ist  danacli  nicht  der  rdria  zu  beurteilen,  der  mit  Agni  dem  dhanamjayä 
verknüpft  ist?  Bedeutet  also  dhanamjayö  räne-rane  rncht,  daß  bei  einem  über 
dem  andern  Wohlsein  (räna),  das  den  Frommen  (und  den  Göttern  selbst?)  zuteil 
wird,  immer  Agni,  den  man  ranyajit  nennen  könnte,  sich  als  Gewinner  des  be- 
treifenden Gutes  und  Glücks  erwiesen  hat?  111,34,4,  Vill,  96, 16  veranschaulicht, 
wie  der  Sieg  des  Gottes  den  Welten  räna  (Wohlsein)  bringt;  vgl.  auch  X,  11.5,4 
das  Nebeneinander  von  ranvdsaJi  (für  welches  Wort  man  doch  m.  W.  kriegerische 
Bedeutung  nicht  in  Anspruch  genommen  hat)  und  yüyudhayaTj,.  Neben  alldem 
kann  man  übrigens  dann  noch  die  (mir  allerdings  nicht  wahrscheinliche)  Möglich- 
keit geltend  machen,  daß  \I,  16, 15  räne-rane  überhaupt  nicht  mit  dasyuhdntamam 
zusammengehört,  sondern  mit  säm  tdhe.  —  Ein  Beleg  Geldners  (Glossar)  für 
den  kriegerischen  Sinn  von  räna  ist  VI,  31,5  (an  Indra):  mdhate  ränäya  rätham 
ä  tistlia.  Wird  dies  mahate  ränäya  anderes  bedeuten  als  brhate  ränäya  Av.  II> 
4, 1 ,  wo  das  Amulet  seinem  Träger  zu  Wohlsein  verhilft  ?  Oder  als  das  brhate 
räti^äya  Rv.  Ill,  34,  4,  mähe  ränäya  X,  9,  1  usw.?  Warum  also  nicht  VI,  31,  5  dahin 
verstehen ,  daß  Indra  den  Wagen  besteigen  soll ,  um  zu  großem  Wohlsein  zu  ge- 
langen ?  —  Den  Purüravas  stärken  die  Götter  mähe  ränäya  dasyuhälyäya  X,  95, 7 
(auch  hier  r.  nach  Geldner  „Kampf");  was  daran  erinnert,  wie  an  der  eben  be- 
sprochenen Stelle  VI,  16, 15  neben  dhanamjayäm  räne-rane  steht  dasyuhdntamam . 
Soll  hier  mähe  ränäya  etwas  andres  sein  als  X,  9, 1  ?  Warum  nicht  „zu  (Gewinn 
von)  großem  Wohlsein"?  •—  Die  früher  (Ved.  Stud.  11,39)  von  Geldner,  offen- 
.bar  mit  Rücksicht  anf  die  klassische  Sprache,  angenommene  Bedeutung  „laut 
werden"  für  vedisches  ran-  hat  er  im  Glossar  fallen  gelassen,  m.  E.  mit  Recht. 
Auf  die  Vermutungen*  über  vorgeschichtlichen  Zusammenhang  mit  ram-  (worüber 
zuletzt  Brugmann  Grundriß^  11^3  s.  314)  ist  hier  nicht  der  Ort  einzugehen. 

1)  Oder  dieses  wird,  genauer  gesagt,  der  Vorstellung  des  ranvd  sehr  nah 
gerückt. 


Die  vedisclien  Worte  für  „schön"  u.  „Schönheit"  u.  d.  vedische  Schönheitsgefühl.      61 

wie  väsüni  ...  iä  vanäwahe  1, 15,  8  (vgl.  VII,  94,  9) ;  ähnlich  sprechen 
ja  die  BrähmaiCias  mit  Vorliebe  vom  vämam  vnsu  (Ts.  I,  5,  1 ,  1 ;  2,  3 ; 
Tb.  1,1,2,  3;  Käth.  XXV,  6,  vgl.  XXXIX,  1);  vomsimähi  vämdm 
heißt  es  VI,  19,  10.  Als  vamd  wird  dem  entsprechend,  scheint  mir, 
in  erster  Linie  das  bezeichnet,  an  dessen  Erlangung  man  sich  freut 
oder  freuen  möchte.  Dazu  paßt,  daß  das  Wort  gern  als  substan- 
tiviertes Neutrum  erscheint.  Gegenüber  dem  in  seiner  Bedeutung 
ja  nicht  fern  stehenden  hhndrd  betont  vämd  wohl  mehr,  daß  es  sich 
um  das  Ziel  eines  darauf  gerichteten  (gerichtet  gewesenen)  Streben» 
handelt;  visvä  vänidni  dhwmhi  ist  eine  mehrfach  wiederholte  Wen- 
dung. Der  h'dtii  ist  bhadtd ;  daß  er  vämd  hieße,  läge  kaum  nah 
Des  Gottes  hdsiä  sind  hliadrd  IV,  21,  9;  Usas  ist  bhadtd,  aber  sie 
leachtet  uns  auf  sahd  vämcna  (I,  48,  1)  und  ist  dntivämä  VII,  77,  4. 
Nun  wird  freilich  vämd  vereinzelt  auch  von  persönlichen  Wesen 
gebraucht  wie  I,  164, 1;  X,  122,  1,  oder  von  einer  Wesenheit  wie 
dem  siiMa  (Opferformel  bei  Caland-Henry  221).  Wenn  PB.  XIII, 
3,  19  väina  als  Beiwort  eines  zu  lobenden  {yam  .  .  .  prasamsanti) 
Rindes,  ßosses,  Mannes  erklärt  wird,  trifft  diese  Angabe,  zu  der 
die  Besprechung  des  vanna  den  Anlaß  gibt,  den  rgvedischen  Haupt- 
sinn des  Worts  doch  nur  ungefähr.  Die  spezielle  Beziehung  auf 
Körperschönheit  (wie  in  vämahhrü,  vämanelrä)  ist  jung. 

10.  Wir  haben  die  vedischen  Worte  für  Schönheit  und  ver- 
wandte Vorstellungen  durchmustert.  Es  liegt  nah  noch  einen  Blick 
darauf  zu  werfen,  wie  der  Dichter  des  IJgveda  die  ihm  vorschwe- 
benden Erscheinungen  von  Schönheit  beschreibt  —  vielmehr  Frag- 
mente von  Beschreibungen  gibt,  denn  für  ihn  handelt  es  sich  ja 
darum  den  Gott  zu  preisen  —  :  wobei  natürlich  reichere  Ausdrucks- 
mittel verwandt  werden,  als  jene  die  Schönheit  direkt  benennenden 
Worte. 

Ein  junger  vedischer  Autor  sagt  einmal:  „Wer  tanzt,  wer 
singt,  an  dem  hängen  die  Weiber  am  meisten".  Kein  Zweifel,  daß 
in  solch  profaner  Lyrik,  die  selbstverständlich  auch  in  der  Zeit 
des  Bgveda  in  Blüte  stand,  vieles  anders  ausgesehen  hat,  als  in 
den  Opferhymnen.  Wir  kennen  leider  nur  diese,  und  von  ihnen 
allein  können  wir  sprechen. 

Schönheit  sah  der  vedische  Poet  zunächst  in  der  menschlichen 
Erscheinung  und  —  dies  für  die  geistlichen  Sänger  der  Hauptiall 
—  in  der  Erscheinung  der  menschenähnlichen  Götter.  Er  sah  sie 
weiter  in  der  Natur:  was  denn  wieder  vielfältigst  auf  die  Götter- 
welt führt,  insofern  die  Natur  sich  in  göttlicher  Verkörperung 
darstellt.  Er  sah  sie  endlich  in  den  Werken  menschlicher  Kunst- 
fertigkeit, vor  allem  in  seinem  eignen  Werk,  dem  Gedicht. 


62  H.  Oldenberg, 

Wir  beginnen  mit  den  Göttern. 

Dem  vedischen  Grott  kommt  Schönheit  keineswegs  als  selbst- 
verständlicher Besitz  zu.  Wie  unter  Menschen,  so  gibt  es  auch 
in  der  Grötterschar  nicht  nur  junge  und  alte,  sondern  auch  schöne 
und  minder  schöne  *).  Beim  großen  Dreinschläger  Indra  tritt  neben 
seiner  Riesenstärke  Schönheit  wenig  hervor.  Der  erhabenste  aller 
Vedagötter,  Varuna,  wurde,  wenigstens  nach  der  Angabe  jüngerer 
Texte,  bei  einem  bestimmten  Opfer  durch  einen  verkrüppelten, 
kahlköpfigen,  gelbäugigen  Menschen  dargestellt:  „das  ist  die  Gestalt 
des  Varuna".  Hat  die  Scheu  vor  dem  gefährlichen  Gott  seiner 
Erscheinung  eine  Furchtbarkeit  mitgeteilt,  die  als  abstoßendste 
Häßlichkeit  erschien? 

Zur  Veranschaulichung  nun  davon,  wie  Götterschönheit  sich 
im  Veda  darstellt,  greife  ich  zwei  Beispiele  heraus.  Auf  der  einen 
Seite  eine  durchsichtigste,  schon  sprachlich  durch  den  Namen  an- 
gezeigte Vergöttlichung  einer  Naturerscheinung,  auf  der  andern 
«in  Götterpaar,  dessen  Naturbedeutung  für  das  Verständnis  der 
Verehrer  verdunkelt  war.  Jene  weiblich,  dies  Paar  jünglingshaft 
männlich:  TJsas  (die  Morgenröte)  und  die  beiden  Asvin. 

Bei  Betrachtung  der  Usas  erinnern  wir  uns  zuvörderst  daran, 
daß  hier  die  Naturerscheinung  und  das  menschenähnliche  Bild  be- 
ständig durcheinander  fließen.  Der  Lichtglanz  des  Morgenhimmels 
gerinnt  zu  weiblicher  Gestalt;  diese  Gestalt  verschwimmt  wieder 
in  der  Lichterscheinung:  solches  Hin  und  Her  ist  eben  das  Cha- 
rakteristische. Was  das  Auge  am  Morgenhimmel  sieht,  ist  bald 
die  Göttin,  bald  ist  es  ein  Teil  von  ihr,  etwa  ihr  Busen;  oder  es 
ist  ihr  Gewand,  ihr  Schmuck,  ihr  Getier,  ihre  Hervorbringung, 
ihre  Gabe.  Unaufhörlich  wechselt  eine  Auffassung  mit  der  andern, 
spielt  auch  zwischen  direkter  Gleichsetzung  und  bloßer  Vergleichung 
ein  beständiges  Sichlockern  und  Sichbefestigen  der  Bilder  hin  und 
her^).  Durch  alles  aber  zieht  sich  der  unverwandte  Hinblick  auf 
üsas'  Schönheit.  Sie  ist  das  schönste  (.sVes^Aa)  Licht  der  Lichter. 
Leuchte  uns  mit  deinen  schönsten  Strahlen,  ruft  man  sie  an. 
Zur  Schönheit  (sri)  haben  sich  die  leuchtenden  Morgenröten  er- 
hoben.    Der  Schein  der  Himmelstochter  Usas  ist  erschienen,    daß 


1)  Man  wird  an  dieser  sich  aufdrängenden  Beobachtung  nicht  durch  eine 
solche  gelegentliche  Äußerung  wie  VI,  48,  19  (oben  S.  38  A.  3)  irre  werden. 

2)  Wie  es  da  auch  nur  ein  reines  Wortspiel  zu  sein  braucht,  das  die  Brücke 
zwischen  Bild  und  AVirklichkeit  schlägt ,  zeigt  I,  92,  3  ärcanti  ndrir  apäso  nä 
mdihhil^,  wo  der  Doppelsinn  von  arc-,  „leuchten"  und  „singen"  dazu  führt,  daß 
die  leuchtenden  Morgenröten  mit  fleißigen,  bei  der  Arbeit  singenden  Frauen  ver- 
glichen werden. 


Die  vedischen  Worte  für  „schön"  u.  „Schönheit''  u.  d.  vedische  Schönheitsgefiihl.      63 

Schönheit  gesehen  werde.  So  lassen  die  Dichter  der  Usas- 
hymnen es  sich  fortwährend  angelegen  sein,  Vorstellungen  gefäl- 
liger Anmut,  Erinnerungen  an  bunt  erfreuliche  Eindrücke  —  hier 
und  da  streifen  sie  vielleicht  an  das  Sinnliche  —  heraufzube- 
schwören. 

Es  ist  eine  wahrhaft  staunenswerte  Fülle  sinniger  Gedanken- 
spiele und  tiefgründiger  Gedanken,  die  jenen  Alten  der  Anblick 
des  Morgenhimmels  geweckt  hat  und  in  deren  Mitte  wie  in  einer 
Umrahmung  die  Erscheinung  der  schönen  G-öttiü  steht  —  vielmehr 
nicht  steht,  sondern  in  wechselnden  Gestalten  schwankt.  Da  ist 
die  Rede  vom  Schwesternpaar  Nacht  und  Morgenröte,  die  gemein- 
sam ihren  unendlichen  Weg  ziehen,  die  schwarze  der  hellen  das 
Feld  räumend  —  von  den  Vergangenheitsfernen  der  ersten  Morgen- 
röte, die  des  ersten  Tages  Namen  kennt  —  von  den  Morgenröten 
der  Zukunft,  den  vielen,  die  noch  nicht  aufgeleuchtet  haben  — 
vom  Zügel  des  Rta,  der  Weltordnung,  der  die  unwandelbar  ge- 
wisse Wiederkehr  der  Morgenröten  lenkt  —  vom  Aufflammen  des 
morgendlichen  Feuers,  dem  Auffliegen  der  Vögel,  dem  Sicherheben 
der  Menschen  vom  Schlafe,  wenn  die  G-öttin  Usas  kommt  und  ihr 
nachgehend,  wie  ein  Jüngling  dem  Mädchen,  der  Sonnengott.  Und 
nun  die  Bilder  ihrer  eignen  Erscheinung  und  ihres  Tuns.  Einen 
Teil  der  Züge  liefern  die  Motive  von  Licht  und  Himmelsweiten. 
Es  wurde  schon  erwähnt,  daß  sie  das  schönste  Licht  der  Lichter 
genannt  wird.  Bis  zu  des  Himmels  Ende  hat  sie  sich  ausgebreitet 
und  bis  zur  Erde.  Ihre  hellen,  unsterblichen  Strahlen  verteilen 
sich  über  die  Räume.  Sie  steht  da,  das  Wahrzeichen  der  Unsterb- 
lichkeit. In  Licht  ist  die  Himmelstochter  gekleidet.  Rötliche  Kühe 
fahren  ihren  Wagen.  Andre  Züge  dieser  Bilder  stammen  aus  dem 
menschlichen  Dasein,  dem  Alltagsleben.  Wie  ein  Mädchen  mit 
ihrem  Körper  prangend,  lächelnd  zeigt  die  Junge  ihren  Busen. 
Wohl  anzuschauen  wie  ein  Weib  von  der  Mutter  geschmückt  zeigt 
sie  ihren  Körper.  Wie  ein  Mädchen,  das  keine  Brüder  hat,  geht 
sie  den  Männern  entgegen.  Sie  salbt  sich  mit  Salben,  wie  Frauen, 
die  zu  einem  Fest  gehen.  Aufgerichtet  steht  sie  da  gleich  einer 
Badenden,  daß  wir  sie  schauen  mögen.  Helles  Gewand  tragend 
ist  sie  licht  erglänzt.  Dazwischen  Vergleiche  aus  andern  Sphären 
der  täglichen  Existenz :  wie  eine  Stute  —  daran,  daß  göttliche  Er- 
habenheit solchen  Vergleich  ausschlösse,  ist  natürlich  nicht  zu 
denken  — ;  dann  ein  Bild,  döm  man  die  Herkunft  aus  der  Priester- 
phantasie ansieht:  wie  die  Opferpfosten,  die  bei  den  Opfern  auf- 
gerichtet sind  (um  die  Tiere  daran  zu  binden).  Näher  ausgeführt 
werden  alle  diese  Bilder  nicht ;  ebenso  wenig  findet  sich  zusammen- 


ß4  H.  Oldenberg, 

hängende  Schilderung  von  Vorgängen,  in  denen  sich  die  Erschei- 
nung der  Göttin  abzeichnen  könnte.  Sondern  ordnungslos  verstreut 
hier  dieser,  dort  jener  Zug,  viel  Farbe  and  Licht,  wenig  feste 
Linien,  alles  vermischt  mit  dem  Preise  von  Usas  göttlichen  Wohl- 
taten und  mit  Bitten.  Fortwährende  Vergleiche  müssen  die  noch 
unentwickelte  Fähigkeit ,  die  Erscheinungen  direkt  zu  zeichnen, 
ergänzen.  Bemerkenswert  ist,  daß  vom  Antlitz  der  Göttin,  wenn 
ich  nicht  irre,  nirgends  die  Rede  ist,  man  müßte  denn  die  Erwäh- 
nung ihres  Lächelns  hierher  ziehen:  wie  überhaupt  Leben  und 
Schönheit  des  menschlichen  Gesichts  den  Dichtern  des  Rgveda 
noch  wenig  aufgegangen  ist^).  Für  unsere  Empfindung  liegt  eine 
gewisse  Dissonanz  darin,  daß  deren  Phantasie,  welche  die  un- 
endlichen Weiten  der  Himmelsräume,  der  Vergangenheit  und  Zu- 
kunft so  kühn  durchstreift,  dann,  wenn  sie  der  Göttin  Gestalt 
menschengleich  zu  bilden  versucht,  sich  nicht  über  die  schlichteste 
Wirklichkeit  des  umgebenden  Kleinlebens  zu  erheben  weiß.  Was 
sie  da  schafft,  ist  die  Gestalt  einer  anmutigen  Dorfschönen  von 
zweifelhaften  Sitten.     Der  ambrosische  Zug  fehlt.  — 

Bei  den  beiden  Asvin  lag,  wie  schon  bemerkt,  für  die  ve- 
dischen  Dichter  eine  andre  Situation  vor,  da  hier  die  Naturgrund- 
lage —  meiner  Überzeugung  nach  Morgenstern  und  Abendstem  — 
in  Vergessenheit  geraten  war.  Man  sah  Usas ;  die  Asvin  sah  man 
nicht.  Schönheit  {sri)  schreibt  der  Rgveda  diesem  Götterpaar  wohl 
noch  häufiger  und  nachdrücklicher  zu,  als  der  Morgenröte.  „Mit 
Schönheit  seid  ihr  vereint",  wird  zu  ihnen  gesagt;  man  gedenkt 
ihrer  „ansehnlichen  Schönheiten"  {srzhJdr  darsatdbhih) ',  „zur  Schön- 
heit hat  die  Tochter  der  Sonne  euren  Wagen  bestiegen" ;  „eure 
Schönheit  hat  das  junge  Weib  erwählt,  der  Sonne  Tochter".  Und 
mehrere  der  andern  oben  besprochenen,  der  Vorstellung  der  Schön- 
heit nah  stehenden  Ausdrücke  werden  mit  Vorliebe  eben  inbezug 
auf  die  A^vin  gebraucht^).  Man  nennt  sie  jung,  sehr  glänzend; 
sie  tragen  Goldschmuck,   den  Lotuskranz.     Von  der  Lebendigkeit, 


1)  Man.  selie,  um  nur  einiges  herauszugreifen,  11,  32,  6.  7 ;  X,  86,  8 :  was  da 
an  Frauen  —  daß  es  göttliche  sind,  macht  keinen  Unterschied  —  gerühmt  wird, 
sind  die  schönen  Arme  und  Finger  (subähüi,  —  welch  andres  Bild  gibt  Xsvyi&Xsvog 
—  svangurilt),  die  starken  Zöpfe,  der  breite  jaghana  (dessen  gewaltige  Dimension 
bei  einer  Göttin  Käth.  VIII,  17  hervorhebt).  Auf  die  Haartracht  legt  auch  Vs.  XI,  56 
besonderes  Gewicht.  Die  Schönheiten,  welche  Rv.  X,  86,  6  die  Göttin  an  sich  preist 
(nä  mdt  stri  subhasättarä  usw.),  hängen  natürlich  mit  dem  besondern  Zweck  zu- 
sammen, den  sie  dort  verfolgt. 

2)  Sie  sind  die  suhhäs  päti,  oben  S.  55 ;  valgu,  oben  S.  57 ;  häufig  begegnet 
in  Zusammenhängen,  die  sie  betreffen,  das  Wort  väpus  (S.  55  f.). 


Die  vedischen  Worte  für  „schön"  u.  „Schönheit"  u.  d.  vedische  Schönheitsgefühl.     65 

die  an  manchen  Stellen  der  Usashymnen  erreicht  wird,  fehlt  meiner 
Empfindung  nach  ihrem  Bilde  doch  etwas.  Die  vedischen  Dichter 
scheinen  in  diesem  Fall  durch  die  Verschiebungen,  welche  die 
Grötter.  von  der  Naturerscheinung  entfernt  haben,  gehemmt  zu  sein : 
die  Kraft  auch  Nichtgesehenem  volle,  anschauliche  Wirklichkeit  zu 
verleihen,  haben  sie  eben  nur  selten  bewährt.  Bei  den  A^vin 
griffen  sie  gern,  wie  um  den  Mangel  gutzumachen,  noch  weit  über 
ihr  gewohntes  Maß  hinaus  zu  Vergleichungen,  zuweilen  in  langen 
Reihen  —  Vergleichungen,  die  keine  feste  Linienführung  eines 
selbständig  dastehenden  Bildes  beleuchteten  und  belebten,  sondern 
sich  ihrerseits  allein  in  den  Vordergrund  drängend,  bunt  mit  ihren 
Motiven  wechselnd  durch  Häufungen  gesuchter  Einfälle  die  Phan- 
tasie  eben  nur  hin  und  her  warfen:  wie  zwei  Brahmanen  tragen 
die  A^vin  ihren  Spruch  vor ;  wie  zwei  Weiber  sind  sie ,  die  sich 
putzen;  wie  zwei  Schiffe  mögen  sie  uns  zum  Ziel  bringen,  und  so 
fort^),  wo  dann  die  Masse  der  Bilder  das  Bild  ibrer  Erscheinung 
und  ihres  Tuns  durchaus  verbirgt.  Es  ist  bezeichnend,  daß  diese 
Lieder  ziemlich  ebenso  viel  wie  vom  Aussehen  der  Asvin  selbst  von 
dem  ihres  Wagens  sprechen,  des  glänzenden,  goldenen,  schönge- 
schmückten, der  mit  seinen  Radschienen  leuchtet,  dessen  Geleise 
von  Butter  triefen.  Den  Dichtern,  die  den  Herren  prächtiger 
Wagen  dienten  oder  selbst  Wagenbesitzer  waren,  hat  dies  Phan- 
tasiebild des  göttlichen  Wagens  vielleicht  in  größerer  Bestimmtheit 
vorgeschwebt,  als  die  ungewisse,  lichtumwobene  und  doch  keinem 
der  sichtbaren  Lichtgebilde  verwandt  scheinende  Grestalt  der  himm- 
lischen Jünglinge  selbst.  — 

Wenden  wir  uns  von  diesen  rgvedischen  Bildern  der  GÖtter- 
schönheit  zu  denen  der  Naturdinge  und  Naturereignisse,  so  ist, 
wie  schon  bemerkt,  die  Grenze  verschwimmend.  Es  ist  ja  nur 
ein  relativer  Unterschied,  ob  dem  Dichter  mehr  jene  übermensch- 
lichen, doch  von  der  Natur  meist  untrennbaren  Gestalten  sich  her- 
vorheben oder  das  Naturbild,  das  seinerseits  überall  von  jenen 
Gestalten  belebt  ist,  in  ihnen  sein  Wesen  und  seinen  Sinn  zu- 
sammenfaßt. 

Eine  bedeutendste,  für  das  Dasein  des  vedischen  Inders  durch- 
aus entscheidende  Naturmacht  sind  die  Flüsse,  unter  denen,  „den 
dahineilenden,  an  Gewalt  voran  die  Sindhu  (Indus)  steht''.  Wie 
schildert  der  Dichter  den  mächtigen  Strom?  „Am  Himmel  hat 
ihr  Rauschen  seinen  Stand,   droben  über  der  Erde.     Endloses  Un- 


1)   Ich  weise  vornehmlich  auf  11,39;  VIII,  35,  7— 9    und   das   meist  dunkle 
Lied  X,  106  hin. 
Kgl.  Ges.  d.  Wiss.    Nachrichten.    Phil.-hist.  Klasse.    1Q18.    Heft  1.  5 


66  Ö.  Oldenberg, 

gestüm  erregt  sie  mit  ihrem  Licht.  Wie  aus  der  Wolke  donnern 
die  Regengüsse  hervor,  wenn  die  Sindhu  einhergeht  gleich  brül- 
lendem Stier  .  .  .  Vorwärts  strömend,  bunt,  hell  in  ihrer  Größe 
verbreitet  sie  durch  die  Weiten  ihre  Lüfte,  die  untrügliche  Sindhu, 
der  Tätigen  tätigste,  gleich  einer  Stute  prächtig,  wie  eine  Wunder- 
gestalt anzuschauen  .  .  .  Ihren  leichten  Wagen  hat  die  Sindhu 
angespannt,  den  roßgezogenen.  Mit  ihm  hat  sie  den  Siegespreis 
gewonnen  in  diesem  Wettlauf.  Grroß  seine  Größe  wird  gerühmt, 
der  untrüglich  ist,  selbstglänzend,  segenströmend"  (X,  75,  3.  7.  9). 
Man  sieht,  wie  Himmel  und  Erde  dienen  müssen,  die  Sindhu  zu 
verherrlichen,  Licht  und  Lüfte,  Wolke  und  Regenströme,  Wagen, 
Roß,  brüllender  Stier.  Auch  hier  eine  Flut  von  Bildern,  die  sich 
in  des  Dichters  Phantasie  drängen ;  jedes  wirft  er  mit  einem  Wort 
hin,  bei  keinem  verweilt  er;  alle  zusammen  geben  einen  Gesamt- 
eindruck, in  dem  grenzenlose  Weiten,  Glanz,  Getöse,  stürmende 
Bewegung,  Sieg  durch  einander  blitzen  und  wogen.  Ein  andrer  Poet 
spricht  vom  Gewitter  (V,  83):  Löwengebrüll  erhebt  sich  aus  der  Ferne, 
wenn  Gott  Parjanya  das  Regengewölk  schafft.  Die  Winde  stürmen 
hervor.  Die  Blitze  fliegen.  Die  Kräuter  schießen  empor.  Die  Sonne 
trieft  von  Feuchtigkeit.  Die  Erde  beugt  sich  nieder  unter  des  Gottes 
Gebot.  Oder  der  Sonnenaufgang  (I,  50) :  die  Sterne  schleichen  weg 
wie  Diebe,  die  Sonnenstrahlen  werden  sichtbar  unter  den  Menschen, 
glänzend  wie  Feuerflammen.  Aber  neben  dem  Wunder anblick  der 
Sonne  läßt  der  Gott  den  Menschen  auch  den  der  Finsternis  schauen 
(VII,  88,  2)  —  das  ruhevolle  Bild  der  Nacht  (X,  127).  An  vielen 
Orten  hat  die  Göttin  Nacht  aufgeblickt  mit  ihren  Augen;  alle 
Schönheiten  (sriyaJi)  hat  sie  sich  angelegt.  Sie  hat  die  Weite  er- 
füllt, die  Tiefen  und  die  Höhen.  Die  Dörfer  sind  zur  Ruhe  ge- 
gangen, zur  Ruhe  was  läuft,  zur  Ruhe  was  fliegt,  zur  Ruhe  selbst 
die  gierigen  Adler  ^).  Nun  der  Mond-  und  Sternenschein  (I,  24, 10): 
jenes  Bärengestirn  dort  oben  —  bei  Nacht  sieht  man  es ;  bei 
Tage  ist  es  fortgegangen,  man  weiß  nicht  wohin.  Durch  die 
Nacht  blickend  geht  der  Mond.  Endlich  der  Wald,  wo  die  Wald- 
frau haust  (X,  146)  —  ob  sie  sich  nicht  in  der  Einsamkeit  fürchtet  ? 
Tierstimmen  erklingen;  dem  Ruf  des  Stierbrüllers  antwortet  der 
Zwitscherer.  Da  meint  der  Wanderer ,  daß  er  Rinder  weiden 
sieht,  oder  daß  er  ein  Haus  sieht.  Abends  hört  man  ein  Knarren 
wie  von  einem  Lastwagen:  das  ist  die  Waldfrau  .  .  . 

Alle  einzelnen  Erscheinungen  der  Natur  aber    fassen  sich  zu- 
sammen  im  Bilde    eines   mächtigen,    kunstvoll   gefügten   Ganzen. 

1)  Neben  das  rgvedische  Lied  halte   man  Av.  XIX,  49.     Auch   dort  ist  von 
der  sri  oder  den  sriyalk  der  Nacht  die  Rede,  indem  sie  sanibhrtcisrib,  genannt  wird. 


Die  vedischen  Worte  für  „schön"  u.  „Schönheit"  u.  d.  vedische  Schönheitsgefühl.     67 

Weise  in  seiner  Größe  ist  des  Gottes  Wesen,  der  die  beiden  Welten 
(Himmel  und  Erde)  aus  einander  gestützt  hat,  der  das  erhabene 
Himmelsgewölbe  emporgetrieben,  Sternenwelt  und  Erde  ausge- 
breitet hat  (VIT,  86,  1)  —  jener  gute  Werkmeister,  der  die  wohl- 
gegründeten Luftwelten  im  balkenlosen  Raum  weise  zusammen- 
fügte (IV,  56,  3)  —  der  Vater,  der  Himmel  und  Erde  in  Gestalt 
gekleidet  hat,  so  daß  sie  die  Wesen  behütend  dastehen  gleich  zwei 
stolzen  Frauen,  wunderbar  anzuschauen  (I,  160,  2). 

Die  priesterliche  Künstelei,  mit  der  die  vedische  Atmosphäre 
in  der  Tat  reich  und  überreich  gesättigt  ist,  hat,  das  sieht  man  aus 
alldem,  dem  unbefangenen  Gefühl  der  Nähe  gegenüber  der  Natur 
samt  ihren  großen  Mächten  und  Herren  doch  keinen  Eintrag  getan. 
Man  rechnet  auf  deren  Freundschaft,  den  altbewährten  Verkehr 
mit  ihnen  in  Geben  und  Nehmen.  Sie  verschmähen  es  nicht,  daß 
man  ihnen  schmeichelt.  So  spricht  man  ihnen  vor  allem  von  ihrer 
Größe,  und  man  unterläßt  nicht  leicht,  die  eifrig  ins  Maßlose  zu 
steigern.  Doch  wo  nur  immer  die  Naturerscheinung  dazu  einlädt, 
klingt  aus  solchem  Preise  zugleich*  auch  die  bewundernde  Freude 
an  ihrer  Schönheit  hervor.  So  bunt  die  Fülle  der  wechselnden, 
oft  wirren  Bilder  ist,  mit  denen  man  die  Schilderung  dieser  Schön- 
heit umkleidet,  sie  selbst  sieht  man  doch  im  Grunde  in  ihren  ein- 
fachen, großen  Zügen.  Die  Schönheit  nicht  des  Kleinen,  sondern 
vor  allem  der  Kraft  und  Größe,  vorwärts  eilender  Bewegung  wie 
der  des  Stromes  —  die  Schönheit  des  Lichts,  des  mild  anmutigen 
der  Morgenröte  wie  der  siegreichen  Strahlengewalt  von  Sonne  und 
Feuer.  Doch  auch  im  lichtbeströmten  Dunkel  und  Frieden  der 
Nacht  entdeckt  man  „alle  Schönheiten'^ :  wir  bemerkten,  daß  dies 
Wort  da  ausdrücklich  ausgesprochen  wird.  Wie  anders,  wie  viel 
schlichter  betrachtet  und  verherrlicht  der  vedische  Dichter  all  das, 
als  die  Poesie  der  klassischen  Zeit  mit  ihrer  weichen,  so  oft  weich- 
lichen Schwelgerei  in  der  Natur,  wo  man  unermüdlich,  kein  Ende 
findend  alle  verstecktesten  Züge  des  Naturbildes  sammelt,  auf  sie 
anspielt ,  überkünstliche  Labyrinthe  aus  ihnen  erbaut ,  um  darin 
die  eigne  Empfindsamkeit  und  üppiges  Genießen  berechnend  zu 
spiegeln!  — 

Nun  noch  einige  Worte  darüber,  wie  der  vedische  Dichter  von 
der  durch  menschliche  Kunst  hervorgebrachten  Schönheit  spricht. 
Äußerungen  über  die  greifbaren  Objekte,  welche  die  Kunst  — 
vielmehr  das  Kunstgewerbe  —  geschaffen  hat,  können  hier  kaum 
herangezogen  werden ;  die  Texte  sind  allzu  unergiebig,  und  Funde 
kommen  nicht  zu  Hilfe.  Höchstens  darauf  wäre  hinzuweisen,  daß 
schon  der  Veda  die  Neigung  zu  reichem  Schmuck,  die  bekanntlich 

5* 


68  H.  Oldenberg, 

auch  Megasthenes  an  den  Indern  bemerkte,  deutlich  erkennen 
läßt ') :  ganz  im  Einklang  mit  allem,  was  sich  uns  bisher  über  das 
vedische  Schönheitsideal  ergeben  hat.  Reichlicher  jQnden  sich  Äuße- 
rungen nur  über  das  Kunstprodukt,  das  dem  vedischen  Poeten  am 
nächsten  lag:  über  sein  eignes  religiöses  Lied.  Freilich  auch  hier- 
von wird  doch  kürzer,  abgerissener  gesprochen,  als  etwa  von  den 
Eindrücken  der  Morgenröte,  des  Gewitters:  begreiflich,  daß  man 
zum  Grott  von  den  Herrlichkeiten  seines  göttlichen  Seins  und  Tuns 
eingehender  redete ,  während  man  ihm  gegenüber  der  Schönheit 
des  menschlichen  Dichtwerks  nur  mit  kurzen  Beiworten  zu  ge- 
denken gewohnt  war. 

Zwei  Auifassungen  des  vedischen  Dichters  von  der  Entstehung 
seines  Gredichts  vermischen  sich  mit  einander.  Bald  erscheint  ihm 
dieses  als  göttliches  Geschenk  —  gottgegeben  wird  es  genannt; 
der  Gott  hat  es  ihm  in  den  Mund  gelegt;  der  göttliche  Rausch- 
trank, der  Erzeuger  der  Gedanken,  hat  ihm  die  Rede  erregt  (IX, 
96,  5;  VI,  47,  3).  Bald  anderseits  fühlt  er  sich  selbst  als  den  Er- 
zeuger oder  als  den  Verfertiger  des  Gedichts,  das  er  umsichtig 
und  kunstreich  „wie  treffli-che,  gutgearbeitete  Kleider,  wie  einen 
Wagen  ein  kluger,  geschickter  Werkmeister  gezimmert  hat"  (V, 
29, 15)  ^).  Es  genügt  diese  Anschauungen  hier  kurz  zu  berühren. 
In  jedem  Fall  nun  gehört  zur  Wirksamkeit  des  Gedichts  außer 
seinen  zauberischen  Eigenschaften  selbstverständlich  auch,  daß  es, 
um  dem  Gott  „das  Herz  zu  berühren",  dessen  Wohlgefallen  weckt, 
daß  es  also,  wie  wir  uns  ausdrücken  würden,  „schön"  ist. 

In  den  Äußerungen  des  Rv. ,  die  es  in  dieser  Richtung  cha- 
rakterisieren, tritt  das  Wort,  das  Körperschönheit  am  unzweideu- 
tigsten bezeichnet,  halyäna  (oben  S.  53  f.)  noch  nicht  auf.  Beruht 
dessen  Verwendung  für  das  hier  in  Frage  kommende  Gebiet  auf 
späterer  Ausdehnung  seines  Gebrauchs  ?  In  nachrgvedischen  Texten 
steht  es  mehrfach  von  Redegebilden.  Dagegen  sagt  der  Rv.  IV, 
41,  8  Sri  den  girah^  manisäh  nsich,^hJiadrd  laJcsmth  —  dies  freilich 
genau  genommen  nicht  eigentlich  auf  Schönheit  zielend  (oben  S.  46) 
---  ist  in  der  väc  niedergelegt  (X,  71,  2).  Besonders  häufig  sind  die 
Äußerungen,  die  die  Schönheit  des  Gebets,  des  Dichtwerks,  als 
Helligkeit,  in  die  Augen  fallende  Sichtbarkeit  u.  dgl.  feiern,  ßrhaspati 


1)  Näheres  s.  bei  Zimmer,  Altindisches  Leben  261  fF. 

2)  Daß,  wenn  ich  nicht  irre,  der  Töpfer,  der  Schmied  nicht  in  gleicher  Weise 
zur  Vergleichung  mit  dem  Dichter  herangezogen  wird,  s/heint  mir  doch  nur  Zufall 
zu  sein 


Die  vedischen  Worte  für  „schön"  n.  „Schönheit"  u.  d.  vedische  Schönheitsgefühl.     69 

legt  dem  Sänger  dyumdtlm  väcam  in  den  Mund  X,  98,  2.  3  ^) :  be- 
greiflich, daß  bei  solcher  Eigenschaft  der  Rede  an  ihre  Gott- 
gegebenheit gedacht  wird.  Die  väcah  des  Sängers  sind  jyotiragräh 
VII,  101,  1 ;  vgl.  vipdm  jyötlmsi  III,  10,  5.  Auch  citrci,  süci,  suJcrd 
(stikrävarna^))  wird  ähnlich  gebraucht.  Weiter  wird,  wie  zu  er- 
warten, der  Vorzug  des  schönen  Gredichts  oder  Gebets  als  Süßig- 
keit •  aufgefaßt ;  so  wird  svädü,  svädtyas,  .svädistlia,  svädmdn  ge- 
braucht. Bei  den  häufigen  mit  mädhu  (mddhumant  usw.)  gebildeten 
Ausdrücken  wird  die  Vorstellung  der  Süßigkeit,  die  das  Wort  in 
sich  trägt  ^),  verstärkt  durch  die  der  Süßigkeit,  in  deren  Besitz  es 
den  Menschen  setzt  (so  bei  dhiyam  mddhor  ghrfdsya  pipyüsim  VIII, 
6,  43  u.  dgl.).  Auch  unter  den  verbalen  auf  die  Herstellung  des 
Preisliedes  durch  Menschenkraft  bezüglichen  .  Ausdrücken  finden 
sich  neben  solchen,  die  das  Motiv  der  Handwerksmäßigkeit  ent- 
halten („zimmern",  ;, weben"),  nicht  wenige,  die  das  schöne  Aussehen 
des  Kunstwerks  berühren.  Man  mag  schwanken,  ob  man  dahin 
das  „Reinigen"  {pü-,  auch  wrj-)  des  Gedichts  rechnen  soll.  Be- 
stimmter tritt  das  beim  „Salben"  hervor  {girah  sdm  anje  1,  64,  1 
u.  dgl.;  das  Gedicht  ist  selbst  aJctü  VI,  69,  3;  vgl.  NGGW.  1915, 
212  A.  3).  Weiter  ist  von  „Schönmachen"  (subh')j  von  ;, Verzieren" 
(pis-j  vgl.  sücipesasam  dhiyam  I,  144,  1)  die  Rede.  Beständig  findet 
man  auch  in  diesen  Zusammenhängen,  wie  ja  eben  zu  erwarten, 
dieselben  Richtungen  der  Schönheitsvorstellung  auf  das  Glänzende, 
das  Süße,  das  Geschmückte  wieder,  denen  wir  auch  sonst  fort- 
während begegnen.  Der  Hymnus  an  die  Väc  X,  125,  auf  den  man 
bei  Untersuchung  dieses  Vorstellungskreises  in  erster  Linie  hin- 
sehen möchte,  feiert  allein  die  Macht  der  Rede,  nicht  ihre  Fähig- 
keit, Schönheit  in  sich  aufzunehmen  und  zu  verbreiten.  Aber  wenn 
der  wundervolle  Vers  X,  71,  4  dem  Blinden  und  Tauben,  der  die 
Väc  nicht  zu  sehen,  nicht  zu  hören  weiß,  den  Begnadeten  ent- 
gegenstellt, dem  die  Göttin  ihren  Leib  hingibt,  wie  dem  Gemahl 
die  schöngewandige  Gattin:  klingt  daraus  nicht  lebensvolles  be- 
glücktestes Verständnis  auch  für  die  Schönheitsmächte  heraus,  die 
in  der  Sphäre  der  väc  walten? 


1)  Ist  hier,  wie  die  gangbare  Annahme  ist,  mit  „hell"  gemeint  „laut"?  Ich 
glaube ,  daß  eher  an  Herrlichkeit  im  Allgemeinen  gedacht  ist ,  wozu  allerdings 
kräftiger  Klang  mit  gehören  wird.  Mehr  Belege  s.  bei  BR.  dyumat  1^  ;  vgl.  auch 
dyumnävant,  dyumnin,  dyumndhüti.  Weiter  sei  an  den  Terminus  puroruc  u.  dgl. 
erinnert.     Von  Sämannamen  spreche  ich  hier  nicht. 

2)  Über  dies  Wort,  mir  nicht  überzeugend,  Hillebrandt,  Ritual-Litt.  13. 

3)  Hierbei  erinnere  ich  an  die  Rolle  des  mädhu  bei  Naräsamsa,  dem  Genius 
der  Lobpreisung,  NGGW.  1915,  212  A.  3. 


70  H.  Oldenberg, 

11.  Wollte  man  die  Sammlung  altvedischer  Äußerungen,  die 
hier  vorgelegt  wurde,  für  die  Eolgezeit  fortsetzen,  würde  man  in 
den  Brähmanas  nur  dürftigste  Ausbeute  finden:  die  Opfer-  und 
Zauberkünstler,  die  dort  das  Wort  führen,  reden  von  Schönheit 
wenig.  Um  so  reichere  Ernte  würde,  noch  vor  den  Zeiten  der 
großen  Epen,  die  buddhistische  Literatur  bieten.  Wie  hat  hier 
die  gesteigerte  Kultur,  das  Hindurchgehen  des  Innenlebens  durch 
so  manche  Kämpfe  und  Krisen  den  Blick  und  die  Ausdrucksfähig- 
keit der  Rede  für  Schönheit  gestärkt  und  verfeinert  I  Diese  Mönche 
dem  Welttreiben  entflohen,  viele  von  ihnen  ihre  Tage  und  Jahre 
ganz  in  der  Stille  der  Natur  zubringend  und  deren  Leben  mit  der 
Kraft  indischer  Phantasie  erspürend,  wie  hat  sich  ihnen  die  Schön- 
heit der  blütenreichen  Waldeinsamkeit  aufgetan,  des  Gebirges  mit 
seinen  Strömen  und  seinem  Wild,  des  Morgensterns,  wenn  das 
Morgenrot  naht,  der  Sonne  am  wolkenlosen  Herbsthimmel  nach 
vergangener  Regenzeit,  der  lotusblauen,  sternumkränzten  Nacht! 
Und  ebenso  hat  der  Erauenschönheit  das  Anderswerden  der  Lebens- 
formen gesteigerte,  oft  gefährliche  Macht  verliehen.  Mögen  die 
geistlichen  Texte  von  der  in  noch  so  feindlichem  Ton  sprechen, 
sie  bezeugen  darum  nicht  minder  die  stilvolle  Feinheit,  in  der  jene 
sich  darstellte  und  von  Kennern  gewürdigt  ward:  die  Eeize  des 
geschmückten,  bekränzten,  sandelduftenden  Weibes  und  die  Voll- 
kommenheiten ihrer  Glieder.  Bald  verzeichnet  die  trockene,  hie- 
ratische Prosa  der  Predigttexte  die  Eindrücke  der  Schönheit,  in 
ihrer  Weise  Reihen  von  Synonymen  ansammelnd,  welche  alle  Wohl- 
gefallen ausdrücken.  Bald  erscheint  die  Bilderfülle  reicher  Poesie. 
Und  Anfänge  psychologischer  Analyse  stellen  den  Ort  fest,  an 
dem  jenes  Wohlgefallen  sich  in  den  Kreis  der  mit  einander  gesetz- 
mäßig verketteten  seelischen  Vorgänge  einordnet. 

Doch  die  anziehende  Aufgabe,  von  diesen  Dingen  zu  sprechen, 
muß  ich  der  Zukunft  vorbehalten.  Für  jetzt  blicke  ich  nur  noch 
kurz  auf  die  aus  dem  Veda  beigebrachten  Beobachtungen  zurück 
und  versuche  die  Summe  zu  ziehen. 

Es  fand  sich  eine  Fülle  von  Ausdrücken  für  Vorstellungen, 
die  unserm  „ schön ^^  mehr  oder  weniger  ähnlich  sind  —  hier  Worte 
von  allgemeinerer  oder  vielmehr  unbestimmterer  Bedeutung,  dort 
fester  nuancierte.  Da  ist  der  uralte,  allgemeinste  Ausdruck  der 
Wertschätzung,  die  Vorsetzsilbe  su-,  die  gleichermaßen  auf  Gutes, 
Schönes ,  Angenehmes ,  Nützliches  geht.  Von  altersher  entschie- 
dener, wie  es  scheint,  auf  Schönheit  eingestellt  ist  das  Wort  sri  — 
auf  die  Schönheits Vorstellung  jener  Zeiten,  in  der  die  Faktoren 
des  Ansehnlichen,  von  Glanz,  Pracht,   Geschmücktheit  dominieren. 


Die  vedischen  Worte  für  „schön"  u.  „Schönheit"  u.  d.  vedische  Schönheitsgefühl.      71 

Immer  mehr  aber  bildet  dieses  Wort  im  Laufe  der  Zeit  seinen 
Gebrauch,  in  ästhetischer  Uichtung  ihn  nicht  verfeinernd,  vielmehr 
über  die  Vorstellung  des  in  die  Augen  fallenden  Grlanzes  von 
Lebensstellung  und  Lebenshaltung  zum  Ausdruck  für  Ideale  aus, 
die  Reichtum,  Erfolg,  Wohlergehen  bedeuten.  Andre  Worte,  mit 
denen  wir  uns  beschäftigten,  weisen  auf  das  Angenehme,  Erfreu- 
liche, auch  auf  das  Geputzte  hin.  ^in  manchen  Fällen  wird  das 
lebhafte  und  wohltuende  Berührtsein  eines  Sinnes  hervorgehoben : 
besonders  des  Gesichts-,  dann  des  Geschmackssinnes,  wo  dann  die 
Tendenz  zu  Übertragungen  gern  die  ursprüngliche  Begrenzung 
nach  weiten,  unbestimmten  Gebrauchssphären  hin  überschreitet. 
Spezielle,  durch  ausgeprägten  Aufbau  des  Worts  scharf  charakte- 
risierte Ausdrücke  wie  „wohlgestaltet"  treten  in  spärlicher  Ver- 
wendung auf. 

Hat  im  vedischen  Indien  jener  Prozeß  der  Veredlung  gewirkt, 
der  über  das  Angenehme,  Glänzende,  Süße  zu  dem  im  vollen 
Sinne  „Schönen"  hinaufführt?  Unsern  Versuchen  des  Nachfühlens 
kann  diese  Frage  nur  unsicher  beantwortbar  sein.  Manches  von 
dem,  was  hier  betrachtet  wurde,  erweckt  den  Eindruck,  daß  sie 
bejaht  werden  darf.  Freilich  erst  in  nachvedischer  Zeit  verstärken 
sich  die  Spuren,  die  darauf  deuten.  Und  verkennen  läßt  sich  nicht, 
daß  es  der  vedischen  und,  kann  man  hinzufügen,  auch  der  spätem 
Sprache  durchaus  an  einem  Wort  von  der  zentralen  Stellung,  dem 
vollen  und  tiefen  Klang  des  xaXöv  gefehlt  hat.  Uifter  die  großen 
Weltmächte  wie  Gut  und  Böse,  Wahr  und  Unwahr  hat  Indien 
das  Schöne  auch  in  der  Folgezeit  nie  eingereiht.  Was  damit  zu- 
sammenhängt: die  feinen  und  tiefen  Probleme  des  Verhältnisses 
von  Schön  und  Gut  wurden  hier  nicht  aufgeworfen,  konnten  nicht 
aufgeworfen  werden.  Der  Streit  dieser  Ideale  unter  einander 
hätte  auch  keinen  Platz  im  Gesichtsfelde  gefunden,  das  von  einem 
schrofferen  Gegensatz  erfüllt  war.  „Ein  andres  ist  das  Bessere^)", 
so  hebt  in  der  Katha  Upanisad  die  Verkündigung  des  Gottes  an, 
„und  ein  andres  das  Liebere;  beide  verschiedenen  Sinnes  fesseln 
den  Menschen".  Es  steht  fest,  daß  hier  die  „bange  Wahl  zwischen 
Sinnenglück  und  Seelenfrieden"  gemeint  ist.  An  sie  hat  das  in- 
dische Denken  und  Leben  seine  höchsten  Kräfte  gesetzt.  Gewiß 
kann  entfernt  nicht  gesagt  werden,  daß  durch  die  Kämpfe,  die 
hier  gekämpft  sind,  der  Schönheitsfreude  aller  Raum  genommen 
worden  sei.  Aber  sich  siegreich  zu  höchster  Macht  erheben,  zu 
voller  Reinheit  läutern  hat  sie  in  Indien  nie  gekonnt. 


1)  sreyas.    Vgl.  oben  S.  45  A.  3. 


Beiträge  zur  Textkritik  Herborts  von  Fritzlar. 

Von 
Edward  Schröder. 

Vorgelegt  in  der  Sitzung  vom  8.  März  1918. 

I. 
In  xmsern  Nachrichten  1909,  S.  92 — 102  steht  ein  kurzer  Auf- 
satz von  mir  'Zur  Überlieferung  des  Herbort  von  Fritzlar' :  er 
ist  im  Anschluß  an  meine  Untersuchung  über  Albrecht  von  Halber- 
stadt entstanden  und  gedruckt  worden  und  hatte  kein  höheres 
Ziel  als  das  äußere  Bild  der  Überlieferung  und  ihr  Verhältnis  zu 
derjenigen  von  Heinrichs  von  Veldeke  'Eneide'  festzulegen.  Da 
in  den  72  Jahren  seit  dem  Erscheinen  der  ersten  und  einzigen 
Ausgabe  des  'Trojanerlieds'  (von  Frommann  1837)  nur  die  beiden 
Berliner  Blätter  einer  zweiten  Handschrift  (B)  zu  Tage  gekommen 
waren,  maßte  mein  Urteil  ziemlich  resigniert  ausfallen,  was  aber 
im  Angesicht  des  recht  guten  Textzustandes  in  der  vollständigen 
Heidelberger  Hs.  (H)  ohne  Beschwer  hingenommen  werden  konnte. 
Auf  die  Textkritik  selbst  einzagehn  hatte  ich  damals  keine  Ver- 
anlassung: daß  dem  späten  Würzburger  Schreiber  von  H  scharf 
auf  die  Finger  gesehen  werden  müsse,  war  nach  den  massenhaften 
Andeutungen  des  Herausgebers  Frommann  durch  Sperrdrack  im 
Text  und  der  reichen,  von  Benecke  gemehrten,  Beistener  zur  Text- 
kritik in  den  Anmerkungen  ohne  weiteres  klar,  und  ich  selbst 
wäre  schon  damals  in  der  Lage  gewesen,  von  den  Rändern  meines 
Handexemplars  die  weitern  Früchte  einer  drei-  oder  viermaligen 
Lektüre  des  Werkes  bekannt  zu  geben  (s.  jetzt  unter  II).  Für 
die  Vorlage  *H  aber  war  ich  zu  der  Überzeugung  gelangt,  daß 
sie  'eine  sorgfältig  redigierte  Kopie'  darstelle. 

,Da  erhielt  ich  im  Jahre  1911  von  Professor  Hjalmar  Psilander 


Beiträge  zur  Textkritik  Herborts   von  Fritzlar.  73 

in  TJppsala  die  Nachricht,  daß  er  bei  der  Inventarisierung  der  alt- 
deutschen Handschriften   aas    schwedischem  Biesitz   in   der  Brahe- 
Wrangelschen  Bibliothek  zu  Skokloster  zwei  zusammen  734  Verse 
umfassende  Doppelblätter    des   Herbort   von  Fritzlar   aufgefunden 
habe  und  in  ihnen  eine  ältere,  kürzere  Fassung  des  'Trojanerliedes' 
feststellen  könne  (vgl.  die  Mitteilung  ßS^B  1914;  S.  140).     Ich  hatte 
keinen  Grrund  an  dieser  Möglichkeit  zu  zweifeln,   mußte  allerdings 
für  mich  sofort   die  Einschränkung  machen ,    daß    die    'erweiterte 
Form'  dann  nur  eben  von  dem  Autor  herrühren  könne.    Dafür  gab  es 
von   vornherein    verschiedene  Anhaltspunkte.       Einmal    hatte   ich 
selbst  bei  der  Lesung  des  Werkes  früher   scharf  auf  die  Möglich- 
keit von  Interpolationen  geachtet  und  war   nur   an   ganz  wenigen 
Stellen   zu   einem  Fragezeichen,    nirgends    zu   einer  entschiedienen 
Ausschaltung  gelangt.     Dann   aber   besitzen  wir  seit  1907  in  der 
Leipziger  Dissertation  von  Walther  Brachmann  'Zum  Reimgebrauch 
Herborts  von  Fritzlar'  eine  Untersuchung,  die  immerhin  zu  den  bessern 
Arbeiten  ihrer  Art  gehört  und  vor  allem  auf  einem  zuverlässigen 
Reimregister  beruht,  und  aus  dieser  lassen  sich,  ohne  daß  sie  dort 
formuliert  sind,    zwei  wichtige  Resultate  entnehmen.     Erstens  hat 
der  Verfasser   über   die   von  Frommann   vorgenommenen   (und  zu- 
meist unanfechtbaren)  Reimkorrekturen  hinaus  in  den  18458  Versen 
nur  etwa  ein  Dutzend  Anstöße  gefunden :  soweit  er  diese  nicht  selbst 
beseitigt,   werde  ich  sie   im  IL  Kapitel  erledigen.     Zweitens  sind 
die  Doppelformen   welche   Brachmann    im  Reimgebrauch  Herborts 
feststellt,    sämtlich   derart    daß   sie   sich  aus    der  Einwirkung  der 
litterarischen  Tradition  erklären,   und    obendrein  kommen  sie  teil- 
weise nur  in  den  ersten  Partieen  vor  und  werden  im  Fortschreiten 
des  Werkes   bald   früher  bald  später   überwunden.     Von  der  Ein- 
mischung eines  dritten,    fremden  Elements   ist   nirgends  etwas  zu 
spüren,    wo  immer  der  Reim  Anstoß   erregt,    handelt   es    sich  um 
eine  Entgleisung  des  Schreibers. 

Nach  alledem  erwartete  ich  von  dem  schwedischen  Fragment 
zwar  keine  einschneidenden  Korrekturen  unseres  Textes ,  sah 
aber  doch  der  Publikation  dieser  versprochenen  'älteren  Fassung' 
recht  gespannt  entgegen.  Vor  einigen  Monaten  ist  sie  nun  ans 
Licht  getreten  in  der  TJppsala  Universitets  Ärsskrift  1917,  Pro- 
gram 2:  'Ett  fragment  af  den  tyska  Trojasagan  i  det  Wrangelska 
biblioteket  päSkokloster  af  Hjalmar  Psilander'.  (Uppsala  1917) 
—  und  ich  will's  gleich  gestehn:  sie  hat  mir  eine  schwere  Ent- 
täuschung gebracht!  Wieder  einmal  bestätigt  sich  die  alte  Er- 
fahrung, daß  der  Finder  oft  ein  schlechter  Beurteiler  ist:  das 
Fragment    aus    dem  Skokloster  (S)   steht   zwar  mit   einer  Anzahl 


74  Edward  Sehröder, 

guter  Lesarten  unserer  Überlieferung  unabhängig  gegenüber,  sein 
Versbestand  aber  hat  keinen  Anspruch  als  ursprünglich  angesehen 
zu  werden;  es  handelt  sich  vielmehr  um  eine  Handschrift,  deren 
Urheber  seine  gute  Vorlage  in  rohster  Weise  verstümmelt  und 
außerdem  was  er  beibehält  sehr  nachlässig  abgeschrieben  hat. 

Erhalten  sind  uns  zwei  zusammenhangende  Doppelblätter, 
welche  der  Partie  7735 — 8510  der  Frommannschen  Ausgabe  ent- 
sprechen: sie  boten  dafür  ihrerseits  734  Verse,  von  denen  aber 
eine  Anzahl  abgeschnitten  oder  am  Rande  weggescheuert  sind. 
Psilander  gibt  leider  keinen  diplomatischen  Abdruck,  sondern  er- 
weckt durch  Korrekturen  und  Ergänzungen  aus  H  den  Eindruck 
einer  kritischen  Behandlung  seines  Textes ;  diese  wenigen  Korrek- 
turen hat  er  durch  ein  Sternchen  markiert,  die  eigenen  Lesarten  von 
S  läßt  er  durch  Sperrdruck  hervortreten,  ist  dabei  aber  sehr  wenig 
sorgsam  verfahren  und  hat  vor  allem  nicht  bedacht,  daß  die  wich- 
tigste Grruppe  der  Varianten,  die  Wortauslassungen  auf  diese  Weise 
nicht  zur  Geltung  kommen.  Jedenfalls  muß  man  annehmen,  daß 
er  den  Text,  so  wie  er  ihn  bietet,  für  einen  guten,  zuverlässigen 
hält,  der  durch  seine  von  Ps.  nicht  angetasteten  Lesarten  seine 
Vortrefflichkeit  bezeugen  soll.  Ein  Versuch,  den  Vorzug  der  Fas- 
sung S  kritisch  zu  erweisen  ist  nicht  gemacht:  Ps.  meint  (S.  XXI 
unten)  allen  Ernstes,  'schon  die  flüchtigste  Vergleichung'  liefere 
den  Beweis,  daß  uns  in  H  (B)  ein  entstellter  Text,  eine  oberfläch- 
liche ßetuschierung  oder  Umarbeitung  vorliege,  die  hauptsächlich 
die  Tendenz  metrischer  Grlättung  verrate.  Die  Erwägung,  ob  nicht 
etwa  diese  'Umarbeitung'  eine  zweite  Ausgabe  durch  den  Autor 
selbst  darstelle,  ist  ihm  gar  nicht  gekommen  —  für  mich,  der  ich 
in  dieser  Erwartung  an  das  schwedische  Fragment  herantrat,  ist 
sie  alsbald  hinfällig  geworden:  die  starken  Abweichungen  in  S 
sind  zumeist  derart,  daß  sie  ihrerseits  unbedingt  eine  fremde  und 
zwar  eine  recht  täppische  Hand  verraten. 

Da  es  Ps.  dem  'Fragmentisten'  überlassen  hat,  sich  selbst  zu 
rechtfertigen,  bin  ich  einer  weitern  Polemik  zunächst  überhoben 
nnd  kann  alsbald  an  die  Vergleichung  der  Texte  H  und  S  selbst 
herantreten.  Die  Fragmente  von  B  ermöglichen  hier  keine  Ver- 
gleichung, aber  bei  der  einschneidenden  Verschiedenheit  von  H  und 
S  einerseits  und  den  sehr  geringen  Differenzen  zwischen  H  und  B 
anderseits  besteht  kein  Zweifel,  daß  sich  B  in  allen  wichtigen  Les- 
arten gegen  S  zu  H  stellen  würde;  auch  Psilander  hat  das  natür- 
lich gesehen. 

Ich  beginne  mit  einer  Musterung  des  Versbestands.  S  hat 
einerseits  44  Verse  weniger  als  H,  anderseits  4  Verse  mehr.    Die 


Beiträge  zur  Textkritik  Herborts  von  Fritzlar.  75 

Verspaare  von  H  die  in  S  fehlen,  sind  die  folgenden*):  7736  und 
38.  —  7789.  90.  —  7799.  800.  —  7891.  92.  —  7939.  40.  -  8051. 
52.  —  8201.  02.  ~  8227.  28.  —  8245.  46.  —  8265.  66.  —  8325. 
26.  —  8353—56  (4  Verse!).  —  8381—86  (6  Verse!).  —  8395.  96. 

—  8401.   02.   —  8437.  38.  —  8449.  50.  —  8459.  60.  —  8497.  98. 

—  S  bietet  zweimal  ein  Reimpaar  mehr:  nach  7812  (S  73.  74)  — 
für  8249.  50:  4  Verse  (S  499—502).  In  der  Mehrzahl  der  Fälle 
ist  eine  versehentliche  Auslassung  von  Seiten  des  einen  oder  des 
andern  Schreibers  ausgeschlossen:  die  meisten  haben  in  S  nicht 
nur  Narben  hinterlassen,  sondern  auch  mehr  oder  weniger 
gewaltsame  Nähte  veranlaßt,  auf  die  ich  unten  zu  sprechen 
komme. 

Der  Reimcharakter  der  Plusverse.  Von  den  22  Plus- 
Reimpaaren  in  H  weisen  18  neutrale  reine  Reime  auf,  die  für 
Dichter  JQ^er  hochdeutschen  Landschaft  als  rein  gelten  mußten 
und  auch  bei  Herbort  reichlich  ihre  Parallelen  haben.  Dialek- 
tisch gefärbt ,  aber  für  Herbort  bezeugt  sind  8383  f.  man :  hän 
(Brachmann  §  14),  8459  f.  schwne :  Jcröne  (Br.  §  4)  und  vor  allem 
8051  f.  Widerreden :  friden  (vgl.  rede :  frede  7303  f.  Br.  §  24.  35)  und 
8365 f.  gemnet:  gr'emet  (Br.  §31,  vgl.  bes.  jenen:  grinen  6315 f.). 
Den  isolierten  Reim  man:  hän  8384  bessere  ich  indessen  in  das 
auch  Herbort  sehr  geläufige  man:  gewan]  8597  hin  dan:  gän  ist 
entdn  zu  lesen  (s.  unter  II  zu  8867);  dann  bleibt  von  ßrach- 
mann  §  14,  1)  nur  übrig  4501  f.  sän :  an  (Jiet  an  getan  ?)  und  281  f. 
stdn :  gruoßsam,  das  ich  zu  den  vielen  Besonderheiten  der  Eingangs- 
partie rechne  und  im  Hinblick  auf  gruozsam  181  nicht  ändern  mag. 
Unter  den  44  Reimwörtern  (40  verschiedenen)  erscheint  nur  eines 
das  bei  Herbort  anderweit  nicht  belegt  ist :  grimet  {greinet)  ^).  Dem 
gegenüber  stehn  ausgesprochene  Lieblingsreime  wie  strUen:  siten, 
schöne :  kröne,  schulde :  hidde  und  vor  allem  tmderdes  (;  Achilles),  ein 
Reimwort  das  durch  die  vielen  griechischen  Eigennamen  auf  -es 
herbeigerufen,  in  manchen  Partieen  geradezu  wuchert  (vgl.  gleich 
7771.  7796).  —  Von  den  wenigen  Plusversen  in  S  hingegen  voll- 
zieht sich  zwar  die  Anschwellung  von  8249^.  50  auf  vier  Verse 
(S  499—502)  ohne  anstößigen  Reim,  im  zweiten  Fall  aber  (nach 
7812,  S73.  74)  tritt  ein  Reimpaar  auf  das  doppelt  bedenklich  ist: 
Von  ir  gerenne :  Sie  heretin  is  etiswenne ;  gercnne  (Ntr.)  wäre  ein  aizai 
XsYÖiisvov,   das   wir  dem  Dichter,    der  gesprenge,  gedrenge,  gedense, 


1)  Ps.  gibt  rechts  die  Zählung  Frommanns,  links  eine  Eigenzählung  des  Frag- 
ments, von  der  ich  nur  gelegentlich  Gebrauch  mache,  wobei  ich  ein  S  voranstelle. 

2)  Das  Prät.  zu  grimmen:  gram  steht  mehrfach  im  Reime. 


76  Edward  Schröder, 

gejeeige  u.  ä.  braucht,  schon  zugeatehn  könnten,  wenn  nicht  das, 
Adverbium  bei  ihm  bloß  mit  dem  a  bezeugt  wäre:  manne:  etiswann^ 
14319. :  wilen  wanne  15080. 

Dazu  treten  nun  aber  eine  Reihe  von  Änderungen  des 
Reimes  in  S,  die  fast  durchweg  verdächtig  und  z.  Tl.  anstößig, 
ja  unmöglich  sind.  Ich  übergeh  dabei  ganz  Entgleisungen  die 
Psilander  selbst  als  solche  anerkennt,  wie  7815  hert  (st.  da^  swert) : 
phert,  wie  ich  anderseits  eine  Umstellung  von  H  7753  f.  gedranyei 
getivenge  st.:  yetwmige^  gedrenge:  für  spätere  Betrachtung  aufspare. 
Davon  abgesehen  zähl  ich  11  Fälle  in  denen  das  eine  Reim  wort 
abweicht,  und  4  in  denen  S  ein  ganz  neues  Reimpaar  bietet.  Von 
den  erstem  beseitigt  7963  craft  hin  mahf  st.  craft  (:  naht)  offen- 
sichtlich einen  für  Herbort  litterarisch  unanstößigen  Reim  (Br.  §  77), 
die  Einführung  des  Adv.  schöne  8465  statt  des  Subst.  schcene  (;  löne) 
wäre  für  Herbort  ebenso  unnötig  (Br.  §4),  und  nur  die  Ausdrucksver- 
schiebung 8347  Mittin  durh  min  herze  in  st.  —  durch  das  her.ze  min 
bringt  allerdings  eine  Reim  Verbesserung  (Br.  §  34).  Die  übrigen 
8  Fälle  berühren  die  Reimtechnik  nicht  und  sollen,  soweit  sie  eine 
Entscheidung  gestatten,  weiter  unten  besprochen  werden. 

Bei  dem  völligen  Ersatz  eines  Reimpaars  liegt  zweimal  reim- 
technische Indifferenz  vor:  7989  {mere:  5ere. gegenüber  geschiet:  niet 
H,  8441  f.  geschehin:  gesehin  gegenüber  geben:  geleben  H),  in  den 
beiden  andern  Fällen  aber  bringt  S  unmögliche  Bindungen :  7835  f. 
mit  dem  Reimwort  nu,  das  bei  Herbort  überhaupt  niemals  am 
Versausgang  erscheint:  mi:  du  (dö)  gegenüber  do:  .^ito  H,  das  Br. 
§70  9  mal  belegt  (dazu  2  mal  dö :  fruo) ;  und  8455  f.,  wo  das  Reim- 
paar von  H  Und  hicz  sie  dannen  riten,  Er  enliez  sie  niht  biten  ersetzt 
wird  durch  Vn  hiez  den  satil  üf  lein,  Sie  müste  ritin  übir  ein.  Der 
Inf.  legen  ist  bei  Herbort,  der  ja  sonst  in  weitem  Umfang  ege  >  ei 
werden  läßt  (Br.  §  55),  ausschließlich  im  Reime  srnf  siegen  (Dat.  PI.) 
bezeugt :  5119.  6348.  6495.  8813.  11547,  und  dies  siegen  reimt  zwar 
auch  2  mal  auf  engegen  14715  und  13184,  aber  hier  ist  unzweifel- 
haft an  der  unkontrahierten  Form  festzuhalten ,  wie  sie  an  der 
zweiten  Stelle  das  Fragment  B  und  an  der  ersten  auch  H  bietet; 
der  Dichter  brauchte  deutlich  beide  Formen  und  nach  seiner  wort- 
spielenden Art  sogar  gelegentlich  neben  einander;  so  nicht  nur  im 
Vers:  4481  Hie  engegen  da  engein  ^),  sondern  auch  im  Reim  Wechsel : 
14713 — 16  cngeine:  kleine^  siegen:  engegen.  Und  obendrein  läßt  sich 
gegen  das  Reimpaar  von  S   noch  zweierlei   anführen:    1)  in  allen 


1)  Vgl.  z.  B.  320  8i  nämen  ir  iser  und  isen,  6197  An  dem  graben  und  an 
der  giafl  und  unten  S.  80  die  Nachweise  für  Oive  wnäe  owi. 


Beiträge  zur  Textkritik  Herborts  von  Fritzlar.  77 

fünf  Fällen  wo  sich  bei  Herbort  legen  im  Reime  einstellt,  handelt 
es  sich  um  den  Inf.  (heyunden)  .zuo  legen,  2)  über  ein  ist  hier  schwer  zu 
verstehn,  keinesfalls  hat  es  die  sonst  allgemein  übliche  Bedeutung 
'insgesamt',  die  auch  für  Herbort  bezeugt  ist  (z.  B.  13716). 

Unter  sieben  (3  -f  4)  JReimpaaren  welche  S  gegenüber  H  in  gajiz 
eigener,  neuer  Form  bietet,  sind  mithin  drei  welche  als  für  Herbort 
unmöglich  abgewiesen  werden  müssen  :  S  73.  74  (nach  7812j ;  S  97.  98 
(für  7835  f.)  und  S  681.  82  (für  3455  f.).  Dem  gegenüber  haben 
wir  nur  einen  einzigen  Fall  (bei  44  Plusversen  in  H  und  11  weitem 
Beimdifferenzen  zwischen  S  und  H)  feststellen  können,  wo  S  einen 
bessern  Reim  als  H  bietet:  8347.  Das  ist  aber  nur  erst  die  rein 
äußerliche  Betrachtung  der  Varianten  unter  dem  Gresichtspunkt 
der  Sprache  und  Reimtechnik.  Ich  gedenke  dabei  nicht  stehn  zu 
bleiben. 

Am  liebsten  würde  ich  nun  so  verfahren,  daß  ich  meine 
eigene  Recension  des  Textes  H  derjenigen  des  Textes  S,  so  wie  sie 
JPsilander  gegeben  hat,  gegenüberstellte:  das  wäre  für  den  Leser 
?die  lehrreichste  und  für  mich  die  bequemste  Form,  die  Überlieferung 
von  H  im  Ganzen  zu  rechtfertigen  und  den  Gewinn  den  wir 
im  Einzelnen  aus  dem  neuen  Fund  ziehen ,  die  Lehren  für  eine 
Weiterführung  der  Kritik  die  wir  aus  ihm  schöpfen  können  — 
durch  Hinweise  im  Text  und  Hervorhebung  der  Lesarten  —  anzu- 
deuten. Da  aber  heutzutage  mit  dem  Papier  gespart  werden  muß, 
beschränke  ich  mich  auf  einen  Ausschnitt  und  wähle  dafür  die 
Klage  der  Briseida  mit  ihrer  kurzen  Einleitung  (V.  8331—8408). 

Ich  bitte,  diesen  Ausschnitt  nicht  etwa  als  Probe  einer  kri- 
tischen Ausgabe  Herborts  anzusehen.  Ich  habe  weder  eine  Unter- 
suchung von  Herborts  Metrik  angestellt,  noch  verfüge  ich  über  ein 
vollständiges  Reimregister  nach  Zwierzinas  Muster,  wie  es  gerade 
bei  Herbort  reiche  Ergebnisse  verspricht:  ich  meine  ein  solches  das 
die  vollständigen  Verse  oder  Verspaare  nach  dem  Reim  ordnet  ^) 
Was  ich  hier  vorlege  hat  ja  nur  den  Zweck,  die  Behauptung  Psilanders, 
er  habe  das  Bruchstück  einer  ursprünglichen  Fassung  aufgefunden, 
zurückzuweisen,  das  Vertrauen  in  unsere  bisherige  Überlieferung 
zu  stärken  und  weiterhin  aus  der  Konfrontierung  beider  Texte  die 
Aufgaben  der  Kritik  für  jene  23  Vierundzwanzigstel  der  Dichtung 
zu  ermitteln, -für  die  uns  S  leider  keine  Kontrolle  liefert. 

Mein  Text  ist  also  zunächst  auf  Grrund  meines  Handexemplars 
hergestellt,  in  das  übrigens  schon  der  mir  unbekannte  Vurbesitzer 

1)  Den  frauzösischen  Text  in  der  Ausgabe  von  Constans  (Bd.  II)  Uab  ich 
herangezogen,  ohne  daraus  vorläufig  viel  zu  gewinnen. 


78 


Edward  Schröder, 


allerlei  kleine  Änderungen  eingetragen  hat  (so  auch  hier  das  un- 
entbehrliche ich  8369).  Diese  kleinen  Änderungen  (auch  geimz^e  für 
g§nieze  8391)  ergaben  sich  von  selbst;  eine  Ausnahme  macht  nur 
allenfalls  V.  8404,  wo  ich  mir  die  Parallele  15829  vur  geeite  längst 
an  den  Rand  geschrieben  hatte,  aber  ohne  die  Bestätigung  getin 
S^)  nicht  den  Mut  gefunden  haben  würde,  sie  in  den  Text  zu 
setzen.  Manches  von  dem  was  Psilander  als  durch  S  gefundene 
Besserungen  ansieht  und  in  seinem  Text  als  solche  durch  Sperr- 
druck bezeichnet,  ergibt  sich  auch  ohnedies  als  selbstverständliche 
Korrektur  von  Schreibfehlern  des  H-Textes:  daß  z.  B.  für  8342 
hetelere  als  'Bettlerin'  heteler^  d.i.  het eieren  zu.  lesen  ist  {hede- 
lerin  S)  sieht  jeder :  die  movierten  Feminina  zu  -cere  (-ere)  sind  mit 
der  Form  auf  -eren  wiederholt  im  Reime  bezeugt:  sunder en 
Cpeccatrix') :  uncrcn  16462,  seng  eren  ('cantatrices') :  eren  1 7866. 

Ich  habe  am  Außenrande  die  in  S  fehlenden  Verse  mit  f 
markiert,  im  Text  mit  *  auf  alle  Stellen  hingewiesen  wo  die 
Lesart  von  S  zu  erwägen  bleibt;  wo  dies  *  fehlt,  halt  ich  die 
Textform  von  S  für  bewußte  Änderung,  die  zumeist  mit  einer 
Auslassung  zusammenhängt. 

Do  Briseida  gesach 
Daz  ir  ze  rümene  geschach 
Die  stat  da  si  inne  was  gehorn, 
Sie  sprach  'Wör  ich  groz  als  ein 
8335  Ich  müeste  kleine  werden  [torn, 
Von  sorgen   und  von  swerden 
Und  von  grozen  leiden, 
Sol  ich  hinnen  scheiden? 
Wie  scheide  ich  joch  hinne? 
340  Ich  bin  ein  küniginne; 

Nu  muoz  ich  hinnen  keren 
Als  ein  beteleren 
TJnde  rümen  daz  lant. 
Hete  ich  daz  in  der  hant 
345  Daz  ich  hän  in  dem  gemüete, 
Ein'mezzer  wüete 
Mitten  durch    daz*  herze  min. 
Wan  daz  ich  hoffende  bin 
Daz  mir  ze  blibene  gesche, 
350  Mins  lebens  enw^re  niet  m6'. 
Jemerlicher  dan  ich  uch  sage 
Wart  der  frouwen  klage, 
tSie  sprach  *Owi  unde  owß! 
tOwi  nü  und  immer  me 
355  f  [Owi]  daz  ic^^  den  lip  ie  gewan ! 


f  Troyle,  herzelieber  mani 
Mir  ist  min  unselikeit, 
Herre,  um  dich  einen  leit 
Ez  ist  mir    allez  umme  dich, 

360  Ich  enruoche  niet  umme  mich. 
Enweres'^  du,  herre,  alleine, 
Würd  ich  danne  zeime  steine, 
Des  würde  guot*  rät. 
Ginge  ich  als  ein  crete  gät 

365  Und  soldich  bi  eime  züne  gän 
Und  mehtich    din  also  vil  hän 
Daz  ich  dich  gesee, 
Swaz  (so)  mir*  geschee, 
Daz  vei-trüege  (^di)  harte  wol. 

370  Nu  enweiz  ich  waz  ich  tuon  soL 
Selic  naht  und  selic  tac 
An  sweder  ich*    bi  dir  gelact 

Eya,  troyesch  künne! 
Swer  ie  liep  gewünne, 

375  Der  vergünne  mir  de« 

Daz  ich  engelde  ich  enweiz  we8> 
Daz  ich  läzen  einen  helt 
Den  ich  arme  hete  erweit 
Zuo  mime*  libe. 

380  An  mir  armen  wibe 


1)  Ps.  hat  das  Wort  richtig  beurteilt,  aber  es  nicht  einzustellen  gewagt. 


Beiträge   zur  Textkritik  Herborts  von  Fritzlar.  79 

f  Nu  enweiz  ich  waz  man  riebet,  395  fOwi  nü  unde  owe ! 

fDaz  man  mir  leide  spiichet  f  Owi  nü  und  immer  nie! 

•f  Unde  tribet  von  dem  man  Ist  ieman  der  daz  vernomen  bat 

f  Den  icb  von  berzen  liep  gewan.  Daz  icb  mit  worten  oder  mit  tat 

385  f  Owt  unde  ow^!  Oder  mit  gerete 

fOwi  nü  und  immer  me !  400  Übel  ie  getete, 

Waz  wil  man  an  mir  reeben  ?  •\  Daz  icb  verschuldet  bän  den  f^t, 

Oder  waz  mac  icb  nu  sprechen  ?  fSo  tuot  mir  scJiedeliche  not. 

Icb  enweiz  ob  icb  engulde  So  sult  ir  nibt  beiten, 

390  Mines  vater  schulde,  Heizet  fiur  geeiten 

So  genwzze  ich  mit"    rebte  405   Und  läzet  mich  verbnnnen. 

Daz  min  gesiebte,  Kere  icb  alsus  binnen 

Min  man  unde  min  kint  In  ein  unkünde. 

Von  diser  stat  geborn  sint.  Des  hat  ir  alle  sünde'. 

8331  ohne  Absatz  Alse  S  334  Sie  sprach  fehlt  S  also  S  torm  H 
V.  336  Von  ruwin  von  swerdin  S  V.  337  Von  sorgin  von  leidin  S 
338  Soldich  S  339  scheidin  ich  h.  S.  342  betelere  H  346  daz 
wüte  S  347  min  herze  in  /S  348  ich  andirs  h.  S  VV.  350 
— 352  abgescJieuert  resp.  forfgeschnitten  S  VV.  353—356  fehlen  S 
353  owe  vnd  H  358  Durch  dich  S  einer  H  einigin  S  360  enraochej 
in::::e[?)S  V  361  Wene  du  aleine  S  362  ich  zv  eineme  S 
363  harte  gut  S  366  eineme  ^S^  368  Swaz  mir  dan  S  369  ich 
fehlt  H  372  ich  ie  bi  /S.  373  Troies  S  374  Der  S  376  ingeltin  S 
379  minselbislibc/S^  V.  380  Waz  riechit  man  an  mir  wibe  S 
VV,  381—86  fehlen  S  384  han  H  387  Odir  waz  S  388  Waz  S 
^  V.  389  Ob  ich  nu  ingulde  S  391  genieze  H  uon  r.  S.  392  andir 
min  S  V.  394  In  grozin  truwin  hie  sint  S  VV.  395.  96  fehlen  S 
397  Ob  iz  iman  y.  S  400  Ie  übil  getede  S  VV.  401.  02  fehlen  S 
402  schediche  H  V.  403  Wes  miigit  ir  langir  nü  betin  S  404  ein 
groz  fiur  S  bereite  H  getin  S  405.  06  vurbrinen:  hunne  H 
406  sus  S      408  Ir  hat  is  S. 

• 
Den  78  Versen  von  H  stehn  in  S  (577—640)  64  Verse  gegen- 
über: 4 -}- 6 -f  2  +  2  Verse  von  H  fehlen.  Da  es  sich  hauptsächlich 
um  Ausrufe  handelt,  die  ohne  syntaktischen  Eingriff  herausge- 
nommen werden  konnten,  sind  die  Lückenränder  hier  weniger  stark 
beeinflußt  worden  als  anderwärts,  obwohl  der  Versuch  einer  Gegen- 
probe jeden  überzeugen  muß,  daß  die  Hinzufügung  der  'Plusverse' 
durch  H  resp.  dessen  Mutterhs.  einfach  undenkbar  ist.  Eine  Be- 
trachtung des  rhetorischen  Aufbaus  der  Klage  in  H  ergibt  ein 
künstlerisches  Grebilde,  "das  von  S  in  der  plumpsten  Weise  gestört 
ist,  indem  der  Schreiber  glaubte  durch  Weglassung  der  'Owe'- 
Ausrufe  und  ihrer  Umgebung  am  bequemsten  kürzen  zu  können. 
Oerade   diese  Ausrufe  aber  kehren  in  den  Frauenklagen  Herborts 


80  Edward  Schröder, 

oft  wieder:  so  2661.  66— 69  (If elena) ;  2756.  62  f.  (Cassandra);  5277 
(Königin  von  Femeniö),  und  dabei  machen  wir  eine  Beobachtung^ 
welche  die  gute  Überlieferung  von  H  bestätigt.  7385  und  7395 
lesen  wir  Owi  umle  oivc!  und  wahrscheinlich  hat  so  auch  7353^ 
gelautet :  diesen  Wechsel  aber  finden  wir  auch  5277,  und  2762  f. 
witd  er  sogar  durch  den  Reim  bestätigt : 

B&idß  ferre  unde  hi. 

'Otcc  unde  0  iv  i ! 

Owi  unde  0  w  e ! 

Waz'  liumet  noch  von  FarkU  .  .  .  ?' 

Auch  sonst  enthalten  die  'Plusverse'  deutliche  Anklänge  aa 
echte  Partieen:  8365  Baz  ich  den  Itp  ie  getvan  ist  sogar  wörtlich 
gleich  2658.  Psilander  will  allenfalls  8355.  56  als  echt  zuge- 
stehn,  weil  da  in  dem  Anruf  des  Troylus  ein  deutlicher  Anklang 
an  die  Quelle  (Constans  13286 f.)  vorliegt.  Aber  hier  gibt  es 
nur  eine  prinzipielle  Entscheidung:  H  hat  nirgends  nachweislich 
zugesetzt,  S  aber  hat  zweifellos  vielfach  gestrichen  und  dann  die 
Ränder  geflickt  wo  es  nötig  schien.  Bei  der  ersten  Stelle  (8353 
— 56)  ging  es  ohne  das,  an  der  zweiten  (8381 — 86)  wurde  der  vor- 
dere Randvers  aufgeschwellt:  An  mir  armen  wihoWas  riechit 
man  an  mir  ivihe  ?  und  der  hintere  mit  einem  höchst  ungeschickten 
Oder  angeschlossen  {Odir  imz  wil  man  an  mir  rcchin?),  das  aus 
der  nächstfolgenden  Zeile  entnommen  werden  konnte ;  beim  dritten 
Male  sind  die  Änderungen  welche  die  Randverse  erfahren  haben 
(8394  u.  397)  nicht  durch  die  Auslassung  bedingt,  an  der  letzten, 
Stelle  war  der  Nachsatz  mit  So  schon  durch  die  Streichung  von 
8402  aufgegeben,  und  der  Bearbeiter  fuhr  nun  mit  einem  Fragesatz 
fort  ^Wes  mügit  ir  langir  nu  heün?^ 

Von  den  sonstigen  Lesarten  ist  336.  37  Von  rinvin,  von  stverdin 
Von  sorgin,  von  leidin  S  schon  metrisch  verdächtig ;  die  Überlieferung 
H  wird  durch  reichliche  Parallelen  gestützt,  von  denen  ich  nur 
anführe  14072  f.  Von  sorgen  und  von  s  wer  den,  Von  grozen 
umoerden,  16137  Von  sorgen  und  von  sweren.  8404  wird  das 
schlichte  Hci/set  fiur  bereiten  (resp.  geeiten  S)  gegenüber  ^ein  gro/ 
fivr  S  empfohlen  durch  das  einfache  fiur  geeiten  15829  und  fiur 
ntaohen  15752  f.  In  den  übrigen  Fällen  die  noch  erwogen  werden 
können,  handelt  es  sich  um  einen  glatten  Vers  in  S,  dem  ein  Vers 
mit  beschwerter  Hebung  oder  überladener  Senkung  in  H  gegen- 
über steht,  aber  immer  ein  Vers  wie  er  für  Herbort  zugestanden 
werden  muß:  so  (8348.)  8361.  8363.  8367.  (8368.)  8379.  (8392.) 
Bei   den   nicht  eingeklammerten  Stellen   wird   eiiie   auf  metrische 


Beiträge  zur  Textkritik  Herborts  von  Fritzlar.  81 

Untersuchungen  gestützte  Nachprüfung  vielleicht  zu  Gunsten  von 
S  entscheiden.  —  Ich  selbst  würde  jetzt  schon  das  i  e  V.  8372  und 
von  rehte  st.  mit  r.  8391  aufnehmen ;  gegen  das  metrisch  gute  und 
durch  Parallelen  zu  stützende  harte  guot  8363  sträub  ich  mich  (trotz 
8912),   weil  der  Schreiber  nachweislich  (s.  u.)    öfters   harte  zuge- 
setzt hat ;  meine  Besserung  8368  (die  nicht  metrisch  notwendig  ist) 
möcht  ich  gegenüber  S  beibehalten,  weil  dies  altertümliche  so  nach 
swer,  swie,  swelh  in  H  mehrfach  ausgefallen  ist,  s.  zu  15480  (S.  99). 
Eh   ich    zur  Durchmusterung  der  Varianten   außerhalb  dieses 
Probestücks    schreite,    schalt    ich   eine   kurze   Charakteristik   des 
Fragments  ein,   wie   sie   schon   ein   rascher  Überblick  ergibt:    sie 
wird  wohl  dazu  beitragen,  unser  Urteil  zu  festigen.     S  mag  immer- 
hin ein  Menschenalter  älter  sein  ('um  1300')  als  H  (1333),   und  es 
steht   dem  Niederhessen  Herbort  entschieden  näher  als  diese  ost- 
fränkische, Würzburger  Handschrift.     Ps.   bezeichnet   die  Sprache 
von  S  als  südfränkisch  ^),  ich  setze  die  Hs.  etwas  weiter  nördlich, 
ins  südwestliche  Gebiet  des  Rheinfränkischen.     In  einigen  Punkten 
steht  die  Orthographie  dem  Reimgebrauch  des  Dichters  nahe,  wo  H 
in  die  eigene  Sprachform  auszuweichen  pflegt,    so  schreibt  S  8121 
phlit  (vgl.  Brachmann  §  41 ,  2)  und  selbst  im  neutralen  Reim  richtig 
rittirschaf:  hodeschaf  7999.  8000.     Besonders  bemerkenswert  ist,  daß 
im  Versinnern  (resp.  Verseingang)  dreimal  noch  dant  (7918.  7947), 
noch  dan  (7933)  steht,  wo  H  Dannoch  bietet.     Hier  liegt  unzweifel- 
haft  einer   der  Fälle  vor    wo  H   überwiegend   geändert  hat:   die 
Reime  erweisen  für  Herbort  noch  dant  14202.  14395  und  noch  dan 
3415,  im  Vers  aber  findet  sich  dies  in  H  nur  ausnahmsweise :  652. 
4813,   während   es  in  zahlreichen  Fällen  durch  Dannoch  (dannoch) 
ersetzt  wird  982.  1847.  1714.  1900  u.  s.  w.     Es  ist  mir  kein  Zweifel, 
daß  Herbort  nur  die  Form  nochdan{t)  gebraucht  hat  und  diese  also 
überall  in  den  Text  eingeführt  werden  muß,  denn  dannoch  wird  im  Reim 
augenfällig  gemieden :  es  gab  ja  nicht  eben  viele  Reimgelegenheiten 
vgl.  immerhin  iedocJi :  niht  noch  8256.  noch :  loch  17892),  aber  wenn 
man  bedenkt,  daß  hier  Herbort,  der  die  'erlaubten'  rührenden  Reime 
sehr  liebt  (s.  Brachmann  §  128 — 141 :   3,2  %  seines  Reimbestandes 


1)  Wenn  er  S.  XXIII  sagt,  daß  das  'skriftens  form  och  ortografien 
uttvisa',  so  ist  das  wohl  ein  lapsus  calami  —  so  weit  sind  wir  in  Deutschland 
wenigstens  in  der  Kenntnis  der  Schreibschulen  noch  nicht,  um  derartiges  nach- 
weisen zu  können. 

2)  Eingehalten  wüi  ich  hier  eine  Beobachtung  anderer  Art :  die  Überlieferung 
bietet  neben /mZre  Qiant)  b2S9  \OTmegQjid  lerge :  1084.  1086.  9080.  13684,  ein  Wort 
das  ich  dem  Hessen  Herbort  unbedingt  nicht  zutraue,  sondern  auf  den  ostfränkischen 
Kopisten  abschieben  möchte. 

Kgl.  Oes.  d.  Wiss.   Nachrichten.   Phih-hist.  Klasse.   1918.    Heft  1.  6 


32  Edward  Schröder, 

sind  derart!),  in  noch:  dannoch  eine  ihm  sehr  gemäße  Bindung  ge- 
funden hätte,  dann  ist  es  klar:  dannoch  war  ihm  derart  fremd 
daß  wir  es  auch  aus  dem  Versinnern  ausschalten  müssen.  —  Weiter 
bietet  S  neben  vereinzeltem  ros  8281  überwiegend  ors,  während 
es  in  H  umgekehrt  steht:  es  stimmen  mit  ors  überein  HS  7791, 
dagegen  steht  ors  (orse)  S  gegen  ros  (rosse)  H  7793.  798.  804.  807. 
810;  anderwärts  finden  sich  auch  inH  die  ors  gelegentlich  gruppen- 
weise beisammen,  so  8971.  9040.  9494.  9496,  und  es  besteht  mir  kein 
Zweifel,  daß  die  nd.  Form  dem  Original  zugesprochen  werden  muß. 
Der  Reim  kann  hier  nicht  entscheiden,  denn  weder  für  ors  noch 
für  7'os  gibt  es  Reimbänder,  und  das  ist  eben  auch  der  Grund 
warum  Herbort  im  Reim  neben  pfert  so  oft  das  auf  hochdeutschem 
Boden  auffällige  phage  (page)  verwenden  muß.  —  Schließlich  dürfte 
auch  in  der  Bevorzugung  von  un^  S  gegenüber  hi^  H  (7885.  7996) 
immerhin  etwas  altertümliches  stecken,  obwohl  hi^  dem  Dichter 
gewiß  nicht  abzustreiten  ist  und  dem  Herausgeber,  wenn  die  Metrik 
versagt,  die  Entscheidung  hier  schwer  fallen  wird;  der  Zustand 
in  H  wird  durch  ein  Beispiel  beleuchtet  in  dem  formelhaften  Vers 
Von  der  swarten  unz  {hiz)  an  daz  sivil,  wo  H  (das  ihn  allein  über- 
liefert hat)  Ix  unz  (11282)  und  2x  biz  (5590.  8567)  bietet.  Für 
unz  in  der  Vorlage  von  S  spricht  auch  ein  Schreib-  oder  Lese- 
fehler wie  uzer  dem  für  unz  an  den  7785. 

Diesen  mehr  oder  weniger  deutlichen  Bewahrungen  ursprüng- 
lichen sprachlichen  Bestandes  stehn  nun  aber  Neuerungen  gegen- 
über, die  sofort  ins  Auge  fallen.  Der  alte  Unterschied  zwischen 
1)6  ('cum')  und  als  ('cum  primum')  ist  in  S  vollständig  verwischt: 
S  setzt  als(€)  für  dö  ein  7759.  8097.  8307.  8331.  8445.  8491;  8133, 
außerdem  als  dö  für  und  als  7770.  7825.  —  Jedem  Leser  wird  bei 
Herbort  der  starke  Gebrauch  des  Steigerungsadverbiums  harte  auf- 
fallen: in  S  aber  wuchert  dies  harte  geradezu  wie  ein  Unkraut, 
einem  einzigen  Ausfall  (8179)  stehn  zwölf  Stellen  gegenüber,  wo 
S  ein  in  H  fehlendes  harte  bietet,  zumeist  deutlich  hinzugefügt  hat. 
Ich  unterscheide  folgende  Fälle:  1)  harte  für  vil  7977.  8115.  8123; 
2)  harte  Zusatz  7763.  8087.  8315.  8363 ;  3)  harte  mit  einem  blassen 
Adj.  (oderAdv.)  ersetzt  ein  einfaches,  emphatisches  Adjektiv:  7779. 
7917.  8077;  4)  harte  als  sonstiger  Ersatz  8056.  8225. 

Ich  greife  die  dritte  Gruppe  heraus: 
7779  Mit  menlicher  crefte  H  Mit  'harte  starMr^  crefte  S 

7917  Und  um  den  grimmigen  mortis.  Vnbe  den  'harte  grozin'  mort  S 
8077  Er  nam  ir  guote  wäre  H        Er  nam  ir  'harte  woV  ivare  S 
Es   ist  klar   daß  es   sich  jedesmal  um  eine  Glättung  des  Verses 
handelt:  nach  diesen  Beispielen,   denen  sich  manche  der  schon  be- 


Beiträge  zur  Textkritik  Herborts  von  Fritzlar.  83 

sprochenen  anreihen  ließen,  erscheint  die  Charakteristik  von  H  als 
einer  Handschrift,  die  nach  der  Weise  der  mhd.  Epigonen  ^atmär- 
kande  jambisk-trokeiske  versmättet'  einführen  soll,  schlechthin  un- 
faßbar. Einen  Anhaltspunkt  für  diese  Auffassung  Psilanders  glaube 
ich  weiter  unten  aufgefunden  zu  haben. 

Die  Verse  von  H  sind  gar  nicht  selten  von  der  Art  daß  sie 
ein  oberflächlicher  Leser  etwa  bei  der  ersten  Lektüre  Herborts 
am  Rande  korrigieren  mag.  Ich  selbst  finde  in  meinem  Exemplar 
^gebessert'  den  Vers  10921  Mit  (viT)  größer  flehe,  habe  das  vil  aber 
beseitigt,  nachdem  ich  mir  den  Wortlaut  Mit  größer  flehe  noch  zwei- 
mal notiert  hatte:  13725.  15775.  Und  ebenso  hatte  ich  einge- 
tragen 8087  Mit  (vil)  größer  Mmdekeit  —  wofür  jetzt^S  bietet  Mit 
^harte'  grozir  Imndilmt]  aber  ich  meine,  das  dreifache  Mit  grözer 
flehe  stützt  zugleich  auch  Mit  grbzer  liünäekeit,  und  lasse  mich  durch 
S  vorläufig  nicht  wankend  machen.  Von  den  obigen  drei  Versen 
sind  die  beiden  ersten  unzweifelhaft  in  H  richtig  überliefert,  beim 
dritten  wird  man  vielleicht  das  harte  anerkennen  dürfen,  indem 
man  unter  Berufung  auf  V.  1171  J^emen  harte  guote  wäre  die 
beiden  Lesarten  vereinigt. 

Zu  den  sichern  Unarten  von  S  gehören  weiter  die  zugesetzten 
rehte  7852.  7984.  8171.  8242  und  gewisUche  7737.  8233,  schließlich 
eine  gewisse  Vorliebe  für  idoch  (8232.  8251)  resp.  doch  (8268):  es 
ist  für  die  lässige  Art  des  Schreibers  charakteristisch,  daß  diese  drei 
Fälle  innerhalb  weniger  als  vierzig  Versen  eintreten.  —  Sprachlich 
direkt  anstößig  und  deutlich  Verschuldung  eines  jungem  Schreibers 
ist  das  mehrfache  ioch  für  noch  (7755.  7943.  7944), 

Soweit  ich  die  Stellen  bisher  noch  nicht  besprochen  habe, 
werde  ich  sie  nunmehr  nach  Ausscheidung  durchsichtiger  Schreib- 
fehler in  drei  Gruppen  einteilen:  1)  zweifelloser  Vorzug  von  H, 
2)  zweifelloser  Vorzug  von  S;  damit  ist  dann  die  Charakteristik 
der  beiden  Handschriften  zum  Abschluß  gelangt,  und  ich  kann  zum 
Schluß  3)  eine  Reihe  von  Fällen  behandeln,  wo  der  Wert  der 
Lesart  nicht  ohne  weiteres  festzustellen  ist,  die  Entscheidung  aber 
versucht  werden  darf:  eben  aus  der  Ansicht  die  wir  von  dem  Ver- 
hältnis der  Handschriften  zum  Originaltext  gewonnen  haben. 

Ich  fange  wieder  mit  den  Auslassungen  an.  Gleich  beim  Beginn 
des  Fragments  hat  S  einen  Vierreim  des  Originals  zu  einem  Reim- 
paar zusammengezogen: 


1)  Wie  7764  troyane  H  für  Troye  oder  7815  uiele  hert  S  für  daz  swert. 


84  Edward  Schröder, 

7734  Törste  dehein  man 
H  Disen  välant  hestdn^  S  Diesin  duvil  hestan, 

Vernemet  tves  ich  gedaht  liän: 

Wir  wellen  in  alumbe  vän,  Wir  tvollin  in  gewisliche  umbevan 

Daz  ist  daz  beste  uns  getan, 

Es  ist  ein  Irrtum  Brachmanns  (§  148)  wenn  er  meint,  solche  Reim- 
häufung finde  sich  nur  mit  künstlerischer  Absicht  in  der  großen 
Klage  der  Helena  (14035 — 078):  einen  ganz  ähnlichen  Vierrreim 
treffen  wir  18226—229:  Mn:  stän:  län:  gevän.  Dem  V.  8738  ent- 
spricht So  ist  uns  beiszer  getan  15142.  Die  Belastung  des  neuen 
Randverses  mit  gewisliche  ist  charakteristisch  für  die  Art  wie  S 
nicht  nur  aus  äußerer  Nötigung,  sondern  aus  einem  eigentümlichen 
Ersatztrieb  heraus  den  verbleibenden  Randvers  zu  überladen  pflegt.  — 
Der  äußere  Zwang  liegt  im  nächsten  Falle  vor: 
7788  Ir  iegelich  *)  begunde  rämen, 
H  B eide Hector unde Achilles, 

Wie  er  dem  andern  underdes 

Sin  ors  geneme  S   Wie  er  dem  andrin  sin  ors  neme 

Über  den  Lieblingsreim  Achilles :  underdes  s.  o.  S.  75.  —  Ohne  Än- 
derung vollzieht  sich  die  Auslassung  der  Verse  7799.  800:  Vil 
snellichen  er  lief,  StarJce  er  im  nd  rief:  in  S  bleibt  der  Anruf  ohne 
Einführung;   snelliche{n)  ist   ein  Lieblingswort  Herborts.  — 

Der  Fortfall  von  7891.  892  Bie  da  solden  strtten,  Bie 
qudmen  von  beiden  siten  hat  nur  die  Änderung  von  Und  in 
Sie  im  Gefolge.  — 

7935  Baz  ir  bluot  nider  gbz 
Unde  in  daz  mer  schöz 
H  Also  starJce  und  also  sere  S  So  starke  und  so  sere 

Als  ez  ouch  ein  wazzer  were,         Als  iz  ouwic  wazzir  were. 

Bas  da  rünne  und  flüzze 

Und  in  daz  mer  schüzze. 

ouwic  wazzir,  bisher  unbelegt,  ist  offenbar  'Flußwasser'  im  Gegen- 
satz zum  Seewasser:  mit  diesem  knappen  Ausdruck  hat  der  Re- 
daktor S  die  Verse  7939.  40  erledigt.  — 

8049  Allen  gemeine. 
H  Hector  alleine  S  Iz  wiedirredete  Hector  eine 

Ber  begunde  ez  Widerreden 

Unde  ivolde  ez  niet  freden. 
Über  den  gutherbortischen  Reim  s.  oben  S.  75.  — 

1)  So  beide  Hss. !  man  erwartet  ieiceder,  doch  vgl.  unter  II  zu  5137. 


« 

Beiträge  zur  Textkritik  Herborts  von  Fritzlar.  85 

Penthesilea  hat  dem  Hektor  allerlei  goldene  und  silberne  Klein- 
gesandt : 

8198  Durch  der  fromven  minne 
H  Truocerdazgoltansinerhant    S  Brüc  er  yolt  an  der  hant 

Unde  ein  guldm  härhant  Vffe  deme  houbete  guldin  harhant. 

In  den  selben  stunden^) 
Um  sin  ho  üb  et  gebunden. 

Daß  der  schlechte  Vers,  der  hier  in  S  einer  Dreizahl  von  H  gegen- 
übersteht, nur  eine  Kontraktion  darstellt,  läßt  sich  diesmal  auf  einem 
Umweg  erweisen :  das  Motiv  von  dem  Haarband  der  Dame  auf  dem 
Haupte  eines  geliebten  Mannes  spielt  nämlich  auch  schon  in  einen 
Monolog  der  Lavinia  hinein,  und  zwar  mit  sehr  deutlichen  An- 
klängen :  Eneide  12019  Si  sprach  'het  her  [mm  härbant !  23  ii  m  b 
sin  houbet  gebunden    2^' nü  ze  disen  stunden.  — 

8224  H  Ich  gesetze  uch  so  nidere^    S  Ich  gesetzin  uch  noch  niedere 
Also  lesterliche  Harte  lestirlicJie 

Hie  in  üwerme  riche,  In  uwirme  riche, 

Daz  irs  imm e r  la st e r  hat 
Die  teile  dise  iverlt  st  dt. 

IJm  den  Satz  mit  8226  abzuschließen,  hat  S  die  vorausweisenden 
so  und  also  unterdrückt  und  der  gianzen  Druhung  ihre  Wucht  ge- 
nommen. —  Die  Weglassung  von  8245.  46  ist  mit  einer  Zerrüttung 
der  umgebenden  Verse  in  S  verbunden,  die  schon  Psilander  frucht- 
loses Kopfzerbrechen  verursacht  hat.  — 

8264  Ich  iveiz  wol  daz  ez  übel  stät 
H  ün d  vil  übel  {uch}  gezimet 
Daz   ir   vergeben  uch  sus 

grimetj 
Ouch  enstdt  ez  uns  niet  ivol,         S  Vn  geziemit  niht  tvol 
Ob  ich  ouch  nu  sprechen  sol  Daz  ich  doch  sprechin  sol 

Hier  ist  in  S  der  ganze  Sinn  verdreht,  denn  Hector  redet  ja  zunächst 
von  den  Griechen,  dann  von  den  Trojanern:  er  versucht  beiden 
gerecht  zu  werden,  indem  er  ihre  Lage  gleichpeinlich  nennt.  — 

Noch  krasser  ist  die  Verstümmelung  im  folgenden  Fall.  Das 
Widerstreben  des  Troylus,  die  Briseida  ihrem  Vater  auszuliefern, 
wird  auch  dadurch  verstärkt : 

8324  Ouch  ivas  daz  niet  deine  in  was  iz  S 

H  Daz  er  durch  ir  schulde 
Siner  gote  hui  de 


1)  Natürlich  ohne  alle  Emphase:  'gleichzeitig',  wie  so  oft. 


85  Ed  ward  Schröder, 

TJnde  ir  minne  hete  verlorn    Daz  er  sine  gote  hete  virlorn 
Und  grozltclien  ir  zorn  Und  eweliche  irin  sorn 

Hete  immer  mere 

Hier  genügt  allein  schon  das  dem  immer  mer  vorausgeschickte 
eweliche,  um  den  ungeschickten  Textfälscher  zu  entlarven.  Das 
wichtigste:  'um  ihretwillen'  ist  fortgefallen!  — 

8435    Gehabe  dich  menliche!     Gehalt  S 
Ez  stät  dir  hösUche. 
H  Waz  wilt  du  beginnen?        S 
Du  sali  dich  versinnen 

Baz  du  ein  man  bist  Sit  du  des  herz  in  ein  man  bistr 

Und  dir  der  sin  engangen  ist.        Baz  dir  der  sin  ing angin  ist. 

Hier  liegt  die  Sache  nicht  ganz  einfach.  Zwar  daß  die  Verse 
8437.  38  von  S  fortgelassen  sind,  ist  zweifellos,  aber  die  "Worte 
des  herzin  wurden  in  keiner  Weise  durch  diese  Kürzung  herbei- 
gezogen: sie  könnten  also  ursprünglich  sein,  obwohl  sie  niemand 
vermissen  wird,  denn  der  Zuruf  'Besinn  dich  daß  du  ein  Mann 
bist  und  nur  die  Besinnung  verloren  hast'  ^)  genügt  vollständig. 
Und  in  der  Tat  findet  sich  eine  ähnliche  Ausdrucksweise  noch 
mehrfach  bei  Herbort,  so  6588  f.  Br  ist  des  Ubes  ein  guot  Jmeht 
Und  von  stetem  herzen  ein  man,  7396  f.  Beide  an  der  gebore  Und 
an  dem  herzen  ein  man ;  wie  hier  körperliche  Erscheinung  und  Cha- 
rakter, so  werden  oben  Charakter  (Entschlossenheit)  und  Verstand 
(Besonnenheit)  gegenübergestellt.  — 

Troylus  und  Briseida   sind  durch   den  Zuspruch   des  Priamus 
sehr  erleichtert  worden :   8446  f.   Bö  was  in  als  sie   beJcart  ^)    Von 
einer  sühte  iveren.    Dann  heißt  es  weiter  8448 
H    Von  ir  her zesweren  S  Also  intliez  sich  ir  swere. 

Muosten  sie  sich  twingen 

Mit  swerlichen  dingen. 
Mit  einem  Schlußsatz  der  kaum  ein  Vers    zu  nennen  ist,   schlägt 
S  eine  richtige  Stilblüte  Herborts  tot.  — 

Nach  8459  Wen  ir  varwe  eine  läßt  S  die  Verse  weg  Bie  was 
also  schöne,  Ir  gezeme  wol  die  Jcrone  ('mit  ihrem  Teint  allein 
schon  erwies  sie  sich  als  würdig  der  Krone')  und  fährt  dann  höchst 
ungereimt  und  beziehungslos  fort:  So  inJcunde  sich  in  niht  gelichin. 
—   Täppisch  ist  auch  die  Zusammenziehung  des  als  Ausruf  einge- 

1)  Ich  habe  absichtlich  diese  Übersetzung  hierher  gestellt,  weil  ich  dem  be- 
gegnen wollte,  daß  jemand  Anstoß  nimmt  an  Du  salt  dich  versinnen  Dae  dir  der 
sin  engangen  ist. 

2)  In  S  entstellt. 


Beiträge  zur  Textkritik  Herborts  von  Fritzlar.  87 

leiteten  Satzes  8497  iF.   Wa^  do  m  den  stunden  Klagen  da  begunden 
TJnde  weinen  Ecuhä  .  .  ./  in  die  eine  Zeile  Da  weinete  sere  HeJcuha. 

Ich  denke  die  Streichungen  von  S  sind  zur  Grenüge  charakte- 
risiert: sollte  jemand  noch  auf  den  Einfall  kommen,  eines  dieser 
Verspaare  dem  Herbort  abzusprechen,  so  kann  es  nur  ein  solches 
sein  das  in  H  entstellt  ist:  denn  ganz  gewiß  gesteh  ich  die  Mög- 
lichkeit von  Verderbnissen  innerhalb  der  'Plusverse'  von  H  ebenso 
gut  zu  wie  bei  dem  übrigen  Text. 

7740  und  7806  hat  S  den  Anruf  Wol  dane  schiere!  zerstört, 
indem  es  einmal  das  schiere  strich,  das  andere  mal  ^otiivit  dafür 
einschob.  —  798  Hector  lief  im  se  füezen  nä,  im  fehlt  S.  —  851  f. 
Agamemnon  hesante  Die  herren  die  er  erJcante  gegen  Ä.  die 
hesante  Die  er  rehte  erJcante  S;  vgl.  z.  B.  17220  f.  Froive  Egial  he- 
sante Ir  (runde  die  sie  helmnte,  —  860 f.  So  hat  ouch  her  Hector  Thoctm 
gevangen  gegen  So  hat  der  herre  Hector  Toam  ouch  gevangen  S.  — 
862  Dajs  ist  unlange  ergangen  gegen  lange  S.  —  864  Ob  nu  tvessel 
geschiet,  nicht  tvandel  S;  es  handelt  sich  um  einen  Austausch,  und 
auch  in  S  folgt  869  tuehsil  S.  —  951  Vor  vespersU  ein  lüzsel  e 
gegen  deil  S,  das  aus  949  eingeschlüpft  ist.  —  969  Noch  von  strite 
großzer  imgemach  gegen  das  junge  und  lahme  Noch  ouch  gr.  u,  S.  — 
976 f.  Uns  ist  abe  gevangen  Vil  matiic  Mene  swertdegen  gegen 
Sie  hant  uns  abe  gevangin  Harte  manichin  Jcünin  degin  S ;  das  alter- 
tümliche Sivertdegen  begegnet  freilich  bei  Herbort  nur  hier,  aber 
auch  in  der  Kaiserchronik  (4409),  im  Straßb.  Alexander  (3668)  und 
in  andern  Werken  kommt  es  nur  je  einmal  vor,  von  einem  jungen 
Schreiber  kann  es  kaum  herrühren;  zu  Uns  ist  abe  gevangen  stimmt 
im  zweitnächsten  Vers  7978  Ouch  ist  ir  uns  tot  vil  gelegen^  vgl. 
ferner  5322  Daz  im  cibe  gevangen  was.  —  979  Nu  läzet  ir  herren 
werden  scMn  gegen  So  mir  got,  nu  werde  schin  S  ;  vgl.  10934  f.  Küene 
helde,  läset  schin  Werden;  natürlich  fehlt  unserm  Herbort  auch  die 
Formel  'so  mir  got'  nicht  (vgl.  2270.  5201.  8207.  8966),  aber  dann 
handelt  es  sich  doch  immer  um  eine  beteuernde  Aussage,  meist  mit 
einem  Ich -Satz  {ich  enruochen,  ich  tvdnde,  mir  ist).  —  982  Ob  ich 
tar  und  ob  ich  sol  gegen  Ob  ich  dar  odir  sol  S.  —  984  So  sol 
daz  wesen  min  rat  gegen  ist  das  rehte  S,  rehte  von  S  auch  7852 
eingeschmuggelt. 

8001  Danne  her  UUxes  TJnde  Diomedes  {Daz  wären  zwene  wlse 
man)  gegen  Dan  'der  wise'  UUxes  Und  'her^  Diomedes  S,  das  hier 
das  wise  unbedacht  vorausnimmt.  —  010  Hübisch  unde  riche  gegen 
Gefüge  u.  r.  S. ;  gefüege  fehlt  bei  Herbort  nicht,  hat  aber  die  Be- 
deutung 'geschickt'  und  erhält  darum  einen  Zusatz :  Gefüege  zuo 
dem  Schilde  148,    Also  gefüege  in  alleivts  3023;    hübisch  dagegen  ist 


88  Edward  Schröder, 

sehr  häufig  und  erscheint  auch  in  Nachbarschaft  von  riche:  13104 
Er  ist  hübisch  und  wol  getan,  106  Eiche  tinde  wol  geborn.  —  029 
Eines  frides  suUen  wir  hiten  st.  ümhe  einin  friede  S,  vgl.  12896. 
13412.  —  043  f.  Der  hünic  hie^  sie  dannen  gän.  Und  als  da  gezzen 
was  San  st.  ezzin  g. .  .  .  das  geheizin  S.  —  054  War  um  ez  mir 
missevalle  st.  niht  gevalle  S;  missevallen  15044.  —  072  Do(ch) 
vereinten  sie  sich  dö  st.  virendetin  S;  vgl.  Und  vereinten  sich  des 
4648,  ähnlich  10176.  10865.  13813.  14946.  15176;  anderseits  auch 
Wie  ivir  uns  verenden  3465,  das  aber  hier  nicht  zutrifft.  —  094  Got 
gehe  dir  immer  gut  st.  immer  mer  S.  —  116  Die  Asche  der  Toten 
wird  aufbewahrt  In  der  erden  oder  in  eime  steine  st.  Undir  erdin 
odir  undir  e.  st.  S;  S  hat  offenbar  stein  für  'Grrabplatte'  genommen, 
es  ist  aber  bei  Herbort  immer  ^Sarkophag',  vgl.  z.  B.  stein  10797. 
13753.  13781.  14115  =  sarc  10789.  13776.  13785.  14129,  und  daher 
findet  die  Bestattung  stets  in  eime  (schoenen,  marmel-)steine  statt  .-^ 
7353.  10791.  12046.  13782.  14420—22.  15518.  —  118  Daz  dehein 
hceser  smac  Noch  übel  räch  quam  dar  abe  st.  Daz  ^der  drat  ioch^ 
bosir  gesmac  Noch  übil  roch  nie  inquam  dbe  S;  drat  ist  ein  Wort 
das  bei  Herbort  nie  vorkommt,  uad  es  stört  hier  als  drittes  Syno- 
nymen den  Ausdruck  ruch  und  smac  der  als  Zwillingsformel  bei 
dem  Dichter  fest  ist:  9347.  13376.  14123.  —  125  Wären  liden 
vierzehen  naht  st.  So  warin  irgangin  v.  n.  S ;  das  altertümliche  Part. 
liden  (ohae  perfektives  ge-)  findet  sich  so  noch  im  Straßb.  Alex. 
5108  Dö  die  nöne  liden  tvas.  —  133  Dise  darinne  die  da  vor  st. 
Die  da  inne  diese  hie  vor  S.  —  154  Daz  ich  were  i  r  tvtssage  st.  ein  S. 

—  169  So  kume  ich  gerne  an  den  rät  st.  So  dun  ich  gerne  uwerin 
rat  S;  an  den  rät  homen  z.B.  2535.  —  174  Achilles  und  Hector 
treiben  friedliche  Kampfspiele:  Mit  fride  und  mit  m innen  st.  mit 
sinne  S;  es  ist  der  Gregensatz  zu  Ze  strUe  und  ze  unminnen  12653. 

—  184  Beide  nein  unde  ja  (wörtlich  =  3832)  statt  Vn  lachedin 
dar  na  S.  —  187  Und  bewilen  ouch  da  vor  st.  Ouch  bewilin  da 
vor  S.  —  192  Gemachet  wol  mit  filze,  wol  fehlt  S.  —  209  Nu  lät 
es  uch  betragen  (Frommann  vergleicht  Iw.  520)  statt  Inlat  es  iu 
niht  tragin  S.  —  218  Her  Hector  den  ir  hat  erslagen  st.  Den 
daz  ir  h.  e.  S.  —  224  Ich  gesetze  uch  so  mildere,  Also  lesterliche 
Hie  in  üioerme  riche  st.  noch  . . .  Harte  ...  In  . .,',  vgl.  436  f.  Ich  ge- 
setze in  also  nider  In  sin  selbes'  lande.  —  233  Ir  sU  star  c  und 
Miene  st.  Ir  sit  ^gewlsliche''  küne,  mit  dem  für  S  charakteristischen 
Eindringsei,  vgl.  7737.  —  247.  48  Ich  wene  üwer  herze  baz  ste 
Danne  üwer  rede  hie  ge  st.  Da^  ^min'  rede  baz  ge  Danne  ^mir'  daz 
herze  ste  S  (vgl.  Psilanders  misglückten  Korrektur  versuch).  —  271 
Wer  wenet  ir  daz  ir  sit  st.  wer  S.  —  (280)  281  (Wä  nü,  mine  Hute?) 


Beiträge  zur  Textkritik  Herborts  von  Fritzlar.  89 

Bringet  min  ros  und  min  sivert!  Bringet  fehlt  S.  —  282  Er  sol 
der  mt  sin  geivert  st.  iverden  g.  S.  —  284  Nu  tverde  scMn  ivaz  er 
tuo,  Nu  fehlt  S.  —  286  U7id  hieschen  swert  schilt  und  sper,  schilt 
fehlt  S.  —  289  Sie  hcten  aldd  an  der  stat  (auf  der  Stelle)  Den 
fride  gebrochen  gegen  ^vor'  der  stat  .  .  .  ^beide''  gehrochen  S.  —  291 
Beiden  vil  leide  st.  Beidersit  S.  —  300  Zuo  ir  (runden  st. 
Ir  igelich  sü  sinin  f rundin  ^.  —  306  Do  dis  {des?)  leides  gesivigen 
was  st.  Als  Achilles  g.  iv,  (Psilander  beseitigt  den  Unsinn).  — 
417.  18  {In  so  größer  leide)  Daz  sie  enwisten  waz  sie  ivolden  Oder 
icaz  sie  tuon  solden:  statt  S,  das  die  in  H  mit  419  einsetzende 
anaphorische  Aufreihung  (5  maliges  Si  emoisten)  schon  mit  417  be- 
ginnen läßt :  Sie  newistin  ivaz  sie  tvoldin,  Sie  newistin  waz  sie  soldin, 
429  da  st.  iz  S.  —  435  Gehabe  dich  menliche  st.  Gehalt  S.  — 
444  Waz  tuot  ir?  ez  ist  schände  st.  Und  düt  ir  sus  S.  —  461  Ir 
enmohte  niht  geliehen  st.  So  enhmde  sich  in  niht  gelichin  S.  — 
478 — 80  Von  einer  hande  tiere  Was  die  Jdirse  genomen,  Und  ivas 
von  eime  lande  komen  st.  ^Die  ueV  uon  eineme  tiere  Zu  der  cur  sin 
warin  genümin  Und  tvarin  uon  cleme  lande  hümin  S,  das  offenbar 
die  Kursen  für  ein  Pelzgewand  hält ,  während  es  sich  nach  der 
Quelle  (ed.  Constans  V.  13341  ff.)  um  ein  'drap  enchanteor'  handelt : 
13352  De  cel  drap  fu  faiz  U  manteaus,  und  zu  dem  'drap'  war  aller- 
dings 'la  pel'  des  wunderbaren  Tieres  'dindialos'  verwandt ,  d.  h. 
die  Haare  verwebt  worden;  der  Stoff  und  nicht  'die  Felle'  waren 
aus  dem  Orient  importiert.  —  (481)  482  (Da  die  siinne  uf  gät)  So 
der  morgen  enstät  st.  So  ^sie  des  morgenis^  intstat  S.  —  483  Ir 
Jcleit  ivas  guot  i n  allewts  st.  Ir  gewant  lo.  g.  allewts  S.  —  488 — 90  D d 
die  froutve  tife  saz,  Daz  ivas  ein  zeldende  phert  Und  ivas 
lüol  hundert  marlce  wert  st.  Daz  zeldinte  phert  da  sie  uffe  saz, 
Daz  ivas  ein  also  gut  phert,  Iz  was  ^dusinf  rnarhe  loert  S.  Zum 
Ausdruck  in  H  vgl.  etwa  7402  f.  Den  er  uf  solde  tragen,  Der  heim 
{was)   üzer  mdzen  guot  und  anderseits  11701  Da  der  man  üfe  saz. 

Dem  gegenüber  enthält  nun  freilich  S  auch  außer  den  schon 
gelegentlich  vorgekommenen  eine  Anzahl  Lesarten  die  zweifellos 
den  Vorzug  vor  H  verdienen.  Sogleich  7739  Einsit  und  änderst  t 
S,  An  einesit  u.  a.  H.  ~  Verkannt  hat  Psilander  die  gute  Über- 
lieferung von  S  757  AI  gewimnin  die  Griechin  uhil  zlt  (Ouch  H), 
iedoch  wart  er  dl  ziischtt  (gar  z.  H) ,  wo  er  Alse  einsetzt  und  nach 
Zlt  stark  interpungiert :  al  c.  ind.  od.  opt.  bedeutet  aber  hier  'ob- 
wohl, wenn  auch',  vgl.  z.  B.  7105  Vnd  al  si  mir  nü  sus  geschehen  ; 
<5.  ind.  12121  AI  bistu  starc,  du  bist  ein  Jcint]  häufiger  braucht  Herbort 
Werfür  allein  (c.  ind.  od.  opt.):   4139.  4380.  5558.  9856.  —  751.  52 


90         .  Edward  Schröder, 

ist  die  Wortfolge  (lange:)  gedrange^  geüvenge  (:  lenge)  B.m  gedtv  an  ge^. 
gedrenge  S  zu  ändern,  vgl.  em^x^^ii^  gehvange  (Dat.):  lange  5624^^ 
anderseits  gedrenge:  ^gesprenge  5187,  :  enge  6865,  :fuozgenge  6406; 
freilich  kommt  auch  dicht  neben  gedrenge  4261  gedranc  4267  im 
Eeime  vor,  aber  nur  einmal  durch  den  Ausdruck  gefordert  {Da 
tvas  dranc  über  gedranc),  und  die  flektierte  Form  gedrange  ist  nicht 
bezeugt.  —  809  ?>  hat  schon  Frommann  (Anm.)  ergänzt.  —  878 
Klageten  jene  [dort]  ander sU  H,  das  überflüssige  und  durch  keine 
Parallele  gestützte  dort  fehlt  S.  —  928  wird  Hüb  S  st.  ErJmop 
H,  935  So  starke  und  so  sere  S  statt  Also  st.  u.  also  s.  H,  941 
Bellte  unibe  mitten  tag  S  st.  tmi  den  m.  t.  H  durch  die  sonstige 
Gepflogenheit  des  Dichters  empfohlen.  —  961  wird  die  Wortfolge 
von  S  Ir  netvas  de  eh  ein  so  starc  gegenüber  Ir  dehein  was  H  durch 
die  Parallele  8354  gestützt,  wo  der  Vers  (und  sogar  das  Reim- 
paar) wiederkehrt.  —  964  Wene  daz  si  sehtet  die  ^swarze^  naht  ist 
das  Epitheton,  das  in  S  fehlt,  verdächtig,  da  es  nie  wiederkehrt: 
allenfalls  könnte  die  v  in  st  er  naht  dagestanden  haben,  wie  6560. 
8007.  16138.  —  9671.  Uf  der  hant  und  uf  dem  knie  mit  S  gegen 
die  knie  H. 

8110  1.  Von  spei  den  und  von  spachen  mit  S  gegen  hohe  H. 
—  8120  für  legelichen  H  hat  schon  Frommann  Etelichen  S 
vorgeschlagen.  —  126  ff.  les  ich  mit  S:  Ouch  so  was  die  erde 
e 7np Iaht  Und  gerümet  als  e  Von  der  burc  biz  an  den  se  statt 
entacht  —  grünte  —  Vz  d,  b.  H.  —  208  Ein  ist  erncst  ein  ist  spot 
S  st.  ein  ander  ist  H;  vgl.  den  Rhythmus  der  Verse  716  1^  ist 
ernest  oder  spot,  2746  Der  in  ernest  der  in  spot^  3505  Beide  in 
ernest  und  in  spot.  —  216  Den  'frunf  den  ich  verlorn  han  H,. 
besser  gesellen  S,  vgl.  Patroclum  stnen  gesellen  6075.  —  261  uns 
S  st.  7nich  H.  —  283  {Er  sol  der  gU  sin  geivert)  Und  des  veldes 
dar  suo  mit  S  gegen  tverdes  H,  <el/  ist  die  Stunde  und  velt  der 
Platz  des  Zweikampfs;  bei  iverdes  hätte  ich  an  eine  Reminiszenz 
an  den  'Holmgang'  gedacht,  wie  wir  einen  solchen  bei  Gottfried  in 
dem  Zweikampf  Tristans  mit  Morolt  auf  einem  'Wert'  (6745)  haben, 
aber  davon  ist  bei  Herbort  nirgends  die  Rede,  iverdes  ist  einfach 
unter  dem  Einfluß  von  werde  der  nächsten  Zeile  aus  veldes  ent- 
stellt worden.  —  Den  Vers  313  Do  Troylus  vries  H  hatte  ich  mir 
natürlich  längst  mit  dag  gevriesch  ergänzt,  ehe  die  Bestätigung 
durch  S  kam,  ebenso  das  ich  369,  das  Frommann  freilich  für  un- 
nötig hält.  —  319  bietet  S  das  in  H  fehlende  (von  Frommann 
falsch  ergänzte)  Subjekt  er.  —  372  An  swedir  ich  ie  bi  dir  gelac 
entnehm  ich  ebenso  unbedenklich  aus  S.  —  Besonders  interessant 
ist  470  von  eime  ferren  lande  H,    von  Ter  dien  lande  S,    was  Psi- 


Beiträge  zur  Textkritik  Herborts  von  Fritzlar.  91 

lander  in  der  Anmerkung  hübsch  ausgeführt  hat.  Im  frz.  Text  (ed. 
Constans  13341)  steht  En  Inde  la  Superior:  Herbort  muß  dafür 
aus  eigener  Gelehrsamkeit  das  anderweit  bezeugte  India  Tertia 
eingesetzt  und  dies  als  Tertien  lant  angedeutscht  haben.  Der 
Schreiber  H  aber  hat  das  sonderbare  Wort  nicht  verstanden  und 
dafür  einen  neutralen  Ausdruck  eingeführt.  Von  einer  absichts- 
vollen Änderung  kann  auch  hier  nicht  eigentlich  die  Rede  sein. 
—  456  wären  ir  Ideit  S  st.  was  H,  vgl.  8463  Ideider  und  3258. 
59  Ideider  =  Ideit. 

Und  so  steht  es  in  H,  das  im  Einzelnen  recht  viele  Fehler 
hat  und  gewiß  mehr  als  wir  geglaubt  haben,  ehe  wir  S  kannten, 
fast  durchweg:  es  handelt  sich  um  Auslassungen,  um  zumeist  me- 
chanische Wortvertauschungen ,  dazu  um  Verlesungen  und  Ver- 
schreibungen,  nirgends  um  eine  absichtliche  Veränderung :  in  keinem 
einzigen  Falle  ist  bisher  eine  solche  für  den  Reim  nachgewiesen, 
während  die  Zahl  der  Änderungen  des  Reimes  in  S  recht  groß  ist. 
Man  wird  also  da  wo  die  Lesarten  gleichwertig  einander  gegen- 
überzustehen scheinen,  zunächst  immer  nach  Parallelversen  (die 
sehr  zahlreich  sind)  und  nach  dem  Vorkommen  ähnlicher  Situation 
und  ähnlichen  Ausdrucks  suchen  müssen.  Wo  dies  Hilfsmittel, 
das  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  zu  Gunsten  von  H  sprechen  wird, 
versagt,  darf  man  dem  unaufmerksamen  aber  konservativen  H 
mehr  Vertrauen  schenken,  als  dem  rücksichtslos  ändernden  und 
obendrein  sehr  liederlichen  S. 

V.  7735  variiert  Herbort  den  tiufel  von  7728  mit  välant, 
8124  das  bestatten  von  8122  mit  begraben ,  beidemal  bleibt  S  bei 
dem  ersten  Ausdruck  —  aus  Lässigkeit.  S  war  offenbar  einer 
von  den  Schreibern,  die  sich  getrauen  eine  größere  Anzahl  von 
Versen  im  Gedächtnis  zu  behalten,  während  H  wohl  zumeist  nur 
ein  Reimpaar  las  und  kopierte;  bei  H  sind  nicht  wenige  Fehler 
visueller  Natur,  während  bei  S  die  Mehrzahl  durch  das  innere 
Gehör  und  ungenaues  Gedächtnis  verursacht  sind.  Der  Schreiber 
H  konnte  selbst  Verse  machen,  wie  sein  bei  Frommann  S.  XXVIII  if. 
abgedrucktes  gereimtes  Nachwort  beweist,  aber  es  läßt  sich  ihm 
in  keinem  Falle  nachweisen ,  daß  er  Verse  eigener  Mache  in  den 
Text  des  Herbort  eingeschwärzt  habe;  dem  Schreiber  S  hingegen 
haben  wir  bereits  eine  ganze  Anzahl  eigener  Verse  aufs  Konto 
gesetzt.  Darum  werden  wir  uns  überall  da  wo  ganze  Verse  schein- 
bar gleichwertig  einander  als  Lesarten  gegenüberstehn ,  für  H 
entscheiden:  so  7898  Sie  huoben  heiderstt  den  strit  gegen 
Sie  lostin  die  sit  S;  7989 f.  Lihte  uns  ze  tvissene  geschiet 
Daz  ivir  noch  eniviszen  niet  gegen  3Iuge  wir  virnemin  daz  mere 


^2  Edward  Schröder, 

Daz  gesenftit  unsir  swere  S;  8241  Vil  reJite  tvaj^  ich  uch  sage 
gegen  Waz  ist  dirre  sage?  eine  Frage  die  nie  wiederkehrt.  — 
8249  f.  Daz  Patroclus  ist  erslagen,  Wellet  ir  daz  so  sere  clagen  gegen 
S  (499 — 502)  Ist  in  leide  geschehin ,  Also  han  ich  viele  daz  gesehin 
Daz  im  ungelüche  sac7i(!);  Mir  ist  leit  min  ungemach;  8318  Si  ivas 
im  liep  als  der  lip  gegen  Triiric  ivar  ime  allir  der  Up  S;  8394 
Vo7i  dirre  stat  gehorn  sint  gegen  In  grozin  truwin  hie  sint^] 
8441  f.  Ez  mac  uns  schiere  got  gehen  Daz  wir  uns  liehe 
gelehen  gegen  Iz  mac  schire  geschehin  Daz  ir  iu  liehe  solit  gesehin  S. 
Und  so  würde  ich  die  weit  überwiegende  Mehrzahl  der  'indiffe- 
renten' Lesarten  von  S  schon  jetzt  unbedenklich  verwerfen. 

Ich  habe  bisher  kurzerhand  von  S  als  einem  Individuum  ge- 
sprochen, das  ich  für  alle  Mängel  und  Sünden  seiner  Überlieferung 
allein  verantwortlich  machte.  Es  ist  aber  möglich,  daß  wir  mit 
zwei  Stationen  rechnen  müssen ;  man  könnte  mir  z.  B.  entgegen 
halten,  daß  ich  demselben  Schreiber  sowohl  eine  gewisse  Tendenz 
zur  Versglättung  wie  rücksichtslose  Überladung  der  Verse  Schuld 
gebe:  das  letztere  besonders  am  Rande  von  Auslassungen  wie  auch 
bei  der  Einschaltung  gewisser  Lieblingswörter  wie  iedoch,  gewis- 
liche.  Es  ist  immerhin  denkbar,  daß  sich  die  Glättung  des  Vers- 
maßes auf  der  Vorstufe  *S,  die  meisten  übrigen  Entstellungen  des 
Textes  erst  in  S  selbst  eingestellt  haben.  Allzuweit  ab  vom  Ori- 
ginal resp.  dem  Archetypus  wird  man  S  genealogisch  nicht  rücken 
dürfen;  dagegen  spricht  folgende  Beobachtung:  das  Fragment  hat 
für  Mncc  regelmäßig  die  Abkürzung  .Je.  7769  (S  38).  8037  (S  295). 
8043  (S  301);  das  ist  eine  Eigentümlichkeit  die  sich  aus  den 
französischen  Handschriften  herleitet  und  sehr  oft  in  mittelnieder- 
ländischen, dagegen  selten  in  alten  deutschen  Handschriften  vor- 
kommt, wie  z.  B.  im  Kasseler  Reinhart-Fragment ,  wo  der  Held 
immer  als  r.  geschrieben  erscheint;  ich  bin  geneigt  diesen  Zug 
auf  die  Originalhs.  Herborts  zurückzuführen. 

Ob  der  Archetypus,  auf  den  H(B)-|-S  zurückgehn,  mit  dem 
Original  identisch  war,  das  der  'gelarte  schuolere'  gewiß  selbst 
angefertigt  hat,  oder  bereits  Fehler  aufwies,  die  uns  zwingen  eine 
fremde  Kopie  anzunehmen,  wird  schwer  zu  entscheiden  sein.  V.  7747 
hatte  ich  mir  ein  fehlendes  da  am  Rande  notiert  —  nun  fehlt  es 
auch  in  S,  Psilander  vermißt  es  ebenso  wie  ich  und  stellt  es 
gegen  beide  Hss.  ein.  8471  hatte  ich  2cas  in  were  geändert :  in  S 
steht  nun  gleichfalls  tvas  —  aber  möglich  ist  auch  der  Indikativ. 
Einen  dritten  gemeinsamen  Fehler  hat  wieder  Psilander  hervorge- 
„Jioben :  8027  lautet  H  Zv  zwein  ^mänen'  oder  zv  drin,  und  S  bietet  gar 


Beiträge  zur  Textkritik  Herborts  von  Fritzlar.  93 

mannin,  obwohl  der  Sinn  und  das  französische  Original  (ed.  Constans 
12893  Dous  ineis  o  treis)  'Monate'  verlangen;  Ps.  setzt  denn  auch 
manedin  in  den  Text.  Der  Fehler  ist  immerhin  derart  daß  er 
sich  zweimal  unabhängig  einstellen  konnte;  dem  Herbort  selbst 
freilich  kann  er  nicht  passiert  sein,  denn  für  ihn  lautete  das  Wort 
manf,  flekt.  niande,  gesichert  durch  den  Reim ;  tvände  (17024.  17593), 
das  seinerseits ;  Imtde,  sande  reimt  (s.  Brachmann  §  13,  2).  So  schreibt 
denn  auch  H  im  Versinner n  der  Eegel  nach  n?ant  (618),  mand€{n) 
(290.  3040.  9176.  9193.  10716.  10918.  16398);  daneben  kommt  aber 
nicht  nur  manet  (14865)  und  manede  (6063.  14353),  sondern  auch 
mane  (9528.  11063)  vor,  und  dies  konnte  sehr  leicht  mit  mänc 
('viro'  5666),  mäne  ('viris'  14912)  verwechselt  und  so  verschrieben 
werden.  Einen  Zwang,  für  unsere  Überlieferung  einen  von  der 
Originalhs.  verschiedenen  Archetypus  einzustellen,  kann  ich  in 
diesen  drei  Fällen  nicht  erblicken. 

n. 

Da  mich  das  Hervortreten  des  Fragments  S  und  die  verkehrte 
Wertschätzung  mit  der  es  durch  seinen  Finder  uns  vorgestellt 
wurde,  genötigt  hat  über  die  Überlieferung  Herborts  zu  schreiben, 
so  benutz  ich  die  Gelegenheit,  um  hier  eine  Auswahl  von  dem 
mitzuteilen  was  ich  mir  während  mehrfacher  Lektüre  des  mir 
lieben  und  mich  durch  seinen  Wortschatz  heimatlich  vertraut  anmu- 
tenden Autors  zur  Textkritik  an  den  Rand  notiert  und  eben  jetzt 
nur  durchgesiebt  habe.  Ich  liebe  derartige  Mitteilungen  sonst 
wahrhaftig  nicht,  denn  ich  bin  überzeugt,  daß  recht  viele  Fach- 
genossen in  ihren  Handexemplaren  reichlich  Beiträge  zur  Kritik 
von  Texten  aufgespeichert  haben,  die  bisher  nur  in  mehr  oder 
weniger  unberührter  handschriftlicher  Wiedergabe  veröjffentlicht 
sind.  Es  gab  auch  eine  Zeit  wo  ich  hoifen  durfte,  diese  Ähren- 
lese berufenen  Händen  anzuvertrauen:  Eugen  Joseph  plante  eine 
Monographie  über  Herbort,  den  er  sorgfaltig  mit  dem  Original  zu 
vergleichen  begonnen  hatte,  und  er  gedachte  damit  soviel  Teil- 
nahme für  den  Dichter  zu  wecken,  daß  sich  auch  eine  kritische 
Ausgabe  lohnen  würde.  Jetzt  aber  darf  ich  kaum  noch  hoffen 
eine  solche  zu  erleben  —  ich  grüße  mit  diesem  Bündel  textkri- 
tischer Bemerkungen  den  Herausgeber  der  einmal  kommen  wird^ 
und  ich  entbinde  ihn  feierlich  von  der  Verpflichtung,  bei  jeder  Kon- 
jektur die  er  aufnimmt  meinen  Namen  zu  nennen,  wenn  er  es 
dafür  unterläßt  gegen  diejenigen  zu  polemisieren,  die  er  auf  Grrund 
eingehender  Studien  getrost  verwerfen  kann. 

106  1.   Baz   [welsche\  buocJi   von  des   Herren   lohe.     Bei   diesem 


94  Edward  Schröder, 

ersten  Quellenverweis  hat  der  Schreiber  das  ivelsche  eingeschaltet 
der  Verf.  selbst  braucht  das  Adjektiv  allerdings  zweimal :  1178 
Baz  tvelscJie  huoch  von  Jasonc  und  4786  31ir  saget  daz  ivelsche 
buoch  sus,  aber  weit  überwiegend  ist  das  einfache  huoch:  Als  ich 
daz  huoch  hcere  sagen  1437.  4699.  6516.  12923;  Als  mir  daz  huoch 
gesaget  hat  10647,  vgl.  515.  1717 ;  Als  ich  ez  von  dem  huoche  hän 
6687;  Als  ich  ez  an  dem  huoche  las  2782.  12942;  Mir  saget  ouch 
daz  huoch  sus  4029 ;  .  .  .  als  an  dem  huoche  stät  7701 ;  (vant)  An 
disem  huoche  gescrihen  16116 ',  weiter  14270.  14289  u.  s.  w.  —  1681. 
veter  (st.  vater),  vgl.  z.B.  1176.  —  1891.  Uf  eime  f eisen  in  dem  mer 
{st.  In  —  uf).  —  2281.  Frien  und  die  dienestman  (st.  Frauwe); 
diese  Besserung  ist  notwendig  und  genügt  (vgl.  510  Herren  und 
die  Jcnehte) :  da  die  fürsten  schon  225  genannt  sind,  kommt  Fürsten, 
frien,  dienestman  (1231.  4201.  6237)  nicht  in  Betracht,  allenfalls 
aber  Gräven,  frien,  dienestman  (2557).  —  247  f.  1.  Daz  (Fr.)  verre 
in  dem  mere  lit,  Wol  gevestent  in  alle  sit;  das  hsl.  in  einer  mure 
ist  wohl  unter  Einfluß  des  gevestent  entstanden ;  für  i  n  alle  sit  (st. 
an)  vgl.  466.  1248.  1596.  1814.  2056  u.  ö.  —  287  1.  schierest.  — 
304.  1.  enhrast.  —  534  Hs.  Vn  tröste  sie  vn  fragete  damite,  1.  ünde 
fragte  sie  ddmite.  —  545  Als  mir  daz  huoch  (hat  ge)saget,  vgl. 
1717.  10647.  —  581  1.  zouherinnen  (wie  849)..—  626  1.  ziere  (nicht 
geziere  Fr.).  —  664  1.  Enhete  sie  [an  gifte  noch]  an  löne.  —  724  1. 
heidersU  (st.  in  h.),  vgl.  1451.  2417.  2448,  2533.  2892  u.  ö.  —  796  1. 
Des  entiveich  im  sin  [herze]  swcre.  —  901  streiche  Vn,  —  941  1.  heide. 
—  952/3  1.  In  daz  hethüs  sie  in  leite,  Da  sie  ir  gote  inne  vant; 
hethüs  (Hs.  heth)  braucht  Herb,  beständig  für  'templum'  (s.  From- 
mann zu  1584) ;  die  gote  (Hs.  im  got)  sind  Jupiter  (963),  Juno  (965), 
Venus  (967)  und  Pallas  (969). 

1275 1.  Also  muoz  ez  geschehen  st.  muste.  —  427  1.  Slnen  [herren] 
Minie  er  sach.  —  681.  82  besser  umzustellen:  Dem  der  richtuom 
geschach,  Deiphehus  viel  anz  gemach.  —  715.  16  1.  Nochdan  Mte 
Priam Rehte  drtzzic  (kehes)hint;  vgl.  4811  Ir  wären  drizzic  heheshint. 

3128  1.  Ich  wil  ez  (aT)sö  erheben.  —  321  Lant,  hure,  ^Mnt\  man 
Und  die  dise  gehmrent  a?^(!)  ist  wunderlich  und  wird  durch  2696 
Lant^  hure,  dienestman  zur  Änderung  empfohlen;  vgl.  auch  die 
Verdrängung  von  dienestman  6171.  —  369.  70  Hs.  Die  fuorten  hin 
üher  mer  Dri  tüsent  ritter  .  .  .  Brachmann.  §  26  verzeichnet  hier  eine 
völlig  isolierte  (und  für  Herb,  unmögliche)  Reimbindung :  der  zweite 
Vers  ist  unvollständig,  am  wahrscheinlichsten  hängt  aber  der  Fehler^ 
mit  einer  Entstellung  des  ersten  zusammen,  sodaß  oben  zu  lesen 
ist  üher  se,  unten  zu  ergänzen  oder  me  resp.  unde  ouch  me  (wie 
z.B.  4249.  3835.  7601.  9384);    will  man  üher  mer  bestehn  lassen, 


Beiträge  zur  Textkritik  Herborts  von  Fritzlar.  95 

SO  kann  man  2370  etwa  ergänzen  tnlt  ir  her  (vgl.  3370).  —  511  1. 
Muhte  (s.  Mitge).  —  5411.  Reiten.  —  754  f.  (ritterschaf :)  Der  Minie 
gchöt  eine  wirtschaf;  Die  ivirtschaf  iverte  sihen  tage;  der  rührende 
reim  ritterscJiaß :  ritterschaft  der  Überlieferung  wäre  nicht  zu  recht- 
fertigen, wie  es  Frommann  versucht.  —  768  1.  grüwet.  —  818  streiche 
auch.  —  828  1.  inrihte.  —  894  u.  ö.  I.  siwe  st.  gezirde  (nicht  ge- 
eiere  Fr.).  —  999  1.  wcre? 

3019  1.  schal.  —  074  Und  \giiot]  süeze  minnere.  —  032  1.  {Sin 
tugent  ivas  undersniten)  Mit  guoter  zuht,  mit  guoten  siten  (Rs.  gute 
tugede).  —  148  1.  Süese  stimme,  niht  (ze)  Int.  —  191  1.  Dar  ziio,  — 
232  1.  Daz,  gefordert  von  daz  spor  3231  (vgl.  1930).  —  298  1.  Künige, 
gräven,  herzogen.  —  416  streiche  so.  —  446  1.  (smiden:)  Und  sullen  des 
niht  (hän)  vermiden;  daß  in  dem  scheinbaren  sniiden:  vermiden  der 
Überlieferung  ein  Fehler  vorliege,  erkannte  Brachmann  §  34,  ohne 
diesen  aufzudecken.  Herb.,  der  bei  sntden  den  grammat.  Wechsel 
bewahrt  {sniten:  geriten  5024  u.  ö.),  hat  ihn  bei  (mtden  und)  liden 
ausgeglichen,  vgl.  den  Reim  geliden :  liden  13343  und  im  Versinnern 
liden  10237  und  8125.  Zum  Ausdruck  vgl.  Er  wolde  si  gerne  hau 
erslagen  16348,  Wan  er  sie  gemordet  wolde  hdn  15235,  Si  enmohten 
si  da  niet  hän  genomen  18275;  man  könnte  aber  auch  län  vermiden 
schreiben.  —  672  1.  antwcrc.  —  677  1.  Einstt  und  [auch]  andersUj 
vgl.  5453.  4480.  - 

4098.  99  1.  Einhalp  saz  Äntenor,  Änderhalp  Troylus.  —  185  1. 
Wol  uf,  (ritter,)  ez  ist  tac!  =  6661.  —  207  Vil  halde  und  (vil) 
gerade.  —  291  1.  Noch  (so)  feizt  noch  so  gröz.  —  330  Für  Schutze 
m  gesteine  lies  Geschütze  unde  steine  wie  14487;  geschutze  ist 
außerdem  sehr  oft  belegt  (4494.  4738.  7058  u.  s.  w.),  gesteine  scheint 
Herb,  nur  von  Edelsteinen  und  feinern  Steinarten  zu  brauchen  (9931. 
10808  u.  ö.).  —  344  1.  (Daz  desjneres  ünden)  Von  gemenge  icurden 
triiebe,  Hs.  wart.  —  439  {Ir  ros  wären  wol  bedacht:)  'Uf  covertiure\ 
Eiche  unde  tiure  ist  schwerlich  in  Ordnung,  es  muß  gebessert  werden : 
Uf  in  oder  Darüfe  —  allenfalls  auch  Uf  (geleit)  covertiure  vgl. 
Covertiure  uf  geleit  8720.  —  480  1.  Einstt.  —  661  1.  Vaterhalp, 
ebenso  4768.  —  811  str.  der.  —  856  1.  Der  Griechen  fürsten,  — 
9081.  Ouch  scharten  (dö)  sich,  vgl.  4899  Ouch  scharten  sich  dö.  — 
939  1.  Ouch  so  nam  sin  (guote)  ivare?  vgl.  1171.  8077.  —  981  1. 
Beide  dirre  unde  [auch]  der. 

5039  1.  Do  nam  er  dem  (töten)  man.  —  137  1.  leived^r  den 
andern  enphinc;  doch  darf  nicht  verschwiegen  werden,  daß  Herb, 
bereits  neben  icweder  auch  iegelich,  durch  den  Reim  gesichert,  für 
'uterque'  braucht:  16905  von  den  beiden  Söhnen  des  Ajax,  8177 
von  dem  Brüderpaar  Elenus  und  Deiphebus.  —  140  1.  (So)  daz  iz 


96  '  Edward  Schröder, 

gar  hesouf  =  1109.  —  171  1.  {Die  wile  daz  dise  striten)  Qudmen 
g ine  zuo  geriten  st.  dise.  —  691  wahrscheinlich  Biser  vaht,  der 
vaht.  —  5742  1.  Der  brahte  i  r  einen  zuo  gezogen  st.  der  bruder. 

6135  1.  Toren  unde  tummen,  {Touben  unde  stummen),  Tote  ist 
-wohl  nur  Druck-  oder  Lesefehler.  —  156  Den  der  (mäge)  dehein 
Die  mit  mir  ein  fleisch  sint).  —  171  \.  Künic;  ritter,  dienestman  st. 
sine  man.  —  461  1.  Der  giner  {wart)  gevangen.  —  480  1.  Durch  {daz) 
herze,  do  iz  bestunt.  —  505  1.  Also  wit  als  ein  furch  (mit  Druck- 
fehler?). — 

7079  sigeneme  ist  in  ein  Wort  zu  schreiben,  wie  auch  sigevahf 
11586.  14894  u.  ö.,  sigestreit  14456;  die  Wörterbücher  haben  alle 
diese  Belege  übersehen.  —  109  1.  Sin  wolte  nemen  {guote}  ivare?  vgl.  zu 
4939.  —  110  Hs.  Und  reit  ^ anderweit^  dar,  vermutlich  b>i  ander lo erbe 
einzusetzen,  das  dem  Dichter  sonst  geläufig  ist:  5926.  12018. 
13971.  —  143  1.  Mit  siegen  und  {mit)  stichen.  —  166  l.  (Von  wibe 
und  von  lande)  {Und)  von  dem  ingesinde.  —  178  1.  Mit  liebe  und 
{mi)  senftiJceit.  —  387  1.  Agamemnon  [in]  andersit.  —  561  1. 
siirde:  trürde;  von  den  bei  Brachmann  §  145  b)  verzeichneten  glei- 
tenden Reimen  des  Typus  -t.  u  u  ist  nur  allenfalls  hangele :  belangete 
7469  f.  zu  belassen.  —  577  str.  Vnd.  —  662  1.  Dise  selben  liste  st. 
Die?  —  707  1.  Ir  dehein  er  genas,  —  736  1.  Wä  nu  Agamemnon? 
st.  Wazmi;  auch  Wie  nu,  das  mehrfach  begegnet  (so  10113)  dürfte 
durch  Wä  nu  zu  ersetzen  sein.  —  V.  735 — 8510  ist  in  S  über- 
liefert, darüber  siehe  oben  unter  I. 

8512  1.  engeschiet,  enschiet  ist  unter  Einfluß  des  enscheide  der 
vorhergehenden  Zeile  eingedrungen.  —  530  1.  den  zehenen  st.  der 
sehende,  vgl.  8526.  — -  601 1.  Doch  entsebe  ich  {harte)  tvol.  —  644  L 
Als  sie  hete  rouwe  st.  hette  si.  —  662  1.  Ir  sult  dise  rede  län  st» 
die.  —  867  1.  entdn  (s.  Frommann  zu  8936)  st.  hin  dan,  vgL 
14597. 

9116  1.  Über  tal  und  (über)  berc.  —  118  u.  191.  Eteslkher.  — 
311  1.  Swaz  {ie)  uf  der  erden  ginc  {Und  in  den  lüften  ie  wart).  — 
349  1.  (man:)  Sme(n)  gesunt  er  wider  gewan  (^i.nam)]  mit  der  Her- 
stellung dieses  Reims  ist  die  Zahl  der  Bindungen  m:  n  auf  3  be- 
schränkt, die  sich  sämtlich  im  ersten  Fünftel  des  Werkes  (bis 
V.  3623)  finden,  s.  Brachmann  §  119.  —  407.  8  Daz  Hector  'was' 
von  sime  slage  'Genesen^  und  von  sin en  wunden  sind  sicher  verderbt  r 
wahrscheinlich  Daz  Hector  genas  von  sime  slage  Und  von  stnen  wunden. 
—  500  'da  hare'  ist  sowohl  für  den  Dichter  wie  für  den  Schreiber 
unmöglich,  Brachmann  hätte  die  Form  nicht  ernst  nehmen  dürfen 
(§  219),  denn  es  handelt  sich  nur  um  einen  Zwitter  von  dar(e)  und 
da  her(e),  dar  ist  einzusetzen.  —  549  ff.  Nuwen  swert  gesliffen  WoT 


Beiträge  zur  Textkritik  Herborts  von  Fritzlar.  97 

gmeget   wol   geivort  Heilen    ir   sclierfe    vn    'vorV ;    Frommann   nahm 
Nuwen   richtig   für  JSinwiu  und  wollte   nach  Beneckes  Vorschlag 
vort  =  vorhi  beibehalten:  'neue  Schwerter  hatten  ihre  Schärfe  und 
darin  ihre  Furcht,  d.h.  was  sie  furchtbar  machte,  ihren  Schrecken'. 
Unmöglich!    und  noch  unmöglicher   die  Erwägung,    vort  zu  vüeren 
zu  stellen.    Es  ist  unbedingt  ir  scher fc  ande  {ir)  ort  zu  lesen  (zum 
Reim  Bracbmann  §  98),  dasselbe  was  sonst  ecke  und  ort  heißt  (6702), 
was  also  zu  sticlie  und  zu  slage  taugt  (9556) ;  swertes  ort  z.  B.  10023, 
1110.    Zweifelhaft  bleibt  nur,  ob  Heten  ir  bleiben  darf  oder  in  Heten 
si  scherfe  unde  ort  geändert  werden  muß.  —  709.  10  1.  gähte:  nähte. 
10265  Daz  er  (da)  gevangen  ivart.   —   379   seinecUche  'zögernd' 
ist  zu  belassen  gegenüber  Frommanns  Vorschlag  semeliche.  —  431 1. 
(Nider)  uf  die  erden.  —  647  1.  Als  {mir)  daz  huoch  gesaget  hat,  vgl. 
1717.    —   751  1.  (Man  hete  in  zu  löne)  (Und)  von  rehte  gegeben.    — 
752  ?  —  767  1.  (In  ivazzer  und  in  erde,)   Von  fischen  {und)  von  tieren. 
—  777  1.  Swer  ez  {ie}  gesee.   —   781  1.  Daz  ich  ie  geivar  wart  st. 
ie  ich.  —  821  1.   Von  Troye   (und)  von  llion.  —  848  1.    {imder  des:) 
Falimedes  st.  Polidamas. 

11168  1.  Im  tvas  gar  z  e  rmmen  st.  cntrunnen  (Der  tagende  der  er 
ie  geivan).   —   178  1.  durch  einen   tvibesnamen  st.  d.  eines  iv.  n.   — 
184  1.  Noch  st.  loch.  —  241  str.  so.    —    277  ff.  ist  überliefert  Des 
sten   ich  ir   ze   huoze:   Sie   tuo   mit  mir  ^die  süeze^    Ze  gnade  und  ze 
rehte  Als  mit  irme  hiehte.     Den  Reim  huoze :  süeze  versucht  Brach- 
mann  §  9   zu  rechtfertigen,    allein  das  Subst.  'die  Süßigkeit'   hat 
hier   gar  keinen  Sinn,    ich  vermute  Sie  tuo  mir  sür(e)  und  suoze 
und  nehme  dies  chiastisch  zu  'Grnade  und  Recht'.     Den  von  Brach- 
mann  ebenda  angeführten  Vers  7558  les   ich   (fuoze:)  Da  wart  sür 
suoze  und  nehme  das  Reim  wort   als  Adverb.     Die  mitteldeutsche 
Form   des   Adjektivs   suoz   (wie  hart,  fast,  sanft)   ist   durch   keinen 
Reim  gesichert,   und  um  ein  'Fehlen  des  Umlauts'  handelt  es  sich 
hier  nicht.  —  337  1.   Von  ir  {da)  gegeben  tvart.    —   349  1.    Wiste  in 
her  unde  dar,  der  Fehler  hin  erklärt  sich  durch  Einmischung  von 
hin  linde  her.  —  353  1.  An  Übe  und  an  gebere  st.  swere.  —  632  Da^ 
im  sin  heim  aller  erschrac  ist  vielleicht  gemäß  12498  in  aZ  zuschrac 
zu  ändern,  da  der  Helm  offenbar  zerspringt;  hirn  aber  braucht  aus 
diesem  Verse   nicht  herübergenommen   zu  werden ,    denn   schrecken 
hat   für  Herb,    noch    durchaus   die  Bedeutung   der   physischen  Er- 
schütterung, vgl.  7420  Daz  im  sin  schilt  ein  teil  erschrac.  —  642  str. 
in,  vgl.  724.  —  847  1.   Wan  daz  =  11936  u.  ö.  —  865  1.  Daz  nie 
deheiner  genas.  —  905  1.  (Do  quämen  von  Ajäce)  Die  boten  (...)  gerant^ 
balde  wäre   ein  Notbehelf.   —    914  1.   Do  lobeten  sie  den   {kiienen} 
degen;  degen  scheint  sonst  nie  ohne  ein  Epitheton  zu  stehn. 

Kgl.  Ges.  d.  Wiss.    Nachrichten.    Phil.-hist.  Klasse.    1918.    Heft  1.  7 


98  Edward  Schröder, 

13041_1.  Palimedes  statt  PoUdames.  —  89  str.  "F.  —  243.  44  1. 
Noch  st.  F.  —  203  1.  Unde  (vU)  gar  vertaget.  —  942  1.  Als  ich  {ez) 
an  dem  buoche  las  =  2782. 

13017 — 290  sind  in  B  überliefert;  ich  verzeichne  nur  die  we- 
nigen sichern  oder  möglichen  Besserungen,  die  sich  daraus  ergeben. 

—  076  Behalte  Troylus  den  pris  B,   Behilt  H;    vgl.  14328.  14937. 

—  153  ^u  den  smen  B,  den  fehlt  H.  —  178  Es  düht  in  ein  un- 
ivtsheit  B,  ein  fehlt  H.  —  183.  84  engegen:  siegen  ß,  engein: 
sleinK.  —  195  gur  serschiet  B,  vaste  jsiuschiet  H.  —  212  Und  fehlt 
B.  —  230  Der  in  an  dem  pferde  fürte  B,  Der  Troylum  fürte  H.  — 
232  harte  leit,  fehlt  H.  —  236  irmirsB,  irsmirB..  —  239  Durch 
den  buch  nz  and^rsU  (vgl.  5666),  fehlt  H.  —  269  da  fehlt  B.  — 
280  Achilles  het  in  zcrschtt  B,   A.  in  zv  schHt  H.    —   284  ouch 

fehlt  B.    —   290  ouch  fehlt  B. 311  1.  Bitter,  frouwe,  mag  et, 

hieht  st.  Ritter  froive  ^manic'  Imecht,  was  die  (chiastische)  Grruppierung 
zerstört.  —  578  1.  Die  zwene  dö  tvol  leisten  ( Wes  jenen  was  zc  muote) 
st.  lene:  so  ist  auch  vorher  gesagt :  571  Die  zwene  herren  . . .  574  lene; 
es  muß  nun  freilich  auch  582  Die  jene  zwene  in  Dise  zwene  geändert 
werden.  —  629  1.  Tretet  im  zuo  {in)  allesit;  während  die  Überlie- 
ferung fast  durchweg  einsit,  andersU,  heidersit  bietet  und  dem  Autor 
sichert,  findet  sich  ebenso  konstant  in  allesit:  466.  1248.  1596.  1814. 
2036  u.  s.  w.;    nur   hier   und   14024  hab  ich  allesit  ohne  in  notiert. 

—  646  1.  zerscMten  {:sUen\  vgl.  13280.  13656.  —  697  1.  Mitrittern 
und  {mit}  mannen.  —  977  1.  Ez  was  [im]  ein  unselic  tac  {Des  tagcs 
dö  er  tot  lad),  vgl.  6176 ;  allenfalls  ließe  sich  in  rechtfertigen  ('den 
Trojanern'),  wie  7905  Jn  entstunt  ein  unselic  tac;  vgl.  auch  9149 
Si  hcten  ein  uns  eigen  tac. 

Nach  14267  fehlt  eine  Reimzeile  zum  Sechsreim.  —  379 — 641 
liegt  wieder  B  vor.  —  380  järe  B,  tage  H.  —  392.  93  schreibt  B 
richtig  als  eine  Reimzeile,  lies  Swelh  wip  (frowe  H)  erheben  moht 
ein  swert.  —  397  Do  enwas  da  B,  Da  was  da  H.  —  417  sich  reitte 
H,  sich  rechte  B;  vgl.  422  Reitet  uch  B,  Bereitet  ach  H;  435  reit 
sich  B,  bereute  sich  H.  —  431  Ich  emveiz  waz  ich  mer  spreche,  ich  fehlt 
H.  —  454  Sumelichen  geschach  d  ä  heil  B,  daz  H.  —  506  als  von  H, 
€ille  vol  B.  —  531  Und(e)  e  er  queme  dannen  B,  c  fehlt  H.  —  548  Sie 
solden  vil  nä  er  zagen  B,  waren  . . .  verzagen  H.  —  565  enbranten  H, 
verbranten  B.  —  576  Vn  fehlt  B.  —  585.  86  hiez :  liez  B,  hiez :  hiez  H. 

—  590  Mit  äze  und  mit  tranhe  B,  ezzen  H.  —  597  entän  B,  hin 
dan  H.  —  Einen  gemeinsamen  Fehler  bieten  HB  in  Y.  623,  der  als 
Entgleisung  eines  Schreibers  verständlich,  doch  schwerlich  zweimal 
unabhängig  eintreten  konnte,  also  auf  die  gemeinsame  Mutterhs. 
weist.    V.  620 ff.  lautet  die  Überlieferung  HB: 


Beiträge  zur  Textkritik  Herborts  von  Fritzlar.  99 

Des  tayes  ir  wenic  genas. 
An  dem  dritten  tage  alsam{e) 
Von  wtben  manic  mannesnam(e) 
An  dem  Hage''  tot  lac, 

wo  in  der  letzten  Zeile  zweifellos  velde  gelesen  werden  muß. 

B22  Str.  in.  —  843  1.  Vaterhalp.  —  884  1.  (Beide  sie  unde  er)  Sluogen 
und  er  arm  diu  sper  st.  ^w  arme,  vgl.  14799.  —  943  1.  Durch 
ubennuot  tmd  (durch)  nU.  —  960  1.  8was  er  ie  ane  gevinc  st.  ir, 

15165  f.  Da^  Friamus  Jde  riet  Des  envinde  ich  ^hie'  niet  ist  hie 
im  zweiten  Vers  mechanische  Wiederholung,  ich  schlage  vor  Des 
envinde  ich  an  dem  huoche  niet.  —  445  1.  {Daz  tnan  uzen  ganz 
vant)  Und  ivurmezic  [ist]  innen?  —  480  1.  Simz  (so)  uch  gevalle,  vgl. 
9857  Stver  so  er  tvere,  7705  Swelche  so  er  getraf.  —  691  1.  Daz  die 
Griechen  im  hänt  uf  geleit  st.  hette.  —  763  str.  dane.  —  876  1. 
Antenor  [sich\  genante;  obwohl  neben  genenden  auch  sich  genenden 
seit  dem  Straßburger  Alexander  mehrfach  bezeugt  ist,  halt  ich 
es  hier  doch  für  sekundär,  vielleicht  gar  durch  Mis Verständnis 
eingedrungen,  vgl.  1013  Zu  hant  sie  dö  genante,  4274  Die  Griechen 
genanten.  —  934  1.  gezimmer  wie  16040. 

16119  1.  entte  resp.  ente  'endete'?  —  210  str.  Vn.  —  229  1. 
Und  als  (ez)  quam  an  (oder  uf)  den  tac,  vgl.  16738.  —  258  Da 
Hiefen^  die  froiiiven  inne  (:  Imneginne)  ist  unmöglich ;  liefen  ist  wohl 
wiederholt  aus  254,  und  es  muß  sdzen  (oder  ivonten)  eingesetzt 
werden.  —  661  Ytis  ^bereitef  mich  des  ist  mir  verdächtig,  aber 
beriJäet  (vgl.  11138)  und  bescheidet  (vgl.  14270)  sind  gleich  möglich, 
bereitet  ist  vielleicht  eine  Zwitterform  von  beiden,  doch  vgl.  immer- 
hin 17066  Als  ich  es  vor  bereitet  bin,  dem  11138  Als  ir  vor  berihtet 
Sit  gegenübersteht.  —    675  1.  in  libe.   —    988  str.  mer. 

17002  1.  Über  berc  und  (über)  grünt.  —  065  1.  {Beide  vor  unde 
vort,)  Beide  hie  unde  dort  st.  Vnd.  —  118  Daz  selbe  (teil)  daz  ir 
yenas,  'diejenigen  unter  ihnen  die  am  Leben  blieben'.  —  142  1. 
Durch  haz  unde  (durch)  nit.  —  462  1.  Durch  Icaffen  und  (durch) 
schoutven.  —  562  1.  Wan  daz  ich  durch  tiurJieit  Von  spise  doH9  latf^ 
verkös  st.  Durch. 

18107  1.  sente,  mitteldeutscher  Opt.  Praet.  —  217  1.  Ez  sprach 
(vgl.  18216.  217.  221.  223.  226). 


7* 


Silbischer  und  unsilbischer  Laut  gleicher  Artikulation 

in  einer  Silbe  und    die  Aussprache    der   indogerma« 

nischen  Halbvokale  u  und  i. 

Von 

Eduard  Hermann. 

Vorgelegt  in  der  Sitzung  vom   22.  März  1918. 

1.  Man  pflegt  eine  Form  wie  gr.  kU  aus  idg.  *liii  herzuleiten 
(Brugmann  G-rundr.^  II,  2,  182)  und  sich  dabei  vorzustellen,  daß  in 
der  rekonstruierten  Form  derselbe  Laut  i  dreimal  hintereinander 
vorkam,  erst  als  Sonant,  dann  als  Konsonant  und  darauf  wieder 
als  Sonant.  Mit  einem  derartigen  Ansatz  macht  man  die  still- 
schweigende Voraussetzung,  daß  man  innerhalb  ein-  und  derselben 
Silbe  einen  Laut,  ohne  die  Artikulation  zu  verändern,  hinterein- 
ander unsilbisch  und  silbisch  sprechen  könne.  Gegen  solche  Laut- 
verbindungen ist,  soviel  ich  weiß,  bisher  kein  Widerspruch  erhoben 
worden.  Nur  wer  etwa  mit  J.  Schmidt  Sonantentheorie  3  fg.  an 
idg.  i  und  u  überhaupt  nicht  glaubt  und  statt  ihrer  die  Spiranten 
,;  und  V  einsetzt,  billigt  die  Rekonstruktion  Hiii  nicht.  Daß  sie 
phonetisch  unmöglich  ist,  haben  die  Anhänger  der  Schmidtschen 
Theorie  nicht  ausgesprochen.  Und  da  sich  zeigen  läßt,  daß  im 
Urindogermanischen  wirklich  die  Halbvokale  i  und  u  vorhanden 
waren,  tauchen  ähnliche  Formen  wie  ^li^i  in  der  sprachwissen- 
schaftlichen Literatur  gar  nicht  selten  auf. 

Aber  nicht  nur  ii,  uu  und  ii,  uii  werden  in  theoretischen 
Formen  ein-  und  derselben  Silbe  zugewiesen,  auch  die  silbischen 
und  unsilbischen  Nasale  und  Liquiden  werden  in  derselben  Weise 
mit  einander  verbunden.  Hiergegen  hat  allerdings  lebhafter  Wider- 
spruch eingesetzt,  ßartholomaes  *g2mmmme  (KZ  29,  273)  hat  bei 
den  Gegnern  der  Sonantentheorie  reichlich  Spott  geerntet,  s.  Bechtel 


Silbischer  und  unsilbischer  Laut  gleicher  Artikulation  usw.  IQl 

Hauptprobleme  131  und  J.  Schmidt  Sonantentheorie  186.     Letzterer 
hat  an   der   genannten  Stelle  auch  noch   andre   phonetische  UQge- 
heuer  ähnlicher  Art  lächerlich  zu  machen  versucht.     Aber  dieser 
Spott  war  nicht  völlig  gerechtfertigt;    denn  Bechtel   und  Schmidt 
nahmen  eigentlich  nur  daran  Anstoß,  daß  mm  usw.  in  den  Einzel- 
sprachen Vokal  -f  Konsonant  ergeben  haben  solle,    während  Vokal 
+  Geminata  zu   erwarten   sei ;    beide   spotteten   nur  darüber,    daß 
derartige  rekonstruierte  Wörter,    die  Nasale   und  Liquiden  mehr- 
fach  als  Sonaut   und  Konsonant   hinter   einander    zeigen,    unaus- 
sprechbar seien.     Der  Grund,   weshalb   man  gznumiune  nicht  aus- 
sprechen kann,   haben  Bechtel  und  Schmidt  übersehen.     Nicht  die 
Häufung  derselben  Laute,  nicht  die  zwei  sonantischen  Nasale  oder 
Liquiden  hinter  einander  machen   solche  Wörter   unmöglich.      Mit 
Recht  hat  ja  Sievers  Phonetik^  §  112  darauf  hingewiesen,  daß  wir 
in  der  landläufigen  Aussprache  einer  Verbindung  wie  die  berittenen 
Offiziere  wirklich  zwei  n  sprechen.     Auch  die  Aufeinanderfolge  von 
silbischem  und  unsilbischem  Laut  derselben  Artikulation  ist  in  ge- 
wissem Sinne  nicht  anstößig.     Darauf  können  wir  wieder  die  Probe 
an  unsrer  Sprache   machen;    wir   haben  nn  hinter  einander  in  be- 
rittene Offiziere.     Dabei  ist  allerdings  n  neben   n  nicht  anders  zu 
verstehen   als   ss   in   ässn   ==   essen.      Mit   der  Geminata    soll  ja 
nicht  gesagt  sein,  daß  zwei  n  artikuliert  werden,  ein  sonantisches 
und  ein  konsonantisches,  sondern  nur,  daß  n  zu  zwei  Silben  gehört, 
ebenso   wie  sich  5s  ja  auf  die   beiden  Silben  verteilt.     Phonetisch 
richtiger   wäre   es    äsi^   zu  schreiben.     Dem  entsprechend  wäre  in 
phonetischer  Schrift  auch  bei  berittene   nur   ein  n  berechtigt.     Der 
grundsätzliche  Fehler,    der   in  '^g2mmmme   steckt,    liegt   anderswo. 
Ihn  macht  auch  Sievers  mit,  wenn  er  für  'berittenen'  beritlii-nnn 
ansetzt,    wobei  die  letzte  Silbe  nun  sein  soll.     Er  gibt  dazu  noch 
folgende  irreführende  Erläuterung:    'Ein  und  derselbe  Laut  wird 
also   fortwährend   zwiscben   den    beiden   Kategorien    [Sonant   und 
Konsonant]  hin-  und  hergeworfen,  und  vielfach  hängt  es  ganz  vom 
Belieben  des  Sprechenden  ab,    ihm  die   eine  oder  andere  Funktion 
zuzuteilen'.    Diese  Worte  sind   darum  unrichtig,    weil  sie  eine  an 
sich  richtige  Beobachtung  falsch  ausdrücken.    Es  ist  ganz  berechtigt 
zu  sagen,  daß  man  die  letzte  Silbe  von  berittenen  so  sprechen  kann, 
daß  n  erst  schwächer,    dann  stärker,    dann   wieder  schwächer  ist. 
Aber  es  ist  unrichtig,  dabei  von  verschiedener  Funktion  des  n  zu 
sprechen.     Die  Unterschiede  sind  nicht  nur  gering,  sondern  laufen 
innerhalb   einer  Silbe  auch  ganz  allmählich  in  einander  über. 
Wenn  ich  das  Wort  so  nicht  diphthongisch  spreche,  setze  ich  bei 
dem  0  stärker  ein  und  lasse  es  schwächer  werden.      Wem   würde 


^02  Eduard  Hermann, 

es  aber  einfallen,  dies  phonetisch  mit  soo  zu  umschreiben !  Hierfür 
haben  wir  doch  die  Bezeichnung  so.  Wenn  also  n  der  letzten 
Silbe  von  berittenen  wirklich  in  der  Mittte  am  stärksten  ist,  dann 
muß  man  heritttm  umschreiben  oder,  da  das  n  der  vorletzten  Silbe 
in  der  Stärke  ebenfalls  abfällt,  besser  heritum.  Die  Umschrei- 
bung der  letzten  Silbe  mit  nnn  ist  zu  grob. 

Ein  und  derselbe  Laut  kann  also  innerhalb  einer  Silbe  nicht 
erst  Sonant  und  dann  Konsonant  sein  oder  umgekehrt.  In  beiden 
Fällen  ist  es  nur  ein  Laut,  und  zwar  im  ersten  ein  abnehmender^ 
im  zweiten  ein  zunehmender,  nn^  mrii^  11,  rr  und  ii,  iia  sind  in 
einer  Silbe  ebenso  unmöglich  wie  m?,  mm,  II,  p-  und  ii,  im.  Nur 
auf  zwei  Silben  verteilt,  haben  diese  Lautverbindungen  einen  ge- 
wissen Sinn.  Dabei  ist  aber  nicht  zu  vergessen,  daß  in  den  meisten 
Fällen  ebenfalls  nur  eine  einzige  Artikulation  vorliegt,  nicht  zwei 
Laute,  deren  zweiter  neu  angesetzt  wird.  Zwiefache  Artikulation 
desselben  Lautes  wird  in  den  meisten  Sprachen  überhaupt  nur  an 
der  Grenze  zwischen  zwei  Wörtern  vorkommen  können.  So  kann 
einen  mundartlich  zu  nn  zusammenschwinden ;  beginnt  das  daraut 
folgende  Wort .  mit  einem  n  wie  in  dem  Satz  ich  habe  mir  einen 
neuen  Änsvg  gelmvft,  so  ist  es  theoretisch  wohl  möglich,  das  zweite 
1^  von  dem  folgenden  n  zu  trennen  und  n  neu  zu  artikulieren; 
zumeist  dürfte  aber  auch  da  n  mit  n  zu  einer  einheitlichen  Arti- 
kulation verbunden  werden.  Nur  weil  das  letzte  Stück  des  Nasals 
zur  folgenden  Silbe  gehört,  hat  es  eine  gewisse  Berechtigung  mm 
zu  schreiben.  Von  selten  der  Phonetik  wäre  also  gegen  Bartho- 
lomaes  Ansatz  nichts  einzuwenden  gewesen,  wenn  er  statt  girtmifpme 
vielmehr  *g2wmme  geschrieben  hätte. 

Sprachgeschichtlich  würde  ich  auch  *^2/i?r^w?e  für  verkehrt 
halten,  ganz  ohne  Rücksicht  auf  die  Berechtigung  der  Sonanten- 
theorie,  die  ich  hier  weder  zugeben  noch  ablehnen  will.  Die  ave- 
stischen  Formen  mit  aw?,  die  Bartholomae  KZ  29,  279  fg.  vorgelegt 
hat,  sind  doch  wohl  sämtlich  Analogiebildungen  nach  thematischen 
Formen,  wie  das  Reichelt  Awest.  Elementarbuch  98  für  hiscama'de 
als  die  eine  Möglichkeit  neben  idg.  -nim-  zugibt.  Man  braucht 
sich  auch  gar  nicht  zu  wundern ,  daß  gerade  die  Formen  jimama, 
hiscama'de  ein  a  eingefügt  haben,  erst  durch  diesen  analogischen 
Vokal  werden  sie  leichter  aussprechbar.  Da  im  Iranischen  Ge- 
minata  vereinfacht  worden  zu  sein  scheint,  würde  der  Form  Ji?>?ama 
ohne  Einfügung  des  a,  je  nachdem,  wie  man  es  auffassen  will,  das 
m  des  Stammes  oder  der  Endung  gefehlt  haben. 

Der  hier  gerügte  Fehler  zieht  sich  durch  einen  großen  Teil 
der    sprachwissenschaftlichen   Literatur    hindurch,    besonders    die 


Silbischer  und  unsilbischer  Laut  gleicher  Artikulation  usw.  103 

Verbindung  ii,  uu  kann  man  häufig  lesen.  Manchmal  ist  der  Fehler 
dadurch  verdeckt,  daß  ji,  vu  oder  wu  geschrieben  wird.  So  setzt 
Hirt  Handbuch  d.  griech.  Laut-  und  Formenlehre^  400  als  ältere 
Stufe  des  Dativs  r^x^t  die  Gestalt  *rix<^ji  an.  Darin  steckt  aber 
der  Fehler  gerade  so  gut,  wie  wenn  er  ^rjx^i^  geschrieben  hätte; 
denn  S.  217  wird  gesagt,  das  j  seinem  Lautcharakter  nach  ein  un- 
silbisches i  war.  Manche  Forscher  scheinen  zu  glauben,  daß  iunm 
usw.  als  Sonanten  und  Konsonanten  prinzipiell  geschieden  seien,  so 
z.  B.  Meillet  Einführung  in  die  vergleichende  Grammatik  Übers. 
V.  Printz  S.  68.  Diese  Ansicht  beruht  auf  einem  leicht  erweis- 
lichen Irrtum ;  dadurch  daß  ein  Vokal  konsonantisch  oder  ein  Kon- 
sonant sonantisch  wird,  tritt  an  sich  keine  Veränderung  in  der 
Artikulation  ein.  Ich  muß  daher  auch  Forscher,  welche  dieser 
Ansicht  huldigen,  des  Fehlers  zeihen,  daß  sie  Laute  derselben  Ar- 
tikulation hinter  einander  in  einer  Silbe  als  Sonant  und  Konsonant 
oder  umgekehrt  für  möglich  halten.  Man  braucht  nur  ein  bischen 
zu  blättern,  um  den  gerügten  Fehler  bei  den  verschiedensten  Sprach- 
forschern anzutreiFen.  Ich  nenne  hier  nur  einige:  Boisacq  Dict. 
etym.  364,  Braune  Got.  Gramm. ^  25,  Brugmann  Grundriß^  I,  268; 
II,  2,  182,  Charpentier  Die  verbalen  r-Endungen  57  fg. ,  Güntert 
Indogerm.  Ablautprobleme  6,  Kluge  Elemente  des  Gotischen^  43  fg., 
Leskien  Grammatik  der  altbulg.  Sprache  44,  Lindroth  IF  29, 173 
(trotz  der  phonetischen  Auseinandersetzung  über  i,  ;,  u,  iv),  Loewe 
German.  Sprach w.^  II,  75,  Luick,  Hist.  Gramm,  engl.  Spr.  I,  116, 
Maurenbrecher  Parerga  zur  lat.  Sprachgesch.  43,  Meillet  Einfüh- 
rung 178,  Niedermann  Melanges  Saussure  60,  62,  Osthoff  Morph. 
Unters.  4,  XI  und  298,  v.  Planta  Gramm,  osk.-umbr.  Dialekte  1, 179, 
272 ;  II,  152,  de  Saussure  Memoire  sur  le  syst.  prim.  208,  Solmsen 
Studien  z.  lat.  Lautgesch.  42  fg.,  Sommer  Handb.  lat.  Laut-  und 
Formenl.2  67,  Streitberg  Gotisches  Elementarbuch^/*  82,  Walde  Die 
german.  Auslautgesetze  149  fg.  usw.^).  Ich  glaube,  wir  haben  alle 
oder  fast  alle  miteinander  den  Fehler  mitgemacht.  Nur  zwei 
Stellen^)  sind  mir  zur  Hand,  an  denen  die  richtige  Erkenntnis 
durchschimmert.  KZ  38,  325  sagt  Pedersen,  aus  sei  unter  der  Vor- 
aussetzung leicht  sprechbar,  daß  das  konsonantische  u  etwas  ge- 
schlossener als  das  sonantische  iJ  war.  Aber  völlig  scheint -Pedersen 
die  Sache  nicht  erkannt  zu  haben;    denn  in  seiner  später  erschie- 

1)  Wenn  Bezzenberger  Mit.  lit.  lit.  Ges.  2,  32,  sg  taü^^ku  schreibt ,  so  kann 
das  nur  den  Sinn  haben,  daß  das  hochgesetzte  n  eine  andre  Artikulation  hat  als 
das  vorausgehende. 

2)  Nicht  recht  verständlich  ist  mir  Vondraks  Bemerkung  Altkirchensl.  Gramm. ^ 
67  über  das  Verhältnis  von  ji  zu  i. 


104  Eduard  Hermann, 

nenen  Vergleichenden  Grammatik  der  keltischen  Sprachen  1, 47  nennt 
er  den  irischen  Akk.  Plur.  cona  als  Beispiel  für  die  Fortsetzung 
eines  idg.  ns.  Das  enthält  die  nicht  zu  billigende  Voraussetzung, 
daß  cona  aus  *kunns  entstanden  sei.  Vermischte  Beiträge  14  nennt 
Wackernagel  ij  eine  undenkbare  Lautfolge,  und  doch  macht  er 
Akzentstudien  III  ISTGrCr  1914,  120  den  Ansatz  *duomdi  und  geht 
Sprachl.  Untersuch,  z.  Homer  99/100  von  idg.  Formen  mit  -iin-  aus. 

2.  Wer  wie  Brugmann  den  Ansatz  eines  idg.  n  für  richtig 
hält,  kommt  bei  Rekonstruktion  des  Akk.  Plur.  der  w-Stämme 
jedenfalls  ins  Gredränge.  Nach  dem  Schema  der  Rekonstruktion 
führen  ai.  gunas,  gr.  xvvccg,  ir.  cona,  lit.  S:zums  ebenso  wie  lat. 
homines,  abulg.  hameni  den  Anhänger  der  Sonantentheorie  gleich- 
mäßig auf  die  phonetisch  unmögliche  Schlußsilbe  -nm.  Theoretisches 
nns  könnte  nichts  anderes  als  ns  sein.  Lautete  da  die  Urform 
von  Kvvag  etwa  "^kuns  ?  ^)  Daraus  hätte  doch  wohl  *xvag,  ai.  *f was 
usw.  werden  müssen,  Oder  will  jemand  das  neue  Lautgesetz  auf- 
stellen, daß  %i  hinter  Vokal  im  Altindischen  na,  im  Grriechischen  va 
usw.  ergab  ?  Derartiges  könnte  man  sich  wohl  für  diejenigen  Sprachen 
denken,  die  aus  n  sonst  einen  Vokal  entwickelt  haben.  Aber  die 
Sprachen  wie  das  Lateinische,  Grermanische,  Litauische,  die  aus  ij^ 
Vokal +  ?i  gemacht  haben,  würden  dann  ja  hinter  Vokal  n  zu 
Nasal  +  Vokal  +  Nasal  entwickelt  haben  müssen ;  das  ist  natürlich 
ausgeschlossen.  Indes  auch  mit  den  Sprachen,  die  nur  Vokal  für 
n  haben,  entsteht  eine  Schwierigkeit,  sowie  man  sich  klar  machen 
will,  wie  es  mit  denjenigen  Stämmen  stand,  in  denen  dem  -n  noch 
ein  Konsonant  vorausging.  Nach  Brugmann  Grundriß'^  II,  2,  228 
lautet  zu  ai.  uksnis  die  rekonstruierte  idg.  Form  *uqsnns,  was  für 
uns  nur  *uqsns  bedeuten  kann.  Aber  aus  *uqsns  würde  indisch 
*uk.saSj  nicht  uksnas  entstanden  sein. 

Mit  Günterts  Schwa  sekundum  (Indog.  Ablautprobleme  127) 
würde  man  nicht  viel  weiter  kommen.  Zwar  für  das  Baltisch- 
Slavische  z.  B.  würde  d2  ausreichen,  so  *kun92ns  =  lit.  s^ums, 
aber  für  andere  Sprachen  nicht,  wir  würden  ja  ai.  *gumtns  usw. 
erwarten  müssen. 

Solche  Bedenken  wie  bei  dem  Akk.  Plur.  der  n-Stämme  gibt 
es  noch  bei  manchen  andern  Formen,  bei  dem  Akk.  Sing,  der  m- 
Stämme  wie  lat.  hiemem,  im  Verbum  bei  Formen  wie  got.  nemum 
u.  a.     Auch  ai.  ayhnata  gehört  hierhin.     Wackernagel  hält  Glotta 


1)   Nicht  unerwähnt  soll  bleiben ,   daß  man  nach  Osthoff  M.ü.  IV,  285  statt 
*ÄM{»»  vielleicht  ein  *k\^s  anzusetzen  hätte. 


Silbischer  und  unsilbischer  Laut  gleicher  Artikulation  usw.  105 

7,  259  =  Sprachl.  Unters.  Hom.  99  diese  indische  Form  für  laut- 
gesetzlicli  und  verlangt  statt  hom.  Tciipavtai  ein  älteres  '^Ttiq)vatui] 
vermutlich  zu  Unrecht.  Wenn  im  Urindogermanischen  Formen  mit 
-nnt'  d.  h.  mit  -nt-  zugrunde  lagen,  war  die  3.  Person  im  Singular 
und  Plural  bei  derartigen  Verben  nicht  unterschieden;  lautgesetz- 
liche Entwicklung  wäre  *7ts(pcctai,  *reWro  gewesen,  deren  Verdrän- 
gung durch  Ttecpavrat,  thavto  besonders  leicht  verständlich  würde. 

Die  Schwierigkeiten,  die  sich  bei  den  n-  und  m-Stämmen  er- 
geben, schwinden  sofort,  wenn  man  Brugmanns  Nasalis  sonans 
ganz  fallen  läßt  und  dafür  J.  Schmidts  e",  c*"  einsetzt.  Diesen 
Gedankengang  haben  die  Gegner  der  Sonantentheorie  nicht  einge- 
schlagen ;  sie  hätten  aber  daraus  eine  HauptwafFe  gegen  Brugmann 
schmieden  können.  Da  sie  sich  diese  Gelegenheit  haben  entgehen 
lassen,  ist  es  nicht  ftieine  Sache,  einen  nicht  gemachten  Angriff 
abzuwehren.  Aber  mir  scheint  es  noch  gar  nicht  sicher,  daß  in 
den  genannten  Fällen  überhaupt  in  der  üblichen  Art  zu  rekon- 
struieren ist.  ai.  tiJcsnas ,  ins  Vor  urindogermanische  umgesetzt, 
könnte  etwa  '^'^enqsenens  gelautet  haben.  Nicht  gern  trete  ich  in 
das  mystische  Dunkel  vorurindogermanischer  Formen  ein  und  schlage, 
um  mein  Heil  zu  wahren,  gleich  zwei  Kreuze.  Das  ist  hier  nötig. 
Denn  Güntert  hat  Idg.  Ablautpr.  115,125  ganz  recht  mit  der  For- 
derung, daß  man  nicht  von  Wurzeln  oder  Basen  ausgehen  müsse, 
um  den  Ablaut  richtig  zu  begreifen,  sondern  von  Wörtern.  Bei 
dahin  gehenden  Versuchen  wird  man  aber  meist  nur  zu  ganz  phan- 
tastischen Gebilden  gelangen ;  auch  *^eu(jsenens  mag  von  dieser  Art 
sein,  obwohl  es  nach  den  Regeln  der  Kunst  rekonstruiert  ist.  Wenn 
man  sich  nun  fragt,  was  denn  im  Indogermanischen  hieraus  nach 
dem  Wirken  der  Abiautgesetze  geworden  sein  kann,  so  wird  man 
nicht  umhin  können,  sein  völliges  Nichtwissen  einzugestehen:  en 
mag  zu  n  oder  n  geworden  sein,  was  aber  wurde  aus  enen  ?  Etwa 
ni^  oder  w?  Man  wird  nur  vermuten  dürfen,  daß  es  ein  Resultat 
ergab,  das  von  der  üblichen  Form  des  betreffenden  Kasus  und  des 
dazu  gehörigen  Substantivstammes  etwas  abwich.  Formen  wie  Kvvag, 
ai.  gimas,  aisl.  pnm,  lat.  liiemem  usw.  sehen  gar  zu  regelmäßig  aus, 
sie  lassen  sich  trotzdem  nicht  in  eine  phonetisch  mögliche  indo- 
germanische Form  umsetzen,  wir  bekämen  ja  nur  -nn-  und  -mm- 
heraus.  Sie  werden  also  —  die  Richtigkeit  von  Nasalis  sonans  einmal 
vorausgesetzt  —  analogisch  umgebildet  worden  sein,  und  zwar  in 
einer  Zeit,  als  oi  und  m  ihre  einheitliche  Artikulation  als  sonan- 
tische  Nasale  aufgegeben  hatten,  d.  h.  in  den  Einzelsprachen. 

Die  lautgesetzliche  Form   des  Akkus.  Sing,   eines  w?-Stammes 
vermute  ich  in  ai.  Mäm,  av.  :tam.    Zu  diesen  Akkusativen  ist  dann 


■[QQ  Eduard  Hermann, 

der  Nominativ  ksäs\  m  neugebildet  (Brugmann  Grdr^  1,  347).  öa^ia 
darf  man  nicht  mit  Brugmann  Grundriß^  II,  1,  136  auf  *dömm  zu- 
rückführen, armen,  ttm  läßt  nur  auf  idg.  *döm  schließen;  eine  be- 
sondere antekonsonantische  Form  dürfte  es  nicht  gegeben  haben. 
da  fasse  ich  dagegen  als  eine  Bildung  des  Stammes  dorn-  auf,  wie 
got.  namö  u.  a.  von  einem  n-Stamm  gebildet  sind.  Zu  da  wird 
döfi«  eine  spätere  Weiterbildung  sein. 

3.  Eine  viel  größere  Rolle  als  bei  den  Nasalen  spielt  das  in 
Präge  stehende  Problem  bei  i  und  u.  Wir  werden  sehen ,  daß 
sich  nicht  nur  das  Alter  mancher  Analogiebildung  und  manches 
Lautgesetzes  erst  jetzt  festlegen  läßt,  sondern  daß  auch  die  Aus- 
sprache der  konsonantischen  Reflexe  von  i  und  u  mitbestimmt 
werden  kann  und  daß  sich  besonders  an  die  zweite  Sorte  dieser 
Lauta  Fragen  anknüpfen,  die  tiefer  in  den  Aufbau  der  indoger- 
manischen Sprachwissenschaft  eingreifen.  Zum  Teil  spielen  hier- 
hinein auch  die  Sonantentheorie  und  die  Gutturalfrage;  von  Bei- 
spielen der  Art  sehe  ich  in  dieser  kleinen  Untersuchung  völlig 
ab,  um  sie  hoffentlich  ein  andermal  für  sich  behandeln  zu  können. 
Es  sollen  also  Fälle  wie  ai.  ürnä^  got.  tvidla  aus  angeblichem  ^filnä, 
got.  aurtigards  aus  angeblichem  *wf(?-  usw.  ebenso  wenig  unter^- 
sucht  werden  wie  lat.  querciis ,  kelt.  Hercynia,  got.  fairguni  aus 
*perg''^U'  usw.  Hier  soll  im  Mittelpunkt  die  Aussprache  der  beiden 
genannten  Laute  stehen,  soweit  sie  mit  unserem  Problem  zusammen- 
hängt. Es  wird  sich  allerdings  nicht  ganz  vermeiden  lassen,  die 
Aussprache  zum  Teil  auch  noch  etwas  weiter  zu  verfolgen.  Um 
Schwierigkeiten  in  der  Bezeichnung  aus  dem  Weg  zu  gehen,  setze 
ich  als  Ausgangspunkt  idg.  i  und  u  an,  die  Zeichen  der  Halb- 
vokale, ohne  damit  über  die  Ansprache  dieser  Lautzeichen  irgend- 
wie vorher  urteilen  zu  wollen. 

Ich  beginne  mit  dem  Slavischen.  Über  die  heutige  Aus- 
sprache des  slavischen  j  werden  wir  von  Broch,  Slavische  Phonetik 
genau  unterrichtet.  Nach  seinen  Ausführungen  S.S.  38,  72,  77, 
86,  91,  94,  99,  105,  247,  272  finden  wir  in  sämtlichen  slavischen 
Sprachen  gleichmäßig  jegliches  ;",  einerlei  welcher  Herkunft,  ob 
aus  idg.  i  ererbt  oder  erst  im  Slavischen  entstanden,  bald  als 
Spirant  /,  bald  als  Halbvokal  i.  Bei  langsamerem  und  deutlicherem 
Sprechen  wird  i  mehr  geöffnet  und  wird  geradezu  zu  einem  e ;  die 
Aussprache  liegt  also  nicht  fest,  sondern  wechselt  selbst  bei  dem 
einzelnen  Individuum.  Bei  dem  geringen  lautphysiologischen  Unter- 
schied zwischen  j  und  i  ist  dieses  Schwanken  nicht  so  sehr  wunderbar. 
Vielleicht  ist  das  im  Englischen  und  in  deutschen  Mundarten,    die 


Silbischer  und  unsilbischer  Laut   gleicher  Artikulation  usw.  107 

i  kennen,  nicht  viel  anders.  Es  braucht  ja  die  Zunge,  die  bei  i 
den  Zähnen  schon  sehr  nahe  ist,  nur  noch  ein  klein  wenig  vorge- 
schoben zu  werden,  und  es  entsteht  ein  Reibungsgeräusch,  das  den 
Halbvokal  zum  Spiranten  macht.  Bemerkenswert  erscheint  mir, 
daß  diesen  Wandel  alle  Slavinen  gleichmäßig  kennen.  Das  beweist 
natürlich  noch  nicht,  daß  es  im  Urslavischen  auch  schon  so  war, 
macht  aber  die  Vermutung,  daß  es  nicht  erst  in  den  einzelnen 
slavischen  Sprachen  so  geworden  ist,  recht  wahrscheinlich.  Und 
zu  dieser  Annahme  paßt  manches  andre.  iVuch  würde  sie  erst 
verständlich  erscheinen  lassen,  daß  weder  das  glagolitische  noch 
das  kyrillische  Alphabet  einen  besondern  Buchstaben  für  diesen 
schillernden  Laut  hatte.  Um  das  i  auszudrücken,  behalf  man  sich 
in  der  verschiedensten  Weise,  vgl.  Vondrak  Aksl.  Grr.-  66  fg.  Das 
Zeichen  für  j,  das  man  in  der  Glagolica  in  Fremdwörtern  wie 
jeona  schrieb,  wandte  man  für  i  nicht  an.  Man  schied  also  zwischen 
beiden  in  der  Aussprache,  j  hatte  eben  wahrscheinlich  ein  sehr 
deutliches  Reibungsgeräuch,  das  dem  i,  mindestens  in  diesem  Maße, 
abging. 

Neben  i  derselben  Silbe  kann  sich  i  nur  dadurch  halten,  daß 
es  merklich  enger  artikuliert  wird  (Broch  262  fg.  vgl.  Smal-Stockyj 
Ruthen.  Gramm.  15)  wie  in  kleinruss.  cifi,  zum  Spiranten  wird  e« 
dadurch  noch  nicht  unbedingt.  So  verstehen  wir  auch,  daß  ein 
konsonantisches  und  ein  sonantisches  i-,  eben  mit  verschiedener  Ar- 
tikulation, hinter  einander  in  den  Formen  des  Pronomens  der  dritten 
Person  stehen  können  wie  in  russ.  hmt,  hxx  usw.,  vgl.  entsprechend 
kleinrussisch  buu,  Smal-Stockyj  ebda. 

Inwieweit  i  sich  mit  folgendem  i  im  Slavischen  verbunden 
hat,  vermag  ich  mit  den  mir  zu  Gebote  stehenden  Mitteln  nicht 
ganz  zu  beurteilen.  Während  im  Russischen  und  andern  slavischen 
Sprachen  das  Pronomen  der  dritten  Person  oft  mit  ji-  bez.  ji-  an- 
lautet, haben  dieselben  Kasus  im  Slovakischen,  in  einigen  mäh- 
rischen Mundarten  usw.  den  Anlaut  /,  z.  B.  Instr.  Sing.  im.  Nach 
Vondrak  IF  10, 116  stellt  dabei  der  Anlaut  i-  den  urslavischen 
Zustand  dar,  während  il-,  ji-  auf  Analogie  beruhen  soll.  Leskien 
will  das  IF  10,  261  gelten  lassen ,  obwohl  ein  Beweis  dafür  nicht 
erbracht  sei.  Der  Beweis  läßt  sich  aber  vielleicht  erbringen,  falls 
sich  ein  Unterschied  im  Anlaut  des  deklinierten  Relativums  (mit  j) 
und  der  zu  Konjunktionen  erstarrten  Kasus  des  Relativums  (ohne  j) 
nachweisen  läßt,  was  meiner  Beurteilung  entgeht. 

Im  Inlaut  hinter  Konsonanten  hat  Leskien  IF  10,  259  fg.  die 
Lautgruppe  -ii  bez.  -ji  festgestellt.  Wie  es  hinter  Vokalen  steht, 
bleibt  noch  zu  untersuchen.     Die  verschiedenen  slavischen  Spracheii. 


108  Eduard  Hermann, 

stimmen  heute  darin  nicht  überein.  Während  im  Cechischen  der 
Nominativ  Pluralis  des  Possessivum  nioji,  im  Serbischen  mbji  lautet 
und  im  Ruthenischen  z.  B.  cmo'imh  als  stojW  (Smal-Stockyj,  Ruthen. 
Gramm.  16)  und  im  Weißrussischen  z.B.  Cbohx'b  als  svajich  (Berneker 
Slav.  ehrest.  102)  zu  sprechen  ist,  spricht  man  großruss.  moi,  sloij 
armü  usw.  ohne  Konsonant  vor  dem  -i  der  Endung.  Die  Slavisten 
greifen  diese  Frage  vielleicht  bald  einmal  auf,  zumal  sie  durch 
Brückners  Streitruf  Gresch.  idg.  Sprachwiss.  II,  3,  S.  2  wegen  der 
Greltung  des  slavischen  h  für  i  +  b  auf  den  Schlachtplatz  heraus- 
gefordert sind. 

Mir  kommt  nach  Brückners  Mahnung  Leskiens  Ansatz  abg. 
"imjh  usw.  nicht  mehr  richtig  vor;  man  wird  moj  ansetzen  müssen. 
Also  hinter  Vokal  ist  i-\-h  zu  einem  Laut  verschmolzen,  so  auch 
beim  enklitischen  Pronomen,  z.  B.  moVaachg  i  =  moVaachoj,  vgl. 
BphW1918, 41.  Hinter  Konsonant  ist  es  aber,  ebenso  wie  bei 
langem  i  hinter  i,  anders.  Man  konnte  einen  Haken  auf  den  Kon- 
sonanten setzen  und  fügte  b  hinzu,  z.  B.  vi^nh,  d.  h.  man  sprach 
eine  Art  i  oder  j  vor  l.  Auch  hier  läßt  sich  nicht  sehen,  ob  der 
Anlaut  dieses  Akkusativs  jh  lautgesetzlich  geblieben  oder  analo- 
gisch wieder  eingeführt  worden  ist.  Ebenso  ist  es  mit  Formen 
wie  honh,  honi. 

Im  absoluten  Anlaut  ist  i  vor  t  nicht  geblieben.  Wir  können 
aber  nicht  recht  erkennen,  wie  verändert  worden  ist,  wir  sehen 
nur  das  Endergebnis :  ?,  also  eine  Dehnung  ^).  So  wurden  behandelt 
B-  und  alle  Verbindungen  von  anlautendem  i-  mit  b,  gleichgültig 
welcher  Herkunft,  z.  B.  idg.  di  in  img^  idg.  ju  in  igo,  idg.  i  oder 
io-  in  i^e.  Lautgesetzlich  ergab  sowohl  idg.  */>  wie  idg.  *ios  im 
Slavischen  ?;  sollte  nicht  dieser  Umstand  zu  einer  Vermengung 
der  beiden  Pronomina  geführt  haben?  Wir  werden  sehen,  daß 
diese  auch  im  Baltischen  eingetreten  sein  kann.  Andrerseits  mag 
die  Veränderung  des  Anlauts  und  die  Reduktion  des  Nominativs 
auf  einen  Laut,  wogegen  sich  ja  die  indogermanischen  Sprachen 
vielfach  sträuben ,  vgl.  Wackernagel  NGGr  1906,  147  fg.,  bewirkt 
haben,  daß  man  den  Nominativ  i  durch  o«x  ersetzte  und  daß  die 
ebenfalls  einsilbigen  Nominative  ja,  je  infolgedessen  durch  ona,  ono 
verdrängt  wurden. 

Verloren  gegangen  ist  das  anlautende  i  vor  l  also  auf  irgend 
«ine  Weise;  ob  das,  nachdem  b-  zu  i-  geworden  war,  geschah  oder 
vorher,  wird  zu  untersuchen  sein.     Vondräk  stellt  sich  Aksl.  Grr^  79 


1)   Brückners   Ansatz   Gesch.  Sprachw.  II,  3, 64,  100  ji-   z.  B.  jigo   ist   nicht 
tichtig,  vgl.  BphW  1918,41. 


Silbischer  und  unsilbischer  Laut  gleicher  Artikulation  usw.  1Q9 

den  Vorgang  so  vor,  daß  aus  ih  zunächst  ih  wurde;    irgend  einen 
Beweis  für  diese  Metathesis  hat  er  aber  nicht  erbracht. 

Selbstverständlich  handelt  es  sich  bei  ?ie,  inw,  igo  um  eine 
Dehnung,  wie  es  ja  auch  von  den  Slavisten  aufgefaßt  wird,  nicht 
etwa  um  die  Vereinigung  von  i  oder  ;  +  V  zu  t;  denn  diese  Ver- 
einigung ergäbe  nicht  7,  sondern  7.  Das  verdient  noch  einmal  be- 
sonders gesagt  zu  werden.  Wenn  i  oder  ;  zu  t  hinzukommt,  wird  i 
natürlich  länger;  aber  es  wird  noch  kein  langes  L  Umgekehrt 
würde  ^  +  jii)  ein  langes  i  ergeben,  wofür  man  übrigens  gerade 
aus  dem  Slavischen  etwa  abulg.  tri  je  neben  trhje  u.  a.  nennen  darf. 
Denn  hier  wird  die  Dehnung  doch  wohl  darauf  beruhen,  daß  man 
einen  Teil  des  j(i)  schon  in  der  ersten  Silbe  vorausnahm ,  es  also 
geminierte,  wie  man  gewöhnlich  ohne  Rücksicht  auf  die  einmalige 
Artikulation  statt  'verlängerte'  sagt.  Das  sieht  zunächst  vielleicht 
wunderbar  aus,  verliert  aber  sofort  alles  Befremdende,  wenn  man 
sich  ein  wenig  weiter  umsieht. 

Im  griechischen  und  lateinischen  Vers  macht  bekanntlich  nur 
der  hinter  dem  Vokal  derselben  Silbe  stehende  Konsonant  Position, 
nicht  der  vor  ihm.  Vor  dem  Vokal  dürfen  sogar  mehrere  Konso- 
nanten stehen,  ohne  die  Silbe  zu  längen,  daher  ist  hinter  der  Zäsur 
die  Silbe  tcqo-  kurz:  A  84  rbv  ö^  ccTtcc^Sißo^svog  7tQo0£(pf]  Jtödag 
G)xvs  'AxikXevg,  ebenso  die  Silbe  |v-:  A  273  ocal  iiev  ^ev  ßovXecjv 
^vvLEv  TtEid-ovTÖ  TS  ^vd^G).  Diouys  vou  Halikamaß  erwähnt  :r.  övvd. 
ov.  15,  daß  die  erste  Stelle  von  öxQocpog  trotz  der  drei  Konso- 
nanten noch  kurz  ist.  Bei  Catull  heißt  es  in  der  rein  jam- 
bischen Hexapodie  4,  9 :  Fropontida  trucemve  Ponticum  sinum.  Die 
experimentellen  Untersuchungen  haben  denn  auch  ergeben,  daß  die 
silbenanlautenden  Konsonanten  durchweg  kürzer  sind  als  die  silben- 
auslautenden, s.  Jespersen,  Lehrbuch  der  Phonetik  182  fg.  Unter 
den  hier  S.  187  aus  E.  A.  Meyers  Englische  Lautdauer  S.  30  und 
77  zusammengestellten  Tabellen  zeigen  besonders  die  inlautenden 
Konsonanten,  die  wenigstens  hinter  langem  Vokal  Anlaut  der  fol- 
genden Silbe  sind,  viel  geringere  Zeitdauer  als  die  anlautenden 
hinter  kurzem  Vokal;  aber  auch  die  anlautenden  sind  kürzer,  zum 
Teil  recht  erheblich,  z.B.  l  10,6:  17,4  Hundertstel  Sekunden,  m 
10,2:  17,8.  Bei  inlautenden  Konsonantenverbindungen  ist  der  zweite 
Konsonant  besonders  kurz,  s.  Meyer  S.  79:  b  hinter  m  2,8  Hun- 
dertstel Sekunden ,  hinter  langem  Vokal  6,2 ;  p  ebenso  3,6 :  8,0. 
Im  Auslaut  einsilbiger  Wörter  beansprucht  b  hinter  langem  Vokal 
8,8,  hinter  kurzem  10,1  Hundertstel  Sekunden;  p  12,6:  14,8.  Im 
Serbischen  sind  die  Unterschiede  allerdings  geringer,  s.  LC  1917, 791. 
In  den  älteren  indogermanischen  Sprachen  dagegen  muß  der  Unter- 


110  Eduard  Hermann, 

schied  der  Zeitdauer  zwischen  silbenanlautenden  und  siibenauslau- 
tenden  Konsonanten  noch  größer  als  im  Englischen  gewesen  sein. 
Nur  so  erklärt  sich  die  Positionslänge  und  ebenso  die  Ersatzdeh- 
nung, wie  sie  in  eifil,  got.  (/ajjeihan  usw.  zum  Ausdruck  kommt. 
Die  Verschmelzung  von  i  mit  folgendem  i,  von  u  mit  n  konnte 
ii.lso,  wie  das  auch  die  Beispiele  im  folgenden  überall  bestätigen 
werden,  nur  T  oder  fi  ergeben. 

Wenn  Sommer  Sprachgesch.  Erläuterungen  f.  d.  griech.  Unter r. 
49  das  l  in  ai.  hharantl  aus  idg.  jd  (gemeint  ist  id)  kontrahiert  sein 
läßt,  befindet  er  sich  im  Irrtum;  denn  er  scheint  zu  glauben,  daß 
9  im  Indischen  erst  zu  i  wurde  und  daß  dann  i-\-t  eine  Länge 
^rgab.  Dabei  ist  aber  zum  Überfluß  auch  noch  übersehen,  daß  im 
Litauischen  (vehant))  und  im  Grotischen  {frijöndi)  usw.  das  9  nicht 
zu  i  geworden  sein  kann,  sondern  a  hätte  werden  und  im  Grotischen 
abfallen  müssen.  Grenau  denselben  Fehler  wie  Sommer  macht  Grüntert 
Indog.  Ablautprobleme  6,  wenn  er,  andern  folgend,  i  in  ai.  pmd- 
und  jitä-  als  die  Fortsetzung  von  idg.  id  ansieht,  das  im  Arischen 
zu  ii  und  weiter  zu  ~t  geworden  sei.  Die  Grruppe  der  indischen 
IVörter  gehört  doch  mit  pivan-,  pivari  usw.  zusammen,  und  von 
•diesen  sind  Jticov,  oiisLQa  nicht  zu  trennen,  deren  ^  aus  id  nicht 
herleitbar  ist.  Ebenso  scheitert  OsthofFs  Theorie  MU IV,  281  fg., 
nach  der  **u€gJiö  >  *iiughö  >  *üghö  geworden  ist. 

Bei  dem  slavischen  v  steht  es  nicht  ganz  so  wie  bei ;.  Fast  überall 
ist  V  heutzutage  Spirant,  und  zwar  labio  -  dentaler  Reibelaut,  s. 
Broch  30.  Ganz  augenfällig  zeigt  sich  dieser  Unterschied  im  Rus- 
sischen, wenn  v  vor  folgendem  stimmlosen  Konsonanten  selbst  stimm- 
loser Spirant  wird  z.  B.  in  vtoroj;  dagegen  der  {-Laut  bleibt  stimm- 
haft z.  B.  in  2^ojti.  Nur  insofern  zeigt  sich  noch  die,  wie  wir  gleich 
sehen  werden,  alte  halbvokalische  Natur  des  v,  als  es  selbst  einen 
vorausgehenden  stimmlosen  Konsonanten  nicht  stimmhaft  machen 
kann,  wie  das  die  stimmhaften  Verschlußlaute  und  Spiranten  tun,  z.B. 
V  in  svetiy  gegenüber  s>js  in  shor^  oder  ^  >  ^  in  otäiib  Das  u  in  nord- 
großrussischen Mundarten,  z.  B.  udrug  Berneker,  Slav.  Chrestomathie 
99  und  im  Weißrussischen  z.  B.  use  ebenda  102  fg.  kann  natürlich 
nur  einen  bilabialen  Spiranten  meinen,  wie  sich  schon  aus  der  Stel- 
lung in  der  Silbe  ergibt.  Wie  wird  aber  nordgroßruss.  hlezmm 
S.  99,  yl'amm  S.  100  und  weißruss.  zJännu  S.  103  zu  beurteilen 
sein?  —  Interessant  ist  in  diesem  Zusammenhang  auch  der  Über- 
gang von  unbetontem  u  in  v  in  kleinruss.  vdarW  =  iidarif,  s.  Smal- 
Stockij  und  Grartner,  Grrammatik  d.  ruthen.  Sprache,  84. 

Nur  in  ugrorussischen  ^)  und  südserbischen  Mundarten  und  im 

1)  Man  vergleiche  aber  ruthen.  na^Tcolo  =  naokolo,   s.  Smal-Stockyj  und 


Silbischer  und  unsilbischer  Laut   gleicher  Artikulation  usw.  Hl 

Slovenischen  liegen  die  Verhältnisse  ganz  gleich  denen  des  ;,  so 
daß  dort  v  mit  u  und  in  langsamer  Rede  sogar  mit  o  wechselt, 
s.  Broch-81fg.,  74,  81,  93,  245  fg.,  252,  254.  Hierin  könnte  sich 
vielleicht  der  urslavische  Znstand  fortgesetzt  haben.  Aber  wie  im 
Neubulgarischen  v  Spirant  ist,  so  könnte  es  das  auch  im  Altbul- 
garischen schon  gewesen  sein.  Die  beiden  slavischen  Alphabete 
haben  ja  einen  besonderen  Buchstaben  für  v ,  eine  Umbildung^  des 
griechischen  /5,  das  in  jener  Zeit  bereits  spirantisch  gesprochen 
wurde.  So  finden  wir  denn  v  auch  vor  x,  das,  aus  o  oder  n  ent- 
standen, einen  für  das  Altbulgarische  noch  nicht  genau  festgelegten, 
überkurzen  Vokal  (Leskien,  Gramm,  altbulg.  Spr.  10)  darstellte. 
Daß  dieses  o  durch  die  Zwischenstufe  ü  einmal  hindurchgegangen 
war,  ist  wahrscheinlich. 

Hinter  Konsonant  soll  v  nach  Brugmann  Grrundr.- 1,  340  vor 
folgendem  x  in  alter  Zeit  geschwunden  sein,  daher  die  isolierte 
Form  vecliy^  dagegen  bei  den  nach  der  wo -Deklination  flektierten 
Wörtern  soll  v  schon  im  Altbulgarischen  wieder  eingeführt  sein, 
daher  mrt/r'B,  während  hinter  Vokal  v  auch  in  den  isolierten  Formen 
wie  znavT>  hki^  steht.  Diese  Ansicht  dürfte  nicht  richtig  sein  und 
ist   von  Brugmann   selber   Grundr.-  II,  1,  571   aufgegeben   worden. 

Wie  der  Nominativ  solcher  slavischen  Partizipien  zustande 
gekommen  ist,  hat  für  mich  hier  kein  Interesse,  da  die  Verbindung 
vh  nicht'  nur  in  dieser  einen  Form  zu  finden  ist ;  haben  wir  doch 
neben  vediysa  auch  snaviisa  usw.  im  Genetiv  und  neben  vediasi  auch 
^navTasi  usw.  im  Femininum.  Diese  Bildungen  reichen  vielleicht 
über  das  Slavische  hinaus,  sie  haben  in  den  baltischen  Sprachen 
ziemlich  genaue  Entsprechungen,  z,  B.  davii,  lit.  däviis,  s.  Brugmann 
Grundr.^  II,  1.  571  fg.;  II,  3,  492  fg.  In  beiden  Sprachgruppen  hat 
das  auf  die  Verbindung  eines  konsonantischen  u  mit  einem  sonan- 
ti sehen  u  deutende  Element  das  Partizipium  der  meisten  voka- 
lischen Stämme  erobert,  obwohl  noch  nicht  alle  wie  altb.  ckvalh, 
lit.  viyUjus,  preuß.  milijans ;  am  weitesten  ist  dabei  das  Preußische 
gegangen,  s.  Osthoff  MU.  IV,  379.  Wie  das  Suffix  entstanden  ist, 
hat  Brugmann  an  der  ersten  der  genannten  Stellen  auseinander- 
gesetzt. Den  Ausgangspunkt  lieferten  die  Verbalstämme  auf  -ü 
(und  -ii).  Wenn  hier  ein  vokalisch  anlautendes  Suffix  antrat,  ent- 
stand  ein  n    als  Übergangslaut  zwischen  Stamm   und  Suffix,    und 

Gärtner,  83.  Überhaupt  scheint  die  halbvokalische  Aussprache  des  v  in  den  drei 
russischen  Sprachen  weiter  verbreitet  zu  sein,  als  es  Broch  angibt,  s.  die  aller- 
dings nicht  ganz  einwandfreien  Bemerkungen  Sobolevskijs,  Lekcii*  120  fg.  Weitere 
Spuren  s.  Voi\drak  Vgl.  Gr.  I,  282  fg.,  wo  mit  Recht  urslavischer  Halbvokal  an- 
genommen wird. 


112  Eduard  Hermann, 

dieses  u  wurde  auf  die  Formen  mit  Suffix  -us  übertragen :  so  steht 
neben  abulg.  hyv%si  schon  ai.  hahküvusi,  hom.  itecpvvlcc.  Es  erhebt 
sich  die  Frage,  wie  alt  derartige  Bildungen  sein  mögen,  ^ie  ver- 
schiedene Quantität  des  Stammvokals,  Läfige  im  Slavischen  dav%y 
byvTt  Kürze  im  Litauischen  dävus,  hhvuSy  Länge  im  Preuß.  däuns 
könnte  nahe  legen,  daß  der  Hiatus  erst  in  den  Einzelsprachen 
getilgt  ist,  zumal  im  Preuß.  -wims  nur  vereinzelt  erscheint  wie  in 
tayJtowuns ,  meist  nur  -uns ,  wie  in  hillums ,  däuns  usw. ,  Berneker 
Preuß.  Sprache  230  fg.,  Trautmann  Die  altpr.  Sprachdenkm.  255  fg. 
Aber  bei  der  Unzuverlässigkeit  preußischer  Schreibung,  vgl.  be- 
sonders noch  baüuns,  darf  man  kaum  Schlüsse  daraus  ziehen.  Daß 
im  Preußischen  der  Übergangslaut  (u)  mit  dem  folgenden  ti  ver- 
schmolzen sei,  wird  man  angesichts  der  Formen  auf  -tvuns  ebenso 
wenig  fest  behaupten  dürfen,  wie  daß  däuns  die  ältere  Stufe  dar- 
stelle, in  der  w  noch  nicht  von  den  ff -Stämmen  übernommen  sei. 
Man  wird  aber  jedenfalls  mit  der  Möglichkeit  rechnen  dürfen,  daß 
schon  im  Urbaltischslavischen  ein  Teil  der  vokalischen  Stämme, 
zum  wenigsten  die  w- Stämme  Partizipien  mit  it  vor  der  Endung 
'US-  bilden  konnten,  wenn  sich  auch  Gewißheit  darüber  nicht  er- 
reichen läßt.  Also  schon  in  jener  Sprachperiode  könnte  es  viel- 
leicht Formen  gegeben  haben,  in  denen  2i  mit  folgendem  u  nicht 
verschmolz.  Die  Aussprache  dieses  ii  muß  dann  von  der  des  fol- 
genden u  irgend  wie  abgewichen  sein.  Sie  könnte  geschlossener 
gewesen  sein,  also  w,  oder  spirantisch,  also  etwa  bilabiales  iv.  Was 
als  das  Wahrscheinlichere  zu  gelten  hat,  wird  sich  im  Lauf  der  Unter- 
suchung hoiFentlich  deutlicher  zeigen.  Hier  sei  über  das  Partizipium 
nur  noch  bemerkt,  daß  Formen  mit  -vtis-  im  Altindischen  nur  von  den 
«T-Stämmen  vorliegen,  also  über  das  Ursprungsgebiet  nicht  hinaus- 
gewachsen sind.  Man  wird  fragen  dürfen,  ob  dies  nicht  etwa  gar 
ein  urindogermanisches  Erbstück  ist.  Die  andern  Yokalstämme 
verlieren  im  Altindischen  ihren  Vokal  vor  dem  Suffix  -ns-  z.  B. 
tasthtist  von  sthä,  und  das  könnte  im  Urindogermanischen  ent- 
sprechend gewesen  sein.  Bei  den  w-Stämmen  lag  das  aber  anders : 
das  u  von  *bJtü  war  vermutlich  doch  die  Schwundstufe  einer  zwei- 
silbigen Basis;  da  wird  also  im  Partizipium  vor  dem  -tis-  nicht 
auch  ü  geschwunden  sein.  Eher  könnte  man  daran  denken,  daß 
sich  ü  mit  -us-  zu  -üs-  verband ,  wie  sich  das  Brugmann  KZ  24,  85 
ähnlich  vorstellte;  der  Systemzwang  könnte  aber  damals  schon 
-üs-  zweisilbig  gemacht  haben,  wobei  dann  auch  hier  ein  irgendwie 
beschaffenes  u  (wohl  u)  vor  u  in  betracht  käme. 

Sicherlich    erst   innerhalb    des  Slavischen   ist   im  Anlaut    der 
Vorschlag  vor  t>  und  ^,  zu  einer  Zeit,  als  sie  noch  w-Laute  waren, 


I 


Silbischer  und  unsilbischer  Laut  gleicher  Artikulation  usw.  HB 

entstanden.  Dieser  Vorschlag  wird  bei  seiner  Entstehung  eher  ein 
w,  also  ein  geschlossenes  u,  als  ein  Spirant  gewesen  sein,  da  ^ 
dem  Vokal  ü  in  der  Artikulation  näher  liegt.  Man  setzte  etwas 
geschlossener  ein  und  fuhr  geöffneter  fort,  das  konnte  leicht  zur 
Scheidung  in  zwei  Laute  führen,  wie  z.  B.  bei  dem  weißrussischen 
in  betonter  geschlossener  Silbe  aus  o  entstandenen  uo,  Berneker 
Chrestom.  102  fg.  Im  Ruthenischen  ist  ti  (w)  auch  vor  das  jüngere 
anlautende  u-  getreten,  Smal-Stockyj  und  Grartner  85.  Von  hier 
aus  darf  man  aber  nicht  etwa  einen  Schluß  auf  anlautendes  i-  ziehen; 
der  i- Vorschlag  vor  i,  den  z.  B.  Leskien  Gramm,  altbulg.  Spr.  65  als 
sicher  annimmt,  ist  nur  eine,  der  verschiedenen  Möglichkeiten. 
Die  beiden  Vokale  verhalten  sich  in  der  Tat  doch  ganz  verschieden, 
7-  ergibt  t-,  dagegen  u-  und  ü-  ergeben  vt-,  vtj-.  Des  Parallelismus 
wegen  ist  man  also  zur  Forderung  eines  vorgeschlagenen  i  nicht 
berechtigt. 

Im  Baltisclien  liegen  die  Verhältnisse  etwas  anders  als  im  Sla- 
vischen.  Über  das  Lettische  kann  ich  nur  anführen,  was  Bielen- 
stein  Die  lettische  Sprache  87  fg.  sagt,  iv  ist  Halbvokal,  lautet 
nie  wie  v  und  hat  fast  vokalische  Katur,  nur  zwischen  Vokalen 
hat  es  eine  mehr  konsonantische  Aussprache,  so  daß  auch  die  Ober- 
zähne die  Unterlippe  berühren.  Danach  scheint  gemeint  zu  sein 
daß  w  außer  zwischen  Vokalen  kein  Spirant  ist.  j  wird  ähnlich 
beschrieben :  es  ist  mehr  konsonantisch  zwischen  Vokalen,  mehr 
vokalisch  im  Anlaut  und  Auslaut.  Dabei  ist  das  Beispiel  für  letz- 
teren bemerkenswert,  weil  es  vor  dem  j  ein  i  hat:  skreif  'lauf. 
Dieselbe  Artikulation  wie  das  vorausgehende  i  kann  das  auslau- 
tende i  natürlich  nicht  haben. 

Im   Litauischen    dagegen    scheint    /    meist  Spirant    zu    sein. 
Kurschat  setzt  es  Grramm.  lit.  Sprache  24  dem  deutschen  j  gleich, 
womit  er  wohl  den  norddeutschen  Spirant  meint,  wozu  auch  altlit. 
til'jghie^  Bezzenberger  Beitr.  Gesch.  lit.  Sprache  93    paßt.      In   ge- 
wissen  Gegenden  ist   aber  j  im  Litauischen  Halbvokal,    z.  B.  in 
Godlewa,  s.  Leskien-Brugmann  Lit.  Volkslieder  und  Märchen  S.  285 ; 
fis  wird  hier  zu  ts  reduziert;    ebenso    ist   im  Adjektivum  ;   vor  i 
kaum  oder  nicht  hörbar  z.  B.  in  gerajt^,  geroji.  Auch  im  Ostlitauischen 
ist  ;  vor  i  verklungen;    bei  Szyrwid   wird  für  je^ite  die  Form  inte 
angegeben  (brätowa  fratria  uxor  fratris  inte),  hier  war  en  lautge- 
setzlich zu  in  geworden.     Wenn  der  vorausgehende  konsonantische 
Anlaut  mit  i  verschmolzen  ist,  läßt  das  eher  auf  i  als  auf  7  schließen, 
da  j  von  dem  i  in  der  Artikulation  stärker  abweicht.   Aber  ostlitauisch 
lautet  das  Pronomen  ßs,  nicht  etwa  *is.    Wie  ist  das  zu  verstehen  ? 
Trat  die  Verschmelzung  nur  mit  dem  aus  e  sekundär  entwickelten 

Kgl  Ges.  d.  Wiss.    Nachrichten.    Phil.-hist.  Klasse.    1918.    Heft  1.  8 


114  Eduard  Hermann, 

i  ein?  Oder  ist  ;  in  jis  nur  analogiscli  wieder  eingeführt?  Ist 
fis  etwa  überhaupt  im  Litauischen  so  zu  verstehen  ?  Nach  Sommer 
Die  indog.  ja-  und  io-Stämme  im  Baltischen  225  fg.,  368  fg.  ist  -io- 
z.  B.  hinter  einem  Dental  wie  in  iödis  oder  hinter  einem  ,9  voka- 
lisiert  worden  und  hat  mit  dem  ehemaligen  o  zusammen  i  ergeben, 
übrigens  wieder  ein  Vorgang,  der  bei  der  halbvokalischen  Natur 
eines  i  begreiflicher  ist  als  bei  einem  spirantischen  j.  Dann  darf 
man  aber  -is  auch  in  yeräsis  auf  -ios  zurückführen.  Ferner  wäre 
es  denkbar,  daß  ebenso  auch  das  Demonstrativpronomen  *io5,  wenn 
es  unbetont  war,  zu  *is  führte,  wodurch  eine  Vermengung  mit  dem 
Pronomen  Hs  leicht  herbeigeführt  werden  konnte  wie  im  Slavischen. 
Aber  im  Litauischen  zeigt  sich  die  Verquickung  deutlicher;  denn 
die  Form  j)  scheint  das  Femininum  zu  */5  zu  enthalten,  das  uns 
aus  dem  Avestischen  als  i  bekannt  ist.  Voraussetzung  für  diese 
Erklärung  der  Bestimmtheitsform  im  Nom.  Sing,  und  für  j)s^  j)  ist 
also,  daß  j)s^  jl  ihr  ;  analogisch  wieder  erhalten  haben  und  jl  sein  j- 
von  dem  später  verloren  gegangenen  Femininum  *;a  bezogen  hat.  Daß 
geräsis  und  gerqj{,  geroji  mit  dem  ;  nicht  gleichmäßig  behandelt 
wurden,  könnte  in  der  Verschiedenheit  der  vorausgehenden  Laute 
(Konsonant:  Vokal)  seine  Begründung  finden.  Notwendig  ist  diese 
ganze  Hypothese  nicht,  die  Vermengung  der  Pronominalstämme 
*^-  und  "^io-  läßt  sich  auch  ohne  sie  begreifen;  immerhin  würde 
sie  die  Vermengung  ganz  besonders  verständlich  erscheinen  lassen. 
Eine  Parallele  zu  der  Ausdehnung  des  anlautenden  j  im  Pronomen 
der  dritten  Person  liefert  das  weißrussische  juan^  jena,  jeno,  jeny. 

Das,  was  im  Slavischen  zweifelhaft  bleiben  mußte,  der  Vor- 
schlag vor  anlautendem  i-,  kommt  in  litauischen  Mundarten  wirklich 
vor.  Doritsch  Beiträge  z.  lit.  Dialektologie  §  124  erwähnt  ihn  aus 
der  Mundart  von  Aszen,  wo  j-  vor  jeden  hellen  Vokal  tritt.  §  190 
führt  er  außerdem  ji  =  ir  an  aus  der  Mundart  von  Eund-Goerge. 
Bei  Leskien-Brugmann  283  wird  das  ;  in  j)mt  als  schwach  und 
unstet  bezeichnet.  Aus  einem  an  einen  litauischen  Grefangenen 
gerichteten  Briefe,  der  aus  der  Nähe  von  Bausk  abgesandt  war, 
habe  ich  mir  iwr  jilgti  Icähu  'lange  Zeit  hindurch'  notiert.  Auch 
der  Vorschlag  von  ;  spricht  dafür,  daß,  wenn  nicht  jetzt,  so  doch 
zvLT  Zeit  seiner  Entstehung  ein  Halbvokal  gesprochen  wurde,  und 
zwar  wohl  ein  mehr  geschlossener. 

Somit  komme  ich  von  verschiedenen  Seiten  für  das  Litauische 
auf  i  neben  ;,  auf  Halbvokal  neben  Spirant.  Ist  es  etwa  ähnlich 
wie  im  Slavischen,  wo  die  Aussprache  individuell  wechselt?  Wenn 
man  fragt,  was  das  Altere  dabei  sein  wird,  i  oder  j,  so  wird  man 
auf  i  geführt,    und  dazu  paßt  auch   die  lettische  Aussprache  sehr 


Silbischer  und  unsilbischer  Laut  gleicher  Artikulation  usw.  115 

wohl.  Künftige  phonetische  Forschung  wird  das  besser  festlegen 
und  zugleich  feststellen  können,  ob  'nicht  in  manchen  Gegenden 
des  Baltischen  i  im  allgemeinen  als  i,  aber  vor  i  als  i  gesprochen 
wird. 

Auch  für  V  werden  wir  schließlich  auf  den  Halbvokal  ti  geführt, 
obwohl  Wiedemann  Handb.  lit.  Spr.  1  v  als  Spirant  bezeichnet.  In 
manchen  Gegenden  wird  apokopiertes  av  als  au  gesprochen,  so 
spricht  man  tau  oder  tati  für  tävei  z.  ß.  in  Godlewa,  ferner  in  meh- 
reren Mundarten,  wie  aus  Doritsch  a.  a.  0.  S.  115  zu  ersehen  ist, 
ebenso  in  der  Mundart  bei  Scheu- Kurschat,  Zemaitische  Tierfabeln 
217,  vgl.  auch  Jacoby  Mit.  lit.  lit.  Ges.  1,  73  aus  Memel  susiijau  = 
susiejowa  usw.  Wird  etwa  v  in  allen  diesen  Gegenden  wie  in 
Godlewa  jetzt  noch  als  u  gesprochen,  oder /geschah  das  nur  noch 
zur  Zeit  der  Apokope,  für  die  mir  u  wahrscheinlicher  dünkt  als 
Spirant  tv?  Im  nördlichen  Preußisch-Litauischen  wird  intervoka- 
lisches  V  oft  als  ii  gesprochen,  vgl.  Bezzenberger  Mitteil.  lit.  lit. 
Ges.  2,  34,  so]  auch  S.  31,  39  \  uändenq  und  42,  e«  sogar,  tas  uaiks. 
Daneben  gibt  es  hier  auch  Übergang  von  nichtspiräntischer  zu  spi- 
rantischer Aussprache  29,  s  häuw\  42,  u  te'^wois,  aber  33, 59  giw^s. 
Doritsch  §  39  erwähnt  aus  Matzutkehmen  sau  neben  sdiv  mit  bila- 
bialem w.  Diese  Verhältnisse  deuten  auf  individuellen  Wechsel 
wie  im  Slavischen.  In  Gefangenenbriefen  fand  ich  z.  B.  loshaus 
neben  losJcavs  aus  loslavas-,  aber  die  Schreibung  allein  beweist  ja 
noch  nichts. 

Andre  Beobachtungen  führen  darauf,  daß  u  im  Litauischen  in 
gewissen  Zeiten  und  Gegenden  nach  dem  0  hin  klang,  also  ein 
offenes  u  war.  In  s;sä,  da,  vielleicht  auch  in  snml,  ist  u  vor  einem 
«^-Laut  gefallen,  der  aus  0  entstanden  war,  und  das  kann  ein  durch- 
gehendes litauisches  Lautgesetz  gewesen  sein ;  die  heutigen  Wörter 
mit  der  Lautfolge  v  -f-  u  oder  u  sind  alle  junge  Wörter  oder  lassen 
sich  wenigstens  leicht  aus  dem  Systemzwang  erklären  wie  vulga- 
■risslas,  VüMe,  ^uva  von  iüü  'umkommen'  (vgl.  Schleicher  Lit.  Gr. 
240,  Osthoff  MU  IV,  393),  gijvuse  usw.  Dazu  paßt  sehr  gut,  daß 
in  der  Mundart  der  Scheuschen  Tierfabeln  statt  des  vulgären  -ü 
im  Auslaut  -uv  erscheint,  z.  B.  huv,  s.  Scheu-Kurschat  Vorrede  7. 
Eine  noch  deutlichere  Sprache  spricht  die  Verschmelzung  des  n 
mit  folgendem  0  in  einer  Mundart  aus  der  Nachbarschaft  Telsys 
M.  1.  1.  G.  5,  87  pauliaote  lustig  leben',  suvencaötas  Vermählt',  da- 
neben aber  tau  'dir'  usw.  und  im  Paradigma  sogar  he  galvos,  ont 
lovos,  Deivo,  im  Anlaut  pasvodina.  Aus  einem  nach  Pupsti  b'ei 
Xielmy   gerichteten  Brief  eines   litauischen   Gefangenen  habe   ich 

8* 


Wß  Eduard  Hermann, 

mir  okis'kas  =  voJ:i.skas  aufgezeichnet,  eine  Form  mit  bezeichnender 
Verschmelzung  des  v  vor  o  in  einem  Lehnwort. 

Eigentümlich  ist  der  Vorschlag  eines  v  vor  anlautendem  tio^ 
den  Trautmann  158  aus  dem  Zenaitischen ,  Ostlitauischen  und  aus 
Godlewa  erwähnt.  Brugmann  nennt  Leskien  -  Brugmann  283  aus 
Grodlewa  vüszv'e,  viidegä.  Danach  setzt  man  vor  dem  u  des  ü  schon 
mit  einem  konsonantischen  ii  ein,  gemeint  kann  hier  wohl  nur  u 
sein.  Vor  einem  u  wie  in  vhp'c  ist  dieser  Vorschlag  nicht  so  deut- 
lich und  regelmäßig  in  dieser  Mundart  zu  hören.  Brugmann  er- 
wähnt aber  auch  den  Vorschlag  vor  o  S.  280,  z.  B.  in  uos^kä.  In 
andern  Mundarten  ist  anlautendes  no  zu  ivo  geworden,  so  in  Wil- 
komierz  wofjenos  'ein  Platz,  wo  Beeren  wachsen',  s.  Geitler  Li- 
tauische Studien  121  und  in  Marcinkancy  wödcgu  mit  labialem  iv  neben 
uodegii  Boritsch  CXLVIII.  Es  wird  über  diese  Verschiedenheit 
schwer  zu  sagen  sein,  ob  der  Vorschlag  mehr  für  ein  ti  oder  ein  ti, 
bez;  u  deutbar  ist;  jedenfalls  spricht  er  aber  für  jetziges  oder  ein- 
stiges V  als  Halbvokal. 

Ganz  ähnlich  steht  es  mit  dem  Vorschlag  des  iv  ^)  im  Preussischeii  ; 
s.  Trautmann  158  fg.  Im  pomeranischen  Dialekt  ist  w  vor  o  und  u 
vorgeschlagen  tvohle  'Apfel'  lit.  öbülas,  tvundern  'Wasser'  lit.  unds^ 
in  dem  samländischen  Dialekt  des  Katechismus  I  steht  w  vor  u: 
umschte  'sechster'.  Danach  ist  wohl  auch  im  Preußischen  lo  einmal 
Halbvokal  gewesen. 

Will  man  die  litauische  oder  baltische  Aussprache  früherer 
Zeiten  festlegen,  so  wird  man  sehr  wohl  mit  dem  auskommen 
können,  wie  es  im  Slavischen  zum  Teil  noch  zu  finden  ist:  indivi- 
duelles Schwanken  vom  Halbvokal  zum  Spirant,  geschlossenere 
Aussprache  des  Halbvokals  vor  u.  Aus  dem  Streben  heraus,  das 
w  mit  dem  folgenden  u  nicht  zusammenfließen  zu  lassen,  das  durch 
den  Systemzwang  veranlaßt  ist,  erklärt  sich  der  geschlossenere 
Charakter  des  li  neben  einem  u  sehr  einfach.  Zweifellos  aber 
hat  das  baltische  ebenso  wie  das  slavische  v  als  Halb- 
vokal nicht  immer  den  Charakter  eines  ausgespro- 
chenen «f,  sondern  neigt  bisweilen  auch  zu  o  hin. 

Zu  einem  ähnlichen  Resultat  wie  das  Baltisch-Slavische  führt 
auch  das  Oermanisclie.  Auch  hier  haben  wir  teilweise  noch  heute 
Halbvokale,  so  besonders  im  Englischen,  das  nicht  nur  i  wie  das 
Deutsche,    sondern   auch   n   kennt.      Die  Angaben  der  Phonetiker 

1)  Übrigens  gibt  es  diesen  Vorschlag  auch  sonst  noch  in  indogermanischen 
Sprachen,  z.  B.  in  engl,  mie  oder  in  iranischen  Mundarten  vor  u  in  dem  Vakhan- 
dialekt  von  Westpamir  wuz  aus  uz  'ich'  s.  Hyuler,  The  second  danish  Pamir  ex- 
pedition,  S.  20.    Ich  möchte  aber  aus  solchen  Fällen  weiter  keine  Schlüsse  ziehen. 


Silbischer  und  unsilbischer  Laut   gleicher  Artikulation  usw.  117 

stimmen  allerdings  nicht  ganz  überein,  vgl.  Vietor  Elemente  der 
Phonetik^  181  Anm.  und  230  Anm.  2.  Wenn  statt  i  und  u  von 
manchen  ;  und  w  in  phonetischer  Schrift  gebraucht  werden,  so 
ist  nicht  immer  ganz  klar,  ob  damit  mehr  als  ein  Unterschied  in  der 
Funktion  gegenüber  einem  i-  oder  «-Vokal  gemeint  ist.  Storm  nennt 
Engl.  Philologie^  I,  56  Anm.  und  124  den  Laut  in  engl,  ive  weniger 
vokalisch  als  in  frz.  oui.  Was  für  ein  Laut  ist  da  tv?  Es  scheint 
mir,  als  ob  im  Englischen  die  Aussprache  wie  im  Slavischen  zwischen 
i  und  ,;  bez.  u  und  iv  bei  demselben  Individuum  wechselt.  Es  mag 
aber  sein,  wie  es  will,  daran  wird  nicht  zu  zweifeln  sein,  daß  im 
Englischen  i  und  u  meist  als  Halbvokale  ohne  spirantische  Ge- 
räusche vorkommen.  Nach  freundlicher  Auskunft  Francis  J.  Curtis' 
unterscheidet  sich  engl,  ^t;,  wie  er  es  kennt,  stets  von  einem  eng- 
lischen t(-Vokal.  Es  ist  aber  ein  Unterschied  zu  machen  je  nach 
dem  folgenden  Vokal.  Die  Zunge  wird  nicht  so  hoch  gehoben  wie 
bei  einem  u,  und  die  Lippen  werden  außer  vor  u  nicht  so  stark 
gerundet  wie  bei  einem  u ;  dagegen  vor  einem  ii  werden  sie  stärker 
gerundet.  Was  also  die  Rundung  anlangt,  so  liegt  ein  vokalisches 
u  in  der  Mitte  zwischen  tv  vor  i  und  iv  vor  ii.  Wir  haben  demnach 
ähnlich  wie  im  Slavischen  für  gewöhnlich  u,  dagegen  vor  u  ein  u. 
Damit  stimmt  das,  was  Sievers  Phonetik^ §  417  sagt:  'Hier  [bei 
engl,  ye,  wool,  tvoimd]  wird,  wie  überhaupt  da,  wo  vor  einem  sil- 
bischen Vokal  wie  i,  n  der  korrespondierende  unsilbische  Vokal 
gebildet  werden  soll  (also  bei  Gruppen  wie  ji,  ivu)  der  letztere 
stets  etwas  geschlossener  eingesetzt  als  der  erstere ,  so  daß  hier 
zum  Teil  Engen-  bez.  ßundungsgrade  erreicht  werden,  die  bei  den 
silbischen  Vokalen  derselben  Sprachen  sonst  nicht  üblich  sind'. 
Laute  gleicher  Artikulation  stehen  also  —  selbstverständlich  — 
auch  hier  nicht  innerhalb  einer  Silbe  nebeneinander  als  Sonant 
und  Konsonant.  Es  ist  daher  ungenau,  wenn  Sievers  ye,  dessen 
zweites  unsilbisches  i  er  kurz  vorher  ebenfalls  als  geschlosseneren 
Laut  dem  vorausgehenden  silbischen  i  gegenübergestellt  hatte,  mit 
iii  umschreibt;  diese  Schreibung  enthält  die  Ungenauigkeit  gleich 
doppelt ;  richtiger  war  tii  zu  schreiben.  Dagegen  ist  die  Umschrift 
tjii^l  und  uühid  für  tvool  und  woimd  einwandfrei,  obwohl  sie  beson- 
dere Rundung  und  Enge  des  w  auch  noch  nicht  zum  Ausdruck 
bringt ;  hier  hätte  sich  etwa  n  oder  wenigstens  u  mehr  empfohlen. 
Jedenfalls  läßt  sich  diese  Bemerkung  Sievers'  in  Verbindung  mit 
Curtis'  phonetischer  Definition  für  das  hier  behandelte  Problem 
gut  verwenden. 

Kur  nebenher  zu  gebrauchen  ist  eine  andre  Tatsache,  auf  die 
von  Phonetikern  öfters  hino-ewiesen  wird.   Vor  anlautendem  i  und 


118  Eduard  Hermann, 

u  steht  als  unbestimmter  Artikel  nicht  die  ante  vokalische  Form 
an,  sondern  die  antekonsonantische  a.  Man  sagt  an  Infant  und  an 
ou^el  'eine  Schwarzdrossel'  aber  a  year  und  a  ivinter  wie  a  man. 
Anlautendes  y  und  tv  ist  also  behandelt  wie  jeder  andere  Konso- 
nant. Das  mag  zwei  Gründe  haben.  Erstens  scheint  es  mir  nicht 
ausgeschlossen,  daß  jeder  einzelne  statt  ii  gelegentlich  spirantisches 
«',  statt  i  spirantisches  ;  spricht.  Das  Entscheidende  dabei  ist 
aber  doch  wohl,  daß  an  überhaupt  nur  dann  gebraucht  wird,  wenn 
der  schallreichste  Laut  das  folgende  Wort  beginnt.  Darauf  rea- 
giert auch  das  naive  Sprachgefühl  des  Sprechenden.  In  der  ge- 
lehrten Sprache  der  Grrammatik  sagen  wir  dann,  an  steht  nur  vor 
Sonant,  a  vor  Konsonant,  und  wundern  uns  womöglich,  daß  der 
Sprechende  trotz  Mangels  an  Reflexionen  darüber  so  säuberlich 
zwischen  Sonant  und  Konsonant  scheidet.  Wenn  man  sich  klar 
macht,  daß  Sonant  nichts  anderes  zu  bedeuten  hat  als  schallreichster 
Laut  der  Silbe,  dann  ist  die  Verteilung  von  a  und  an  leichter  ver- 
ständlich ;  in  ivinter  wird  ja  doch  i  und  nicht  u  mit  stärkstem  Schall, 
bez.  Druck  in  der  Silbe  gesprochen,  während  sich  bei  iinite  i  und 
fi  umgekehrt  verhalten.  Mit  der  Silbenbildung  hat  die  Verteilung 
übrigens  nichts  zu  tun :  wie  man  a  niimero  mit  der  Lautfolge  niü 
hat,  so  wäre  auch  an  Unitarian,  an  university  mit  niü  für  den 
Engländer  sprechbar,  es  heißt  aber  doch  a  Unitarian,  a  university. 
Während  heutzutage  engl,  w  auch  vor  gesprochenen  i(-Vokalen, 
nicht  nur  anlautendes  tv ,  sondern  auch  postkonsonantisches  ii\  als 
u  vorkommt,  z.B.  in  swoon  'in  Ohnmacht  fallen',  ist  im  Spät- 
mittelenglischen  postkonsonantisches  tv  vor  v^-Vokal  geschwunden, 
wie  man  sich  ausdrückt,  oder  besser:  mit  ?f  verschmolzen,  s.  Mafik,. 
«^'-Schwund  im  Mittel-  und  Frühneuenglischen,  Wiener  Beiträge 
z.  engl.  Philologie  XXIII,  vgl.  tivo,  ivJio.  Der  Anlaut  war  also 
hier  stärker  als  der  postkonsonantische  Inlaut.  In  älterer  Zeit 
dagegen  verhielt  man  sich  wie  im  Englischen  heutzutage,  man 
sprach  iv  vor  u  auch  hinter  Konsonant;  denn  man  hatte  Formen 
wie  forswidgun,  swuJton  u.  a.,  s.  Cosijn,  Altwestsächs.  Grammat.  II, 
134,  140;  auch  Formen  wie  Hroäwulf  können  sehr  wohl  der  ge- 
sprochenen Sprache  angehört  haben.  Es  liegt  aber  kein  Anlaß  vor 
anzunehmen,  daß  ags.  iv  im  Verlauf  der  Entwicklung  zum  Neu- 
englischen  seinen  Lautcharakter  wesentlich  verändert  hat.  Und 
gerade  darum  muß  es  als  etwas  sehr  Natürliches  erscheinen,  wenn 
w  im  Angelsächsischen  mit  den  Vokalen  nicht  alliteriert;  denn 
dies  beruht  auf  derselben  Grundlage  wie  der  englische  Artikel  a 
vor  einem  mit  tv  anlautenden  Substantivum.  Wenn  die  Vokale 
unter   sich   alliterierten ,    so   bestand   unter  ihnen    die  Gleichheit,. 


Silbischer  und  unsilbischer  Laut  gleicher  Artikulation  usw.  119 

daß  hier  jedesmal  der  schallstärkste  Laut  die  Silbe  eröffnete,  wäh- 
rend anlautendes  iv  nicht  der  schallstärkste  Laut  der  Silbe  war. 
Für  sich  allein  würde  diese  Gleichheit  vielleicht  nicht  genügt  haben, 
die  Vokale  unter  sich  als  einheitlich  aufzufassen.  Der  erste  An- 
laß mag  gewesen  sein,  daß  manche  alte  alliterierende  Verbindungen 
infolge  des  Umlauts  der  Vokale  ihre  alte  völlige  Gleichheit  ver- 
loren hatten.  Das  ist  ein  von  Kock  geäußerter  Gedanke,  Öst- 
nordiska  och  Latinska  medeltidsordspräk  I,  113  Anm.  Aber,  wie 
gesagt,  nur  Anlaß  zur  allgemeinen  Alliteration  der  Vokale  kann 
dieser  Umstand  gegeben  haben.  Denn  Vokale  wie  Beow.  135  ac 
ymh  äne  niht  oft  gefremede  waren  nicht  durch  einen  Umlaut  und 
eine  sonstige  Lautveränderung  aus  einst  gleichen  Vokalen  hervor- 
gegangen, sondern  waren  von  jeher  ungleich.  Die  Verallgemeine- 
rung muß  demnach  noch  einen  andern  Grund  haben.  Und  dieser 
Grund  scheint  mir  eben  der  obengenannte  zu  sein.  Nach  einer 
—  wie  ich  glaube,  trotz  Kock  noch  —  verbreiteten  Ansicht  soll 
jedoch  das  Einende  der  alliterierenden  Vokale  der  starke  Einsatz 
der  Vokale  sein,  der  ja  gerade  im  Deutschen  zu  finden  ist.  Diese 
Annahme  hat  aber  ihre  Bedenken.  Starker  Einsatz  ist  uns  sonst 
durch  nichts  in  den  altgermanischen  Dialekten  bezeugt;  auch  ist 
in  keinem  Alphabet  etwas  Ähnliches  zu  seiner  Bezeichnung  auf- 
gekommen wie  der  griechische  Spiritus,  der  in  seinen  beiden  Ge- 
stalten zwei  verschiedene  Einsätze  bezeichnet  zu  haben  scheint. 
Wir  wissen  außerdem  gar  nicht,  wie  alt  der  starke  Einsatz  des 
Deutschen  ist  und  wie  weit  er  in  früherer  Zeit  gereicht  haben 
mag.  Es  kommt  nicht  nur  hinzu,  daß,  wer  stets  starken  Einsatz 
spricht,  so  wie  der  Deutsche  das  tut  —  abgesehen  von  phone- 
tischen Versuchen,  besonders  beim  Flüstern  —  das  Knackgeräusch 
ganz  zu  überhören  pflegt,  während  es  nur  den  anders  Sprechenden 
an  uns  auffällt.  Es  wäre  dann  doch  auch  noch  wieder  die  Frage 
zu  beantworten,  warum  im  Westgermanischen  u,  i  nicht  auch  mit 
den  Vokalen  alliterieren.  Sollen  etwa  diese  beiden  Laute  leisen 
Einsatz  gehabt  haben?  Die  weitere  Frage  wäre  dann  unausbleib- 
lich, warum  denn  m,  i,  wenn  sie  im  übrigen  nur  durch  die  Funktion, 
nicht  durch  die  Artikulation  von  Vokalen  unterschieden  waren, 
vom  starken  Einsatz  ausgeschlossen  wurden.  Etwa,  weil  sie  nicht 
die  schallreichsten  Laute  ihrer  Silbe  waren?  Wenn  man  weiter 
Sievers  Altgerm.  Metrik  36  folgt,  würde  zwar  im  Altnordischen 
das  mit  den  Vokalen  alliterierende  j ,  weil  es  aus  einem  Vokal 
entstanden  war,  seine  Erklärung  finden,  nicht  aber  das  ebenfalls 
so  alliterierende  iv.  Für  die  Alliteration  der  Vokale  scheint  mir 
also  der  feste  Einsatz  nicht   zur  Erklärung  auszureichen.     Jeden- 


120  Eduard  Hermann, 

falls  aber  würde  er  sich  nicht  für  das  Verständnis  des  englischen 
Artikels  a  vor  iv,  j  gebrauchen  lassen.  Denn  wenn  die  noch  gar 
nicht  alte  Regelung  von  an  und  a  mit  angeblichem  einstigem  — 
inzwischen  verlorenem  —  festem  Einsatz  zu  tun  hätte,  müßte  man 
doch  wohl  a  und  nicht  an  vor  festem  Einsatz  erwarten.  Und  so 
kann  es  doch  kaum  gewesen  sein,  daß  iv,  j  festen  und  die  Vo- 
kale leisen  Einsatz  gehabt  hätten.  Die  Erklärung  des  an  vor  Vo- 
kalen und  der  Alliteration  der  Vokale  im  Gegensatz  zu  dem  Ver- 
halten halbvokalischer  w,  i  im  Westgermanischen  dürften  wohl  nicht 
weit  von  einander  zu  suchen  sein.  Meiden  der  Elision  vor  %  und 
u  im  Lateinischen,  s.  unten  S.  137,  vor  /  im  Griechischen,  s.  S.  153, 
beruht  offenbar  auf  etwas  Ähnlichem^). 

Abgesehen  von  dem  Englischen  finden  wir  iv  in  den  westger- 
manischen Sprachen  jetzt  als  Spirant.  Das  ist  jedoch  erst  eine 
jüngere  Sprachform;  in  den  älteren  Phasen  haben  wir  wie  im 
Angelsächsischen  einen  mit  den  Vokalen  nicht  alliterierenden  Halb- 
vokal, vgl.  für  das  Althochdeutsche  Braune  Ahd.  Gramm.  ^/^  88,  für 
das  Altsächsische  Holthausen  Altsachs.  Elementarbuch  22.  Man 
darf  dabei  wohl  vermuten,  daß  die  Aussprache  dieses  Halbvokals 
genau  so  war,  wie  wir  sie  für  das  Englische  und  Angelsächsische 
angenommen  haben,  u  vor  u  wird  dadurch  nahe  gelegt,-  daß  wir 
die  beiden  Laute  in  einer  Silbe  hintereinander  sehen  können  wie 
in  den  Analogieformen  ahd.  gidummgan,  alts.  hethtvungan;  lautge- 
setzlich verband  sich  tu  mit  folgendem  ü  im  Inlaut  z.  B.  ga^.0n, 
vgl.  Paul  Deutsche  Grammatik  I,  289. 

Vor  den  andern  dunkeln  Vokalen  scheint  (v  ein  offenes  u  ge- 
wesen zu  sein.  Im  Althochdeutschen  hat  sich  iv  mit  folgendem 
uo  vereinigt,  das  aus  ö  hervorgegangen  war,  wie  in  hiosto  suoiz,i. 
Wenn  nun  analogisch  eingeführtes  iv  vor  u  gesprochen  werden 
konnte,  altes  ip  mit  dem  relativ  jungen  uo  aber  verschmolz,  so 
kann  der  Grund  kaum  anderswo  zu  suchen  sein  als  darin,  daß  die 
Aussprache  des  w  vor  den  beiden  Vokalen  verschieden  war.  Am 
allerersten  konnte  w  mit  uo  verschmelzen,  wenn  es  offener  war, 
also  mehr  zum  o  hin  lag;  denn  uo  entstand  ja  aus  ö.  Daß  west- 
germanisches IV  vor  a-  oder  o- Vokal  ein  zum  o  hinneigendes  n  war, 
haben  auch  andre  aus  der  Vokalisation  des  w  zu  o  in  ahd.  hneo, 
ags.  peo  geschlossen,  vgl.  z.  B.  Jellinek  ZdA  36,  268,  Luick  Histor. 


1)  Morsbach  gibt  mir  freundlich  zu  bedenken,  ob  nicht  die  Weite  der 
Mundöffnung  eine  Rolle  dabei  gespielt  haben  könne.  Der  Gedanke  hat  etwas 
Verlockendes.  Die  Vokale  werden  mit  der  größten  Mundöffnung  gesprochen. 
Diesen  Hiatus  meidet  man  durch  Gebrauch  des  an  statt  a  im  englischen  Artikel, 
durch  Elision   im   Lateinischen  und   Griechischen.      Die  Alliteration   der  Vokale 


Silbischer  und  unsilbischer  Laut   gleicher  Artikulation   usw.  121 

Oramm.  engl.  Sprache  I,  118,  271.  Nur  nach  ii,  ü  fiel  ?r  aus,  vgl. 
ahd.  tou,  hü  ^).  Die  Frage  nach  der  noch  früheren  Aussprache  des 
IV  hängt  also  jedenfalls  eng  mit  der  Beurteilung  der  Schicksale 
des  u  zusammen.  Hier  dürfte  Bremer  IF  26,  148  fg.,  obwohl  er  in 
der  Wahl  der  Beispiele,  die  für  i  und  u  eine  Rolle  spielen,  die 
Warnung  CoUitz'  Journal  of  Engl,  and  Grerman.  Philology  6,  253  fg. 
nicht  beachtet  hat,  Recht  haben  mit  der  Vermutung,  daß  idg.  ü 
im  Urgermanischen  offen  war,  also  zu  o  hinneigte.  Wenn  iv  ein 
ähnliches  Schicksal  vorauszusetzen  scheint,  kommen  wir  demnach 
gerade  auf  den  Laut,  der  sich  bisher  als  der  walirscheinlichste  er- 
geben hat,  auf  u.  Nur  vor  folgendem  u  und  i  ist  der  Vokal  a  ge- 
schlossener. Bei  dem  Halbvokal  ii  können  wir  dieselbe  Beobachtung 
nur  vor  n  machen,  wie  wir  schon  sahen  ;  jedenfalls  ist  im  heutigen 
Englisch  iv  vor  i  offen  wie  vor  a  und  nicht  geschlossen  wie  vor  n. 
Man  darf  also  wohl  schon  für  das  Urwestgermanische  n  und  vor 
n  geschlossenes  u  voraussetzen. 

Im  Urgermanischen  liegen  die  Dinge  ein  wenig  anders  als 
im  Westgermanischen.  Hier  war  iv  vor  u  nur  im  absoluten  Anlaut 
möglich,  noch  nicht  im  gedeckten  Anlaut  oder  im  Inlaut.  Wenn 
wir  annehmen,  daß  vokalisches  u  im  Urgermanischen  vielleicht  erst 
geöffnet  wurde,  so  ist  jenes  ein  recht  begreiflicher  Vorgang.  Nur 
im  absoluten  Anlaut  hat  sich  dann  eine  Art  von  Dissimilation  ein- 
gestellt, u  ist  li'er  besonders  stark  gerundet  worden.  Wir  haben 
daher  got.  tvidfs,  ividpus,  wuUa,  lüiinds,  ivunns  usw.,  aber  got. 
niunda,  aisl.  niunda,  ahd.  nüinto  aus  "^neimtos,  aisl.  siind^  ags.  stind 
aus  *sumt-,  ahd.  u^summan  aus  stim-^  ahd.  gidungan  aus  *tnf-,  anord. 
Hrodulf,  ags.  Hrodulf,  alts.  Lindidf,  ahd.  Hruodolf,  deren  zweiter 
Teil  wie  got.  ividfs  usw.  auf  \dg^-os  (bez.  "^udlq-os  Güntert,  Indog. 
Ablautprobl.  36,  81)  beruht.  Ebenso  ist  der  labiale  Beiklang  des 
Labiovelars  ganz  in  dem  aus  den  sonantischen  Nasalen  herausgetre- 
tenen II  aufgegangen,  so  in  ags.  ciimen,  ahd.  kum/t  aus  *g">»-,  ags. 
sce^on  aus  *seq^nh,  aisl.  hnigitm,  ags.  hniz,un ,  ahd.  linigun  aus 
^Imig^hm-  usw.  Formen  wie  ahd.  giduuungan,  ags.  forsaivon,  got, 
sivumfsl,   gaqumßs  sind  analogische  Neubildungen ,    die   erst  in  den 

beruht  dann  auf  ähnlicher  Weite  der  Muudöffnung.  Ich  habe  aber  dagegen  das 
Bedenken,  daß  u-  und  t-  in  den  verschiedenen  germanischen  und  den  beiden 
klassischen  Sprachen  doch  vielleicht  mit  nicht  viel  geringerer  Mundöffnung  als  die 
Vokale  u,  i  gesprochen  worden  sein  könnten ;  zum  mindesten  wird  der  Abstand  bei 
der  Mundöffnung  zwischen  ihnen  vermutlich  vielfach  geringer  sein  als  zwischen  u, 
i  und  den  andern  Konsonanten. 

1)  Loewe,  der  KZ  45,  339  fg.  auf  das  verschiedene  Verhalten  der  deutschen 
Mundarten  hinweist,  glaubt,  daß  im  Althochdeutschen  nur  nach  Konsonant  oder 
langem  Vokal  auslautendes  «r  zu  o  geworden,  sonst  aber  zu  u  verschoben  ist. 


122  Eduard  Hermann, 

einzelnen  germanischen  Sprachen  aufkamen.  So  ist  auch  Tatians^ 
und  Otfrids  sworya  als  die  jüngere  Form  anzusehen,  neben  der 
got.  saurga,  ags.  so)\^  die  ältere  und  lautgesetzliche  Form  dar- 
stellen. Das  IV  könnte  hier,  wenn  ich  diese  Vermutung  äußern 
darf,  von  einem  ganz  andern  Wort  hergekommen  sein,  etwa  von 
swär  ^schwer',  einem  "Wort,  mit  dem  es  gewiß  öfter  verbunden 
wurde.  Die  neuenglische  Aussprache  des  tu  {u  und  u 
vor  u)  kann  also  schon  im  TJrgermanischen  gegolten 
haben. 

Über  die  Aussprache  der  ur germanischen  Greminaten  h?  UU  iäßt 
sich  nicht  leicht  eine  Vermutung  äußern,  da  sie  im  Grotischen  und 
Nordgermanischen  Gutturale  usw.  hervorgebracht  haben.  Man  sieht 
nur,  daß  sie  anders  als  u  artikuliert  worden  sind.  Im  Westger- 
manischen, das  auch  hier  den  alten  Halbvokal  beibehielt,  hat  sich 
der  erste  Teil  der  Geminata  mit  vorausgehendem  ü  zu  einer  ein- 
zigen Artikulation  vereinigt,  und  zwar  natürlich  zu  einer  Länge, 
da  die  Geminata  in  der  Zeit  vor  dieser  Assimilation  Position  ge- 
bildet haben  wird,  daher  ahd.  scüivo  gegenüber  got.  slaiggwa.  Die 
Kürze,  die  Sievers  für  ags.  scuiva  PBB  10,  454,  507  feststellen  zu 
können  glaubt,  kann  nicht  als  lautgesetzlich  angesehen  werden.  Darf 
man  in  Sat.  455  deades  scmvcm  nicht  Länge  anerkennen,  vielleicht 
sogar  auch  in  den  andern  bei  Sievers  genannten  Versen? 

Schon  im  ältesten  Runenalphabet  hat  iv  ebenso  wie  ;  sein  be- 
sonderes Zeichen  gehabt.  Wimmer  Die  Runenschrift  119;  es  wird 
sich  also  die  Artikulation  von  einem  u  und  i  unterschieden  haben^ 
das  paßt  auch  sehr  wohl  zu  den  bisherigen  Ergebnissen. 

Eine  Bemerkung  verdient  noch  der  Umstand,  daß  man  für  u 
und  ti  überall  nur  ein  Zeichen  angewandt  hat,  sowohl  im  ältesten 
Runenalphabet  wie  in  den  späteren  Schriftarten.  Die  Erklärung 
hierfür  liegt  wohl  darin,  daß  seit  urgermanischer  Zeit  beide  Laute 
häufig  im  Anlaut  ein-  und  desselben  Verbums  oder  Wortstammes 
vorkamen,  so  in  denjenigen  Formen,  die  gotisch  ivinda  und  ivundum 
lieferten. 

Das  Nordgermanische  und  das  Gotische  habe  ich  bisher  aus 
der  Sonderbetrachtung  absichtlich  ausgeschaltet.  Hier  liegen  die 
Verhältnisse  etwas  anders.  Daß  im  Nordgermanisehcii  das  Runen- 
alphabet die  Rune  für  w  verlor,  will  allerdings  nicht  viel  besagen, 
weil  auch  andre  Runen  außer  Brauch  kamen,  s.  Wimmer  Die  Runen- 
schrift 179 fg.  Wichtiger  ist,  daß  im  Altisländischen  iv-  mit  den 
Vokalen  bis  ins  10.  Jahrhundert  hinein  alliteriert,  s.  Gering  PBB 
13, 202  fg.  Das  haben  Mogks  gegenteilige  Behauptungen  IF  26,  211  fg. 
nicht  widerlegen   können.     Nach  Gering  ZdPh  42,  233   lassen  sich 


Silbischer  und  unsilbischer  Laut   gleicher  Artikulation  usw.  123 

vielleicht  27  Fälle  dieser  Alliteration  nachweisen.  Für  die  alt- 
isländische Poesie  ist  demnach  das  westgermanische  Prinzip,  die 
Vokale  nur  unter  sich  alliterieren  zu  lassen,  nicht  maßgebend,  es 
alliterieren  auch  die  konsonantisch  gebrauchten  Vokale  (tv  und  y) 
mit  den  silbischen  Vokalen.  Das  dürfte  mit  dem  sogenannten 
Schwund  des  tv  vor  sämtlichen  u-  und  o- Vokalen,  vor  kurzen  und 
langen  und  ihren  Umlauten,  also  vor  w,  ??,  p,  y,  o,  6,  0,  0,  s.  Noreen 
Altnord.  Gramm.  I'^  149,  II,  191,  Greschichte  der  nord.  Sprachen^ 
14,  105  in  Zusammenhang  stehen.  Wiederum  handelt  es  sich  na- 
türlich nicht  um  wirklichen  Schwund,  sondern  um  Verschmelzung 
des  w  mit  dem  folgenden  Vokal;  denn  Schwund  wäre  sonst  auch 
vor  den  andern  Vokalen  zu  erwarten.  Deswegen,  weil  durch  den 
Verlust  des  tv  vor  den  0-  und  ?<- Vokalen  diese  jetzt  anlautenden 
Vokale  mit  anlautendem  w  vor  andern  Vokalen  alliterierten,  wurde 
die  Alliteration  des  w  überhaupt  gestört  und  fv  auch  mit  von  je 
anlautenden  Vokalen  alliteriert.  Kocks  Hypothese  hilft  also  weiter. 
Aber  auch  hier  reicht  sie  nicht  aus;  denn  genau  so  wie  tv  wird 
auch  5  mit  folgenden  0-  oder  ?<- Vokalen  verschmolzen,  s.  Noreen 
Gramm.  I^  151,  II  186;  5  alliteriert  aber  nicht  mit  den  Vokalen. 
Gerade  die  Ausdehnung  auf  tv  und  (s.  unten)  ;  beweist,  daß  Kock 
mit  seiner  Theorie  auf  der  richtigen  Fährte  ist,  sie  bedarf  nur 
einer  Ergänzung.  Die  "Westgermanen  sahen  sich  wegen  der  Ver- 
änderung der  Vokale  dazu  gedrängt,  überhaupt  die  schallstärksten 
Laute  alliterieren  za  lassen.  Die  Nordgermanen  machten  wegen 
der  Veränderung  auch  der  genannten  Konsonanten  nicht  an  der- 
selben Linie  halt,  sondern  ließen  alle  Vokale,  sonantische  wie  kon- 
sonantische, unter  einander  alliterieren;  das  stets  spirantische  5 
zogen  sie  dagegen  nicht  mit  in  diesen  Kreis,  weil  es  wegen  seines 
Reibegeräusches  ja  weiter  von  den  Vokalen  ablag. 

Verschmelzen  konnte  halbvokalisches  w  mit  jenen  Vokalen 
natürlich  am  ehesten,  wenn  es  vor  einem  u-Yokal  einem  u  und 
vor  einem  o-Vokal  einem  0  nahe  stand,  d.  h.  wenn  es  u,  bez.  u  war. 
5  wird  sich  von  diesem  w  im  wesentlichen  nur  durch  spirantischen 
Beiklang  unterschieden  haben.  Mit  der  urgermanischen  Verschmel- 
zung des  tv  mit  folgendem  sekundärem  u  steht  dieser  altnordische 
Vorgang  in  keiner  Beziehung.  Das  beweist  die  Ausdehnung  der 
Verschmelzung  auf  die  Stellung  vor  0- Vokalen,  auf  die  Stellung 
im  absoluten  Anlaut  und  auf  5  zur  Genüge.  In  der  Runeninschrift 
war  ja  auch  tv  noch  so  erhalten,  wie  es  die  andern  germanischen 
Sprachen  zeigen,  z.  B.  in  iviirte  usw.  Auf  die  vielen  schwierigen 
Fragen,  die  sich  weiter  an  die  Aussprache  des  anord.  tv  anschließen, 


124  Eduard  Hermann, 

vgl.  z.  B.  Lindroth  IF  20,  129  fg.,  35,  292  fg.  einzugehen,  erscheint 
hier  überflüssig. 

Im  Gotischen  fällt  zunächst  die  große  Zahl  von  Beispielen 
mit  w  vof  u  auf.  Nicht  nur  im  absoluten  Anlaut  wie  ivuljms, 
ivuJfs  usw.,  sondern  auch  im  gedeckten  Anlaut  wie  in  sivumfsl, 
sivultawairpja,  gaswuUun  u.  a.  ist  iv  so  zu  finden.  In  den  letz- 
teren Fällen  ist  -iv-  analogisch  wieder  eingeführt.  Ebenso  ist  der 
Labiovelar  wiederhergestellt  in  qums^  neJimndja  u.  a.  Wenn  man 
sich  erinnert,  daß  der  grammatische  Wechsel  im  Gotischen  bis  auf 
verschwindende  Reste  ganz  aufgegeben  ist,  wird  man  verstehen, 
daß  auch  hier  durch  Ausgleichung  iv  außer  in  isolierten  Wörtern 
wie  niunda  überall  wieder  hergestellt  worden  ist.  Auch  vor  idg. 
ü,  das  sich  im  Grotischen  durch  nichts  von  dem  aus  n  m  19  l  bez. 
32n  usw.  herorgegangenen  unterscheidet,  sehen  wir  iv  und  Labio- 
velar in  Gebrauch  so  in  inamviis,  (ßaggwuhay  aggwus.  Gewiß  wird 
auch  hier  iv  bez.  Labiovelar  analogisch  wieder  eingeführt  sein; 
falrlvus  dagegen,  das  den  Künsten  der  Etymologisierung  zu  spotten 
scheint,  mag  ein  Fremdwort  sein,  wofür  auch  der  Umstand  spricht, 
daß  im  Gegensatz  zu  fimf,  iviäfs  der  Labiovelar  nicht  an  den  Labial 
assimiliert  ist.  Jedenfalls  aber  sind  die  Formen  nicht  geeignet, 
idg.  w  oder  Erhaltung  des  Labiovelars  vor  altem  ii  im  Inlaut  zu 
erweisen. 

Wie  gotisches  iv  ausgesprochen  worden  ist,  bildet  seit  langem 
eine  Streitfrage  unter  den  Germanisten.  Der  von  mir  herange- 
zogene Gesichtspunkt  darf  dabei  natürlich  nicht  übersehen  werden. 
Daß  IV  anders  artikuliert  wurde  als  m,  geht  aus  dem  eben  Erör- 
terte^ deutlich  hervor.  Wulfila  hat  also  sehr  wohl  Anlaß  gehabt, 
zwei  verschiedene  Zeichen  für  die  zwei  Laute  einzuführen.  Mir 
scheint  es  als  Konsonant  kein  ganz  reiner  Halbvokal  mehr  ge- 
wesen zu  sein.  Die  Gründe  gegen  diesen  hat  Jellinek  ZdA  36,  268  fg. 
vgl.  ZdA  41,  369  fg.  aufgezählt ;  seine  Vermutung  wie  die  van  Heltens 
ZdA  37, 131  fg.  und  IF  14,  69  fg. ,  daß  w  Spirant  mit  «(-Stellung 
sei,  bez,  daß  dem  Halbvokal  nicht  -  periodische  Schwingungen  der 
Stimmbänder  beigemengt  seien,  kann  das  Richtige  treffen;  sie 
stellen  beide  nur  zwei  der  phonetischen  Möglichkeiten  dar.  Wenn 
das  Zeichen  für  iv  wirklich  von  dem  griechischen  v  hergeleitet  ist, 
was  nicht*so  völlig  feststeht,  so  darf  man  annehmen,  daß  Wulfila 
den  griechischen  Spiranten  ir,  der  im  Diphthong  vor  stimmhaftem 
Laut  durch  ir  zum  Ausdruck  kam,  seinem  eigenen  Laut  iv  als  nicht 
so  sehr  unähnlich  empfunden  haben  wird.  Das  griechische  und  das 
römische  Ohr  haben  aber  den  gotischen  Laut  eher  als  Halbvokal 
denn  als  Spirant  aufgefaßt,    da  sie  ihn  meist  mit  ov  bez.  iiu,  viel 


Silbischer  und  unsill)ischer  Laut   gleicher  Artikulation  usw.  1^5 

seltner  mit  ß,  bez.  üb  wiedergaben.  Auch  diese  Unstimmigkeit  in 
der  Wiedergabe  könnte  dafür  sprechen,  daß  gut.  tv  gerade  an  der 
Grenze  zwischen  Halbvokal  und  Spirant  lag.  Die  Aussprache  wird 
dann  vor  u  mehr  einem  u,  vor  den  andern  Vokalen  mehr  einem  u 
ähnlich  gewesen  sein. 

Aus  dem  Urindogermanischen  ist  die  Lautverbindung  im  wohl 
nirgends  ins  Germanische  gekommen.  Dasselbe  ist  von  J^  zu  sagen. 
Die  Versuchung  liegt  nahe,  sich  die  Entwicklung  des  germanischen 
/  dem  lü  ganz  parallel  zu  denken.  Zur  Durchführung  dieses  Ge- 
dankens fehlen  mir  die  Beweisstücke.  In  gewisser  Beziehung  darf 
man  ihn  aber  wohl  anerkennen.  Da  /  jetzt  noch  im  Englischen, 
im  Friesischen  z.  B,  auf  Helgoland,  s.  Siebs  Helgoland  175,  und 
in  süddeutschen  Mundarten  (Sievers  Phonetik^  §  341)  als  i  zu  finden 
ist,  läßt  sich  vermuten,  daß  es  auch  in  den  alten  westgermanischen 
Dialekten  —  ebenso  wie  im  Altnordischen  —  so  war.  Aber  nur 
im  Altisländischen  läßt  sich  das  leicht  zeigen.  Hier  war  nach 
Schwund  des  anlautenden  i  vor  Vokalen  sekundär  aus  anlautendem 
e  ein  neues  j  entwickelt  worden,  das  —  wie  bei  seiner  Herkunft 
leicht  begreiflich  —  mit  den  Vokalen  alliterierte.  Daß  in  den  west- 
germanischen Dialekten  ;  mit  den  Vokalen  nicht  alliterierte,  wird 
man  bei  dem  gleichen  Verhalten  des  iv  wohl  verstehen  können. 
Aber  j/  alliterierte  im  Westgermanischen  nicht  nur  mit  sich,  so  > 
dern  auch  mit  dem  aus  urgerm.  j  entstandenen  Laut,  selbst  wem 
dieser  vor  dunklen  Vokalen  stand  wie  Beowulf  72  geongum  ond 
ealdum,  swylc  him  god  sealde  oder  Htliand  133  He  quad  that 
the  godo  gumo  Johannes  te  namon.  Hing  das  nur  damit  zu- 
sammen, daß  j  vor  hellem  Vokal  so  wie  das  englische  j  vor  i  be- 
sonders geschlossene,  zum  Spiranten  hinneigende  Aussprache  («) 
hatte  ?  Wenigstens  deutet  die  Schreibung  mit  g  im  Althochdeutschen 
und  Altsächsischen,  die  nur  vor  i,  e  bevorzugt  wird,  während  im 
Inlaut  vor  a,  o  dafür  e  beliebt  ist,  auf  /  vor  hellem,  auf  \  vor 
dunklem  Vokal  hin,  vgl.  über  die  Schreibung  Wilmanns  Deutsche 
Gramm. ^  I,  165,  Braune  Ahd.  Gramm. ^'^  96,  Holthausen  Altsächs. 
Elem.  62.  (Ist  es  auch  im  Friesischen  so?,  s.  Heuser  Altfries. 
Lesebuch  17.)  Aber  die  Alliterationen  mit  gutturalem  g  scheinen 
diese  Annahme  doch  fast  auszuschließen.  War  etwa  gar  westger- 
manisches j  Spirant?  Ich  will  diesen  Zweifel  wenigstens  aus- 
sprechen, obwohl  er  mir  zu  weit  zu  gehen  scheint. 

Daß  im  ältesten  Runenalphabet  ein  besonderes  Zeichen  für  j 
vorhanden  war,  hat  an  iv  wieder  eine  genaue  Entsprechung.  Und 
wenn  Wulfila  ;  neben  i  einführte,  so  hat  das  natürlich  den  Grund 
gehabt,  daß  er  zwei  verschiedene  Laute  sprach,  was  ja  auch  schon^ 


126  *  Eduard  Hermann, 

durch  die  sehr  häufige  Verbindung  ji,  wie  in  jluha,  harjis  bewiesen 
wird  ^).    Diese  Verbindung  kommt  auch  in  den  andern  germanischen 
-Sprachen  wie  in  ags.5?/,  alts.  //m/m  ahd.  g Um  yoi\  Ob  der  ungedeckte 
Anlaut  wie  bei  lüuiuu)  so  auch  bei.y « {ii)  stärkere  Kraft  hatte  als  andere 
Stellung,  wird  schwer  auszumachen  sein.     Für  den  Inlaut  sind  die 
Gegensätze    harjis:  Jiairdei   und   nasjiß:   soJceip    hierbei   nicht   ohne 
weiteres  verwendbar.    Das  gegenseitige  Verhältnis  der  vier  Formen 
ist   nur   durch   eine   genaue  Untersuchung   über   die  Silbenbildung 
herauszubekommen,  vgl.  dazu  Lindroth  IF  29,  182  fg.,  IF  35,  292  fg. ; 
ohne  diese  Untersuchung  wird  man  auch  nicht  definitiv  über  ahd. 
nerh  und  die  Verschmelzung  von  j  -\-i  urteilen  können.     Nur  der 
Nominativ  hairdeis  mag  hier  Erwähnung  finden,    weil  er  auf  *ker- 
dhiios  mit  Synkope  des  letzten  Vokals   zurückgeführt  zu  werden 
pflegt.     Gegen  die  stärkere  Kraft   der  Dissimilation  des  Anlautes 
bei  it-  würde  es  nicht  sprechen,  wenn  man  got.  ei  mit  lit.  jei  gleich- 
setzte.    Da  jabai   zu  dem  idg.  ßelativum  *io-  zu  gehören  scheint, 
liegt  es  sehr  nahe,   auch  in  ei  eine  Form  von  *io-  zu  sehen.     Del- 
brück hat,  andern  Gelehrten  folgend.  Vgl.  Syntax  III,  347  ei  aus 
*iod  herleiten  wollen;  dem  widersprechen  aber  die  Lautgesetze  zu 
deutlich,  wie  sich  Delbrück  ja  auch  selber  natürlich  nicht  verhehlt 
hat.    Man  könnte  auch  in  ei  den  gotischen  Bruder  des  griechischen 
£1  sehen,    beide   als  Lokative   zu   dem  Stamm  o/e   gedacht.     Aber 
ebenso  nahe  liegt  doch  vielleicht  die  Verbindung  mit  lit.  jei.     Da- 
gegen sprechen  die  Lautgesetze  nicht.    Wenn  sich  ii-  hielt,  braucht 
die  Verbindung  von  i-  mit  J  nicht  ebenso  bewahrt  worden  zu  sein. 
Schon  der  Umstand,  daß  im  Gotischen  die  langen  Vokale  geschlos- 
sener waren  als   die  kurzen ,    würde   diese  Verschiedenheit  in  der 
Lautentwicklung  sehr  wohl  begreifen  lassen.   Auch  griech.  sl  ließe 
sich  übrigens   aus  idg.   *iei  herleiten,    wenn  man  Schwund,    d.  h. 
Dissimilierung  des  ersten  i  gegen  das  zweite  annehmen  wollte ;  da 
aber  im  Griechischen  andre  Konjunktionen  wie  rj  sichtlich  zu  dem 
Stamm  *o/e-  gehören,  ist  es  rätlicher,  auch  ei  dahin  zu  ziehen.   Wie 
got.  ei  von  Ho-  könnte  ßei  von  *to-  gebildet  sein,  eine  Ansicht,  der 
Delbrück  ASGW  27,  686  nicht  abgeneigt  zu  sein  scheint,  während 
Brugmann  BSGW  63,  166  fg.    die  Verbindung  des  got.   ei   mit  gr. 
si  =  idg.  ei  für  empfehlenswert  hält. 

Auch  im  Italischen  sind  w  und  i  lange  Zeit  hindurch  Halb- 
vokale   gewesen.      So    lange    wie   Seelmann  Aussprache  232    läßt 

1)  Wenn  die  auf  Grund  des  Gegensatzes  von  ivaurstw  tvaurstwis:  kuni, 
kunjis  geäußerte  Ansicht  richtig  ist,  daß  got.  w  Spirant,  j  aber  Halbvokal  war, 
würde  sich  im  Gotischen  wie  im  Neuhochdeutschen  und  auch  im  Slavischen  bei  i 
die  halbvokalische  Aussprache  Länger  gehalten  haben  als  bei  u. 


Silbischer  und  unsilbischer  Laut   gleicher  Artikulation  usw.  127 

man  heute  die  halbvokalische  Aussprache  im  Lateinischen  aller- 
dings nicht  mehr  gelten;  immerhin  setzt  man  als  Grrenze  erst  die 
Zeit  nach  Christus  (1.  oder  2.  Jahrhundert)  an,  so  Sommer  Hand- 
buch lat.  Laut-  und  Formenl.'^  163,  Niedermann  Histor.  Lautlehre 
des  Lat.^  11,  Stolz  Lat.  Gramm.*  35.  Ich  glaube,  daß  man  die 
Orenze  weiter  hinaufrücken  muß^). 

Besonders  wichtig  und  lehrreich  ist  hierfür  die  Verbindung 
von  V  mit  o.  Nach  der  gangbaren,  von  Solmsen,  Stud.  z.  lat.  Laut- 
gesch.  begründeten,  KZ  34, 546  fg.  in  Einzelheiten  weiter  ausgebauten 
Ansicht  hat  sich  im  alten  Latein  v  mit  o  verbunden,  außer  wenn 
es  im  ungedeckten  Anlaut  stand.  Gegen  diese  hat  sich  Juret  Do- 
minance  et  resistance  dans  la  phonetique  latine  in  scharfsinnigen 
Ausführungen  gewandt,  die  Solmsens  Gebäude  nicht  unbedenklich 
ins  Wanken  gebracht  haben.  Aber  gerade  in  dem  für  mich  hier 
wesentlichen  Punkt  hat  sich  Juret  geirrt ;  daß  v  vor  o  auch  außer- 
halb des  ungedeckten  Anlauts  lautgesetzlich  geblieben  sei,  hat  er 
nicht  wahrscheinlich  zu  machen  verstanden.  Ich  kann  nur  zugeben, 
daß  eine  Zahl  von  Beispielen,  die  Solmsen  unter  das  erwähnte 
Gesetz  hat  bringen  wollen,  vielleicht  besser  anders  aufzufassen 
sind,  das  brauche  ich  hier  nicht  zu  untersuchen.  Aber  in  dem  bei 
J.  verbleibenden  Rest  inlautender  -vo-  steckt  nichts  Lautgesetz- 
liches, sondern  nur  Analogiebildungen.  Sekundär  wiedereingeführt 
wurde  -vo-  nur  in  den  Ausgängen  -vos,  -vom.  Meine  Kritik  Jurets 
braucht  sich  also  nur  hieran  zu  halten.  Die  übrigen  Beispiele 
könnte  ich  ganz  ausschließen,  ohne  meinen  Auseinandersetzungen 
etwas  an  Beweiskraft  zu  nehmen.  Nur  ein  ganz  nebensächlicher 
Punkt  würde  durch  Juret  S.  62  fg.  mit  berührt.  Wenn  soror  aus 
"^snesor  und  auch  coqtiö  aus  *quequö  nicht  durch  Verschmelzung  des 
u  mit  dem  zu  o  gewordenen  e  erklärt  werden  dürfen  —  wobei 
quod,  quondam,  quoniam,  quof,  quotus  als  Analogiebildungen  aufzu- 
fassen wären  —  fällt  die  Übereinstimmung  mit  dem  Germanischen, 
wo  ja  u  außer  im  ungedeckten  Anlaut  mit  ?«  verschmilzt. 

Für  die  Verbindung  von  u  mit  o  sind  die  besten  Beispiele: 
hoiim,  parum,  cahwinia.  boum  will  J.  245  als  Analogiebildung  nach 
dem  Nom.  lös  auffassen.  Er  hat  aber  dabei  versäumt  zu  erklären, 
waium  gerade  der  Gen.  Plur.  Anlaß  zu  dieser  Analogie  gegeben 
haben  soll ;  ich  kann  einen  Grund  für  eine  derartige  Bildung  nicht 
ausfindig  machen.     Über  ]ianmi   ist  J.  in   seinem  Buch  hinwegge- 


1)  Nach  Abschluß  meiner  Arbeit  erst  konnte  ich  Andersons  Aufsatz  Trans- 
act.  Americ.  Philol.  Assoc.  40,  99  fg.  nachlesen ;  ich  freue  mich  der  Übereinstim- 
mung mit  ihm,  die  sich  zum  Teü  auch  auf  die  Begründung  erstreckt. 


j^28  EduardHermann, 

gangen.     In  der  Erwiderung  auf  meine  Rezension   seines  Buches 
BphW  1917,  798  leitet  er  parum  aus  dreisilbigem  paruimi  ab  und  setzt 
es  mit  passnm  aus  passuinn  gleich.     Dagegen  wird  man  aus  mehreren 
Gründen  Widerspruch    erheben    dürfen.      Daß    das    v    von  parvus 
einmal  sonantisch  war,  wird  nicht  bestritten  zu  werden  brauchen, 
aber  das  von  servns  u.  a.  war  es  doch  nicht  weniger.    Wie  es  mit 
der  Konsonantierung  eines  alten  sonantischen  u   hinter  Konsonant 
stand,  hat  Maurenbrecher  Parerga  234  untersucht  und  gezeigt,  daß 
der  Lautübergang   nach   r   zwischen  350 — 200  v.  Chr.    stattgehabt 
haben  müsse;    Konsonantierung   nach    -ss-  dagegen   gibt   es   nicht. 
Übrigens  widerspricht  —  worauf  es  mir  nicht  ankommt  —  Jurets 
Behauptang,  daß  arvom  bei  Plautus  stets  dreisilbig  sei,  der  Fest- 
stellung Maurenbrechers  S.  239.    Die  portugiesische  Form  aro  neben 
der  logudoresischen  arvu  kann  nichts  entscheiden,  sie  paßt  ebenso- 
gut zu  Jurets  wie  zu  Solmsens  Hypothese.    Dagegen  widerspricht 
der  ersteren  italienisch  novo,  dessen  Diphthong  nach  Meyer-Lübke 
Einführung^  129,  146  daraufhindeutet,  daß  eine  Zeitlang  övtun  ohne  v 
gesprochen  wurde.    Außer  romanischen  Fortsetzungen  ohne  v:  ital. 
lero,    lat.  ervuin,    portug.  2>o,    lat.  pulvus,    it.   neo,    lat.  naevus,    mit 
denen  J.  fertig  werden  konnte,  haben  wir  it.  usw.  rio,  das  er  S.  245 
zwar  erwähnt,  aber  nicht  zu  erklären  weiß.    Für  äeiis  und  Gnaeus 
ist  er  zu  der  Annahme  gezwungen,  daß  ti  hinter  früherem  i  (*deiuos 
*Gnaiiios)    vor   kurzem    Vokal  +  Konsonant    schwand.     Vergeblich 
sieht  man  sich  da  nach  einem  Grund  dafür  um,    daß  der  Schwund 
des  u  an  voraufgehendes  i  und  folgenden  kurzen  Vokal  +  Konso- 
nant gebunden  sein  soll,   wobei  noch  dazu  e-{-i  in   *deiuei,  *deiueis 
als  derartige  Kürze  +  Konsonant  angesehen  wird.     Schließlich  das 
Beispiel  calumnia  aus  *cahiomnia  (Solmsen  KZ  34,  547)  hat  J.  über- 
gangen.    Ich  bleibe  darum  dabei,    daß   in  den  genannten  Fällen  ti 
mit  0  zusammengeflossen  ist  ^). 

Die  Verschmelzung  von  u  mit  o  konnte  sich  natürlich  am 
leichtesten  vollziehen,  wenn  ti  hier  —  wie  es  wohl  auch  vor  o,  o 
i  gesprochen  wurde  —  ein  offenes  u  war.  Da  aber,  wo  im  Anlaut 
V  blieb,  werden  wir  es  im  Lateinischen  ebenso  wie  in  den  bereits 
behandelten  Sprachen  mit  einem  Akt  der  Dissimilation  zu  tun 
haben;  man  darf  also  für  volnus,  vortex   usw.  vermutlich  geschlos- 


1)  Jurets  Haupteinwendung,  daß  bei  Ausgleichungen  die  andern  Kasus  wohl 
dem  Nominativ  und  Akkusativ  Singularis  folgen,  aber  nicht  umgekehrt,  wül  nicht 
viel  besagen,  da  auch  nach  J.  bei  parvus,  arvum,  mortuus  der  Nom.  und  Akk. 
verdrängt  sind.  Eine  große  Zahl  von  Beispielen  liefert  das  Neuhochdeutsche  in 
vielen  Mundarten,  z.B.  Coburgisch  däx  *Tag',  rii9  'Ring',  mhd.  tac,  rinc,  vgl. 
auch  ruthenische  Beispiele  bei  Smal-Stockij  und  Gärtner  110. 


Silbischer  und  unsilbischer  Laut  gleicher  Artikulation.  129 

senes  u  ansetzen.   Im  Inlaut  wurde  außer  in  isolierten  Formen  -vo- 
auch  in   der  Folgezeit  in    der  Schrift   noch   beibehalten.     Da  die 
Dichter  den  vorausgehenden  Konsonanten  außer  in  qii  Position  bilden 
lassen,   wurde   also  -vo-  nicht  nur  geschrieben,    sondern  auch  ge- 
sprochen.    Die  gewöhnliche  Annahme  geht  daher  auch  dahin,   daß 
man  bald  *paros  durch  parvos  wieder  ersetzte,   um  das  Paradigma 
in  seinem  Stamm  wieder  einheitlich  zu  gestalten.    Manche  glauben 
aber  weiter,    Solmsen  folgend,   daß  parvos  später  lautgesetzlich  zu 
parvus   wurde,    daß  jetzt  v   noch   einmal   dasselbe   Schicksal   wie 
früher    erlitt,    daß   also  parus   zu  stände  kam  und   daß  erst  eine 
zweite  Analogiebildung  nötig  war,  um  parvus  von  neuem  —  defi- 
nitiv —  herzustellen,  wie  es  uns  geläufig  ist.     So  stellt  sich  z.  B. 
auch  Sommer^  162  den  Hergang  vor.     Ich  muß  gestehen,    daß  ich 
mich  mit  dieser   verwickelten  Hypothese   nicht  recht   befreunden 
kann.    Ich  könnte  mir  allerdings  denken,  daß  u  in  parvus  mit  dem 
folgenden  u  verschmolz;    ich  würde  aber   nicht   recht  verstehen, 
warum  sich  2^ciH^os  zu  paruus  nachträglich  entwickelt  haben  sollte ; 
ich  würde  vermuten,  daß  3ie  dissimilierende  Kraft  des  w  die  Ver- 
engung des  0  auch   noch  weiter  aufgehalten  haben  müßte.     Ver- 
ständlich wird  mir  die  nachträgliche  Umgestaltung  von  parvos  in 
parvus  und  ebenso   von  volgus  in   vulgus  eigentlich  nur,    wenn  u 
inzwischen   spirantisch    geworden  war.     Mit   dieser  Veränderung 
gab  der  Laut  natürlich  seine  dissimilatorische  Kraft  auf;  zugleich 
war  aber  auch   wohl  die  Verschmelzung  von  v  mit  u  in  größere 
Ferne  gerückt.     Ich  ziehe   daraus  den  Schluß,   daß   v  weder  zum 
zweiten  Mal    schwand  noch  zum  zweiten   Mal   analogisch   wieder 
eingeführt  wurde. 

Danach  sind  also  lautgesetzliche  Formen  houm,  parum^  vius, 
ecus,  secundus  usw.  Auf  Analogie  beruhen  bovom,  parvos,  servos 
u.  a.  Die  letzteren  sind  lautgesetzlich  zu  parvus,  equus  etc.  weiter- 
geführt worden.  In  der  Schrift  tauchten  paruus  und  ähnliche 
Formen  wohl  nicht  sofort  auf,  als  man  sie  sprach.  Die  Orthographie 
pflegt  veränderter  Aussprache  ja  immer  nachzuhinken,  vgl.  aber  die 
durch  diese  veranlaßten  falschen  Schreibungen  wie  quoni  und  oquoltod, 
Sommer 2  158.  In  unserem  Fall  lag  es  aber  besonders  nahe ,  daß 
man  die  Schreibung  nicht  so  schnell  modernisierte.  Wie  wir  aus 
der  romanischen  Fortsetzung  des  Wortes  arvom  ersehen  können, 
sprach  man  im  Volk  später  nicht  gleichmäßig;  manche  sprachen 
arum ,  das  hat  portug.  aro  ergeben ;  andre  sprachen  arvum ,  das 
im  Logudoresischen  zu  arvu  geführt  hat.  So  war  es  sicherlich  bei 
ähnlichen  Wörtern  vielfach.  Auch  aus  der  Bemerkung  des  Velius 
Longus  Gramm.  Lat.  VII,  59,  3  ed.  Keil  über  die  Aussprache  von 

Kgl.  Ges.  d.  WJss.    Nachrichten.    Pbil.-hist.  Klasse,    1918.    Heft  1.  9 


130  Eduard  Hermann, 

equus  kann  man  das  vielleicht  herausjeseu:  auribus  quidem  suffi- 
ciebat,  ut  equus  per  unum  u  scriberetur,  ratio  tarnen  duo  exigit. 
Damit  ist  ja  nicht  unbedingt  gesagt,  daß  man  in  jener  Zeit  nur 
eciis,  aber  überhaupt  nicht  equus  gesprochen  habe.  Wenn  nun  die 
Aussprache  nicht  einheitlich  war,  lag  es  umso  näher,  die  ältere 
Schreibung  mit  tio  beizubehalten,  als  die  beiden  jüngeren  Formen 
in  der  Schrift  anstößig  sein  konnten :  aruum  wird  man  ebenso  wie 
uulgus  nicht  gleich  geschrieben  haben,  weil  u  hierin  in  verschie- 
dener Aussprache  vorkam ;  arum  aber  wird  der  Schulmeister  leicht 
als  unrichtig  verworfen  haben,  weil  doch  dabei  'ein  Buchstabe 
verschluckt'  wurde.  Die  Schule  blieb  ja,  wie  uns  Quintilian  I,  7,  26 
bezeugt,  noch  im  1.  Jahrhundert  bei  der  Schreibung  uo  stehen. 

Daß  sich  die  Analogieform  hovum  überhaupt  nicht  durchge- 
setzt hat,  läßt  sich  begreifen,  da  die  Deklination  dieses  Wortes 
auch  sonst  im  Stamm  wechselte.  Wohl  aber  schrieb  man  noch 
lange  bouom.  Die  Handschriften  überliefern  uns  zwar  boum,  wenn 
man  sich  auf  Handschriften  dabei  verlassen  darf,  schon  für  Cato  de 
agri  cultura  22,  3.  Soweit  bouom  bezeugt  ist,  wird  es  also  in  der 
Hauptsache  nur  historische  Schreibung  sein.  Daß  sich  Formen 
wie  serus,  vius  nur  selten  finden,  ist  bei  dieser  Sachlage  ganz  na- 
türlich. Darüber  daß  sie  erst  verhältnismäßig  spät  (1.  Jahrhundert 
V.  Chr.)  inschriftlich  bezeugt  sind,  braucht  man  sich  nicht  zu  wun- 
dern; die  Zahl  der  älteren  Inschriften  ist  eben  doch  bedeutend  ge- 
ringer. Das  vereinzelte  Flaiis  aus  der  1.  Hälfte  des  2.  Jahrhunderts 
muß  aber  entgegen  Solmsens  Annahme  Studien  37  fg.  in  Verbindung 
mit  dem  unorthographischen  quom  für  cum  'mit'  CIL  1, 34  und 
[o]quoUod  ebda  196  als  wertvolles  Zeugnis  alter  Zeit  gelten.  Grerade 
wenn  im  2.  Jahrhundert  v.  Chr.  die  Aussprache  luu  aufgekommen 
sein  sollte,  wird  man  verstehen,  daß  bei  dem  jetzt  vermutlich  noch 
tärkeren  Eintreten  der  Schulmeister  für  die  allein 'richtige' Schrei- 
bung uo  die  Formen  wie  serus  sich  nur  ganz  selten  in  der  Schrift 
hervorwagten  und  nur  darum  in  jenen  Jahrzehnten  gar  nicht 
bezeugt  sind. 

Niedermanns  ^)  Versuch  Melanges  Saussure  59,  aus  Varro  ed. 
Götz-Schöll  240,  26  den  Nachweis  zu  führen,  daß  zur  Zeit  dieses 
G-rammatikers  vulnus  gesprochen  worden  sei,  ist  allerdings  miß- 
glückt, da  die  Stelle  nach  den  Herausgebern  s.  S.  300  der  Un- 
echtheit  verdächtig  ist  und  nach  S kutsch  Grlotta  2, 370  zum  wenig- 
sten in   dem  Beispiel   vulnus   einen  Zusatz  aufweist.    Aber   wenn 


1)  Leider  kann  ich  Sturtevants  Aufsatz  über  Dissimilation  und  tio  bei  Plautus 
Class.  Philol.  XI,  No.  2  nicht  nachlegen. 


Silbischer  und  unsilbischer  Laut  gleicher  Artikulation  usw.  131 

sich  auch  Niedermanns  Beweis  nicht  halten  läßt,  so  ist  darum  über 
die  Aussprache  volnus  oder  vulnus  zur  Zeit  Varros  noch  nichts 
gesagt.  Denn  die  römischen  Grammatiker  haben  viel  zu  wenig 
auf  die  lebende  Sprache  geachtet,  als  daß  man  sie  gleich  als  Krön  - 
zeugen  für  die  Nichtexistenz  anrufen  dürfte,  wenn  sie  einen  Sprach- 
gebrauch nicht  erwähnen.  Wenn  bei  Varro  wirklich  die  Stelle 
folgendermaßen  gestanden  haben  sollte:  nemo  abnuit  syllabas,  in 
quibus  u  littera  locum  obtinet  consonantis,  ut  sunt  in  his  verbis 
primae:  vafer  velum  vinum  vomis^  crassum  et  quasi  validum  sonura 
edere,  wird  damit  also  vulnus  noch  nicht  als  unmöglich  zu  be- 
trachten sein.  Noch  lange  Zeit,  nachdem  nachweislich  die  Laut- 
folge  ivu  längst  üblich  geworden  war,  haben  die  G-rammatiker  an 
ähnlichen  Stellen  davon^  keine  Notiz  genommen,  sondern  nur  Bei- 
spiele mit  va,  ve,  vi,  vo  fortgeschleppt  wie  Terentius  Scaurus  Gr.  L. 
VII,  17,  2:  u  littera  omnibus  vocalibus  et  praeiectiva  et  subiecta 
consentit,  ut  ua  ue  ui  uo  et  rursus  au  eu  in  oti^  in  quibus  syllabis 
non  vocalis,  sed  consonantis  vicem  praestat.  Genau  so  lehren  die 
Grammatiker  noch  Jahrhunderte  später,  wie  die  im  4.  Jahrhundert 
lebenden  Charisius  (Keil  I,  8, 1)  und  Diomedes  (I,  22,  14).  So  kann 
also  auch  schon  Varro  durch  seine  Vorgänger,  vielleicht  durch  Melius 
Stilo,  hierin  beeinflußt  sein.  Bezeugt  ist  die  Schreibung  uu  für  Kon- 
sonant -f  u  allerdings  erst  in  der  2.  Hälfte  des  1.  Jahrhunderts  v.  Chr., 
s.  Sommer^  67, 143 ;  am  frühesten  ist  uu  für  die  beiden  Vokale  u 
in  snimi  aus  dem  Jahre  45  v.  Chr.,  überliefert^).  Nimmt  man  diese 
Momente  alle  zusammen,  so  wird  man  doch  wohl  sagen  dürfen, 
daß  tv  schon  eine  ganz  geraume  Zeit  früher  gesprochen  worden 
sein  wird.  Ausgang  des  zweiten  Jahrhunderts  v.  Chr.  werden  wir 
also  wohl  ansetzen  dürfen. 

Zu  diesen  meinen  Ansätzen  für  Aussprache  und  Zeit  passen 
die  Umschreibungen  des  v  bei  den  Griechen  sehr  gut.  Wenn  v 
in  älterer  Zeit  ti,  vor  o  aber  u  war ,  werden  wir  in  griechischer 
Schrift  0  und  oi;  für  ii  und  ov  für  u  erwarten  dürfen.  Und  so  ist 
es  in  der  Tat,  s.  Eckinger,  Die  Orthographie  lateinischer  Wörter 
in  griechischen  Inschriften  S.  82  fg.  o  wird  allerdings  nur  selten 
verwandt,  aber  nur  in  älterer  Zeit,  so  in  UsgoUiog.  Das  delphische 
Beispiel  VaXsQLos  GDI  2581,  86  ist  nach  ßaunack  zwar  unsicher. 
Die   neuen  Funde   werden   die  Zahl   der  Fälle   sicherlich   erhöhen, 


1)  Das  Metrum  Horaz  Sat.  I,  2,  71  velatumque  stola,  mea  confemiit  ira,  wo 
die  Handschriften  h  statt  u  haben,  bietet  für  die  Aussprache  w  keine  sichere 
Gewähr,  obwohl  hier  das  vokalische  u  nicht  aus  o  verengt,  sondern  aus  andern 
Verben  mit  u  analogisch  übertragen  war.  Die  Form  war  eben  auch  mit  u 
möglich. 

9* 


132  Eduard  Hermann, 

ich  nenne  nur  aus  Euböa  IG  XII,  9,  916,  lo  Vißiog  aus  dem  1. 
vorchristlichen  Jahrhundert;  besonders  für  qti  (s.  unten  S.  133) 
findet  sich  häufiger  ao,  z.  B.  Köivxog  ebenda  Z.  so,  aus  Arkadien 
IG  V,  2,  146,  beide  auch  aus  dieser  Zeit.  Es  verlohnte  wohl,  die 
Eckingersche  Sammlung  für  v  zu  ergänzen^).  Dabei  würde  sich 
vielleicht  auch  deutlicher  als  bisher  herausstellen,  daß  die  Um- 
schrift mit  ß  jünger  ist.  Nach  Eckinger  sind  die  Beispiele  für  ß 
aus  dem  2.  Jahrhundert  v.  Chr.  nicht  durchaus  sicher.  Die  Sache 
verlangt  neue  Prüfung  mit  Zusammenstellung  der  hinzugekom- 
menen Eälle.  Jedenfalls  spricht  die  Umschreibung  mit  ß,  das 
»elbst  der  Ausdruck  eines  Spiranten  war,  sehr  für  spirantische 
Aussprache  des  v.  In  das  1.  vorchristliche  Jahrhundert  gelangt 
man  von  dieser  Seite  aus  zum  allermindesten.  Wenn  man  dagegen 
noch  in  viel  späterer  Zeit  auch  ov  neben  ß  für  v  gebrauchte,  so 
ist  das  nichts  als  historische  Orthographie. 

Bei  den  Römern  mußte  sich  diese  in  unserem  Fall  selbstver- 
ständlich in  viel  stärkerem  Maße  geltend  machen  als  bei  den 
Griechen,  weil  diese  viel  seltener  Anlaß  hatten,  ein  lateinisches 
Wort  oder  einen  römischen  Namen  zu  schreiben.  So  finden  wir 
denn  bei  den  Römern  selber  Verwechslung  mit  b  erst  geraume 
Zeit  später,  im  1.  Jahrhundert  n.  Chr.,  s.  Sommer^  163.  Das  älteste 
Beispiel  dieser  Art  als  Dokument  für  die  Grenze  zwischen  halb- 
vokalischer und  spirantischer  Aussprache  zu  betrachten,  wie  es 
Sommer  zu  tun  scheint,  geht  umsoweniger  an,  als  Voraussetzung 
für  die  Verwechslung  mit  b  sein  muß,  daß  auch  dieses  Spirant 
geworden  war.    Und  das  kann  doch  später  als  bei  v  geschehen  sein. 

Unrichtig  ist  auch  der  Schluß,  der  von  Sonmier^  163  aus  dem 
Wortspiel  Cauneas :  cave  ne  eas  bei  Cicero  div.  II,  84  gezogen  \^ird. 
Entweder  gab  es  keine  synkopierte  Form  für  cave  ne,  dann  läßt 
«ich  cau  ebensowenig  für  die  Aussprache  verwenden,  wie  für  den 
Nachweis  apokopierter  Imperative.  Oder  cau  ne  war  wirklich  eine 
alte  Formel;  auch  dann  vermag  cau  ne  so  wenig  wie  cautus  etwas 
für  die  halhvokalische  Aussprache  des  v  zu  Ciceros  Zeiten  zu  be- 
weisen. 

Ebensowenig  geht  es  an,  die  Entwicklung  der  w-Diphthonge 
für  unsre  Frage  auszubeuten.     Bekanntlich  sind  eu  und  ou  zusam- 

1)  Ich  mache  hei  dieser  Gelegenheit  auf  das  merkwürdige  Evsttloj  aus 
Amorgos  IG  XII,  7,  53, 2»  aufmerksam.  Der  Schreiber  hatte  wohl  eine  Ahnung  davon, 
daß  da,  wo  man  zu  seiner  Zeit  ov  in  römischen  Namen  setzte,  wie  in  Aovmos, 
früher  ev  geschrieben  worden  war,  also  Asv-niogf  so  auch  in  Amorgos  418, «.  425, 6. 
Darum  setzte  er  auch  in  diesem  Namen,  für  den  seine  Zeit  neben  JB-  auch  Ov- 
im  Anlaut  kannte,  fälschlich  Ev  ein. 


Silbischer  und  unsilbischer  Laut  gleicher  Artikulation  usw.  13S 

mengefallen  und  haben  im  weiteren  Verlauf  geschlossenes  ü  ge- 
liefert. Diese  Tatsache  könnte  zu  der  Meinung  verlocken,  daß 
V  eher  ein  u,  als  ein  u  gewesen  sein  müsse.  Aber  dabei  würde 
man  doch  zweierlei  außer  acht  lassen.  Erstens  haben  die  indo- 
germanischen Diphthonge  hier  überhaupt  bei  Seite  zu  bleiben  — 
darum  ist  oben  auch  die  Monophthongierung  der  ^f-Diphthonge  im 
Slavischen  zu  ii  beiseite  gelassen  worden  —  da  ihj*  zweiter  Bestand- 
teil nicht  ohne  weiteres  mit  einem  sonstigen  u  in  der  Aussprach« 
gleich  zu  sein  braucht.  Zweitens  wissen  wir  gar  nicht,  seit  wann 
lat.  ü  geschlossen  war. 

Besonders  will  ich  hier  noch  einmal  an  die  bekannte  Tatsache 
erinnern,  daß  idg.  g-"  ganz  wie  M  behandelt  wird ;  denn  wir  haben 
secundus  neoen  ecus,  wie  ja  auch  in  sequi  und  eqiii  das  qti  keine 
Position  macht.  Wenn  aber  Velins  Longus  VII,  58,  17  sagt :  v 
litteram  digamma  esse  interdum  non  tantum  in  his  debemus  anim- 
advertere  in  quibus  sonat  cum  aliqua  aspiratione,  ut  in  valente  et 
vitulo  et  primitivo  et  (jenetivo ,  sed  etiam  in  quibus  cum  q  confusa 
haec  littera  est,  ut  in  eo,  quod  est  quis,  so  darf  man  wohl  (vgl. 
Sommer^  222)  daraus  entnehmen,  daß  v  hinter  q  länger  Halbvokal 
geblieben  war,  der  sich  aber  in  der  Aussprache  von  den  Vokalen 
unterschied.  Für  beides  könnte  auch  die  häufigere  Schreibung 
mit  ico  in  griechischer  Umschrift  sprechen,  z.  B.  xoÖQccvtrig  quadrans 
im  Neuen  Testament  Blaß  u.  Debrunner  26,  s.  auch  Dietrich  Byzant. 
Arch.  1,  74.  Auch  an  das  späte  quaglator  für  coaglator  sowie  über- 
haupt an  das  in  den  romanischen  Sprachen  aus  co  vor  Vokal  entstan- 
dene qu,  z.  B.  it.  quatto  aus  coactus,  span.  quejar  aus  coaxare  sei  er- 
innert. 

Nicht  mit  in  Rechnung  gezogen  habe  ich  bisher  die  Fälle,  wo 
0  in  den  Endungen  hinter  sonantischem  u  stand  wie  in  morttws, 
suos.  Diese  stehen  mit  servos  und  den  andern  Fällen  mit  konso- 
nantischem V  nicht  auf  einer  Stufe.  Da  in  ihnen  u  und  o  in  zwei 
verschiedenen  Silben  stand,  lag  kein  Anlaß  zur  Verschmelzung  wie 
bei  partim  vor.  Als  das  unbetonte  o  sonst  zu  n  wurde,  machte 
sich  aber  genau  wie  bei  volnus  die  Kraft  der  Dissimilation  geltend. 
In  G-egensatz  zu  seruos  ist  mortuos  auch  damals  noch  die  lautge- 
setzliche Form  gewesen.  Wenn  aber  später  gleichwohl  mortuns 
durchdrang,  so  ist  nicht  lautgesetzlich  uo  zu  im  geworden;  denn 
man  müßte  sich  wundern,  wenn  hier  die  dissimilatorische  Kraft, 
die  zwar  ein  spirantisches  v  in  vnlmis,  parvus  natürlich  nicht  mehr 
besaß,  dem  sonantischen  u  verloren  gegangen  wäre,  während,  wie 
wir  gleich  sehen  werden,  sonantischem  i  diese  Kraft  gegenüber 
dem  e  stets  blieb.  Alle  Formen  wie  mortuus  usw.  werden  demnach 


134  Eduard  Hermann, 

wohl  analogisch  gebildet  sein.  Zu  der  Umfoimnng  mortnvs  >  mortuus 
war  um  so  eher  Anlaß  gegeben,  wenn  auch  die  analogischen  Formen 
seriös,  pariios  lautgesetzlich  zu  seruus,  pcinins  geworden  waren  und 
keinen  Anhalt  mehr  für  eine  Deklination  auf  -o.s,  -t  gaben. 

Der  "Übersicht  halber   stelle  ich  hier  noch  einmal  die  chrono- 
logische Folge  der  Lautentwicklungen  zusammen: 

1  molta     uolnos     seruos  mortuos 

2  „  „         serös  „ 

3  j,  „        anal,  seruos  „ 

4  multa    uolmis  „  „ 

5  -         wulnus   senvus 

77  3  s  3  77 

6  „  ;,  „  anal,  mortuus 

Keine  Rolle  für  die  Entscheidung  der  Aussprache  des  ti  spielt 
die  Entwicklung  von  anlautendem  idg.  q-  vor  u  und  von  anlau- 
tendem qij,  Nach  der  Ansicht  mancher  Sprachforscher  ist  dabei 
der  Guttural  gefallen.  Gesetzt,  die  Ansicht  wäre  richtig,  dann 
brauchte  man  sich  den  Hergang  noch  nicht  so  zu  denken  wie  z.  B. 
Walde  Gesch.  idg.  Sprachwissensch.  II,  1,  181  will.  Nach  Walde 
soll  uM  so  entstanden  sein,  daß  q^u-  zu  qwu-  und  weiter  zu  ivu- 
und  u-  wurde.  Der  Ansatz  des  Spiranten  ist  dabei  ganz  über- 
flüssig, q^u-  hätte  ja  auch  zu  quu-  werden  können,  das  liegt  näher; 
nun  frage  ich,  warum  dann  w,  das  doch  durch  Dissimilation  gegen 
das  folgende  u  entstanden  sein  mußte,  schließlich  doch  mit  u  zu- 
s  ammenfloß.  An  den  Abfall  des  Gutturals  kann  ich  aber  über- 
haupt nicht  glauben.  In  allen  Zusammensetzungen  hat  uhi  den 
Guttural  vor  sich:  necuhi,  alicuhi,  sicubi.  Soll  im  Inlaut  die  Ent- 
wicklung wieder  eine  andre  gewesen  sein?  Meiner  Ansicht  nach 
ist  genau  so,  wie  im  Inlaut  relic-uos  Jeg-ümen  und  im  Anlaut  bei  der 
Media  gurchs  Sommer^  187  entlabialisiert  worden  ist,  neq^uhi  zu 
necubi  geworden,  weil  sich  ti  mit  u  verbinden  mußte;  die  Gestalt 
*ncq'^ubi  existiert  nur  auf  dem  Papier.  Selbst  Walde  gibt  —  wenig- 
stens für  das  Oskisch-Umbrische  —  Über  älteste  sprachliche  Bezie- 
hungen zwischen  Kelten  und  Italikern58  Entlabialisierung  des  Labio- 
velars  vor  u  zu;  der  Vorgang  war  aber  nicht  auf  diesen  Teil  des 
Italischen  beschränkt.  Als  g-  in  quom  usw.  noch  fest  war,  hatte  man 
bereits  *cw&«,  necubi.  Der  Anlaut  des  "^cuhi  stimmte  nicht  zu  dem 
von  quoi,  quom  usw.,  der  etymologische  Zusammenhang  war  daher 
zerrissen.  Indem  man  darum  necubi  falsch  zerlegte,  entstanden  uU 
usw.  Wie  jung  ubi,  uter  usw.  waren,  ersieht  man  z.  B.  aus  neuter, 
dessen  eu  nicht  monophthongiert  wurde,  invitare  hat  ebenso  wie 
vaper  nie  einen  Guttural  besessen,    invitare   stellt   sich  mit  vis  'du 


Silbischer  und  unsilbischer  Laut   gleicher  Artikulation  usw.  I35 

willst'  und  invUus  zu  ai.  ahhivitus  'erwünscht',  vaper  ist  von  lit. 
Jcväpas  zu  trennen;  es  gehört  einer  nicht  identischen,  sondern  nur 
reimenden  Wurzel  an,  wie  Persson,  Beitr.  idg.  Wortf.  527  annimmt. 
vaper  verhält  sich  also  zu  Jcväpas  ähnlich  wie  lat.  vermis,  got. 
waürms  zu  ai.  Irmis.  Das,  was  die  Sache  verdunkelt,  ist  nur,  daß 
vaper  der  einzige  Überrest  dieser  Wurzel  mit  idg.  u-  geblieben  ist. 

Über  die  Entwicklung  des  idg.  i  im  Lateinischen  kann  ich 
mich  kürzer  fassen.  Das  Problem  der  io-Verba  nach  der  dritten 
und  vierten  Konjugation  gehört  im  wesentlichen  in  eine  Unter- 
suchung der  Silbentrennung,  die  hier  nicht  mit  abgemacht  werden 
kann.  So  bleibt  als  Wichtigstes  die  Erklärung  des  Stammvokals 
der  Komposita  von  lacere.  Die  einfachste  Lösung  bringt  hier  die 
Vergleichung  mit  den  Verhältnissen  bei  ii  vor  0. 

Ohne  den  Umlautsprozeß  von  mittelsilbigem  a  zu  i  wie  Exon 
Hermathena  12,  219  in  zwei  auf  einanderf olgende  zeitlich  getrennte 
Vorgänge  zujzerlegen,  s.  KZ.  48,  102  fg.,  wird  man  coniecio  als  eine 
Zwischenstufe  zwischen  '^coniacio  und  conicio  auffassen  dürfen,  die 
genau  so  wie  variego,  parietem,  Nerienis  (Meister  Lat.-Griech.  Eigenn. 
14)  u.  a.  infolge  von  Dissimilation  ein  e  hinter  i  zeigte.  Nicht  ^, 
sondern  e  ist  dabei  anzusetzen;  denn  nur  der  näher  verwandte 
Laut  e  konnte  einen  Dissimilations Vorgang  gegenüber  vorausge- 
hendem i  hervorrufen,  man  wird  also  ie  bez.  ie  (s.  unten)  gesprochen 
haben.  Während  aber  in  pdrietem  ein  Nebenton  auf  e  die  Veren- 
gung zu  i  für  immer  aufhielt,  war  i§-  der  Weiterentwicklung 
preisgegeben  (KZ  48, 108  fg.).  Wie  ii  mit  0  verschmolz,  so  verei-; 
nigte  sich  auch  inlautendes  i  mit  e  (nicht  auch  mit  dem  bei  cö- 
niectus  vorliegenden  e)  zu  i',  das  alsbald  zu  {  wurde.  Zeitlich 
brauchen  die  beiden  Vorgänge  no  >  0  und  i§  >  e  nicht  zusammen- 
zufallen, oder  es  müßte  umgelautetes  coniecio  schon  erreicht  ge- 
wesen sein,  als  0  noch  gar  nicht  zu  u  geworden  war.  Jedenfalls 
ist  uns  die  zweite  Zwischenstufe  *confcio  nicht  überliefert,  was 
auf  sehr  kurze  Dauer  derselben  schließen  läßt,  während  wir  von 
Schreibungen  wie  coniecio  manche  Zeugnisse  auf  Steinen  und  in 
Handschriften  haben.  Die  Form  mit  i  allein  ist  uns  ebenfalls 
überliefert,  am  ältesten  bei  Naevius,  ferner  in  dem  spät  bezeugten 
(Neue  Wagner^  I,  705)  Nominativ  obex,  der  nur  aus  obicis  usw.  er- 
wachsen konnte,  dazu  auch  vielleicht  in  aimcio,  falls  dies  wirk- 
lich ein  Kompositum  von  iacio  ist.  Im  übrigen  bildeten  später  die 
Komposita  von  iacere  wegen  des  i  in  den  andern  Formen  (Perfek- 
tum  und  Participium)  und  wegen  des  Reimes  auf  die  Komposita 
mit  faccre  auch  das  Präsens  mit  i  vor  /.  Dieses  i  in  -iicio  kann 
man  sich,  sofern  es  nicht  überhaupt  Spirant  war,  nur  als  sehr  ge- 


136  Eduard  Hermann, 

schlössen  vorstellen;  außerdem  wäre  ja  i  mit  i  zusammengelaufen. 
G-esichert  ist  -iicio  bez.  -jicio  schon  seit  Plautus'  Zeiten  durch  das 
Metrum,  falls  nicht  -iecio  einzusetzen  ist,  wie  das  Exon  a.a.O. 
will.  Die  Orthographie  aber  hat  die  beiden  i  neben  einander 
nicht  recht  aufkommen  lassen.  Wahrscheinlich  wurde,  wie  die 
metrischen  Messungen  bei  Seneca,  Lucan  und  Martial  das  nahe 
legen-,  die  lautgesetzliche  Form  mit  bloßem  i  neben  der  analo- 
gischen noch  lange  fortgeführt;  etwa  so  lange,  als  i  Halbvokal 
war;  denn  ?  und  i  waren  in  der  Artikulation  so  wenig  unter- 
schieden, daß  die  Gefahr  zusammenzulaufen  für  sie  immer  nahe 
lag.  So  kommt  es  denn,  daß  wir  bei  der  Abneigung  gegen  die 
Schreibung  mit  doppeltem  i  meistens  -icio  geschrieben  sehen.  Ven 
dryes  mag  vielleicht  damit  Recht  haben  (Recherches  sur  l'histoire 
et  les  effets  de  l'intensite  initiale  en  latin  267),  daß  -ich  bei  den 
genannten  drei  Dichtern  die  spanische  Aussprache  des  Lateins 
darstellt.  In  Rom  könnte  j  zur  selben  Zeit  spirantisch  geworden 
sein  wie  ii.  Für  die  vorausgegangene  Zeit  erhalten  wir  damit  als 
Aussprache   i  vor  ^,  sonst  i. 

Dazu  würde  sehr  gut  die  von  Sommer^  114  hingeworfene  Ver- 
mutung passen,  daß  das  vokalische  i  vor  den  offnenen  Vokalen  selbst 
offen  war.  Leider  entbehrt  sie  zu  sehr  der  Begründung  und  wohl 
auch  der  Wahrscheinlichkeit.  —  Die  Aussprache  des  i  in  Wörtern 
wie  pdior  ist  natürlich  ein  Kapitel  für  sich. 

Das  bisher  gewonnene  Resultat  eröffnet  vielleicht  die  Mög- 
lichkeit, zur  Erklärung  der  io-Verba  der  dritten  Konjugation 
Stellung  zu  nehmen.  Aus  *kapiesi  hätte  nach  unseren  Erörte- 
rungen wohl  (^kapiesi  >)  Vcapes  und  weiter  ca^ns  werden  können. 
Sollte  man  aber  dann  von  der  älteren  Form  mit  -ie-  nicht  noch 
Spuren  vorfinden,  wie  sie  in  conieciant  noch  vorhanden  sind?  Da 
sie  fehlen ,  steht  von  dieser  Seite  aus  also  wenigstens  nichts  im 
Wege,  die  Erklärung  aus  *kapiesl  mit  Sommer'-  503  über  Bord  zu 
werfen. 

Auf  einem  anderen  Brett  steht  parieäs,  dessen  e  sich,  bis  zu  f 
umgelautet,  durch  Dissimilation  des  i  hielt.  Es  hat  an  mortuos 
die  nächste  Parallele.  Die  geschlossene  Aussprache  des  e  wird 
durch  die  Fortsetzung  im  Romanischen :  frz.  paroi  gewährleistet, 
über  die  Einzelheiten  s.  KZ  48,  106  fg. 

Mit  idg.  -i  hat  sich  i-  völlig  vereinigt,  der  Fall  liegt  vor  im 
Genetiv  der  io-Stämme;  die  Verschmelzung  kann  schon  aus  dem 
Urindogermanischen  stammen  und  so  ins  Italische  und  Keltische 
vererbt  sein;  auch  im  Indischen  liegt  eine  ähnliche  Verschmelzung 
vor,  s.  unten  S.  157. 


Silbischer  und  unsilbischer  Laut   gleicher  Artikulation  usw.  137 

Für  das  ältere  Latein  kommen  wir  also  auf  halbvokalische 
Aussprache  des  j  und  v.  Da  ist  es  bemerkenswert,  daß  vor  diesen 
Lauten  nie  Elision  eingetreten  ist ;  j  und  v  stellen  sich  als  Halb- 
vokale demnach  in  ähnlichen  Gegensatz  zu  den  Vokalen  wie  engl. 
;  und  w  in  der  Behandlung  des  unbestimmten  Artikels. 

Über  die  andern  italischen  Mundarten  habe  ich  nicht  so  viel 
vorzubringen.  Jedenfalls  ist  es  unrichtig,  wenn  v.  Planta  1,  272 
von  V  in  osk.  trtbnrahaiüm  behauptet,  daß  es  ebenso  artikuliert 
worden  sei  wie  das  folgende  u.  Ich  glaube  allerdings  überhaupt 
nicht,  daß  oskisches  und  umbrisches  v  ein  Halbkvokal  war,  wie 
V.  Planta  annimmt.  Es  wird  ja  trotz  J.  Schmidts  Reserve  (Pau^- 
Wissowa,  s.  Alphabet)  dabei  bleiben,  daß  die  oskisch-umbrische 
Schrift  aus  der  etruskischen  herstammt.  Im  Etruskischen  aber 
verwandte  man  v  auch  in  sonantischer  Geltung,  ebenso  wie  in  dem 
faliskischen  pvrtis.  Warum  hat  man  nun  im  älteren  Oskisch  und 
im  Umbrischen  gleichwohl  für  etymologisches  o,  das  von  etymolo- 
gischem u  nach  Ausweis  der  jüngeren  Schrift  geschieden  war,  a 
für  beide  Vokale  gebraucht,  statt  v  für  den  einen  dieser  Vokale 
zu  benutzen?  Den  Fall  gesetzt,  daß  im  Etruskischen  die  beiden 
Zeichen  v  und  u  einen  Vokal  bezeichneten,  würden  sich  die  beiden 
wohl  auch  in  der  Aussprache  unterschieden  haben,  der  eine  könnte 
etwa  mehr  zum  «,  der  andre  mehr  zum  o  hin  geklungen  haben. 
"Warum  gebrauchten  dann  die  Osker  und  Umbrer  die  beiden  Zeichen 
nicht  wie  im  Etruskischen  zur  Unterscheidung  der  beiden  Quali- 
täten? Warum  warfen  sie  o  und  u  in  der  Schrift  zusammen,  um 
es  nur  von  einem  halbvokalischen  v  zu  scheiden,  dessen  Aussprache 
von  dem  einen  der  beiden  gar  nicht  so  sehr  weit  entfernt  gewesen 
sein  könnte?  Es  müßte  v  dann  vielleicht  besonders  stark  gerundet 
gewesen  sein.  Aber  auch  da  hätte  es  doch  wohl  näher  gelegen, 
das  etymologische  u  und  diesen  Halbvokal  durch  das  eine  und  das 
etymologische  o  durch  das  andre  Zeichen  wiederzugeben.  Wenn 
dagegen  v  im  Etruskischen  Spirant  war,  ist  erst  recht  nicht  zu 
verstehen,  warum  das  Oskisch-Umbrische  bei  halbvokalischer  Aus- 
sprache die  Zeichen  so  angewandt  haben  sollte,  wie  wir  es  wirk- 
lich sehen.  Die  Gründe,  die  v.  Planta  I,  180  für  halbvokalische 
Aussprache  im  Oskisch-Umbrischen  beibringt,  sind  denn  auch  alle 
miteinander  nicht  stichhaltig.  Die  Gründe  1,  2,  und  4  enthalten 
ein  und  denselben  typischen  methodischen  Fehler :  Verwechselung 
der  Entstebungszeit  einer  Spracherseheinung  und  der  Zeit  der  Be- 
lege. Als  ob  ein  früher  halbvokalisches  n  in  späterer  Zeit  nicht 
Spirant   geworden   sein   könnte  I     Wegen   des   zum   Spiranten   ge- 


138  Eduard  Hermann, 

wordenen  Gleitlauts   vgl.   lakon.  EvßccvoQog.     No.  3   und   5   gehen 
nur  das  Etruskische  an. 

Sowie  man  aber  v  im  Oskisch-Umbrischen  ebenso  wie  im  Etrus- 
kischen  Spirant  sein  läßt,  wird  das  alles  leicht  verständlich.  Die 
Erklärung  der  Orthographie  läge  also  eigentlich  außerhalb  des 
Bereiches  der  indogermanischen  Sprachwissenschaft.  So  lange  wir 
aber  noch  keine  Entwicklung  der  etruskischen  Laute  kennen  und 
es  nicht  möglich  ist  festzustellen,  wie  die  Verwendung  des  v  zu- 
stande kam,  kann  es  sich  für  mich  also  nur  darum  handeln,  über- 
haupt irgend  eine  theoretische  Möglichkeit  zu  suchen.  Ich  hoiFe,  daß 
dies  gelingt.  Bei  der  für  das  Etruskische  charakteristischen  Syn- 
kope (s.  Skutsch  Glotta  4,  187  fg.,  Deecke  BB  2,  161  fg.,  Herbig  lA 
37,  21  fg.)  wäre  es  gar  nicht  verwunderlich,  wenn  etwa  in  der 
Lautverbindung  ave,  uve  mit  spirantischem  v  das  e  synkopiert 
wurde.  Nimmt  man  außerdem  an,  daß  der  Diphthong  au  im  Etrus- 
kischen ebenfalls  zu  av  wurde,,  wie  das  Herbig  Grlotta  2,  87  wirk- 
lich tut,  dann  hätte  man  bei  Anwendung  historischer  Orthographie 
für  die  Lautverbindung  a  +  Spirant  die  Zeichen  av  und  au.  Dies 
konnte  zu  Unsicherheit  in  der  Schreibung  Anlaß  geben,  so  daß 
man  an  Stellen,  wo  ii  am  Platz  war,  auch  v  schrieb.  So  könnten 
wir  etruskische  Schreibungen  wie  inrnl  CIE26475  worunter  be- 
merkenswerterweise in  der  lateinischen  Übersetzung  Furrd  steht, 
erklären.  Da  ein  Diphthong  uu  ausgeschlossen  ist,  findet  man  na-' 
türlich  nur  u  und  v^  nicht  n  und  u  neben  einander,  z.  B.  ruvfni. 
Meine  Vermutung  scheint  sich  durch  die  Tatsachen  wirklich  zu 
Ije^tätigen;  Herbig  macht  mich  freundlichst  Siuf  aveJe,  «t^i/e  auf- 
merksam, das  auch  synkopiert  als  avle  auftritt;  wenn  es  da- 
neben auch  aide  gibt,  so  kann  das  ebensogut  falsche  Schreibung 
wie  jüngere  Entwicklung  sein.  Ist  meine  Hypothese  richtig  oder 
entsprach  die  Entwicklung  des  Etruskischen  wenigstens  dem  End- 
resultat, daß  V  das, Zeichen  für  den  Spiranten  war  und  ursprüng- 
lich nur  durch  Verwechslung  auch  für  u  gesetzt  wurde,  dann  läßt 
sich  denken,  daß  auch  die  Osker  und  Umbrer  v  als  Zeichen  für 
einen  Spiranten  gebrauchten,  daß  sie  andrerseits  aber  für  o  und 
u  nur  den  einen  Buchstaben  verwandten,  der  im  Etruskischen  (s. 
Herbig  S.  Bay.  Ak.  1914,  2  Abh.  30/33,  BphW  1916,  1441)  einen 
Vokal  zwischen  o  und  u  bedeutete.  In  der  Darstellung  von  a  oder 
0  +  Spirant  schlössen  sich  die  Osker  dem  Vorbild  ebenfalls  ganz 
an ;  sie  schrieben  daher  stets  uv,  aber  neben  av  auch  au.  Ich  nehme 
also  an,  daß  die  Osker  keine  Diphthonge  mehr  hatten,  sondern 
eine  Lautverbindung  mit  Spirant,  wie  sie  die  Neugriechen  kennen. 
Damit  befinde  ich  mich  zwar  in  Widerspruch  mit  v.  Planta  1, 138  fg.^ 


Silbischer  und  unsilbischer  Laut  gleicher  Artikulation  usw.  139 

155  fg. ;  seine  Gegengiünde  sind  aber  so  wenig  durchschlagend, 
daß  ich  auf  eine  weitere  Widerlegung  nach  dem  schon  Erörterten 
verzichten  darf. 

Für  spirantische  Aussprache  des  v  lassen  sich  dagegen  noch 
folgende  Gründe  vorbringen.  Die  griechisch  geschriebenen  In- 
schriften gebrauchen  für  v  das  griechische  Digamma.  Dieses  wurde 
aber  in  Sizilien  und  Unteritalien  zur  Zeit  der  Übernahme  dieses 
griechischen  Alphabets  sicherlieh  nicht  mehr  als  Halbvokal  ge- 
sprochen. In  allen  griechischen  Landen  war  /,  so  weit  noch  vor- 
banden, vielleicht  im  4.  Jahrhundert  bereits  nur  noch  Spirant,  s. 
S.  143.  /  in  den  oskischen  Inschriften  wird  also  einen  Spiranten 
bedeuten.  Ganz  besonders  auffällig  ist  dabei  die  Schreibung  Aj^äsisiSy 
TcofTo,  diese  spricht  sehr  für  Spirant,  während  tavgon  die  andre 
etruskische  Schreibung  spiegelt  und  ÄGv^iavo^i  wie  das  nicht  er- 
klärte Tovrg  oder  tovxl  Nachahmung  von  dieser  etruskischen  Schrei- 
bung oder  griechische  Schreibung  zeigt. 

Auch  die  Orthographie  der  lateinisch  geschriebenen  oskischen 
und  umbrischen  Inschriften  läßt  sich  bei  der  Annahme  des  Spi- 
ranten sehr  wohl  verstehen.  Wenn  die  ßömer  damals  Halbvokal 
gesprochen  hätten,  so  würde  den  Oskern  und  Umbrern  ein  andres 
Zeichen  als  ii  für  ihren  Spiranten  eben  nicht  zur  Verfügung  ge- 
standen haben.  Aber  vermutlich  sind  die  lateinisch  geschriebenen 
Teile  der  iguvinischen  Tafeln  sowie  die  Tabula  Bantina  erst  in 
einer  Zeit  aufgezeichnet,  in  der  lat.  v  schon  Spirant  geworden 
war,  s.  die  Zeitbestimmungen  bei  v.  Planta  I,  29  fg.,  Conway  The 
Italic  Dialects  I,  407  und  24. 

Wenngleich  so  oskisch  und  umbrisch  v  zur  Zeit  der  Denkmäler 
Spirant  war,  läßt  sich  doch  erkennen,  daß  in  einer  früheren  Pe- 
riode Halbvokal  gesprochen  worden  sein  wird.  Die  Gründe  hierfür 
sind  die,  welche  v.  Planta  I,  180  fg.  unter  1,  2,  4  für  diese  Aus- 
sprache zur  Zeit  der  Denkmäler  selber  vorgebracht  hat;  dazu 
kommt  noch,  daß  idg.  n  hinter  /•  vielleicht  zu  im  und  weiter  zu  iiv 
entwickelt  ist  in  osk.  unmi,  umbr.  aruvia,  doch  ist  der  Lautübergang 
zweifelhaft.  Auch  umbr.  courtust  'converterit'  gegenüber  umbr. 
vurtus  'verteris'  dürfte  hier  nur  mit  einem  Fragezeichen  zu  nennen 
sein.  Vielleicht  ist  v  mit  diesem  u  im  Inlaut  verschmolzen,  wäh- 
rend es  im  Anlaut  geblieben  ist,  eine  Erscheinung,  die  uns  im 
Vorausgegangenen  nun  schon  mehrfach  begegnet  ist.  Ist  etwa 
auch  osk.  iüklei  mit  sekundärem  ^dpi-  aus  ^diuoklei  so  aufzufassen, 
wie  ja  auch  lat.  midius  sich  aus  '^dluos  erklären  läßt,  beide  mit 
o-Stamm  wie  ai.  dive  dive'?  Dann  würden  umbr.  couortus  u.  a.  als 
Analogieformen  zu  betrachten  seien,   und  das   oben  als   lateinisch 


140  Eduard  Hermann, 

angesprochene  Lautgesetz  (inlautendes  tjo  >  o)  würde  zwar  nicht  als 
uritalisch  anzusetzen,  aber  doch  auch  auf  das  Oskisch-Umbrische 
auszudehnen  sein.  Wir  würden  damit  für  eine  frühere  Periode 
auch  dieser  Mundarten  auf  Halbvokal  als  m- kommen.  Aber  diese 
zwei  Beispiele  für  Verschmelzung  sind  doclT  recht  unsicher.  Den 
Vorgang  für  uritalisch  zu  halten,  wäre  jedenfalls  nicht  rätlich, 
weil  das  verbale  Kompositum  courtast  keinen  Anspruch  auf  so 
hohes  Alter  erheben  kann.  Angesichts  der  Tatsache,  daß  die  Laut- 
verbindung vti  =  V  mit  etymologischem  o  auch  in  menvum  steckt 
und  durch  Einschiebung  des  Gleitlautes  v  sogar  erst  entstanden 
ist  z.  B.  in  osk.  tribaraJcavnm,  wird  mir  die  Verschmelzung  in  diesen 
italischen  Mundarten  überhaupt  sehr  zweifelhaft.  Das  auch  hinter 
u  vorkommende  v,  umbr.  tuvos  wird  in  lateinischer  Schrift  nicht 
mitgeschrieben,  v.  Planta  I  184,  Bück  Elem.  44 ;  das  steht  durchaus 
in  Einklang  mit  der  gleichzeitigen  Schreibung  im  Lateinischen 
wie  iuenis  usw. 

Eine  bestimmte  Entscheidung,  wie  idg.  ij  im  Uritalischen  als 
Halbvokal  gesprochen  wurde,  kann  ich  unter  diesen  Umständen 
nicht  treffen.  Immerhin  läßt  sich  wohl  soviel  sagen,  daß  man  mit 
ii  durchzukommen  scheint.  Jedenfalls  weist  hier  wie  in  den 
vorher  besprochenen  Sprachen  mancherlei  darauf 
hin,  daß  der  Halbvokal  teilweise  zu  einer  offenen 
Aussprache  hinneigte. 

Über  i  im  Oskisch-Umbrischen  möchte  ich  mich  nicht  auslassen. 

Wie  im  Oskisch-Umbrischen  sehen  wir  auch  im  Griechischen 
zur  Bezeichnung  des  idg.  u  wieder  ein  besonderes  Zeichen  ver- 
wandt. Auch  hier  können  wir  eine  Vermutung  über  seine  Ent- 
stehung wagen.  Das  semitische  Alphabet,  das  dem  griechischen 
als  Muster  diente,  gab  eine  Scheidung  von  /  und  v  nicht  an  die 
Hand,  sie  ist  also  erst  griechisch.  Und  sie  scheint  nicht  die  Er- 
findung eines  einzelnen  Mannes  oder  eines  einzelnen  griechischen 
Stammes  gewesen  zu  sein.  Das  Bedürfnis  für  ein  besonderes 
Zeichen  scheint  allgemeiner  gewesen  zu  sein;  denn  wir  sehen,  daß 
an  verschiedenen  Stellen  griechischen  Landes  neue  Zeichen  ver- 
mutlich verschiedener  Art  aufkommen,  um  den  Unterschied  festzu- 
legen. Das  wäre  sehr  eigentümlich,  wenn  die  Zeichen  nicht  auch 
zwei  deutlich  geschiedene  Laute  darstellen  sollten;  umso  merk- 
würdiger, als  man  es  gar  nicht  so  eilig  hatte,  andre  Lautunfcer- 
schiede  ebenfalls  durch  die  Schrift  festzulegen.  In  Kreta  und 
anderwärts  schrieb  man  für  tt  und  (p,  für  x  und  %  immer  noch  je 
ein  Zeichen,  als  man  längst  v  und  /  auseinanderzuhalten  wußte. 
Ich  stimme  also  Gercke  Hermes  41,  541  durchaus  darin  bei,  daß  t; 


Silbischer  und  unsilbischer  Laut   gleicher  Artikulation  usw.  141 

und  /  zwei  verschiedene  Laute  bedeutet  haben  müssen.  Zunächst 
aber  galt  T  als  Zeichen  für  beides ,  für  v  und  /.  Als  man  sich 
nach  einer  Scheidung  umsah,  schuf  man  nicht  etwas  ganz  Neues, 
«ondem  ging  von  dem  Vorhandenen  aus ,  vgl.  jetzt  M.  P.  Nilsson, 
Die  Übernahme  und  Entwicklung  des  Alphabets  durch  die  Griechen, 
Danske  Vid.  Selsk.  Hist.  fil.  Medd.  I,  6,  1918,  S.  20  fg.  Das  neue 
Zeichen  verwandte  man  nicht  für  den  Vokal  v,  sondern  für  den 
Konsonanten  /,  das  war  ganz  begreiflich,  da  v  viel  häufiger  in 
der  griechischen  Sprache  vorkam  als  /.  Der  alte  Name  Vau  blieb 
aber  an  dem  /  hängen,  auch  das  können  wir  wohl  verstehen.  Der 
Buchstabennamen  enthielt  als  ersten  Laut  ja  doch  ein  /  und  kein 
V,  das  akrophonische  Prinzip  verlangte  also  die  Beibehaltung. 
Und  daß  man  Vau  in  dem  Alphabet  an  seiner  alten  Stelle  ließ, 
war  ganz  selbstverständlich,  warum  hätte  man  ändern  sollen !  Das 
Zeichen  T  erhielt  aber  jetzt  einen  neuen  Namen,  man  nannte  es 
U,  sowie  der  e-Laut  E  (s)  hieß^).  Es  trat  natürlich  im  Alphabet 
hinter  das  letzte  bisherige  Zeichen,  hinter  Tau,  ebenso  wie  die 
später  geschaffenen  Buchstaben  —  außer  J  —  sich  an  dem  Schluß 
anreihen  mußten.  So  lüftet  sich  der  Schleier  des  Geheimnisses, 
warum  das  neue  Zeichen  /  die  Stelle  des  semitischen  Vau  erhielt 
und  das  alte  Zeichen  T  an  den  Schluß  kam.  Genannt  wurde  das 
Vau  lau,  da,  wie  wir  sehen  werden,  /  als  u  gesprochen  wurde. 
Es  scheint  mir  übrigens  möglich,  daß  auch  schon  der  semitische 
Buchstabe  nicht  mit  u,  sondern  mit  u,  also  dem  Mittellaut  zwischen 
u  und  0,  begann;  jedenfalls  verdient  Beachtung,  daß  das  Waw 
den  Iraniern  als  Zeichen  für  den  u-  und  ö-Laut  diente,  s.  Andreas 
und  Wackernagel  NGG  1911,  Ifg. 

V  hatte  später  den  Wert  eines  w,  früher  ist  v  allgemein  al& 
ii  gesprochen  worden.  Auch  im  Diphthong  war  es  von  Haus  aus 
ein  u,  sonst  hätte  sich  hier  v  nicht  in  der  Schrift  eingebürgert. 
In  der  Hauptsache  ist  der  Lautwert  ti  im  Diphthong  auch  ge- 
blieben, obwohl  auch  da  in  manchen  Gegenden  Veränderungen  vor 
sich  gingen,  s.  unten  S.  146  f.  Das  Normale  im  Altgriechischen 
war  also  ii  in  «v,  sv  lange  Zeiten  hindurch.  Auch  in  ccvXa^  und 
den  andern  von  Solmsen  Untersuchungen  z.  griech.  Laut-  und  Vers- 
lehre 1 68  fg.  genannten  Wörtern,  die,  wie  es  scheint,  erst  im  Grie- 
chischen einen  vokalischen  Vorschlags  vokal  erhalten  haben,  ist  es 
mit  dem  v  so  bestellt.  Ebenso  in  evgdyri  u.  a.  Für  ti  in  andern 
Formen  beweisen  diese  Dinge  nichts.     Wenn  auch  zu  fQrjyw^c  im 


1)    Ein   ähnlicher  Fall   liegt   bei   den  Zeichen   für   die  semitischen   Ä-Laute 
▼or,  s.  Sethe  GGN.  1917,  444^  Nilsson  20. 


142  Eduard  H  ermann, 

Aolischen  Augmentformen  wie  sifQuyii  gebildet  wurden,  so  darf 
man  doch  noch  nicht  mit  Solmsen  a.  a.  0.  177  fg.  daraus  den  Schluß 
ziehen,  daß  fQ-  zur  Zeit  dieser  Schreibung  im  Aolischen  als  iir- 
ausgesprochen  wurde.  Hier  liegt  erstens  wieder  der  oben  bei  der 
Kritik  an  v.  Planta  schon  gerügte  Fehler  vor.  Zweitens  beweist 
auch  für  eine  frühere  Zeit  svQdyri  nicht  unbedingt  die  Aussprache 
des  /  gerade  als  u.  Auch  wenn  fg-  als  «/r-  ausgesprochen  wurde, 
so  kann  doch  mit  vorausgehendem  Augment  eur-  immer  wieder 
von  neuem  sofort  entstanden  oder  später  geworden  sein.  Jonisch- 
attisches  iggayr]  setzt  dagegen  allerdings  wohl  voraus,  daß  in  diesen 
Mundarten  /  vor  q-  vorher  spirantisch  geworden  war.  Brugmanns 
Annahme  Grrundriß^  I,  307,  fQ-  hätte  qq-  ergeben,  is^  nicht,  wie 
Solmsen  meint,  wenig  wahrscheinlich,  sondern  unhaltbar.  Gremi- 
nata  ist  im  Anlaut  ebenso  wie  im  Auslaut  unmöglich.  Daß  der 
Ausdruck  Geminata,  genau  genommen,  nur  auf  zwei  gesondert 
hintereinander  hervorgebrachte  Laute  derselben  Art  bezogen  werden 
kann,  beschäftigt  uns  dabei  natürlich  überhaupt  nicht;  denn  auch 
in  dem  andern  Sinn ,  daß  jeder  Konsonant ,  der  sich  auf  zwei 
Silben  verteilt,  Geminata  heißt,  kann  im  Anlaut  nicht  von  einer 
Geminata  die  Rede  sein.  Das  einzige,  was  sich  aus  assimilierten 
Lauten  im  An-  oder  Auslaut  allenfalls  außer  dem  gewöhnlichen  Laut 
zugestehen  läßt,  wäre  ein  langer  Konsonant.  Auch  diesen  werden 
wir  nicht  für  jonisch-attisch  QYJyvv(ii,  wenigstens  nicht  zur  Zeit  der 
jonisch-attischen  Dichtung,  anzusetzen  haben.  Unter  den  verschie- 
denen Möglichkeiten,  die  man  sich  überhaupt  ausdenken  kann, 
scheint  mir  daher  immerhin  Solmsens  Vorschlag,  für  sQQayi^v  von 
einem  spirantischen  /  auszugehen,  bei  weitem  die  annehmbarste 
und  wahrscheinlichste.  Brugmann  hat  sie  denn  auch  KVG  100 
angenommen. 

Der  Unterschied  zwischen  jon.-att.  sQQccyrj,  äol.  s-ugäyr}  ist  aber 
kein  grundsätzlicher  und  durchgreifender,  er  ist  nur  zeitlich.  Überall 
haben  wir  svQvg  u.  s.w.,  nirgends  *SQQvg.  Im  Jonisch -Attischen, 
das  früh  das  /  überhaupt  verloren  hat,  war  es  auch  besonders 
früh  im  Anlaut  vor  q,  vielleicht  auch  m  andern  Stellungen,  spi- 
rantisch geworden.  Dieser  Vorgang  trifft  auch  andre  Mundarten. 
Aus  dem  Lesbischen  sogar  haben  wir  inschriftlich  TcatocQgvöLov  statt 
x«r'  ScQi^öLov  IG  XII,  2, 15, 19  (Schulze,  Gott.  gel.  Anz.  1897,  881  fg.), 
dazu  IG  XII,  2,  500,  u  ävdgQYjaLv,  aus  Pergamon  HoiFmann  Gr.  Dial. 
TL 'R.  148  ©söggritog,  aus  Böotien  BGH  21,  557,  is  Ttgoggs^^tg,  aus 
Gortyn  ccTCoggld-evra  GDI  4991,  IX,  17,  svsgi]iiii£v  . . .  aus  ivefgr^y^sv  . . . 
5001, 8,  g7]x6cii£[v]  4965, 2  digiötog  in  einer  nicht  ganz  aufgeklärten 
Form  4991  IX,  36,    aus  Olus   auf  Kreta  xlsiöiggödoi^  5104  a,  is,   aus 


Silbischer  und  unsilbischer  Laut   gleicher   Artikulation  usw.  143 

Herakleia  eggriysiag,  ccggy^xtco  4629,  ih  und  i<( ;  über  IIolvQQrivCoyv  s. 
unten  S.  147,  aus  dem  Delphischen  h£fitQQ[£]vLa  GDI  2561,  D  »j. 
Demnach  war  in  allen  diesen  Mundarten  /  vor  q  im  Anlaut  ver- 
mutlich spirantisch  geworden,  die  Vorbedingung  für  die  Assimi- 
lation. Statt  /  wird  in  späterer  Zeit  meist  ß  geschrieben  in  La- 
konien,  Kreta,  Elis  u.a.,  in  Pamphylien  qp;  es  unterliegt  keinem 
Zweifel,  daß  /  später  Spirant  war.  Daß  /  im  4.  Jahrhundert 
überhaupt  irgendwo  noch  Halbvokal  war,  ist  mir  sehr  zweifelhaft. 
Es  hat  aber  einmal  einen  durchgreifenden  Unterschied  gegeben, 
■der  nicht  zeitlich  verläuft.  In  einem  Teil  der  Mundarten  ist  / 
vor  den  ö-Lauten  außer  vor  oi  mit  diesen  verschmolzen,  in  dem 
andern  nicht.  Verschmolzen  ist  /  sicher  im  Aolischen,  das  hinter 
Homers  Sprache  steckt,  wie  im  Lesbischen  z.  B.  owav  ßechtel 
Lexilogus  338,  dann  im  Gortynischen  und  den  Nachbarmundarten, 
vielleicht  auch  im  Kyprischen  (??)  vgl.  jetzt  dazu  auch  övd  BGGW 
1910,235,  im  Korinthischen  (s.  J.  Schmidt  KZ  33, 455  fg.) ;  auch 
das  Böotische  (Thumb  IF  9, 313  bcpeiX-  öcpiX-)  und  Thessalische  könnten 
in  Frage  kommen,  s.  Solmsen  Untersuch.  186  fg.  Das  Lakonische, 
das  Solmsen  145  wegen  der  Alkmanstelle  rj  ovx  oQrjg  Parth.  50 
auch  dazu  stellen  wollte,  hat  nach  Ausweis  der  Inschriften  /  auch 
vor  den  o-Lauten  bewahrt.  Die  neu  entdeckten  Inschriften  liefern 
dafür  nicht  nur  Beispiele  aus  junger  Zeit,  die  nach  meiner  Auf- 
fassung IF  32,  358  fg.,  33,  433  allerdings  auch  schon  beweiskräftig 
sind,  sondern  auch  aus  älterer,  z.  B.  Faiaföxö  SGD,  S.  680  "4416, 51, 
/o()'9-a[iat]  S. 682  "3,  foQld-aim]  "4u. s.w.,  s.  auch  S.  706.  So  scheint 
mir  auch  Epicharms  oxx  ögfi  gegen  Solmsen  155  den  Schwund  des 
f  vor  o-Vokalen  für  Syrakus  noch  nicht  zu  gewährleisten.  Die 
Dichtersprache  ist  zu  sehr  abhängig  von  Homer;  wegen  der  lesbi- 
schen ■  Lyriker  vgl.  W.Schulze  GGA  1897,  887 fg.  und  die  Zustim- 
mung bei  Wilamowitz  Sappho  und  Simonides  S.  86  fg.  Eigentüm- 
lich verhalten  sich  in  dieser  Frage  Kreta  und  Arkadien.  Auf 
Kreta  ist  /  verschmolzen  in  Gortyn,  geblieben  in  Olus  und  Aptera 
u.  a.,  s.  Brause,  Lautlehre  d.  kret.  Dialekte  44  fg.  Da  die  Gorty- 
nische  Mundart  so  viel  achäische  Züge  bewahrt  hat,  vgl.  Kieckers, 
Die  lokalen  Verschiedenheiten  im  Dialekte  Kretas  75  fg.,  in  Gegen- 
satz zu  dem  stärker  dorisch  durchsetzten  Osten  und  Westen  der 
Insel,  wird  man  gern  auch  diesen  Schwand  des  /  am  besten  auf 
das  Konto  des  achäischen  Untergrundes  der  mittelkretischen  Mund- 
arten setzen,  während  seine  Erhaltung  dann  dorisches  Gut  sein 
würde.  Der  stärker  dorisierenden  Mundart  von  Hierapytna  oder 
Priansos  wäre  ßmav  GDI  5024, 24  in  dem  Vertrag  Gortyns  und 
Hierapytnas  mit  Priansos  zuzuweisen,  wie  ja  auch  Aptera  in  West- 


144  Eduard  Hermann  , 

kreta  die  Form  Bog^iat  mit  ß  =  /  geliefert  hat,  vgl.  dazu  Brause 
41  fg.,  und  der  Name  der  ostkretischen  Stadt  Olas  auf  einem  Ver- 
trag zwischen  dieser  und  dem  benachbarten  Lato  GDI  5075  mit 
«pirantischem  /  (BoXÖ£{v)tL)  erscheint.  In  Arkadien  sehen  wir  die- 
selbe Verschiedenheit  wie  auf  Kreta :  wir  haben  fo(pX£x66c  IGr  V, 
2,  262, 18  aus  Mantineia  und  foQ^aeCa  IG  V,  2,  429, 13  aus  Kotilion, 
dagegen  h(p}^v  u.  a.  IG  V,  2,  3, 4  aus  Tegea,  dtpsXXovßi  ebda  343,  A,  25 
und  [i]7tioQX£vti  C  1»  aus  Orchomenos.  Die  Geminata  der  Form 
6(pekXov6t  hat  schon  Danielsson  IF  35,  105  Anm.  3  als  einen  spezi- 
fischen Achäismus  angesprochen.  Die  Mundarten  Arkadiens  scheinen 
danach  Achäisches  und  Dorisches  teilweise  stark  durcheinander  ge- 
worfen zu  haben,  was  man  zugeben  wird,  wenn  man  bedenkt,  daß 
die  halbdorische  Xuthiasinschrift  IG  V,  2,  159  ganz  aus  der  Nachbar- 
schaft Tegeas  herstammt.  Daß  /  vor  0  und  g>  im  Dorischen  geblieben 
st,  bezeugt  außer  dem  Lakonischen  argiv.  BoQd^ayögag  GDI  3260, 8 ; 
auch  an  ßoQööv  (StavQÖv  *HXetoi  Hesych  sei  erinnert,  lokr.  fött 
(Wackernagel  Rh  M  48, 301)  ist  zu  unsicher.  Nimmt  man  dazu 
noch,  daß  gerade  die  soviel  Achäisches  aufweisenden  Mundarten 
von  Lesbos,  Thessalien,  Böotien,  Korinth  und  Kypern  (??),  ferner  die 
Homers  anlautendes  /  vor  o-Lauten  verloren  haben,  dann  scheint 
sich  die  für  das  Kretische  und  Arkadische  ausgesprochene  Ver- 
mutung durchaus  zu  bestätigen.  Überall  scheint  die  Verschmel- 
zung mit  den  0- Vokalen  als  ein  Überrest  achäischer  Sprache.  Viel- 
leicht haben  außer  den  Achäern  auch  die  Jonier  einmal  hieran 
teilgehabt ;  denn  der  einzige  Überrest  eines  /-,  der  bei  den  Joniem 
durchschimmert,  ist  der  Biatus  gerade  vor  oi  bei  Herodot  und 
andern  Joniern,  worauf  Wackernagel  Glotta  7,  268  =  Sprachl.  Unters. 
Homer.  108  und  Danielsson  IF  25,  278  hinweisen,  z.  B.  ov  oC.  Da, 
wo  /  im  Anlaut  vor  den  o-Lauten  gefallen  ist,  wird  die  Ähnlichkeit 
der  Artikulation  eines  f  und  eines  0  gewirkt  haben.  Ich  ziehe 
daraus  den  Schluß,  daß  /  im  Achäischen  wie  ehemals  im  Jonischen 
nicht  ohne  weiteres  m,  sondern  ein  zum  0  hinneigendes  u  war. 

Die  Verschmelzung  fand  statt  vor  0  und  co,  die  unter  ein- 
ander nicht  gleicher  Qualität  gewesen  sein  dürften;  die  gegen- 
seitige Annäherung  war  also  verschieden  stark.  Wenn  sie  nicht 
auch  vor  et  stattfand,  so  lag  das  natürlich  an  der  Beschaffen- 
heit dieses  Diphthongs.  Es  ist  aber  doch  wohl  unrichtig,  wenn 
man  glaubt,  daß  0  in  et  offener  als  sonstiges  0  und  to  war.  Wir 
sehen  doch  gerade,  daß  in  den  meisten  Mundarten  0  der  ge- 
schlossene und  03  der  offene  Laut  war;  das  Zeichen  für  to  war  ja 
nicht  wegen  des  Quantitäts-,  sondern  wegen  des  Qualitätsunter- 
schieds  erfunden  worden.     Man  sollte  also   erwarten,    daß  ein  be- 


Silbischer  und  unsilbischer  Laut  gleicher  Artikulation  usw.  j^45 

sonders  offenes  o  in  ot  mit  (o,  nicht  mit  o  geschrieben  worden 
wäre.  Da  dies  nicht  der  Fall  ist,  wird  auch  die  Aussprache  des 
OL  eine  andre  gewesen  sein ;  o  war  vermutlich  auch  in  ot  dem  sonst 
geschlossenen  o  ähnlich.  Aber  nur  ähnlich,  nicht  völlig  gleich! 
Ich  denke  mir,  daß  o  in  ot  geschlossener  war  als  sonst,  ohne  darum 
einem  u  gleich  zu  sein.  Bekanntlich  ist  ot  später  mit  v  zusammen- 
gefallen in  den  Laut  w,  s.  Blaß  Aussprache^  69  fg.  Am  frühesten 
hat  sich  im  Böotischen  ot  diesem  Laut  genähert.  Aus  der  Schrei- 
bung o£  auf  archaischen  Inschriften,  besonders  Tanagras,  können 
wir  den  Weg  der  Entwicklung  zum  Teil  verfolgen;  Thumb  hat 
ihn  Handb.  gr.  Dial.  224  durch  Einschiebung  von  ue  so  ergänzt: 
oj,  oe,  ue,  iL  Ich  glaube  darum,  daß  auch  in  andern  Mundarten  o 
in  ot  über  ein  stark  geschlossenes  o  hinweg  die  Kontraktion  zu  ü 
anbahnte.  Also  nicht  ö-artig,  wie  Brugmann-Thumb*  46,  57  ange- 
genommen wird,  scheint  mir  der  o-Laut  von  ot  gewesen  zu  sein, 
sondern  im  Gegenteil  geschlossener  als  gewöhnlich.  Für  diesen 
Laut  verwandte  man  selbstverständlich  o  und  nicht  o.  Wie  wir 
aber  schon  in  verschiedenen  Sprachen  vor  u  ein  stärker  geschlos- 
senes u  beobacliten  konnten,  so  wird  man  auch  in  diesem  Fall  im 
Streben,  /  und  ot  deutlich  zu  artikulieren,  das  anlautende  u  stärker 
als  sonst  geschlossen  haben.  Diesen  Vorgang  haben  wir  zeitlich 
selbstverständlich  vor  die  Verschmelzung  von  /  mit  o/co  anzu- 
setzen, bei  der  sich  eine  ähnliche  Dissimilation  eben  nicht  wieder- 
holt hat.  Man  mag  diese  Auseinandersetzungen  etwas  ausgetüftelt 
finden,  ich  glaube  aber  doch  in  diesem  Zusammenhäng  verpflichtet 
zu  sein  anzugeben,  wie  ich  mir  eine  Erklärung  denke.  —  Meillets 
Äußerungen  Griotta  2,  27  über  stimmhaftes  Digamma  vor  ot  im 
Pamphylischen  legen  nur  die  Aussprache  fest,  ohne  die  Erhaltung 
des  Digamma  vor  ot  zu  erklären. 

Zu  diesem  Ergebnis,  daß  /  ein  zum  o  hinneigendes  u  war,  stimmen 
noch  weitere  Tatsachen.  In  dem  Gortyn  benachbarten  Vaxos  schrieb 
man  /  bis  ins  2.  Jahrhundert  fccxöCöv  u.  s.  w.,  s.  Brause  49.  Die 
Aussprache  muß  aber  einem  o  recht  ähnlich  gewesen  sein ;  denn 
übereinstimmend  in  zwei  Gegenden  Griechenlands  wurde  der  Vaxier 
als  'Odl^iog  bezeichnet.  Wenn  sich  der  Vaxier  fd^Log  nannte,  so 
klang  das  offenbar  für  andre  Griechen  nicht  viel  anders  als  'Od^tog, 
So  lautet  daher  der  Name  auf  einem  attischen  Leichenstein  GDI 
5148  a,  auf  einer  delphischen  Freilassungsurkunde  1951,6  und  auf 
einem  Beschluß  des  ätolischen  Bundes  1412,  3  und  5,  s.  Brause  40  fg. 
W.  Schulze  charakterisiert  die  Schreibung  KZ  33,  395  nicht  genügend^ 
wenn  er  sagt,  daß  '/  den  meisten  Griechen  ungeläufig  und  unbe- 
quem war  und  deshalb  wiedergegeben  wurde,    so  gut  es  eben  an- 

Kgl.  Ges.  d.  Wiss.    Nachrichten.    Phil.hist.  Klasse.    1918.    Heft  1.  10 


146  Eduard  Hermann, 

ging'.  Die  Orthographie  der  delphischen  wie  der  ätolischen  In- 
schrift ist  dabei  Tielmehr  sehr  bemerkenswert.  In  der  Freilassungs- 
urkunde wird  der  Vaxier  Krinolaos  in  delphischer  Mundart  y^lto^ 
genannt;  als  ßsßai^cotfiQsg  zeichnen  zwei  Vaxier  mit  ihrer  Unter- 
schrift, sie  nennen  sich  selber  noch  M^iol  mit  /,  aber  dieses  / 
vermögen  sie  mit  den  Zeichen,  die  in  Delphi  damals  üblich  waren, 
nur  durch  o  auszudrücken.  Ganz  ähnlich  ist  es  in  dem  ebenfalls 
aus  Delphi  stammenden  Beschluß  der  Ätoler.  Hier  werden  die 
Vaxier  nach  der  in  Delphi  üblichen  Orthographie  als  X)di^ioi  be- 
zeichnet GDI  1412,  dagegen  in  dem  eingelegten  Schreiben  der 
Vaxier,  das  in  kretischer  Mundart  gehalten  ist,  als  M^lol  (bez. 
fav^ioi)  GDI  5151.  Auch  Stephanos  von  Byzanz  ed.  Meineke  I,  482 
spricht  von  "Occlos  xoXig  Kq7]t^s  und  nennt  den  Bürger  der  Stadt 
'Ow|fcog.  Auch  an  ^OtXsvg  =  piXsvg  ist  zu  erinnern,  vgl.  besonders 
Kretschmer,  Wiener  Eranos  zur  Philologenvers,  in  Graz  S.  121, 
obwohl  ein  Schluß  auf  die  Aussprache  des  lokrischen  Digamma 
darum  noch  nicht  erlaubt  ist.  Das  arkadische  oXoatg  IG  V,  2,  514,  is 
würde  sich  auch  heranziehen  lassen,  wenn  es  feststände,  daß  hier 
0  für  /  gebraucht  ist,  vgl.  Prellwitz  Bursians  Jahresber.  106,  105  fg. 
Aus  der  griechischen  Umschreibung  des  lateinischen  v  in  Eigen- 
namen, die  Schulze  a  a.  0.  nennt,  möchte  ich  für  das  Griechische 
keine  Schlüsse  ziehen,  da  solche  Zeugnisse  ebenso  gut  nur  für  das 
Lateinische  etwas  beweisen  können. 

Auch  Schreibungen  andrer  Art  aus  Gortyn  und  Umgegend 
führen  ebenfalls  auf  ein  o-artiges  /,  und  zwar  als  Ubergangslaut. 
Wir  finden  diesen  nicht  nur  zwischen  u  und  o  in  rLtvfog  (neben  tirov- 
/«(?^ö  aus  Vaxos  Brause  40),  sondern  auch  in  raJ^vQog^  \a]fvtdv  und 
cc^e/vöaad^uL  (Brause  39).  Da  wir  Anlaß  haben  zu  vermuten,  daß  v 
in  Gortyn  noch  lange  Zeit  u  war  und  /  wenigstens  in  diesen  Wörtern 
keinen  Spiranten  bedeuten  kann,  weil  ja  sonst  der  Diphthong  in 
zwei  Silben  zerfiele,  was  wir  doch  kaum  annehmen  werden,  ein  u 
und  II  aber  in  einer  Silbe  noch  dazu  hinter  einem  a,  e  derselben  Silbe 
nicht  aussprechbar  sind,  bleibt  kaum  etwas  anderes  als  ein  o-haltiges 
u  für  /  übrig.  Es  ist  eine  phonetisch  genaue  Umschreibung  des 
Diphthongs,  der  aus  a,  bez.  e,  einem  Gleitlaut  u  und  einem  u  be- 
steht. Der  Gleitlaut  wird  zwischen  der  Artikulation  von  a,  bez. 
e  und  der  von  u  liegen.  Ein  solcher  Laut  kann  nur  o-artig  sein. 
Die  Schreibung  äj'töv  SGD  4962, 4  'AfXövi  ebenda  s  und  i  dagegen 
berücksichtigt  vielleicht  nur  diesen  —  ursprünglichen  Gleit — Laut*). 
Ebenso  wird  -sfd'Sy  uroftog,  6/trö,  ßoföC  (Brause  18)   aus  Gortyn, 


1)  Vgl.  dazu  auch  'OfutC7i<i  für  Ovar6]s  DGI  5295. 


Silbischer  und  unsilbisclier  liaut  gleicher  Artikulation  usw.  147 

o/ro  aus  Eleutherna,  öTtofddccv,  dazu  .  ./kos  GDI  5125a  aus  Vaxos 
(Brause  30)  aufzufassen  sein.  Ein  Beispiel  wie  öjtofdödv  belehrt  uns 
außerdem  mit  aller  nur  wünschenswerten  Genauigkeit  darüber,  daß 
der  Gleitlaut,  wie  überhaupt  /,  nicht  dem  o  ganz  gleich  war,  son- 
dern ein  Mittellaut  zwischen  o  und  u.  Wahrscheinlich  hatte  im 
Diphthong  vor  Konsonant  der  Gleitlaut  in  Gortyn  und  Nachbar- 
schaft das  u,  das  von  alters  her  zweiter  Bestandteil  des  Diph- 
thongs gewesen  war,  fast  überwuchert.  Wenn  gleichwohl  der 
Diphthong  vor  Konsonant  nur  in  ganz  alter  Zeit  mit  /  geschrieben 
wird,  dagegen  in  der  großen  Inschrift  von  Gortyn  ausnahmslos 
mit  V  (Brause  40),  so  ist  auch  das  sehr  wohl  verständlich.  Man 
war  ja  in  Griechenland  gewohnt,  zum  Ausdruck  des  zweiten  Teils 
•des  Diphthongs  ein  Zeichen  zu  gebrauchen,  das  sonst  schon  längst 
•eine  andre  Bedeutung  erhalten  hatte.  In  Athen  und  anderwärts 
war  V  sonst  das  Zeichen  für  ü]  im  Diphthong  drückte  es  hier 
aber  noch  den  Wert  u  aus.  So  ist  es  also  kein  Wunder,  wenn 
man  auch  in  Gortyn  anfing,  in  Verbindungen  wie  av,  sv  etwas 
anderes  als  die  Vokale  a  ^  u ,  e  +  u  zu  sehen.  Das  konnte  umso 
leichter  geschehen,  wenn  f  in  andern  Stellungen  (im  Anlaut)  in- 
zwischen schon  spirantisch  geworden  war,  worauf  nicht  nur  ß 
in  ötaßei'jtd^B[vo<s'\  GDI  5004,  ii  deutet  (Brause  39) ,  sondern  vor 
allem  auch  die  nur  aus  spirantischer  Aussprache  eines  anlautenden 
/  erklärliche  Assimilation  in  a.Tto^Qsd'Evta  usw.  spricht,  s.  die  oben 
S.  142  fg.  genannten  Beispiele.  Wenn  der  Name  der  Stadt  Polyrhen 
^uf  den  einheimischen  Münzen  stets  als  TIoXvq^v  erscheint,  dagegen 
auf  auswärtigen  Inschriften  (Teos  und  Magnesia)  als  TIoXvqqyiv, 
so  ist  das  erstere  vielleicht  die  einheimische  lautgesetzliche  Weiter- 
entwicklung eines  älteren  Sprachzustands ,  wo  /  Halbvokal  war 
und  sich  mit  dem  vorausgehenden  v  in  einen  Laut  vereinigte,  wäh- 
rend die  beiden  andern  Beispiele  die  Aussprache  des  Namens  in 
den  Städten  Teos  und  Magnesia  darbieten  könnten;  ebenso  ist  arkad. 
ßvj^oiKiav  IG  V,  2,  343  C  23  trotz  des  assimilierten  v  mit  einfachem  / 
-hinter  dem  v  aufzufassen.  Nebenher  sei  bemerkt,  daß  ß  in  BaxCvd'iog 
aus  Lato  auf  Kreta  ebenfalls  spirantisches  /  bezeichnen  wird.  Brause 
zieht  S.  12  aus  der  Schreibung  den  Schluß,  daß  demnach  damals  das 
Ypsilon  als  u  ausgesprochen  worden  sei,  weil  /  nur  aus  u,  nicht 
aus  /(*  hervorgegangen  sein  könne.  Ganz  abgesehen  von  der  Her- 
kunft, über  die  Kretschmer  Wiener  Eranos  118  fg.,  vgl.  Glotta  7,  332 
richtiger  urteilt,  sieht  man  nicht  ein,  warum  zur  Zeit  der  Schreibung 
Bazivd'iog  interkonsonantisches  u  nicht  ü  hätte  geworden  sein  können. 
Wieder  einmal  werden  Ausgangspunkt  eines  Lautwandels  und  spätere 
Äeit  der  Aussprache  verwechselt.    Genau  denselben  typischen  Fehler 

'  10* 


148  Eduard  Hermann, 

macht  Brause,  wenn  er  S.  43  aus  Baxiv&tog  schließt,  daß  mit  ß  nur 
^  gemeint  sein  könne.  Als  ob  nicht  auch  dieses  u  zu  irgend  einer 
Zeit  zum  Spiranten  w  hätte  werden  können!  Die  Orthographie  ß 
spricht  eben  doch  gerade  dafür,  daß  /  zu  tv  geworden  war. 

Ganz  ähnlich  wie  für  Gortyn  wird  man  den  Gleitlaut  /  zu 
beurteilen  haben,  wenn  er  in  andern  Gegenden,  vgl.  Brugmann- 
Thumb'' 460,  auftritt,  so  z.  ß.  in  Korinth  und  seinen  Kolonien 
ä/vtdv,  "E/»£C[€cgl  EvfaQiog  GDI  IV,  S.  387,  in  Mantineia  in  Ar- 
kadien EvfaCv[ö\  Eif/höf  EvfdvoQ\o]g  IG  I¥,  2,  323, 2  und  5  und  15 
auf  Kypern  F^qv/os,  dvfdvoi,  EvfayoQÖ,  'Aar 86xsvfa6€,  vfalg  Hoif- 
mann  Gr.  Dial.  1,  195  fg.  Kyprisch  ifQsräaatv  steht  vielleicht 
auch  auf  derselben  Stufe  wie  gortyn.  «/toV,  sicherlich  ist  das  aber 
der  Fall  bei  dem  bisher  verkannten  0  •  vo '  Ica '  re,  das  man  unrichtige 
(ygl.  auch  Sommer  Glotta  1, 154)  ov  yuQ  zu  umschreiben  pflegt, 
während  man  6/  yccQ  schreiben  muß.  Dieses  6/  yäg  ist  also  ganz 
so  zu  verstehen  wie  öTtopdddv  aus  Vaxos.  Auch  im  kyprischen 
Diphthong  hat  sich  das  v  zum  /  hin  verschoben.  Aber  hier  haben 
wir  auch  svfQlxaaaxv  daneben.  Ist  das  eine  Vermischung  phone- 
tischer und  historischer  Schreibweise,  oder  hat  sich  im  Kyprischen 
vor  dem  q  hinter  dem  Diphthong  sv,  der,  nach  äol.  evqdyri  zu  ur- 
teilen ,  von  alters  her  beim  Augment  der  mit  /  +  Konsonant  be- 
ginnenden Verba  berechtigt  war,  der  Übergangslaut  f  =  '*  einge- 
stellt? Auch  xsvevj'ov  kaim  jetzt  verständlich  werden.  Hier  ge- 
hörte das  etymologische  n  zur  Silbe  des  folgenden  0.  Klang  da 
der  Laut  in  dem  an  0  angrenzenden  Teil  vielleicht  ein  wenig 
anders,  mehr  zum  0  hin  als  der  erste  Teil,  und  hat  das  der  Schreiber 
durch  vp  bezeichnet?  Man  vergleiche  übrigens  das  weißrussische 
tivajsuoyi  bei  Berneker  Slav.  Chrestomathie  S.  102  für  g«oßr.  vosol 
und  weiter  Schreibungen  wie  got.  übadila  usw.  in  lateinischen  Ur- 
kunden, Braune  Got.  Gramm.*  23  u.  ä. 

Wenn  intervokalisches  f  spirantisch  wurde,  konnte  das  aus 
dem  Gleitlaut  hervorgegangene  p  ebenfalls  spirantisch  werden, 
wofür  lakonische  Schreibungen  wie  EvßdvoQog,  EvßdXx^i^g,  GDI  IV, 
S.  707  Zeugen  sind.  Dasselbe  scheint  von  dem  stimmhaften  Di- 
gamma  im  Pamphylischen  zu  gelten,  in  2J£Xv}huvg,  ferner  a}\tat6i, 
da  he^ora  ja  rjßcota  zu  sein  scheint  und  die  Grammatiker  pam- 
phylisches  /  durch  ß  wiedergeben :  dahin  werden  Meillets  Bemer- 
kungen Glotta  2,  26  fg.  richtig  zu  stellen  sein.  Als  eine  Parallel- 
erscheinung aus  einer  andern  Sprache  erwähne  ich  aus  einer  nord- 
preußisch-litauischen Mundart  Je(;a5^  =  jei  cisb  Mit.  lit.  lit.  Ges.  2, 31. 

Auch  außerhalb  des  Gebietes,  das  /  bewahrt  hat,  findet  man 
den  Gleitlaut   durch  p    dargestellt:   auf  jonischem   und   attischem 


Silbischer  und  unsilbischer  Laut   gleicher  Artikulation  usw.  149 

Gebiet  in  afvto,  vafvTCiiyög  usw.  GrDI  IV,  S.  925  Meisterhans- 
Schwyzer  Gramm,  att.  Inscbr.*  3,  Anm.  15.  Wiederum  beweist  die 
Stellung  vor  einem  u  derselben  Silbe,  daß  mit  /  ein  Laut  zwischen 
0  und  u  gemeint  sein  wird,  da  ja  Spirant  ausgeschlossen  scheint. 
Zu  diesem  Ergebnis,  daß  der  im  Diphthong  entwickelte  Grleitlaut 
einem  o  nahe  kam,  stimmt  sehr  gut  die  Darstellung  des  ganzen 
zweiten  Teils  des  Diphthongs  durch  o,  wie  sie  besonders  auf  jo- 
nischen und  inseldorischen  Inschriften  bezeugt  ist  mit  eo,  ao  für 
^v,  av^  s.  Brugmann-Thumb*  60. 

Besondere  Erwähnung  verdient  der  Übergangslaut  in  dem  rho- 
dischen  Grenetiv  Uaöiadafö  GrDI  4247  u.  a.  vgl.  Brugmann-Thumb* 
263,  weil  er  zwischen  a  und  o  kaum  ein  o-haltiges  ii  gewesen 
sein  wird ;  denn  wenn  man  von  einem  a  zu  einem  o  gelangen  will, 
stellt  sich  nicht  ?*  als  Gleitlaut  ein.  Ganz  ähnlich  steht  es  mit 
jonisch  'Ayaßuk'efö  Jahrb.  arch.  Inst.  1899,  Anz.  S.  142.  War  hier 
/  vielleicht  zum  orthographischen  Zeichen  des  Silbentrenners  zwischen 
Vokalen  herabgesunken,  wie  bei  uns  in  ich  gehe  oder  in  lat.  ahenus 
s.  Sommer^  154  Anm.  192  und  ähnlich  im  Oskisch-Umbrischen  s. 
v.  Planta  I,  60  h  ohne  etymologische  Berechtigung  gebraucht  wird  ? 
Eine  ganze  Anzahl  von  Beispielen  mit  /  zwischen  «,  ri  oder  i  und 
o  bringt  R.  Meister  BSGW  1911,  25  aus  dem  Kjrprischen  und  Alt- 
phrygischen.  -^ 

Manchmal  finden  wir  /  vor  o,  w  auch  in  denjenigen  Mund- 
arten, die  /  mit  o,  co  vereinigt  haben.  So  wird  /(5?  in  Gortyn  mit 
p  geschrieben  und  zeigt  bei  Homar  Digammawirkung.  Aus  den 
andern  Mundarten,  die  /  mit  o-Laut  verbunden  haben,  fehlt  ein 
Beleg  dieses  Wortes.  Sollte  aber  /dg  wirklich,  wie  Brugmann- 
Thumb*  46  annimmt,  Analogieform  sein?  Undigam viertes  ön^  ist 
nur  beweiskräftig,  wenn  in  seinem  ersten  Stück  wirklich  *suod- 
steckt,  was  ich  bezweifle,  s.  Griech.  Forsch.  I,  229,  Ist  etwa  nur 
ungedecktes/  mit  o/co  zusammengeflossen,  das  aus  <?/  entstandene, 
sogenante  stimmlose  nicht?  Verrät  sich  darin  vielleicht  aspirierte 
Aussprache  des  stimmlosen  /?  Der  Hauchlaut  zwischen  /  und 
o/o3  war  ja  wohl  geeignet ,  die  Vereinigung  zu  verhindern.  Die 
Festigkeit  des  /  war  jedenfalls  im  Griechischen  ganz  anders  auf 
die  Stellung  in  der  Silbe  verteilt  als  in  den  bisher  besprochenen 
Sprachen.  Auch  hinter  inlautendem  Konsonant  hielt  sich  /  vor 
o,  CO  in  manchen  der  Mundarten,  die  es  im  ungedeckten  Anlaut  mit 
o,  CO  verbanden;  die  äolische  Mundart,  die  hinter  Homers  Sprache 
steckt,  war  allerdings  vielleicht  davon  ausgenommen,  s.  unten  S.  154. 

Eine  besondere  Stellung  nehmen  Personennamen  ein,  weil  sie 
auch   aus   andern  Mundarten   stammen   können.     Wie  steht  es  da 


250  EduardHermann, 

aber  mit  dem  Kyprischen  ?  Wir  haben  Hoömann  Grr.  Dial.  I,  S.  193* 
'EaiÖQOS,  VvccötöQog,  aber  Ttfto/o[()ö],  ftgodogö?  Sind  die  Formen^ 
mit  /  nicht  dialektecht?  Es  kommt  hinzu,  daß  vielleicht  auch 
d-vQafö[Q6g]  anzuerkennen  ist,  ein  Wort,  das  leider  nicht  so  sicher 
steht,  wie  Hoffmann  S.  95  glaubt.  Die  neue  Inschrift  SBA  1910, 
151  liefert  dazu  noch  Zö/oqö^  das  durch  Haplologie  aus  ^ZöfofÖQÖ 
entstanden  sein  wird,  nach  Zöfo^e^ig  BSGW  1911, 32  zu  urteilen. 
Ist  etwa  nur  pöqoöoqö  nicht  dialektecht  oder  falsch  gelesen,  und 
^  in  'fÖQog  auf  den  Inlaut  zu  schieben?  Aber  fast  sieht  es  doch 
vielmehr  so  aus,  als  ob  /-  vor  o/o  im  Kyprischen  nicht  geschwunden 
sei;  sind  dann  Wörter  wie  OQxog,  ojvvd  aus  andrer  Mundart  ins 
Kyprische  gewandert?  Oder  steht  es  so  wie  auf  Kreta  und  i» 
Arkadien,  s.  S.  14.  Das  Richtigste  ist  wohl,  mit  dem  Urteil,  wie 
es  Solmsen  KZ  32,  287  tat,  zurückzuhalten,  bis  neue  Beispiele  einen 
sicheren  Schluß  erlauben.  Ich  habe  daher  oben  S.  144  bei  Auf- 
zählung der  Mundarten  die  /-  mit  olo  haben  verschmelzen  lassen, 
hinter  das  Kyprische  zwei  Fragezeichen  gesetzt.  Jedenfalls  geht 
es  aber  nicht  an,  so  wie  es  bei  Brugmann-Thumb*  46  geschieht,  das 
Kyprische  ohne  Einschränkung  für  diesen  Lautwandel  anzuführen. 

Die  Aussprache  des  /  möchte  ich  noch  etwas  weiter  verfolgen  1 
Solmsen  hatte  Untersuch.  129  fg.,  besonders  161  fg.  für  Homer  im 
Anlaut  die  Aussprache  u  und  Silbentrennung  vor  dem  vorausgehenden 
Konsonanten  aus  dem  Fehlen  der  Position  in  Thesis  bei  auslautendem 
V,  Q  vor  anlautendem  /  festgestellt  und  in  der  Weiterentwicklung 
von  inlautenden  vj",  qJ",  kß  ohne  Ersatzdehnung  z.  B.  im  Attischen 
eine  Bestätigung  hierfür  gefunden.  Einem  solchen  Resultat  hat 
Danielsson  IF  25, 264  fg.  für  Homer  widersprochen  und  dagegen 
S.  274  fg.  vier  Einwände  formuliert.  Diese  sind  nach  meiner  Über- 
zeugung alle  vier  nicht  stichhaltig.  Daß  die  Silbenanlaute  nn  und 
ru  im  Griechischen  und  den  andern  indogermanischen  Sprachen 
sonst  nicht  vorhanden  oder  äußerst  selten  sind,  ist  ebensowenig 
ein  ernstlicher  Einwand  wie  die  Tatsache,  daß  im  Indischen  und 
Lateinischen  Silben  vor  nu  und  ru  Position  erleiden.  Auch  daß. 
der  Vergleich  mit  Muta  +  Liquida  nicht  stimmen  soll,  Will  nicht 
viel  besagen.  Der  Unterschied,  den  Danielsson  herausliest,  besteht 
noch  dazu  nicht  ganz  so.  Es  ist  allerdings  richtig,  daß  Muta  und 
Liquida  im  Griechischen  stets  Position  bilden,  wenn  sie  zwei  ver- 
schiedenen Wörtern  angehören.  Aber  Danielsson  übersieht,  daß- 
diese  zwei  Wörter,  weil  nur  ix  in  betracht  kommt,  immer  einen 
Konnex  bilden,  der  auch  bei  -v,  -q  +  /-  im  Epos  jederzeit  Position 
gelten  läßt. 

Am  schwersten  wiegt  scheinbar  der  an  erster  Stelle  gemachte^ 


Silbischer  und  unsilbischer  Laut   gleicher  Artikulation  usw.  151 

Einwurf,  auf  den  Danielsson  selbst  am  wenigsten  Grewicht  legen 
will.  Wenn  im  lockeren  Wortverband  wie  A  106  in  xg^yvov  einag 
ebenso  wie  im  kompositionellen  Inlaut  z.  B.  A  555  in  jcagsCTty  der 
auslautende  Konsonant  zur  folgenden  Silbe  gezogen,  dagegen  im 
engeren,  enklitischen  Konnex  wie  a  239  in  tc3  xev  ol  die  beiden 
Konsonanten  getrennt  werden,  so  scheint  das  allerdings  ein  sonder- 
barer Widerspruch  zu  sein.  Ich  sehe  aber  nur  nicht,  daß  er  für 
Solmsens  Theorie  verhängnisvoller  ist  als  für  die  Danielssons.  Ganz 
gleichgültig,  ob  man  /  für  Homer  anerkennt  oder  nicht,  wird  man 
naQSiitri  mit  der  Messung  des  x4.nlauts  im  lockeren  Wort  verband 
entweder  nur  daraus  erklären  können,  daß  die  Wortstellung  xev 
ol  älter  sein  wird  als  itag  vor  sim^^  oder  daraus,  daß  sich  unri  in 
nagsCnri  analogisch  nach  dem  Anlaut  des  Simplex  gerichtet  hat. 
Der  schwedische  Gelehrte  hat  leider  keinen  Versuch  gemacht,  den 
Widerspruch  mit  seiner  eigenen  Theorie  in  Einklang  zu  bringen. 
Aber  obwoEl  ich  seine  vier  negativen  Argumente  gegen  Solmsen 
nicht  anerkennen  kann,  stimme  ich  doch  mit  seinem  Urteil  (S.  276  fg.) 
über  /  bei  Homer  überein:  Das  einst  vorhandene  Digamma  war 
im  Wortanlaut  geschwunden.  Die  andre  Möglichkeit,  die  er  noch 
offen  läßt,  daß  /  wenigstens  stark  reduziert  war,  muß  ich  ab- 
lehnen; denn  ich  kann  mir  unter  diesem  reduzierten  Laut  nichts 
Rechtes  vorstellen.  Ich  meine  vielmehr,  daß  Homer  (der  oder  die 
Dichter  der  Ilias  und  Odyssee)  als  Jonier  /  sogar  im  Wort- 
inlaut nicht  mehr  sprach.  Wenn  er  seine  Dichtung  niederge- 
schrieben hätte,  würde  er  nirgends  /  gesetzt  haben.  Wohl  aber 
respektierte  er,  den  Gesetzen  der  epischen  Kunst  entsprechend, 
in  der  Mehrzahl  der  Fälle  noch  die  ehemalige  Wirkung  dieses 
Konsonanten,  wie  ja  auch  Herodot  noch  ov  ol  und  die  jonischen 
Jambiker  ov8b  ol  anwenden,  s.  Wackernagel  Sprachl.  Unt.  Homer 
108  =  Glotta  7, 268  und  Danielsson  IF  25,  278.  Für  diese  Ansicht 
scheinen  mir  folgende  Gründe  ausschlaggebend  zu  sein :  1)  Kürzung 
eines  langen  Vokals  und  Elision  sind  nur  verständlich,  wenn  das 
folgende  /  überhaupt  nicht  mehr  gesprochen  wurde.  Die  Zahl 
dieser  Fälle  ist  zu  groß  und  ihre  Verteilung  auf  die  Gesänge  der- 
artig, daß  es  nicht  angeht,  alle  in  Betracht  kommenden  Verse  als 
jüngeres  Machwerk  zu  verdächtigen.  2)  Der  Dichter  der  lUas  wie 
der  Odyssee  war  ein  Jonier;  was  an  Wirkungen  ehemaligen  Di- 
gammas  vorliegt,  scheint  äolisch  zu  sein.  Bei  Annahme  einer 
fremden  Mundart  pflegt  man  aber  seine  eigenen  Laute  zu  substi- 
tuieren und  einen  fremden  Laut  überhaupt  nicht  so  leicht  aufzu- 
nehmen, vgl.  Griech.  Forsch.  1,  216.  3)  Unsere  Überlieferung  weiß 
nichts  von  einem  Digamma  bei  Homer,  obwohl  sie  diesen  Laut  der 


152  Eduard  Hermann 


lesbischen  Lyrik  zuerkennt.  Das  wird  kein  Zufall  sein.  Ich  glaube 
daher,  daß  /  nicht  in  den  Homertext  gehört.  Solmsen  scheint  aber 
gemeint  zu  haben,  daß  /  da  zu  schreiben  sei,  wo  seine  Wirkung 
verspürt  werde ;  ebenso  verstehe  ich  die  Darlegungen  Meillets 
MSL  16,  31  fg.  Es  wäre  nur  wünschenswert,  wenn  jeder  Grelehrte, 
der  f  bei  Homer  behandelt,  sich  über  diesen  Punkt  so  deutlich 
wie  z.  B.  Cauer  Grrundlagen*^  155  ausspräche  und  nicht  dabei  im 
Unklaren  ließe,  wie  er  im  einzelnen  Fall  für  F  den  Text  gestaltet 
sehen  möchte,  v.  Wilamowitz'  Vorschlag,  Die  Ilias  und  Homer  10 
Anm.  2,  /  als  eine  Form  des  Spiritus  in  den  Texten  zu  verwenden, 
hätte  nur  eine  Berechtigung,  wenn  /  bei  Homer  ein  reduzierter 
Laut  war.  Wurde  /  dagegen  von  dem  Dichter  nicht  mehr  ge- 
sprochen, dann  darf  auch  kein  Zeichen  dafür  eingesetzt  werden, 
wenn  auch  die  Wirkung  des  Vau  manchmal  noch  zu  spüren  ist. 

Diese  Wirkung  zeigt  sich  noch  in  der  Position  eines  Konnexes 
wie  xev  ol  gegenüber  der  Kürze  bei  lockerem  Wortverband  wie 
in  xQYJyvov  eiTtag.  Mit  Recht  hat  Danielsson  in  der  Position  die 
über  den  Schwund  des  /  hinaus  in  der  altertümlichen  Dichter- 
sprache noch  andauernde  Kraft  des  einstigen  Konsonanten  gesehen. 
Die  äolischen  Vorgänger  Homers  sprachen  /  noch,  Homer  selbst 
hat  nur  die  Technik  der  äolischen  Positionsbemessung  vielfach 
beibehalten ,  ohne  den  ihm  fremden  Laut  zu  übernehmen.  Die 
Äolier  vor  Homer  sprachen  /  als  Halbvokal  im  Anlaut,  also  in 
^QYiyvov  siTcag  und  in  TcaQscTtt],  dagegen  vielleicht  als  Spirant  im  Inlaut, 
also  auch  in  Ttev  ol.  Solmsens  für  Homer  ausgedachte  Verteilung  der 
Aussprache  und  der  damit  zusammenhängenden  Positionsbildung,  die 
nur  vor  dem  Spiranten,  nicht  vor  dem  Halbvokal  möglich  war, 
gilt  also  nicht  für  den  Dichter  der  beiden  großen  Epen,  sondern 
höchstens  für  die  äolischen  Vorgänger.  Jetzt  erst  wird  alles  recht 
verständlich.  Da  Homer  /  überhaupt  nicht  mehr  kannte,  verstieß  er 
in  der  Kurzmessung  in  der  Fuge  xQrjyvov  slnag  natürlich  gar  nicht 
gegen  die  hergebrachte  Technik ;  die  auslautenden  Vokale  vor  ehe- 
maligem /  des  Wortanlautes  dagegen  behandelte  er,  wenn  auch 
nur  manchmal,  auch  nach  Maßgabe  seiner  eignen  Aussprache  in 
Gegensatz  zur  überlieferten  Dichtersprache. 

Daß  man  sich  /-  bei  Homer  so,  wie  auseinandergesetzt,  zurecht 
legen  muß,  bestätigen  die  von  Meillet  MSL  16,  31  fg.  aufgedeckten 
Tatsachen.  Danach  ist  erhaltene  Länge  eines  langen  Vokals  oder 
Diphthongs  in  Senkung  keineswegs  ohne  weiteres  das  Normale 
vor  digammatischem  Anlaut,  sondern  nur  in  syntaktischen  Kon- 
nexen und  in  formelhaften  Wendungen.  In  Ausdrücken,  die  nicht 
formelhaft  auftreten,   wird  gekürzt.     Also  hat  Homer  anlautendes 


Silbischer  und  unsilbischer  Laut   gleicher  Artikulation  usw.  153 

Digamma  nicht  mehr  gesprochen,  er  hat  nur  eine  Zahl  von  For- 
meln und  syntaktischen  Gebilden  mit  der  alten  Messung  bewahrt. 
Das  stimmt  auch  genau  zu  den  Ausführungen  Danielssons,  daß 
Hiat  wie  Erhaltung  der  Länge  vor  /-  bei  Homer  auf  ganz  be- 
stimmte Fälle  beschränkt  ist.  Es  zeigt  sich  eben  in  jeder  Bezie- 
hung, daß  /  bei  Homer  anders  behandelt  ist  als  ein  wirklicher 
Konsonant.  Demnach  ist  es  verkehrt,  mit  Meillet  S.  41  fg.  die 
fehlende  Positionslänge  vor  /-  in  der  Wortfuge  in  Anschluß  an 
Sommer  Grlotta  1,  145  fg.  mit  Homers  Scheu  vor  Position  in  der 
Fuge  überhaupt  oder  auch  nur  mit  der  entsprechenden  Erschei- 
nung bei  Muta  cum  Liquida  und  bei  a-  +  Konsonant  oder  t,-  auf 
eine  Stufe  zu  stellen.  Vor  diesen  Lauten  wird  nicht  wie  vor  ge- 
schwundenem .F-  irgendwo  Länge  gekürzt  oder  Kürze  elidiert.  Die 
Positionsbildung  hier  wird  nicht  radikal  außer  in  Konnexen  ver- 
nachlässigt, sondern,  wenngleich  der  Dichter  Positionsbildung  in 
der  Fuge  nicht  gerne  anwendet,  so  herrscht  doch  auch  Vernach- 
lässigung der  Position  nicht  unumschränkt,  sondern  erscheint  bei 
Muta -f  Liquida  564  mal  unter  604  Fällen  in  jambisch-anlautenden, 
sonst  nicht  verwendbaren  Verbindungen,  während  (7-  -f  Konsonant 
und  l'  gar  27  mal  unter  27  Fällen  so  vorkommen. 

Wir  gelangen  also  zu  dem  Ergebnis,  daß  zwar  Homer  (bez. 
die  beiden  Dichter  derllias  und  Odyssee)  anlautendes 
/-  vor  Vokal  nicht  mehr  gekannt  hat,  daß  es  aber  in 
der  äolischen  Dichtersprache,  in  der  vor  Homer  das 
Epos  gepflegt  wurde,  ein  Halbvokal  gewesen  sein 
muß,  und  zwar  war  es  da  ein  Mittellaut  zwischen  u 
und  0.  Wenn  vor  diesem  Halbvokal  einst  Elision  und  Vokalkür- 
zung ausgeschlossen  waren,  während  sich  beides  vor  Vokal  fand, 
so  ist  man  berechtigt  zu  fragen,  worauf  denn  dieser  Unterschied 
beruhe.  Die  Antwort  wird  lauten  müssen,  daß  er  ebenso  wie 
bei  Elision  vor  Vokal,  aber  Hiatus  vor  v^  j  im  Latei- 
nischen durch  dasselbe  Prinzip  bedingt  ist  wie  der 
Unterschied  in  der  Anwendung  des  englischen  Ar- 
tikels an,  a  vor  Vokal  oder  vor  it\  j. 

Im  Inlaut  hinter  Konsonant  lagen  die  Verhältnisse  anders. 
Hier  war  /  nicht  etwa  im  Jonischen  geschwunden  und  im  Aolischen 
Halbvokal,  denn  unter  diesen  Umständen  würde  sich  hom.  teivos 
überhaupt  nicht  erklären  lassen.  Diese  Form  setzt  voraus,  wie 
Solmsen  richtig  erkannt  hat,  daß  /  hinter  Konsonant  einmal 
Spirant  geworden  war.  Über  Kürze  vor  ehemaligem  /  hinter  A, 
V,  Q  hat  uns  Wackernagel  Grlotta  7,  280  fg.  aufs  beste  belelirt. 
Nur  das  will  ich  hier  noch  hervorheben,  daß  bei  Beurteilung  dieser 


154  Eduard  Hermann, 

Präge  im  Griechischen  überhaupt  Wörter  wie  jt^ö^svog  und  Koga 
nicht  recht  zu  einer  Entscheidung  geeignet  sind,  weil  sie  leicht 
entlehnt  sein  konnten  —  eine  Möglichkeit,  die  auch  Bück  Greek 
dialects  47  hervorhebt.  Außerdem  ist  aber  nicht  zu  vergessen, 
daß  manche  derjenigen  Mundarten,  die  anlautendes  f  mit  o/co  zu- 
sammenwachsen ließen,  vielleicht  auch  im  Inlaut,  z.  B.  in  dem  Pa- 
radigma von  ^evog  u.  a.  das  /  in  einer  größeren  Zahl  von  Formen 
lautgesetzlich  verlieren  mußten.  Könnte  etwa  im  Lesbischen  ^avog 
die  lautgesetzliche  Gestalt,  ievvog  die  Fortsetzung  der  analogisch 
wiederhergestellten  Form  ^evfog  sÄn,-  dessen  /  später  spirantisch 
wurde,  ehe  es  assimiliert  ward  ?  ^swog  u.  a.  brauchte  dazu  nicht 
unbedingt  eine  Erfindung  späterer  Zeiten  zu  sein,  wie  das  z.  B. 
Schulze  Quaest.  ep.  6  Anm.  und  ßrugmann-Thumb*  47  annehmen. 
Die  Beispiele  bei  HofFmann  Griech.  Dial.  II,  480  kann  man  sich 
danach  wohl  zurecht  legen.  Auch  für  die  homerischen  Formen 
sga^ed^a,  ^lovco^sig  u.  a.  könnte  der  berührte  Gesichtspunkt  von 
Bedeutung  sein.  Über  die  Schwierigkeit  der  Kurzmessung  bei  svexa 
bringt  am  besten  Fraenkels  Vorschlag  BphW  1917,  420,  evvxa  ein- 
zusetzen, hinweg. 

So  können  wir  also  /  im  Griechischen  in  zwei  verschiedenen 
Artikulationen  nachweisen :  als  u  und  in  jüngerer  Zeit  als  Spirant. 
Bei  Yorantritt  des  Augments  und  der  Reduplikation  ist  nur  in 
älterer  Zeit  /  vor  Konsonant  noch  Halbvokal  gewesen,  später 
sehen  wir  es  über  Spirant  hinweg  assimiliert.  In  einer  Form 
wie  argiv.  fs/ge^sva  kann  aber  das  zweite  /  sehr  wohl  Halbvokal 
sein,  man  muß  dann  nur  annehmen,  daß  es  tt  war  und  in  der  Aus- 
sprache von  argirischem  v  abwich. 

Wörter  mit  der  Lautfolge  fv  oder  v/  innerhalb  einer  Silbe 
sind  aus  dem  Urindogermanischen  nicht  ins  Griechische  gekommen 
mit  Ausnahme  etwa  von  Partizipien  wie  hom.  Tistpvvta,  das  aller- 
dings auch  analogisch  neugebildet  sein  kann  zu  Ttscpvag.  Da  oben- 
drein /  in  Ttscpvvia  nicht  vorhanden  ist,  verzichte  ich  auf  eine  Aus- 
beutung dieser  Form  für  die  Aussprache. 

Über  die  Fortsetzung  des  idg.  i  im  Griechischen  läßt  sich 
nicht  viel  sagen.  Der  Laut  ist  ja  im  Anlaut  Spiritus  asper  ge- 
worden, bez.  geschwunden,  im  Inlaut  zwischen  Vokalen  über  Spi- 
ritus asper  hinweg  ebenfalls  geschwunden ;  hinter  Konsonant  hat 
er  diesen  mouilliert. 

Ob  auch  hier  als  altererbt  aus  alter  Zeit  die  tautosyllabische 
Verbindung  von  i  mit  i  fehlte,  bleibt  unsicher.  Gelegenheit  hierzu 
war  in  der  Praesensreduplikation  der  mit  i  einst  anlautenden  Verba 
gegeben,  wo  natürlich  nach  etwa  vorausgegangener  Verschmelzung 


Silbischer  und  unsilbischer  Laut   gleicher  Artikulation  usw.  155 

eine  analytische  Neubildung  eintreten  konnte.  Hier  kämen  wohl 
lantG)  und  n^^t  in  betracht.  Ob  beide  auf  der  Stufe  von  indisch 
iyal(mü  oder  auf  der  der  analogischen  yiyakmti  stehen,  können  wir 
in  beiden  Fällen  nicht  entscheiden.  Bei  IdcTttG)  ist  der  Spiritus 
lenis  nicht  ausschlaggebend,  weil  das  Wort  homerisch  ist,  bei  Üem 
attischen  ltjiil  der  Asper  ebenso  wenig,  weil  die  Aspiration  wie 
bei  BVG)  aus  .^  von  dem  Inlaut  herstammen  könnte  (Sommer  Griech. 
Lautstudien  1  fg.)  ^). 

Da,  wo  L  später  für  den  Übergangslaut  zwischen  t  und  Vokal 
geschrieben  wird  (Brugmann-Thumb^  44),  so  besonders  im  Ky- 
prischen  und  Pamphylischen ,  kann  es  ebenso  gut  Halbvokal  wie 
Spirant  bedeuten.  Die  Schreibung  mit  y  auf  Papyri  (Mayser 
Gramm,  griech.  Papyri  167  fg.)  weist  wohl  auf  spirantische  Aus- 
sprache hin.  Hierunter  gibt  es  auch  Beispiele  mit  l  hinter  j,  z.  B. 
MvTJ'ysLog  =  Mvr}{og.  Wenn  umgekehrt  der  ehemalige  Verschluß- 
laut y  hinter  t  gar  nicht  mehr  geschrieben  wird,  s.  Mayser  164, 
wie  in  smovfjg,  viaCvo^isv ,  so  ist  das  nicht  notwendig  der  Beweis 
dafür,  daß  y  zum  Halbvokal  geworden  war.  Falls  die  Auslassung 
nicht  überhaupt  nur  orthographisch  ist,  veranlaßt  dadurch,  daß  in 
Fällen  wie  vytyaCvrjg  (Mayser  168)  das  zweite  y  den  mit  altem  y 
zusammengefallenen  Gleitlaut  darstellt,  der  in  der  historischen 
Orthographie  gar  nicht  geschrieben  wurde,  so  sind  eben  i  und  j 
wegen  ihrer  Ähnlichkeit  in  i  verschmolzen.  Möglich  wäre  es,  daß 
dies  irgendwo  in  ägyptischer  Aussprache  so  war;  es  kommt  mir 
aber  gar  nicht  wahrscheinlich  vor,  weil  dann  der  Gleitlaut  zwischen 
i  und  dunkeln  Vokalen  fehlen  würde,  während  er  sich  doch  sonst 
gerade  hier  eingestellt  hat.  Die  neugriechische  Aussprache,  die 
spirantisch  ist,  zeigt  j  vor  i  erhalten,  z.B.  ysttovag  =  jitonas, 
yvQog  =  jiros,  Thumb  Handbuch  der  neugriech.  Volkssprache  1. 

Sämtliche  bisherige  Sprachen  haben  gezeigt,  daß  u  eine  Zeit- 
lang zum  Teil  ein  offenes  u  war ;  so  weit  ältere  Sprachperioden  in 
Betracht  kamen,  konnte  die  Feststellung  dadurch  gemacht  werden^ 
daß  die  Sprachen  o-Laut  haben ;  das  Arische,  das  von  o  keine  Spur 
mehr  zeigt,  läßt  von  u  nichts  erkennen,  vielleicht  eben  nur  darum^ 
weil  0  nicht  vorhanden  war. 

Die  indischen  Grammatiker  definieren  v  als  labiodentalen  Spi- 
ranten, s.  Wackernagel  Altind.  Gramm.  I  223.  Es  ist  also  kein 
Wunder,  wenn  wir  die  Lautverbindung  vu  im  Anlaut  wie  im  Inlaut 
antreffen,  so  im  Anlaut  in  vud,  vürya,  vüs,  vurlta.    Wir  haben  aber 

1)  Nicht  behandle  ich  hier  den  Schwuud  des  intervokalischeu  aus  si  ent- 
stehenden ü,  der  sich  vielleicht  nur  in  Verbindung  mit  folgendem  *,  f t,  tj,  Tjt  voU- 
yieht,  vgl.  meine  Abhandlung  über  Silbenbildung. 


156  Eduard  Flerraann, 

Anlaß  anzunehmen,  daß  das  erst  jüngere  Bildungen  sind,  s.  Osthoff 
Morph.  Unters.  4,  X  Anm. ;  mit  vii  im  Anlaut  ist  keine  idg.  Form 
ins  Indische  gekommen,  kein  isoliertes  Wort  kennt  vu. '  Wir  sehen 
dagegen  noch,  daß  sich  v  mit  folgendem  u  verbindet,  das  ist  der 
Fall  in  der  Fuge,  wenn  -civ  vor  anlautendes  w  zu  stehen  kam, 
Wackernagel  ai.  Gr.  I  323.  Dasselbe  ist  vielleicht  auch  der  Fall 
im  Innern  eines  Wortes,  wofür  sich  nur  das  Beispiel  ai.  yos^  av. 
yao^  anführen  läßt,  falls  hier  wirklich  an  den  Stamm  auf  -av-  das 
Suffix  US  angetreten  ist;  hier  wäre  dann  weiter  a  mit  'ii  zu  einer^ 
Silbe  verbunden  worden.  Es  ist  darum  sehr  wohl  möglich,  daß 
auch  Formen  wie  susruvus,  susiiviis,  hoh/uir?isi  erst  innerhalb  des 
Indischen  neugebildet  worden  sind.  Man  wird  aber  auch  die  Mög- 
lichkeit offen  lassen  müssen,  daß  hier  ein  urindogermanisches  Erb- 
teil vorliegt  s.  oben  S.  111  fg.  Für  den  Anlaut  haben  wir  außer  in 
^er  Fuge  keine  Beispiele  der  Verschmelzung  von  v  mit  u,  wenn 
nicht  die  mit  sonantischen  Liquiden  hinter  v  hierherzuziehen  sind, 
z.  B.  ai.  ürriä  'Wolle'  aus  angeblichem  '^ulna.  Ich  will  diese  bei 
Seite  lassen,  weil  ich  der  Ansicht  bin,  daß  man  hierüber  nicht  ur- 
teilen kann,  ohne  die  2<-Entwicklung  vor  den  Liquiden  in  allen 
Sprachen  und  nicht  nur  hinter  idg.  u  zu  behandeln.  Zur  Zeit  der 
Verschmelzung  ist  v  vermutlich  noch  Halbvokal  gewesen;  nicht 
vorsichtig  genug  in  der  Ausdrucks  weise  ist  darin  Wackernagel 
197.  Hervorheben  will  ich  noch  einmal,  obwohl  das  eigentlich 
überflüssig  sein  sollte,  daß  aus  dem  Wechsel  zwischen  u  bez.  i 
vor  Konsonant,  v  bez.  y  vor  Vokal  über  die  Aussprache  des  v,  y 
im  Altindischen  nichts  zu  ersehen  ist,  sondern  daß  dies  höchstens 
für  eine  frühere  Zeit,  als  der  Wechsel  entstand,  gelten  kann. 
Jedes  später  hinzukommende  Wort  konnte  sich,  auch  bei  spiran- 
tischem t',  analogisch  dem  Wechsel  anschließen.  So  weit  wir  zurükr 
blicken  können,  ist  v  aber,  als  es  noch  Halbvokal  war,  einem  u  in 
der  Artikulation  ähnlich  gewesen.  Ob  er  mehr  offen  oder  ge- 
schlossen war,  läßt  sich  daraus  nicht  ersehen. 

Wie  V  hat  auch  /  (^)  sein  besonderes  Zeichen  in  den  alt- 
arischen Sprachen.  In  Formen  aus  idg.  Zeit  finden  wir  anlautendes 
y  nie  vor  i,  also  nicht  innerhalb  einer  Silbe.  Doch  sind  Wörter  derart 
wohl  vorhanden  wie  ai.  YHtha,  reduplizierte  Formen  wie  yiyaMati, 
yiyaksu,  yiyavi^u,  yiyäsä,  ylyasü  oder  av.  Yima,  yini.  Das  sind  lauter 
jüngere  Wörter  und  Bildungen,  s.  Osthoff  a.  a.  0.  Im  Avestischen 
sind  sie  durch  Umlautung  eines  a  in  i  entstanden,  im  Altindischen 
sind  es  außer  dem  Namen  Yütha  Analogieformen;  das  Altere  liegt 
in  iyalsati,  lyalsu  vor.  Auch  im  Inlaut  scheint  i  mit  i  zusammen- 
geflossen zu  sein,    wenn  man   ai.  i'resthaSj    av.  sraesto    u.  a.  richtig 


Silbischer  und  unsilbischer  Laut   gleicher  Artikulation  usw.  |57 

als  Bildungen  auf  -?6-,  das  an  einen  -/-Diphthong  angetreten  ist, 
auffaßt ;  Lokative  wie  dhiyi,  maiji,  trayi  u.  a.  sind  dann  Analogie- 
formen. Aber  ganz  sicher  läßt  sich  das  nicht  ausmachen.  Auch 
die  vedischen  Lokative  gam%  sarasl  (Macdonell  Vedic  grammar  271) 
führen  keine  Entscheidung  herbei,  da  die  mehrsilbigen  Stämme 
dieser  Art  in  den  andern  schwachen  Kasus  auf  -i-,  nicht  wie  die 
einsilbigen  auf  -iy-  ausgehen.  Sind  die  Superlative  crcHthas  usw. 
richtig  beurteilt,  dann  wird  man  nicht  mit  Bartholomae  Grundr. 
iran.  Philol.  I,  31  und  Brugmann  Grundr.^  I,  268  ii  erst  im  Ur- 
arischen zu  i  werden  lassen.  Anlaß  zu  dem  Ansatz  eines  idg.  ii^ 
natürlich  mit  /,  liegt  nicht  unbedingt  vor.  Mit  -i  dagegen  verband 
sich  vorausgehendes  -i  zu  -t  im  Altindischen  z.  B.  mcdlkr  'eggen', 
s.  Wackernage],  M^langes  Saussure  129,  vgl.  oben  S.  136.  Jeden- 
falls genügen  iyaksati  usw.  für  die  Annahme,  daß  %  auch  im  Arischen 
einmal  Halbvokal  war  und  erst  in  den  einzelnen  arischen  Sprachen 
zum  Spiranten  geworden  ist,  der  neben  sich  ein  /  natürlich  leicht 
duldete. 

4.  Die  fünf  wichtigsten  Zweige  der  indogermanischen  Sprachen 
haben  uns  dasselbe  Ergebnis  geliefert:  die  Laute,  die  wir  als 
i  und  u  zu  rekonstruieren  gewohnt  sind,  waren  in  den 
älteren  Stufen  dieser  Sprachen  Halbvokale.  Wir 
dürfen  nicht  daran  zweifeln,  daß  sie  das  auch  im  Ur- 
indogörmanischen  waren.  Wörter  mit  dem  indogermanischen 
Anlaut  i-  oder  u  und  dem  entsprechenden  indogermanischen  So- 
nanten  hat  es  in  den  älteren  Stufen  der  fünf  indogermanischen 
Sprachzweige  nicht  gegeben,  sie  sind  erst  durch  Veränderungen 
der  Sonanten  hinter  jj,  ii  später  entstanden,  sie  werden  also  im 
Urindogemanischen  nicht  vorhanden  gewesen  sein  ^).  Das  könnte 
darauf  schließen  lassen,  daß  im  Urindogermanischen  i  und  ii  in 
der  Artikulation  den  Sonanten  i  und  u  näher  standen  als  z.  B.  im 
Slavischen.  Der  Schluß  wäre  voreilig;  denn  wenn  es  nur  den 
Anlaut  /,  w  aber  nicht  i'i,  nu,  d.  h.  etwa  ii,  uu,  gab,  so  darf  man 
nicht  vergessen,  daß  auch  Wurzeln,  die  mit  *iei-,  "^ueu-  oder  ähnlich 
begännen,  nicht  vorhanden  waren.  Wohl  gab  es  Wurzeln,  die 
auf  beiden  Seiten  der  Sonanten  Verschlußlaute  hatten,  aber  nicht 
solche,  bei  denen  der  Silbenträger  von  zwei  /  oder  zwei  ti  um- 
geben war.  Daß  die  Tiefstufe  dazu  ebenfalls  fehlte,  braucht  also 
nicht  an  der  Aussprache  der  i,  ii  als  Halbvokale  derselben  Arti- 
kulation wie  i,  u  zu  liegen.  Der  Vergleich  der  fünf  Sprachen 
führt  ja,    so  weit  sich   eine  genaaiere  Aussprache  feststellen  ließ, 

1)  Vgl.  Bartholomae  IF  9,  271  und  Zur  Buchenfrage  HSß  1Ö18,  S.  11. 


158  Eduard  Hermann, 

eher  auf  offenes  j  und  n.     Mit   folgendem  a  oder   o  verschmolzen 
diese  Laute  aber  nicht,  der  Anlaut  He-  oder  *ij.o-  war  geläufig. 

Im  Inlaut  gab  es  bereits  im  Urindogermanischen  innerhalb  der 
Flexion  Gelegenheit  für  /  und  21  mit  folgendem  i  bez.  n  .7..  B.  für 
i  +  e  im  Grenetiv-A.dverbialkasus  der  io-Stämme  für  i  +  i  im  Lokativ 
Sing,  der  i-Stämme,  für  ii  +  u  im  Partiz.  Perf.  Daß  i  -\-i  zu.  indo- 
germ.  i  wurde,  legen  das  Lateinische,  Keltische,  Altindische  nahe, 
s.  Wackernagel,  Melanges  Saussure  129.  Dagegen  ob  hier  -ii,  -uii 
gesprochen  wurde  oder  die  Laute  zusammenflössen,  wird  schwer  zu 
entscheiden  sein.  War  letzteres  der  Fall,  dann  wurde  der  Lokativ 
der  i-Stämme,  die  Brugmann  Grrandr.^  II,  2,  182  mit  -eil  ansetzt, 
auf  -ei  bez.  -ei  gebildet.  Damit  gewänne  man  nicht,  nur  eine  ein- 
fache Erklärung  z.B.  für  abulg.  hösti^  sondern  man  könnte  auch 
die  andern  mit  den  reinen  Stämmen  übereinstimmenden  Lokative 
als  Analogiebildungen  ansehen.  Ich  will  derartiges  nicht  noch 
weiter  ausspinnen.  Das  aber  läßt  sich  wohl  mit  Bestimmtheit 
sagen,  daß  i  und  n  im  Urindogermanischen  Halbvokale  waren, 
J.  Schmidt  war  also  Sonantentheorie  10  mit  dem  Ansatz  ;,  w  als 
Spiranten  im  Unrecht. 

Auch  in  einer  andern  Beziehung  hat  J.  Schmidt  nicht  scharf 
genug  gesehen.  Er  war  der  Meinung,  daß  wir  nicht  wissen  könnten, 
ob  in  den  Diphthongen  der  zweite  Bestandteil  Konsonant  war  oder 
nicht.  Ich  vermute,  daß  er  Konsonant  war.  Wenn  z.  B.  im  Op- 
tativ die  3.  Person  Pluralis  '^bheropifo  nicht  '^bherointo  lautete,  vgl. 
OsthofF  MU IV,  1, 285,  Wackernagel  Glotta  7,  249  fg.  =  Homer  89  fg., 
so  muß  wenigstens  in  diesem  Fall  0  allein  Sonant  gewesen  sein: 
im  andern  Falle  würde  man  dahinter  m,  n  als  Konsonant  erwarten 
dürfen.  Umgekehrt  läßt  sich  aber  aus  (psQoivto  usw.  kein  Schluß 
ziehen,  n  als  Konsonant  verträgt  sich  ebensowohl  mit  vorausge- 
hendem i  wie  i  derselben  Silbe.  Andrerseits  legt  eine  Form  wie 
z.  B.  *<j^öm  {ßa)v,  ai.  gäftt)  nahe ,  daß  im  Urindogermanischen  we- 
nigstens gewisse  Langdiphthonge  ebenfalls  nur  den  ersten  Teil  des 
Diphthongs  sonantisch  hatten;  denn  *(j"öm  stammt  von  "^^g^Öum  her, 
indem  es  wohl  ein  h,  aber  nicht  ein  sonantisches  u  verloren  haben  wird. 

Für  die  Beurteilung  der  Aussprache  des  i,  u  in  den  Einzel- 
sprachen ist  diese  Erkenntnis  leider  nicht  verwendbar,  da  der 
zweite  Teil  eines  Diphtongs*  andern  Bedingungen  unterliegen  kann 
—  auch  wenn  er  konsonantisch  ist  —  als  ein  konsonantisches  l,  ii 
in  andrer  Stellung.  Die  Aussprache  des  zweiten  Bestandteils  der 
i-  und  M-Diphthonge  zu  untersuchen ,  habe  ich  daher  bei  der  vor- 
liegenden Arbeit  nicht  für  nötig  gehalten. 


Silbischer  und  unsiljjischer  Laut  gleicher  Artikulation  usw.  159 


Nachschrift. 

Der  voraufgehende  Aufsatz  hat  wegen  Papiermangels  bei  der 
Kuhnschen  Zeitschrift  über  zwei  Jahre  auf  den  Druck  warten 
müssen,  so  daß  ich  mich  endlich  entschlossen  habe,  ihn  hier  zum 
Abdruck  zu  bringen.  Die  Neuerscheinungen  habe  ich,  so  gut  es 
ging,  nachgetragen  und  habe  Veränderungen  vorgenommen.  Manches 
habe  ich  aber  nicht  verbessert,  im  besondern  nicht  einiges  über 
Silbentrennung,  an  der  ich  zur  Zeit  wieder  arbeite.  So  ist  es  mir 
zweifelhaft  geworden,  ob  die  Aolier  vor  Homer,  wie  ich  es  S.  152 
ausgesprochen  habe,  inlautendes  /  hinter  Nasal  oder  Liquida  als 
Spirant  gesprochen  haben.  Falls  im  Lesbischen  in  späterer  Zeit 
das  Digamma  in  dieser  Stellung  restlos  geschwunden  sein  sollte, 
wird  man  halbvokalische  Aussprache  für  die  äolische  Dichtung  vor 
Homer  auch  im  nachkonsonantischen  Inlaut  anzunehmen  haben. 
Dann  müßte  man  aber  Kurzmessungen  wie  in  XQYJyvov  slicag  doch 
mit  Hülfe  von  Sommers  Theorie  Glotta  1, 145  fg.  zu  erklären  ver- 
suchen, worüber  ich  mich  nicht  weiter  auslassen  will. 

An  Verschmelzungen  von  i  mit  f  läßt  sich  noch  nachtragen, 
daß  die  lateinischen  Formen  ely  cui  dafür  in  betracht  kommen, 
womit  sich  andre  Möglichkeiten  als  bei  Herbig  IF  37,  Anz.  37  er- 
geben. Auch  der  Dativ  der  i-Deklination  auf  -jei  könnte  für  das 
Lateinische  wie  für  das  Baltisch  -  Slavische  auf  diesem  Weg  er- 
klärbar sein,  indem  sich  i,  nachdem  ei  zu  e  oder  ^  geworden  war, 
mit  diesem  verband ;  damit  könnte  man  Meillets  Theorie  MSL 
18,  378  fg.  umgehen. 


Berichtigung. 

S.  134/5  ist  vapor  statt  vaper  zu  lesen. 


I 


über  einige  alttestamentliche  Handschriften  des 
Abessinierklosters  S.  Stefano  zu  Rom. 

Alfred  Rahlfs. 

Vorgelegt  in  der  Sitzung  am  17.  Mai  1918. 

Chaine  =  M(arius)  Chaine,  Un  monastere  ethiopien  ä  Rome  au  XV«  et  XVIo 
siecle,  S.  Stefano  dei  Mori:  Universite  Saint- Joseph,  Beyrouth  (Syrie).  Me- 
langes  de  la  Faculte  Orientale.    V,  fasc.  1  (1911),  S.  1—36.   Mit  einer  Tafel. 

Di  lim.  Bodl.  =  Catalogus  codicum  manuscriptorum  Bibliothecae  Bodleianae  Oxo- 
niensis.     Pars  VII:   Codices  Aethiopici.     Digessit  A.  Dillmann.     Oxonii  1848. 

Dil  Im.  Oct.  =  Biblia  Veteris  Testamenti  Aethiopica  ed.  Aug.  Dillmann.  Tom.  I: 
Octateuchus.  Lips.  1853( — 1855).  Die  Zitate  beziehen  sich  stets  auf  die 
besonders  paginierte  „Pars  posterior,  quae  continet  apparatum  criticum". 

Flemming  1  und  2  =  J.  Flemming,  Hiob  Ludolf:  Beiträge  zur  Assyriologie, 
hrsg.  V.  Fr.  Delitzsch  u.  P.  Haupt  1  (1890),  S.  537—582,  und  2  (1891  resp. 
1894),  S.  63—110. 

Juncker  =  Commentarius  de  vita,  scriptisque  ac  meritis  illustris  viri  lobi  Lu- 
dolfi  .  .  .  Auetore  Christiano  lunckero  .  .  .  Lips.  et  Francof.  1710.  Diese 
Lebensbeschreibung  beruht  größtenteils  auf  eigenen  Aufzeichnungen  Ludolfs, 
s.  Junckers  Vorrede. 

Ludolf  Comm.  =  lobi  Ludolfi  alias  ßeüt^olf  dicti  Ad  suam  Historiam  Aethio- 
picam  antehac  editam  Commentarius.     Francof.  ad  M.  1691. 

Platt  =  Th.  Pell  Platt,  A  catalogue  of  the  Ethiopic  biblical  mss.  in  the  Royal 
Library  of  Paris,  and  in  the  Library  of  the  British  and  Foreign  Bible  So- 
ciety; also  some  account  of  those  in  the  Vatican  Library  at  Rome.  London 
1823. 

Rahlfs  Niss.  u.  Petr.  =  Alfred  Rahlfs,  Nissel  und  Petraeus,  ihre  äthiopi- 
schen Textausgaben  und  Typen:  Nachrichten  der  K.  Gesellschaft  d.  Wiss. 
zu  Göttingen,  Philol.-hist.  Kl.  1917,  S.  268—348. 

Roupp  =  N.  Roupp,  Die  älteste  äthiopische  Handschrift  der  vier  Bücher  der 
Könige:  Zeitschrift  für  Assyriologie  16  (1902),  S.  296—343.  Mit  vier  Tafeln. 
Kgl.  Oes.  d.  Wiss.  Nachrichten.  Phil.-hist.  Klasse.  1918.  Heft  2.  11 


162  Alfred  Rahlfs, 

Tisserant  =  Tabulae  in  usum  scholanim  editae  sub  cura  loh.  Lietzmann.  8: 
Specimina  codicum  orientaliura,   conlegit  Eug.  Tisserant.    Bonnae  1914. 

Zotenb.  =  Manuscrits  orientaux.  Catalogue  des  manuscrits  Äthiopiens  (gheez 
et  amharique)  de  la  Bibliothöque  Nationale  (von  H.  Zotenberg).    Paris  1877. 

Dicht  hinter  der  Apsis  der  Peterskirche  zu  Rom^)  liegt  ein 
altes,  schon  im  Jahre  732  erwähntes  ^)  Kloster,  welches  nebst  der 
dazu  gehörigen  Kirche  dem  hl.  Stephanus  geweiht  ist.  Dieses 
Kloster  wurde  um  1500^)  den  nach  Rom  pilgernden  Abessiniern 
tiberwiesen  und  bekam  infolgedessen  den  Namen  „S.  Stefano  dei 
Mori"  oder  „degli  Indiani"  oder  „degli  Abissini"  ^).  Über  seine 
seitherige  Greschichte  unterrichtet  am  besten  Chaine,  der  auch  alle 
auf  die  abessinischen  Insassen  bezüglichen  Urkunden  zusammen- 
gestellt hat^).  Hier  sei  nur  auf  die  geradezu  grundlegende  Be- 
deutung hingewiesen,  welche  S.  Stefano  dei  Mori  für  die  äthiopi- 
sche Philologie  gewonnen   hat.     Dort  lernte   der  Kölner  Propst 


1)  Die  genaue  Lage  des  Klosters  ersieht  man  z.  B.  aus  den  von  Frz.  Ehrle 
herausgegebenen  alten  Plänen  Roms  von  Leonardo  Bufalini  (Roma  al  tempo  di 
Giulio  III.  La  pianta  di  Roma  di  Leon.  Buf.  dei  1551  riprodotta  dall'  esemplare 
esistente  nella  Bibl.  Vat.,  Roma  1911)  und  von  Du  P(^rac-Lafrdry  (Roma  prima 
di  Sisto  V.  La  pianta  di  Roma  Du  Pdrac-Lafröry  dei  1577  riprodotta  dall'  esem- 
plare esistente  nel  Museo  Britannico,  Roma  1908),  oder  aus  den  drei  Tafeln  bei 
Ehrles  „Ricerche  su  alcune  antiche  chiese  dei  Borge  di  S.  Pietro"  in  den  Disser- 
tazioni  della  Pontificia  Accademia  Romana  di  Archeologia,  Ser,  II,  tom.  X  (1907 
resp.  1910),  S.  1—43  (Taf.  1  und  2  enthalten  Ausschnitte  aus  den  beiden  soeben 
erwähnten  Plänen,    Taf.  3  aus   dem  Plane  des  Giambatt.  Nolli  vom  Jahre  1748). 

2)  P.  Fr.  Kehr,  Regesta  pontificum  Romanorum.  Italia  pontificia.  Vol.  I: 
Roma  (1906),  S.  146  unter  „Monasterium  s.  Stephani  maioris".  Weitere  Literatur 
s.  bei  E.  Calvi,  Bibliografia  di  Roma  nel  medid  evo,  Suppl.  I  (1908),  App.  S.  130 
unter  „S.  Stefano  Maggiore". 

3)  Das  Datum  ist  nicht  überliefert,  und  die  Vermutungen  darüber  gehen 
weit  auseinander,  s.  F.  Gallina,  Iscrizioni  etiopiche  ed  arabe  di  S.  Stefano  dei 
Mori:  Archivio  della  R.  Societä  Romana  di  Storia  Patria  11  (1888),  S.  281—283. 
Maßgebend  kann  m.  E.  nur  die  von  Chaine  S.  8  mitgeteilte  Katasternotiz  vom 
Jahre  1607  sein,  nach  welcher  S.  Stefano  damals  seit  100  Jahren  von  Abessiniern 
bewohnt  war:  „Ante  annos  centum,  ut  notant  censualia  praedicta,  ex  concessione 
capituli,  habitant  eamdem  ecclesiam  abissini  ethiopes  sive  Indiani,  quibus  sanctis- 
simus  Dominus  noster  dat  alimenta  et  basilica  nostra  dat  ecclesiam  et  habitationem". 

4)  Über  die  Bezeichnung  der  Abessinier  als  Mohren  und  Inder  s.  Ludolf 
Comm.  S.  52.  54.  75—78. 

5)  Dabei  sind  Chaine  allerdings  die  von  Flemming  1,  S.  567—582  und  2, 
S.  68—110  publizierten  Briefe  des  mit  Hieb  Ludolf  befreundeten  Abba  Gregorius 
entgangen ;  sonst  hätte  er  auch  nicht  auf  den  geradezu  abenteuerlichen  Gedanken 
verfallen  können,  daß  Ludolf  die  im  Comm.  mitgeteilten  Briefe  Gregors  vielleicht 
selbst  fabriziert  hätte  (Chaine  S.  35 :  „peut-etre  que  la  paternite  doit  en  revenir 
ä  l'auteur  lui-meme  de  VHistoria  Aethiopica^). 


über  einige  alttestam.  Hss.  d.  Abessinierklosters  S.  Stefano  zu  Rom.     163 

Job.  Potken  im  Jahre  1511*)  die  abessinischen  Mönche ^)  kennen, 
von  denen  er  Äthiopisch  lernte  und  den  Text  des  äthiopischen 
Psalters  bekam,  welchen  er  zwei  Jahre  später  in  Rom  als  erstes 
äthiopisches  Druckwerk  herausgab.  Und  ebenda  lebte  12  Jahre 
lang  Tasfä-Sejön  (Petrus  Aethiops),  der  1548/49  das  äthiopische 
Neue  Testament  mit  einem  liturgischen  Anhang  herausgab  und 
1550  in  der  Kirche  S.  Stefano  beigesetzt  wurde  ^).  So  sind  gerade 
die  beiden  Texte,  auf  die  man  beim  Studium  des  Äthiopischen  an- 
fangs ausschließlich  und  auch  nachher  noch  lange  Zeit  in  erster 
Linie  angewiesen  war,  von  S.  Stefano  ausgegangen. 

In  diesem  Kloster  hat  nun  bekanntlich  Hiob  Ludolf  im 
Jahre  1649  den  Abba  G^regorius  kennen  gelernt,  der  ihm  ein 
treuer  Freund  wurde  und  ihm  wichtige  Aufschlüsse  über  die  G-e- 
schichte'  Literatur  und  Sprachen  Abessiniens  gegeben  hat  ^).  Grleich 
bei  der  ersten  Begegnung  legte  Grregorius,  wie  Ludolf  Comm.  S.  30 
humorvoll  erzählt^),  ihm  einen  großen  Pergamentkodex  vor,  um 
seine  äthiopischen  Kenntnisse  zu  prüfen;  und  dieser  Kodex  —  es 
war  ein  Senödös,  jetzt  in  Rom,  Bibl.  Vat.,  Borg.  aeth.  2^  — 
hat  dann  Ludolf  sehr  interessiert '),  und  er  hat  über  ihn  im  Comm. 
S.  301 — 340  einen  recht  ausführlichen  Bericht  erstattet.  Aber 
außerdem  gab  es  damals  in  S.  Stefano  auch  einige  alttestament- 
liche  Handschriften,  über  welche  Ludolf  dicht  vorher  auf 
S.  298  f.  berichtet.  Ludolf  gibt  dort  unter  der  Überschrift  „Ma- 
nufcripti  in  Europa  habentur"  ein  Verzeichnis  der  in  Europa  be- 
findlichen äthiopischen  Handschriften,  von  denen  er  Kunde  erhalten 


1)  Potkens  römischer  Psalterdruck  wurde  laut  seiner  Nachschrift  zum  Cant. 
am  10.  Sept.  1513  vollendet.  In  der  Vorrede  sagt  Potken,  daß  er  die  Abessinier 
„biennio  vix  elapso"  kennen  gelernt  habe. 

2)  Einer  dieser  Mönche,  Thomas,  hat  sich  in  einer  äthiopischen  Nachschrift 
zu  den  Oden  mit  unterzeichnet,  vgl.  Chaine  S.  14  Anm.  2. 

3)  I.  Guidi,  La  prima  stampa  del  Nuovo  Testamento  in  etiopico,  fatta  in 
Roma  nel  1548-154:9:  Archivio  della  R.  Societä  Eomana  di  Storia  Patria  9  (1886), 
S.  273—278.  Chaine  S.  9  f.  14  f.  (beachte  S.  15  Anm.  1  über  die  Wappen  in  den 
Dedikations-Exemplaren  I).  17.  27  f. ;  Faksimile  seiner  Grabschrift  auf  Chaines 
Tafel. 

4)  Ludolf  Comm.  S.  28—47.  Juncker  S.  48—50.  67—83.  Flemming  1, 
S.  542—548.  567  ff. 

5)  Nacherzählt  von  Flemming  1,  S.  543. 

6)  Tisserant  S.  XLIII  Nr.  63. 

7)  In  seinen  Briefen  an  Gregorius  erkundigt  er  sich  gerade  nach  dem  Se- 
nödös besonders  dringend  und  bittet  den  Gregorius,  ihm  diese  Hs.  mitzubringen 
oder  wenigstens  Abschriften  daraus  zu  besorgen,  s.  Flemming  2,  S.  107  (Nr.  VI 
und  IX). 

11* 


164  Alfred  Rahlfs, 

hatte.    Dies  Verzeiclmis  beginnt  mit  den  Handschriften  von  S.  Ste- 
fano, über  welche  er  also  berichtet  (C  o  m  m.  S.  2  9  8  f.) : 

1.    Pentateuchus,  cujus  Apographum  ex  benevolentia  Ludovici 
Piques  B.  &  Socii  Sorbonae  poffideo.    Protographum  autem  vidi 
Romaß  in  sedibus  Habeffinorum. 
J2,    lofua,  quem  &  ego  pof- 


fideo. 

Liber  ludicum. 


4.    Buth. 


5.  I.  et  II.  Samuelis ;  alias  I.  & 
II.  Regum. 

6.  I.  et  IL  Regum ;  alias  III.  & 
IV.  Regum. 

7.  Efaias  Propheta. 


Quatuor  magnis  voluminibus  continentur,  quse,  referente  Grego- 

rio,  ä  Regibus  ^thiopiae  olim  Hierofolymam  miffa  fuerunt,  qui- 

que  nomina  fua  infcripferunt,    nempe  Gehra-MesJcel ,    Jfaacus,   et 

Zer-a-jacohus.     Inde   Romam   in    hofpitium   Habeffinorum,    iftis 

autem  fato  functis,  ut  audivi,  in  Bibliothecam  Vaticanam  translati 

fuerunt. 

Ludolf  benennt  und  trennt   hier  die  biblischen  Bücher  in  der  bei 

den  Protestanten   üblichen  Weise.     Setzen  wir   dafür  die  bei  den 

Griechen  und  Abessiniern  üblichen  Namen  ein  und  fassen  wir  die 

Bücher  in  der  bei  ihnen  üblichen  Weise  zusammen,    so  handelt  es 

sich  nur  um  drei  Nummern,  nämlich 

1)  den  Oktateuch  oder,   wie  die  Abessinier  sagen,   das  Gesetz 
Cörit), 

2)  die  Bücher  Regum, 

3)  den  Isaias. 

Von  diesen  —  um  es  gleich  zu  sagen,  sehr  wichtigen  —  Hand- 
schriften hat  man  den  Oktateuch  und  die  Bücher  Regum  mehr 
oder  weniger  sicher  wiedergefunden:  jenen  in  der  Bibliothek  der 
British  and  Foreign  Bible  Society  in  London,  diese  in  dem  seit 
1902  der  Biblioteca  Vaticana  einverleibten  Museo  Borgiano  (Borg, 
aeth.  3,  vorher  L.  V.  16,  s.  Roupp  S.  298  Anm.  2  und  Tisserant 
S.  XLII  f.  Nr.  62).  Der  Isaias  aber  ist  noch  nicht  gefunden ,  und 
auch  die  Fragen,  die  sich  an  die  beiden  anderen  Handschriften 
knüpfen,  sind  noch  nicht  sämtlich  beantwortet.  Daher  nehme  ich 
das  Thema  noch  einmal  auf  und  hoffe,  nunmehr  über  alles  völlige 
Klarheit  schaffen  zu  können.  Dabei  wird  zugleich  noch  eine  wei- 
tere Handschrift  von  S.  Stefano  wieder  ans  Licht  kommen ,  die 
gleichfalls  schon  im  XVII.  Jahrh.  eine  erhebliche  Rolle  gespielt 
hat  und  die  Grundlage  mehrerer  Textausgaben  geworden  ist. 

Ehe  ich  jedoch  zur  Sache  selbst  übergehe,  muß  ich  einen 
Fehler  berichtigen,  der  Ludolf  oder  seinem  Amanuensis  an  der 
soeben  abgedruckten  Stelle  untergelaufen  ist,    und   der  mich   an- 


über  einige  alttestam.  Hss.  d.  Abessinierklosters  S.  Stefano  zu  Rom.     165 

fangs,  ehe  ich  seine  Quelle  entdeckt  hatte,  einigermaßen  irritiert 
hat.  Ludolf  gibt  hier  nämlich  an,  der  Oktateuch,  die  Bücher  Re- 
gum  und  der  Isaias  seien  in  vier  großen  Bänden  enthalten.  Wenn 
aber  der  Oktateuch  und  die  Bücher  Regum,  wie  man  schon  bisher 
annahm,  und  wie  sich  im  folgenden  noch  sicherer  bestätigen  wird, 
je  einen  Band  bildeten,  so  kommen,  da  natürlich  auch  der  Isaias 
nur  einen  Band  gebildet  haben  kann,  bloß  drei  Bände  heraus. 
Und  mehr  sind  es  auch  in  Wirklichkeit  nicht  gewesen.  Wir  können 
das  jetzt  ganz  sicher  nachweisen,  da  uns  bei  Flemming  2,  S.  72 
Z.  34  —  S.  73  Z.  4  der  Originalbericht  des  Gregorius  vorliegt,  auf 
dem  die  Darstellung  Ludolfs  nach  seiner  eigenen  Angabe  („refe- 
rente  Grregorio")  beruht.  Er  findet  sich  im  8.  Briefe  des  Grego- 
rius  an  Ludolf  vom  25.  Febr.  1651  und  lautet  nach  Flemmings 
Übersetzung  (2,  S.  99  Z.  1 — 5)  also:  „Jene  vier  großen  Bücher, 
die  sich  in  unserem  Hause  [d.  h.  in  S.  Stefano]  befinden,  dürfen 
wir  ohne  die  Erlaubnis  des  Majordomus  ^)  nicht  wegnehmen,  denn 
sie  sind  einem  jeden  bekannt,  als  solche,  welche  die  Könige  von 
Äthiopien  mit  der  Einzeichnung  ihres  Namens  nach  Jerusalem  ge- 
schickt haben.  Dies  sind  die  Könige :  Gabra  Maskai,  Isaak,  Zar'a 
Jakob."  Welches  „jene  vier  großen  Bücher '^  sind,  sagt  allerdings 
Gregorius  an  dieser  Stelle  nicht.  Wohl  aber  ergibt  es  sich  aus 
seinem  6.  Briefe  vom  7.  Jan.  1651,  in  welchem  es  heißt  (Flemming 
2,  S.  96  Mitte) :  „Die  äthiopischen  Bücher,  welche  in  unserem  Hause 
sind,  sind  Gesetz  [d.  h.  Oktateuch],  Könige,  Jesaias,  Synodos  und 
das  Neue  Testament  vollständig."  Nur  müssen  wir  hier,  um  die 
„vier  großen  Bücher"  herauszubekommen,  das  „vollständige  Neue 
Testament"  fortlassen ;  dies  war  offenbar  keine  Handschrift  —  von 
einer  solchen  höre»  wir  sonst  in  jener  Zeit  nicht  das  mindeste, 
obwohl  wir  mehrere  Berichte  über  die  Hss.  von  S.  Stefano  be- 
sitzen — ,  sondern  es  war  der  schon  erwähnte,  in  S.  Stefano  selbst 
entstandene  Druck  von  Tasfä-Sejön ;  Ludolf  hatte  seinen  Abessinier 
nach  den  äthiopischen  Büchern  von  S.  Stefano  gefragt  (s.  Flem- 
ming 2,  S.  107  unter  Nr.  VIII),  und  daß  dieser  daraufhin  das  Druck- 
werk auf  gleicher  Stufe  mit  den  Handschriften  nannte,  erklärt 
sich  ebenso  leicht,  wie  daß  Ludolf  den  wahren  Tatbestand  sofort 
merkte,  und  auch  Gregorius,  vielleicht  von  Ludolf  darüber  auf- 
geklärt, jenes  Druckwerk  nachher  nicht  mehr  mitzählte.  Die  „vier 
großen  Bücher",  von  denen  Gregorius  im  8.  Briefe  spricht,  und 
die  auch  Ludolf  in  gar  zu  genauem  Anschluß  an  seine  Quelle  in 


1)  Vgl.  Chaine  S.  12:  „le  majordome  raeme  du  Pape  tut  stabil  leur  [d.  h. 
der  Mönche  von  S.  Stefano]  procureur".    Vgl.  auch  ebenda  S.  19  unten. 


166  Alfred  Rahlfs, 

seine  Darstellung  herübergenommen  hat,  sind  also  die  drei,  welche 
Ludolf  nennt,  und  der  Senödös.  Und  daß  dieser  hier  in  der  Tat 
mit  gemeint  ist,  ergibt  sich  mit  völliger  Sicherheit  aus  dem  (Jm- 
stande, daß  Gregorius  und  auch  Ludolf  selbst  unter  den  Königen, 
welche  die  Hss.  nach  Jerusalem  geschickt  haben,  auch  den  Zar'a- 
Jä'töb  nennt,  der  gerade  den  Senödös  nach  Jerusalem  gestiftet 
hat,  wie  Grregorius  im  7.  Briefe  (Flemming  2 ,  S.  97  Z.  3  f.)  und 
Ludolf  im  Comm.  S.  301  berichten  ^).  Hiermit  ist  also  das  Ver- 
sehen in  Ludolfs  Darstellung  vollständig  aufgeklärt,  und  wir  haben 
nunmehr  bei  den  alttestamentlichen  Handschriften,  die  er  aufzählt, 
nicht  mehr  mit  einer  Vierzahl,  sondern  nur  mit  einer  Dreizahl  zu 
rechnen. 

I.    Der  Oktateacli. 

Dillmann  hat  seiner  Ausgabe  des  äthiopischen  Oktateuchs 
in  erster  Linie  die  beiden  Hss.  zugrunde  gelegt,  welche  er  mit 
den  Sigeln  F  und  H  bezeichnet. 

F  ist  eine  nach  Dillmanns  Schätzung  (vom  Jahre  1853)  etwa 
fünf  oder  sechs  Jahrhunderte  alte,  also  aus  dem  XIV.  oder  gar 
XIII.  Jahrh.  stammende  Pergament-Hs.,  welche  den  ganzen  Okta- 
teuch  enthält.  Sie  gehört  der  British  and  Foreign  Bible  Society 
in  London.  Dillmann  beschreibt  sie  Oct.  S.  4 — 6  (vgl.  auch  Oct. 
S.  162  f.  164.  167.  173).  Er  verweist  dort  (S.  4  Anm.  1)  auf  eine 
kurze  Beschreibung  in  „the  third  Appendix  of  the  Report  of  the 
British  Church  Missionary  Society  of  the  year  1817 — 1818",  wo 
sich  auch  eine  Schriftprobe  finde;  dieses  Werkes  habe  ich  aber 
auch  mit  Hilfe  des  Auskunftbureaus  der  deutschen  Bibliotheken 
zu  Berlin  nicht  habhaft  werden  können.  Und  auch  das  Verzeichnis 
der  äthiopischen  Hss.  der  British  and  Foreign  Bible  Society  bei 
Platt  S.  9  hilft  uns  nichts ;  denn  da  wird  unter  Nr.  I  nichts  weiter 
gesagt  als  „The  Pentateuch  and  three  following  Books  (the  Octa- 
teuch)".  Ich  bin  also  zur  Zeit,  wo  aus  London  keine  Auskunft 
zu  erhalten  ist,  auf  Dillmanns  Beschreibung  allein  angewiesen,  und 
sie  genügt  auch,  obwohl  sie  nicht  alles  so  genau  mitteilt,  wie  es 
für  unsem  Zweck  wünschenswert  wäre. 

H  (vgl.  Dillm.  Oct.  S.  6f.  167  f.)  ist  eine  1731  und  1732  in 
Halle  a.  d.  Saale  entstandene  Papierhandschrift,  die  sich  noch  heu- 
tigen Tages  in  Halle  befindet  und  jetzt  der  dortigen  Universitäts- 
Bibliothek  gehört.   Sie  besteht  aus  zwei  Bänden.  Der  erste,  dessen 


1)  Ludolf  Comm.  S.  301—304  druckt  die  Stiftungsurkunde  Zar VJä'köbs  aus 
der  Senödös-Hs.  vollständig  ab. 


über  einige  alttestam.  Hss.  d.  Abessinierklosters  S.  Stefano  zu  Rom.     167 

Bibliotheks-Signatur  „Ya.  2"    ist,   enthält   den  Pentateuch.     Sein 

Titel  lautet": 
l^A^:  I  Hoc  eft,  I  PENTATEUCHUS  |  AETHIOPICÜS,  |  olim 
ab  Exemplari  |  LUDOVICI  PIQVES  |  Parifiis,  \  jam   ex  Apo- 
grapho  I  D.  JOH.  HENR.  MICHAELIS  |  defcriptus.  |  Halte  Sa- 
xonum  I  CIO  locc  xxxii. 

Der  zweite  Band,   dessen  Signatur  „Ya.  3"  ist,    enthält  das  Buch 

losue  und  Fragmente  anderer  alttestamentlichen  Bücher  (vgl.  unten 

S.  172  Anm.  2).     Sein  Titel  lautet: 

HA.PlVfi:  I  Hoc  eft,  I  LIBER  JOSUAE  1  AETHIOPICE,  | 
ex  Manufcripto  |  D.  JOH.  HENRICI  |  MICHAELIS  |  defcriptus.  | 
Halte  Saxonum  |  cio  lOcc  xxxi. 
Beide  Titel  sind  mit  einem  aus  einer  Krone  und  zwei  Palmen- 
zweigen gebildeten  Kranze  umrahmt;  der  äthiopische  Name  des 
Buches  ist  beidemal  in  die  Krone  hineingezeichnet,  während  der 
übrige  Titel  in  Typendruck  hergestellt  ist. 

H  ist  der  jüngste^)  Sprößlijig  einer  Familie  europäischer 
Hss.,  deren  ältere  Glieder  auch  noch  vorhanden  sind.  Die  Gre- 
schichte  dieser  Familie,  die  zugleich  ein  Stück  der  Greschichte  der 
äthiopischen  Philologie  wiederspiegelt,  will  ich  hier  kurz  erzählen. 
Joh.  Mich.  Wansleben,  der  bekannte  Schüler  Hiob  Lu- 
dolfs^),  hat  nach  der  Rückkehr  von  seiner  ersten  Orientreise  im 
Jahre  1666^)  die  im  Abessinierkloster  S.  Stefano  zu  Rom  befind- 
lichen Hss.  des  Oktateuchs  und  der  Bücher  Regum  abgeschrieben*). 
Mit  dieser  Abschrift  und  auch  mit  anderen  Werken,  die  er  für 
den  Druck  vorbereitet  hatte,  ging  er  1670  nach  Paris  in  der  Hoff- 
nung, dort  Colberts  Unterstützung  für  ihre  Veröffentlichung  zu 
gewinnen.  Colbert  ließ  sich  auch  von  Wansleben  Bericht  über 
seine  Publikationspläne   erstatten,  und  dieser  Bericht  erschien  im 


1)  Bei  los.  gibt  es  allerdings  eine  noch  jüngere  Hs.,  die  wiederum  aus  H 
abgeschrieben  ist,  s.  unten  S.  173. 

2)  Vgl.  meine  demnächst  in  diesen  Nachrichten  erscheinenden  „Beiträge  zur 
Biographie  Wanslebens". 

3)  Nach  Ludolfs  Notiz  in  der  Hs.  Göttingen,  Univ.-Bibl.,  Aeth.  1,  S.  79  hat 
Wansleben  seine  Abschrift  am  12.  Mai  1666  vollendet. 

4)  Ludolf,  Lexicon  Aethiopico-Latinum,  ed.  II  (1699),  zweite  Seite  des  „Ca- 
talogus  librorum".  Zotenb.  S.  1.  Vgl.  auch  Vansleb,  Nouvelle  relation  .  .  .  d'un 
voyage  fait  en  Egypte  (1677),  S.  170:  „En  ce  mefme  temps  [d.  h.  im  Mai  1672J, 
il  arriva  aufli  au  Caire  Dom  Pietro,  Abyffin  de  Nation,  que  j'avois  autrefois  fort 
particulierement  connu  ä  Rome,  &  qui  m'avoit  procure  les  Manufcrits  des  Synodes 
[d.  h.  des  Senödös,  s.  die  nächste  Anm.],  &  celuy  du  vieux  Teftament  en  Langue 
Ethiopique". 


IQg  Alfred  Rahlfs, 

folgenden  Jahre  gedruckt  unter  dem  Titel  „CONSPECTUS  |  OPE- 
EUM  I  ^THIOPICORUM  |  Quse  ad  excudendum  parata  habet  |  ß. 
P.  Fr.  JOAK  MICHAEL  VANSLEBIUS  |  ERFORDIENSIS  THU- 
EINGUS.  ORD.  FRMD.  \  Filius  Conventus  Eomani  S.  Marise  fu- 
per  Minervam.  |  lllußrißimo  Domino,  D.  JoanxXI  Baptist^  |  Colbkrt, 
Begi  ah  intimis  ConßUis,  et  Se-\cretis;  Generali  JErarij  Moderatorin 
Summo  I  Begiorum  JEdificiorum  Frcefecto,  Begionmi  \  Ordinum  Qim- 
ßori,  MarcMoni  de  Seignelay  \  EXHIBITUS.  |  (Signet.)  |  PARISIIS,  | 
E  TYPOGRAPHIA  REGIA.  |  M.  DG.  LXXI."  ^)  Aber  zum  Druck 
der  äthiopischen  Texte,  wofür  übrigens  erst  äthiopische  Typen 
hätten  angeschafft  werden  müssen^),  kam  es  nicht.  Vielmehr  schickte 
Colbert  im  April  1671  Wansleben  wiederum  in  den  Orient^),  und 
als  er  dann  1676  nach  Paris  zurückkehrte,  war  er  bei  Colbert  in 
Ungnade  gefallen  und  erhielt  von  ihm  nicht  die  erwartete  Beloh- 
nung. Hierdurch  geriet  Wansleben  in  große  Not  und  verkaufte 
im  Winter  1676/77   seine   äthiopischen   Hss.  ^).      Damals   wird   er 

1)  23  Seiten  in  4°.  Ich  benutzte  das  aus  Schlichtings  (s.  Eahlfs  Niss.  u. 
Petr.  S.  336)  Nachlasse  stammende  Exemplar  der  Kieler  Univ.-Bibl.  (Signatur: 
§  50  4^},  welches  Hiob  Ludolf  mit  vier  eigenhändigen  Randnoten  versehen  hat. 
Der  Bericht  selbst  beginnt  auf  S.  3  mit  der  Überschrift  „Fr.  JÜAN.  MICHAEL 
VANSLEBIUS,  \  Erfordienfis  Thuringus,  Ord.  Prcedicatoi'um,  et  |  Filius  Con- 
ventus JRomani  S.  Maricß  fuper  Miner-\vam,  degens  modo  Parißis,  in  Conventu 
FF.  I  Pradicatorum ,  in  vico  S.  Honorati  attulit  fecum  \  Borna  nonnuUa  Opera 
j^thiopica  Manufcripta,  \  et  Prcelo  parata,  quorum  Catalogus  fequens  eft.^  Hier- 
auf folgt  unter  Nr.  I  auf  S.  3—20  ein  sehr  eingehender  Bericht  über  den  Senödös, 
welchen  Wansleben  gleichfalls  aus  der  Hs.  von  S.  Stefano  abgeschrieben  hatte 
(vgl.  die  vorige  Anm.).  Dann  kommt  auf  S.  20  f.  unter  Nr.  II  der  Bericht  über 
den  Oktateuch  und  die  Bücher  Regum,  „qui  omnes  hactenus  nun  quam  funt  editi, 
neque  in  Bibliis  Polyglottis  Anglorum  leguntur",  und  auf  S.  21  f.  unter  Nr.  III — 
VII  der  Bericht  über  andere  Werke.;  Zum  Schluß  fordert  Wansleben  Colbert  auf, 
„vt  ad  caetera  Tua  prseclara  facta,  quse  pro  Christianissimi  Galliarum  Regis 
Gloria  toto  orbe  amplianda,  feliciter  hactenus  peregifti ;  hoc  quoque  addere,  Ope- 
rumque  tarn  inßgnium  publicationem  promovere  digneris:  ne  dum  inclyta  Gallia- 
rum Natio,  Omnibus  vicinis  Gentibus  glorise  palmam  Heroicis  factis,  &  prseclaris 
ftudiis  prseripit;  in  hoc  folo,  quod  nondum  Typographiam  -äi^thiopicam  habeat, 
etiam  fibi  longe  inferioribus  gloriä  cedero  videatur." 

2)  Siehe  den  Schluß  der  vorigen  Anmerkung. 

3)  Über  diese  zweite  Orientreise  Wanslebens  s.  außer  der  oben  S.  167  Anm.  4 
zitierten  Reisebeschreibung  Wanslebens  besonders  H.  Omont,  Missions  archeologi- 
ques  fran^aises  en  Orient  aux  XYII"  et  XVlIIo  siecles  (1902),  S.  54—174;  ebenda 
S.  879—951  Verzeichnisse  der  von  Wansleben  für  die  Bibliothek  des  Königs  ge- 
kauften Hss. 

4)  (Niceron,)  Memoires  pour  servir  ä  l'histoire  des  hommes  illustres  dans 
la  republique  des  lettres  26  (1734),  S.  13:  „Mai§  l'hyver  il  fe  trouva  dans  la  der- 
niere  neceffite,  &  fut  reduit  ä  emprunter  de  toutes  parts  &  ä  vendre  prel'que  pour 
rien  les  Manufcrits  Ethiopiens  qu'il  avoit  apportes." 


über  einige  alttestam.  Hss.  d.  Abessinierklosters  S.  Stefano  zu  Rom.     169 

auch  seine  Abschrift  des  Oktateuchs  und  der  Bücher  Regum  ver- 
kauft haben.  Sie  ging  in  den  Besitz  des  Pariser  Gelehrten  Louis 
Pieques^)  über.  Dieser  vermachte  später  seine  Hss.  dem  Domi- 
nikanerkloster der  Eue  Saint-Honore  zu  Paris  ^),  demselben  Kloster, 
in  welchem  Wansleben  1670/71  gewohnt  hatte  (s.  oben  S.  168 
Anm.  1).  Und  aus  diesem  wurden  sie  bei  der  Aufhebung  der  Klöster 
in  der  Revolutionszeit  in  die  Bibliotheque  Nationale  über- 
führt, wo  Wanslebens  Abschrift  des  Oktateuchs  und  der  Bücher 
E-egum  jetzt  die  Signatur  Eth.  1  (Pentateuch)  und  2  (los. — Eeg.  IV) 
trägt,  s.  Zotenb.  S.  III  und  S.  1—4. 

Während  Wanslebens  Abschrift  sich  im  Besitze  von  Picques 
befand,  hat  nun  aus  ihr  wiederum  Hiob  Ludolf,  als  er  vom 
9.  Nov.  1683  bis  zum  1.  März  1684  zum  dritten  Male  in  Paris  war 
(Juncker  S.  128.  143),  den  Pentateuch  und  das  Buch  losue  teils 
durch  seinen  Sohn  Christian^)  abschreiben  lassen,  teils  selbst  ab- 
geschrieben. Zwei  Notizen  darüber  finden  sich  in  der  Pariser  Hs. 
selbst;  die  eine  stammt  von  Ludolf  und  lautet:  „Priorem  partem 
nempe  Pentateuchum  hujus  scripturse  sethiopicse  accepi  a  Dn.  D''® 
Piques  in  hunc  finem  ut  hoc  in  loco  a  filio  meo  describatur  in 
usum  publicum,  prout  dicto  D"°  Piques  visum  fuerit,  et  fideliter 
atque  integre  reddatur.  Lut.  Parisiorum,  die  27  Febr.  1684.  J.  Lu- 
dolfus^^;  die  andere  stammt  von  Picques  und  lautet:  „En  1683  M"^ 
Ludolf  a  pris  copie  et  Ta  envoyee  a  Hamb^  pour  imprimer'*  (Zo- 
tenb. S.  4).  Die  Abschrift  des  Pßntateuchs,  welche  Ludolf  an 
der  oben  S.  164  abgedruckten  Stelle  seines  Comm.  und  am  Anfange 
seines  Lexicon  Aethiopico- Latinum,  ed.  IL  (1699),  auf  der  zweiten 
Seite  des  „Catalogus  librorum"  als  in  seinem  Besitze  befindlich 
erwähnt,  ist  später  in  den  Besitz  seines  Schülers  und  Amanuensis  *), 
des  Hallenser  Professors  Job.  Heinr.  Michaelis,  übergegangen,  nach 
dessen  Tode  (10.  3.  1738)  auf  der  Auktion  seines  Nachlasses  im 
Jahre  1740  von  seinem  Neffen  Christian  Bened.  Michaelis,   gleich- 


1)  So  schreibt  Zotenb.  S.  III  undS.4  etc.  den  Namen,  und  so  wird  er  auch 
in  Picques'  Briefwechsel  mit  anderen  Gelehrten,  darunter  Hiob  Ludolf,  in  lo.  Diet. 
Wincklers  Sylloge  anecdotorum  (Lips.  1750),  S.  281  ff.  geschrieben.  Dagegen  schreibt 
Ludolf  stets  Piques  ohne  c,  s.  z.  B.  das  Zitat  aus  Ludolf  oben  S.  164,  und  ebenso 
schreibt  Le  Grand  in  seiner  Ausgabe  der  „Relation  historique  d'Abissinie  du  R. 
P.  Jerome  Lobo"  (Paris  1728),  S.  180  ff.,  wo  er  einige  zwischen  Ludolf  und  Picques 
gewechselte  Briefe  mitteUt. 

2)  Thesaurus  epistolicus  Lacroziauus  ed.  Uhlius  1  (1742),  S.  82.  Zotenb.  S.  III. 

3)  Geboren  am  21.  Juli  1664  (Juncker  S.  182). 

4)  Siehe  die  Vorreden  zu  Ludolfs  amharischer  Grammatik  (1698)  und  Lexikon 
(1698);  zum  äthiopischen  Lexikon  (1699)  und  Psalter  (1701). 


170  Alfred  Rahlfs, 

falls  Professor  in  Halle  (f  22.  2.  1764),   erworben^),    von  diesem 
auf  seinen   Sohn,    den   bekannten   Gröttinger   Professor  Job.  Dav. 
Michaelis,   vererbt  und  schließlich  nach   dessen  Tode  (22.  8.  1791) 
von  der  Kgl.  Universitäts- Bibliothek  zu  Gröttingen  an- 
gekauft.   Die  jetzige  Signatur  der  Hs.  ist  „Cod.  MS.  Michael.  270", 
s.  Verzeichniss  der  Handschriften  im  preussischen  Staate,  I:  Han- 
nover, 3 :  Göttingen,  3  (1894),  S.  200.     Ihr  Titel  lautet : 
PENTATEVCHVS   |   AETHIOPICE   |   a  \  CHßISTIANO    LV- 
BOLFO  I  ILLVSTRIS   VIRI  |  lOBI  LTDOLFI  1  FILIO  |  ab 
exemplari  \  DN.   LTDOYICI  PIQVES,   DOJCTORIS   et  SOCII 
SORBONNAE:  ^Quod  Uli  Joh.  Mich.   Wanslehen  Bomce  \  a  fe  de- 
fcriptimi  vendiderat,  \  PARISIIS  |  Äö:  cio  loc  lxxxiv  |  defcriptus.^) 
Geschrieben  ist  sie  gewiß  in  der  Hauptsache,    wie  auf  dem  Titel 
angegeben  wird,  von  Ludolfs  Sohn  Christian;    doch  ist  auch  Hiob 
Ludolfs  eigene  Hand  an  einigen  Stellen,  z.  B.  bei  den  in  Exod.  36 
— 39  eingeschalteten  ^)  lateinischen  Bemerkungen,  mit  voller  Sicher- 
heit zu  erkennen.  —  Die  Abschrift  des  Buches  losue   ist  andere 
Wege  gegangen;  diese  haben  sie  aber  gleichfalls  in  die  Göt tinger 
Universitäts-Bibliothek  geführt,    für   die   sie  bereits    1776 
aus  dem  Nachlasse  des  am  6.  Mai  1775  verstorbenen  Gothaer  Rek- 
tors Joh.  Heinr.  Stuß  *)  angekauft  wurde.    Sie  trägt  jetzt  die  Sig- 
natur „Cod.  MS.  Aethiop.  1^^   (früher  „Orient.  20"),    s.   das   ange- 
führte Hss.-Yerzeichnis  3,  S.  308.    Ihr  Titel  lautet : 

lOSUA  I  iETHIOPICE  |  ä  \  lOBO  LUDOLFO  |  ab  Exemplari  ma- 
mifcripto  \  D.  LUBOVICI  PIQUES,  |  Doctoris  et  Socij  SorboncB,  de 
quo  I  fupra  in  titulo  FentateucJd ;  \  Cum  initio  An:  1684,  Lutetiw 
Pari„  \fiorum  esfet,  \  defcriptus.  ^) 
Sie  ist  ganz  von  Hiob  Ludolf  selbst  geschrieben.  Am  Schlüsse 
des  Buches  losue  auf  S.  78  hat  Ludolf  den  Titel  des   darauf  fol- 


1)  Dieser  hat  selbst  auf  dem  Titel  der  Handschrift  bemerkt:  „Ex  hibliotheca  | 
B.  loann.  Henr.  Michaelis  \  auctionis  iure  accefßt  \  libris  |  Christ.  Benedicti  Mi- 
chaelis 1  A.  1740.'' 

2)  Die  fett  gedruckten  Wörter  sind  mit  roter,  das  Übrige  mit  schwarzer 
Tinte  geschrieben. 

3)  Die  Art,  wie  diese  Bemerkungen  in  den  äthiopischen  Text  eingeschaltet 
sind,  beweist,  daß  sie  von  Hiob  Ludolf,  der  die  Abschrift  seines  Sohnes  natürlich 
überwachte,  gleich  bei  der  Abschrift  hinzugefügt  sind. 

4)  Allgemeine  Deutsche  Biographie  37  (1894),  S.  68  f.  Die  Göttinger  Univ.- 
Bibl.  besitzt  den  Auktionskatalog  „Bibliotheca  Stussiana  oder  Verzeichniß  der 
ansehnlichen  Bücher-Sammlung  Herrn  Joh.  Heinr.  Stußens  .  .  .  Gotha  1776" ;  darin 
findet  sich  die  los.-Hs.  auf  S.  58  unter  Nr.  387. 

5)  Auch  hier  sind,  wie  beim  Pentateuch,  die  fett  gedruckten  Wörter  mit 
roter,  das  Übrige  mit  schwarzer  Tinte  geschrieben. 


über  einige  alttestara.'^Hss.  d.  Abessinierklosters  S.  Stefano  zu  Rom.     171 

genden  Buches  ludicum  noch  mit  abgeschrieben,  aber  hinzugefügt: 
„Ob  inoplam  temporis  descriptio  fieri  non  potnit^'^).  Auf  S.  79  hat 
Ludolf  sich  einige  Notizen  über  die  von  Wansleben  abgeschriebene 
römische  Hs.  und  über  Wanslebens  Abschrift  gemacht;  auf  S.  80 
hat  er  als  Probe  aus  lud.  die  vier  Verse  3 12— 15  abgeschrieben. 

Die  oben  S.  169  angeführten  Eintragungen  von  Ludolf  und 
Picques  in  Wanslebens  Abschrift  lehren,  daß  Ludolf  sich  ebenso 
wie  früher  Wansleben  mit  der  Absicht  getragen  hat,  den  äthiopi- 
schen Text  nebst  lateinischer  Übersetzung  herauszugeben.  Dasselbe 
ergibt  sich  auch  aus  der  Überschrift,  mit  der  Ludolf  seine  soeben 
erwähnten  Notizen  über  die  römische  Hs.  und  Wanslebens  Ab- 
schrift versehen  hat:  „Sequentia  in  impressione  addi  poterunt".  Nach 
Picques  (s.  oben  S.  169)  hat  Ludolf  seine  Abschrift  auch  schon 
wirklich  zu  diesem  Zwecke  nach  Hamburg  geschickt.  Darüber 
habe  ich  sonst  zwar  keine  Nachricht  gefunden;  aber  da  Picques 
mit  Ludolf  im  Briefwechsel  gestanden  hat  (s.  oben  S.  169  Anm.  1), 
wird  er  dies  von  Ludolf  selbst  erfahren  haben,  und  auch  an  sich 
ist  es  gar  nicht  unwahrscheinlich,  denn  in  Hamburg  gab  es  äthiopi- 
sche Typen  %  und  dort  hatte  Ludolf  in  Christoph  Schlichting  einen 
äthiopischen  Schüler,  der  den  Druck  überwachen  konnte^).  Es  ist 
dann  allerdings  nichts  daraus  geworden,  wahrscheinlich  weil  sich 
niemand  fand,  der  die  Kosten  getragen  hätte.  Daß  aber  Ludolf 
auch  später  den  Plan  nicht  ganz  aufgegeben  hat,  erfahren  wir 
von  seinem  Schüler  Georg  Christian  Bürcklin ;  dieser  bemerkt  näm- 
lich im  Vorwort   seiner  Ausgabe  der  „Quatuor  prima   capita  Ge- 

1)  Wie  Ludolf  im  Lexicon  Aeth.-Lat.,  ed.  II  (1699),  auf  der  zweiten  Seite 
des  „Catalogus  librorum"  sagt,  hat  er  Picques  vergeblich  gebeten,  ihm  die  Wans- 
lebenschc  Abschrift  nach  Frankfurt  a. M.  zu  schicken,  um  dort  auch  die  noch 
fehlenden  Bücher  ludicum  und  Regum  abschreiben  zu  können:  „Judicum  atque 
Begum  Libros  IV.  Wanslebii  manu  defcriptos  modo  laudatus  Doctor  quoque 
poffidet,  fed  ad  me  mitter e  recufavit."  (Das  Buch  Ruth  nennt  Ludolf  nicht,  weü 
es  bereits  von  Nissel  herausgegeben  war.) 

2)  Siehe  Rahlfs  Niss.  u.  Petr.  S.  336  ff. 

3)  Die  mechanischen  Arbeiten  bei  der  Herausgabe  seiner  Werke  ließ  Ludolf 
bekanntlich  in  der  Regel  durch  seine  Schüler  und  Amanuenses  besorgen,  Schlich- 
ting war  1684 — 1687  bei  Ludolf  in  Frankfurt  a.  M.  gewesen,  s.  Rahlfs  Niss.  u. 
Petr.  S.  336  Anm.  1.  Bei  meiner  Annahme  würde  Ludolf  seine  Abschrift  nicht 
sogleich,  nachdem  er  sie  genommen  hatte,  nach  Hamburg  geschickt  haben,  sondern 
erst  später;  aber  das  ist  auch  sehr  wohl  möglich,  da  Picques'  Zeitangabe  „en 
1683",  die  übrigens  nicht  ganz  genau  ist,  sich  nur  auf  die  Anfertigung  der  Kopie, 
nicht  auch  auf  ihre  Sendung  nach  Hamburg  zu  beziehen  braucht.  —  Später  hatte 
Ludolf  noch  einen  anderen  Schüler  aus  Hamburg,  Joh.  Friedr.  Winckler,  s.  Rahlfs 
Niss.  u.  Petr.  S.  342  Anm.  2 ;  aber  dieser  kommt  hier  wohl  sicher  noch  nicht  in 
Betracht,  da  er  erst  im  Dez.  1679  geboren  ist. 


172  Alfred  Rahlfs, 

neseos,  iEthiopice  et  Latine"  (Frkf.  a.  M.  1696) :  „Is  [d.  h.  Ludolf ] 
Pentateucham  integrum  -^thiopice  manufcriptum  pol'fidet,  &  fi  re- 
pertus  fuerit,  qui  fumptus  imprerfionis  facere  velit,  cum  publico 
non'denegabit." 

Wir  haben  gesehen,  daß  Ludolfs  Pent.-Abschrift  später  im 
Besitze  von  Joh.  Hein r.  Michaelis  war.  Ludolfs  los.- Abschrift 
hat  Michaelis  nicht  besessen,  wohl  aber  hat  er  sie  sich  kurz  vor 
Ludolfs  Tode^)  durch  seinen  Neffen  Christian  Benedikt  Michaelis 
abschreiben  lassen.  Diese  Abschrift  ging  später  ebenso,  wie  die 
Ludolfsche  Pent.-Abschrift,  in  den  Besitz  von  Christian  Benedikt 
und  Johann  David  Michaelis  und  nach  dessen  Tode  in  den  Besitz 
der  Göttinger  Universitäts-Bibliothek  über.  Sie  ist  ent- 
halten in  dem  aus  Handschriften  und  Drucken  zusammengesetzten 
Sammelbande  „Cod.  MS.  Michael.  264"  und  nimmt  in  ihm  Bl.  24-— 76 
ein,  s.  das  oben  S.  170  zitierte  Göttinger  Hss.- Verzeichnis  3,  S.  198. 

Diese  beiden  im  Besitze  von  Joh.  Heinr.  Michaelis  befindlichen 
Hss.,  also  die  früher  Ludolfsche  Pent.-Abschrift  und  die  Michaelis- 
sche  los.-Abschrift  (jetzt  Göttingen,  TJniv.-Bibl,  Mich.  270  und  264), 
sind  nun  die  Vorlagen  der  beiden  von  Dillmann  benutzten  Hallenser 
Handschriften  gewesen^).  Wenn  es  also  in  den  oben  S.  167  an- 
geführten Titeln  der  Hallenser  Hss.  heißt,  sie  seien  „ex  Apographo" 
resp.  „ex  Manufcripto  D.  Joh.  Henr.  Michaelis"  abgeschrieben,  so 
ist  das  nicht  so  zu  verstehn,  als  ob  J.  H.  Michaelis  die  ihnen  zü- 
grunde liegenden  Hss.  selbst  geschrieben  habe^).  Der  Pent.  war 
vielmehr  von  Christian  Ludolf,  der  los.  von  Christ.  Ben.  Michaelis 
geschrieben,  und  J.  H.  Michaelis  war  nur  zu  der  Zeit,  wo  der  unbe- 
kannte Hallenser  Gelehrte,  vermutlich  ein  Schüler  von  J.  H.  Michaelis, 
seine  Abschriften  nahm,  im  Besitze  der  beiden  Handschriften. 

1)  Ludolf  starb  am  8.  April  1704  (Juncker  S.  153.  187).  Die  Michaelis'sche 
Abschrift  wird,  da  eine  andere  Michaelis'sche  Abschrift  eines  gleichfalls  von  Lu- 
dolf geliehenen  Stückes,  die  sich  in  demselben  Bande  findet,  vom  Jahre  1703  da- 
tiert ist  (s.  unten  S.  177  Anm.  2),  aus  derselben  Zeit  stammen. 

2)  Die  Hallenser  los.-Hs.  enthält  hinter  dem  los.  und  den  von  Hiob  Ludolf 
am  Schlüsse  des  los.  hinzugefügten  Bemerkungen  (s.  oben  S.  170  f. ;  diese  Bemer- 
kungen sind  jedoch  in  der  Hallenser  Abschrift  gekürzt)  auch  noch  „Fragmenta 
Bibliorura  Aethiop:"  (vgl.  Dillm.  Oct.  S.  1G7),  welche  sich  in  Ludolfs  los.-Hs.  nicht 
finden.  Sie  stammen  gleichfalls  aus  dem  Cod.  Mich.  264,  in  welchem  sie  nur  nicht 
hinter,  sondern  vor  los.  stehen  (doch  hat  der  Hallenser  Abschreiber  die  Pent.-Frag- 
mente,  mit  welchen  der  Cod.  Mich,  beginnt,  und  auch  die  Ruth-Fragmente  fort- 
gelassen, offenbar  deshalb,  weil  er  vom  Pent.  und  Ruth  vollständige  Texte  besaß). 
Übrigens  geht 'auch  diese  Sammlung  von  Fragmenten  der  äthiopischen  Bibel  im 
letzten  Grunde  zweifellos  auf  Hiob  Ludolf  zurück,  vgl.  unten  S.  189  Anm.  1. 

3)  So  hat  es  Boyd  in  seiner  Ausgabe  der  äthiopischen  Genesis  S.  XYII  ver- 
standen (den  Titel  dieser  Ausgabe  s.  unten  S.  176  Anm.  1). 


über  einige  alttestam.  Hss.  d.  Abessinierklosters  S.  Stefano  zu  Rom.     173 

Von   der  Hallenser  los.-Hs.   hat   ein  Jahrhundert  später  wie- 
derum Friedrich  Tuch,  damals  Privatdozent  in  Halle,  nachher 
Professor  in  Leipzig,   eine  Abschrift  genommen.     Sie  gehört  jetzt 
der  Universitäts-Bibliothek  in  Leipzig  und  trägt  dort  die  Signatur 
„V  1093b«.     Ihr  Titel  lautet: 
HA,PiVil."  I  Liber  Josuae  |  Aethiopice  |  ex  Msc.  |  Bibliothecae 
Eegiae  Halensis  I  descriptus.  |  Halis  Saxonum  M.DCCC.XXXII. 
Außerdem  gibt   es,    wie  der  Vollständigkeit  halber   erwähnt   sei, 
noch  mehrere  Nebensprößlinge  derselben  Familie,   welche  di- 
rekt oder  indirekt  auf  die  Ludolfschen  Abschriften   zurückgehen: 
Göttingen,    Univ.-Bibl.,   Aeth.  2  (früher  Orient.  21):  losue;  s. 
das  oben  S.  170  zitierte  Gröttinger  Hss.-Verzeichnis  3,  S.  308  f. 
Hamburg,    Stadtbibl.,    Or.  271:    Genesis;    s.  Katalog  der  Hss. 
der  Stadtbibl.  zu  Hamburg  III  1 :    Die  arab.,  pers.,    .  .  .  äth. 
Hss.  beschrieben  von  C.  Brockelmann  (1908),   S.  178  Nr.  319. 
Hamburg,  Stadtbibl.,   Or.  272,   zweite  Abteilung  Bl.  la— 19b: 
Exodus  1--4;  Bl.  27b— 67b:  Exodus  36  —  40;  Bl.  70b— 
176  b:   losue  (Kap.  1  mit  Ausnahme   der  letzten  Worte  und 
Kap.  12 1^ — 13?^   sind   doppelt  vorhanden);    s.   den  soeben  zi- 
tierten Katalog  Brockelmanns  S.  178—180  Nr.  320. 
Kiel,  Univ.-Bibl.,  §50  4^:  Sammelband  äthiopischer  Druckwerke, 
besonders  von  Nissel  und  Petraeus  (vgl.  aber  auch  oben  S.  168 
Anm.  1),  wozu  handschriftlich  andere  Stücke  hinzugefügt  sind, 
darunter  Exodus  1  —  4  (hinter  den  Nissel-Petraeus'schen  Aus- 
gaben biblischer  Bücher). 
Diese  Neben  Sprößlinge   stammen  sämtlich  von  Ludolfs  Hamburger 
Schülern  Christoph  Schlichting  und  Joh.  Friedr.  "Win ekler ^). 
Winckler   hat  die   Göttinger  Hs.   geschrieben.     Die  beiden  Ham- 
burger Hss.  und  der  Kieler  Band  rühren  jedenfalls  von  Schlichting 
her;    sie  hängen  untereinander   aufs    engste   zusammen:    einerseits 
stimmt  die  Hamburger  Gen.-Hs.  Or.  271  in  der   ganzen  Art  ihrer 
Ausführung  völlig  mit  der  Abschrift  von  Exod.  1—4  in  dem  Kieler 
Bande  überein,  und  andrerseits  finden  sich  die  meisten  der  in  die- 
sem Kieler   Bande  handschriftlich   zu   den  Druckwerken   hinzuge- 
fügten Stücke   auch  in   dem  Hamburger  Or.  272;    allerdings    sind 
die  drei  Bände  nicht  durchgehends  von  einer  und  derselben  Hand 
geschrieben,    sondern  es  wechseln   darin   zwei  Hände,   doch   lassen 
sich  diese  auch  in  anderen  Hss.  Schlichtings,  z.  B.  Göttingen,  Univ.- 
Bibl.,  Aeth.  6,  ebenso  unterscheiden. 

Sehen  wir  nunmehr  von  jenem  späten  Nachtriebe   und  diesen 


1)  Über  Schlichting  und  Winckler  s.  oben  S.  171  Anm.  3. 


174  Alfred  Rahlfs, 

Seitenschößlingen  ab  und  beschränken  uns  auf  die  direkt  von  dem 
römischen  Archetypus  bis  auf  die  von  Dillmann  benutzten  und  mit 
der  Sigel  „H"  bezeichneten  Hallenser  Hss.  herabführende  Haupt- 
linie, so  ergibt  sich  folgender  Stammbaum: 

Original  in  S.  Stefano  zu  Rom 

Abschrift  Wanslebens  vom  J.  1666,   später  im  Besitz  von  Picques,  jetzt  Paris, 
Bibl.  Nat.,  Eth.  1  (Pent.)  und  2  (los.— Reg.  IV) 

Pent-Abschrift  Christian  Ludolfs  vom  los.-Abschrift  Hiob  Ludolfs  vom  J. 

J.  1684,   später  im  Besitz   von  J.  H.,  1684,  jetzt  Göttingen,  Univ.-Bibl., 

Chr.  B.  und  J.  D.  Michaelis,  jetzt  Aeth.  1 

Göttingen,  Univ.-Bibl,  Mich.  270  I 

los.-Abschrift   von    Chr.   B.   Michaelis 

aus  der  Zeit  um  1703,  anfangs  im  Be- 
sitz von  J.  H,,  dann  von  Chr.  B.  und 
J.  D.  Michaelis,  jetzt  Göttingen,  Univ.- 
Bibl.,  Mich.  264 

Pent.- Abschrift  eines  Unbekannten  vom  los.-Abschrift   eines  Unbekannten  vom 

J.  1732,  jetzt  Halle,  Univ.-Bibl,  Ya.  2  J.  1731,  jetzt  Halle,  Univ.-Bibl.,  Ya.  3 

(=  Dillmanns  „H«)  (=  Dillmanns  „H") 

Nachdem  wir  uns  so  über  die  Herkunft  H's  aus  der  römischen 
Original-Hs.  genau  orientiert  haben,  kommen  wir  zu  der  Frage: 
Wie  verhält  sich  H  zuF,  der  anderen  von  Dillmann  in  erster 
Linie  zugrunde  gelegten  Hs.,  die  jetzt  der  British  and  Foreign 
Bible  Society  in  London  gehört? 

Dillmann  Oct.  S.  6 f.  hat  mit  vollem  Rechte  bemerkt,  daß 
H  und  F  außerordentlich  nahe  miteinander  verwandt  sind.  Sieht 
man' von  allerlei  Versehen  und  absichtlichen  Änderungen  ab,  wie 
sie  sich  bei  europäischen  Gelehrten-Abschriften  des  XVII.  und 
XVIII.  Jahrh.  eigentlich  von  selbst  verstehen,  so  bietet  H  einen 
Text,  der  ^miro  modo^  mit  F  verwandt  ist  und  mit  F  sogar  in 
Archaismen  und  sonstigen  Besonderheiten  „fere  ubique'^  überein- 
stimmt. Daher  hat  sich  Dillmann  der  Verdacht  aufgedrängt,  daß 
H  in  direkter  Linie  auf  F  zurückgehe,  daß  also  die  jetzt  im  Be- 
sitze der  British  and  Foreign  Bible  Society  befindliche  Hs.  F  keine 
andere  sei  als  die,  welche  zur  Zeit  Ludolfs  und  Wanslebeng  im 
Abessinierkloster  S.  Stefano  zu  Eom  war,  und  er  hat  sich  deshalb 
die  äußerste  Mühe  gegeben  zu  erfahren,  von  wo  F  nach  London 
gekommen  sei,  ohne  jedoch  darüber  Auskunft  erhalten  zu  können  ^). 

1)  Dillm.  Oct.  S.  6 :  „Quae  suspicio  quum  me  moveret,  acerrime  quidem  id 
agebam,  ut  comperirem,  unde  Britanni  librum  comparavissent  et  Londinum  depor- 
tavissent,  sed  quamquam  iterum  iterumque  percontabar,  nemo  mihi,  quae  scire 
volui,  respondit." 


über  einige  alttestam.  Hss.  d.  Abessinierklosters  S.  Stefano  zu  Rom.     175 

Da  ihm  nun  der  historische  Beweis  für  die  Identität  F's  mit  der 
römischen  Hs.  fehlte,  und  er  in  H  doch  auch  Lesarten  fand,  „quas 
aliunde  haustas  esse  necesse  est",  so  hat  er  sich  schließlich  für 
die  Annahme  entschieden,  daß  H  nicht  direkt  auf  F,  sondern  nur 
auf  einen  nahen  Verwandten  F's  zurückgehe  ^),  und  daher  in  seinem 
textkritischen  Apparat  H  neben  F  notiert^). 

Nachträglich  aber  scheint  sich  Dillmann  doch  der  anderen  An- 
nahme, daß  F  selbst  die  zu  Ludolfs  und  Wanslebens  Zeit  in  Rom 
befindliche  Hs.  sei,  zugeneigt  zu  haben.  Ich  schließe  das  aus  den 
Addenda  et  corrigenda  am  Schlüsse  des  Oct.  (S.  219),  in  welchen 
Dillmann  zu  S.  6  Z.  3,  wo  er  erwähnt  hatte,  daß  F  laut  Unter- 
schrift „ab  Isaac  quodam,  eins  possessore^'  den  Abessiniern  in  Je- 
rusalem gestiftet  sei,  folgenden  Nachtrag  gibt :  „postquam  ea,  quae 
Ludolfus  in  Comm.  ad  bist.  Aeth.  p.  298  seq.  [das  ist  die  oben 
S.  164  abgedruckte  Stelle]  de  libris  Aethiopicis  in  hospitio  Abys- 
sinorum  Romae  asservatis  annotavit,  inspexi,  equidem  Isaacum  il- 
lum,  qui  nostrum  codicem  F  Axuma  Hierosolymam  misit,  regem 
Abyssiniae  (saeculo  XIV  [lies  XV])  fuisse  suspicor."  Denn  wenn 
Dillmann  nunmehr  in  dem  Isaac,  der  F  nach  Jerusalem  gestiftet 
hat,  den  König  Isaac  vermutet,  weil  Isaac  nach  Ludolfs  Angabe 
einer  der  Könige  ist,  welche  einst  die  später  in  Rom  befindlichen 
Hss.  nach  Jerusalem  gestiftet  haben  ^),  so  muß  er  eigentlich  an- 
nehmen, daß  F  mit  einer  jener  römischen  Hss.  identisch  ist. 

Über  Dillmann  hinaus  ging  Zotenberg  S.  1  in  seiner  Be- 
schreibung der  Abschrift  Wanslebens,  indem  er  F  geradezu  und 
ganz  bestimmt  für  den  Archetypus  erklärte,  welchen  Wansleben 
abgeschrieben  habe.  Einen  Beweis  hierfür  gab  er  nicht,  doch  scheint 
er  dadurch,  daß  er  aus  Dillm.  Oct.  außer  „p.  4  et  suiv."  auch 
„p.  164^^  zitiert,  anzudeuten,  worauf  er  seine  Annahme  gründet. 
Dillmann  handelt  nämlich  an  dieser  Stelle  über  Lektionsvermerke 
in  F  und  fährt  dann  fort:  „Etiam  in  codice  H  eorum  multa  con- 
servata  sunt;  sed  cum  librarii  eorum  sensum  non  intelligerent, 
satis  inepte  et  annotationes  et  sigla  in  ipsum  orationis  contextum 
receperunt"  ^). 


1)  Ebenda  S.  7 :  „codicem  F  et  codicis  II  archetypum  intima  inter  sese  con- 
junctos  esse  cognatione  et  idem  textus  genuini  et  antiqui  genus  praebere". 

2)  Ebenda:  „Quare  lectiones  e  codice  H  annotare  haud  omisi." 

3)  Siehe  hierüber  unten  S.  179  f. 

4)  Vgl.  auch  schon  Dillmanns  Beschreibung  von  H  auf  S.  7:  „nee  raro  11- 
brum  archetypum  a  librario  falso  lectum  et  descriptum  esse  clarissime  apparet 
(ex.  gr.  sigla,  quibus  pericopae  in  ecclesia  legendae  signantur,  perperam  in  ipsum 
verborum  contextum  saepius  inserta  sunt)." 


176  Alfred  Ra^hlfs, 

Ebenso  wie  Zotenberg  entscheidet  sich  J.  Oscar  Boyd  in 
seiner  neuen  Ausgabe  des  äthiopischen  Oktateuchs  ^)  für  Herkunft 
H's  von  F  wegen  der  „intimate  relationship  of  the  text  of  H  to 
the  text  of  F".  Damit  ist  er  aber  im  G-runde  nicht  über  Dillmann 
hinausgekommen;  denn  die  „cognatio  intima"  oder  „intima  neces- 
situdo"  der  beiden  Hss.  hatte  schon  Dillm.  Oct.  S.  6  hervorgehoben. 
Einen  wirklich  durchschlagenden  Beweis  für  die  Herkunft  H's  von 
F  hat  Boyd  so  wenig  wie  Zotenberg  geliefert. 

Und  doch  läßt  sich  ein  solcher  Beweis  sehr  wohl  liefern.  In 
der  alten  Pergament-Hs.  F  sind  nämlich ,  wie  Dillmann  Oct.  S.  4 
bemerkt,  das  7.  und  8.  Blatt  ausgefallen  und  später  durch  zwei 
Papierblätter  ersetzt.  Der  Text  dieser  beiden  Papierblätter,  Gen. 
4 15 — 6 11,  weicht  aber  in  seinem  ganzen  Charakter  völlig  von  dem 
übrigen  Texte  F's  ab,  so  sehr,  daß  Dillmann  annimmt,  daß  hier 
gar  nicht  die  altäthiopische,  sondern  eine  aus  einer  arabischen 
Übersetzung  oder  vielmehr  Paraphrase  geflossene,  ganz  junge  Über- 
setzung vorliege,  s.  Dillm.  Oct.  S.  28—31  und  vgl.  auch  Boyds 
Varianten  zu  jenem  Abschnitt.  Hier  handelt  es  sich  also  um  einen 
Textwechsel,  der  durch  eine  mechanische  Verletzung  F's  veranlaßt 
ist,  und  der  Textwechsel  reicht  genau  so  weit  wie  der  Wechsel 
zwischen  dem  alten  Pergament  und  dem  jungen  Papier.  Stammte 
nun  H  nicht  von  F,  sondern  von  einer  mit  F  verwandten  Hs.  ab, 
so  müßten  H  und  F  hier  auseinander  gehen;  denn  daß  auch  in 
der  mit  F  verwandten  Hs.,  welche  Dillmann  als  Archetypus  H's 
ansetzt,  gerade  genau  dieselbe  Stelle  ausgefallen  und  in  genau  der- 
selben Weise  ergänzt  worden  wäre,  das  wäre  doch  ein  schlechthin 
unwahrscheinlicher  Zufall.  Indessen  ist  auch  hier,  wie  Dillm.  Oct. 
S.  28  selbst  bemerkt,  H  aufs  engste  mit  F  verwandt:  „Totus  locus 
inde  a  C.  4, 15  usque  ad  C.  6, 11  non  tantum  in  codice  F  sed  etiam 
in  codice  H,  qui  illi  intime  cognatus  est,  prorsus  corruptus  est.^ 
Daraus  folgt  mit  vöÄiger  Sicherheit,  daß  H  in  direkter  Linie 
von  F  abstammt,  und  man  muß  sich  nur  wundern,  daß  nicht 
schon  Dillmann  diesen  ganz  selbstverständlichen  Schluß  gezogen  hat. 

Geht  H  aber  in  direkter  Linie  auf  F  zurück,  so  wird  F  auch 
dieselbe  Handschrift  sein,  welche  einst  im  Abessinierkloster 
S.  Stefano  zu  Rom  war  und  dort  von  Ludolf  gesehen  und  von 
Wansleben  abgeschrieben  wurde.  Für  diese  Tatsache ,  die  sich 
schon  aus  dem  Texte  von  F  und  H  mit  großer  Wahrscheinlichkeit 


1)  Bibliotheca  Abessinica  ed.  by  E.  Littmann,  Vol.  III:  The  Octateuch  in 
Ethiopic  according  to  the  text  of  the  Paris  Codex,  with  the  variants  of  five  other 
mss.  ed.  by  J.  Oscar  Boyd,  Part  I :  Genesis  (Leyden  &  Princeton  1909),  S.  XVIII. 


über  einige  alttestam.  IIss.  d.  ABessiniferklosters  S.  Stefano  zu  Rom.     177 

ergibt,  vermag  ich  zwei  Beweise  zu  liefern,  die,  wie  mir  scheint, 
jeden  Zweifel  ausschließen: 

1)  Dillm.  Oct.  S.  6  sagt  in  seiner  Beschreibung  F's :  „E  sub- 
scriptionibus  a  calce,  fol.  283  seq.,  additis  eum  Axumae,  in  regni 
et  ecclesiae  metropoli,  exaratum  et  ab  Isaac  quodam,  eins  posses- 
sore,  Hierosolyma  missum  et  Abyssinis  in  hospitio  Hierosolymitano 
degentibus  dono  datum  esse  apparet."  Von  den  Unterschriften, 
deren  Inhalt  er  hier  angibt,  fand  sich  aber  wenigstens  die  eine 
ganz  sicher  auch  in  der  Hs.  von  S.  Stefano.  Wansleben  hat 
dieselbe  mit  abgeschrieben;  sie  steht  in  seiner  Abschrift  nach  Zo- 
tenb.  S.  3  Sp.  II  (unter  „a")  hinter  Rutli,  also  genau  wie  in  F  am 
Schlüsse  des  Oktateuchs,  und  lautet  folgendermaßen:  ;,Betet^)  für 
die,  die  wir  uns  an  diesem  Buche  abgemüht  haben,  und  für  Isaak 
euren  ^)  Knecht,  der  dieses  dem  heiligen  Jerusalem  gegeben  hat". 
Außerdem  haben  wir  über  dieselbe  Unterschrift  noch  einen  Bericht 
bei  Platt.  Dieser  teilt  nämlich  auf  S.  7  f.  eine  Beschreibung  der 
äthiopischen  Hss.  von  S.  Stefano  mit,  welche  Hiob  Ludolf  im  Jahre 
1700  von  seinem  NeiFen  Heinrich  Wilhelm  Ludolf  bekommen^) 
und  dann  eigenhändig  am  Schlüsse  eines  jetzt  „in  the  Royal  Li- 
brary", d.  h.  in  der  Bibliotheque  Nationale  zu  Paris,  befindlichen 
Exemplars  seines  Comm.  unter  dem  Titel  „Miscellanea  varia  pro 
futura  fortassis  editione",  d.  h.  für  eine  eventuelle  zweite  Ausgabe 
des  Comm.,  eingetragen  hat.   Diese  Beschreibung,  die  ich  hier  ganz 


1)  Der  Verfasser  der  Unterschrift  redet  hier  die  Mönche  des  abessinischen 
Klosters  in  Jerusalem  an.  Vgl.  über  dieses  Kloster  H.  Duensing,  Die  Abessinier 
in  Jerusalem:  Zeitschr,  d.  Deutschen  Palästina-Vereins  39  (1916),  S.  98— 115. 

2)  Über  Heinr.  Wilh.  Ludolf  s.  die  Stammtafel  bei  Juncker  vor  S.  187.  H. 
W.  Ludolf  war  Sekretär  beim  Prinzen  Georg  von  Dänemark,  dem  Gemahl  der 
Königin  Anna  von  Großbritannien.  Er  verfaßte  eine  russische  Grammatik,  die 
1696  in  Oxford  erschien.  1698—1700  machte  er  eine  größere  Reise,  bei  der  er 
auch  Äthiopisches  für  seinen  Oheim  sammelte.  Im  Okt.  1698  schreibt  Hiob  Lu- 
dolf an  Picques :  „Mon  neveu  eft  deja  parti  de  Livorne,  je  ne  f^ai  fi  c'eft  pour 
Conftantinople  ou  pour  Scandrona",  s.  Relation  historique  d'Abissinie,  du  R.  P. 
Jerome  Lobo^.  .  .  Traduite  .  .  .  par  M.  Le  Grand  (Paris  1728),  S.  182  [im  Druck 
ist  diese  Seite  irrtümlich  mit  der  Zahl  „178"  versehen].  Im  Nov.  1699  war  H. 
W.  Ludolf  bei  den  Abessiniern  in  Jerusalem ;  denn  der  Cod.  MS.  Michael.  264  der 
Göttinger  Univ.-Bibl.  enthält  auf  Bl.  96—101  eine  im  Jahre  1703  von  Christian 
Benedikt  Michaelis  angefertigte  Abschrift  eines  äthiopischen  Festkalenders  und 
eines  Gebetes,  welches  H.  W.  Ludolf  „ex  MSto  Hdbeffini  Meraivi- Christos,  ßbi 
communicato,  HierofoJymis,  menfe  Novemhn  cioiocxcjx.^  abgeschrieben  und  dann 
offenbar  seinem  Oheim  mitgeteilt  hatte.  Im  Mai  1700  war  II.  W.  Ludolf  in  Rom 
und  beschäftigte  sich  dort  mit  den  äthiopischen  Hss.  von  S.  Stefano,  s.  Roupp 
S.  300. 

Kgl,  Oes.  d.  Wiss.  Nachrichten.    Phll.-hist.  Klasse,    1M8.    Heft  2.  12 


l78  Alfred  Rahlfs, 

abdrucke  ^),  weil  sie  auch  für  unsere  weitere  Untersucliung  in  Be- 
tracht kommen  wird  und  sich  in  einem  schwer  zugänglichen  Buche 
findet,  lautet  folgendermaßen: 

De  libris  Aethiopicis  in  hospitio  Habessinorum  E-omae  re- 
pertis  sequentia  ad  me  scripsit  Heinricus  Wilhelmus  Ludolfus. 

FOLIO. 

1.  Octateuchus:  nim.  Quinque  libri  Mosis,  libri  Jpsuae,  Ju- 
dicum  et  Ruth.  In  fine  extat:  'Orate  pro  iis  qui  mihi  labora- 
runt  in  hoc  libro,  et  pro  me  Isaaco  ^)  qui  eum  vobis  Hierosolymis 
degentibus  dedi.'     Hunc  tomum  descripsi,  p.  298.  ^) 

2.  Quatuor  libri  Regum.  Bene  est  compactus  in  corio  rubro, 
et  Rex  Amda-Tzion,  cujus  nomen  regni  Gebra-Meskel  *) ,  eum 
Hierosolymas  misisse  dicitur. 

3.  fh^J^ill   Cui  praemissa  est  Epistola  Regis  HCA'JP 

Diversi  quaterniones  incompacti. 

QUARTO. 

1.  Esaias.  Post  finem  cap.  LXVI.  incipit  alius  liber  voca- 
tus  ÖC*?'t' I A,»*! JB.Pil  ■  et  postea  quaedam  Esdrae. 

2.  Undecim  Prophetae  minores  —  Deest  Hoseas. 

3.  Tenuis  liber  qui  videtur  Liturgia,  incipit  enim:  ^Oratio 
quando  sacerdos  induit  vestimenta  sacerdotalia.' 

4.  5.  Duo  Volumina.  Unum  in  charta  pergamena,  et  alterum 
in  Charta  communi;  quod  hie  Romae  tempore  Urbani  VIII.  tran- 
scriptum  dicitur;  'Organen  Dinghil'  mihi  videntur;  posterius 
enim  ita  concludit:  "l-^ÄC^.TlHP.'AO^^:: 

6j  7.  Duo  libri  Precum. 

Diversae  schedae  multos  characteres  Amharicos  continentes. 
Psalterium  in  majori  octavo. 

In  12 mo.  Duo  libri  Precum,  maximam  partem  ad  B.  Vir- 
ginem  directarum. 

Alii  tres  libri  in  12  mo.  ejusdem  argumenti. 


1)  Auf  die  hier  abgedruckte  Beschreibung  der  Hss.  von  S.  Stefano  folgen 
hoch  einige  Angaben  über  äthiopische  Hss.  in  Florenz  (Senödös,  Paulusbriefe, 
Zaubergebete).    Diese  lasse  ich  fort. 

2)  Hierzu  bemerkt  Hieb  Ludolf  (nach  Platt):  „Iste  Isaacus  rex  esse  videtur 
qui  hunc  tomum  Hierosolymam  misit,  ut  Gregorius  mihi  indicavit.  (P.  298.  §  6. 
[dies  ist  die  oben  S.  164  abgedruckte  Stelle  des  Comm.])". 

3)  Auch  hier  verweist  Hieb  Ludolf  auf  die  oben  S.  164  abgedruckte  Stelle 
Beines  Coinm. 

4)  Hierzu  bemerkt  Hieb  Ludolf  (nach  Platt):  ^Is  quoque  ibidem  nominatur." 
Siehe  wiederum  oben  S.  164. 


über  einige  alttestam.  Hss.  d.  Abessinierklosters  S.  Stefano  zu  Rom.     Y}^ 

Endlich  ist  auch  noch  die  oben  S.  164  a,bgedruckte  Stelle  aus  Lu- 
dolfs  Comm.  heranzuziehen.  Ludolf  gibt  dort  an,  daß  die  in  S. 
Stefano  befindlichen  äthiopischen  Hss.  „a  Regibus  J^thiopige  olim 
Hierofolymam  mirfa  fuerunt,  quique  nomina  fua  infcripferunt,  nempe 
Gebra-Meshel,  Ifaaciis,  et  Zer-a-jacohus,"  Ludolf  stützt  sich  hier, 
wie  bereits  oben  S.  165  f.  ausgeführt,  auf  einen  Bericht  des  Abba 
Grregorius,  nach  welchem  die  Könige  Gabra- Maskai ,  Isaak  und 
Zar'a-Jä'köb  einst  jene  Hss.  „mit  der  "Einzeichnung  ihres  Namens 
nach  Jerusalem  geschickt  hüben".  Auch  hier  erscheint  also  unter 
den  Stiftern  derselben  ein  Isaak,  und  es  kann  nicht  wohl  zweifel- 
haft sein,  daß  auch  diese  Angabe  des  Grregorius  auf  ebenjene  Un- 
terschrift des  Oktateuchs  zurückgeht.  Mit  Recht  also  hat  Dill- 
mann, wie  schon  S.  175  bemerkt,  diesen  von  Grregorius  und  Ludolf 
erwähnten  Isaak  mit  dem  Isaak  der  Londoner  Hs.  F  identifiziert. 
Eine  andere  Frage  ist  es  freilich,  ob  dieser  Isaak  wirklich,  wie 
Gregorius  und  Ludolf^)  und  im  Anschluß  an  sie  auch  Dillmann 
und  Boyd^)  annahmen,  der  bekannte  abessinische  König  ist,  der 
1414 — 1429  regierte.  Mir  ist  das  mindestens  sehr  unsicher.  Denn 
der  oben  S.  177  aus  Zotenb.  mitgeteilte  Wortlaut  der  Unterschrift 
weist  mit  keinem  Worte  auf  königliche  Würde  des  Stifters  hin^). 
Daß  aber  nicht  etwa  noch  eine  andere  Unterschrift  vorhanden  ist, 
in  der  Isaak  als  König  charakterisiert  würde,  schließe  ich  aus  dem 
Umstände,  daß  Dillmann  anfangs  in  seiner  Beschreibung  F's  (Oct. 
S.  6)  nur  sagt,  aus  den  Unterschriften  ergebe  sich,  daß  die  Hs. 
„ab  Isaac  quo  dam,  eins  possessore"  nach  Jerusalem  geschickt  sei, 
und  erst  nachträglich  (Oct.  S.  219)  durch  das  Studium  von  Ludolfs 
Comm.  auf  den  Gedanken  gekommen  ist,  daß  es  sich  hier  um  den 
König  Isaak  handle.    Denn  wenn  jener  Isaak  in  der  Hs.  selbst 


1)  Siehe  oben  S.  178  Anm.  2. 

2)  J.  Oscar  Boyd,  The  text  of  the  Ethiopic  version  of  the  Octateuch  (= 
Bibliotheca  Abessiuica  ed.  by  E.  Littmann,  II,  Leyden  &  Princeton  1905),  S.  17 
unten:  „Codex  F  is  ancient,  writteu  not  later  than  1429";  dies  Jahr  ist  das  To- 
desjahr des  Königs  Isaak.  Später  allerdings,  in  seiner  Ausgabe  der  Gen.  (s.  oben 
S.  176  Anm.  1)  S.  XVII,  setzt  Boyd  zu  der  Identifikation  des  in  F  genannten 
Isaak  mit  dem  König  Isaak  ein  Fragezeichen. 

3)  Der  Schreiber  der  Unterschrift  sagt,  indem  er  sich  an  die  Mönche  des 
abessinischen  Klosters  in  Jerusalem  wendet  (s.  olben  S.  177  Anm.  1):  „Betet  .  .  . 
für  Isaak  euren  Knecht  .  .  .".  Derselbe  Ausdruck  „euer  Knecht"  findet  sich  auch 
in  einer  Unterschrift  der  später  zu  besprechenden  Reg.-Hs.,  aber  nicht  in  der 
Stiftungsurkunde  des  Königs,  sondern  in  der  in  jüngerer  Zeit  hinzugefügten  Bitte 
eines  gewissen  'Estifänös  an  seine  „Väter  und  Brüder",  seiner  in  ihren  Gebeten 
zu  gedenken,  s.  Roupp  S.  342  Anm.  2  und  Taf.  4. 

12* 


iSO  Alfred  Rahlfs, 

deutlich  als  König  charakterisiert  wäre,    so  würde  Dillmann  dies 
zweifellos  sofort  bemerkt  haben. 

2)  Dillm.  Oct.  S.  6  sagt  in  seiner  Beschreibung  F's :  „Quando 
autem  et  a  quo  hie  liber  Hierosolymis  in  Europam  transvectus  sit, 
equidem  compertum  non  habeo,  sed  cum  argumentum  libri  in 
primo  folio  latine  inscriptum  ibidemque  annus  Domini  1696,  Sep- 
tember 20,  adscriptus  sit,  sequitur  ante  hunc  annum  volumen  esse 
transportatum."  Ebenso  wie  der  Londoner  Oktateuch  hat  aber 
auch  die  borgianische  Hs.  der  Bücher.  Regum,  in  der  Roupp  die 
zu  Ludolfs  Zeit  in  S.  Stefano  befindliche  Reg.-Hs.  wiederentdeckt 
hat  (s.  unten  S.  184  iF.),  auf  einem  dem  äthiopischen  Texte  voran- 
gehenden Vorsetzblatte  eine  lateinische  Inhaltsangabe,  welche 
Eoupp  S.  299  f.  abgedruckt  hat.  Diese  stammt  von  dem  römischen 
Lector  theologiae  Johannes  Pastritius  und  ist  von  ihm  in  der 
Hauptsache  am  18.  Mai  1700  (Roupp  S.  300  Z.  16)  nach  Angaben 
des  damals  in  Rom  weilenden  Heinr.  Wilh.  Ludolf  (s.  oben  S.  177 
Anm.  2)  niedergeschrieben  (Roupp  S.  300  Z.  25  ff.).  Sie  beginnt 
jedoch  mit  den  Worten  „Hie  Codex  continet  libros  4  Regum.  Jo.  *) 
Pastritius  1694  et  1696  20  Sept.«  Und  was  diese  Worte  zu  be- 
deuten haben,  lehrt  uns  der  letzte  Abschnitt  (Roupp  S.  300  Z.  19  ff.), 
wo  Pastritius  berichtet,  daß  er,  obwohl  der  äthiopischen  Sprache 
unkundig,  „anno  1694  primum,  tum  1696"  auf  Bitten  Hiob  Ludolfs 
„omnes  libros  manuscriptos  qui  in  domo  S.  Stephani  Abyssinorum 
reperiebantur"  verzeichnet  habe.  Pastritius  hat  also  der  Hs.  nicht 
erst  am  18.  Mai  1700  eine  Inhaltsangabe  voraufgeschickt,  sondern 
er  hatte  schon  vorher  im  Jahre  1694  und  am  20.  Sept.  1696  ihren 
Hauptinhalt  mit  den  Worten  „flic  Codex  continet  libros  4  Regum" 
kurz  angegeben.  Hier  haben  wir  also  in  dem  20,  Sept.  1696 
genau  dasselbe  Datum  wie  in  dem  Londoner  Oktateuch.  Und  über- 
dies hat  auch  der  Senödös,  der  einst  in  S.  Stefano  war  (s.  oben 
S.  163. 178)  und  jetzt  als  Borg.  aeth.  2  in  der  Biblioteca  Vaticana 
aufbewahrt  wird,  nach  Tisserant  S.  XLIII  gleichfalls  „notulam  20 
sept.  1696  a  lohanne  Pastritio  exaratam  in  fol.  I".  Bei  dieser 
völligen  Übereinstimmung  der  drei  Hss.  kann  es  keinen  Augenblick 
zweifelhaft  sein,  daß  auch  das  ^argumentum"  des  Londoner  Okta- 
teuchs,  dessen  Verfasser  Dillmann  nicht  nennt,  von  Joh.  Pastritius 


1)  In  Roupps  Abdruck  der  Inhaltsangabe  steht  hier  nicht  „Jo.",  sondern 
„Js."  Aber  dies  ist  gewiß  ein  Druckfehler;  denn  bei  Roupp  S.  300  Z.  16f., 
wo  der  Name  ausgeschrieben  ist,  heißt  es:  „Joannes  Passtritius  [so!]  Dalmata 
Spalatensis,  Lector  Theologiae".  Vgl.  auch  Tisserant  S.  XLIII  unter  Nr.  62 
und  63. 


über  einige  alttestam,  Hss.  d.  Abessinierklosters  S.  Stefano  zu  Rom.     181 

stammt.  Vermutlich  hat  dieser  sich  auch  in  der  Londoner  Hs. 
ebenso  unterzeichnet  wie  in  den  beiden  anderen,  und  Dillmann, 
der  ja  überhaupt  den  Wortlaut  des  „argumentum"  nicht  mitteilt, 
hat  Pastritius  bloß  deshalb  nicht  genannt,  weil  es  sich  um  einen 
unbekannten  Namen  handelt,  und  weil  es  ihm  nur  darauf  ankam, 
nachzuweisen,  daß  die  Londoner  Hs.  schon  vor  1696  nach  Europa 
gekommen  sei.  Daß  Pastritius  in  der  Tat  auch  den  Oktateuch  mit 
einer  derartigen  Eintragung  versehen  hat,  ist  um  so  sicherer,  als 
er  selbst  in  seiner  Vorbemerkung  zu  der  Reg.-Hs.  auf  diese  Ein- 
tragung verweist:  Roupp  S.  300  Z.  18  „ut  et  innuebam  in  Octa- 
teucho  n*"  1."^).  Hat  aber  Pastritius  sowohl  den  Oktateuch,  als 
die  Reg.-Hs.  und  den  Senödös  am  20.  Sept.  1696  mit  einer  Inhalts- 
angabe versehen,  so  müssen  natürlich  an  diesem  Tage  noch  allß 
drei  Hss.  an  demselben  Orte  vereinigt  gewesen  sein.  Und  dieser 
Ort  kann  kein  anderer  gewesen  sein  als  das  Abessinierkloster  S. 
Stefano,  welches  ja  Pastritius,  wie  wir  sahen,  in  seiner  Vorbemer- 
kung zu  der  Reg.-Hs.  ausdrücklich  als  ihren  Aufenthaltsort  nennt. 
Hiermit  ist  erwiesen,  daß  der  Londoner  Oktateuch  „F'^  im  Jahre 
1696  in  S.  Stefano  war.  Daraus  folgt  dann  aber  auch,  daß  er 
mit  dem  Oktateuch  identisch  ist,  der  einige  Jahrzehnte  früher  in 
S.  Stefano  von  Hiob  Ludolf  gesehen  und  von  Wansleben  abge- 
schrieben wurde.  Denn  es  wäre  doch  ein  gar  zu  sonderbarer  Zu- 
fall, wenn  Hiob  Ludolf  1649  ^j,  Glregorius  1651  (s.  oben  S.  165), 
Wansleben  1666  (s.  oben  S.  167  Anm.  4  und  S.  168  Anm.  1),  Pa- 
stritius 1696  und  Heinr.  Wilh.  Ludolf  1700  (s.  oben  S.  178)  sämt- 
lich einen  Oktateuch,  eine  Reg.-Hs.  und  einen  Senödös  in  S.  Stefano 
vorgefunden  hätten,  und  es  sich  dabei  nicht  um  dieselben  Hss. 
handeln  sollte.  Daher  hat  auch  Hiob  Ludolf  zweifellos  recht,  wenn 
er  zu  der  Oktateuch-Beschreibung  seines  Neifen  hinzufügt,  dies 
sei  derselbe  Band,  den  er  in  seinem  Comm.  S.  298  beschrieben  habe 
(s.  oben  S.  178). 

Nach  alledem  kann,  glaube  ich,  auch  nicht  der  leiseste  Zweifel 
mehr  möglich  sein,  daß  F  in  der  Tat  die  von  Wansleben  kopierte 
Hs.  und  damit  zugleich  der  Archetypus  H's  ist.  Daraus  ergibt 
sich  dann  aber  als  praktische  Konsequenz,  daß  die  ja  auch  an  sich 


1)  Zu  „no  1.«  vgl.  oben  S.  164.  165.  178,  wo  die  Oktateuch-Hs.  von  Hiob 
Ludolf,  Abba  Gregorius  und  Heinr.  Wüh,  Ludolf  auch  immer  an  erster  Stelle 
genannt  wird. 

2)  Von  Ludolf  wissen  wir  allerdings  mit  Sicherheit  nur,  daß  er  den  Okta- 
teuch und  den  Senödös  gesehen  hat.  Das  Vorhandensein  der  Reg.-Hs.  hat  er 
vielleicht  erst  durch  die  Briefe  des  Gregorius  erfahren. 


182  Alfred  Rahlfs, 

ganz  sekundäre  Handschrift  H  in  Zukunft  aus  dem  textkriti- 
schen Apparat,  in  welchem  sie  noch  Boyd  sonderbarerweise 
beibehalten  hat,  obwohl  er  sie  für  einen  direkten  Abkömmling  F's 
hält,  endgültig  zu  verschwinden  hat.  "Wo  sie  von  F  ab- 
weicht, haben  wir  es  bestenfalls  mit  Korrekturen  Ludolfs,  in  der 
Regel  aber  mit  Versehen  Wanslebens  oder  der  späteren  Abschreiber 
zu  tun  (vgl.  die  Bemerkung  über  Ungenauigkeiten  in  Wanslebens 
Abschrift  der  Königsbücher  unten  S.  186  f,). 


Bisher  habe  ich  nur  über  Wanslebens  Abschrift  F's  und  deren 
weitere  Abschriften  gesprochen.  Nun  ist  aber  noch  zu  erwähnen, 
daß  schon  vor  Wansleben  ein  anderer  Gelehrter  zwei  allerdings 
kleine  Stücke  aus  F  abgeschrieben  und  sogar  zum  Druck  befördert 
hat.  Es  handelt  sich  um  Theodor  Petraeus,  mit  dem  ich  mich 
kürzlich  in  meinem  Aufsatz  „Nissel  und  Petraeus,  ihre  äthiopischen 
Textausgaben  und  Typen"  (s.  oben  S.  161)  eingehender  beschäftigt 
habe. 

Petraeus  hat  1660  im  Anhange  zu  seiner  Ausgabe  des  äthiopi- 
schen lonas  die  vier  ersten  Kapitel  der  Grenesis  herausgegeben, 
s.  Eahlfs  Niss.  u.  Petr.  S.  277.  Dieser  Text  soll  nach  Dillm.  Oct. 
S.  12  ein  „textus  mixtus  et  ab  editore  castigatus"  sein.  Letzteres 
wird  für  einzelne  Stellen  zutreffen,  obwohl  Petraeus  selbst  in  der 
Überschrift  behauptet,  ihn  „fideliter"  aus  der  Hs.  abgeschrieben 
zu  haben.  Aber  Dillmanns  „textus  mixtus"  ist  mindestens  irre- 
führend, da  es  den  Eindruck  erweckt,  als  liege  hier  eine  Mischung 
der  beiden  von  Dillmann  unterschiedenen  Texttypen  (FH  und  CGr) 
vor.  Davon  kann  aber  keine  Rede  sein.  Vielmehr  beruht  Petraeus' 
Ausgabe  einzig  und  allein  auf  F.  Man  kann  das  sehr  leicht  nach- 
weisen. Denn  gerade  in  dem  4.  Kapitel  der  Gen.,  mit  dem  die 
Ausgabe  des  Petraeus  schließt,  beginnt  ja  mit  Vers  15  der  oben 
S.  176  besprochene,  in  seinem  ganzen  Charakter  völlig  von  der 
altäthiopischen  Übersetzung  abweichende,  junge  Text,  der  in  F 
erst  nachträglich  zur  Ausfüllung  einer  durch  den  Ausfall  zweier 
Blätter  entstandenen  Lücke  eingeschoben  ist.  Geradeso  wie  die 
Abschrift  Wanslebens  und  deren  Abkömmlinge  geht  hier  nun  auch 
die  Ausgabe  des  Petraeus  nicht  etwa  mit  den  übrigen  von  Dill- 
mann und  Boyd  (s.  oben  S.  176  Anm.  1)  kollationierten  Hss.,  son- 
dern mit  F  zusammen ;  nur  hat  Petraeus  in  dem  ersten  Verse  dieses 
jungen  Textes  den  ersten  der  großen  Überschüsse,  welche  derselbe 
gegenüber  dem  hebräischen  und  griecbischen  Texte  aufweist,  in- 
folge eines  Versehens  oder  absichtlich  fortgelassen. 


über  einige  alttestam.  Hss.  d.  Abessinierklosters  S.  Stefano  zu  Rom.     183 

In  demselben  Jahre  1660  ist  dann  auch  das  Buch  Ruth  äthio- 
pisch erschienen,  gleichfalls  nach  der  Abschrift  des  Petraeus,  aber 
nicht  von  ihm  selbst,  sondern  von  seinem  Freunde  Nissel  heraus- 
gegeben, s.  Eahlfs  Niss.  u.  Petr.  S.  277— 279.  Daß  dieser  Text 
ebenfalls  aus  F  stammt,  geht  schon  aus  Dillmanns  Charakterisie- 
rung desselben  hervor,  s.  Oct.  S.  215 :  „Textus,  qui  hoc  libro  [d.  h. 
Nisseis  Ruth- Ausgabe]  continetur,  fere  omnibus  in  locis  cum  nostro 
codice  F  mire  convenit,  et  easdem  formas  verborum  obsoletas  eos- 
demque  librariorum  errores,  quibus  F  insignis  est,  fere  omnes  ex- 
hibet.^ 

Daß  Petraeus  gerade  F  benutzt  hat,  erklärt  sich  nun  auch 
leicht.  F  war  damals,  wie  wir  gesehen  haben,  im  Abessinierkloster 
S.  Stefano  in  Rom ;  Petraeus  aber  ist,  wie  ich  a.  a.  0.,  S.  292—294 ' 
nachgewiesen  habe,  im  Jahre  1656  in  Rom  gewesen  und  hat  dort 
unter  anderen  die  Abessinier  aufgesucht.  So  ist  es  ganz  natürlich, 
daß  er,  der  ja  überall  mit  in  erster  Linie  auf  Handschriften  fahn- 
dete, auch  die  äthiopischen  Handschriften  von  S.  Stefano  gesehen 
und  benutzt  hat  (vgl.  auch  unten  S.  189.  194 — 196).  Allerdings 
hat  weder  Petraeus  noch  Nissel  den  damaligen  Aufenthaltsort  F's 
deutlich  angegeben.  Petraeus  sagt,  er  habe  Gen.  1—4  abgeschrieben 
;,ex  pervetufto  Manufc.  Pentateucho ,  ex  iEthiopia  Hierofolymam 
allato" ;  Nissel  sagt,  das  Buch  Ruth  sei  „e  vetufto  Manufcripto, 
recens  ex  Oriente  allato  erutus".  Aber  darin  haben  wir,  wie  ich 
a.  a.  0.,  S.  277.  279  ausgeführt  habe,  wohl  nur  absichtliche  Ver- 
schleierungen des  wirklichen  Tatbestandes  zu  erblicken,  wie  sie 
bei  Entdeckern,  die  ihre  Entdeckung  für  sich  zu  reservieren  wün- 
schen, so  häufig  vorkommen.  Beide  Angaben  sind,  wie  ich  dort 
gesagt  habe,  „an  sich  nicht  falsch;  ja,  nimmt  man  sie  nur  in  der 
richtigen  Weise  zusammen,  so  bekommt  man  sogar  die  Geschichte 
der  "Wanderung  der  Hs.  heraus :  sie  war  zuerst  im  Orient  aus 
Äthiopien  nach  Jerusalem  und  dann,  nicht  sehr  lange  vor  Petraeus' 
Reise,  aus  dem  Orient  nach  Europa  gebracht.  Aber  nur  der  Ein- 
geweihte vermag  jene  beiden  Angaben  richtig  zusammenzusetzen 
und  zu  deuten.  Der  Uneingeweihte  wird  aus  der  einen  Angabe 
schließen,  Petraeus  habe  seinen  Gen.-Text  au«  einer  in  Jerusalem 
befindlichen  Pentateuch-Hs.  abgeschrieben,  aus  der  anderen  dagegen, 
er  selbst  habe  die  Ruth-Hs.  aus  dem  Orient  mitgebracht." 

Zum  Schlüsse  ist  hier  noch  zu  erwähnen,   daß  Petraeus  nicht« 
nur  Gren.  1—4  und  Ruth  aus  dem  römischen  Oktateuch  abgeschrieben, 
sondern   sich   auch   sonst   allerlei  Notizen  aus  demselben  gemacht 
haben  muß.    Denn  wenn  er  in  den  Anmerkungen   zu  seiner  Aus- 
gabe des  lonas   auf  S.  8—24  (also  auf  den  dem  Texte  von  Gen. 


184  Alfred  Rahlfs, 

1—4  voraufgehenden  Seiten)  eine  größere  Zahl  anderer  Stellen 
aus   dem  Oktateuch,    besonders  der  Grenesis,-  zitiert  (den.  87. 

12  14.    222.    2811.14.    2020.     3O37.    38l2.     4324.    44?.  17.  20.     4632.    34  zweimal. 

473.  48 11.  Exod.  2 17. 19.  99.10.23.28.33.  10 19.  Lcv.  9 1. 3.  16  8.  Num. 
21s|8.  los.  2io.  423.  24i6.  lud.  196. 10.23),  so  kann  er  den  Wort- 
laut auch  dieser  Stellen  nicht  wohl  anderswoher  als  aus  ebenjenem 
römischen  Oktateuch  gekannt  haben. 


Über  die  Art,  wie  der  Oktateuch  nach  London  gekommen  sein 
Wird^  s.  unten  S.  190—193. 


n.    Die  Bücher  ßegtiui. 

Die  einst  in  S.  Stefano  befindliche  Hs.  der  Bücher  Regum  hat 
N.  Roupp,  angeregt  durch  seinen  Lehrer  Ignazio  Guidi,  in  sei- 
nem Aufsatz  „Die  älteste  äthiopische  Handschrift  der  vier  Bücher 
der  Könige"  in  der  Zeitschrift  für  Assyriologie  16  (1902),  S.  296 
— 343  nachgewiesen.  Sie  ist  heutigen  Tages  in  der  Biblioteca  Va- 
ticana  und  trägt  dort  die  Signatur  Borg.  aeth.  3,  s.  Tisserant 
S.  XLH  Nr.  62. 

Aus  E-oupps  Darlegungen  ergeben  sich  folgende  Grründe  für 
die  Identität  dieser  Hs.  mit  derjenigen,  die  zu  Ludolfs  und 
"Wanslebens  Zeit  in  S.  Stefano  war: 

1)  Borg.  aeth.  3  ist,  wie  die  schon  oben  S.  180  f.  herangezo- 
gene Eintragung  des  Pastritius  beweist,  in  den  Jahren  1694,  1696 
und  1700  zweifellos  in  S.  Stefano  gewesen  ^). 

2)  Dieselbe  Handschrift  ist  auch  schon  vor  1694  in  S.  Stefano 
gewesen.  Denn  am  unteren  Rande  des  Blattes,  auf  welchem  der 
äthiopische  Text  beginnt,   hat  sie  nach  Roapp  Taf.  1  und  S.  303 


1)  Roupp  selbst  meint  allerdings  S.  303,  sie  sei  damals  nicht  mehr  in  S. 
Stefano  gewesen,  sondern  Pastritius  habe  sie  aus  dem  Kloster  gekauft  und  1694 
oder  spätestens  1696  in  eigenem  Besitze  gehabt.  Aber  das  ist,  wie  schon  Tis- 
serant S.  XLIII  Z.  2f.  mit  Recht  bemerkt  hat,  ein  evidentes  Versehen  Roupps. 
Pastritius  hat  die  Hs.  niemals  besessen,  und  er  behauptet  dies  auch  gar  nicht ; 
vielmehr  gehörte  sie  nach  seiner  ausdrücklichen  Angabe  zu  den  „libri  manuscripti 
qui  in  domo  S.  Stephani  Abyssinorum  reperiebantur"  (Roupp  S.  300  Z.  23  f.). 
Vielleicht  hat  sich  Roupp  durch  den  Schluß  der  Vorbemerkung  des  Pastritius 
irreführen  lassen,  wo  derselbe  sagt,  er  habe  die  Inhaltsangabe  in  die  Hs.  einge- 
tragen als  „beneficium  hoc  modo  futurum  tum  domui  tum  emtoribus"  (Roupp 
S.  ßOO  Z.  29  f.).  Hierdurch  weist  Pastritius  jedoch  nur  auf  die  Möglichkeit  hin, 
daß  das  Kloster  die  Hs.  einmal  verkaufen  könnte. 


über  einige  alttestam.  Hss.  d.  Abessinierklosters  S.  Stefano  zu  Rom.     185 

folgende  Notiz  in  äthiopischer  Sprache*):  „Im  Jahre  1637  nach 
Christi  Geburt^)  habe  ich  Abbä  Mähsanta-Märjäm  zaMändämbä 
dieses  Buch  als  Druckexemplar  gebracht.  Es  ist  das  Eigentum 
Jerusalems.  Wir  werden  es  zurückgeben,  nachdem  wir  es  gedruckt 
haben."  Wohin  der  Schreiber  dieser  Notiz,  Mähsanta-Märjäm,  die 
Hs.  im  Jahre  1637  gebracht  hat,  sagt  er  nicht.  Aber  da  er  einer 
der  vier  Abessinier  ist,  welche  das  äthiopische  Gedicht  vor  dem 
1638  in  Rom  erschieneuen  Lexicon  Aethiopicum  von  lacobus  Wem- 
mers  unierzeichnet  haben  ^),  so  hat  er  natürlich  damals  in  S.  Ste- 
fano gewohnt  und  dorthin  auch  unsere  Hs.  der  Königsbücher  ge- 
bracht. So  erklärt  sich  auch  die  Angabe,  daß  er  die  Hs.  als  Druck- 
exemplar gebracht  habe.  Ich  vermag  zwar  keine  anderen  Nach- 
richten über  den  Plan  einer  Herausgabe  der  äthiopischen  Königs- 
bücher in  Rom  nachzuweisen.  Aber  gerade  in  Rom  begreift  sich 
ein  solcher  Plan  leicht.  Dort  waren  früher  der  Psalter  und  das 
Neue  Testament  erscbienen  (s.  oben  S.  162  f.) ;  so  konnte  man  dort 
wohl  auf  den  Gedanken  kommen,  auch  die  übrigen  Teile  der  Bibel 
herauszugeben.  Und  gerade  um  1637  lag,  wie  mir  scheint,  dieser 
Gedanke  besonders  nahe.  Kurze  Zeit  vorher  hatte  die  Mission 
der  Jesuiten  in  Abessinien  ihre  höchste  Blüte  erreicht,  und  damals 
hatte  Urban  VIII.  für  dieselbe  durch  die  Propaganda  zu  Rom 
neue  äthiopische  Typen  schneiden  lassen,  die  der  gelehrten  Welt 
1630  durch  eine  Neuauflage  der  Grammatik  des  Victorius  bekannt 
gemacht  waren,  und  mit  denen  dann  auch  das  eben  erwähnte,  1638 
erschienene  Lexikon  von  Wemmers  gedruckt  wurde  ^).  Gerade 
diese  eifrigen  Bemühungen  um  die  Gewinnung  der  Abessinier  für 
die  römisch-katholische  Kirche  konnten  den  Gedanken  eines  Bibel- 
druckes sehr  wohl  nahelegen.  Nun  war  allerdings  die  Macht  der 
Jesuiten  in  Abessinien  im  Jahre  1632  jäh  zusammengebrochen; 
aber  es  versteht  sich  von  selbst,    daß  man  Abessinien  nicht  sofort 

1)  Ich  gebe  die  Übersetzung  im  Anschluß  an  Roupp  S.  303. 

2)  Der  in  Rom  lebende  Mähsanta-Märjäm  folgt  hier  offenbar  der  römischen 
Jahreszählung,  genau  so,  wie  es  auch  llabta-Märjäm  (s.  unten  S.  198  Anm.  1)  in 
der  1610  von  ihm  in  ö.  Stefano  geschriebenen  Hs.  London,  Brit.  Mus.,  Add.  19892, 
Gregorius  bei  Flemmiug  1,  S.  571  Z.  24/25  etc.  und  die  Grabinschriften  von  S. 
Stefano  bei  Chaine  S.  27  ff.  tun.  Nach  der  in  Abessinien  herrschenden  alexau- 
driuischen  Weltära  des  Panodorus  fällt  die  Geburt  Christi  in  das  8.  Jahr  unserer 
Ära  (s.  z.  B.  Ludolf  Comm.  S.  387),  aber  die  Abessinier  pflegen  sonst  auch  nicht 
nach  Jahren  der  Geburt  Christi  zu  datieren,  sondern  diese  höchstens  nebenbei 
anzugeben. 

3)  Dies  hat  schon  Wansleben  bemerkt,  s.  unten  S.  186  den  Schluß  von  Anm.  1. 

4)  Genauere  Mitteilungen  über  diese  Typen  s.  bei  Rahlfs  Niss.  u.  Petr. 
S.  324  f.  (dritte  Typenart). 


186  Alfred  Rahlfs, 

aufgab,  sondern  zunächst  noch  auf  eine  baldige  Wiederkehr  bes- 
serer Zeiten  hoffte.  Und  so  wird  man  auch  den  Plan  einer  Bibel- 
ausgabe weiter  verfolgt  haben,  zumal  da  gerade  damals  in  Eom 
Gelehrte  wie  lacobus  Wemmers  und  Athanasius  Kircher  lebten, 
die  sich  lebhaft  für  die  äthiopische  Sprache  und  Literatur  inter- 
essierten (vgl.  Chaine  S.  16),  und  da  ja  auch  das  für  einen  solchen 
Druck  erforderliche  Typenmaterial  in  Rom  vorhanden  war. 

3)  Die  soeben  besprochene  Notiz  über  die  Verbringung  der 
Hs.  von  Jerusalem  nach  Rom  findet  sich,  wie  Zotenb.  S.  3  Sp.  II 
lehrt,  ebenso,  bloß  mit  einigen  orthographischen  Varianten,  in 
Wanslebens  Abschrift  der  Königsbücher ^).  Daraus  folgt,  daß 
Wansleben  seiner  Abschrift  eben  unsere  Hs.  zugrunde  gelegt  hat. 
Daß  Wansleben  die  Notiz  erst  am  Schlüsse  der  Königsbücher  bringt, 
während  sie  in  der  Hs.  am  Anfange  —  jedoch  am  unteren  Eande, 
also  doch  nicht  zu  Anfang  des  Textes  —  steht,  macht  natürlich 
nichts  aus,  vgl.  Roupp  S.  339  f. 

4)  Wanslebens  Text  der  Königsbücher  stimmt,  soweit  es  sich 
nach  den  Mitteilungen  über  denselben  bei  Zotenb.  beurteilen  läßt, 
sowohl  in  seinem  Wortlaut,  als  auch  in  seiner  Einteilung  meistens 
mit  dem  Borg.  aeth.  3  über  ein,  s.  Eoupp  S.  336  f. 

Nun  hat  allerdings  Roupp  S.  336—341  in  lobenswerter  Vorsicht 
eine  Reihe  von  Unterschieden  zwischen  Wanslebens  Abschrift 
und  dem  Borg.  aeth.  3  aufgeführt,  die  gegen  die  Identifikation 
dieser  Hs.  mit  der  Vorlage  Wanslebens  ins  Feld  geführt  werden 
könnten.  Aber  mit  Recht  hat  Roupp  auch  geurteilt,  daß  jene 
Unterschiede  keinen  genügenden  Gegenbeweis  gegen  die  sonst  so 
wohl  begründete  Identifikation  abgeben,  und  sie  richtig  daraus 
erklärt,  daß  Wansleben  bei  der  Abschrift  des  Bibeltextes  öfters 
flüchtig  und  ungenau  gearbeitet  und  einige  Zutaten,  die  nicht  zum 
Bibeltexte  selbst  gehören,   ganz   fortgelassen  hat.    Die  Überein- 

1)  Aus  Wanslebens  Abschrift  bat  Hiob  Ludolf  diese  Notiz  mit  abgeschrieben 
in  den  oben  S.  170  f.  erwähnten  Bemerkungen  am  Schlüsse  seiner  los.-Abschrift,  und 
von  da  ist  sie  dann  in  die  weiteren  Abschriften,  auch  in  die  Hallenser,  überge- 
gangen. Daher  kann  auch  Dillm.  Oct.  S.  167  berichten,  daß  Wanslebens  Abschrift 
(Dillm,  meint  ."mit  einem  leicht  erklärlichen  Irrtum :  auch  die  des  Oktateuchs,  während 
es  sich  in  Wirklichkeit  nur  um  die  Bücher  Regum  handelt)  genommen  sei  „e  co- 
dice  autographo,  quem  anno  1638  Mahtzenta-Marjam,  Mand-Ambensis,  Hierosolyma 
Romam  attulit,  ubi  typis  exprimeretur  et  unde  perfecta  typographia  Hierosolymam 
reportaretur"  („1638"  ist  ein  Fehler  Dillmanns;  auch  die  Hallenser  Hs.  hat  richtig 
„1637"  und  bemerkt  nur,  wie  schon  Wansleben  bei  Zotenb.  a.a.O.,  daß  es  sich 
hier  um  denselben  Mahtzenta-Marjam  handle,  der  das  äthiopische  Gedicht  vor  dem 
1638  in  Rom  erschienenen  äthiopischen  Lexikon  von  Wemmers  mit  unterzeichnet 
habe). 


über  einige  alttestam.  Hss.  d.  Abessinierklosters  S.  Stefano  zu  Rom.     187 

Stimmung  der  Abschrift  mit  dem  Original  ist  hier  eben  genau  so 
unvollkommen  wie  beim  Oktateuch,  wo  sich  ja  Dillmann  durch 
ähnliche  Unterschiede  zwischen  H  und  F  sogar  zu  der  Annahme 
hatte  verleiten  lassen,  daß  H  gar  nicht  direkt  auf  F,  sondern  nur 
auf  einen  nahen  Verwandten  F's  zurückgehe  (s.  oben  S.  174  f.).  Einer 
eingehenden  Widerlegung  jedes  von  einem  derartigen  Unterschiede 
hergenommenen  Gegengrundes  bedarf  es  nicht;  doch  möchte  ich 
mir  zu  Houpps  Ausführungen,  die  jene  Gegengründe  im  großen 
und  ganzen  schon  hinreichend  entkräften,  noch]  zwei  kurze  Bemer- 
kungen gestatten: 

1)  Roupp  S.  336  rechnet  mit  der  allerdings  von  ihm'  selbst  als 
nicht  wahrscheinlich  bezeichneten  Möglichkeit,  daß  Mäh§anta-Mär- 
jäm  mehrere  Reg.-Hss.  nach  Eom  gebracht  und  mit  derselben  Notiz 
versehen  und  Wansleben  eine  andere  dieser  Hss.  abgeschrieben 
hätte.  Aber  eine  solche  Möglichkeit  wird  dadurch  ausgeschlossen, 
daß  nicht  nur  nach  Heinr.  Wilh.  Ludolf  (s.  oben  S.  178),  sondern 
auch  schon  nach  Gregorius  und  Hiob  Ludolf  (s.  oben  S.  165  und 
164)  bloß  eine  einzige  Reg.-Hs.  in  S.  Stefano  vorhanden  war. 

2)  Roupp  S.  341  bemerkt  als  auffällig,  daß  Wansleben  die  am 
Schlüsse  der  Hs.  stehende,  für  ihre  Geschichte  so  wichtige  Schen- 
kungsurkunde nicht  erwähnt,  durch  welche  der  König  'Amda- 
Sejön,  mit  Regierungsnamen  Gabra-Maskal  (1314 — 1344),  die  Hs.  den 
Abessiniern  zu  Jerusalem  stiftet  (Roupp  Taf.  4  und  S.  304).  Aber 
wenn  auch  "Wansleben  sie  unerwähnt  gelassen  hat,  so  finden  wir 
doch  Hinweise  auf  sie  nicht  erst  bei  Pastritius  (Roupp  S.  299  f.) 
und  Heinr.  Wilh.  Ludolf  (oben  S.  178),  sondern  auch  schon  bei 
Gregorius  und  Hiob  Ludolf,  die  ja  Gabra-Maskal  unter  den  Kö- 
nigen nennen,  welche  einst  die  später  in  S.  Stefano  befindlichen 
Hss.  nach  Jerusalem  geschickt  haben  (s.  oben  S.  165  und  164).  Da 
nun  in  S.  Stefano,  wie  eben  bemerkt,  nach  allen  Nachrichten  im- 
mer nur  eine  einzige  Reg.-Hs.  gewesen  ist,  so  kann  Wansleben 
auch  nur  diese  abgeschrieben  haben  und  muß  in  der  Tat,  wie  Roupp 
S.  341  annimmt,  jene  Schenkungsurkunde  entweder  ganz  übersehen 
oder  nicht  genügend  beachtet  haben. 

ni.  Isaias. 

Hinter  dem  Oktateuch  und  den  Büchern  Regum  nennen  Abba 
Gregorius  und  Hiob  Ludolf  den  Isaias,  s.  oben  S.  165  und 
164.  Dieser  ist  noch  nicht  identifiziert,  und  auch  mir  wollte  es 
anfangs  nicht  gelingen,  ihn  zu  identifizieren,  bis  ich  Heinr.  Wilh. 
Ludolfs   oben  S.  178  abgedruckte  Beschreibung  der  Hss.  von  S. 


188  Alfred  Rahlfs, 

Stefano  fand  und  daraus  ersah,  daß  die  Isaias-Hs.  außer  dem  ka- 
nonischen Buche  auch  noch  die  Ascensio  Isaiae  und  „quaedam  Es- 
drae"  enthielt.  Hiermit  ergab  sich  die  Identifikation  ganz  von 
selbst.  Bis  jetzt  sind  nämlich  nur  drei  Hss.  der  Ascensio  Isaiae 
bekannt,  die  schon  Dillmann  für  seine  Ausgabe  des  Werkes^)  be- 
nutzt hat,  und  zu  denen  auch  Charles^)  keine  weitere  hat  hinzu- 
fügen können,  nämlich 

1)  Oxford,   Bodl.  Libr.,    Aeth.  7,   die  Hs.,   auf  der  die  Editio 
princeps  des  Werkes  von  Eich.  Laurence^)  beruht, 

2)  London,  Brit.  Mus.,  Orient.  501, 

3)  London,  Brit.  Mus.,  Orient.  503. 

Von  diesen  kommen  aber  die  beiden  Londoner  Hss.  schon  deshalb 
nicht  in  Frage,  weil  sie  erst  neuerdings  nach  Europa  gekommen 
sind;  denn  beide  stammen  aus  der  Beute  der  1868  von  den  Eng- 
ländern eroberten  abessinischen  Stadt  Magdala.  Auch  paßt  ihr 
Inhalt  (s.  W.  Wright,  Catalogue  of  the  Ethiopic  mss.  in  the  Brit. 
Mus.  [1877],  S.  19— 21  Nr.  XXV  und  XXVII)  nicht  zu  der  von 
Heinr.  Wilh.  Ludolf  gegebenen  Beschreibung.  Dagegen  stimmt  die 
Oxforder  Hs.,  wie  schon  Platt  in  einer  Anmerkung  zu  jener 
Beschreibung  bemerkt  hat*),  völlig  mit  ihr  überein;  denn  sie  ent- 
hält 1)  das  kanonische  Buch  des  Propheten  Isaias,  2)  die  Ascensio 
Isaiae,  3)  die  Apokalypse  des  Esdras  =  Esdr.  I  nach  abessinischer 
oder  Esdr.  IV  nach  lateinischer  Zählung,  s.  Dillm.  Bodl.  S.  9  f. 

Aber  stammt  nun  diese  Hs.  wirklich  aus  S.  Stefano?  In 
Oxford  selbst  denkt  man  darüber  anders.  F.  Madan,  Summary 
catalogue  of  western  mss.  in  the  Bodl.  Libr.  5  (1905),  S.  414  Nr. 
28166  sagt  über  die  Herkunft  der  Hs. :  „Probably  brought  by 
Theod.  Petraeus  from  Jerusalem".  Von  wem  diese  Vermutung 
stammt,  und  worauf  sie  sich  gründet,  sagt  Madan  nicht.  Man 
wird  aber  nicht  fehlgehen,  wenn  man  annimmt,  daß  die  Oxforder 
sie  von  Dillmann  übernommen  haben;  denn  dieser  sagt  in  seiner 
Ausgabe  der  Ascensio  Isaiae  S.  VI  Anm.  10 :    „Hunc  codicem  .  .  . 


1)  Ascensio  Isaiae  Aethiopice  et  Latine.     Lips.  1877. 

2)  The  Ascension  of  Isaiah,  translated  from  the  Ethiopic  version  etc.  London 
1900. 

3)  Ascensio  Isaiae  vatis.    Oxoniae  1819. 

4)  Platt  S.  8  Anm.  1:  „The  MS.  from  which  Dr.  Laurence  published  his 
"Ascensio  Isaiae  Vatis,"  seems  to  have  had  exactiy  the  same  contents,  and  the 
"quaedam  Esdrae"  here  mentioned,  proved  to  be  the  fourth  Book  attributed  to 
that  Prophet  in  the  Vulgate,  or  the  first,  according  to  the  Ethiopic  Version." 
Daran,  daß  es  sich  in  beiden  Fällen  um  dieselbe  Hs.  handle,  hat  Platt,  wie  seine 
Ausdrücke  zeigen,  offenbar  nicht  gedacht. 


über  einige  alttestam.  Hss.  d.  Abessinierklosters  S.  Stefano  zu  Rom.     189 

quondam  Th.  Petraei  fuisse  arbitror.  Etenim  e  verbis  librarii  sub 
calcem  Ascensionis  subscriptis  (impressa  sunt  apud  Laurence  p.  78 
— 80)  elucet,  codicem  in  usum  Aaronis  clerici  et  monachi,  Hiero- 
solymam  peregrinati  vel  peregrinaturi,  exaratum  esse.  Petraeum 
autem  ut  alios  .  .  .  ita  hunc  quoque  Hierosolyma  in  Europam  re- 
portasse  videtur.  Sane  Ascensionem  Aethiopicam  a  se  inspectam 
esse  Petraeus  ipse  testatur  in  suo  libello,  qui  inscriptus  est  Pro- 
pbetia  Jonae  ex  Aethiopico  in  Latinum  versa  1660,  p.  20."  Wäh- 
rend nun  aber  die  Vermutung  selbst  entschieden  falsch  ist,  ent- 
halten die  sie  begründenden  Ausführungen  Dillmanns  ganz  richtige 
Beobachtungen,  welche  bloß  anders  gedeutet  zu  werden  brauchen, 
um  durchaus  für  Herkunft  der  Hs.  aus  S.  Stefano  zu  sprechen. 
Denn  1)  kann  eine  Hs.,  die  für  einen  Jerusalempilger  geschrieben, 
also  früher  einmal  in  Jerusalem  gewesen  ist,  ja  nicht  bloß  von 
Petraeus  nach  Europa  gebracht,  sondern  ebenso  wie  der  Oktateuch 
und  die  Reg.-Hs.  schon  vor  der  Orientreise  des  Petraeus  ans  Je- 
rusalem in  das  Abessinierkloster  S.  Stefano  zu  Rom  gekommen 
sein;  2)  wenn  Petraeus  die  Hs.  benutzt  hat  —  und  daran  kann 
nach  dem  von  Dillmann  sehr  gut  nachgewiesenen  Zitat  aus  der 
Asc.  Is.  bei  Petraeus  kein  Zweifel  sein,  da  es  ja,  wie  bemerkt, 
außer  den  beiden  erst  neuerdings  aus  Abessinien  nach  Europa  ge- 
kommenen Londoner  Hss.  nur  noch  diese  einzige  Hs.  der  Asc.  Is. 
gibt  — ,  so  braucht  er  sie  nicht  erst  selbst  nach  Europa  gebracht 
zu  haben,  sondern  kann  sie  ebenso  wie  den  Oktateuch  (s.  oben 
S.  183)  und  die  später  zu  besprechende  Hs.  der  kleinen  Propheten 
(s.  unten  S.  194—196)  schon  in  S.  Stefano  vorgefunden  und  ein- 
gesehen haben.  Darüber  aber,  daß  er  die  Hs.  wirklich  dort  kennen 
gelernt  hat,  besitzen  wir  sogar  eine  direkte  Angabe  in  dem  Göt- 
tinger Cod.  Michael.  264  und  der  daraus  abgeschriebenen  Hallenser 
Hs.  Ya.  3  (s.  oben  S.  172  und  167).  Beide  enthalten  nämlich  am 
Schlüsse  der  oben  S.  172  Anm.  2  erwähnten  Sammlung  von  Bibel- 
fragmenten solche  aus  der  Apokalypse  des  Esdras  mit  der  aus- 
drücklichen Angabe,  daß  Petraeus  dieselben  in  Rom  gesammelt 
habe:  „Ex  IV.  Libro  Esdrce  Theodor us  Fetrceus  fragmenta  qucedam 
jRomce  collegit,  qim  hie  adfcripta  fimt"  ^).  Diese  stammen  aber  zwei- 
fellos gleichfalls  aus  unserer  Isaias-Hs.,  die  ja  nach  Heinr.  Wilh. 
Ludolf  auch  ^quaedam  Esdrae",  d.h.,  wie  wir  jetzt  wissen,  eben 
die  Apokalypse  des  Esdras,  enthielt^). 

1)  Siehe  Ralilfs  Niss.  u.  Petr.  S.  293.  Dort  habe  ich  auch  schon  bemerkt, 
daß  Hiob  Ludolf  diese  Fragmente  aus  den  Adversaria  des  Petraeus  haben  wird, 
die  er  von  Olfert  Dapper  geschenkt  bekommen  hatte. 

2)  Auch  in  den  Anmerkungen  zum  lonas  (vgl.  oben  S.  183  f.  und  die  soeben 


190  Alfred  Rahlfs, 

Nach  alledem  kann  die  Identität  der  Oxforder  Hs.  mit  der 
einst  in  S.  Stefano  befindlichen  nicht  mehr  zweifelhaft  sein ,  und 
es  fragt  sich  nur  noch:  Wie  ist  jene  Hs.  nach  Oxford  ge- 
kommen? Nach  Madan  a.a.O.  hat  sie  der  Oxforder  Prof.  Ei- 
chard Laurence  im  Jahre  1822  der  Bodleiana  geschenkt.  Vorher 
hatte  Laurence  aus  ihr  die  „Ascensio  Isaiae"  (Oxon.  1819)  und 
„Primi  Ezrae  libri,  qui  apud  Vulgatam  appellatur  quartus,  versio 
Aethiopica^  (Oxon.  1820)  herausgegeben.  In  dem  ersten  dieser 
beiden  Werke  S.  V  Anm.  a  gibt  er  nun  an,  wo  er  die  Hs.  erworben 
hat:  „Ab  J.  Smith  ßibliopola  Londinensi  in  vico  "Drury  Lane," 
qui  eum  ex  quibus  nescivit  libris  sub  *  hasta  divenditis  mercatus 
erat."  Daraus  sehen  wir,  daß  die  Hs.  aus  Italien  nicht  direkt 
nach  Oxford,  sondern  zunächst  nach  London  gekommen  ist.  Wann 
Laurence  die  Hs.  erstanden  hat,  sagt  er  nicht.  Da  er  sich  aber 
mit  der  Herausgabe  des  zweiten  Werkes,  wie  er  selbst  am  An- 
fange seiner  Vorrede  bemerkt,  möglichst  beeilt  und  es  bereits  ein 
Jahr  nach  dem  ersten  veröffentlicht  hat,  so  wird  er  auch  mit  der 
Herausgabe  des  ersten  Werkes  nicht  lange  gezögert  haben.  Mög- 
licherweise hat  er  also  die  Hs.  erst  im  Jahre  1818  erworben  und 
sich  sofort  an  die  Herausgabe  der  Ascensio  Isaiae  gemacht  und 
diese  ebenso  wie  die  der  Esdras- Apokalypse  innerhalb  eines  Jahres 
fertiggestellt;  denkbar  ist  jedoch  auch,  daß  die  Vorbereitungen 
für  diese  erste  Publikation  etwas  längere  Zeit  in  Anspruch  ge- 
nommen haben,  und  er  die  Hs.  etwa  im  Jahre  1817  erworben  hatte. 
Diese  beiden  Jahreszahlen  1817/18  kehren  nun  in  höchst  auffälliger 
Weise  bei  dem  Londoner  Oktateuch  wieder.  Denn  wie  ich  oben 
S.  166  bemerkt  habe,  ist  derselbe  nach  Dillmanns  Angabe  kurz 
beschrieben  im  „Report  of  the  British  Church  Missionary  Society 
of  the  year  1817 — 1818",  und  obwohl  ich  diesen  Bericht  nicht  zu 
Gesicht  bekommen  habe,  ist  es  mir  doch  nach  der  ganzen  Sach- 
lage keinen  Augenblick  zweifelhaft,  daß  er  die  erste  Beschreibung 
einer  erst  kürzlich  erworbenen  Hs.  gibt.  Daß  dieser  Oktateuch 
dann  aber  durch  die  Hände  desselben  Londoner  Buchhändlers  ge- 
gangen ist  wie  die  Isaias-Hs.,  und  daß  J.  Smith  inDruryLane 
um  dieselbe  Zeit  die   eine  Hs.   an   die  British  Church  Missionary 


abgedruckte  Stelle  aus  Dillmanns  Asc.  Is.)  zitiert  Petraeus  auf  S.  13  zwei  Stellen 
aus  der  Apokalypse  des.  Esdras  (4i5. 17).  Ferner  zitiert  er  ebenda  S.  15.  14.  17, 
wohl  gleichfalls  aus  unserer  Isaias-Hs.,  die  Stellen  Is.  1 8.  2 19.  5 1.  (Ebenda  S.  24 
zitiert  er  auch  ler.  43o  und  Ez.  2340;  woher  er  diese  Stellen  kennt,  vermag  ich 
nicht  zu  sagen.) 


über  einige  alttestam.  Hss.  d.  Abessinierklosters  S.  Stefano  zu  Rom.     191 

Society  *),   die  andere  an  Laurence  verkauft  hat,   ist  eine    selbst- 
verständliche Folgerung. 

J.  Smith  will  die  Isaias-Hs.  laut  seiner  oben  zitierten  Angabe 
auf  einer  Auktion'  gekauft,  aber  nicht  mehr  gewußt  haben,  auf 
welcher.  Er  muß  mir  aber  gestatten,  hierzu  nachträglich  ein 
kleines  Fragezeichen  zu  setzen.  Mag  eines  Buchhändlers  Gedächtnis 
noch  so  belastet  sein,  so  wird  es  sich  ihm  doch,  sollt'  ich  meinen, 
ganz  von  selbst  einprägen,  wo  er  so  rare  Sachen  wie  diese  alten 
äthiopischen  Bibelhandschriften  erworben  hat.  Bei  dieser  sonder- 
baren Gedächtnisschwäche  drängt  sich  mir  unwillkürlich  der  Ver- 
dacht auf,  daß  der  ehrenwerte  J.  Smith  sie  simuliert  hat,  um  die 
nicht  ganz  einwandfreie  Art  der  Erwerbung  jener  Hss.  zu  ver- 
decken. 

Wann  und  wie  die  Hss.  nach  London  gekommen  sind,  können 

wir  nun  allerdings  nicht  feststellen.   Aber  ganz  sicher  ist,  daß  sie 

einige  Jahrzehnte  zuvor  noch  in  Eom  gewesen  sind.     Denn  Jakob 

Georg  Christian  Adler   hat   sie  bei  seiner  in  den  Jahren  1780 — 

1782  ausgeführten  Romreise  noöh  in  der  ;,Bibliothek  der  Pro - 

pagande"    vorgefunden.      Nach    der    „kurzen   Uebersicht    seiner 

biblischkritischen  Reise  nach  Rom"  (Altena  1783),  S.  172  f.  gab  es 

damals  in  dieser  Bibliothek  folgende  äthiopischen  Hss. : 

Ö5e{c^i(^te  ber  Könige  in  (Stl^iopien  (K  XLII.  D.  14.),   ferner  B. 

Virginis  preces  et  encomia  quotidie  recitanda  et  coUoquium  eius- 

dem  B.  Virginis  cum  lefu  (inepte  compofitum),  ac  tandem  bene- 

dictiones  aquae  in  nomine  B.  Virginis,    in  12.  fel^r  alt,  (N.  XL. 

A.  28.)     Unb  öon  58ibelftü!!en,   '^^ntat^nd],  Sojua,  Sflid^ter  unb 

^ui^  auf  Pergament,  dt,  (N.  XLII.  D.  13.),  bk  12  tkxmn  $ro= 

:p^eten,  auffer  §ofea,  ^ergam.  (N.  XX.  E.  4.),  Sefaiag  unb  4  ^ücfjer 

(Sfrä,  fel^r  alt,  ^erg.  (N.  XX.  A.  13.),  ^fatme,  ^ol^eUeb,  unb  einige 

Sobgefänge  ber  ^ötbet,  fe^r  alt,  $erg.  (N.  XX.  E.  21.),  ba^  §o^e- 

Heb,  ^ergam.  (N.  XX.  E.  20.). 

Daß  es   sich  hier  um   die  früher  in  S.  Stefano   befindlichen  Hss. 


I 


1)  Hierbei  setze  ich  voraus,  daß  die  Church  Missionary  Society,  welche  in 
ihrem  Jahresberichte  von  1817/18  über  die  Hs.  berichtet,  damals  auch  die  Be- 
sitzerin derselben  war.  Ganz  sicher  ist  mir  dies  freilich  nicht,  da  ich,  wie  ge- 
sagt, des  fraglichen  Jahresberichtes  nicht  habe  habhaft  werden  können.  Denkbar, 
obwohl  etwas  sonderbar,  wäre  es  schließlich  auch,  daß  die  Church  Missionary 
Society  hier  über  eine  Erwerbung  der  British  and  Foreign  Bible  Society  berich- 
tete, in  deren  Besitze  sich  die  Hs.,  wie  Platt  lehrt  (s.  oben  S.  166),  spätestens 
seit  1823  befindet.  Am  wahrscheinlichsten  ist  es  aber  doch  wohl,  daß  die  Church 
Missionary  Society  in  der  Tat  die  Hs.  gekauft,  aber  dann  an  die  Bibelgesellschaft 
als  mehr  in  deren  Arbeitsgebiet  fallend  abgegeben  hat. 


192  Alfred  Rahlfs, 

handelt,  liegt  auf  der  Hand  ^).  Die  „Geschichte  der  Könige  in 
Ethiopien"  ist  nichts  anderes  als  die  oben  S.  184  fF.  besprochene 
Reg.-Hs.;  Adler  konnte  kein  Äthiopisch  und  hatte,  wie  er  in  der 
Fortsetzung  der  soeben  abgedruckten  Stelle  sagt,  auch  keinen 
Äthiopier  zur  Hand,  der  ihm  „Aufklärungen  über  diese  Hand- 
schriften" hätte  geben  können;  daher  hat  er  den  Inhalt  der  Hs. 
nach  dem  ihrem  Einbände  aufgeprägten,  irreführenden  Titel  „MSS 
AETH  I  HIST.  REGUM  |  ET  CATALOa  |  PONTIF."  (Roupp 
S.  297)  angegeben^).  „B.  Virginis  preces"  etc.  in  12°  wird  eine 
der  am  Schlüsse  von  Heinr.  Wilh.  Ludolfs  Hss. -Verzeichnis  (oben 
S.  178)  nur  summarisch  beschriebenen  Hss.  „in  12mo"  sein.  Dann 
folgen  der  Londoner  Oktateuch,  die  noch  zu  besprechende  Hs.  der 
kleinen  Propheten  (s.  unten  S.  193  fF.)  und  unsere  Isaias-Hs.;  wenn 
Adler  angibt,  letztere  enthalte  auch  „4  Bücher  Esrä",  so  ist  das 
offenbar  ein  Versehen  für  „4.  Buch  Esrä".  Ein  Psalter,  der  natur- 
gemäß auch  das  Hohelied  und  die  Oden  enthält,  findet  sich  gegen 
Ende  von  H.  W.  Ludolfs  Verzeichnis  unmittelbar  vor  den  Duodez- 
bänden. Nur  das  „Hohelied"  am  Schluß  von  Adlers  Liste  läßt 
^sich  nicht  identifizieren,  ist  mir  aber  auch  sehr  zweifelhaft,  da  Hss., 
die  nur  das  Hohelied  enthalten,  mindestens  ungewöhnlich  sind. 

Aber  wie  sind  die  Hss.  in  die  Bibliothek  der  Propaganda,  in 
der  sie  Adler  vorfand,  gekommen?  Durch  päpstliches  Breve  vom 
15.  Januar  1731  war  das  Kloster  S.  Stefano,  in  welchem  schon 
seit  mehreren  Jahrzehnten  keine  abessinischen  Mönche  mehr  wohnten 
(Chaine  S.  11.  18),  der  Propaganda  unterstellt,  s.  Jos.  Sim. 
Assemanis  Abhandlung  „Della  nazione  dei  Copti"  in  Ang.  Mais 
;,Scriptorum  veterum  nova  collectio"  5  (1831),  zweite  Abteilung, 
S.  181  unten,  sowie  den  Abdruck  des  Breves  im  Bullarium  pon- 
tificium  S.  Congregationis  de  propag.  fide  2  (1840),  S.  71—74.  Daß 
aber  die  Propaganda  nunmehr  die  äthiopischen  Hss.  von  S.  Ste- 
fano, die  dort  doch  nicht  mehr  benutzt  wurden ,  in  ihre  eigene 
Bibliothek  überführen  ließ,   war   eigentlich  selbstverständlich.     So 

1)  Von  den  Signaturen,  welche  Adler  angibt,  habe  ich  allerdings  nirgends 
eine  Spur  gefunden.  Auch  bei  Tisserant,  der  bei  der  Reg.-Hs.  eine  ganze  Reihe 
älterer  Signaturen  notiert  (S.  XLll  Nr.  62:  „olim  IUI  Aeth.  3,  dein  2;  10;  L.V. 
16"),  findet  sich  gerade  die  Ädlersche  „N.  XLII.  D.  14."  nicht.  Dies  beweist  je- 
doch nicht  gegen  die  Richtigkeit  der  Identifikation.  Die  Adlerschen  Signaturen 
haben  vielleicht  bloß  auf  Zetteln  gestanden,  die  auf  die  Einbände  geklebt  waren, 
und  sind  infolgedessen  bei  der  Umsignierung  völlig  verschwunden. 

2)  Vgl.  Roupp,  der  a.  a.  0.,  ohne  Adlers  Werk  zu  kennen ,  sagt :  „Wollte 
man  sich  bloß  auf  den  Titel  verlassen,  so  könnte  man  meinen,  es  würde  in  dieser 
Handschrift  die  Geschichte  der  Könige  Aethiopiens  erzählt  und  zu- 
gleich die  Reihenfolge  der  Metropoliten  angegeben".    Vgl.  auch  unten  S.  202. 


über  einige  alttestam.  Hss.  d.  Abessinierklosters  S.  Stefano  zu  Rom.     193 

erklärt  es  sich  nun  auch,  daß  die  in  Rom  gebliebenen  Hss.  der 
Bücher  Regum  und  des  Senödös  später  ins  Museo  Borgiano 
gekommen  und  mit  diesem  im  Mai  1902  (Roupp  S.  298  Anm.  2)  in 
die  Biblioteca  Vaticana  überführt  worden  sind.  Denn  das  Museo 
Borgiano  gehörte  eben  der  Propaganda  und  befand  sich  in  ihrem 
Gebäude;  es  enthielt  nicht  nur  die  Hss.,  welche  die  Propaganda 
von  ihrem  1804  verstorbenen  Präfekten,  dem  bekannten  Kardinal 
und  gelehrten  Sammler  Stefano  Borgia  ^),  dem  zu  Ehren  sie  eben 
das  Museo  Borgiano  gründete^),  geerbt  hatte,  sondern  es  wurden 
diesem  Museum  auch  diejenigen  Hss.  einverleibt,  welche  die  Pro- 
paganda schon  vorher  besessen  hatte  und  erst  nachher  erhielt^). 
Hiernach  ist  es  klar,  daß  der  Oktateuch,  der  Isaias  und  ebenso 
die  nunmehr  zu  besprechende  Hs.  der  kleinen  Propheten  einst  in 
der  Bibliothek  der  Propaganda  und  auch  wohl  noch  im  Museo 
Borgiano  gewesen  sind.  Wann  und  wie  sie  aber  daraus  entwendet 
und  nach  England  gebracht  worden  sind,  entzieht  sich  begreif- 
licherweise unserer  Kenntnis. 

IV.    Kleine  Propheten. 

Abba  Gregorius  und  Hiob  Ludolf  nennen  außer  dem  Okta- 
teuch, den  Büchern  Regum  und  Isaias  keine  alttestamentlichen 
Handschriften  (s.  oben  S.  165  und  164).  Wohl  aber  fügt  Heinr. 
Wilh.  Ludolf  (s.  oben  S.  178)  noch  hinzu: 

„Undecim  Prophet ae  minores  —  Deest  Hoseas*" 
Und  ebenso  Adler  (s.  oben  S.  191): 

„bie  12  kleinen  $roj)]^eten,  auffer  §ofea,  ^ergam.'' 
Nun  hat  aber  auch  die  Bodleiana  neben  der  Isaias-Hs.  (Aeth.  7) 
eine  Hs.  der  kleinen  Propheten  außer  Osee  (Aeth.  8),  und  diese 
Hs.  ist  ebenso  wie  jene  vonLaurence  im  Jahre  1822  geschenkt, 
s.  F.  Madan  an  der  oben  S.  188  zitierten  Stelle^).  Da  liegt  doch 
die  Vermutung  außerordentlich  nahe,  daß  auch  diese  Hs.  aus 
S.  Stefano  stammt  und  denselben  Weg  gegangen  ist  wie  die 
Isaias-Hs.,  mit  der  sie  noch  jetzt  in  Oxford  zusammensteht. 

Gegen  diese  Vermutung  darf  man  nicht  anführen,  daß  in 
der  Oxforder  Hs.  außer  Osee  auch  noch  die  erste  Hälfte  des  Arnos 


1)  Siehe   über  ihn  auch  Adler  a.  a.  0. ,  S.  167  f.    Als   Adler  in   Rom   war, 
war  Stefano  Borgia  noch  Sekretär  der  Propaganda.    Später  wurde  er  ihr  Präfekt. 

2)  A.  Ciasca,  S.  Bibliorum  fragraenta  Copto-Sahidica  Musei  Borgiani  1  (1885), 
S.  XVII. 

3)  Tisserant  S.  XXVI  Nr.  32  beschreibt  z.  B.  einen  Codex  Borgianus,  welcher 
der  Propaganda  erst  im  Jahre  1879  geschenkt  wurde. 

4)  Nur  diese  beiden  Hss.  der  Bodleiana  stammen  von  Laurence- 
Kgl.  Ges.  d.  Wiss.   Nachrichten.  Phil.-hist.  Klasse.  1918.  Heft  2.  13 


194  Alfred  Rahlfs, 

fehlt;  nach  Dillm.  Bodl.  S.  10  beginnt  sie  nämlich  erst  mit  Am. 
5 14.  Denn  in  den  summarischen  Verzeichnissen  Heinr.  Wilh.  Lu- 
dolfs  und  Adlers  kann  man  natürlich  nicht  so  genaue  Angaben 
erwarten  wie  in  Dillmanns  ausführlichem  Katalog. 

Umgekehrt  spricht  für  unsere  Vermutung  und  zwar  ausschlag- 
gebend die  von  Dillmann  beobachtete  Übereinstimmung  des  Textes 
der  Oxforder  Hs.  mit  den  von  Petraeus  und  Nissel  1660  und 
1661  herausgegebenen  Texten  der  vier  kleinen  Propheten  loel, 
lonas ,  Sophonias  und  Malachias  ^).  Schon  1848  hat  Dillm.  Bodl. 
S.  10 f.  in  seiner  Beschreibung  der  Oxforder  Hs.  bemerkt:  „Textus 
Joelis,  Jonae,  Sophoniae  et  Malachiae  cum  editionibus  impressis, 
in  ipsis  mendis,  tarn  accurate  concordat,  ut  hie  Codex  non  possit 
non  esse  idem,  quo  olim  Th.  Petraeus  et  Nisselius  usi  sunt".  Ferner 
sagt  derselbe  in  der  Vorbemerkung  zu  seiner  Neuausgabe  des 
äthiopischen  loel  am  Schlüsse  von  A.  Merx,  Die  Prophetie  des 
Joel  (1879),  S.  450:  „Der  hier  zu  Grrund  gelegte  älteste  oder  ur- 
sprüngliche Text  (A)  ist  genommen  aus  der  alten  Handschrift  Cod. 
Oxon.  Bodl.  VIII  (Katalog  p.  10),  und  ist  dieser  Cod.  ohne  Frage 
derselbe,  aus  dem  Th.  Petraeus  a.  1661  den  Joel  äthiopisch  heraus- 
gegeben hat  (die  Abweichungen  dieser  Ausgabe  beruhen  theils  auf 
Versehen  und  Druckfehlem  des  Petraeus,  theils  auf  Verbesserungen, 
vielleicht  nach  einer  andern  Handschrift)."  Ahnlich  auch  Job. 
Bachmann  in  seiner  Neuausgabe  des  Malachias  in  „Dodekaprophe- 
ton  Aethiopum"  Heft  II  (1892),  S.  5 :  „Petraeus  dürfte  seiner  Aus- 
gabe ebenfalls  cod.  Oxi  [d.  h.  unsere  Hs.]  zu  Grunde  gelegt  haben, 
obwohl  es  nicht  an  mannigfachen  Varianten  fehlt,  die  vielleicht 
der  Vergleichung  eines  andern  Codex  ihre  Entstehung  verdanken. 
Möglich  auch,  daß  sie  auf  Mißverständnissen  des  Herausgebers  be- 
ruhen.^ Was  Dillmann  und  Bachmann  hier  über  Abweichungen 
der  Ausgaben  des  Petraeus  von  der  Hs.  bemerken,  hat  seine  völ- 
lige Parallele  an  dem  oben  S.  174  f.  182.  186  f.  beim  Oktateuch  und 
den  Büchern  Regum  Bemerkten;  daß  Petraeus  noch  eine  andere 
Hs.  der  kleinen  Propheten  benutzt  habe,  darf  man  daraus  ebenso- 
wenig schließen,  wie  man  dort  aus  ähnlichen  Unterschieden  schließen 
durfte,  daß  Petraeus  und  Wansleben  andere  Hss.  des  Oktateuchs 
und  der  Bücher  Eegum  neben  oder  statt  der  uns  hier  beschäfti- 
genden benutzt  haben.  Petraeus  hat  offenbar  —  daran  kann  nach 
den  Beobachtungen  von  Dillmann  und  Bachmann  kein  Zweifel 
sein  —  die  vier  Prophetentexte,  welche  er  und  sein  Freund  Nissel 


1)  Eine  genaue  bibliographische  Beschreibung  di6ser  Ausgaben  s.  bei  Rahlfs 
Niss,  u.  Petr.  S.  276  f.  282—284  unter  Nr.  5.  8—10. 


über  einige  alttestam.  Hss.  d.  Abessinierklosters  S.  Stefano  zu  Rom.      195 

herausgegeben  haben,  dem  jetzigen  Bodl.  Aeth.  8  und  nur  diesem 
entnommen. 

Aber  hat  denn  Petraeus  diese  Hs.  wirklich  im  Abessinierkloster 
S.  Stefano  zu  Rom,  das  er  im  Jahre  1656  besuchte  (s.  oben 
S.  183),  vorgefunden  und  dort  seine  Texte  aus  ihr  abgeschrieben? 
Dies  ist  jedenfalls  die  nächstliegende  Annahme,  da  er,  wie  wir 
oben  S.  183  f.  189  gesehen  haben,  aus  S.  Stefano  auch  seine  Texte 
von  Gen.  1 — 4  und  Ruth  und  seine  Exzerpte  aus  dem  Oktateuch, 
der  Ascensio  Isaiae  und  der  Apokalypse  des  Esdras  hat.  Indessen 
könnte  man  dagegen  zwei  Einwände  erheben,  und  diese  müssen 
wir  jetzt  noch  erörtern  und  zu  entkräften  versuchen. 

1)  Wie  ich  schon  in  Niss.  u.  Petr.  S.  282  f.  ausgeführt  habe, 
scheint  das,  was  Nissel  und  Petraeus  selbst  über  die  Herkunft 
ihrer  Prophetentexte  sagen,  auf  eine  andere  Spur  zu  weisen.  Nissel 
sagt  auf  dem  Titel  seiner  Ausgabe  des  Sophonias,  der  Text  stamme 
aus  einem  „vetuftifsimus  MS.  Codex"  und  sei  „nunc  primum"  aus 
dem  Orient  mit  den  übrigen  kleinen  Propheten  nach  Europa  ge- 
bracht. Derselbe  nennt  in  der  Widmungsepistel  seiner  Ausgabe 
des  Buches  Ruth  die  zwölf  kleinen  Propheten  unter  den  Hss., 
welche  Petraeus  „haud  ita  pridem  Hierofolymis,  &  in  iEgypto  .  .  . 
acquifivit".  Auch  äußert  Petraeus  selbst  in  der  Widmungsepistel 
seiner  Ausgabe  des  lonas  die  Absicht,  diesem  kleinen  Propheten 
die  übrigen  elf  folgen  zu  lassen.  Hiernach  würde  man  zunächst 
annehmen,  daß  den  Propheten-Ausgaben  von  Petraeus  und  Nissel 
eine  vollständige  Hs.  der  zwölf  kleinen  Propheten  zugrunde  liege, 
welche  Petraeus  von  seiner  Orientreise,  etwa  aus  Jerusalem,  mit- 
gebracht hätte.  Aber  auch  hier  haben  wir  es  offenbar,  wie  beim 
Oktateuch  (s.  oben  S.  183),  mit  einer  absichtlichen  Verschleierung 
des  wirklichen  Tatbestandes  zu  tun.  Wir  haben  dort  gesehen,  daß 
Petraeus  trotz  seiner  und  Nisseis  scheinbar  in  ganz  andere  Rich- 
tungen weisenden  Aussagen  doch  völlig  zweifellos  sowohl  Gen. 
1 — 4  als  das  Buch  Ruth  der  damals  in  S.  Stefano  befindlichen 
Londoner  Oktateuch-Hs.  entnommen  hat.  Da  können  wir  natürlich 
auch  auf  seine  und  Nisseis  Angaben  über  die  Hs.  der  kleinen 
Propheten  kein  besonderes  Gewicht  legen.  Nun  ist  es  durch  Heinr. 
Wilh.  Ludolfs  Zeugnis  (s.  oben  S.  178)  über  allen  Zweifel  erhaben, 
daß  diese  Hs.  einige  Jahrzehnte  später  in  S.  Stefano  gewesen  ist. 
Dorthin  hätte  sie  aber  nicht  wohl  kommen  können,  wenn  örst  Pe- 
traeus sie  aus  dem  Orient  mitgebracht  hätte.  Denn  ein  Grund, 
weshalb  er  diese  Hs.  nicht  wie  die  übrigen,  die  er  im  Orient  er- 
worben hatte,  für  sich  behalten,  sondern  nach  S.  Stefano  gebracht 
haben  sollte,  läßt  sich  kaum  ausfindig  machen.    Auch  hat  er  seine 

13* 


196  Alifred  Rahlfs, 

Rückreise  aus  dem  Orient  gar  nicht,  wie  die  Hinreise,  über  Eoin, 
sondern  über  England  gemacht,  s.  Rahlfs  Niss.  u.  Petr.  S.  297 
— 299^. 

2)  Hiob  Ludolf  weiß  noch  in  seinem  1691  erschienenen  Comm. 
nichts  von  einer  in  S.  Stefano  befindlichen  Hs.  der  kleinen  Pro- 
pheten, s.  oben  S.  164.  Aber  Ludolfs  Angaben  im  Comm.  beruhen, 
wie  bereits  S.  165  gezeigt,  durchaus  auf  den  Mitteilungen,  welche 
ihm  Abba  Gregorius  im  Jahre  1651  gemacht  hatte.  Und  daß  dieser 
Abessinier  auf  Ludolfs  Frage  nach  den  äthiopischen  Hss.  von  S. 
Stefano  ihm  kein  schlechthin  vollständiges  Verzeichnis  geschickt, 
sondern  nur  die  größeren  und  vollständig  erhaltenen  genannt,  da- 
gegen eine  so  wenig  umfangreiche  und  noch  dazu  Verstümmelte  Hs. 
wie  die  der  kleinen  Propheten  (nur  71  Blätter)  unerwähnt  gelassen 
hat,  ist  um  so  wahrscheinlicher,  als  er  selbst  von  „großen  Bü- 
chern" spricht"  (s.  oben  S.  165).  Sollte  aber  trotzdem  die  Hs.  der 
kleinen  Propheten  im  Jahre  1651  noch  nicht  in  Rom  gewesen  sein, 
so  bliebe  bis  1656,  wo  Petraeus  in  Rom  war  (s.  oben  S.  183),  im- 
mer noch  eine  Frist  von  einigen  Jahren,  in  der  die  Hs„  nach  Rom 
gekommen  sein  könnte. 


V.    Oeschichte  der  vier  Handschriften 

(zugleich  Zusammenfassung  der  Resultate)* 

l)ie  vier  Hss.,  die  wir  besprochen  haben,  sind  sämtlich  für 
ftbessinische  Verhältnisse  sehr  alt.  Der  Oktateuch  stammt  nach 
Dillmanns  Schätzung  aus  dem  XIII./XIV.  Jahrhundert,  s.  oben 
S.  166.  Derselben  Zeit  muß  die  Reg.-Hs.  angehören,  da  sie  ja 
bereits  von  dem  1314 — 1344  regierenden  Könige  'Amda-Sejön,  mit 
Regierungsnamen  Grabra-Maskal,  nach  Jerusalem  gestiftet  ist,  s. 
oben  S.  187.  Von  den  Hss.  des  Isaias  und  der  kleinen  Propheten 
gibt  Dillm.  Bodl.  S.  9  f.  an,  daß  sie  ;,literis  grandioribus  et  forma 
antiquioribus",  resp.  „characteribus  grandioribus  formaque  anti- 
quioribus"  geschrieben  seien;  auch  bemerkt  er  S.  10  Anm.  y,  daß 
die  Schrift  der  beiden  Hss.  ähnlich  sei.    In   seiner  Ausgabe  der 


l^^In  seinen  Anmerkungen  zum  lonas  (vgl.  oben  S.  183  f.  und  S.  189  Anm.  2) 
zitiert  Petraeus  aus  den  nicht  von  ihm  edierten  kleinen  Propheten  nur  Mich.  1 6 
und  Agg.  1 4  (beide  Zitate  finden  sich  auf  S.  15).  Daraus  läßt  sich  natürlich  kein 
sicherer  Schluß  ziehen.  Immerhin  aber  darf  man  darauf  aufmerksam  machen, 
daß  der  Befund  wenigstens  nicht  gegen  unsere  Identifikation  spricht,  da  die  in 
der  Oxforder  Hs.  ganz  oder  teilweise  fehlenden  Propheten  Osee  und  Amos  auch 
Ton  Petraeus  nicht  zitiert  werden. 


über  einige  alttestam.  Hss.  d.  Abessinierklosters  S.  Stefano  zu  Rom.     197 

Biblia  Veteris  Testamenti  Aethiopica  6  (1894),  S.  193  setzt  er  die 
Isaias-Hs.  ins  XIV./XY.  Jahrhundert  i). 

Ihrem  Alter  entsprechend  enthalten  alle  vier  Hss.  auch  durch- 
weg, soweit  sie  untersucht  sind,  sehr  wertvolle  alte  Texte« 
Auf  die  Oktateuch-Hs.  „F"  hat  Dillmann  seine  Ausgabe  in  erster 
Linie  gegründet,  und  auch  Boyd  sagt  in  seiner  oben  S.  179  Anm.  2 
zitierten  Schrift  auf  S.  21 :  „F  .  .  .  is  indisputably  a  MS  that 
embodies  the  ancient  text".  Über  die  Eeg.-Hs.  urteilt  Roupp 
S.  329  nach  Prüfung  ihrer  Lesarten  in  Reg.  I :  „Wir  besitzen  also 
in  Cod.  Borg,  die  älteste  bis  jetzt  bekannte  Handschrift  der  versio 
anüqiia  der  IV  Libri  Regum."  Der  Isaias-Text  selbst  ist  noch 
nicht  untersucht;  Joh.  Bachmann,  Der  Prophet  Jesaia  nach  der 
äthiopischen  Bibelübersetzung  1  (1893)  hat  die  Hs.  „aus  äußern 
Grründen^^  (S.  VIII)  nicht  berücksichtigt ;  er  hatte  erst  nachträglich 
eine  Kollation  derselben  bekommen  und  wollte  diese  im  2.  Teile 
seines  Werkes  verwerten,  ist  jedoch  vorher  gestorben.  Wohl  aber 
haben  wir  über  die  Texte  der  Ascensio  Isaiae  und  der  Apokalypse 
des  Esdras,  die  in  unserer  Hs.  auf  das  kanonische  Buch  Isaias 
folgen,  das  Urteil  Dillmanns;  beide  schätzte  er  so  hoch  ein,  daß 
er  sie  seinen  Ausgaben  in  erster  Linie  zugrunde  gelegt  hat,  s. 
Asc.  Is.  (1877),  S.  VII f.:  ;,In  constituendo  igitür  textu  quam  ar- 
ctissime  ad  librum  A  [d.  h.  unsere  Is.-Hs.]  me  applicui",  und  Biblia 
V.  T.  Aeth.  5  (1894),  S.  193  in  der  Schlußbemerkung  zur  Esdr.- 
Apokal. :  „Principatum  codicum'  laudatorum  [es  handelt  sich  um 
nicht  weniger  als  11  Hss.]  obtinet  L  [d.  h.  unsere  Is.-Hs.],  ejusque 
auctoritatem  in  conformanda  libri  editione  potissimum  sequendam 
esse,  ultro  elucet".  Ebenso  steht  es  mit  der  Hs.  der  kleinen  Pro- 
pheten. Dillmann  sagt  in  der  schon  oben  S.  194  zitierten  Vor- 
bemerkung zu  seiner  Ausgabe  des  loel:  „Der  hier  zu  Grund  ge- 
legte älteste  oder  ursprüngliche  Text  (A)  ist  genommen  aus  der 
alten  Handschrift  Cod.  Oxon.  Bodl.  VIII"  d.  h.  aus  unserer  Hs. 
der  kleinen  Propheten.  Und  auch  Joh.  Bachmann  hat  seinen  Aus- 
gaben des  Abdias  und  Malachias  (Dodekapropheton  Aethiopum  Heft 
I  und  II,  Halle  1892)  unsere  Hs.  zugrunde  gelegt. 

Der  Oktateuch  ist  laut  Unterschrift  in  'Aksüm,  dem  politi- 
schen und  religiösen  Mittelpunkte  des  älteren  Abessiniens,  ge- 
schrieben, s.  Dillm.  Oct.  S.  6.  Über  die  Heimat  der  übrigen  Hss. 
wissen  wir  nichts.    Die  Is.-Hs.  ist  zwar,   wie  Dillmann  aus  einer 


1)  Dillmann  sagt  dort,  die  Hs,  stelle  „traditae  versionis  condicionem,  qualis 
XI V°  vel  XV°  saeculo  evascrat"  dar  und  sei  „severiori  grammaticorum  disciplinae, 
(j^uam  in(ie  a  saeculo  XVI  in  Geez  literis  observare  licet,  nondum  subjectu?". 


3^98  Alfred  Ralilfs, 

Notiz  am  Schlüsse  der  Ascensio  Isaiae  mit  Recht  gefolgert  hat 
(s.  oben  S.  189),  für  einen  Jerusalempilger  geschrieben ;  aber  diese 
Notiz  ist  so  unbestimmt  formuliert,  daß  man  nicht  sehen  kann,  ob 
jener  Pilger  bereits  in  Jerusalem  war  oder  erst  dorthin  ziehen 
wollte  (Dillmann:  „peregrinati  vel  peregrinaturi"). 

Die  drei  ersten Hss.  sind  dann  sicher  in  Jerusalem  gewesen. 
Den  Oktateuch  hat  ein  Isaak,  der  kaum  mit  dem  1414 — 1429  re- 
gierenden Könige  Isaak  identisch  ist,  „dem  heiligen  Jerusalem", 
d.h.  den  in  Jerusalem  wohnenden  Abessiniern,  geschenkt,  s.  oben 
S.  177-180.  DieReg.-Hs.  hat  der  König 'Amda-Sejön  (1314— 1344) 
„der  Herrin  Maria  nach  Jerusalem  geweiht",  d.  h.  wohl  der  Keniset 
Sitti  Marjam  im  Kidrontale,  deren  westlichen  Querflügel  die  Abes- 
sinier  innehatten,  s.  Roupp  Taf.  4  und  S.  304  und  vgl.  Rahlfs  Niss. 
u.  Petr.  S.  296.  Die  Isaias-Hs.  ist ,  wie  eben  erwähnt,  für  einen 
Jerusalempilger  geschrieben.  Nur  die  Hs.  der  kleinen  Propheten 
enthält  keinen  Hinweis  auf  Jerusalem;  doch  darf  man  wohl  ver- 
muten, daß  auch  sie  aus  Jerusalem  nach  Rom  gekommen  ist. 

Die  Reg.-Hs.  hat  Mähsanta-Märjäm  im  Jahre  1637  nach  Rom 
in  das  Abessinierkloster  S.  Stefano  gebracht,  damit  sie  dort  als 
Druckvorlage  diente,  s.  oben  S.  184— 186.  Über  die  Zeit,  wann 
die  übrigen  Hss.  nach  Rom  gebracht  sind,  haben  wir  keine  Nach- 
richten ^).  Da  sich  aber  die  Texte  so  schön  ergänzen  (Gren. — Reg. 
IV  und  die  Propheten,  diese  allerdings  noch  recht  unvollständig), 
so  liegt  die  Vermutung  nahe,  daß  sie  nicht  zufällig  so  zusammen- 
gekommen,  sondern  absichtlich  zu  einem  und   demselben  Zwecke 


1)  Dagegen  wissen  wir,  daß  der  Senödös  (s.  oben  S.  163  u.  ö.)  um  dieselbe 
Zeit  wie  die  Reg.-Hs.  von  Jerusalem  nach  Rom  gebracht  ist.  Abba  Gregorius 
sagt  bei  Flemming  2,  S.  97  Z.  4f. :  „aus  Jerusalem  haben  ihn  die  Mönche  kurz 
vor  dem  Tode  des  Papstes  Urban  VIII  [f  1644]  gebracht".  Noch  genauer  be- 
richtet Wansleben  in  seinem  oben  S.  168  beschriebenen  „Conspectus"  auf  S.  20: 
„Romam  delatus  eil  ä  quodam  Monacho  ^ithiope,  Monalterij  Gubae,  Hdbte  Mar- 
jam vocato,  ante  annos  circiter  viginti-quinque"  [der  „Conspectus"  ist  von  1671 
datiert,  aber  vielleicht  schon  1670  gedruckt].  Über  den  abessinischen  Mönch,  der 
ihn  nach  Rom  gebracht  hat,  wissen  wir  sonst  folgendes:  'Abbä  Habta-Märjäm 
von  Dabra-Gübä'e  restaurierte  laut  einer  Inschrift  bei  Chaine  S.  31  f.  im  Jahre 
1638  gemeinsam  mit  einem  anderen  Abessinier  auf  eigene  Kosten  die  Kirche  von 
S.  Stefano.  Er  gehört  zu  den  vier  Abessiniern,  welche  das  äthiopische  Gedicht 
vor  lac.  Wemmers'  1638  in  Rom  erschienenem  äthiopischen  Lexikon  unterzeichnet 
haben.  Als  Hieb  Ludolf  1649  S.  Stefano  besuchte,  lebte  Habta-Märjäm  noch,  s. 
Ludolf  Comm.  S.  30.  Zu  Anfang  des  Jahres  1651  aber  starb  er  an  der  Schwind- 
sucht, s.  Flemming  2,  S.  92  Z.  9  f.,  S.  96  Z.  3  f.  18—21,  S.  97  Z.  6,  S.  100  Z.  18 
und  den  Schluß  der  soeben  zitierten  Inschrift  bei  Chaine  S.  32.  Vgl.  a,uch  oben 
S.  185  Anm.  2. 


über  einige  alttestam.  Hss.  d.  Abessinierklosters  S.  Stefano  zu  Rom.     199 

ausgewählt  worden  sind.  Ging  man  in  Rom  einmal  mit  dem,  wie 
S.  185  f.  gezeigt,  gerade  zu  jener  Zeit  wohl  begreiflichen  Plane 
eines  Druckes  äthiopischer  Bibeltexte  um,  so  wird  man  auch  nicht 
bloß  beabsichtigt  haben,  nur  die  Königsbücher  zu  drucken ;  da  das 
ganze  Alte  Testament  mit  Ausnahme  des  Psalters  und  seiner  An- 
hänge (Oden,  Cant.)  noch  nicht  gedruckt  war,  wäre  eine  solche 
Beschränkung  gerade  auf  die  Königsbücher  doch  ziemlich  sonder- 
bar gewesen.  Vielmehr  wird  man  einen  Druck  des  ganzen  Alten 
Testamentes  oder  der  ganzen  Bibel  ins  Auge  gefaßt  und  dafür 
die  nötigen  Vorlagen  gesammelt  haben.  Daß  man  aber  nicht  gleich 
das  ganze  Alte  Testament  zusammenbrachte,  ist  wohl  erklärlich; 
hat  doch  sogar  Tasfä-Sejön  seinerzeit,  als  er  den  Druck  des  äthiopi- 
schen Neuen  Testaments  begann,  nicht  einmal  für  dieses  eine  voll- 
ständige handschriftliche  Vorlage  beisammen  gehabt  und  daher  die 
Paulusbriefe  erst  in  einem  ein  Jahr  später  erschienenen  Nachtrage 
gebracht^),  ja  für  große  Teile  der  Apostelgeschichte  überhaupt 
keine  Handschrift  besessen,  sondern  sie  selbst  aus  dem  Lateinischen 
und  Grriechischen  ins  Äthiopische  übersetzt^).  Ich  nehme  also  an, 
daß  alle  vier  Hss.  um  dieselbe  Zeit  von  Jerusalem  nach  Rom  ge- 
schafft sind  und  sämtlich  als  Vorlagen  für  den  beabsichtigten  Druck 
des  Alten  Testamentes  oder  der  Bibel  haben  dienen  sollen.  Und 
dafür  waren  sie  ja  auch  sehr  glücklich  gewählt,  da  sie,  wie  wir 
sahen,  sämtlich  gute  alte  Texte  enthielten. 

Weshalb  dann  aber  aus  dem  geplanten  Bibeldrucke  nichts  ge- 
worden ist,  wissen  wir  nicht,  wie  wir  ja  überhaupt  über  den  ganzen 
Plan  außer  der  Notiz  des  Mähsanta-Märjäm  keine  Nachricht  haben. 
Möglicherweise  schob  man  den  Beginn  des  Druckes  hinaus,  bis  die 
Vorlagen  auch  für  die  übrigen  Bücher  des  A.  T.  einigermaßen  voll- 
ständig beisammen  wären,  und  inzwischen  erkaltete  der  erste  Eifer, 
was  um  so  erklärlicher  wäre,  als  es  sich  immer  deutlicher  heraus- 


1)  Siehe  Tasfä-Sejöns  Nachwort  zum  Neuen  Testament  Bl.  226  b:  „epistola 
ad  Hebrcßos  fuo  loco  non  eß,  pofita  est  Jautem  a  ndbis  ante  acta  apostolorum,  hoc 
autem  ideo  factum  est,  quia  cum  quatuor  Euangelia,  Apocalypßm,  feptem  cano- 
nicas  epistotas,  et  apostolorum  acta,  typis  iam  ah  hinc  biennio  excudi  feceriinus, 
Pauli  epistolas  Italice  non  hdbehamus,  nifi  illam  quce  est  ad  Hehreos,  et  ideo,  ne 
qiiis  forte  malus  euentus  facrum  illud  opus  prcBriperet,  tunc  unä  cum  alijs  im- 
preffa  esP'. 

2)  Siebe  Tasfä-Sejöns  äthiopisches  Nachwort  zur  Apostelgeschichte  Bl.  157a 
II  Z.  7— 11;  in  lateinischer  Übersetzung  findet  man  die  Stelle  bei  Ludolf,  Historia 
Aethiopica  (1681),  Lib.  III  cap.  IV  §  11:  „Ißa  Acta  Apoßolorum  maodmä  ßii 
parte  verfa  funt  Bomce  e  lingud  Romand  (hoc  eft  Latina)  et  Grcecd  in  ^thio- 
picam,  propter  defectum  Arclietypi;  id  quod  addidimus  vel  omißmus,  condonate 
noUs,  vos  autem  emendate  illud.^ 


200  Alfred  Rahlfs, 

stellte,  daß  eine  Wiederaufnahme  der  Mission  in  Abessinien  we- 
nigstens vorläufig  unmöglicli  war,  und  damit  auch  der  praktische 
Nutzen  eines  Druckes  der  äthiopischen  Bibel  in  Wegfall  kam  ^). 

Mähsanta-Märjäm  hat,  wie  wir  sahen  (oben  S.  185),  am  Schlüsse 
seiner  Notiz  in  der  ßeg.-Hs.  ausdrücklich  bemerkt:    „Sie   ist   das 
Eigentum  Jerusalems.    Wir  werden  sie  zurückgeben,  nachdem  wir 
sie   gedruckt  haben."     Diese  Notiz  ist  vermutlich  dadurch  veran- 
laßt,   daß  die  meisten  äthiopischen  Hss.   von  S.  Stefano  um  jene 
Zeit  (am  13.  Mai  1638)  in  die  Biblioteca  Vaticana  überführt  wur- 
den,  s.  Chaine  S.  14  und  vgl.  auch  Abba  Gregorius  bei  Flemming 
2,  S.  96  Mitte:    „Die  im  Vatican  befindlichen   [näml.    äthiopischen 
Bücher  d.  h.  Handschriften]  habe  ich  nicht  gesehen,  aber  ich  habe 
mit  eigenen  Ohren  gehört,  daß  viele  schöne  Bücher  vorhanden  sind, 
welche  einst  äthiopische  Mönche,  die  vor  uns  da  waren,  mitgebracht 
haben. ^   Mähsanta-Märjäm  wollte  durch  seine  Notiz  wahrscheinlich 
verhüten,   daß  die  ßeg.-Hs.  gleichfalls  in  die  Vaticana  überführt 
würde  und  damit  ihren  rechtmäßigen  Besitzern,    den  Abessiniern 
von  Jerusalem,  verlorenginge.    Er  hat  diese  Absicht  auch  erreicht : 
die  Keg.-Hs.  ist  ebenso  wie  die  übrigen  uns  beschäftigenden  Hss., 
die  wohl  auch  nur  leihweise^)   von  Jerusalem  nach  Rom  gebracht 
waren,   in  S.  Stefano  geblieben,    was   übrigens  auch  deshalb  not- 
wendig war,  weil  diese  Hss.  eben  als  Druckvorlagen  dienen  sollten. 
Aber  zum  Druck  ist  es  dann  ja  nicht   gekommen,    und  schließlich 
ist  auch  die  Rückgabe  nach  Jerusalem  unterblieben.     TJnd  das  ist 
für  die  Wissenschaft  nur  zum  Segen  gewesen.    Denn  in  Rom  und 
später  in  England  waren  die  Hss.  den  abendländischen  Gelehrten, 
die  ja  doch  allein  die  äthiopische  Wissenschaft   geschaffen   haben, 
viel  leichter  zugänglich  als  in  Jerusalem,  wo  die  Hss.  so  gut  wie 
sicher  unbenutzt  gelegen  hätten  und  womöglich  gar  mit  der  Zeit 
verschollen  wären.     Und   die    abendländischen   Gelehrten 
haben  sich  auch  in  der  Tat  bald  der  Hss.  angenommen  und  gerade 
diese  Hss.  in  besonders  ausgiebigem  Maße  benutzt. 

Schon  1649  hat  Hiob  Ludolf  bei  seinen  Besuchen  in  S.  Ste- 


1)  Vielleicht  ist  es  auch  von  Einfluß  gewesen,  daß  Mähsanta-Märjäm  nicht 
gar  lange  nachher  starb.  Sein  Todesjahr  kenneu  wir  zwar  nicht,  doch  war  er 
schon  tot,  als  Ludolf  1649  die  Abessinier  in  S.  Stefano  aufsuchte,  s.  Ludolf  Comm. 
S.  30  und  Gregorius  bei  Flemming  2,  S.  96  Z.  19—21. 

2)  Vgl.  das,  was  Gregorius  an  Ludolf  über  die  Senödös-Hs.  von  S.  Stefano 
schreibt  (Flemming  2,  S.  89  Z.  9—1 1) :  „In  betreif  Eurer  Frage  nach  dem  Synodos : 
so  steht  es  nicht  in  meiner  Macht,  ihn  Euch  nach  Venedig  zu  bringen,  denn  er 
ist  Eigenthum  der  Kirche  von  Jerusalem,  und  der  Oberkönig  von  Äthiopien  hat 
ihn  geschickt  [näml.  nach  Jerusalem]**. 


über  einige  alttestara.  Hss.  d.  Abessinierklosters  S.  Stefano  zu  Rom.     201 

fano  mindestens  den  Oktateuch  persönlich  in  Augenschein  genommen 
(s.  oben  S.  164).  Nach  seinem  Fortgang  von  Rom  hat  er  sich  dann 
durch  Abba  Gregorius  Auszüge  aus  den  Bibelhss.  und  dem  Senödös 
machen  lassen,  s.  Gregorius'  Brief  vom  4.  Juli  1650  bei  Flemming 
2,  S.  85  Z.  27—29 :  „Was  jene  Vocabeln  aus  der  Thora  [d.  h.  dem 
Oktateuch],  dem  Jesaias  und  Sy nodos  und  andere  Redensarten  an- 
belangt, die  Ihr  mir  besonders  an  das  Herz  gelegt  habt,  so  habe 
ich  gethan,  wie  Ihr  mir  gesagt  habt"-,  sowie  Ludolfs  Lexicon 
Aethiopico-Latinum ,  ed.  II.  (1699),  zweite  Seite  des  „Catalogus 
librorum",  wo  er  die  „Vocabula^^,  welche  Gregorius  exzerpiert  hat, 
„fed  plane  imperfecta",  unter  den  Quellen  seines  Lexikons  anführt. 
Auch  hat  Gregorius  das  dritte  Kapitel  der  Genesis  für  Ludolf 
abgeschrieben  (s.  Flemming  2 ,  S.  92  Z.  19  und  S.  106  Z.  6  f.)  und 
ihm  auf  seine  Anfrage  einige,  wenn  auch  nur  recht  dürftige,  Nach- 
richten über  die  Hss.  gegeben  (s.  oben  S.  165  f.  196). 

Viel  wichtiger  und  ertragreicher  ist  dann  aber  die  Benutzung 
der  Hss.  durch  Theodor  Petraeus  im  Jahre  1656  (s.  oben  S.  183) 
geworden.  Denn  dieser  hat  sie  nicht  nur  exzerpiert  (s.  oben  S.  183  f., 
S.  189  Text  und  Anm.  2  und  S.  196  Anm.  1),  sondern  auch  mehrere 
vollständige,  wenn  auch  kürzere  Texte  aus  ihnen  abgeschrieben 
und  dieselben  nach  der  Heimkehr  von  seiner  Orientreise  in  den 
Jahren  1660  und  1661  in  Leiden  teils  selbst  veröffentlicht,  teils 
seinem  Freunde  Nissel  zur  Veröffentlichung  überlassen.  So  sind 
schon  damals  Gen.  1  —  4,  das  Buch  Ruth  und  die  Bücher  der 
vier  kleinen  Propheten  loel,  lonas,  Sophonias  und  Zacha- 
rias  aus  unseren  Hss.  herausgegeben,  s.  oben  S.  182f.  194 f. 

Bald  darauf,  im  Jahre  1666,  hat  Johann  Michael  Wans leben 
den  ganzen  Text  des  Oktateuchs  und  der  Bücher  Regum  abge- 
schrieben und  1670/71  in  Paris  Colberts  Unterstützung  für  eine 
Ausgabe  dieser  Texte  zu  gewinnen  versucht,  jedoch  vergeblich,  s. 
oben  S.  167  f.  Aus  Wanslebens  Abschrift,  die  inzwischen  in  den 
Besitz  des  Pariser  Gelehrten  Louis  Picques  übergegangen  war 
(jetzt  Bibl.  Nat.,  Eth.  1  und  2),  hat  dann  1683/84  Hieb  Ludolf, 
gleichfalls  in  der  Absicht,  den  Text  zu  veröffentlichen,  den  Penta- 
teuch  und  das  Buch  losue  teils  selbst  abgeschrieben,  teils  durch 
seinen  Sohn  Christian  abschreiben  lassen;  aber  auch  aus  seinen 
Editionsplänen  ist  nichts  geworden,  sondern  seine  Abschrift  (jetzt 
Göttingen,  Univ.-Bibl.,  Mich.  270  und  Aeth.  1)  hat  nur  noch  wei- 
tere Abschriften  seiner  Schüler  und  späterer  Gelehrten  gezeitigt, 
s.  oben  S.  169 — 174.  Doch  hat  Ludolf  das  Interesse  an  den  Hss. 
auch  später  nicht  verloren,  sondern  sich  um  weitere  Nachrichten 
über  sie  bemüht.     Hierauf  hat   er  zunächst   die   falsche  Auskunft 


202  Alfred  Rahlfs, 

bekommen,  welche  er  am  Schlüsse  der  oben  S.  164  abgedruckten 
Stelle  seines  Comm.  mitteilt,  daß  die  Hss.  in  die  Vaticana  über- 
führt seien.  Nachdem  er  aber  erfahren  hatte,  daß  sie  doch  noch 
in  S.  Stefano  waren,  hat  er  1694  und  1696  von  dem  römischen 
Lector  theologiae  Johannes  Pastritius  ein  Verzeichnis  der  Hss. 
von  S.  Stefano  erbeten  und  erhalten,  welches  allerdings,  da  Pastri- 
tius kein  Äthiopisch  konnte,  nur  sehr  summarisch  ausfiel;  gleich- 
zeitig übrigens  hat  Pastritius  in  die  Hss.  selbst,  wenigstens  in  den 
Oktateuch  und  die  E.eg.-Hs.,  sowie  auch  in  den  Senödös  kurze  In- 
haltsangaben eingetragen,  die  sämtlich  vom  20.  Sept.  1696  datiert 
sind  -und  uns  dadurch  den  Nachweis  ermöglichten ,  daß  der  Lon- 
doner Oktateuch  damals  in  der  Tat  noch  mit  den  in  Rom  ver- 
bliebenen Hss.  der  Königsbücher  und  des  Senödös  zusammen  ge- 
wesen ist,  s.  oben  S.  180 f.  Endlich  aber  hat  Ludolf  im  Jahre 
1700  durch  seinen  Neifen  Heinr.  Wilh.  Ludolf  noch  eine  et- 
was genauere  Beschreibung  der  Hss.  bekommen.  Und  diese  hat 
er  eigenhändig  in  ein  später  in  die  Bibl.  Nat.  zu  Paris  gekommenes 
Exemplar  seines  Comm.  eingetragen,  um  sie  in  eine  eventuelle 
Neuauflage  dieses  Werkes  aufzunehmen,  s.  oben  S.  177  f.  Diese  Be- 
schreibung ist  für  unsere  Untersuchung  sehr  wertvoll  gewesen. 

Pastritius  rechnet  in  seiner  ausführlichen  Vorbemerkung  zur 
E,eg.-Hs.  mit  der  Möglichkeit,  daß  das  Kloster  S.  Stefano  die  Hs. 
einmal  verkaufen  könnte,  s.  oben  S.  184  Anm.  1.  Hierzu  ist  es 
jedoch  nicht  gekommen,  vielmehr  sind  die  Hss.,  nachdem  im  Jahre 
1731  das  schon  seit  mehreren  Jahrzehnten  nicht  mehr  von  abessi- 
nischen  Mönchen  bewohnte  Kloster  der  Propaganda  unterstellt  war, 
in  die  Bibliothek  der  Propaganda  überführt  und  hier  von 
Adler,  der  1780—1782  seine  „biblischkritische  Keise  nach  Rom" 
machte,  noch  sämtlich  gesehen  worden,  s.  oben  S.  191  f.  Am  An- 
fange des  XIX.  Jahrb.,  als  die  Propaganda  zu  Ehren  ihres  hoch- 
verdienten Präfekten,  des  1804  verstorbenen  Kardinals  Stefano 
Borgia,  in  ihrem  Gebäude  das  Museo  Borgiano  errichtete  und 
diesem  auch  die  bereits  in  ihrer  Bibliothek  befindlichen  Hss.  ein- 
verleibte, kamen  auch  die  Hss.  von  S.  Stefano  in  dies  Museum, 
s.  oben  S.  193.  Aber  bald  darauf  wurden  sie  arg  dezimiert:  ein 
Dieb  stahl  alle  Bibelhss.,  mit  denen  wir  uns  beschäftigt  haben, 
mit  Ausnahme  der  Reg.-Hs.,  die  ihm  wohl  nur  deshalb  entging, 
weil  er,  durch  den  ihr  aufgeprägten  Titel  „MSS  AETH  |  HIST. 
REGUM  I  ET  C ATALOG  |  PONTIF.«  ')  irregeführt,  sie  nicht  als 
Bibelhs.  erkannte,  vgl.  oben  S.  192  Text  und  Anm.  2. 


1)  „CATALOG  I  PONTIF.«  erklärt  sich  daraus,  daß  sich  unter  den  Zutaten 


über  einige  alttestam.  Hss.  d.  Abessinierklosters  S.  Stefano  zu  Rom,     203 

So  kamen  nun  der  Oktateuch  und  die  beiden  Prophetenhss. 
an  den  Londoner  Buchhändler  J.  Smith  in  Drury  Lane."  Und 
dieser  verkaufte  um  1817  den  Oktateuch  an  die  British  Church 
Missionary  Society,  die  ihn  dann  sehr  bald  an  die  British 
and  Foreign  Bible  Society  weitergab^).  Die  beiden  Pro- 
phetenhss. aber  verkaufte  er  gleichzeitig  an  den  Oxforder  Professor 
Eichard  Laurence,  der  aus  der  Is.-Hs.  1819  die  Ascensio 
Isaiae,  1820  die  Apokalypse  des  Esdras  herausgab  und 
darauf  beide  Hss.  1822  der  Bodleian  Library  zu  Oxford 
schenkte,  s.  oben  S.  190.  193. 

In  neuerer  Zeit  sind  dann  die  nach  England  gekommenen  Hss. 
besonders  von  Dillmann  ausgenutzt.  Er  hat  1848  die  beiden 
Prophetenhss.  in  seinem  Kataloge  der  äthiopischen  Hss.  der  Bod- 
leiana  eingehend  beschrieben  und  sie  später  seinen  Ausgaben  der 
Ascensio  Isaiae  (1877],  des  loel  (1879)  und  der  Esdras- 
Apokalypse  (1894)  zugrunde  gelegt;  und  ebenso  hat  er  seine 
Ausgabe  des  Oktateuchs  (1853 — 55)  vor  allem  auf  die  Londoner 
Hs.  gegründet;  s.  oben  S.  166.  197. 

Die  in  Rom  verbliebene  Hs.  der  Königsbücher  blieb  dagegen 
im  Museo  Borgiano  versteckt,  bis  Ignazio  Gruidi  sie  wieder  ans 
Licht  zog  und  sein  Schüler  N.  R-oupp  auf  seine  Anregung  hin 
sie  untersuchte  und  sie  durch  seinen  oft  zitierten  Aufsatz,  in 
welchem  er  auch  schon  ihre  Identität  mit  der  Vorlage  Wanslebens 
nachwies,  der  gelehrten  Welt  bekannt  machte.  In  neuester  Zeit 
(im  Mai  1902,  s.  Roupp  S.  298  Anm.  2)  ist  sie  in  die  Biblioteca 
Vaticana  überführt.  Roupp  und  Tisserant  haben  photogra- 
phische Proben  aus  ihr  gegeben;  Roupps  vier  Tafeln  enthalten 
Reg.  I  li-ii  mit  der  oben  S.  185  angeführten  Notiz  Mähsanta-Mär- 
jäms.  Reg.  III  155— 15,  Reg.  IV  li— e  und  die  Schenkungsurkunde 
des  Königs  'Amda-Sejön;  Tisserants  Taf.  62  enthält  Reg.  I  29 10 
— 30i.  30  3-6. 


am  Schlüsse  der  Hs.  auch  ein  Verzeichnis  der  jüdischen  Hohenpriester  findet,   s. 
Roupp  S.  299.  301. 

1)  Hierzu  vgl.  oben  S.  191  Anm.  1. 


Sachliches  und  Sprachliches  zur  indogermanischen  . 

Grossfamilie. 

Von 

Eduard  Hermann. 

Vorgelegt  in  der  Sitzung  vom  17.  Mai  1918. 

1.    Die  Gfrossfaniille. 

Wenn  von  der  indogermanischen  Großfamilie  gesprochen  wird, 
pflegt  man  auf  indische,  armenische,  irische,  slavische  und  albane- 
sische  Verhältnisse  hinzuweisen  (vgl.  z.  B.  Schrader  Reallex.  218  fg., 
Feist  Kultur  der  Idg.  114)  und  die  geringeren  Überreste  bei  den 
Griechen,  Römern  und  Germanen  zu  erwähnen.  Die  Zeugnisse 
lassen  sich  aber  noch  vermehren.  Vor  allem  sind  dabei  die  Iranier 
nicht  zu  übersehen.  Großfamilie  besteht  noch  heute,  wie  mir 
Andreas  mitteilt,  bei  den  Afghanen  und  Belutschen,  s.  Anhang. 
Dasselbe  ergibt  sich  wohl  auch  mittelbar  für  die  Osseten  aus  den 
Darstellungen  ihrer  Gewohnheiten  bei  v.  Klaproth  Reise  in  den  Kau- 
kasus II,  608  Anm.,  Haxthausen  Transkaukasia,  Kovalewsky  Cou- 
tume  contemporaine  et  loi  ancienne,  droit  coutumier  ossetien  eclair^ 
par  rhistoire  comparee  und  aus  der  S.  210  genannten  Schrift  Schana- 
jevs.  Auch  die  Parsen  in  Indien,  die  sich  darin  nach  Spiegel  Era- 
nische  Altertumskunde  III,  676  nicht  von  den  alten  Iraniern  unter- 
scheiden, leben  noch  so.  Für  die  Kurden  ist  das  sicherlich  eben- 
falls anzunehmen,  wie  die  Nachrichten  v.  Stenins  Globus  70,  223  fg. 
nahelegen. 

Auch  für  die  Balten  gibt  es  Zeugnisse  der  Großfamilie.  Von 
den  Preußen  kennen  wir  sie  aus  den  Scriptores  rerum  Prussicarum 
I,  267.  Von  den  Litauern  ist  mir  ein  solches  direktes  Zeugnis 
nicht  bekannt,  aber  Nachklänge  finden  sich  vielleicht  noch  in  den 
litauischen  Dainas.    In  diesen  Volksgesängen  ist  ein  häufiges  Motiv, 


Sachliches  und  Sprachliches  zur  indogermanischen  Großfamilie.         205 

daß  die  Braut  oder  junge  Frau  über  ihr  schweres  Los  klagt.  Zu- 
meist richtet  sich  die  Klage  gegen  die  Schwiegermutter,  unter 
deren  strengem  Regiment  sie  zu  leiden  hat.  Aber  damit  ist  ja 
noch  nicht  gerade  die  Grroßfamilie  gegeben,  ebenso  wenig  wie  bei 
unsern  Bauern,  wenn  die  Jungvermählte  unter  der  auf  dem  Alten- 
teil sitzenden  Schwiegermutter  zu  leiden  hat.  Bei  Nesselmann 
Litauische  Volkslieder  lesen  wir  aber  unter  No.  229:  uz  anytel^ 
ugnuz^  kursiu,  uz  moszyteles  wandens  parnesziu  'für  die  Schwieger- 
mutter werde  ich  Feuer  anmachen,  für  die  Schwägerinnen  (Rhesa 
moczutelQ  ^Mutter' !)  werde  ich  Wasser  holen'.  Das  ist  doch  wohl 
am  ersten  aus  der  Großfamilie  heraus  zu  verstehen;  nicht  die  un- 
verheirateten Schwestern  des  Mannes  werden  früher  damit  gemeint 
gewesen  sein,  die  nichts  zu  befehlen  haben,  sondern  die  Frauen  seiner 
älteren  Brüder;  die  Ehrenstellung  in  der  Familie  war  ja  bei  den 
Indogermanen  genau  abgestuft,  man  denke  an  die  Reihenfolge  der 
Verheiratung  und  an  die  Begrüßung  bei  den  Indern.  Noch  deut- 
licher ist  No.  248:  Tenay  rasi  d('werelius,  bernuzio  brolytelius, 
deweruzelius,  ne  broluzelius,  skaitys  kojü  zingsnelius.  Tenay  rasi 
moszyteles,  bernuzio  sesereles,  moszytuzeles,  ne  sesuzeles,  n'atmjs 
tawo  wardelj.  'Dort  wirst  du  deine  Schwäger  finden,  die  Brüder 
deines  Greliebten,  deine  Schwäger,  nicht  Brüder,  sie  werden  die 
Schritte  deiner  Füße  zählen.  Dort  wirst  du  deine  Schwägerinnen 
finden,  die  Schwestern  deines  Geliebten,  deine  Schwägerinnen,  nicht 
Schwestern,  sie  werden  sich  deines  Namens  nicht  erinnern'.  So 
scheint  also»  die  Daina  noch  Reminiszenzen  aus  einer  Zeit  zu  be- 
wahren, als  auch  bei  den  Litauern  die  Großfamilie  zu  Hause  war. 
Daß  diese  Schlußfolgerung  richtig  ist,  ergibt  sich  daraus,  daß  die 
russischen  Volkslieder  die  Leiden  der  jungen  Frau  ähnlich  besingen ; 
hier  ist  aber  die  Beziehung  auf  die  Großfamilie  durch  die  Ver- 
hältnisse selber  gegeben.  Die  oben  erwähnte  Rhesasche  Variante 
beweist  aber,  daß  die  Litauer  den  Inhalt  solcher  Lieder  nicht  mehr 
verstehen. 

Für  die  Kelten  ist  nicht  nur  auf  die  Iren  hinzuweisen  (Schrader 
Reall.  ^  219,  Hirt  Indogerm.  422) ,  sondern  auch  auf  die  Kymren 
(Walter  Das  alte  Wales  143,  438,  440). 

Auch  Deutsche  wohnen  heutzutage  noch  in  Großfamilien  zu- 
sammen. Ich  denke  dabei  nicht  an  die  Gemeinderschaften  der  Schweiz, 
auf  die  z.  B.  in  G.  Kellers  Novelle  'Das  verlorene  Lachen'  ange- 
spielt zu  werden  scheint,  sondern  an  die  Verhältnisse  bei  den  Wolga- 
deutschen. Diese  sind  aber  nicht  etwa  ein  altgermanisches  Erbteil, 
sondern  nur  durch  ^e  Landverteilung  bei  der  Ansiedelung  durch 
erzwungene  Nachahmung  russischer  Sitte  entstanden,  für  die  wir 


206  Eduard  Hermann, 

•  keine  anschaulichere  Darstellung  haben  als  die  in  Maxim  Grorkijs 
kurz  vor  Kriegsausbruch  entstandenem  Roman  Dßtstvo. 

Wenn  Tacitus  die  Großfamilie  bei  den  Grermanen  nicht  erwähnt, 
so  ist  das  noch  kein  Beweis  dafür , .  daß  dieser  römische  Schrift- 
steller sie  bei  unsern  Vorfahren  nicht  gekannt  hat.  Vermutlich 
waren  ihm  solche  Verhältnisse  von  Rom  her  bei  seinen  Landsleuten 
nicht  ungeläufig.  Wenn  nun  etwa  auch  bei  den  Germanen  damals 
ähnlich  wie  in  Rom  die  Großfamilie  hinter  der  Einzelfamilie  zu- 
rücktrat, so  fiel  das  dem  Römer  so  wenig  auf,  daß  er  in  seiner 
Germania  dieser  für  uns  wichtigen  Sonderheit  nicht  Erwähnung 
tat.  Ebenso  mag  es  bei  andern  Schriftstellern  des  Altertums  ge- 
wesen sein,  so  etwa  bei  Caesar  da,  wo  er  von  den  Germanen  und 
den  Galliern  spricht.  Überhaupt  wird  in  Rom  und  in  Griechen- 
land die  Großfamilie  nicht  so  gär  selten  gewesen  sein,  wie  es  ihre 
vereinzelte  Erwähnung  erscheinen  läßt. 

Unter  den  Zeugnissen  für  Griechenland  wird  die  Nachricht, 
daß  in  Athen  der  väterliche  Großvater  seiner  Enkelin  eine  Mitgift 
geben  mußte,  mit  ß.  W.  Leist  Graecoitalische  Rechtsgeschichte  75 
dahin  aufzufassen  sein,  daß  zu  jener  Zeit  der  verheiratete  Sohn  nicht 
mehr  in  der  Gewalt  des  Vaters  stand;  aber  diese  Sitte  ist,  wie 
ich  glaube,  ein  Überrest  aus  einer  andern  Periode,  wo  der  verhei- 
ratete Sohn  der  Gewalt  des  Vaters  noch  nicht  entrückt  war,  wo 
er  noch  allgemein  in  der  Großfamilie  verblieb. 

Wenn  sich  nun  so  die  Großfamilie  in  weiterer  Ausdehnung 
nachweisen  läßt,  als  das  bisher  der  Fall  war,  so  möchte  ich  im 
Gegensatz  zu  Feist  a.  a.  0.  glauben,  daß  sie  bei  defi  Urindoger- 
manen  die  gewöhnliche  Form  der  Familie  war  und  daß  die  Griechen, 
Römer  und  Germanen  am  frühesten  von  dem  alten  Zustand  abge- 
wichen sind.  Bei  den  Griechen  und  Germanen,  bei  denen  das 
Streben  nach  individueller  Freiheit  auch  sonst  besonders  hervor- 
tritt, werden  wir  das  Überhandnehmen  der  Sonderfamilie  aus  diesem 
Gesichtspunkt  heraus  leicht  begreifen.  Zu  meinem  obigen  Schluß 
veranlaßt  mich  auch  eine  Bemerkung  Wesnitschs  über  die  ser- 
bische Familie  in  Montenegro  Zeitschr.  f.  vergleich.  Rechts wissensch. 
9,47:  „Der  einzelne  für  sich  lebende  Mensch  mit  seiner  Frau  und 
seinen  Kindern  und  ohne  den  Bund  mit  einem  Stamm  oder  mit 
einer  Familiengenossenschaft  ist  in  Montenegro  und  in  den  umlie- 
genden Distrikten  gar  nicht  zu  finden,  er  würde  den  dortigen  Ver- 
hältnissen widersprechen.  Ja,  wenn  sich  ein  solcher  fände,  so 
müßte  er  sich  an  einen  von  den  vorhandenen  Stämmen  anschließen, 
und  zwar  nicht  aus  dem  Grunde,  weil  dies  ein  Gesetzesgebot  wäre, 
sondern  weil  es  seine  Lebensinteressen  erheischen.    Die  Mitglieder 


Sachliclies  und  Sprachliches  zur  indogermanischen  Großfamilie.  207 

der  Familiengenossenscliaft  sind  einander  zu  jeglicher  Hülfeleistung 
verpflichtet".  Sollte  es  bei  den  Urindogermanen  nicht  ähnlich  ge- 
wesen sein? 

2.    Sianoipcc. 

Daß  deöTtoiva  als  Femininum  zu  dem  Maskulinum  dEönötr^c; 
gehört,  läßt  sich  nicht  gut  bezweifeln.  Aber  die  Laute  wollen 
nicht  stimmen.  Aus  *d£67torvia  kann  deöTtoiva  nicht  entstanden 
sein,  jene  ältere  Form  hätte  nur  *ds07c6rvLa  liefern  können,  wie 
ja  das  Femininum  zu  Ttöötg  in  der  Tat  Tcötvicc  lautet,  und  das  ist 
durchaus  die  Form,  die  man  zu  erwarten  hat.  Das  Altindische, 
Avestische  und  Altlitauische  lehren  gemeinsam,  daß  die  Frau  des 
Haushaltungsvorstandes  der  indogermanischen  Familie,  bez.  Groß- 
familie *potm  hieß,  über  dessen  Bildung  man  Brugmann  Grrundr.^ 
II  1,  215  vergleiche.  Da'  wir  im  Grriechischen  statt  -?  stets  -^a 
vorfinden,  müssen  wir  im  Grichischen  jedenfalls  von  *7totvia  aus- 
gehen, und  statt  dieses  l  erscheint  hinter  zwei  Konsonanten  regel- 
mäßig i  als  Vokal.  Demnach  ist  Äorvtt^  die  lautgesetzliche  Form.  Will 
man  für  deöTCOiva  einen  etymologischen  Zusammenhang  mit  dsöjtörrjg 
und  Tcoöig  nicht  überhaupt  aufgeben,  dann  muß  man  versuchen, 
seine  Lautgestalt  mit  Hülfe  der  Analogie  zu  erklären.  Daß  die 
Analogie  hier  eingriif,  ist  ganz  besonders  leicht  verständlich;  denn 
eine  Femininbildung  auf  -via  gab  es  sonst  nur  von  n-Stämmen. 
Im  Baltischen  ist  ja  dieses  absonderliche  Femininum  ebenfalls  ver- 
ändert worden.  Aus  dem  altlitauischen  wieschpatni  (Mit.  lit.  lit. 
Ges.  5,  164)  ist  jetzt  vesspaü  geworden,  und  so  heißt  entsprechend 
der  Akkusativ  schon  im  Preußischen  waispattin. 

Einen  Halt  hätte  "^dsöTtötvia  allenfalls  noch  gehabt,  wenn  das 
Maskulinum  ^dsöTCodig  gelautet  hätte  und  Ttörvia  in  der  Bedeutung 
das  Femininum  zu  nöötg  gewesen  wäre.  Beides  ist  nicht  der  Fall. 
Die  Entwicklung  der  Bedeutung  hatte  Ttööig  und  TtötvLa  ausein- 
andergerissen, s.  Delbrück  Verwandtschaftsnamen  41  fg.  Noch 
können  wir  aber  erkennen,  daß  TCÖtvLcc  einmal  'Ehefrau'  bedeutet 
haben  muß.  Unter  den  Göttinnen  hat  bei  Homer  vor  den  andern 
besonders  diejenige  das  Beiwort  Tiötina^  welche  als  Gattin  und  ge- 
wissermaßen als  *potni  der  Götterfamilie,  wenn  ich  so  sagen  darf, 
gedacht  wird :  die  ßocbitig  nÖTCvia'HQri.  Die  adjektivische  Verwendung 
gerade  bei  ^rixriQ  spricht  ebenfalls  für  diese  ältere  Bedeutung.  Wie 
man  im  Indogermanischen  dazu  kam,  zu  dem  Maskulinum  "^potis 
das  Femininum  "^potni  zu  bilden,  entzieht  sich  ganz  unsrer  Beur- 
teilung. Im  Griechischen  konnte  sich  neben  8s6n6trig  die  Bildung 
"^ÖEöTCÖrvLa  jedenfalls  nicht  halten,   zu  einem  Wort  auf  -trig  gab  es 


2Ö8  feduard  Hermanii, 

sonst  nie  ein  Femininum  auf  -rvta.  War  es  da  so  merkwürdig, 
daß  man  das  Wort  volksetymologiscli  an  Tcovog  anlehnte  und  *^£- 
öjcov/ia  daraus  machte,  woraus  dann  ÖEöitoiva  werden  mußte?  Daß 
der  Frau  des  Hausherrn  die  Leitung  der  Arbeiten  zukam,  sehen 
wir  ja  an  Penelope  bei  Homer  nur  allzu  deutlich. 

3.     Witwe. 

Delbrück  hat  Verwand tschaftsn.  391  fg.,  442  fg.,  553  fg.  auf 
die  merkwürdige  Tatsache  hingewiesen,  daß  die  Vergleichung  der 
indogermanischen  Sprachen  wohl  ein  Wort  für  Witwe,  nicht  aber 
eins  für  Witwer  rekonstruieren  läßt,  und  sie  daraus  erklärt,  daß 
es  der  Frau  verboten  war,  sich  nach  dem  Tode  des  Mannes  wieder 
zu  verheiraten,  während  die  Wieder  Verheiratung  des  Mannes  als 
etwas  ganz  Natürliches  betrachtet  wurde.  Dem  läßt  sich  noch 
hinzufügen,  daß  nach  Manu  V,  168  und  Yäjnavalkya  1, 89  der  Witwer 
sogar  die  Pflicht  hat,  alsbald  nach  der  Verbrennung  des  Leichnams 
seiner  Grattin  eine  andre  Frau  zu  nehmen.  Den  von  den  Sprach- 
forschern gesammelten  Stellen,  die  eine  zweite  Heirat  der  Frau 
ausschließen,  dürfte  noch  anzureihen  sein,  daß  bei  den  Osseten 
eine  Witwe,  die  Kinder  hat,  nicht  wieder  heiraten  darf  (Haxt- 
hausen  Transkaukasia  II,  21) ;  dasselbe  galt  bei  den  Parsen  noch 
im  17.  Jahrhundert  (Menant  Les  Parsis  I,  173).  Offenbar  jünger 
ist  die  von  Andreas  für  die  Osseten  erforschte  jetzige  Sitte,  s.  An- 
hang. Diese  iranische  Einschränkung  ist  überhaupt  natürlich  das 
Altere.  Nicht  jeder  Witwe  war  die  Wieder  Verheiratung  verboten, 
nicht  der  sohnlosen,  weil  die  Witwe  dem  sohnlos  verschiedenen 
Mann  durch  eine  zweite  Heirat  künstlich  noch  zu  einem  Sohn  zu 
verhelfen  hatte.  Es  gab  also  bei  den  Urindogermanen ,  wie  Del- 
brück richtig  erkannt  hat,  nur  Witwen,  aber  keine  Witwer,  darum 
konnte  es  auch  keinen  sprachlichen  Ausdruck  für  'Witwer'  geben. 

Nun  hat  Lommel  Studien  über  indogermanische  Femininbil- 
dungen 21  fg.  zu  erweisen  versucht,  daß  ^aidheuä  'Witwe'  zwar 
kein  Maskulinum  *uidheuos  neben  sich  gehabt  habe,  daß  aber  ein 
Adjektivum  ^tiidheuos  'gattenlos'  vorhanden  gewesen  sei.  Das  will 
mir  nicht  einleuchten.  Ich  verstehe  wohl,  daß  z.  B.  d^do)  nur  im- 
perfektiv, sldov  nur  perfektiv  ist  und  daß  in  manchen  Forma- 
tionen gewisse  Anwendungen  und  Bildungen  nicht  gebraucht  werden ; 
warum  aber  zu  dem  Adjektivum  ^uidheuos  eine  Substantivierung 
nur  im  Femininum  möglich  gewesen  sein  soll,  ist  mir  unfaßbar. 
Nach  Lommel  bedeutete  das  Adjektiv  'gattenlos',  das  ist  aber, 
wie  er  selber  ausführt,  nicht  nur  'verwitwet',  sondern  auch  'noch 
nicht  verheiratet',  'vom  Gatten  verlassen',  'ohne  Beischläfer'.  Diese 


Sachliches  und  Sprachliches  zur  indogermanischen  Großfamilie.         209 

Eigenschaften  lassen  sich  doch  ebenso  gut  auf  den  Mann  wie 
auf  die  Frau  beziehen.  War  aber  *uidheuos  als  Maskulinform 
üblich,  so  wird  es  ebenso  wie  das  Femininum  nicht  nur  als  Ad- 
jektiv, sondern  auch  als  Substantiv  gebraucht  worden  sein.  Man 
muß  sich  das  nur  an  einem  andern  Beispiel  klar  madien,  das 
Lommel  in  demselben  Zusammenhang  S.  21  nennt:  sponsa  ist  schon 
bei  Terenz,  sponsus  erst  bei  Cicero  bezeugt,  das  Maskulinum  ist 
also  jünger.  Hier  liegt  die  Sache  aber  doch  erheblich  anders.  Das 
Part.  Pf.  von  spondere  war,  auf  Menschen  angewandt,  nur  bei  der 
Braut  möglich:  der  Bräutigam  wird  nicht  'versprochen',  auch  wenn 
er  noch  im  Hause  seines  Vaters  lebt;  nur  die  Braut  wird  ver- 
sprochen. So  ist  sponsa  zunächst  Partizip-Adjektiv,  wird  aber  dann 
Substantivum,  und  erst  als  solches,  in  der  Bedeutung 'Braut',  kann  es 
ein  Maskulinum  dazu  erhalten.  Warum  aber  *uidheuos  nicht  ebenso 
wie  "^uidheua  hätte  Substantiv  sein  können,  ist  mir  unerfindlich. 
Lommels  Schlußfolgerung  ist  also  vermutlich  unrichtig.  Nicht  die 
Bedeutung,  sondern  der  syntaktische  Gebrauch  von  rjL^sog  hatte 
ihn  leiten  sollen.  rjCd'Eog  ist  nur  Substantiv,  und  das  ist  nie  anders 
gewesen.  Im  Urindogermanischen  gab  es  nur  das  Femininum 
*uidheuä,  und  zwar  nur  als  Substantivum  in  der  Bedeutung  'Witwe'. 
Im  Grriechischen  ist  dazu  ein  Maskulinum  gebildet  worden,  das 
wir  in  der  Bedeutung  'Junggeselle'  kennen;  die  Zwiscfhenglieder 
lassen  sich  verschieden  denken.  Es  mag  z.  B.  ßein,  daß  das  Femi- 
ninum die  Bedeutung  'Jungfrau'  bekam  und  daß  dazu  ein  Masku- 
linum geschaffen  wurde.  Das  russische  vdovyj  ist  ebenfalls  erst 
eine  junge  Bildung.  Es  entstand  auf  dem  Wege,  daß  vdova  auch 
als  Adjektivum  gebraucht  und  diesem  dann  ein  Maskulinum  bei- 
gesellt wurde.  Sollte  dieses  Maskulinum  seinerseits  substantiviert 
werden,  so  geschah  es  in  derselben  Weise  wie  bei  andern  Adjek- 
tiven, nämlich  durch  eine  Bildung  auf  ech.  Die  siavischen  Sprachen 
stimmen  aber  nicht  einmal  alle  darin  überein;  es  gibt  nicht  bloß 
Bildungen,  die  wie  das  russische  vdovecT>  auf  vbt?ot;bCB  zurückgehen: 
im  Serbischen  haben  wir  ein  Maskulinum  zu  nhdova  (serb.  udova) 
in  der  Form  udov.  Das  lateinische  viduus  erweist  &ich  schon  aus 
dem  Gebrauch  sowohl  als  Substantiv  wie  als  Adjektiv  nach  den  Aus- 
führungen Delbrücks  444  fg.  als  jünger.  Ich  glaube  also,  wir  können 
ganz  getrost  sagen,  *uidheuä  war  nur  Femininum  und  nxtr  Sub- 
stantiv. 

Man  könnte  sich  damit  und  mit  der  Delbrück«chen  Erklärung 
begnügen  und  allenfalls  noch  hinzufügen,  daß  bei  den  vielen  kriege- 
rischen Ereignissen  alter  Zeiten  sehr  viel  häufiger  der  Gatte  vor 
der  Gattin   den  Tod   gefunden  haben  wird   als  umgekehrt.    Aber 

Kgl.  Ges.  d.  Wiss.    Nachrichten.VPhü.-hist.  Klasse,    1918.    Heft  2.  14 


210  Eduard  äermanü, 

die  Etymologie  zwingt,  glaube  ich,  noch  etwas  weiter  Umschau 
zu  halten.  Grefunden  hat  sie  Roth  KZ  19,  223,  indem  er  *uidheiiä 
zu  ai.  vidh  'leer  sein  von,  einer  Sache  ermangeln'  gestellt  hat.  Mir 
scheint  aber  noch  nicht  recht  erkannt  zu  sein,  wessen  sie  erman- 
gelte. Man  stellt  sich  wohl  vor,  daß  die  Witwe  eben  'des  Gatten 
entbehrte'.  Aber  welchen  Sinn  hat  das  für  indogermanische  Zeiten? 
Soll  es  heißen,  daß  sie  auf  den  Geschlechtsgenuß  fortab  verzichten 
mußte?  Würde  man  das  nicht  vielleicht  damals  mit  derber  Deut- 
lichkeit genauer  ausgedrückt  haben?  Oder  soll  es  heißen  'die 
Schutzlose'  ?  Stimmt  das  ?  Verblieb  sie  nicht  in  dem  Schutz  der 
Großfamilie,  in  die  sie  hineingeheiratet  hatte?  Ich  glaube  allerdings, 
daß  mit  *uidheuä  die  'Schutzlose',  ganz  besonders  z.  B.  die  Witwe 
des  Haushaltungsvorstandes,  die  gewesene  und  abgesetzte  "^potniy 
bezeichnet  wurde.  Man  muß  sich  nur  richtig  klar  machen,  wie  es 
wohl  einer  solchen  Frau  gegangen  sein  wird. 

Die  "^potm  als  Gattin  des  Haushaltungsvorstehers  war  den  an- 
dern Frauen  der  Großfamilie  gegenüber  die  Herrin,  und  sie  ließ 
das  die  andern-  wohl  meist  gehörig  fühlen.  Man  braucht  bloß 
einmal  zu  lesen,  wie  es  noch  bei  den  Osseten  zugeht.  Nach  Scha- 
najev,  Sbornik  svedönij  o  kavkaskich  gorcach  IV,  10  gebietet  die 
Schwieger  ganz  unumschränkt  über  die  Schnur,  zumal  in  der  ersten 
Zeit  nach  der  Hochzeit.  Erst  allmählich  verbessert  sich  die  Stel- 
lung der  jungen  Frau.  Bei  den  Urindogermanen  ist  das  zweifellos 
um  kein  Haar  besser  gewesen.  Die  jüngeren  Frauen  hatten  unter 
dem  Regiment  der  Hausherrin  mehr  oder  weniger  zu  seufzen. 
Starb  dann  der  Hausherr,  so  wurde  sie  ihrer  Würde  als  Haus- 
herrin entkleidet.  Die  neue  Herrin  aber,  die  bisher  unter  schwerem 
Druck  zu  gehorchen  hatte,  ließ  das  die  bisherige  "^potnl  entgelten. 
Da  war  diese  allerdings  'vereinsamt'  und  'leer',  sie  'ermangelte' 
jetzt  der  mächtigen  Stellung.  Ihre  Lage  war  wirklich  nicht 
beneidenswert.  War  es  da  ein  Wunder,  wenn  sie  ihrem  Mann 
sogar  in  den  Tod  folgte  ?  Sollte  sich  nicht  von  hier  aus  die  Sitte 
erklären,  daß  bei  gewissen  Stämmen  die  Witwe  den  Tod  des 
Gatten  nicht  überleben  durfte? 

Aber  auch  die  Witwe  eines  Mannes,  der  es  in  der  Großfamilie 
noch  nicht  bis  zum  Hausherrn  gebracht  hatte,  war  nicht  viel  besser 
daran.  Auch  sie  war  die  'Fremde'  innerhalb  der  Blutsverwandten, 
die  nun  an  dem  Gatten  keine  Stütze  mehr  hatte;  bezeichnet  man 
doch  auch  jetzt  noch  die  Verwandtschaft  der  Frau  im  Russischen 
als  'die  fremde  Seite'  cuMja  storona.  Wie  schlecht  in  Indien  die 
Witwe  behandelt  wird,  legt  JoUy  Grundriß  indo-ar.  Phil.,  Recht 
und  Sitte,  69  fg.  dar. 


Sachliclies  und  Sprachliches  zur  indogermanischen  Großfamilie.  2li 

Von  Karl  Fritzler  habe  ich  mir  sagen  lassen,  daß  bei  den 
Großrussen  wie  bei  den  benachbarten  tatarischen  Stämmen  auch 
in  der  Einzelfamilie  die  Witwe  eines  muzik  immer  das  fünfte  Rad 
am  Wagen  ist,  sie  hat  nirgends  mehr  etwas  zu  sagen.  Er  konnte 
mir  folgenden  Fall  erzählen,  den  er  gerade  von  einem  gefangenen 
russischen  Studenten,  dem  Sohn  eines  Bauern  aus  Saratov,  gehört 
hatte.  Die  Schwester  des  Grefangenen  war  verwitwet.  Da  ver- 
schiedene Verwandte  im  Dorfe  sie  nicht  leiden  konnten,  wurde 
sie  nicht  selbst  Vormund  ihrer  Kinder,  sondern  der  Bruder  ihres 
Mannes.  Als  sich  dieser  nicht  um  die  Kinder  bekümmerte,  er- 
reichte sie  zwar,  daß  ein.  andrer  Mann  aus  dem  Dorf  zum  Vor- 
mund bestimmt  wurde ;  aber  es  ward  nicht  besser.  Schließlich 
wurde  die  älteste  Tochter  zum  Vormund  über  die  kleineren  Ge- 
schwister eingesetzt.  Ganz  typisch  ist  es  nach  Fritzler,  daß  eine 
alleinstehende  Witwe  im  ganzen  Dorf  verfolgt  wird.  Jeder  glaubt 
sie  beleidigen  zu  dürfen.  Kommt  ein  Betrunkener  in  den  Ort, 
dann  muß  sie  ihn  aufnehmen  und  bewirten.  Überall  wird  ihr  ein 
Schabernack  gespielt,  bis  allmählich  ihre  Kinder  größer  werden  und 
der  älteste  Sohn,  obwohl  noch  nicht  gesetzlich,  aber  in  der  Tat 
als  muzik  auftritt  und  sie  schützt.  Die  Witwe  ist  also  so  unter 
den  russischen  Bauern  die  Schutzlose.  Und  dieser  Sinn  wird  eben 
auch  hinter  dem  indogermanischen  *uidheuä  'die  Ermangelnde'  stecken. 

4.    Die  Eltern. 

Die  Ansichten  darüber,  ob  es  im  Urindogermanischen  eine  Be- 
nennung für  das  Elternpaar  gegeben  hat,  gehen  auseinander.  Del- 
brück (Verwandtsch.  452)  ist  geneigt  die  Frage  zu  bejahen,  Schrader 
(Reallex.^  182,  Sprach vergl.  306)  und  Feist  (Kultur  105)  verneinen 
sie.  Am  weitesten  in  der  Verneinung  geht  Schrader  B/Callex.  182, 
wo  er  das  Fehlen  des  Begriffs  Eltern  aus  der  verschiedenartigen 
Stellung  des  Vaters  und  der  Mutter  den  Kindern  gegenüber  zu 
erklären  versucht.  Diese  kulturgeschichtlich  weitgehende  Folge- 
rung hat  Feist  abgelehnt;  wie  ich  meine,  mit  Recht.  Die  Einzel- 
völker haben  ja  alle  eine  zusammenfassende  Benennung  für  die 
Eltern,  wenn  es  auch  nicht  immer  ein  besonderes  Wort  ist;  bei 
manchen  der  historischen  indogermanischen  Völker  wird  die  Stel- 
lung des  Vaters  aber  kaum  weniger  überragend  gewesen  sein  als 
in  urindogermanischen  Zeiten.  Bei  den  Römern  z.  B.  hatte  der 
pater  familias  ja  sogar  das  Recht  über  Leben  und  Tod  der  Frau, 
und  doch  gab  es  das  Wort  parentes.  Daß  man  Vater  und  Mutter 
in  der  Familie  in  gewissser  Beziehung  gleichhoch'  bewertete,  ergibt 
sich  daraus,    daß  die  *2^otm  nach  dem  *potis  benannt  war;    oder 

14* 


212  Eduard  Hermann, 

wenn  man  dieses  Beweisstück  allein  noch  nicht  anerkennen  will, 
wird  man  gegen  das  Wortpaar  *stieJcuros  und  *suelcrüs  nichts  ein- 
wenden können.  Damit  ist  jedenfalls  die  Ansicht  widerlegt,  daß 
die  Indogermanen  den  Begriff  Eltern  überhaupt  nicht  gehabt  haben 
könnten. 

Eine  andre  Frage  ist,  ob  sie  für  diesen  Begriff  auch  einen 
sprachlichen  Ausdruck  hatten.  Die  Yergleichung  der  Sprachen 
vermag  nicht,  ihn  unmittelbar  zu  liefern.  Den  vedischen  Dual 
pitarä  darf  man  nicht  etwa  mit  den  Pluralformen  TtcctsQsg,  lat. 
patres  auf  eine  Stufe  stellen,  um  daraus  den  Dual  des  Wortes 
'Vater'  als  indogermanische  Bezeichnung  für  die  Eltern  zu  rekon- 
struieren. Das  griechische  wie  das  lateinische  Wort  sind  nur  ganz 
vereinzelte,  spät  belegte  Ausdrücke,  s.  K.  Meister  Latein.-griech. 
Eigennamen  1, 123  und  126.  Grleichwohl  sehe  ich  in  diesem  Dual 
ein  altes  Wort  für  'Eltern'.  Zu  dieser  Annahme  glaube  ich  mich 
durch  eine  Überlegung  berechtigt,  die  auch  Delbrück  schon  an- 
deutet. Ein  zusammengehöriges  Paar  wurde  bei  verschiedener  Be- 
nennung der  Einzelteile  entweder  durch  das  Dvandvakompositum 
des  Duals  beider  Wörter  oder  durch  den  elliptischen  Dual  aus- 
gedrückt (Delbrück  Altind.  Synt.  98,  Vgl.  Synt.  1,  137  fg.,  Fest- 
graß  an  Roth  15%.,  Brugmann,  Grrundr.^  II,  2,  458).  Da  nun 
nach  Ausweis  von  *sueJmros:  '^siiehrüs  und  *potis :  potm  Vater  und 
Mutter  im  Sprachbewußtsein  als  etwas  Zusammengehöriges  auf- 
faßbar waren,  wird  man  gar  nicht  darum  herum  kommen,  den 
Dual  von  'Vater'  als  Ausdruck  für  Eltern  anzusetzen.  Dieser 
Dual  ist  mit  Ausnahme  des  Altindischen  allerdings  verloren  ge- 
gangen, wie  das  dem  elliptischen  Dual  überhaupt  meist  so  gegangen 
ist.  In  den  andern  Sprachen  traten  zumeist  Wörter  dafür  ein, 
die  zu  Verben  mit  der  Doppelbedeutung  'erzeugen'  und  'gebären' 
gehören,  wie  lat.  parentes  (Meister  124),  roxijfg  (über  homerisch 
rojc^«  s.  Wackernagel  Sprachliche  Unters.  Homer  54  fg.),  yovstg,  abulg. 
rodMelja.  Auch  das  litauische  gimdytojai  wird  dahin  gehören  wegen 
»einer  naännlichen  Form,  obwohl  gimdyti  nur  'gebären'  zu  bedeuten 
^heint. 

Anders  liegt  es  aber  mit  dem  altindischen  Dual  mcUarau;  das 
ist  doch  das  genaue  Gegenstück  zu  pitarau.  Und  dieser  Form 
steht  das  gotische  berusjos  nahe.  Hier  liegt  eine  von  Haus  aus 
feminine  Bildung  vor,  vgl.  Brugmann  Grundr.^  11,  2,  458,  es  ist 
zweifellos  das  Femininum  zu  einem  verloren  gegangenen  Partizi- 
pium des  Verbums  bairan  'tragen'.  Mit  Recht  hat,  wie  ich  meine, 
Brugmann  IF  24, 168  Anm.  daran  erinnert,  daß  in  berusjos  der  Über- 
rest eines  elliptischen  Duals  wie  bei  mcUarau  vorliegt.   Wenn  Janko 


Sachliches  und  Sprachliches  zur  indogermanischen  Großfamilie.         213 

IFA  27,  39  auch  formell  darin  einen  Dual  mit  einem  Plural-s  sieht 
so  kann  ich  ihm  allerdings  ebensowenig  folgen  wie  in  der  Annahme, 
daß  cech.  rodice  'die  Eltern'  als  'die  beiden  Gebärenden'  aufzufassen 
sei,  während  es  abulg.  roditelja  zu  vergleichen  ist.  nmtarau  und 
herusjos  heißen  eigentlich  'die  beiden  Mütter',  das  ist  als  Bezeich- 
nung für  'die  Eltern'  in  indogermanischen  Sprachen  etwas  so  Un- 
gewöhnliches, daß  man  auf  gemeinsamen  Ursprung  schließen  darf. 
Danach  gab  es  für  'Eltern'  im  Urindogermanischen  neben  dem  el- 
liptischen Dual  "^pdtere  auch  den  elliptischen  Dual  *matere,  der  im 
Gotischen  durch  herusjos  ersetzt  ist.  Das  von  Meister  121  erwähnte 
nutirices  auf  einer  vulgärlateinischen  Inschrift  (Diehl  204)  wage 
ich  dagegen  nicht  hiermit  in  Verbindung  zu  bringen;  es  scheint 
mir  lediglich  eine  Augenblicksbildung  zu  sein^). 

Das  Eigentümliche  und  uns  Befremdende  an  der  Ausdrucks- 
weise ist  die  Bevorzugung  des  Namens  der  Mutter.  Das  hängt 
aber  mit  einem  andern  Problem  zusammen,  der  Voraussetzung  des 
unwichtigeren  von  zwei  Begriffen,  z.  B.  in  dem  altertümlichen 
(Wackernagel  SBA  1918,  408  fg.)  sanskritischen  mätarapilarau  für 
'Eltern',  s.  Delbrück  Synt.  Forsch.  5,  98.  Andreas  erinnert  mich 
an  av.  posuvfrö  (pasuvira)  usw.,  dem  Bartholomae  Altir.  Wb.  1453 
Ovids  pecudes  virosque  und  Wackernagel  KZ  43,  296  Vergils  armenta 
virosque  zur  Seite  gestellt  haben,  und  fügt  als  Erklärung  hinzu,  daß 
man  überhaupt  nicht  erwarten  dürfe,  das  begrifflich  Wichtigere 
gerade  an  der  ersten  Stelle  zu  finden,  die  Stärke  des  Nachdrucks 
könne  sich  von  alters  her  doch  auch  in  aufsteigender  Linie  bewegt 
haben.  Die  Sache  verdient  eine  weitere  Grundlage,  als  ich  sie  heute 
geben  kann;  ich  erinnere  nur  an  sunufatarungo  im  Hildebrandslied, 
an  matrem  et  patrem  Plaut.  ^Capt.  549  und  die  andern  Beispiele  bei 
Meister  120  fg.,  an  kleinruss.  sriblo-zloto  'Gold  und  Silber'  in  Sevßenkos 
Gedicht  Hamalija  (Berneker,  Slav.  Chrestom.  143)  usw.  Auch  unser 
Geschwister,  das  Delbrück  Rothfestschrift  17  behandelt  hat,  gehört 
hierher.  Spielt  auch  der  Rhythmus  eine  Rolle  dabei?  Daß  aber 
auch  ganz  andre  Gründe  maßgebend  sein  können,  lehren  die  Ver- 
bindungen von  Nacht  und  Tag  sowie  von  Winter  und  Sommer. 


1)  Sethe  macht  mich  darauf  aufmerksam,  daß  im  Ägyptischen  in  gewisser 
Hinsicht  ähnliche  elliptische  Duale  des  Femininums  gebraucht  werden  und  daß 
sich  auch  die  Wortstellung  Mutter  und  Vater  belegen  läßt  (Sonnenhymnus  Ame- 
nophis'  IV,  N.  Davies,  Amarna  4, 32),  die  nach  Andreas  im  Türkischen  das  Übliche  ist. 


2X4  •  Eduard  Herroami, 

5.    Die  Grosscltcrn. 

Während  eine  Bezeichnung  der  Schwiegereltern  und  der  Schwager- 
schaft für  die  Verwandten  der  Frau  von  alters  her  gar  nicht  vor- 
handen ist,  fällt  für  die  Kinder  die  Scheidewand  zwischen  den  Ver- 
wandten des  Mannes  und  der  Frau  in  der  Benennung  der  Grroßeltern, 
des  Mattersbruders  und  der  Enkel,  Neffen,  Nichten.  Daß  hier  die  Ver- 
wandtschaft der  Frau  als  'Verwandtschaft'  gilt,  ist  nur  zu  natürlich. 
Wenn  auch  der  Mann  in  dem  Vater  und  der  Mutter  seiner  Frau 
noch  nicht  seinen  Schwäher  und  seine  Schwieger  sah,  so  war  für 
seine  Kinder  die  Sache  doch  anders :  die  Eltern  der  Mutter  waren, 
wenn  sie  mit  ihr  zu  diesen  kamen  —  und  das  geschah  doch  na- 
türlich —  ebenso  blutsverwandte  Grroßeltern  wie  daheim  die  Eltern 
des  Vaters.  Für  die  Großeltern  des  Mannes  gab  es  vielleicht 
von  Haus  aus,  abgesehen  von  Lallwörtern,  mehrere  Benennungen, 
oft  mögen  die  Ausdrücke  "Spotts  und  "^potni  genügt  haben,  vgl.  Del- 
brück 483.  Daneben  mag  indes  noch  eine  andre  Bezeichnung  her- 
gegangen sein,  die  sich  gelegentlich  vielleicht  auch  auf  die  Ur- 
großeltern erstreckt  haben  kann:  'der  Alte'  und  'die  Alte'.  Das 
Wort  dafür  war  dasselbe,  das  in  unserm  Ahn  steckt,  ahd.  ano^ 
f.  fl?m,  ein  Wort,  zu  dem  preuß.  ane  'Großmutter',  lit.  aiiyta 
'Schwiegermutter  der  Frau',  arm.  ayier  'Vater  der  Frau'  gr.  avvCg- 
^i]tQbg  7]  utatQog  ^tjrrjQ  Hesych.  und  lat.  anus  'alte  Frau'  gehören. 
In  manchen  Sprachen  sind  andre  Wörter  für  alt  an  die  Stelle  ge- 
treten wie  lit.  senis  'Großvater'  usw.  Das  litauische  atnjta  und  das 
arm.  aner  bezeichnen  nicht  mehr  die  väterlichen  Großeltern,  sondern 
sind  auf  andre  Verwandte  in  leicht  verständlicher  Weise  übertragen ; 
beide  lehren  aber,  daß  der  Ausdruck  von  Haus  aus  den  Verwandten 
des  Mannes  zukommt,  lit.  anyta  zeigt  es  direkt,  arm.  atier,  wie 
M.  E.  Schmidt  KZ  47, 189  dargelegt  hat,  indirekt :  aner,  idg.  "^aneros 
ist  'etwas  wie  der  Alte',  'etwas  wie  der  (nämlich  väterliche)  Groß- 
vater', d.  h.  'der  mütterliche  Großvater'. 

Für  die  Großeltern  mütterlicherseits  gab  es  im  Urindogerma- 
nischen eine  andre  Bezeichnung,  und  zwar,  wie  ich  glaube,  die 
beiden  Wörter,  die  wir  im  Lateinischen  als  avus  und  avia  amiTe&en. 
Die  zwei  lateinischen  Ausdrücke  werden  allerdings  für  die  beider- 
seitigen Großeltern  angewandt,  aber  das  muß  etwas  Sekundäres 
sein,  die  etymologisch  dazugehörigen  Wörter  zeigen  deutlich,  daß 
mit  dem  Stamm  *ati-  zunächst  nur  Verwandte  der  Frau  gemeint 
sein  können.  Das  sind  lat.  avunculus  'der  Mutter  Bruder'  und  in 
derselben  Bedeutung  ahd.  öheim  {^aun%aimas  'der  beim  Großvater 
Wohnende'),  lit.  avynasj  pr.  awlsj  slav.  w;b  C^UÜos),  ferner  lit.  äva 


.  Sachliches  und  Sprachliches  zur  indogermanischen  Großfamilie.         215 

'Mutterscli wester',  während  körn,  euiter  auf  beide  Oheime  geht  nnd 
die  genaue  Bedeutung  des  got.  awo  ^Großmutter'  unbekannt  ist. 
Ich  stimme  also  mit  Delbrück  482  fg.  überein,  lasse  es  aber  dahin- 
gestellt,  ob  %j;f06*  wirklich  von  Haus  aus  'Gönner'  bedeutet  hat. 

6.    JEnkeL 

Über  *nepöt,  *nepti  weiß  ich  kaum  etwas  Neues  zu  sagen. 
Unterdrücken  will  ich  aber  nicht,  daß  mir  Delbrücks  Ansicht 
(S.  504),  die  nvpötes  seien  ursprünglich  nur  die  Enkel  gegenüber 
dem  Vater  ihrer  Mutter  und  die  Neffen  gegenüber  dem  Bruder 
derselben  gewesen,  nicht  ganz  geheuer  vorkommt.  Es  ist  nicht 
nur  der  Umstand,  daß  für  die  Enkel  und  Neffen  männlicherseits 
keine  rechte  Bezeichnung  übrig  bleibt;  man  darf  doch  auch  nicht 
vergessen,  daß  in  keiner  Sprache  *fiepöt,  *nepH  die  Kinder  der 
Tochter  ausschließlich  oder  überwiegend  bedeuten,  sondern  daß 
nur  die  Bedeutung  'Schwestersohn'  da  und  dort  in  den  Vorder- 
grund tritt.  Ich  möchte  dies  daher  doch  eher  für  eine  Beschrän- 
kung halten,  die  sich  einstellte,  weil  für  die  verwandten  Kinder 
männlicherseits  neue  Bezeichnungen  aufkamen. 

Zu  diesen  zähle  ich  auch  unser  Wort  EnJcelj  ahd.  enmchiU. 
Über  sein  Verhältnis  zu  den  baltisch  - sl avischen  "Wörtern,  deren 
lautlicke  Schwierigkeiten  Brückner  Gesch.  idg.  Sprachwissensch.  II, 
3,  SS.  8,  47,  104  neuerdings  wieder  hervorhebt ,  ohne  sie  zu  besei- 
tigen, möchte  ich  mich  nicht  auslassen.  Daß  EnJcel  wirklich,  'der 
kleine  Ahn'  ist,  hat  W.  Schulze  KZ  40,  408 fg.  und  411  Anm.  2 
von  neuem  gegenüber  Schrader  IE  17,  35  fg.  wahrscheinlich  gemacht. 
Er  erinnert  dabei  daran,  daß  der  Name  des  Großvaters  häufig  auf 
den  Enkel  vererbt  werde,  und  vermutet  darin  ein  Stück  alter  re- 
ligiöser Vorstellung:  der  Großvater  solle  so  in  dem  Enkel  auch 
körperlich  mit  dem  Namen  fortleben.  Um  dies  noch  deutlicher 
zum  Ausdruck  zu  bringen ,  habe  man  das  Enkelkind  überhaupt 
gleich  den  kleinen  Großvater  genannt.  So  einleuchtend  mir  das 
erstere  ist,  so  wenig  kann  ich  dem  zweiten  Gedanken  folgen.  Der 
Ausdruck  EnM  wird  doch  wohl  vom  Großvater  geprägt  sein ;  soll 
aber  dieser  aus  dem  genannten  Grund  seinen  Enkel  einen  kleinen 
Großvater  genannt  haben?  Das  ist  nicht  recht  glaublich.  Ich 
komme  daher  ganz  auf  die  alte  Erklärung  zurück,  die  Schrader 
a.  a.  0.  S.  35  wohl  mit  Unrecht  verworfen  hat.  Genau  so,  wie 
Vetter  zuerst  'des  Vaters  Bruder'  bedeutet,  dieser  aber  den  Aus- 
druck in  der  Anrede  an  seines  Bruders  Sohn  zurückgibt,  ist  es 
auch  bei  Enkel  und  Großvater.  Im  Bayrischen  bedeutet  enl,  änl, 
im  Österreichischen  cunl  dnl   sowohl  'Großväterchen'   wie  'Enkel' 


21^  Eduard  Hermann^ 

Dasselbe  ist  fwr  das  schweizerisclie  Ähnl  vorauszusetzen  wegen 
ennp  im  Schwei^^er  Idiotikon  I,  248  unter  cweh  'Enkel'  „Das  ein  an 
ir  enny  nüt  soll  erben,  als  ein  muotter  kind  ocli  nüt  erbt"  nach 
Landr.  March ;  vgl.  überhaupt  die  Zusammenstellung  bei  Seboof 
Ztschr.  hochd.  Mund.  l,263fg. ,  auf  die  mich  Ed.  Schroeder  auf- 
merksam macht.  Daran,  daß  EnJcd  im  Sinn  von  Großvater  nir- 
gends belegt  ist,  braucht  man,  glaube  ich,  wirklich  nicht  Anstoß 
zu  nehmen;  denn  daß  der •  Großvater  bei  dem  Anredewechsel  das 
Wort  mit  einem  Deminutivsuffix  versieht,  ist  doch  schließlich  etwas 
ganz  Natürliches.  Zum  ano  ist  das  Enkelkind  noch  zu  klein,  drum 
nennt  es  der  Großvater  nur  eninclüH  'den  kleinen  ano\ 


7.    JEidani. 

Mit  der  Etymologie  von  Eidam  hat  mtan  sich  viel  herumgequält, 
ohne  zu  einem  befriedigenden  Resultat  zu  kommen.  Man  hat  es 
z.  B.  zu  got.  aipci  'Mutter'  gestellt.  Damit  ist  aber  kaum  ge- 
holfeö ;  denn  das  Wort  aipei  selber  ist  dunkel,  und  der  begriffliche 
Zusammenhang  zwischen  'Mutter'  und  'Schwiegersohn'  ist  mehr  als 
zweifelhaft,  aipei  mag  vielleicht  ein  Wort  aus  der  Kindersprache 
sein  und  mit  unserem  e?,  ei  zusammenhängen.  Andre  haben  Eidam 
mit  Eid  verknüpft  und  sich  auf  engl,  son-in-law  berufen  sowie  auf 
die  Zusammengehörigkeit  von  got.  lingan  'heiraten'  und  mir,  luige 
'Eid'  hingewiesen.  Aber  die  Etymologie  von  liwjan  ist  recht  un- 
sicher, und  die  Berufung  auf  son-in-law  ist  völlig  unstiatthaft. 
Neben  son-in-law  gibt  es  auch  father-in-law,  brotJier-in-latv  usw. ; 
man  sieht  also  gar  nicht,  warum  gerade  der  son-in-law  allein 
herhalten  soll.  Dazu  kommt  noch  als  ausschlaggebend,  daß  mit 
law  nach  freundlicher  Auskunft  Hatscheks  das  kanonische  Recht 
gemeint  ist.  Die  Wörter  son-in-law  usw.  sind  zunächst,  wie  Hat- 
schek  meint,  wohl  als  eine  Art  von  Spottausdruck  geprägt.  Eine 
Parallele  zu  Eid  und  Eidam  liegt  also  auf  keinen  Fall  in  son-in- 
loiW'     So  müssen  wir  .uns  nach  einer   andern  Etymologie    umsehen. 

Falls  das  Wort  Eidam  ein  verhältnismäßig  hohes  Alter  haben 
sollte  —  und  die  Eigentümlichkeit  seiner  Bildung  spricht  sehr 
dafür  —  liegt  es  nahe,  daß  es  für  den  Erbtochtermann  aufkam; 
denn  ein  andrer  Schwiegersohn  wohnte  ehemals  nicht  in  einer 
Hausgemeinschaft  mit  seinen  Schwiegereltern  zusammen  und  galt 
daher  nicht  als  verwandt,  es  wäre  ihm  also  kaum  eine  besondere 
Bezeichnung  zugekommen.  Für  den  Erbtochtermann  eröffnet  sich 
aber  sehr  leicht  eine  Etymologie.  Eidam,  ahd.  eidmn,  ags.  aöwm, 
afr.  äthom  führt  auf  urgerman.  "^aipuma^  zurück  und  gehört  ver- 


Sachliches  und  Sprachliches  zur  indogermanischen  Großfamilie.  217 

mutlich  zu  osk.  acfeis  'des  Teiles',  gr.  alöa  'Gebühr,  Anteil'  %  hom. 
tö6a  'Anteil',  lööaö&ai '  xhjQovöd-at  AiößioL  (Hesych),  av.  oUo-  (aeta-) 
'gebührender  Teil'.  Das  germanische  Wort  kann  auf  idg.  *altd2fuos 
zurückgehen.  Die  Bedeutung  läßt  sich  besonders  an  dem  lesbischen 
l'ööciö&ai  •  7cXfiQov0d-ai  Hesychs  begreifen.  So  wie  die  Erbtochter 
STtixlrjQog  heißt;  ist  der  Erbtochtermann:  'der  Teilende'  oder  'der 
das  Erbe  hat'  genannt;  die  Bildungen  auf  -mos  sind  leider  ent- 
wicklungsgeschichtlich nicht  ganz  klar,  s.  Brugmann,  Grundriß^ 
II,  1,  125.  Bei  den  Armeniern  tritt  der  Erbtochtermann  unter 
Aufgabe  seines  Namens  in  die  Familie  der  Frau  ein  und  erbt  als 
Glied  dieser  Familie,  s.  Klidschian,  Zs.  vgl.  Rechts w.  25,  301  fg.,  321 ; 
ebenso  ist  es  in  gewissem  Sinn  bei  den  Südslaven,  Krauß  Sitte  und 
Brauch  der  Südslaven,  470,  474  fg. ;  denn  wenn  er  meist  auch 
rechtlich  seinen  Namen  behält,  so  nennt  ihn  doch  das  Volk  nach 
dem  Schwiegervaterhaus.  In  Athen  wurde  bei  mehreren  Erbtöchtern 
der  Mann  der  einen  adoptiert  (Demosthenes  41,  3,  Isaeus  äy  42). 

Für  die  Bichtigkeit  meiner  Erklärung  scheint  ein  Umstand 
zu  sprechen,  der  mir  erst  nachträglich  bekannt  geworden  ist.  Von 
dem  aus  Dahlem  in  der  Eifel  gebürtigen  Lehrer  Meilingen  erfahre 
ich,  daß  in  seiner  Heimat  das  Wort  ään  'Eidam'  nicht  von  jedem 
Schwiegersohn  gebraucht  wird,  sondern  nur  von  dem  Einheirater, 
wie  dort  auch  Schnur  nur  auf  die  einheiratende  Schwiegertochter 
angewandt  wird.  Obwohl  ich  diese  Einschränkung  weder  in  andern 
Mundarten  noch  in  der  Literatur  habe  feststellen  können,  bin  ich 
doch  nicht  abgeneigt,  darin  etwas  Altertümliches  zu  erblicken;  es 
würde  in  schönstem  Einklang  zu  meiner  Etymologie  stehen. 

8.    gener. 

Der  Erbtochtermann,  der  seinen  Namen  ablegt  und  ganz  in 
die  Familie  der  Frau  übertritt,  steht  bei  den  Südslaven  nicht  sehr 
in  Achtung,  Krauß  467 fg.,  478.  Ja,  es  kommt  vor,  daß  es  dem 
Erbtochtermann  blüht,  nach  der  Geburt  eines  Sohnes,  der  erwachsen 
die  Verwaltung  des  Hauses  übernimmt,  fortgejagt  zu  werden;  er 
darf  dann  iroh  sein,  wenn  er  wieder  in  sein  Stammhaus  zurück- 
treten kann,  Krauß  480.  In  Athen  blieb  der  Erbtochtermann  im 
Besitz  des  erheirateten  Vermögens  nur  bis  zur  Volljährigkeit  seines 
Sohnes  (Demosthenes  46,  20).  Beides  ist  vermutlich  der  Überrest 
einer  hocharchaischen  Sitte,  die  wir  bei  den  alten  Indem  deutlich 
vorfinden.  Hier  gilt  der  erste  Sohn  des  Erbtochtermanns  nicht 
als  Sohn   und  Erbe   seines  Vaters,    sondern   als    der   seines  sohn- 


1)  al'aifjkos  ist  wohl  erst  -eine  im  Giiechischeu  aus  alaa  gebüdete  Ableitung. 


218  Eduard  Hermann, 

losen  Grroßvaters.  Ebenso  war  dies  bei  der  Yogänehe  d.  h.  der 
Erbtochter  ehe  der  Perser  der  Fall,  s.  Spiegel  Eran.  Altertumskunde 
III,  678.  Hierauf  scheinen  auch  die  Bestimmungen  des  sasani- 
dischen  Rechtsbuchs  (Bartholomae  S.  Heid.  Ak.  1910,  No.  11,  8  fg.) 
bezug  zu  nehmen,  vgl.  Kohler  Zs.  vgl.  Rechtsw.  25,  434.  Auch  in 
Rom  findet  sich  eine  Spur  dieser  sonderbaren  Sitte.  Bei  Festus 
(ed.  Lindsay  p.  174)  heißt  es  von  dem  einzigen  Überlebenden  der 
300  Fabier:  inductus  magnitudine  divitiarum  uxorem  duxit  Otacili 
Maleventani,  ut  tum  dicebantur,  filiam,  ea  condicione,  ut  qui  primus 
natus  esset,  praenomene  avi  materni,  Numerius  appellaretur.  Ähn- 
lich ist  die  Überlieferung  De  praenominibus  6  im  Anhang  zu  Va- 
lerins  Maximus.  Damit  haben  wir  sicherlich  eine  zweite  urindo- 
germanische Form  der  künstlichen  Schaffung  eines  Sohnes  für 
einen  sohnlosen  Mann  vor  uns.  Für  einen  solchen  Schwiegersohn 
hätte  die  Bezeichnung  'Eidam'  nicht  gepaßt.  Haben  wir  hier  die 
Erklärung  des  Wortes  gemr  zu  suchen?  Ich  möchte  das  aller- 
dings glauben. 

Schon  längst  hat  man  gener  mit  gigyiere  zusammengebracht  und 
als  den  'Erzeuger'  erklärt.  Warum  hieß  aber  der  Schwiegersohn 
gerade  für  seinen  Schwiegervater  der  Erzeuger?  Darauf  gab  es 
bisher  keine  Antwort.  Nunmehr  liegt  sie  auf  der  Hand.  Der 
Tochtermann,  der  seinen  ersten  Sohn  seinem  Schwiegervater  abtrat, 
war  in  der  Tat  für  diesen  der  'Erzeuger'.  Wie  gener  sind  die 
Nebenform  genta  (Corp.  gloss.  II,  32,  45) ,  abulg.  i2^t\>^  lit.  ientas, 
alb.  dendar  zu  beurteilen.  Die  indogermanische  Bildung  scheint 
dabei  verwischt.  Ich  glaube,  man  hat  von  *geniis  'das  Zeugen', 
das  unverändert  in  lat.  gens,  av.  furozontis  {frazaintis)  vorliegt, 
auszugehen.  Der  Schwiegersohn  wurde  also,  vielleicht  mit  einem 
Anflug  von  Spott,  'das  Zeugen'  seines  Schwiegervaters  genannt. 
Wörter  dieser  Art  auf  -ü-  sind  frühzeitig  zu  Maskulinen  geworden, 
vgl.  Brugmann  Grrundr.^  IT,  1,  611.  Im  Slavischen  ist  dieses  Wort 
so  geblieben.  Im  Litauischen,  das  die  maskulinen  i-Stämme  stark 
beschränkt  hat,  finden  wir  äentas  in  die  o-Deklination  übergeführt. 
Daneben  gibt  es  ein  hier  anklingendes  Maskulinum  der  i- Stämme 
mit  der  weiteren  Bedeutung  'Verwandter'  gentis,  aber  mit  g.  Liegt 
da  ein  Zusammenhang  vor?  Im  Lateinischen  wird  gcAier  durch 
Einfluß  seines  Oppositums  socer  analogisch  umgestaltet  sein,  das 
-t-  gewahrt  man  aber  noch  in  der  Grlosse  genta. 

Ist  meine  Erklärung  richtig,  dann  gibt  sie  indirekt  wohl  ein 
Zeugnis  für  Exogamie  der  Urindogermanen,  die  auch  Schrader 
Reallexikon^  908  fg.  anzunehmen  geneigt  ist.  Sollte  aber  nicht 
gerade   die  Erbtochter  mit  Anlaß  gegeben  haben,   die  Form  der 


Sachliches  und  Sprachliches  zur  indogermanischen  Großfamilie.  219 

Exogamie  aufzugeben  ?  Der  Wunsch,  das  der  Erbtochter  zufallende 
Vermögen  den  Blutsverwandten  zu  erhalten,  mag  hier  bestimmend 
gewesen  sein,  wie  ja  auch  die  Leviratsehe  bei  den  Osseten  nach 
V.  Klaproth,  Reise  in  den  Kaukasus  III,  605  mit  demselben  Wunsch 
zusammenhängt. 

9.    ya/uß^og  und  yd/uog. 

Von  ganz  andrer  Art  als  FAäam  und  gencr  ist  die  griechische 
Benennung  des  Schwiegersohns.  Die  Bedeutung  des  Wortes  erklärt 
sich  aus  seiner  Herkunft.  Es  liegt  auf  der  Hand,  daß  es  von 
yäiiog,  ycc^SG)  abgeleitet  ist,  die  Bedeutung  ist  daher  zunächst 
'Hochzeiter',  dann  'Heirats verwandter'.  Die  weitere  Bedeutung 
zeigt  sich  noch  deutlich  E  474,  wo  Sarpedon  zu  Hektor  sagt :  qprjg 
Ttov  axEQ  Xacbv  Ttokiv  i^SfiEv  ijd'  mixovQCOV  olog,  6vv  ya^ßQolöi  kccöl- 
yvrixoiaC  rs  öot0Lv.  So  wie  TttxQÖg  'scharf  eigentlich  'stechend'  zu 
'^peiJc  'stechen',  abulg.  hT>drT>  'wachsam'  zu  *b]ieiidh  'wachen',  tavQog 
'Stier',  eigentlich  'stark'  zu  "^täu  'stark  sein'  gehört,  so  steht  ya^- 
ßgög  zu  ya^-  'heiraten'.  Daß  'Hochzeiter,  Heirater'  zu  'Schwieger- 
sohn' wurde,  ist  vielleicht  nicht  ganz  ohne  Einfluß  des  Suffixes 
-Qog  des  Oppositums  exvQog  vor  sich  gegangen,  das  selbst  wieder  im 
Akzent  von  naxitiQ,  ädeXcpög  beeinflußt  wurde  ebenso  wie  nevd'SQÖg. 
Meillets  (MSL  8,  238)  von  Boisacq  Dict.  235  wiederholte  Ansicht, 
daß  ixvQÖg  seinen  Akzent  von  jtevd^sQog  habe,  übersieht  ganz,  daß 
TCsvd^sQÖg  gemäß  dem  Wheelerschen  Gesetz  selbst  Paroxytonon  sein 
sollte. 

Grern  denkt  man  sich  ya^ißgög,  indem  man  es  zu  yd^og  stellt, 
gleich  dem  ai.  järas  aus  idg.  "^^gniros  hervorgegangen ;  noch  Wacker- 
nagel hält  in  seinen  Sprachl.  Unters.  Homer  S.  174  an  dieser  An- 
sicht fest.  Sie  ist  aber  aus  zwei  Gründen  unwahrscheinlich.  Im 
Griechischen  passen  die  Laute  nicht  dazu:  in  hat  ^ä,  aber  nicht 
ä^i  ergeben.  Zweitens  macht  die  Bedeutung  des  indischen  Wortes 
Schwierigkeiten,  järas  heißt  'Liebhaber,  Buhle',  die  indische  Heirat 
war  aber  keine  Liebesheirat;  dazu  kommt,  daß  ya^ßQog  uns  ver- 
ständlich ist  als  'Heiratsverwandter',  eine  Benennung,  die  Vater 
und  Brüder  der  Frau  auf  den  Mann  anwenden:  järas  ist  aber  der 
Buhle  der  Frau  selber.  Anders  wäre  es,  wenn  für  ya^ßgog  als 
vermittelnde  Bedeutung  'Beischläfer'  zur  Verfügung  stände,  das 
scheint  aber  nicht  der  Fall  zu  sein,  järas  läßt  sich  denn  auch 
viel  leichter  mit  einem  ganz  andern  Wort  zusammenbringen,  und 
zwar  mit  einem,  das  noch  keinen  befriedigenden  Anschluß  gefunden 
hat,  gr.  ßovXo^im^  dessen  ß  nach  Ausweis  des  dorischen  dyjXo^at 
usw.  Labiovelar  gewesen  ist.     Eödiger  ist  in  seiner  Untersuchung 


220  Eduard  Hermann, 

ttb^r  ßovlo^ai  Glotta  8,  1  fg.  zu  dem  Ergebnis  gekommen,  da3  die 
Grundbedeutung  sei  'lieber  wollen,  vorziehen,  erwählen  als  das 
Bessere',  während  ed-sXcj  'bereit  sein,  geneigt  sein  zu  einem  Tun' 
ausdrücke.  Unabhängig  davon  ist  Fox  BphW  1917,  597  fg.,  633  fg. 
zu  einem  Resultat  gekommen,  das  damit  in  Widerspruch  steht. 
Für  ßovXo^ai,  fällt  dieser  weg,  wenn  man  von  der  in  ßovXo^svog 
*der  Lust  hat'  steckenden  Bedeutung  ausgeht.  Von  dieser  Grrund- 
bedeutung  aus  ist  die  Brücke  zu  järas  leicht  zu  bauen.  ßovXo^ai 
heißt  'ich  habe  Lust',  järäs  ist  'der,  welcher  Gelüste  hat'.  Wahr- 
scheinlich liegt  demnach  eine  leichte  Basis  zu  Grunde,  '^'^g'^ele  'Lust 
haben'.  Ob  zu  ihr  auch  toch.  äkäl  'Verlangen',  ab.  Mati  u.  a.  ge- 
hören können,  will  ich  nicht  untersuchen,  ya^ß^og  und  järas  sind 
also  von  einander  zu  scheiden. 

In  Gegensatz  zu  Waldes  Annahme  Lat.  et.  Wb.^  337,  daß  ya^- 
ßgög  kaum  erst  einzelsprachKch  gebildet  sein  werde,  bin  ich  der 
Ansicht,  daß  es  vermutlich  gerade  erst  innerhalb  des  Griechischen 
entstanden  ist.  Eben  so  wird  erst  verständlich,  daß  es  -Qog  hinter 
derjenigen  Form  der  Tiefstufe  zeigt,  die  vor  Vokalen  berechtigt 
war  —  andernfalls  müßte  man  eine  jüngere  Analogiebildung  an- 
nehmen. Es  gibt  ja  sonst  noch  andre  speziell  griechische  Bil- 
dungen auf  -Qog  mit  vorausgehender  Tief  stufe,  vgl.  ^v<y(>o'g  'lügen- 
haft', rgrjQog  'furchtsam'  aus  ^tgaöQog,  öaTtgog  'faul',  Brugmann 
Grdr.''^  II,  1.  351.  Um  die  Etymologie  von  ya^ßgog  zu  verstehen, 
muß  man  ydfiog,  yafiBco  richtig  anknüpfen. 

Das  ist  zwar  bereits  längöt  geschehen;  man  muß  diese  Wörter 
mit  ysvto,  gemini  u.  a.  verknüpfen.  Nur  muß  man  dabei  von  der 
richtigen  Bedeutung  ausgehen.  Meiner  Ansicht  nach  birgt  sich 
diese  in  ysvto  'er  erfaßte',  "^gem-  hieß  nicht  'umfassen',  wie  Fick 
I*  401,  und  nicht  'paaren,  verbinden,  zusammenfassen',  wie  Walde 
Wb^  336  ansetzt,  sondern  'erfassen'.  Deutlich  zeigt  sich  diese 
Bedeutung  auch  in  kypr.  vyys^og'  övXXaßj].  UaXa^tvioL  Hesych. 
Demnach  heißt  ya^og  von  Haus  aus  'Erfassung',  nämlich  'Hand- 
ergreifung'. Inhaltlich  ist  es  also  mit  ind.  imnigraliana  und  lat. 
mancipatio  zu  verknüpfen.  Die  Handergreifung  war  ja  ein  besonders 
wichtiger  Akt  der  indogermanischen  Eheschließung.  Daß  nicht  nur 
bei  den  Indem  und  Römern  (dextrarum  coniunctio),  sondern  auch  bei 
den  Germanen  der  Mann  durch  die  Handergreifung  die  Gewalt  über 
die  Frau  (hier  munt)  erlangt,  ist  längst  bekannt ;  IF  17,  387  habe  ich 
hinzugefügt,  daß  auch  bei  den  alten  Iraniern  und  vielleicht  bei 
den  Kymren  die  Handergreifung  eine  Rolle  gespielt  hat.  Bei  den 
Armeniern  ist  diese  Zeremonie  nötig  im  Elternhause  der  Braut  in 
Anwesenheit  des  erkorenen  Vormunds,  s.  Klidschian,  Zs.  vgl.  Rechtsw. 


Sachliches  und  Sprachliches  zur  indogermanischen  Großfamilie.  221 

25,  315.  Von  den  Letten,  bei  denen  sonst  das  Handgeben  gar  nicbt 
üblich  ist,  berichtet  Hupel,  Topographische  Nachrichten  von  Lief- 
und  Ehstland  1774,  II,  149  und  192,  daß  der  Bräutigam  bei  der 
Verlobung  die  Hand  der  Braut  feierlich  ergreift.  Daß  auch  die 
Slaven  die  Sitte  gekannt  haben,  werden  wir  gleich  sehen.  Man 
vergleiche  auch  das  Handergreifen  bei  den  Litauern  Lepner  Der 
Preusche  Littauer  1690,  S.  32,  den  Parsen  Modi  Marriage  customs 
among  the  Parsees  S.  30  und  bei  den  Bretonen  Rheinsberg-Dürings- 
feld  Hochzeitsbuch  246.  Es  ist  eben  ein  Brauch,  der  seit  urindo- 
germanischer Zeit  gepflegt  worden  ist  und  der  bei  der  christlichen 
Vermählung  in  der  Kirche  in  der  Zusammenlegung  der  Hände  des 
Brautpaares  durch  den  Geistlichen  immer  noch  seinen  symbolischen 
Ausdruck  findet. 

Diese  feierliche  Handlung  heißt  bei  den  Griechen,  wie 'bekannt, 
iyyvrj  eigentlich  'das  in  die  Hand  geben',  was,  worauf  mich  Reitzen- 
stein  aufmerksam  macht,  besonders  deutlich  zum  Ausdruck  kommt 
in  Eurip.  Iph.  Aul.  703,  wo  es  von  Thetis  heißt :  Zsvg  Yiyyvriös  xccl 
dtdo(?'  6  xvQLog.  Wir  haben  also  zwei  Ausdrücke  für  dieselbe 
Sache  :  iyyvi]  ist  hergenommen  von  der  Handbewegung  des  Braut- 
vaters, yd^og  von  der  des  Bräutigams.  Wieder  von  einer  andern 
Seite  wird  die  Handergreifung  betrachtet  bei  dem  Verbum  izdovrai. 
Damit  ist  nicht  wie  bei  syyvt]  ausgedrückt,  daß  die  Braut  in  die 
Hand,  in  den  Schutz  des  Bräutigams  gegeben  wird,  sondern  daß 
sie  aus  der  Hand,  aus  dem  Schutz  des  Vaters  entlassen  wird. 
Unter  diesem  Gesichtspunkt  werden  vielleicht  manche  der  von 
W.  Schulze  KZ  40,  401^  genannten  Wörter  zu  verstehen  sein,  so 
z.  B.  etwa  got.  fragifts.  Bei  andern  Ausdrücken  wie  lit.  sal\n  ejtl 
^sich  verheiraten'  ist  allerdings  daran  nicht  mehr  gedacht. 

Aus  der  Zeremonie  der  Handergreifung  ist  wohl  auch  abulg. 
hralcT>  'Hochzeit'  zu  verstehen.  Berneker  stellt  in  seinem  Etym. 
Wörterbuch  1,81  hraJciy ,  dessen  Plural  im  Altrussischen  noch 
hhvaci  lautet,  dem  Herkommen  gemäß  zu  hhrati  'nehmen'  und  äußerst 
unter  Zurückweisung  des  Gedankens  an  Raubehe  die  Vermutung, 
daß  hhrati  vielleicht  ein  Terminus  technicus  für  eine  bei  der  heid- 
nischen Eheschließung  übliche  Zeremonie  gewese^n  sein  kann.  Daß 
diese  Zeremonie  die  Handergreifung  war,  dürfte  nach  dem  eben 
Erörterten  nahe  liegen. 

10.    Die  Männer  zweier  Scliwestern. 

Ganz  unter  demselben  Gesichtspunkt  wie  das  Aufkommen  der 
Wörter  für  Schwiegersohn  hat  man  es  zu  verstehen,  daß  von  indo- 
germanischen Zeiten   her   ein  Wort    vorhanden    gewesen    zu    sein 


222  Eduard  Hermann, 

scheint  für  die  'Männer  zweier  Schwestern'.  Grriech.  äsXioi,  hei. 
aCkioi  wird  man  von  anord.  svilar,  mit  dem  es  längst  verbunden 
worden  ist,  wohl  nicht  trennen  dürfen.  Das  Wort  wird  von  Haus 
aus  nur  die  Männer  zweier  Schwestern  bedeutet  haben,  die  Erb- 
töchter waren.  Wegen  der  Seltenheit  des  Vorkommens  solcher 
Schwestern  scheint  aber  der  Ausdruck  in  den  meisten  Sprachen 
verloren  gegangen  zu  sein. 

11.    Des  Mannes  Schwester. 

Alle  bisher  besprochenen  Verwandtschaftsbezeichnungen  fügen 
sich  gut  in  den  Rahmen  der  indogermanischen  Grroßfamilie.  Wie 
läßt  sich  da  der  Ausdruck  für  'des  Mannes  Schwester'  verstehen, 
der  in  'mehreren  indogermanischen  Sprachen  vorliegt  und  dessen 
Lautgestalt  noch  nicht  sicher  festgestellt  ist?  Im  Lateinischen 
haben  wir  glös,  dazu  gehören  gr.  yaXöag,  wie  der  Nom.  Sing,  zu 
dem  Dat.  yccXöcoc  und  dem  Gen.  Plur.  yccXomv  für  Homer  anzusetzen 
sein  wird,  und  abulg.  zi>li>va^  serb.  zaova^  russ.  zoIvöl.  Den  Ausgang 
dieser  Wörter  möchte  ich  aus  -uös  herleiten  trotz  der  Resignation 
Solmsens  Stud.  lat.  Lautg.  108.  Lat.  (jlös  geht  dann  auf  '^gloim 
zurück;  die  griechische  Form  läßt  sich  mit  Hülfe  von  Grünterts 
Schwa  secundum  leicht  auf  die  ganz  ähnliche  Lautstufe  *gd2loiiös 
zurückführen  und  die  slavische  auf  gd2ld2Uös  =  gdiluuös.  In  der 
ersten  und  in  der  zweiten  Silbe  lag  also  ein  kurzer  Vokal  zu 
Grunde.  Dazu  paßt  nun  sehr  hübsch  die  phrygische  Glosse  ysXaQog' 
adsX(pov  yvvT]  ^QvyißxC  aus  Hesych,  die  gleich  ösdQOLxag  [ds]doi}c6gy 
TQS'  öE  KQYJteg  Verwechslung  von  f  und  q  zeigt.  Man  hat  also 
yeXafog  zu  lesen.  Eine  genauere  Untersuchung  der  phrygischen 
Lautentwicklung  darf  ich  mir  wohl  schenken.  Das  y  statt  des  zu 
erwartenden  J  dürfte  kein  unübersteigbares  Hindernis  bilden.  Vor 
Vokal  +  l,  r  findet  häufig,  wie  ich  bald  zu  zeigen  hoffe,  ein  Wechsel 
der  Gutturalreihen  statt.  Die  Bedeutung  des  phrygischen  Wortes 
macht  keine  Schwierigkeit,  sie  enthält  dieselbe  Erweiterung,  die  auch 
für  lat.  glös  vorliegt.  Man  kommt  also  auf  diese  Weise  zu  einem 
Wort  für  'Mannesschwester',  das  urindogermanischen  Adel  hat. 

Das  aber  ist  in  gewisser  Weise  doch  verwunderlich ;  denn  das 
Vorhandensein  dieser  Bezeichnung  scheint  nicht  recht  zu  der  Groß- 
familie zu  passen  —  außer  wenn  man  annimmt,  daß  damit  nur  die 
unverheiratete  Schwester  des  Mannes  bezeichnet  wurde.  Für  die 
Verwandten  außerhalb  der  Großfamilie  gab  es  keine  indogerma- 
nischen Ausdrücke.  Innerhalb  dieser  ging  die  Sonderbenennung 
allerdings  recht  weit,  fehlte  doch  auch  das  Wort  für  die  Frau  des 


Sächliches  und  Sprachliches  zur  indogermanischen  Großfamilie.  ^23 

Bruders  des  Gatten  nicht,  das  nicht  nur  im  Indischen,  Griechischen  *), 
Lateinischen ,  Baltisch-Slavischen  und  Phrygischen  nachgewiesen, 
sondern  von  Andreas  auch  in  afghan.  iör  entdeckt  ist.  *goJoitös 
wird  also  nur  die  unverheiratete  Schwester  des  Mannes  bezeichnet 
haben. 

12.     i/dQog. 

Boisacq  bezeichnet  die  Etymologie  des  Wortes  ix^QÖg  als  un- 
bekannt, da  die  bisher  vorgetragenen  Deutungen  nicht  befriedigten. 
Unter  diesen  befindet  sich  auch  die  Waldes  KZ  34,  485,  der  es  an 
lat.  exterus  unter  Zugrundelegung  der  Bedeutung  'von  außen  kom- 
mend' anknüpft.  Dieser  Versuch  überzeugt  allerdings  nicht.  Lautlich 
ist  aber  Waldes  Vorschlag  sxd'gög  =  *eghstros  einwandfrei,  er  scheint 
mir  auch  richtig  zu  sein,  nur  bedarf  er  einer  neuen  Begründung 
seitens  der  Bedeutung.     Ich  fasse  exd'QÖg  als  'exsul'. 

Meine  Vermutung  gründet  sich  auf  die  Auseinandersetzungen 
B.  W.  Leists  in  seiner  Graekoitalischen  Rechtsgeschichte  und  in 
seinem  Altarischen  Jus  Gentium  über  Blutrache.  In  letzterem  Buche 
sagt  er  S.  4*23  sehr  treffend:  „In  dem  Blutracherecht  haben  wir 
die  technische  Privat feindschaft  der  alten  Zeit  vor  uns"  und  S.  296, 
Anm.  5:  „Der  Mörder  ist  der  sx&QÖg^'.  Homer  erwähnt  ja  eine 
ganze  Reihe  von  Fällen,  wo  sich  der  Mörder  durch  Flucht  der 
Rache  zu  entziehen  sucht:  J3  661fg.,  iV694fg.,  77 570 fg.,  ^83 fg., 
V  256  fg.,  J  378  fg.,  0  272  fg.,  i^  118  fg.  Also  wegen  der  Flucht 
nannte  man  ihn  'den  draußen  Befindlichen'.  Die  Beziehung  des 
Wortes  ix^Qog  zum  Mörder  zeigt  sich  bei  Homer  in  der  Bedeutung 
des  Wortes  nicht  mehr  unmittelbar.  Ebenso  wie  bei  ^x^og,  äitsx^d- 
vo^iai  usw.  tritt  der  Begriff  'verhaßt'  dabei  bereits  in  den  Vorder- 
grund. Es  ist  aber  ein  Unterschied  zwischen  dem  Haß,  der  durch 
h^Q^^->  h^og  usw.,  und  dem,  der  durch  ^löbcd  ausgedrückt  wird.  P  272 
ist  ^C<3ri0£v  vom  Unwillen  gebraucht,  dagegen  ix^QÖg  bedeutet  den 
unversöhnlichen  Haß.  'ix^Q^  ^^  /^ot  tov  ö&qu,  tCca  de  (iiv  iv  xagbg 
aiörf  sagt  Achill  I  378  von  den  Geschenken,  die  ihm  Agamemnon 
zur  Versöhnung  anbieten  läßt,  und  J  312  heißt  es :  sx&Qog  yccQ  (iol 
üslvog  6^G)g  ^Aidao  nvXißöLv,  og  x!  £t€Qov  ^sv  nsv&r]  ivl  (pQEoCv^  äXXo 
dh  siTtrj.  Derartiger  Haß  ist  der  Haß  gegen  den  Mörder,  an  dem 
es  Blutrache  zu  nehmen  gilt.  Deutlichere  Beziehungen  des  Wortes 
zum  Mörder  und  zur  Blutrache  zeigen  manche  Stellen  bei  Aischylos, 


1)  Die  Betonung  des  griechischen  stvdtsgsg  beweist,  daß  diese  Form  den 
äolischen  Bestandteilen  der  Dichtung  zukommt,  vgl.  die  von  Wackernagel  GGN  1914, 
47  fg.  erörterten  Fälle. 


1224  Eduard  Hermann, 

z.  B.  Agam.  1322  fg.  i^AtW  d'  ictsvxo^iat  TCQog  vötatov  q)G)g  rolg  i^otg 
ti^aoQOig  sxd-Qotg  cpovsvöi  rolg  e^otg  tCvEiv  o^iov  oder  Choeph.  122 
jtcbg  d^  ov,  xov  h%%'Qhv  ävtaiisißsöd-at  xaxotg  und  308  fg.  avtl  ^sv 
ixd-Qäg  ylcjödr^g  ix^Q^  ykcb66a  rsXsL0d^co  .  .  .  ccvtl  de  TcXrjyfjg  cpovCag 
cpoviav  nXfiy^v  tivstg).  Das  Wort  ix^Q^S  ist  also  auf  die  Gesin- 
nung, das  Gefühl  übertragen.  Wenn  man  es  auch  auf  den  poli- 
tischen Feind  anwendet,  wird  der  Umstand,  daß  die  Blutrache 
zwischen  großen  Geschlechtern  einem  Krieg  nahekommt,  nicht  ohne 
Einfluß  gewesen  sein ;  man  denke  z.  B.  an  die  Alkmenoiden.  Be- 
sonders deutlich  vermögen  die  südslavischen  Blutfehden  zu  zeigen, 
wie  daraus  geradezu  internationale  Fehden  werden,  vgl.  Wesnitsch, 
Zs.  f.  vgl.  Rechtsw.  9,  61  fg.  So  heißt  es  denn  auch  in  dem  Vertrag 
zwischen  Hierapytna  und  Lyktos  SGDI  5041,  le  tbv  avxov  fpCXov 
xal  sx^Qov  a^w  xal  jiöXi^rjCm  äito  x^Q^^S^  '^^  ^(^  ^ccl  &  IsQajtvzviog. 
Besonders  beachte  man  Herodot  VII,  145  TcarakXäöös^d'ai  tag  te 
*  sX^^g  xal  Tovg  xar^  äXXTJXovg  eövtag  TCoXs^vg. 

Besonders  deutlich  wird  der  Begriff  des  Mörders  als  exsul  aus 
den  Worten  Achills  I  63  afpQiqTWQ,  ä%'iiii0xog^  äviöxiog  söxiv  sxstvog^ 
og  TCols^ov  sgaxai  eitidruiiov  oxQvösvxog.  Der  Mörder  ist  rechtlos, 
er  ist  ausgeschlossen  aus  dem  Gesetz  und  aus  der  Gemeinde ;  denn 
die  Familie  des  Ermordeten  darf  an  ihm  Eache  nehmen.  Sehr 
häufig  sehen  wir  bei  Homer  denjenigen  Mörder  auf  der  Flucht,  der 
einen  Verwandten,  einen  Mitbewohner  des  Hauses,  getötet  hat. 
Und  das  ist  ja  natürlich,  daß  der  Verwandtenmörder  am  aller- 
wenigsten sicher  zu  Hause  war.  So  erzählt  Herodot  I,  35  auch 
von  dem  Phryger  Adrast,  daß  er  seinen  Bruder  getötet  habe  und 
darum  b^i  Krösus  erscheint,  i^sXijlafisvog  vico  xov  jtaxgog.  Aber 
Homer  kennt  die  Flucht  auch  in  solchen  Fällen,  wo  der  Ermor- 
dete kein  Verwandter  ist,  so  z.  B.  bei  der  Flucht  des  Patroklos 
^85  fg.  Nach  dem  Morde  zu  fliehen,  war  wahrscheinlich  schon 
lange  vor  der  griechischen  Zeit  üblich,  das  war  schon  urindoger- 
manischer Brauch.  Schrader  erwähnt  ihn  Reall.^  153  fg.  aus  Schweden 
und  aus  Montenegro.  Der  Brauch  erklärt  zur  Genüge,  wie  Bx^Q6g 
^der  draußen  Befindliche'  zur  Bedeutung  'Feind'  kommen  konnte. 
'Der  draußen  Befindliche',  'der  Ausgestoßene'  ist  ja  doch  darum 
landesflüchtig,  weil  er  die  Eache,  die  Feindschaft  der  Familie  des 
Ermordeten  fürchten  muß. 

Wie  nahe  an  einander  die  Begriffe  'Feind',  'geächtet',  ^rächen', 
'verfolgen'  liegen,  sehen  wir  auch  in  anderen  Sprachen.  Abulg. 
vragii  'Feind'  gehört  etymologisch  zu  ai.  parävfj  'Verstoßener',  ags. 
wrecca^  ahd.  recheo  usw.    'Verbannter',  got.  wrtkan  'verfolgen'  usw., 


Sachliches  und  Sprachliches  zur  indogermanischen  Großfamilie.  225 

nhd.  rächen;  ahd.  fehida  Feindschaft'  usw.  gehört  zu  ags.  fdh  'ge- 
ächtet, verfehmt,  friedlos'. 

J^isher  habe  ich  nur  von  ix^QÖg  gesprochen.  Ist  aber  dieses 
Wort  die  älteste  Bildung  des  Stammes?  Man  darf  nicht  ver- 
gessen, daß  bei  Homer  neben  iyßQÖg  schon  vorliegen:  fj^O-t^rog,  s'x&og, 
exO-eöd-ai,  djCEX^ccvo^ai^  ajtsx^ccCQcOy  dazu  kommen  aus  späterer  Zeit 
ix^C(ov,  £x^L^og,  £X^Q0C'  ix^Qog  ist  also  aufzufassen  wie  xvdgög^ 
TtvdkWf  nvdiörog,  xvdos,  zvdi^og,  ^vddvco,  wie  ccidxQ6g^  aldx^ov  usw., 
und  ix^QÖg :  sx^Qa  =  XsTtgög :  XsTtQa  s.  Fraenkel  KZ  42,  124  Anm.  2, 
Wackernagel  Sprachl.  Unters.  Homer  234  fg.  Es  hat  demnach  das- 
selbe Suffix  -ro-,  das  wir  oben  bei  ya^ßgög  angetroffen  haben. 
Darum  geht  es  nicht  an,  in  sx^Qog  eine  komparativartige  Bildung 
mit  Tief  stufe  vor  q  zu  sehen,  wie  das  Walde  KZ  34,  485  will,  der 
es  lat.  cxterus  unmittelbar  gleichsetzt. 

Es  erhebt  sich  aber  eine  Schwierigkeit.  Wie  soll  man  das  O- 
erklären?  Ausgangspunkt  muß  *egh^dhros  sein,  das  aus  *eghs-tros 
oder  aus  "^egJis-dhros  hervorgegangen  sein  könnte.  In  beiden  Fällen 
wäre  daran  zu  erinnern,  daß  auch  sonst  Formen  mit  Dental  vor 
dem  Suffix  -ro-  vorkommen,  s.  Brugmann  Grrdr,^  II,  1,  340  und  378; 
es  sind  nur  gerade  die  Maskulina  dieser  Art  selten,  obwohl  daiZQÖg, 
laTQÖg,  öKsd^QÖg  usw.  vorhanden  sind.  Zu  ix^gög  hat  man  dann 
ix^kov^  £;t^t(?rog,  %^og  gebildet,  wozu  alöxtcov,  aYöxi^tog,  al^xog  das 
Vorbild  geliefert  haben  dürften;  gerade  die  Adjektiva  auf  -gog  haben 
ja  mehrfach,  wie  oben  schon  erwähnt,  Bildungen  auf  -i(ov,  -Lötog 
neben  sich. 

13.    Altrussisch  vira* 

Das  Wergeid  wird  von  Schrader  Sprachvergl.  u.  Urgesch.^  396, 
sowie  Reallex.^  157  und  andern  als  eine  urindogermanische  Einrich- 
tung angesprochen.  Entscheidend  für  diese  Ansicht  ist  die  Gleichung 
ags.  wcre,  mhd.  were,  ai.  vaira'  'Wergeid'.  Auch  im  Altrussischen  gibt 
es  ein  ähnliches  Wort  hierfür:  in  der  Gestalt  vira,  Ist  dieses  mit 
dem  germanischen  und  dem  indischen  Wort  urverwandt,  dann  ist  der 
Beweis  für  das  urindogermanische  Alter  des  Wergeides  wesentlich 
verbessert.  In  dem  Festgruß .  an  Roth  49  fg.  hat  L.  von  Schroeder 
russ.  vira  als  echtslavisches  Wort  zu  erweisen  versucht.  Schrader 
aber  glaubt,  in  vira  ein  germanisches  Lehnwort  suchen  zu  dürfen. 
Wie  steht  es  mit  diesen  Wörtern? 

So  leicht,  wie  es  sich  Schrader  macht,  läßt  sich  die  Entleh- 
nung jedenfalls  nicht  feststellen.  Für  sie  spricht  zunächst  nur  die 
Tatsache,  daß  das  Russische  allein  unter  den  slavischen  Sprachen 
das  Wort  vira  'Wergeid'  kennt.    Dagegen  hat  aber  schon  L.  von 

Kgl.  Oes.  d.  Wiss.    Nachrichten.    l»hil.-hist.  Klasse.    1918.    Heft  2.  15 


226  Eduard  Hermann, 

Schroeder  mit  Recht  geltend  gemacht,  daß  der  Vokal  des  russischen 
Wortes  lang,  der  des  germanischen  kurz  ist.  Vor  allem  aber  scheint 
mir  noch  ein  ganz  anderes  Hindernis  vorzuliegen.  Von  einem 
germanischen  *uirä  'Wergeid'  kann  gar  nicht  die  Rede  sein.  Im 
Mittelhochdeutschen  ist,  soviel  ich  aus  den  Wörterbüchern  ent- 
nehmen kann,  were  mit  der  Bedeutung  'Wergeid'  nicht  vorhanden. 
Auch  im  Angelsächsischen  heißt  das  Wort  nach  Liebermann  Ge- 
setze der  Angelsachsen  II,  240  fg.  zunächst  nicht  were,  sondern  als 
Maskulinum  wer.  Die  Form  mit  -e  ist  erst  nachträglich  aufge- 
kommen und  findet  sich  nur  gelegentlich,  obwohl  sie  in  lateinische 
und  französische  Urkunden  {wera  und  tvere)  als  Femininum  über- 
gegangen ist.  Das  Wergeid  heißt  vielmehr  zunächst  ags.  weregild 
nnd  ahd.  weragelt,  mit  dem  Wort  wer  'Mann'  gebildet,  genau  so 
wie  altisl.  manngjöld  und  ags.  leodgüd.  Aus  ags.  ivergild  hat  sich 
nun  das  schon  erwähnte  wer  für  'Wergeid'  losgelöst,  so  wie  nach 
E,.  Schröder,  Lehrbuch  der  deutschen  Rechtsgeschichte^  83  neben 
ags.  leodgüd  anch  salisch  leudis  usw.  steht.  Ein  germanisches  Wort 
^uirä  'Wergeid'  hat  es  also  schwerlich  gegeben,  und  wenn  auch  in 
lateinische  Urkunden  wera  aufgenommen  wurde,  kann  die  ältere 
Lautstufe  *^f^rä  doch  nicht  schon  ins  Slavische  entlehnt  worden  sein. 

So  bliebe  denn  Urverwandtschaft  übrig?  Ich  glaube  auch  das 
nicht.  Das  Slavische  kennt  "^wtros  'Mann'  nicht,  obwohl  im  Li- 
tauischen vyras^  wie  v.  Schroeder  hervorhebt,  lebendig  ist.  Im 
Gegensatz  zu  v.  Schroeder  macht  mich  der  Mangel  stutzig.  Und 
weiter!  Was  für  eine  Bildung  soll  denn  vira  sein?  Wie  soll  es 
zu  der  Bedeutung  'Wergeid'  gekommen  sein?  Ich  finde  hier  nicht 
recht  eine  Brücke.  Was  aber  den  Ausschlag  gibt,  ist  der  Um- 
stand, daß  im  Altrussischen  keineswegs  nur  die  Form  vira  vorkommt, 
sondern  auch  die  Form  vera ;  auch  die  Ableitung  virniJc  und  virnyj 
kommen  mit  e  vor,  s.  Sreznevskij,  Materialy  dlja  slovarja  drevne- 
russkago  jazyka  I,  262  fg.  Diese  Wörter  vera,  vernih,  vernyj  sind 
aber  keine  andern  als  die  geläufigen  slavischen  Wörter  mit  den 
Bedeutungen  'Glaube,  Treue'  usw.  Altruss.  vira  hat  also  mit  unserm 
Wort  Wergeid  gar  nichts  zu  tun  und  gehört  vielmehr  zu  lat.  venis 
usw.  Wir  haben  es  bei  vira,  virnih,  virnyj  nur  mit  dem  in  meh- 
reren russischen  Mundarten  (kleinrussisch,  Novgorod  usw.)  üblichen 
Wandel  von  e  zu  i  zu  tun.  Das  ist  natürlich  für  die  Gegend  der 
Entstehung  des  Brauchs  von  Wichtigkeit.  Ich  muß  es  mir  aber 
versagen,  darauf  einzugehen,  und  führe  nur  aus  den  Pravdas  ein 
weiteres  Beispiel  für  *  =  e  an  in  Pravdas  1,  N.  6  lichcju  =  letcju. 

Die  andern  slavischen  Sprachen  kennen  vera  für  'Wergeid' 
nicht,   im  Serbischen  gibt  es  aber  eine  sehr  bemerkenswerte  Ver- 


Sachliches  und  Sprachliches  zur  indogermanischen  Großfamilie.  227 

Wendung  des  Wortes  in  Verbindung  mit  der  Zahlung  des  Wer- 
geides. Wie  es  dabei  in  Montenegro  zugeht,  beschreibt  Wesnitsch 
ausführlich  Z.  vgl.  Rechtsw.  9,  68  fg.  Am  verabredeten  Tag  kommen 
sämtliche  Verwandte  des  Mörders,  mit  Geschenken  beladen,  zu- 
sammen, die  vierundzwanzig  Altesten  gehen  ohne  Waffen  den  Ver- 
wandten des  Erschlagenen  entgegen,  die  möglichst  zahlreich,  100—200 
an  der  Zahl,  sämtlich  bewaffnet  erscheinen.  Dann  nähert  sich  der 
Schuldige  entblößten  Hauptes  auf  den  Knien,  das  G-ewehr  am  Hals. 
Er  muß  dem  Rächer  die  Hand  und  das  Knie  küssen,  worauf  er 
aufgehoben  und  ihm  die  Waffe  abgenommen  wird.  Gebeugten 
Hauptes  geht  er  zurück.  Darauf  wird  dem  Beleidigten  ein  Knäb- 
lein  seiner  Verwandtschaft  gebracht,  in  dessen  Wiege  das  ausbe- 
dungene Wergeid  liegt.  Es  werden  mehrere  Patenschaften  zwischen 
beiden  Parteien  abgeschlossen,  worauf  ein  Versöhnungsmahl  folgt. 
Ehe  die  Zeremonie  stattfindet,  muß  für  den  Mörder  um  freies  Geleit 
gebeten  werden,  dieses  heißt  vera  (oder  in  andern  Mundarten  vlra), 
eigentlich  'Treue'. 

Hat  die  russische  vira  damit  etwas  zu  tun?  Ich  habe  Be- 
denken daran  anzuknüpfen,  erstens  weil  die  Zahlung  des  Wer- 
geides in  Montenegro  etwas  ganz  Modernes  zu  sein  scheint,  zweitens, 
weil  das  Geld  bei  den  Russen  vielleicht  nicht  die  Familie  des  Er- 
schlagenen erhielt,  sondern  dem  Fürsten  bezahlt  wurde.  Goetz  ist 
Zs.  vgl.  Rechtsw.  24,  306  fg.,  321  für  die  älteste  Periode  allerdings 
andrer  Ansicht,  die  richtige  Auslegung  ist  jedoch  mit  so  vielen 
sachlichen,  historischen  und  juristischen,  Schwierigkeiten  verknüpft, 
daß  ich  dazu  nicht  Stellung  nehmen  möchte.  Ich  verweise  aber 
darauf,  daß  K.  Fritzler  in  Gegensatz  zu  Goetz  die  Grundzüge 
der  russischen  Pravdas  für  germanisches  Recht  in  Anspruch  nehmen 
wird.  Wie  er  mir  sagt,  stimmt  die  Abstufung  der  Strafen  so 
genau  zu  den  nordgermanischen  Rechten,  daß  man  in  der  russischen 
vira  nichts  echt  Russisches  erblicken  darf.  Ich  lasse  das  alles  dahin- 
gestellt, bis  Fritzlers  Untersuchungen  im  Druck  vorliegen.  Falls 
sich  wirklich  feststellen  läßt,  daß  die  vira  nicht  nur  der  Familie 
des  Erschlagenen,  sondern  auch  dem  Fürsten  gezahlt  wird,  ferner 
daß  die  vira  nicht  auf  slavisfher,  sondern  auf  germanischer  Sitte 
beruhte,  dann  wird  man  in  vira  lediglich  eine  Übersetzung  von 
frcdiis,  fridiis  zu  sehen  haben. 

Das  russische  Wort  vira  ist  demnach  in  keiner  Weise  geeignet, 

Ifür  das  indogermanische  Alter  des  Wergeides  ein  Zeugnis  abzulegen 

Fällt  aber  auch  ags.  were  mit  mhd.  teere  dahin  und  bleibt  nur  ags. 

weregild  mit  ahd.  weragelt  neben  ai.  vaira  übrig,    so   wird  man  aus 

dem  Wortstamme  *mr-  heraus  überhaupt  keinen  Beweis   für  das 

15* 


228  Eduard  Hermann, 

Alter  des  Wergeides  herleiten  können.  Ja,  mit  Rücksicht  darauf, 
daß  in  Montenegro  erst  1855  durch  den  Fürsten  Danilo  der  erste 
ernstliche  Versuch  gemacht  worden  ist,  die  Blutrache  durch  Wer- 
geid abzuschaffen,  daß  in  Albanien  erst  während  des  Krieges  der 
österreichische  kommandierende  General  erklären  konnte  ^  daß  der 
Grottesfrieden  nunmehr  angenommen  und  die  Blutrache  tatsächlich 
abgeschafft  sei  (Frankfurter  Zeitung  vom  8.  11.  1916,  No.  310,  2. 
Morgenblatt)  und  daß  bei  den  iranischen  Stämmen,  wie  den  Af- 
ghanen (s.  Anhang),  die  Blutrache  noch  in  alter  Weise  üblich  ist 
halte  ich  es  für  ausgeschlossen,  daß  schon  in  urindogermanischer 
Zeit  das  Wergeid  sich  an  die  Stelle  der  Blutrache  zu  setzen  be- 
gonnen habe.  Die  ungefähre  Übereinstimmung  der  Summe  bei  den 
Indern  und  Russen  (v.  Schroeder  a.  a.  0.)  beweist  also  nichts. 

14.    Lateinisch  Manes, 

In  der  Andreas  gewidmeten  Festschrift  63  fg.  hat  es  Christensen 
wahrscheinlich  gemacht,  daß  eine  Tlfa^awlegende  nicht  nur  in  Indien, 
sondern  auch  in  Iranien  vorhanden  war,  daß  Manu  bei  den  Persern 
als  Stammvater  der  Priester  gegolten  habe,  wie  er  bei  den  Indern 
als  erster  Opferer  galt,  daß  er  von  beiden  Völkern  ursprünglich  als 
der  Urmensch  aufgefaßt  worden  sei.  Nun  haben  wir  zu  ai.  manu, 
av.  monti  (manu)  'Mann,  Mensch'  gehörig :  got.  manna  'Mann,  Mensch', 
ahd.  man  usw.,  abulg.  mgzi,  ferner  den  Namen  Mccvtjg  für  das  Metall- 
männchen, auf  das  beim  Kottabosspiel,  das  aus  Sizilien  nach  Grriechen- 
land  kam,  der  Wein  tropfenweise  fiel,  vgl.  Athenäus  XI,  p.  487c 
naXsttaL  ds  Mdvrig  ocal  tb  inl  tov  nottdßov  scpsörrjxög^  487  e  rö  xorrccßG) 
ütQÖösöti  xal  Mdvrig  tig  coGiteQ  olxhrig ;  das  Versmaß  in  Mavrjg  d'  ovdhv 
laxdyov  dUi  Hermippos  Kock  Com.  Att.  fragm.  I,  238  No.  47  beweist 
die  Länge  des  a;  und  dahin  gehört  wahrscheinlich  auch  der  in 
Phrygien,  Paphlagonien  und  Lydien  gebräuchliche  Name  Mdvrig. 
Auch  die  keltischen  Völkernamen  auf  -mäni  (Norden  SBA  1918, 
95  fg.)  sind  wohl  hierhin  zu  stellen.  Man  wird  nicht  irre  gehen,  in  ai. 
manu-  die  Fortsetzung  eines  gemeinurindogermanischen  Wortes  für 
'Mann,  Mensch'  zu  sehen.  Wenn  man  aber  weiter  bedenkt,  daß 
bei  den  indogermanischen  Völkern  die  erweiterten  Großfamilien, 
die  einzelnen  Geschlechter  und  Stämme  an  die  Spitze  ihres  Ge- 
schlechts oder  Stammes  einen  Heros  zu  setzen  pflegten,  nach  dem  i 
sie  sich  nannten,  wie  die  Herakliden  den  Herakles,  so  wird  man 
auch  in  dem  indisch-iranischen  Manu  einen  solchen  Stammheros 
sehen.  Dieser  stimmt  nun  im  Namen  ganz  zu  dem  Stammheros 
der  Westgermanen,  dem  Mannus,  den  Tacitus  Germania  2  als  den 
Stammvater  der  IngvaeoneS;  Hermiones  und  Istvaeones  bezeichnet. 


Sachliches  und  Sprachliches  zur  indogermanischen  Großfamilie.         229 

Die  Stammheroen  waren  teils  sagenhafte,  teils  wirkliche  Per- 
sönlichkeiten. Nach  dem  Ahnenglauben  der  Indogermanen  lebten 
die  Seelen  der  Verstorbenen  weiter,  ihre  Stammheroen  waren  also 
z.  T.  die  Seelen  längst  Verstorbener.  So  läßt  sich  auch  der  Manu, 
Mannus  auiFassen  als  der  Repräsentant  der  verstorbenen  Ahnen, 
kurzhin  'Mann,  Mensch'  genannt.  Das  bringt  die  Mänes  der  Römer 
in  Erinnerung.  Etymologisch  läßt  sich  dieses  Wort,  das  man  bisher 
meist  mit  lat.  manus  'gut'  oder  mit  iirivis  zusammengebracht  hat, 
sehr  wohl  hier  unterbringen.  Der  Ablaut  und  die  Suffigierung 
sind  zwar  anders  als  bei  den  arisch -germanischen  Wörtern,  das 
bedeutet  aber  keine  Schwierigkeit.  Auch  lat.  manus  'gut'  würde 
sich  in  der  Form  anschließen  lassen,  aber  die  Bedeutung  liegt  trotz 
der  Eumeniden  zu  weit  ab,  als  daß  ich  es  hier  mit  heranziehen 
möchte.  Dagegen  wird  zu  den  besprochenen  Wörtern  vielleicht 
eher  das  phrygische  pLiqv  gehören,  auf  das  Kretschmer  Einleitung 
Gesch.  griech.  Sprache  197  Anm.  4  hinweist.  Darf  man  ybr^v  für 
eine  jonische  Umbildung  von  ^{läv^  dem  phrygischen  Wort  für  'ab- 
geschiedene Seele',  halten?  Ahnlich  faßt  ja  auch  schon  Kretschmer 
den  Sinn  des  Wortes  auf,  ohne  aber  den  etymologischen  Zusammen- 
hang in  dieser  Weise  anzuerkennen.  Der  königliche  Schwur  der 
politischen  Fürsten,  der  nach  Strabo  XII,  557  ^)  rv%riv  ßaöUscog  nal 
iifjva  ^aQvaTiov  hieß,  bedeutet  also  vielleicht  'beim  Glück  des  Königs 
und  der  Seele  des  Pharnakes'.  Gerade,  daß  Pharnakes  als  'Stammvater' 
der  kappadokischen  Satrapen  (Diodor  XXXI,  19,  1)  galt,  ist  hierfür 
von  Wichtigkeit.  Es  wird  eben  die  Seele  des  ältesten  Ahnen  an- 
gerufen. Die  Genetive  Mtjv  Td^ov,  Mrjv  KaQov,  Myjv  QaQvdxov 
werden  so  durchaus  verständlich ;  besonders  aber  bekommt  der  Myjv 
%ata%d'6vioQ  jetzt  seine  Erklärung:  Sterret,  Pap.  Amer.  School  II, 
S.  200  N.  211  og  8'  iav  s[:jt]i(jßLdöritaL  r)  d[d]i^7]öSL,  exoi  xo[v  M]flvcc 
Kcctax^6vL[o]v  %s%olo:>iiivov  und  III,  S.  174  No.  284  Ev[o\QMl6^e^a  da 
Mrjva  '^atai^-oviov  Sig  tovto  ^vrj^atov  ^r^deva  ^l^sXd'siv. 


1)  Die  Nachricht  Strabos  e%ei  8s  v.al  to  isqöv  Mrivög  ^ccQvdyiov  yiaXovfisvov, 
Ti)v'J^£Qiccv  'HcofiOTtoXiv  TtoXXovg  tsQoSovXovg  8%ovaav  Kai  %coqav  lsqccv,  ^v  6  tsgco- 
lievos  ccsl  TiccQTtovtccL.  EXL[ir\aav  8^  ot  ßccciXsig  tb  ieqov  tovto  ovtmg  sig  vnsgßoX'^Vj 
a>at£  tbv  ßaciXi-^bv  v.aXovfisvov  oqtiov  tovtov  änicpTivav  ^tv%7iv  ßccöiXicog  kccI  ^Mfjvu 
^aQvdyiov.  86t i,  ds  Tial  tovto  tijg  asXijvrig  tb  tsgbv  ist  mit  Ramsay  vermutlich  so 
zu  erklären,  daß  die  Mondgottheit  erst  nachträglich  in  das  an  das  Wort  für  'Mond' 
anklingende  Mrjv  hineingedeutet  wurde. 


230  ,  Eduard  Hermann, 

15.    Die  Adoption. 

Sclirader  hat  Reallex.^  15  darauf  hingewiesen ,  daß  in  llom 
bei  der  Adoption  der  Geburtsakt  symbolisch  nachgeahmt  werde. 
Die  von  ihm  weiter  herangezogene  Stelle  Diodor  IV,  39,  2  erweist 
dieselbe  Sitte  nicht  nur  für  Barbarenstämme,  sondern  wohl  auch 
für  die  Griechen;  denn  es  heißt  da:  TCQoad-eteov  ö'  i)^tp  rotg  sigi][i8' 
voi$,  ort  ^srä  xriv  ocTCod-eaiöLv  avtov  Zsvg  '''Hgav  ^hv  ensiGsv  vloTtotrj- 
öaöd-at  rbv  ^HgaTcXsu  tcccI  to  Xoltcov  slg  xhv  äitavta  ^qovov  ^rjtQog 
svvoiag  TCaQS^s^d^ai^  xriv  ds  rsxvcoöiv  ysveöd'ai  cpaöl  roiavtriv '  ti^v 
"Hqccv  avccßäijav  eig  KXivrjv  xal  tbv  ^Hganlia  TCQoöXaßo^evrjv  TCQog  t6 
öG)iia  dt,ä  tG)v  kvdviidtcQv  äipslvai  TtQog  xriv  yfiv  ^i^oviievr^v  triv  alri^ivi]v 
ysvsöLV '  OTtSQ  ^£XQi  Tov  vvv  TtOLStv  tovg  ßaQßccQOvgf  otav  dstbv  vlbv 
TtoLstßd'ai  ßovlavxai.  Was  hier  von  der  griechischen  Göttin  gesagt 
wird,  darf  man  wohl  auch  von  den  älteren  Griechen  ruhig  an- 
nehmen. Nachahmung  des  Zeugungs-  bez.  des  Geburtsakts  bei 
fürstlicher  Adoption  im  Mittelalter  hatKogler  Zeitschr.  derSavigny- 
Stiftung  für  Rechtsgeschichte,  Germ.  Abt.  25,  166  fg.  belegt,  und 
zwar  aus  Bulgarien,  Spanien  und  bei  der  Adoption  des  Bruders 
Gottfrieds  von  Bouillon  durch  den  Fürsten  von  Edessa.  Ähnlich 
wie  die  Adoption  des  Herakles  beschreibt  Klidschian  Z.  vgl.  Eechtsw. 
25,  304  die  armenische  Adoption  in  Aschtarak  (Gouv.  Erivan)  in 
der  ersten  Hälfte  des  vorigen  Jahrhunderts:  „Die  Adoptivmutter 
zieht  unter  Anwesenheit  des  Adoptivvaters  das  zu  adoptierende 
Kind  zu  sich  heran,  bringt  es  in  knieende  Stellung  und  birgt  es 
unter  ihrer  Schürze.  Da  das  zu  adoptierende  Kind  nach  der  Adop- 
tion dem  armenischen  Recht  nach  als  leibliches  Kind  betrachtet 
werden  muß,  wird  in  der  angegebenen  Weise  eine  Geburt  simu- 
lierte 

Eine  andre  bemerkenswerte  Übereinstimmung  ist  die  Schoß- 
setzung, die  sich  nicht  nur  bei  den  Germanen  (Hoops  Reallex.  39), 
sondern  auch  bei  den  Indern  findet.  In  der  Geschichte  von  Cunali- 
9epa  heißt  es  Ait.  Brahm.  7,  17,  2  :  atha  ha  cunahcepo  vicvamitra- 
syäi^kam  äsasäda  ^da  setzte  sich  Cunahcepa  auf  den  Schoß  des  Vicva- 
mitra'.  Da  auch  die  Sitte  des  Haarschneidens  bei  der  Adoption  den 
Indern  und  Germanen  gemeinsam  ist,  könnte  es  fast  so  scheinen, 
als  habe  man  hier  Reste  altindogermanischer  Bräuche  Vor  sich.  Aber 
man  darf  nicht  vergessen,  daß  das  Haarabschneiden  auch  sonst  bei 
der  Aufnahme  in  die  Familie  üblich  ist,  so  bei  der  der  altindischen, 
altgriechischen  und  litauischen  Braut.  Gleich  Schrader  Reall.^  15  ist 
es  darum  auch  mir  zweifelhaft,  ob  die  Adoption  eine  urindogerma- 
nische Sitte   war,    zumal   da   keine   einheitliche  Terminologie   zu 


Sachliches  und  Sprachliches  zur  indogermanischen  Großfamilie.         231 

finden  ist.  Als  Gegengrund  lassen  sich  allerdings  nicht  die  andern 
Einrichtungen  zur  künstlichen  Schaffung  eines  Sohnes  anführen, 
da  in  manchen  Fällen  weder  Erbtochter  noch  Zeugungshelfer  oder 
Leviratsehe  den  gewünschten  Erfolg  haben  konnten ,  z.  B.  für 
einen  kranken,  verwitweten  und  kinderlosen  Mann. 

Anhang. 

Andreas  hat  sich  auf  meine  Bitte  von  iranischen  Grefangenen 
über  das  Familienleben  Angaben  machen  lassen,  die  ich  mit  seiner 
freundlichen  Erlaubnis  hier  zum  Abdruck  bringe. 

Ein  Ossete  aus  dem  Dorf  Snäg ,  das  von  der  Familie  der 
Gähoitä  bewohnt  wird  und  von  dem  Urgroßvater  des  Befragten 
gegründet  ist,  gibt  an,  daß  man  seine  Frau  aus  einem  andern  Dorfe 
zu  suchen  habe  und  daß  sich  eine  Witwe  nicht  in  dem  Dorfe 
(==  Greschlecht)  ihres  verstorbenen  Mannes  wieder  verheiraten  dürfe. 

Afghanen  vom  Stamme  der  Afndi  (gesprochen  Apridi)^  die 
nicht  unter  englischer  Herrschaft  stehen,  bekundeten,  daß  ihr  Volk 
häufig  in  Großfamilien  wohnt.  Eine  sohnlose  Witwe  ist  zur  Heirat 
mit  ihrem  Schwager  gezwungen,  auch  wenn  sie  nicht  will.  Daß 
der  Schwager  schon  vorher  verheiratet  ist,  kann  kein  Hinderungs- 
grund sein,  weil  die  Afndt  Muslims  sind.  Hat  die  Witwe  schon 
einen  Sohn,  so  braucht  sie  nicht  wieder  zu  heiraten.  Die  Erb- 
tochter wird  in  der  Familie  behalten  und  von  dem  nächsten  Ver- 
wandten —  einen  Bruder  hat  sie  ja  nicht  —  geheiratet.  Überhaupt 
heiraten  (durch  Kauf)  die  Afridis  vorwiegend  Mädchen  aus  ihrem 
Stamme ;  doch  werden  ihre  Töchter  auch  den  als  -nahe  verwandt 
angesehenen  Oruhzt,  spr.  Wringt  gegeben.  Die  Blutrache  spielt  unter 
denjenigen  Afghanen,  die  nicht  unter  englischer  Herrschaft  stehen, 
eine  große  EoUe.  Zwischen  Blutfeinden  kann  aber  ein  Waffen- 
stillstand, 'Stein'  hänae  genannt,  abgeschlossen  werden,  und  zwar 
durch  einen  vermittelnden  Stamm.  Wenn  der  Vertrag  nicht  ge- 
halten wird,  brennt  der  Vermittler  das  Dorf  des  Brechers  des 
Waffenstillstands  nieder.  Bei  einem  Ausgleich  wird  je  nach  Zahl 
der  Toten  und  Verwundeten  und  der  Art  der  Verwundung  eine 
Rechnung  aufgestellt;  da  gibt  es  dann  eine  regelrechte  Taxe,  der 
Ausdruck  für  dieses  'Wergeid'  ist  nä^a. 

Ein  Belutsch  {Balöc)  aus  Sörän  (auf  der  Karte  Sörän  genannt) 
von  dem  Stamme  Uind  bezeugt,  daß  in  seiner  Heimat  die  Groß- 
familie zwar  vorkommt,  aber  nicht  sehr  üblich  ist.  Hier  kennt 
man  die  Blutrache  nicht  mehr.  Die  Witwe  kann  wieder  heiraten, 
und  zwar,  wen  sie  will. 


232    Edu  ard  Hermann,  Sachliches  u.  Sprachliches  zur  indogerm.  Großfamilie. 

Zu  den  Ausführungen  oben  S.  217  fg.,  ist  nachzutragen,  daß 
zwei  verschiedene  Grründe  die  Exogamie  bei  der"  Erbtochterheirat  all- 
mählich aufgehoben  haben  mögen.  Da  die  Stellung  des  Einheiraters 
nirgends  für  besonders  ehrenvoll  gegolten  haben  wird,  es  aber 
darauf  ankam,  unbedingt  einen  männlichen  Nachkommen  für  die 
Darbringung  der  Totensakra  zu  schaffen,  wird  man  darauf  ver- 
fallen sein,  den  nächsten  Verwandten  väterlicherseits  zur  Heirat 
mit  der  Erbtochter  zu  zwingen.  In  älterer  Zeit  gesellte  sich  dazu 
als  zweiter  Q-rund  der  Vorteil  für  die  Gesamtfamilie,  daß  die  Erb- 
tochter nicht  erst  gekauft  zu  werden  brauchte,  in  jüngerer  Zeit 
die  Aussicht,  das  Erbe  der  Erbtochter  in  der  Familie  zu  behalten 
(vgl.  Plutarch  Solon  20  und  die  Bemerkungen  über  die  Afghanen 
im  Anhang). 

S.  217  hätte  ich  nicht  mit  solcher  Bestimmtheit  sagen  sollen, 
daß  nur  der  erste  Sohn  des  Erbtochtermanns  bei  deu  alten  Indern 
als  Sohn  seines  Grroßvaters  mütterlicherseits  angesehen  wurde,  da 
die  indischen  Quellen  nicht  von  dem  ältesten  Sohn  der  Erbtochter 
(jputriMputrä) ,  sondern  nur  von  ihrem  Sohn  im  Singular  sprechen. 
Jolly  hat  mir  über  diesen  Punkt  freundlichst  folgende  Auskunft 
gegeben :  Er  weist  darauf  hin ,  daß  die  neueren  Bearbeiter  des 
indischen  Eechts  verschiedener  Ansicht  sind.  Mayne  Hindu  Law 
and  Usage'  91  glaubt ,  daß  nur  der  erste  Sohn  dem  Grroßvater 
gehört,  dagegen  Ghose  Principles  of  Hindu  Law'^  98  will  ihm  alle 
Söhne  seines  Schwiegersohns  zueignen.  Für  den  ersten  Sohn  allein 
spricht  nach  Jolly  die  Bestimmung  bei  Manu  IX,  60,  daß  in  dem 
analogen  Fall  des  Jcsetrajuy  d.h.  des  Sohnes,  der  dem  sohnlos  ver- 
storbenen Gatten  von  seinem  Bruder  in  der  Leviratsehe  gezeugt 
wird,  ein  einziger  Sohn  aus  solcher  Verbindung  als  Sohn  des  ver- 
storbenen Ehegatten  seiner  Mutter  zu  gelten  hat.  Im  modernen 
Indien  beerben  allerdings  alle  Söhne  einer  Erbtochter  den  mütter- 
lichen Großvater,  s.  A  Manual  of  Malabar  Law  114  fg.  Im  allge- 
meinen hält  es  aber  Jolly  'für  wahrscheinlich,  daß  [im  alten  Indien] 
nur  der  älteste  Sohn  als  putriMpiitra  gilt ,  während  die  jüngeren 
als  die  Söhne  ihres  leiblichen  Vaters  betrachtet  werden'.  So  bleibt 
es  leider  immerhin  zweifelhaft,  wie  die  Dinge  im  alten  Indien  lagen. 


Livius  und  Horaz  über  die  Entwicklung  des  römischen 

Schauspiels. 

Von 

R,  Reitzenstein. 

Vorgelegt  in  der  Sitzung  vom  19.  Mai  1918. 

Leo  hat  in  einem  feinen  Aufsatz  über  'Varro  und  die  römische 
Satire'  (Hermes  XXIV  1889  S.  67 iF.)  das  berühmte  Kapitel,  in 
welchem  Livius  die  Greschichte  des  römischen  Dramas  berichtet 
(VII  2),  weil  es  von  Jahn  u.  a.  Varro  zugeschrieben  war,  mit  be- 
handelt und  einer  herben  Kritik  unterzogen:  seine  Angaben  sind 
sachlich  wertlos  und  nur  in  Nachahmung  griechischer  Theorie  er- 
funden. Den  Grundgedanken  nahm  Hendrickson,  The  Dramatic  Sa- 
iura  and  the  Old  Comedy  at  Borne  {American  Journal  of  Philology  XV 
1894  S.  liF.)  auf,  formulierte  ihn  noch  schärfer  i)  und  nahm  zu- 
gleich die  zweite  einschlägige  Stelle  der  älteren  lateinischen  Li- 
teratur hinzu,  die  Leo  nur  beiläufig  gestreift  hatte  ^),  Horaz  Ep. 
II  1, 145—160.  Sie  behandelt  nach  ihm  die  gleiche  Entwicklung 
und  stammt  aus  der  gleichen  Quelle,  daher  darf  man  die  einzelnen 
Wendungen  des  Livius  nach  ihr  deuten  und  z.  B.  hinter  der  von 
Livius  erwähnten  satura  die  alte  attische  Komödie  suchen,  die  auf 
Naevius  gewirkt  hat.  Die  Grleichsetzung  der  Satire  des  Lucilius 
mit  der  apy^xla  x(0[j.tpSta  hat  die  'abenteuerliche  Erfindung'  veran- 
laßt. In  einem  zweiten  Aufsatz  Ä  Fre-Van  onian  Chaptcr  of  Boman 
Literary  Bistory  {Americani  Journal  of  PhiloJogy  XIX  1898  S.  285  ff.) 
führte  Hendrickson  dann  einen  früher  von  ihm  flüchtig  hingewor- 


1)  Vgl.  S.  30  A.  1:  ^The  assumption  is  so  monstruosly  unhistorical^ . 

2)  Leo  a.a.O.  S.  81A.:  „Man  könnte  die  Sätze  (des  Horae.)  ohne  Mühe  der 
Darstellung  des  Livius  einfügen". 


234  "    R.  Reitzensteiu, 

fenen  Gredanken  naher  aus,  Horaz  v.  156—165  deute  auf  den  von 
Accius  gegebenen  falschen  Ansatz  des  Livius  Andronicus,  den  Varro 
später  berichtigt   hat.      Da   nun  Horaz    und  Livius    auf  eine   ge- 
meinsame Quelle  zurückgingen,    so  stamme  auch  Livius  VII  2  aus 
einer  vorvarronischen  Quelle,  vielleicht,  wie  Hendrickson  andeutet, 
aus  Accius  selbst.  Ein  letzter  Aufsatz  Satura  —  the  Genesis  of  a  Lite- 
rary  Form  (Classical  Fhüology  VI  1911  S.  129)  bringt   hierzu   nur 
noch  die  eine  Umgestaltung,   daß  aus  der  Greschichte  der  Bezeich- 
nung satura  für  das  literarische  fsvog   des  Hohngedichtes  nunmehr 
erschlossen  wird,  die  unmittelbare  Quelle  des  Livius  und  Horaz 
könne  nicht  wohl  vor  etwa  30  v.  Chr.   fallen.     Schon  vorher  war 
Leo  auf  die  ersten  beiden  Aufsätze  des  amerikanischen  Gelehrten 
in    einer   Erwiderung  'Livius    und    Horaz    über  die  Vorgeschichte 
des  römischen  Dramas'  (Hermes  XXXIX  1904  S.  63  ff.)  eingegangen 
und  hatte  Hendricksons  These,   daß  Horaz  und  Livius  die  gleiche 
Entwicklung  schilderten,  mit  einigen  Einschränkungen  übernommen  ^), 
gerade  hieraus  aber  gefolgert,    daß  die  starken  Unterschiede  zwi- 
schen ihnen  uns  zwängen,  die  Benutzung  verschiedener  Quellen 
anzunehmen;    der  Bericht  des  Horaz,  den  Leo  jetzt  auf  Vers  139 
bis  etwa  170  ausdehnte,   sei  vorvarronisch ,   der   des  Livius,   den 
man  wohl  ganz  dessen  annalistischer  Quelle  zuweisen  dürfe,  nicht- 
varronisch;    die   wörtlichen   Uebereinstimmungen,    die   Leo   früher 
selbst  nachdrücklich  hervorgehoben  hatte,    beruhten   nur   auf   der 
Verwendung  der  gleichen  griechischen  Methode  in  den  beiden  ver- 
schiedenen Quellen.    Die  an  diese  Aufsätze  schließende  Literatur  ^) 
zählt  am  vollständigsten  0.  Weinreich  in  einem  Aufsatz  'Zur  rö- 
mischen Satire'  (Hermes  LI  1916  S.  386  ff.)  auf  und  bringt  in  einem 
Punkte  der  Analyse  des  livianischen  Berichtes  einen  außerordent- 
lich dankenswerten  Fortschritt  über  Leo  hinaus,  bleibt  aber  freilich 
in  der  Hauptfrage  wohl  zu  sehr  in  dem  Bann  einer  communis  opinio, 
die  sich  unter  dem  Einfluß  eines  leicht  entschuldbaren  Irrtums  bei 
Leo   und   seiner  Vergrößerung   durch  Hendrickson   allmählich   ge- 
bildet  hat.     So   gibt    er    mir   den  Anlaß,    einen  Deutungsversuch 
vorzulegen,  den  ich  unter  dem  frischen  Eindruck  der  ersten  grund- 
legenden Arbeit  Leos  im  Winter  1889  in  Eo stock  meinen  Hörern 
vortrug.    Ich  habe  nur  Weinreichs  feine  Beobachtung  hinzugefügt 


1)  Die  frühere  Andeutung,  daß  er  das  Verhältnis  der  beiden  Berichte  anders 
fasse  (vgl.  oben  S.  1  A  2),  blieb  unberücksichtigt. 

2)  Den  Ehrenplatz  verdient  in  ihr  die  feine  und  eindringende  Kritik  B.  L. 
UUmans  Bramatic  ^Satura"  {Classical  Fhüology  IX  1913  S.  Iff.),  die  mir  für 
die  Deutung  des  livianischen  Berichtes  außerordentlich  ertragreich  scheint. 


Livius  und  Horaz  über  die  Entwicklung  des  römischen  {Schauspiels.      235 

und  die  Analyse  des  Livius  ein  wenig  weiter  ausgeführt.  Von 
dem  Wege  Weinreicbs  muß  sich  dabei  der  meine  sehr  bald  schon 
trennen;  denn  während  dieser  vor  allem  den  Namen  der  Quelle 
ermitteln  will,  möchte  ich  hauptsächlich  feststellen,  was  sie  eigent- 
lich lehrte.  Dazu  muß  ich  zunächst  untersuchen,  wie  Livius  bei 
der  offenbar  sehr  starken  Verkürzung  verfahren  ist.  Erst  dann 
läßt  sich  die  weitere  Frage  aufwerfen,  ob  sich  bei  Livius  oder  bei 
Horaz  die  Benutzung  einer  griechischen  Theorie  so  stark  geltend 
macht,  daß  sie  die  Verwendung  auch  guter  römischer  Tradition 
von  vornherein  ausschließt.  Daß  Leo  diese  Frage  voranstellte  und 
bejahte,  hat  ihn,  den  Meister  der  Interpretation,  offenbar  ver- 
hindert, zunächst  die  Quelle  selbst  zu  rekonstruieren,  und  Hen- 
drickson, der  in  der  "Wertung  des  Berichtes  ganz  von  Leo  abhängig 
ist,  läßt  in  seiner  Deutung  alle  Schärfe  und  Methode  vermissen. 
Paul  Lejay  endlich,  der  in  seiner  großen  Ausgabe  der  Satiren 
(1911)  p.  LXXXIIIff.  das  Problem  streift,  bleibt  in  der  Interpre- 
tation ganz  von  Hendrickson  abhängig,  während  er  die  Ergebnisse 
offenbar  „in  konservativem  Sinn"  umzugestalten  bemüht  ist.  Nicht 
auf  ein  derartiges  Ergebnis  kommt  es  mir  an  —  von  dem  Eifer  auf 
jeden  Fall  die  „Ueberlieferung"  zu  retten,  weiß  ich  mich  frei  — , 
wohl  aber  auf  die  Analyse  der  beiden  Berichte.  Leider  ist  es 
unvermeidlich  sie  selbst  noch  einmal  abzudrucken,  sogar  in  wei- 
terer Ausdehnung,  als  es  meist  geschieht,  damit  klar  wird,  wie 
weit  beidemal  eine  antiquarische  Quelle  überhaupt  reichen  kann. 
Ich  beginne  mit  dem  Berichte  des  Livius. 

VII  cap.  2 :  Et  hoc  et  insequenti  anno  C.  Sulpicio  Fetico  C.  Li- 
cinio  Stolone  consulibus  pestüentia  fuit.  (2)  eo  nihil  dkjnum  memoria 
act2im,  nisi  quod  pacis  deum  exposcendae  causa  tertio  tum  post  condi- 
tam  urhem  lectisternium  fuit.  (3)  et  cum  vis  morhi  nee  hwnanis  con- 
siliis  nee  ope  divina  levaretur ,  victis  superstitione  animis  ludi  quoque 
sceniei,  nova  res  hellicoso  popido  —  nam  circi  m,odo  spectaculum  fuerat  — , 
inter  alia  caelestis  irae  placamina  instituti  dicuntur,  (4)  ccterum  parva 
quoquej  ut  ferme  principia  omnia,  et  ea  ipsa  peregrina  res  fuit,  sine 
carmine  tdlo,  sine  iniitandorum  carminum  actu  ludiones ,.  ex  JEtruria 
acciti,  ad  tihicinis  modos  saltantes  hattd  indecoros  motiis  more  Tiisco 
dabant.  (5)  imitari  deinde  eos  iuventus  simiil  inconditis  inter  se  io- 
cidaria  fundentes   versihus   coepere;    nee   absoni   a   voce   motus  erant. 

(6)  accepta  itaque  res  saepiusque  usurpando  excitata.  vemaculis  artifi- 
dbus,    quia   ister    Tusco   verho    ludius  vocdbatiir,    nomen    histrionihus  inditum ; 

(7)  qui  non,  sicut  ante,  Fescennino  versu  similem  ijiconpositum  temere 
ac  rudern  alternis  iaciebant,  sed  inpJetas  modis  saturas  descripto  iam 
ad  tihicinem  cantu  motuque   congruenti  peragehant.     (8)   Livius  post 


236  ^-  Beitzenstein, 

aliquot  annis^  qui  ab  saturis  ausus  est  primus  argumento  fdbulam  se- 
rere^  idem  scüicet,  id  quod  omnes  tum  erant,  suorum  carminum  actor,  (9) 
dicitur,  cum  saepius  revocatus  vocem  ohtudisset,  venia  petita  puerum  ad  canen- 
dum  ante  tihicinem  cum  statuisset,  canticum  egisse  aliquanto  magis  vigente 
motu,  quia  nihil  vocis  usus  inpediehat.  (10)  inde  ad  manum  cantari  histii- 
onihus  coeptum  diverhiaque  tantum  ipsoi'um  voci  relicta.  (11)  postquam  lege 
hac  fabularum  ah  risu  ac  soltito  ioco  res  avocahatur  et  Indus  in  artem 
paulatim  verterat,  iuventus  histrionibus  fabellarum  actu  relicto  ipsa  inter 
se  more  antiquo  ridicula  intexta  versibus  lactitare  coepit;  quae  exodia 
postea  appellata  consertaque  fabelUs  potissimum  Atellanis  sunt.  (12) 
quod  genus  ludorum  ab  Oscis  acceptum  tenuit  iuventus^  nee  ah  histrionibus 
poUui  passa  est :  eo  institutum  manct,  ut  actores  Atellanarum  nee  tribu  mo- 
veantur  et  stipmdia,  tamquam  expertes  artis  ludicrae^  faciant.  (13)  inter 
aliarum  parva  principia  rerum  ludorum  quoqiie  prima  origo  ponenda 
Visa  est,  ut  appareret,  quam  ab  sano  initio  res  in  haue  vix  opulentis 
regnis  tolerahilem  insaniam  venerit, 

cap.  3.  Nee  tarnen  ludorum  primum  initium  procurandis  religi- 
onibus  datum  aut  religione  animos  aut  corpora  morbis  levavit ;  (2)  quin 
etiam,  cum  medios  forte  ludos  circus  Tiberi  superfuso  inrigatus  inpe- 
disset,  id  vero,  velut  aversis  iam  diis  aspcrnantibusque  placamina  irae, 
terrorem  ingentem  fecit.  (3)  itaque  G.  Genucio  L.  Äemilio  Mamerco 
iterum  consulibus,  cum  piaculorum  magis  conquisitio  animos  quam  Cor- 
pora morhi  adficerent,  repetitum-  ex  seniorum  memoria  dicitur,  pesti- 
lentiam  quondam  clavo  ab  dictatore  fixo  sedatam. 

Sehr  fein  hat  Weinreich  hier  gegen  Leo  (vgl.  oben  S.  234) 
auf  die  Wiederholung  bedeutungsvoller  Worte  an  Anfang  und 
Ende  des  Hauptberichtes  verwiesen  und  aus  ihr  geschlossen,  daß 
Livius  in  einen  annalistischen  Grundtext  eine  Einlage  aus  einer 
andern  Quelle  gemacht  hat.  Handgreiflich  ist  die  Absicht  bei  der 
Wiederholung  der  Eingangsworte  ceterum,  parva  quoque,  ut  ferme 
principia  omnia,  et  ea  ipsa  peregrina  res  fuit  im  Schluß  des  Ab-- 
schnittes  inter  aliarum  parva  principia  rerum  ludorum  ^)  quoque  prima 
origo  ponenda  visa  est  e.  q.  s.  Aber  in  Verbindung  mit  ihnen  mißt 
Weinreich  mit  Recht  auch  der  Wiederholung  der  Worte  inter  alia 
caelestis  irae  placamina  in  den  späteren  aversis  iam  diis  aspcrnanti- 
busque placamina  irae  (gerade  von  den  hidi  scaenici  gesagt)  eine  ge- 
wisse  Bedeutung   bei  2).      Es    ist    für    den,    der   die   Technik   der 


1)  Das  Beiwort  scaenicorum  ist  weggelassen,  weil  es  sich  nach  §  3  von  selbst 
versteht,  nicht  weil  die  Quelle  nur  die  Bühnenspiele  behandelte. 

2)  Auch  die  Worte  victis  superstitione  animis  ludi  quoque  scaenici,  nova  res 
belUcoso  populo  werden  in  ludorum  primum  initium  procurandis  religionibus  datum 


Livius  und  Horaz  über  die  Entwicklung  des  römischen  Schauspiels.      237 

Wiederholungen  nach  Digressionen  und  Einlagen  etwas  verfolgt 
hat,  durchaus  sicher :  was  zwischen  2, 4  und  2, 13  steht,  entstammt 
einer  anderen  Quelle ;  ich  nenne  sie  die  antiquarische.  Wir  können 
den  Inhalt  der  annalistischen  und  den  Anfang  der  antiquarischen 
Quelle  vermutungsweise  noch  etwas  genauer  festlegen.  Festus 
p.  326, 26  M.  gibt  unter  lauter  Glossen,  die  mit  den  Buchstaben 
SAL  beginnen,  auch  die  Grlosse^)  [Saltici  qui  n]unc  ludi,    scenicos 

[olim  dicebant.  qii6]s  primum  fecisse  C [fi^lium  M.  Popilium 

M.  [ßlium  curides  a]ediles  memoriae  [nostrae  prodiderunt]   historici 

solehant  [enim  ludiones  saltare  hi\  o[rc\hestra^  dum [fa\- 

hidae  conponerent[ur,  cum  gestihus  non  oh]scaenis.  Da  M.  Popilius 
359  Consul  ist,  also  364  sehr  wohl  Aedil  sein  konnte,  liegt  offenbar 
derselbe  annalistische  Bericht  zugrunde,  der  sowohl  die  Jahresbe- 
amten wie  die  Spielleiter  nannte  und  außerdem  eine  andeutende 
Beschreibung  gegeben  haben  muß,  die  den  Worten  des  Livius  sine 
carmine  nllo  entsprach,  sonst  konnte  der  Lexikograph  sich  nicht 
die  für  ihn  moderne  Bezeichnung  saltici  ludi  (vgl.  salticae  fabulae 
in  der  vita  Lncani)  für  diese  scenici  ludi  bilden;  wir  haben  ein  ge- 
wisses Recht,  aus  den  Worten  des  Livius  haud  indecoros  motus  die 
Schlußworte  der  Glosse  zu  ergänzen^).  Dagegen  gehört  die  Erklä- 
rung des  Wortes  histrio  kaum  in  die  annalistische  Quelle;  denn 
Cluvius  Rufus  (bei  Plutarch  AXzia  TtojjLal'Ttd  107)  benutzt  diese 
ebenfalls^),  bietet  aber  eine  etwas  andere  Erklärung  des  Wortes. 
Erst  von  §  5  (imitari  deinde  eos)  ist  bei  Livius  die  antiquarische 
Quelle  allein  benutzt. 

Diese  Quelle,   die  nunmehr  einzig  für  uns   Wichtigkeit  hat, 


wieder  aufgenommen.  Das  Mittel,  durch  derartige  Wiederholungen  die  Rückkehr 
zu  einer  Haupterzählung  oder  Hauptquelle  deutlich  zu  machen,  bietet  sich  jedem 
auch  'kunstlosen  Erzähler  von  selbst,  hat  aber  bei  bestimmten  Historikern  wie 
z.  B.  Polybios  offenbar  bewußte  Ausgestaltung  gefunden  und  läßt  sich  bei  ihm 
jetzt  mit  Laqueurs  Buch,  in  dem  es  freilich  mißverstanden  ist,  am  leichtesten  ver- 
folgen. Daß  wir  die  planmäßige  Wiederholung  nicht  etwa  der  annalistischen  Quelle 
des  Livius  zuweisen  dürfen,  wird  die  Analyse  der  Fortsetzung  zeigen,  die  darzutun 
hat,  wie  stark  Livius  hier  kürzt  und  die  Anordnung  der  ihm  vorliegenden  Quelle 
umgestaltet.  Uebrigens  zeigt  auch  das  folgende  Kapitel  (VII  3)  deutlich  die  Ver- 
bindung einer  annalistischen  mit  einer  antiquarischen  Quelle. 

1)  Ich  benutze  eine  eigene  Collation  des  Farnesinus  aus  dem  Jahre  1885. 
Die  Ergänzungen  Müllers  nach  der  Glosse  Orchestra  sind  ganz  unsicher.  Die 
Glosse  Salva  res  est,  die  danach  folgt,  ist  in  der  Handschrift  selbst  deutlich  als 
neuer  Artikel  abgehoben, 

2)  Wohl  im  Gegensatz  zu  dem  talarius  ludus,  der  von  Anfang  an  ausge- 
lassen war  (Cicero  De  off.  I  150). 

3)  Er  nennt  dieselben  Consuln. 


2^8  ^-  Reitzensteiö, 

betrachtete  m.  E.  die  Einführung  der  Tanzspiele  nicht  als  den 
Ausgangspunkt,  sondern  nur  als  den  "Wendepunkt  einet  Entwick- 
lung, die  sich  gar  nicht  auf  die  lucli  scaenici  in  dem  römischen 
Jahresfest  beschränkte.  Sie  mußte  notwendig  vor  der  Einfüh- 
rung der  Tanzspiele  den  älteren  Brauch  freier  Spottgesänge 
schildern,  da  ihr  ja  darauf  ankam,  nachzuweisen,  daß  diese  G-e- 
sänge  durch  das  Hinzutreten  des  Tanzes  eine  entscheidende  Aen- 
derung  erfahren  haben.  Man  kann  das  in  dem  Text  sogar  noch 
herausfühlen.  Die  Worte  qui  non  sicut  ante  Fescennino  versu 
similem  inconipositum  temere  ac  rudern  alternis  iaciehant  befremden  in 
ihrem  Anschluß  an  die  Erklärung  des  Wortes  histrio;  sie 
wiederholen  ferner  nur,  was  vorher  schon  mit  den  Worten  incon- 
ditis  ivter  se  iocularia  fundentes  versihus  gesagt  war,  und  geben  hier 
Erläuterungen,  die  wir  eigentlich  vorher  erwarten  durften:  es 
waren  nicht  mehr  eigentliche  Fescennini,  wohl  aber  etwas  den 
Fescennini  noch  immer  Aehnliches.  Der  Begriff  wird  durchaus  als 
bekannt  vorausgesetzt,  wie  wir  später  sehen  werden,  wahrschein- 
lich sogar  in  einem  Sinne,  der  durchaus  nicht  der  allgemeinen 
Auffassung  entsprach.  Zunächst  scheint  mir  sicher,  daß  die  Er- 
klärung des  Wortes  histriones  ungeschickt  eingefügt  ist  ^).  Die 
Schilderung  mußte  ursprünglich  sich  fortsetzen:  vernacuU  deinde 
artifices  non  sicut  ante  e.  q.  s.  Die  Hervorhebung  des  zeitlichen 
Abstandes  dieser  Entwicklungsphase,  die  ich  durch  Einfügung  des 
Wörtchens  deinde  angedeutet  habe,  mußte  unterbleiben,  als  die 
Namens erklärung  eingeschoben  wurde;  Livius  bringt  sie  —  so 
könnte  man  vielleicht  sagen  —  aus  diesem  Grunde  in  den  fol- 
genden Worten  non  sicut  ante  nach.  Allein  gerade  durch  diese 
Worte  entsteht  eine  schwere  Unklarheit.  Beziehen  sie  sich  'auf 
jene   ersten  Nachahmungen   der   hiventus^,    so  ist  zunächst  nicht 

1)  Siehe  hierzu  auch  Uilman  Classical  Fhüdlogy  IX  6. 

2)  So  Lejay  und  Hendrickson  {Am.  Journ.  of  Philol.  XIV  8).  Sie  nehmen 
dabei  an,  daß  die  iuventus  erst  nach  364  zu  singen  begonnen  hat..  Das  ist  auch 
sachlich  unwahrscheinlich;  das  Singen  der  Necklieder  beim  Triumph  —  und  also 
auch  bei  der  pompa  —  ist  nicht  durch  die  Einführung  des  ernsten  Tanzes  zu 
erklären  und  gilt  offenbar  als  sehr  alt.  Ganz  andere  Erklärungen  dafür  hätten 
sich  ohne  weiteres  geboten  und  scheinen  nach  den  Worten  Fescennino  versu  si- 
milem auch  wirklich  in  der  Quelle  vorgebracht  zu  sein.  Betrachtete  sie  die  Verse 
als  schon  gegeben,  den  gleichzeitigen  Tanz  zur  Flötenbegleitung  als  neu  hinzuge- 
kommen, so  ist  der  Ausgangspunkt  dieser  Konstruktion  klar :  in  der  pompa  ziehen 
wirklich  nach  Dionys  von  Halikarnass  VII  72  nach  dem  Chor  der  Waffentänzer 
die  lustigen  Personen  in  ähnlichem  Chor  und  ahmen  ihn  parodierend  nach  (vgl. 
unten  S.  248).  Aehnliches  wird  hier  berichtet ;  denn  natürlich  nehmen  die  Worte 
nee  absoni  a  voce  motus  erant  ihre  Bedeutung  zugleich  aus  den  vorausgehenden 
4nter  se  iocularia  fundentes. 


I 


Livius  und  Horaz  über  die  Entwicklung  des  römischen  Schauspie  m       239 

abzusehen,  warum  Livius  in  dem  knappen  Bericht  deren  Beschrei- 
bung jetzt  wiederholt  und  in  beträchtlicher  Verstärkung  wieder- 
holt; ja  der  Zusatz  Fescennino  versu  similem  wird  geradezu  unbe- 
greiflich. Aber  noch  unbegreiflicher  wird  bei  dieser  Annahme  das 
Verhältnis  der  vernactdi  artifices,  d.h.  dann  also  der  hlstriones,  zu 
der  iuventus,  also  den  Dilettanten.  Hendrickson,  der  gegen  Jahn 
u.  a.  schon  die  saturae  den  hlstriones  zuweist,  hebt  hervor,  die  iu- 
ventus beginne  ihr  Spiel  erst  wieder  nach  Einlührung  der  fahulae 
des  Andronicus.  Hierbei  bleibt  ebenso  unerklärt,  woher  die  ver- 
naciili  artifices  denn  kommen,  wenn  nicht  aus  den  Reihen  der  Iu- 
ventus —  Livius  setzt  doch  offenbar  voraus,  daß  sie  das  Spiel  der 
iuventus  fortiuhTGn]  nur  unter  dieser  Voraussetzung  hat  der  kurze 
Bericht  überhaupt  noch  einen  Sinn  —  wie  andrerseits  die  Worte 
§11.  postquam  lege  hac  fabularum  ab  risu  ac  soluto  ioco  res  avocahaiur 
et  Indus  in  artem  paulatim  verterat,  iuventus  histrionihus  fabellariim 
actit  relicto  unverständlich  bleiben.  Nicht  einmal  der  Ausweg  hilft, 
lege  hac  fabularum  auf  zwei  Arten  der  fabula,  die  satura  und  die 
fabula  im  eigentlichen  Sinne,  zu  beziehen;  von  der  später  zu  er- 
örternden lexikalischen  Schwierigkeit  abgesehen,  würden  wir,  da 
jene  beiden  Arten  ganz  verschiedene  ^Gesetze'  haben,  dann  min- 
destens den  Plural  erwarten  müssen;  lege  hac  fabularum  kann  nur 
heißen :  durch  diese  Norm,  fabulae  (mit  festem  Argument)  zu  bieten. 
Das  wird  auch  in  dem  folgenden  Paragraphen  (12)  durch  die  auf  die 
Zeit  nach  Einführung  des  eigentlichen  Dramas  bezüglichen  Worte 
gesichert :  qnod  genus  ludorum . . .  tenuit  iuventus  nee  ab  histrionihus 
pollui  passa  est.  Erst  das  eigentliche  Drama  bringt  eine  strenge 
Scheidung  der  histriones  und  der  iuventus]  bis  dahin  sind  es  im 
wesentlichen  l^sXovcai  mit  mehr  oder  weniger  Schulung.  Die  Un- 
klarheit ist  in  Wahrheit  nur  durch  die  Einlage  der  Etymologie  des 
Wortes  histrio  entstanden,  das  Livius  hernach  im  Sinne  der  späteren 
Zeit  (Acteur  einer  fremden  Dichtung)  gebraucht.  Daß  sie  die  Einlage, 
die  freilich  aus  der  gleichen  Hauptquelle  stammen  wird,  nicht  erkann- 
ten, hat  die  neueren  Erklärer  (außer  Ullman)  irre  geführt.  Die  ver- 
naculi  artifices  sind  zunächst  noch  kein  fester  Stand.  Bedeutet  doch 
artifex  nach  dem  Sprachgebrauch  aller  Zeiten  nur  denjenigen,  der  bei 
den  ludi  mit  irgend  einer  Darbietung  auftritt  (vgl.  für  die  ältere  Zeit 
Plautus  Amphitr.  69, 70,  Foen.  37)  und  Livius  hat  das  Wort  V  1,  5 
daher  mit  Recht  eben  von  jenen  etruskischen  Tänzern  schon  ge- 
braucht. Jene  römische  Jugend,  welche  den  etruskischen  Tanz- 
brauch nachahmt  und  mit  dem  Gesang  improvisierter  Scherzlieder 
verbindet,  ist  selbst  als  vernactdi  artifices  bezeichnet,  mag  auch  der 
Gedanke  an  eine   gewisse  Uebung  und  Schulung  der  öfter  auftre- 


240  ^'  Beitzenstein, 

tenden  Personen  (vgl.   res  saepius  usurpando^  excitata)  dabei    schon 
mitwirken.     Dann  aber  können  die  Worte  non^  sicut  ante,   Fescen- 
nino   versii  similem  incompositum   temere  ac   rudern  alternis   iaciehant 
nicht  eine  bloße  Wiederholung  der  früheren  inconditis   inter  se  io- 
cularia  fundentes  versibus  bieten ;  notwendig  müssen  die  Worte  sicut 
ante  sich  auf  die  Zeit  vor  364 ,    nicht  nach  364  beziehen.      Livius 
konnte  diese  Zeit  nicht  besonders    berücksichtigen;    nur   in    einer 
Art  Einlage  verweist  er  auf  sie.    Die  Annahme,  daß  die  antiqua- 
rische Quelle    ihre   Darstellung    ebenfalls  mit    dem  Jahr  364    be- 
gonnen haben  müsse,  hat  keinerlei  innere  Berechtigung  und  schafft 
nur  Schwierigkeiten.    Greben  wir  sie  auf,  so  ist  der  Grundgedanke 
klar.     Völlig   frei  improvisierte   und   kunstlose  Neckverse    lassen 
sich  mit  den  einer  bestimmten  Melodie  angepaßten  und  einer  festen 
Entwicklung  unterworfenen  Tanzbewegungen  in  der  Tat  nicht  ver- 
einigen ;  eine  Umgestaltung  mußte  eintreten  ^).     In  der  Quelle  des 
Livius  war  die  Entwicklung  also  folgendermaßen  gezeichnet:    den 
Brauch,  kunstlose  Spottverse  zu  singen,  hatte  die  römische  Jugend 
von  sehr  früher  Zeit  her  und  übte  ihn  auch   bei   der  pompa    oder 
den  Spielen.     Als  nun  aus   Etrurien   das    stumme  Tanzspiel   zur 
Flötenbegleitung   auf  einer  Bretterbühne  eingeführt  war^),   ahmte 
sie  es  nach,  indem  sie  es  zu  gleicher  Zeit  mit  dem  eignen  Brauch 
der  Necklieder  verband.     Diese  Neubildung   wurde  allmählig  ein 
Teil  der  offiziellen  Feier,    auch  auf  der  Bühne.     Es   bildete    sich 
bei  den  dadurch  gesteigerten  Anforderungen  an  den  Sänger   eine 
Art  Stand   einheimischer  gewohnheitsmäßiger  Bühnenkünstler,   in 
dem  die  weitere  Ausgestaltung  sich  vollzog;   so    wurden   aus   den 
ursprünglich  rohen  und  improvisierten  Wechselgesängen   allmählig 
impletae  modis  saturae]  aus  der  zunächst  von  selbst  sich  ergebenden 
ßesponsion   von  Gesang  und  Tanz    (nee  ahsoni   a  voce  motus  erant) 
wurde  jetzt  die  planmäßige  Komposition  und  schriftliche  Fixierung 
(descripto  iam  ad  tihicinem  cantu  motuque  eongrucnti  peragehant).    Die 
letzte   Fortbildung   bringt   diesem  Spiel,   bei   welchem   der   Text 
schon  künstlerische  Bedeutung  gewinnen  (zum  eigentlichen  Carmen 
werden)  konnte,   Andronicus   durch   die  zusammenhängende  Hand- 
lung, die  zugleich  auch  gesprochene  Partien  notwendig  macht.    Die 
technischen  Anforderungen  an  die  schauspielerische  Kunst  wachsen 


1)  Auch  das  Schnadahüpfl  hat  nur  deshalb  die  Freiheit  in  der  Wahl  der 
Strophe  und  des  Verses,  weil  der  Sänger  sich  selbst  auf  der  Zither  begleitet  oder 
ohne  jede  musikalische  Begleitung  eine  bekannte  kurze  Weise  nachahmt.  Sobald 
die  Musik  unabhängig  wird,  verlangt  schon  sie  eine  künstlichere  Ausgestaltung 
des  gesungenen  Textes. 

2)  Der  Tanz  verlangt  die  Bretterbühne ;  so  geht  von  ihr  die  Entwicklung  aus, 


Livius  und  Horaz  über  die  Entwicklung  des  römischen  Schauspiels.      241 

dadurch  noch  mehr,  und  zugleich  wird  die  Mehrzahl  der  Darsteller 
Werkzeug  des  Einen,  der  den  einheitlichen  Text  schreibt.  So  löst 
sich  jetzt  ein  wirklich  geschlossener  Stand  der  Schauspieler,  histri- 
ones,  von  der  iuventus,  den  Dilettanten,  ab ;  letztere  sinken  zu  der 
alten,  kunstloseren  Form  zurück  *).  Den  histriones  bleibt  das  eigent- 
liche Drama,  das  jetzt  auch  dem  in  diesen  Darbietungen  früher 
ganz  ausgeschlossenen  Ernst  (der  Tragödie)  zugänglich  ist.  Den 
äußeren  Anhalt  dafür,  die  Begründung  eines  festen  Schauspieler- 
standes erst  unter  Andronicus  anzusetzen,  mochte  dem  Grrammatiker, 
auf  welchen  diese  ganze  Konstruktion  zurückgeht,  die  Tatsache 
bieten,  daß  erst  in  der  letzten  Zeit  des  Andronicus  das  coUegium 
scriharum  et  histrionum  begründet  worden  ist.  Die  Bezeichnung 
zeigt,  daß  die  schriftliche  Aufzeichnung  der  Zeit  als  etwas  Wich- 
tiges und  Neues  galt.  Zur  Gilde  gehören  außer  den  scribae  nur 
noch  die  histriones  (das  Wort  ist  jetzt  auf  die  an  den  Text  ge- 
bundenen Darsteller  des  literarischen  Dramas  beschränkt). 

Das  Fortleben  des  alten  Brauches,  den  die  Dilettanten  wieder 
aufnehmen,  findet  der  Autor  dann  in  den  Liedern,  die  man  später 
mit  dem  griechischen  Kunstnamen  exodia  bezeichnet  habe^);  sie 
haben  sich  besonders  in  der  Atellane  erhalten.  Die  Deutung  der 
Worte  consertaqiie  fabellis  potissimum  Atellanis  sunt  ist  strittig.  Na- 
türlich können  sie  an  sich,  wie  Leo  ^)  will,  bedeuten ;  'sie  sind  be- 
sonders den  Atellanen  angefügt  worden'  (vgl.  Ovid  Am.  III  6, 10 
nocti  conseruisse  diem).  Nur  ist  der  Ausdruck  dann  etwas  unge- 
wöhnlich; die  Wahl  des  Wortes  conserere  scheint  mir  eher  davon 
beeinflußt,  daß  Livius  soeben  argumento  fahulam  serere  für  die  ge- 
ordnete Zusammenfügung  der  Handlung  gesagt  hat;  das  Wort 
conserere  wird  gern  von  der  Zusammenreihung  der  Bestandteile 
eines  Granzen  gebraucht*),  vgl.  Seneca  Quaest.  wa^.  II30  nubem . , » 
tarn  arida  quam  humida  conserunt^  Quintilian  V  10,  71  ut  sunt  autem 
tria  tempora,  ita  ordo  rerum  tribus  momentis  consertus  est;  Jwbent 
enim  omnia  initiuni,  incrementum,  summtim,  Seneca  Ep.  90, 16  plumae 

1)  inter  se  more  antiquo  ridicula  intexta  versibus  iactitare.  Es  ist  klar, 
warum  bei  dieser  zweiten  Wiederholung  nur  noch  die  poetische  Grundform,  nicht 
mehr  die  Rohheit  der  Ausführung  betont  wird. 

2)  Das  späte  Vorkommen  der  technischen  Bezeichnung  in  Rom  darf  also 
nicht  gegen  die  Glaubwürdigkeit  der  Quelle  geltend  gemacht 'werden  (Leo,  Hermes 
XXIV  79). 

3)  Hermes  XXXI^  68  A.  2. 

4)  Auf  den  engen  Zusammenhang  wird  dabßi  der  Ton  gelegt,  vgl.  Seneca 
Dial  VHI  6,  2  misceri  inter  se  et  cwiseri  dehent,  Epist.  90,  3  viHutes  consertae  inter 
se  et  cohaerentes,  Cicero  De  fato  31  conserte  contexteque.  Die  Stellen  danke  ich 
dem  Thesaurus. 

Kgl.  Oes,  d.  Wiss.    Nachrichten.    Phil,-hist.  Klasse.    1918.    Heft  2.  1^ 


242  R«  Reitzensteinj 

in  usum  vestis  conseruntur,  Lucan  III  512  sed  rudis  ei  qualis  pro- 
cumhit  montibiis  arhor  conseritur,  stabilis  navdlibus  area  hellis,  Culex  397 
quem  circum  lapidem  levi  de  marmore  formans  conserit.  Ich  halte 
demnach  die  Deutung  von  ridicula  carmina  conserta  Atellanis  'Scherz- 
lieder, die  in  Atellanen  (durch  die  Atellanen,  daher  zu  Atellanen) 
mit  einander  verbunden  sind'  für  sprachlich  durchaus  einwandfrei. 
Im  Sinne  scheint  sie  mir  sogar  noch  besser;  der  Ausdruck  würde 
zugleich  den  früheren  Worten  impletas  nibdis  saturas  einigermaßen 
entsprechen. 

Livius  leitet  sich  mit  diesen  Worten  zu  der  Erwähnung  einer 
andern  Art  von  ludi  über,  die  seit  ihrer  ersten  Uebernahme  von 
den  Oskern  den  Dilettanten  verblieben  und  überhaupt  niemals  den 
histriones  verfallen  ist^).  Deutet  man  die  Worte  tenuit  inventus 
streng,  so  muß  die  Uebernahme  nach  der  Ansicht  des  Grammatikers 
vor  die  eigentliche  Begründung  eines  Schauspielerstandes  gefallen 
sein.  Daß  dies  tatsächlich  einer  grammatischen  Tradition  ent- 
spricht, zeigt  bekanntlich  Festus  217  M.  Personata  fahula.  Alte 
Erklärer  nahmen  an,  daß  das  so  betitelte  Stück  des  Naevius  aus 
Mangel  an  histriones  von  Ätellani,  also  von  personati,  wie  die  Neben- 
bezeichnung der  Atellanendarsteller  laute,  aufgeführt  worden  sei. 
Es  fragt  sich  danach  nur,  ob  die  Quelle  des  Livius  nicht  jene 
Uebernahme  des  oskischen  Spiels  sogar  schon  vor  dem  Jahr  364 
erwähnt  hat;  sie  hätte  sie  ja  sonst  in  der  Darstellung  der  Ent- 
wicklung mit  berücksichtigen  müssen^). 

Auch  in  diesem  Teil  hat  Livius  in  die  kurze  Skizze  der  Haupt- 
entwicklung recht  ungeschickt  eine  Einlage  aus  späteren  Ausfüh- 
rungen über  die  Aufführungsart  des  eigentlichen  Dramas  gemacht ; 
die  Worte  idem  scilicet  quod  omnes  tum  erant  suorum  carminum  actor 
....  diverhiaque  tantum  ipsorum  voci  relicta  zerreißen  allen  Zu- 
sammenhang. Livius  zeigt  in  dem  Anfang  des  nächsten  Satzes 
postquam  lege  hac  fahularum  ja  selbst,  daß  er  unter  der  lex  operis 
der  fahula  nur  den  einheitlichen  Inhalt,  bzw.  den  Zusammenhang 
der  Handlung,   meint.     Er  knüpft  also  an  den  Relativsatz  qid 

1)  Die  Worte  nee  ab  histrionibus  poUui  passa  est  (Gegensatz  zu  histrionibus 
fabellarum  actu  relicto)  erhalten  volle  Bedeutung  erst,  wenn  der  Grammatiker  die 
künstlerische  Ausgestaltung  der  Atellane  im  ersten  Jahrhundert  v.  Chr.  schon 
kennt.  Auch  ihre  Darsteller  büden  ja  auch  nach  ihm  einen  Stand  und  üben  ihre 
Kunst  berufsmäßig  (daher  Atellanarum  histrio  abusiv  Sueton  Nero  39) ;  der  Unter- 
schied zwischen  ihnen  und  den  histriones  ist  nur  historisch  zu  erklären.  Auf  die 
Zeit  des  Accius  weist  bei  Livius  schlechthin  nichts. 

2)  Daß  die  Uebernahme  früher  erwähnt  war,  geht  aus  tenuit  hervor ;  die 
Worte  ab  Oscis  acceptum  sind  von  Livius  ebenso  aus  den  früheren  Ausführungen 
entnommen  wie  in  §  7  Fescennino  versu  similem  e.  g.  s. 


Livius  und  Horaz  über  die  ßatwicklung  des  römischen  Schauspiels.      240 

ah  saturls  ausus  est  ar giimento  fahulam  severe  und  erläutert  ihn 
zugleich  :  durch  das  argumentum,  die  einheitliche  komplizierte  Hand- 
lung, wird,  was  vorher  nur  satura  war,  zur  fahula,  zur  Erzählung  ^). 
Gerade  der  Hauptsatz  bleibt  in  der  Fortsetzung  ganz  unbe- 
rücksichtigt; er  bietet  nur  eine  nebensächliche  Angabe,  die  uns 
ahnen  läßt,  wie  reich  an  antiquarischem  Detail  seine  Quelle  war^). 
Etwas  geschickter  ist  die  letzte  derartige  Digression  eingelegt  eo 
Institut  am  manet  .  .  tamquam  expertes  artis  ludicrae  faciant.  Ist  sie 
doch  durch  die  Wahl  des  Verbums  pollui  wenigstens  vorbereitet ; 
aber  die  Verkürzung  zeigt  sich  auch  hier.  Die  Quelle  muß  An- 
gaben geboten  haben,  daß  die  histriones,  die  sich  doch  ursprünglich 
aus  der  iuventus  rekrutiert  hatten,  nach  ihrer  Loslösung  als  Stand 
völlig  der  Mißachtung  verfielen  und  gegen  sie  jene  Bestimmungen 
erlassen  wurden,  von  denen  der  Atellanenspieler  nicht  betroffen 
wurde.  Die  drei  Digressionen  zeigen  am  besten  den  Charakter 
der  Quelle,  die  offenbar  weniger  eine  Geschichte  der  dramatischen 
Dichtung  in  Rom ^)  als  eine  Geschichte  der  ars  ludicra  oder  des 
Schauspielerstandes  geben  wollte.  So  kann  ich  es  nicht  so  be- 
fremdlich finden,  daß  Livius  gar  nicht  erwähnt,  daß  die  eigent- 
lichen Dramen  Uebersetzungen  aus  dem  Griechischen  sind,  oder 
mit  Leo  vermuten,  daß  er  diese  Tatsache  habe  verschleiern  wollen*). 
Er  durfte  derartig  elementare  Kenntnisse  bei  seinen  Lesern  wohl 
voraussetzen.  Ebensowenig  dürfen  wir  die  unbestimmte  Angabe 
post  aliquot  annis  irgendwie  beanstanden  und  aus  der  Absicht, 
Widersprüche  über  die  erste  Aufführung  des  Andronicus  zu  ver- 
hüllen, erklären.  Die  Zeitangabe  rechnet  nicht  von  der  Einfüh- 
rung scenischer  Spiele  im  Jahre  364  —  dann  wäre  sie,  gleichviel  ob 
sie  sich  auf  das  Jahr  240  oder  197  beziehen  sollte,  in  jedem  Falle 
abgeschmackt  — ,  sondern  von  der  Verfeinerung  der  inconditi  versus 
zur  satura   modis   impleta.      Sie  ließ   sich   zeitlich  natürlich   nicht 


1)  Damit  verlieren  oisus  et  solutus  locus  ihre  ausschließliche  Bedeutung  und 
die  Schauspielerkunst  muß  sich  nun  weiter  entwickeln,  die  dilettantische  Jugend 
sich  also  von  diesen  Darbietungen  zurückziehen.  Voraussetzung  ist  immer,  daß 
der  freie,  selbständige  Scherz  der  iuventus  vorher  nachdrücklich  zugesprochen  ist. 

2)  Das  schriftstellerische  Verfahren  ist  ähnlich  wie  bei  der  ersten  Einlage. 
Eine  lange  Darlegung  will  Livius  in  einer  möglichst  kurzen  Inhaltsübersicht  zu- 
sammenfassen, flicht  aber  dennoch  ein  paar  Einzelheiten,  die  aus  antiquarischem 
oder  sprachgeschichtlichem  Grunde  sein  Interesse  besonders  gefesselt  haben,  in 
vollerer  Form  ein.  Solche  Einlagen  lassen  sich,  wie  wohl  jeder  von  uns  schon 
selbst  erfahren  hat,  nicht  immer  leicht  in  den  Zusammenhang  der  stärker  abge- 
kürzten Darstellung  einfügen ;  wir  verwenden  dann  den  Notbehelf  der  Anmerkung. 

3)  So  Leo  Hermes  XXXIX  65. 

4)  Hermes  XXXIX  69. 

16* 


244  ^'  Reitzensteih, 

datieren ;  der  Schriftsteller  will  nur  ausdrücken ,  daß  diese  neue 
Art  geraume  Zeit  bestanden  hat,  bis  die  nächste  Verfeinerung  ein- 
setzte, und  tut  dies  in  durchaus  passender  Weise. 

Die  folgenden  Worte,  die  für  den  Wert  des  ganzen  Berichtes 
und  für  die  Arbeitsweise  des  Historikers  Livius  entscheidende  Be- 
deutung haben,  gilt  es  genauer  zu  prüfen:  Livius qui  ab 

saturis  ausus  est  primus  argumento  fabulam  serer e^  idem  scilicet,  id 
quod  omnes  tum  erant ,  suorum  carminum  actor.  Leo  ^)  meinte  in 
ihnen  die  Tendenz  des  ganzen  Berichtes  und  zugleich  die  Unglaub- 
würdigkeit  der  Angaben  nachweisen  zu  können  und  verglich  zu- 
nächst die  ersten  Worte  mit  der  Angabe  des  Aristoteles  Foet.  5 
xm  ^k  'A'O-TfjvYjGiv  KpdTYjc  7:p(öTog  "^plev  b.^i^y.z'^oq,  x-^c  ia(xßt/.'^c  ISsac 
Tca-ö-öXoD  7C0LSLV  XoYOuc  %ai  [iü^oo?.  Die  Uebereinstimmung  schien  ihm 
so  stark,  daß  er  den  Worten  ab  saturis  die  Deutung  a<ps[i.£Vo<;  zriz 
oaTopix-^^  IS^ac  glaubte  unterlegen  zu  dürfen.  Hendrickson,  der 
dies  aufnahm,  redete  geradezu  von  einer  wörtlichen  Uebersetzung 
und  fand  danach  die  satura  in  den  Worten  des  Horaz  iam  saevus 
apertam  in  rabiem  coepit  verti  iocus  charakterisiert.  An  ihn  wieder 
schloß  Lejay  sich  an,  der  in  seltsamer  Inkonsequenz  zwar  die  fun- 
damentalen Unterschiede  zwischen  den  sachlichen  Angaben  des 
Livius  und  Aristoteles  hervorhebt,  dennoch  aber  ruhig  wiederholt, 
Livius  habe  den  Satz  aus  Aristoteles  übernommen.  Ich  betone 
demgegenüber  zunächst :  ab  saturis  kann  nur  heißen  'ausgehend  von 
den  saturae,  nach  den  sattirae\  Daß  diese  saturae  irgend  et  wag 
mit  der  lajj.ßiXY]  ISda  zu  tun  haben,  läßt  sich  aus  dem  Bericht  des 
Livius  zunächst  nicht  entnehmen.  Ferner :  Aristoteles  meint,  Krates 
habe  den  Charakter  des  persönlichen  Hohnes  aufgegeben  und  den 
E>eden  wie  der  Erfindung  ([lö-ö-oc)  eine  allgemeine  Richtung  und 
Beziehung  gegeben;  er  ist  darin  der  Vorläufer  der  vsa  x(0[jL(pSia 
geworden.  Die  lateinischen  Worte  besagen  dagegen  nur:  Andro- 
nicus  hat  eine  Zeit  lang  saturae  gedichtet,  dann  aber  durch  eine 
einheitliche  Handlung,  die  in  ihrem  Verlauf  ordnungsmäßig  dar- 
gestellt wird,  etwas  hergestellt,  was  man  fabida  (Erzählung)  nennen 
kann^).  Tatsächlich  zeigt  die  Geschichte  dieses  Wortes,  daß  dies 
das  Neue,  dem  Römer  Auffallende  in  dem  griechischen  Bühnenspiel 

1)  Hermes  XXIV  77. 

2)  Es  ist  ähnlich,  wenn  Weinreich  a.  a.  0.  S.  411  einem  Hinweis  R.  Schoells 
folgend  mit  den  Worten  idem  scilicet,  id  quod  omnes  tum  erant,  suorum  carminum 
actor  den  ßfo;  SocpoxX^ou?  4  vergleicht,  wo  ebenfalls  in  der  Form  der  Parenthese 
gesagt  wird  izdXai  yap  xal  6  iroirjx)]?  uirexp^vexo  abzöi  (vorausgeht  eine  Erwähnung 
der  (jiixpo(p(ov(a,  die  bei  Livius  folgt).  Auch  hier  täuscht  uns,  wie  ich  überzeugt 
bin,  eine  zufällige  äußerliche  Uebereinstimmung  und  ist  wirkliche  Benutzung  von 
vornherein  unwahrscheinlich. 


Livius  und  Horaz  über  die  Entwicklung  des  römischen  Schauspiels,     245 

war:  es  gibt  eine  volle,  einheitliche  Erzählung.  Nur  deßhalb 
konnte  der  Begriif  des  Dramas  bei  dem  Römer  diese  Wiedergabe 
finden  ^).  Wenn  Hendrickson  und  Lejay  behaupten,  Livius  scheide 
zwischen  fahulae  mit  argumentum  und  solchen  ohne  argumentum^), 
so  halte  ich  diese  Deutung  für  unvereinbar  mit  den  Worten  des 
Schriftstellers  und  mit  dem  Sinne  des  Wortes  fabula.  Eine  fahula 
sine  argumento  ist  ein  Widerspruch  in  sich  selbst  ^),  und  Livius  hätte 
dann  den  Begriff  fabula  in  dem  ersten  Gliede  unterbringen  müssen : 
impletas  modis  fdbulas  peragehimt  .  .  .  Livius  Ms  fahulis  argumenta 
addere  ausus  est.  Die  Worte,  die  er  tatsächlich  gewählt  hat,  lassen 
nur  die  eine  Deutung  zu:  erst  seit  Andronicns  die  in  fester  series 
sich  entwickelnde  Erzählung  hereinbringt,  entsteht  das,  was  man 
als  fahula  bezeichnen  kann;  vorher  war  es  ein  ordnungsloses  Neben- 
einander von  Gesangstücken.  Dieses  zusammenhangslose  Nebenein- 
ander muß  für  ihn  in  dem  Worte  satura  liegen,  das  fühlbar  in 
Gegensatz  zu  fahula  gestellt  wird.  Der  Begriff  des  Liedes  kann 
nicht  darin  liegen,  sonst  hätte  er  nicht  impletas  modis  damit  ver- 
bunden.   Von  dem  Charakter  der  einzelnen  Gesangnummern  kann 


1)  Wissowa  (Realencycl.  VI  1943)  erklärt  es  etwas  kurz  als  üebersetzung  von 
[AüOo?.  Das  ist  in  einer  Hinsicht  ja  durchaus  berechtigt,  da  (xüOo?  die  Erfindung 
(Handlung)  bezeichnet  (vgl.  die  Aristoteles-Stelle),  dem  argumentum  entspricht 
(vgl.  Thesaur.  l.  lat.  H  548,  40)  und  in  gewissem  Sinne  wie  dies  Wort  für  das 
Drama  selbst  eingesetzt  werden  kann  (vgl.  Quintilian  V  10,  9  nam  et  fahulae  ad 
actum,  scenarum  compositae  argumenta  dicuntur,  eine  Behauptung,  die»  freilich 
durch  die  Fortsetzung  stark  eingeschränkt  wird);  allein  fabula  ist  seit  ältester 
Zeit  zugleich  die  technische  Bezeichnung  der  Literaturgattung, 
und  das  ist  {xüdo?  nicht.  Aus  dem  Latein  übersetzte  späte  Stellen  wie  Johannes 
Lydus  de  7nag.  I  40  p.  41, 11  W.  beweisen  dafür  so  wenig  wie  die  lateinisch- 
griechischen  Glossen.  Wie  das  Wort  diese  Bedeutung  annehmen  konnte,  kann 
ich  mir  nur  erklären,  wenn  in  dieser  Art  [xoOo?,  bzw.  fahula  {argumentum),  gegen- 
über einem  älteren  Brauch  der  charakteristische  Unterschied  der  neuen  Art  emp- 
funden wurde. 

2)  Lejay  p.  LXXXVII  deutet  argumento  fahulam  serer e  gtiakdezu:  er  gibt  der 
satura  ein  argumentum. 

3)  Vgl.  Pro  Caelio  64  velut  haec  tota  fahella  vetens  et  plurimarum  fahula- 
rum  poetriae  quam  est  sine  argumento,  quam  nullum  invenire  exitum  potest!  .  .  . 
mimi  ergo  iam  exitus,  non  fahulae,  in  quo  cum  clausula  non  invenitur,  fugit  ali- 
quis  e  manibus,  dein  scahilla  concrepant,  aiilaeum  tollitur.  Ein  Spiel  mit  den 
Worten  Spa{ji.a  und  fahula  scheint  mir  Plautus  Capt.  52  zu  bieten :  haec  res  agetur 
nohis,  vohis  fahula:  für  die  Personen  der  Handlung  ist  es  ein  wirkliches  Ge- 
schehen, für  die  Zuschauer  nur  eine  ergötzende  Erzählung.  Ein  griechisches 
Vorbild  mag  trotzdem  den  Anlaß  gegeben  haben ;  anders  und  doch  ähnlich  ist  die 
Stelle  in  Piatos  Gorgias  523  a,  auf  welche  mich  mein  Kollege  Prof.  Pohlenz  ver- 
weist :  axous  Stj,  cpacff,  (jictXa  xaXoO  Xoyou,  8v  au  fxsv  TjyT^arj  {xü&ov  elvat,  ü){  ifoi  oT|i.at, 
lyw  Se  Xdyov  ib?  dXrj^r]  ydp  ovxa  cot  Xe^w  et  (j,eXXü)  X^yeiv. 


246  ^'  Reitzenstein, 

überhaupt  nicht  die  Rede  sein ;  eine  Bezeichnung  des  literarischen 
Ysvoc  des  Ganzen  brauchen  wir  keinesfalls  darin  zu  suchen.  Der 
Zusatz  impletas  modis  weist  oiFenbar  auf  einen  bildlichen  Ausdruck, 
und  zwar  eher  auf  die  satura  lanx  als  auf  das  genus  farciminis, 
Nur  daß  das  Bild  schon  auf  die  Literatur  übertragen  war,  dürften 
wir  auch  aus  Livius  folgern,  wenn  es  nicht  auch  sonst  genügend 
feststände  ^). 

Mit  derartigen  freien  Verbindungen  verschiedener  Gesangs- 
vorträge, die  mit  rhythmischer  Bewegung  verbunden  waren,  ist 
nach  der  Quelle  des  Livius  der  Dichter  Andronicus  zuerst  hervor- 
getreten {ab  saturis  ausus  est  e.  q.  s)  und  war  wie  sie  alle  damals 
Dichter  und  Darsteller  zugleich  ^).  Er  behielt  das,  fuhr  die  Quelle 
nunmehr  fort,  zunächst  auch  nach  der  Einführung  der  fahulae  bei 
und  erleichterte  sich  erst  in  höherem  Alter  die  nunmehr  sehr  viel 
schwieriger  gewordene  Aufgabe  durch  die  Zuziehung  eines  Sängers, 
ohne  selbst  die  Aktion  aufzugeben,  die  ihm  also  Hauptsache  war. 
Als  Zeugnis  dafür  waren  wohl  Stellen,  die  eine  ähnliche  Gepflogen- 
heit für  spätere  Zeit  belegten,  angeführt^).  Wir  erkennen  jetzt, 
wie  Livius  bei  der  Verkürzung  verfuhr. 

Es  ist  diese  Stelle,  an  welche  Leo  seine  vernichtende  sachliche 
Kritik  geschlossen  hat :  alles,  was  hier  berichtet  wird,  beruht  nach 
ihm  lediglich  auf  Erfindung!  Und  doch  ist  uns  ein  m.  E.  durchaus 
einwandfreies  Zeugnis  erhalten,  daß  gerade  diese  Schilderung  Wort 
für  Wort  geschichtlich  ist.  Bekanntlich  bestand  noch  zu  Plautus 
Zeit,  ja  wahrscheinlich  darüber  hinaus  in  der  fabula  ein  ocywv  der 
Schauspieler  unter  einander.  Die  Einrichtung  ist  sinnlos  innerhalb 
des  literarischen  Dramas,  das  durch  den  Umfang  und  die  Besonder- 
heit der  Rollen  einen  Wettbewerb  aller  Schauspieler  fast  unmöglich 
macht,  ja  selbst  aufs  schwerste  leidet,  wenn  jeder  Schauspieler 
seine  Rolle  möglichst  in  den  Vordergrund  drängen  will;  sinnvoll 
ist  sie  bei  einer  freien  Abfolge  von  Einzelvorträgen  oder  bei  im 
wesentlichen  improvisierten  Wettkämpfen,  z.  B.  der  Mimen,  und  ist 
hier  ja  auch  immer  geblieben;  man  denke  an  den  von  Caesar  ver- 

1)  Aehnlich  UUman  p.  14  und  natürlich  auch  Leo,  zu  dessen  Grundan- 
schauung wir  damit  zurückkehren. 

2)  Daß  omnes  tum  nur  die  Künstler  dieses  satura  im  Gegensatz  zur  fabula 
benannten  Spieles  sein  können,  hat  Leo  Hermes  XXIV  78  richtig  betont.  Von 
einer  Fülle  von  Dramendichtern  würde  man  damals  zunächst  noch  gar  nicht  reden 
können ;  auch  erwartete  man  dann  eher  plerigue  post  eum  poetae  oder  dgl.  Nur 
Leos  Deutung  gibt  ferner  einen  Fortschritt  des  Berichtes. 

3)  Ein  solches  cantare  ad  manum  kennt  als  Notbehelf  auch  die  neuere 
Theatergeschichte.  Ein  Grund  der  Verdächtigung  liegt  in  der  vielleicht  zu  Un- 
recht verallgemeinerten  Angabe  sicher  nicht, 


Livius  und  Horaz  über  die  Entwicklung  des  römischen  Schauspiels.     247 

anlaßten  Wettkampf  des  Laberius  und  Publilius  Syrus  ^).  Die  Vermu- 
tung, daß  in  die  Aufführung  deTfahulae  eine  Einrichtung  übernommen 
ist,  die  ursprünglich  für  ganz  andere  Darbietungen,  Darbietungen 
eigener  Dichtung,  bestimmt  war,  ist  gar  nicht  abzuweisen.  Nun  führt 
uns  Plautus  im  Trinummus  627  ff.  ein  Streitgespräch  zweier  Jünglinge, 
Lysiteles  undLesbonicus,  vor,  das  von  dem  Sklaven  Stasimus  belauscht 
wird.  Es  ist  in  trochäischen  Langversen,  also  einem  ursprünglich 
gesungenen  Maß  verfaßt,  ist  also  nach  antikem  Begriff  ein  canti- 
cum^).  Der  lauschende  Sklave  ruft  gegen  Ende  v.  705:  non  enim 
possum  quin  exclamem  enge,  enge,  Lysiteles,  TcaXiv.  faclle  palmam  Juihes : 
liic  vldust,  vicit  tna  comoedia.  hie  agit  magis  ex  argumenta  et  versus 
melioris  facit.  Das  ergibt  klar  das  Bild  eines  improvisierten  Agons 
über  ein  gegebenes  Thema,  bei  dem  jeder  der  beiden  Darsteller 
gewissermaßen  sein  eigenes  Stück  bietet  und  für  sich,  nicht  inner- 
halb des  Ganzen,  wirken  will.  Mich  erinnerte  es  immer  an  die 
Wettstreite  zweier  Improvisatoren  über  ein  gegebenes  Thema  wie 
etwa  'Feder  und  Schwert',  die  ich  in  meiner  Jugend  noch  in  Flo- 
renz gehört  habe.  Auch  sie  vereinten  Dichtung  und  Gesang^). 
In  dem  von  Plautus  geschilderten  Agon  muß  noch  eine  Art  kunst- 
voller Bewegung  oder  wenigstens  Gestikulation  hinzugetreten  sein, 
denn  sie  wird  als  besonders  wichtig  betont  hie  agit  magis  ex  ar- 
gumento  (nee  absoni  a  voce  motus  erant  —  cantu  motuque  congruenti)  ^). 
Die  Beschreibung  ist  so  lebhaft  und  anschaulich,  daß  ich  vermute, 
die  Hörer  des  Plautus  kannten  derartige  Agone  noch  aus  eigener 
Anschauung  und  konnten  die  Einzeldarbietung  mit  dem  Namen 
comoedia  bezeichnen,  weil  solche  freien  Spiele  noch  neben  den  Ko- 
mödien üblich  waren  und  einen  festen  Namen  nicht  hatten. 

Eine  gewisse  innere  Wahrscheinlichkeit  wird  man  dieser  Ver- 
mutung wohl  zusprechen.  Die  über  vier  Tage  ausgedehnten  ludi 
boten  dem  Volke  das  Allerverschiedenste.  Die  Neueinführung 
einer  Spielart  schließt  also  die  Abschaffung  der  früheren  nicht  ein. 
Es  ist  bei  dem  sakralen  Charakter  der  Aufführungen  und  dem 
konservativen  Sinn  der  Römer  sogar  wahrscheinlich,  daß  auch 
Ueberholtes  sich  noch  lange  hielt,  besonders  wenn  es  beim  niedern 


1)  Aus  dem  Nacheiüari'ier  der  Darbietungen  konnte  sich  das  Nebeneinander 
einzelner  leicht  und  ungezwungen  entwickeln;  man  denke  an  den  Brauch  des 
ßouxoXta'Csa^at  oder  die  Schadahüpfln. 

2)  Das  Versmaß  herrscht  noch  in  den  Resten  der  literarischen  Atellane. 

3)  Die  Improvisation  ward  durch  den  Gesang,  der  es  gestattete,  den  Schluß 
der  Zeilen  und  Strophen  zu  dehnen,  überhaupt  erst  ermöglicht. 

4)  Sie  l'ildet  bei  den  Entscheidungen  ein  Kriterium ;  daß  diese  Septenare  selbst 
kaum  mehr  mit  T  anzbewegungen  verbunden  waren,   macht  zunächst  nichts  aus. 


248  ^-  Beitzenstein, 

Volk  beliebt  war ;  nur  konnte,  was  nicht  literarisch  war,  in  der 
Literatur  natürlich  keine  Spuren  hinterlassen.  Wir  müssen  uns 
an  vereinzelte  Andeutungen  oder  Festbeschreibungen  halten. 

Von  Wichtigkeit  erscheint  mir  bei  dieser  Sachlage  die  Schil- 
derung der  ponipa  bei  Dionys  von  Halikarnass  VII  72,  deren  Be- 
deutung für  die  Beurteilung  des  livianischen  Berichtes  zu  meiner 
Freude  auch  üllman  erkannt  hat  (a.  a.  0.  S.  14).  Hinter  den 
^Ytöviotai,  die  bei  den  ludi  dann  auftreten  sollen,  folgen  zunächst 
6p/Y]aTai,  und  zwar  in  verschiedenen  Chören,  zuerst  die  zu  ernsten 
Tänzen,  auch  Waffentänzen,  bestimmten  Künstler,  dann  die  )(opol 
oaioptoTtöv  *).  Von  ihnen  bezeugt  Dionys  eine  P^^odie  der  Darbie- 
tungen der  ernsten  Chöre  (oütoi  xarsaxcöTUTÖv  is  %ol\  xaTeiiijjLoövco  xolq 
OTuooSaiac  TttvTJast?  ItcI  id  '^BXoioxBpa.  [xsia^pspovisc),  bezeichnet  ihren 
Tanz  als  v.Bpx6\L0Q  xal  Tco^aaiixT]  opyriGK;  und  erinnert  an  die  Spott- 
lieder der  Soldaten  beim  Triumph,  die  Spaßmacher  beim  Begräbnis 
der  Vornehmen  und  daneben  an  die  oxa){j.{j,a'ca  aizb  twv  aixa^wv  zu 
Athen.  Mit  einem  gewissen  Recht,  wie  eine  Anzahl  lateinischer 
Glossen  beweisen.  So  berichtet  Festus  bekanntlich  p.  128  M. 
Manduci  effigies  in  pompa  antiquorum  int  er  ceteras  ridiculas 
formidulosasque  ire  solebat,  magnis  malis  ac  late  dehiscens  et 
ingentem  dentibus  sonitum  faciens,  de  qua  Plautus  (Rud.  535)  ait: 
„Quid  si  (aliquo)  ad  ludos  me  pro  manduco  locemP  Quapropter?  — 
(Quia  poT)  clare  crepito  dentibus".  Seine  Schilderung  wird  durch 
Placidus  {Corp.  gloss.  lat.YSS,30  =  83,5;  116,13)  Manducum  Hg- 
neam  hominis  figuram  ingentem,  quae  solet  circensibus  malas  movere 
quasi  manducando  ergänzt.  In  der  pompa  wird  der  Unhold  im  Ab- 
bild gefahren  oder  getragen  sein;  bei  den  Spielen  trat,  wie  die 
Plautus-Stelle  zeigt,  ein  artifex  für  ihn  ein  und  übte  mit  den  eigenen 
Kinnbacken  jenes  Kunststück,  das  ihm  heutzutage  der  toskanische 
Stentorello  nachmacht;  es  ist  charakteristisch,  daß  der  römische 
Popanz  später  in  das  sogenannte  'oskische  Spiel'  übergegangen  ist. 
Eine  ähnliche  Erscheinung  mag  jene  Petreia  gewesen  sein ,  von 
der  ein  Sprichwort  Petreia  inpudentior  stammt,  vgl.  Festus  242  M. 
Fetre[ia  vocabatur  quae  pompam  praecedens  in  colonii\s  aiit  [munici- 
piis  imitabatur  anum  ebriam   ab]  agri   vitio,   [scilicet  petris,  oppellata] 

vepreculis^)  C.  [Gracchus con]vertar  ad  illam 

inpudentior ntur  legationes [po\test.  Aehnlich  jene  Citeria, 


1)  In  der  Beschreibung  ihrer  Tracht  hebt  Dionys  besonders  hervor,  was 
seiner  Tendenz,  Reste  altgriechischen  Brauches  in  Rom  wiederzufinden,  dient; 
eine  gewisse  Hellenisierung  mag  allmählig  auch  eingetreten  sein. 

2)  vepraecilU  Cod.   Die  Erscheinung  des  Unholds  war  vielleicht  beschrieben. 


Livius  und  Horaz  über  die  Entwicklung  des  römischen  Schauspiels.     249 

mit  der  Cato  einen  Gegner  verglich,  Festus  p.  59  Citeria  appella- 
hatur  effigies  quaedam  arguta  et  loquax  ridicuU  yratia,  quae  in  pompa 
vehi  solita  sit.  Cato  in  M.  Caecilium:  Quid  ego  in  illum  disseriem, 
ampUuSy  quem  ego  denique  crcdo  in  pompa  vectitatum  ire  ludis  pro  Citeria 
afque  cum  spectatoribus  sermocmaturinn^).  Wie  bei  dem  manducus 
scheint  es  mir  bei  der  Citeria  klar,  daß  sie  nicht  nur  im  Zuge, 
sondern  auch  bei  den  Spielen  selbst  aufgetreten  ist.  Auch  jene 
feierlichen  Tänze  sind  ja  nicht  nur  bei  dem  Zuge  aufgeführt,  son- 
dern haben  sich  bei  den  Spielen  selbst  bis  tief  in  die  literarische 
Zeit  erhalten.  Das  zeigt  ein  früher  fälschlich  auf  eine  Tragödie 
bezogenes  Geschichtchen  bei  Polybios  (XXX  14) :  Anicius,  der  Ueber- 
winder  des  Königs  Genthios,  wirbt  für  die  Begleitung  einer  der- 
artigen TanzauiFührung  die  vier  berühmtesten  Flötenvirtuosen 
Griechenlands  und  läßt  sie,  jeden  mit  seinem  Chor,  zusammen  auf 
derselben  Bühne  auftreten.  Als  ihr  Spiel  dem  Festgeber  zu  lang- 
sam und  gemessen  scheint,  sendet  er  ihnen  den  Befehl  otYwvi'Csa^at 
{iäXXov,  und  der  Lictor  erklärt  dies,  sie  sollten  eine  Art  Kampf 
aufführen.  Sie  lassen  voll  Hohn  gegen  den  Barbaren  ihre  Chöre 
gegeneinander  marschieren,  und  als  ein  Chorent  gegen  einen  der 
Virtuosen  mit  geballter  Faust  losgeht,  erhebt  sich  stürmischer  Bei- 
fall. Das  ist,  wenn  wir  davon  absehen,  daß  die  Tänzer  offenbar 
nicht  die  volle  Waffenrüstung  tragen,  genau  das  Bild,  das  wir. 
nach  der  Beschreibung  der  pompa  erwarten  mußten,  und  entspricht 
einigermaßen  auch  der  Angabe  des  Livius  über  die  älteste  Form 
der  ludi  scaenici :  sine  carmine  ullo,  sine  imitandorum  carmimmi  actu 
.  .  .  ad  tibicinis  modos  saltantes^).  Auch  die  heitere  Nachahmung 
durch  die  Spaßmacher  darf  uns  jetzt  als  bezeugt  gelten.  Selbst 
jene  Einzellieder  zur  Flöte  haben  sich  bei  dem  Feste  bis  an  das 
Ende  des  zweiten  Jahrhunderts  v.  Chr.  weiter  erhalten,  vgl.  Cas- 
siodors  Zeugnis  (Mommsen  Chronica  Minora  II  131):  L.  Metellus 
et  Cn.  Domitius  censores  artem  ludicram  ex  tirbe  removerunt  praeter 
latiniim  tibi  einem  cum  cantore^)  et  ludum  talarium. 

Bis  in  die  Zeit  der  grammatischen  und  antiquarischen  Studien 
hat  sich  in   den  Darbietungen    der   ludi   alter    und   neuer  Brauch 


1)  Man  denke  an  den  archimimus  beim  Begräbnis  Vespasians.  Cato  nimmt 
höhnend  an,  daß  sich  sein  Gegner  zu  den  ludi  verdingen  wird,  wie  der  Sklave  bei 
Plautus  es  möchte.  Daß  die  Darsteller  dieser  Rollen  Masken  tragen  ist  besonders 
begreiflich. 

2)  Mit  Marx  (Realencyclop.  II  1915)  von  einem  ludus  Graecus  zu  sprechen 
haben  wir  schwerlich  Anlaß.     Der  Chor,  den  Polybios  schildert,  war  römisch. 

3)  Der  griechische  Flötenmimiis  ist  ausdrücklich  ausgeschlossen,  man  will 
nur  die  nationale  Ueb erlief erung  dulden. 


250  ^-  Reitzenstein, 

neben  einander  erhalten.  Der  Versucli,  hiernacli  eine  Geschichte 
der  Entwicklung  zu  entwerfen,  konnte  gemacht  werden  und  ist 
offenbar  gemacht  worden.  So  gilt  es  jetzt  noch  einmal  die  Frage 
auf  zuwerfen,  wie  weit  er  durch  die  Theorie  des  Aristoteles  beein- 
flußt sein  muß.  Gewiß  kann  man  antworten,  der  ganze  Gedanke 
einer  historischen  Entwicklung  muß  auf  griechischer  Anregung  be- 
ruhen und  die  Betrachtungsart  ist  griechisch.  Aber  direkte  Ent- 
lehnungen aus  dem  Griechischen  finde  ich  bisher  nicht.  Leo  glaubt 
eine  solche  freilich  nachweisen  zu  können:  Livius  kann  gar  nicht 
selbst  Schauspieler  gewesen  sein,  denn  er  ist  Schulmeister  ge- 
wese.n ;  das  war  ein  immerhin  anständiges  Gewerbe,  das  des  histrio 
war  es  nicht.  Er  selbst  weist  dabei  darauf  hin,  daß  uns  die  An- 
gabe in  drei  unabhängigen  Ueberlieferungen  vorliegt,  in  der  Quelle 
des  Livius,  sodann  bei  Festus  p.  333  M.  in  der  Angabe,  daß  zu 
Ehren  des  Livius  Andronicus  das  collegium  scribarum  et  histrionum 
begründet  wird,  quia  is  et  scribebat  fabulas  et  agebaty  endlich  in  dem 
Libcr  glossarum  (Corp,  gloss,  lat.  V  250, 10)  Tragoedias  comoeäiasque 
primus  egit  idemque  etiam  conposuit  Livius  Andronicus  duplici  toga 
infulatus.  Wenn  Leo  annimmt  die  Vereinigung  der  Dichter  und 
Schauspieler  in  einem  Kollegium  sei  der  Anlaß  für  die  Erfindung 
über  Livius  Andronicus  gewesen,  so  wäre  damit  besten  Falls  eine 
Möglichkeit,  einen  sonst  erwiesenen  Irrtum  zu  erklären,  gewonnen, 
aber  zugleich  die  Annahme  der  Einwirkung  der  griechischen  The- 
atergeschichte überflüssig  gemacht.  Auch  ließe  sich  sofort  ein- 
wenden, daß  die  Vereinigung  von  Dichtern  und  Schauspielern  zu 
einem  Kollegium,  gerade  wenn  die  Atimie  des  Schauspielers  da- 
mals so  schwer  empfunden  wurde  und  die  soziale  Stellung  des 
Dichters  so  hoch  war,  wie  Leo  voraussetzt,  nun  ihrerseits  be- 
fremdlich wird. 

Können  wir  nach  dem  Wenigen,  was  uns  bekannt  ist,  über- 
haupt eine  Entscheidung  fällen  ?  Gewiß,  Plautus  hat  vierzig  Jahre 
nach  Einführung  des  Dramas  seine  fabulae  einem  dux  gregis  zur 
Aufführung  übergeben;  aber  als  maccus  ist  er  vorher  selbst  vor 
das  Publikum  getreten  ^).    Als  Livius  seinen  kühnen  Schritt  wagte, 


1)  Ich  halte,  wie  Leo,  hieran  trotz  W.  Schulze  fest,  natürlich  ohne  Plautus 
dadurch  zum  „Schauspieler"  zumachen.  Er  war  artifex  scenicus.  Wenn  Leo  freilich 
(schon  im  Hermes  XXIV  78)  die  Angabe  des  Gellius  III 3, 14  als  „legendarisch"  be- 
zeichnet, kann  ich  nur  teilweise  zustimmen.  Sie  kann  —  besonders  wenn  man  den 
geschraubten  Ausdruck  ad  circumagendas  molas  quae  trusaUles  appellantur  vergleicht 
—  recht  wohl  aus  einer  Stelle  eines  der  drei  Stücke  stammen,  die  man  mit  Recht  oder 
Unrecht  als  Anspielung  auf  eigenes  Erleben  faßte;  die  Worte  in  operis  artificum 
scenicorum  müssen  wir  nach  archaischem  Sprachgebrauch  deuten  (vgl.  z.  B.  Mer- 


Livius  und  Horaz  über  die  Entwicklung  des  römischen  Schauspiels.      251 

gab  es  einen  dux  yregls,  an  den  er  sich  wenden  konnte,  überhaupt 
nicht,  nur  Tänzergesellschaften  und,  nach  unserm  Bericht,  freie 
Einzelsänger  und  Spaßmacher.  Er  hatte  allen  Anlaß,  selbst  in 
die  Lücke  zu  treten^),  wenn  das  möglich  war.  Daß  seine  Neue- 
rung —  besonders  die  Einführung  der  Tragödie  —  einem  Wunsch 
gerade  der  vornehmeren  Kreise  entsprach,  ist  sicher;  ob  sie,  die 
keinen  Anstoß  daran  nahmen,  daß  der  Sklave  und  Freigelassene 
ihre  Kinder  unterrichtete,  dies  für  unmöglich  erklärt  hätten,  wenn 
er  in  dem  neueingeführten  griechiycben  Spiele  auftrat,  kann  wohl 
niemand  sagen  ^).  Daß,  sobald  ein  Stamm  ausgebildeter  Schau- 
spieler vorhanden  war,  die  Trennung  tatsächlich  eingetreten  ist 
und  die  Stellung  des  Dichters  sich  gehoben  hat,  bestätigt  uns  die 
Angabe,  daß  der  Schauspieler  ~  weil  er  zugleich  Tänzer  blieb 
(vgl.  Cicero  De  off'.  I  150)  —  zunächst  misachtet  war,  aber  es  be- 
rechtigt uns  nicht;  die  Angaben  über  den  Notbehelf  in  der  ersten 
Zeit  kurzer  Hand  beiseite  zu  schieben.  Rechtliche  Bestimmungen 
werden  sich  erst  nach  der  Ausbildung  des  Standes  ergeben  haben. 
Fällt  dieser  Einwand  also  fort,  so  sehe  ich  nicht,  was  man 
an  dem  Bericht  der  Quelle  des  Livius  als  abenteuerliche  Erfindung 
bezeichnen  will,  möchte  aber,  ehe  ich  die  Folgerungen  aus  ihm 
ziehe,  zunächst  die  mit  ihm  verglichene  Stelle  des  Horaz  (Epist. 
II  1, 139  ff.)  ins  Auge  fassen.  Wieder  muß  ich ,  leider ,  den  Text 
dem  Leser  noch  einmal  vorlegen. 

Agricolae  prisci,  fortes  parvoqiie  heati, 
140  condita  post  frumenta  levantes  tempore  festo 

corpus  et  ipsum  animum  spe  finis  dura  fereiitem 
cum  sociis  operum,  pueris  et  coniuge  fida, 
Telliirem  porco,  Süvanum  lade  piabant, 
floribiis  et  vino  Genium  memorem  brevis  aevi. 
145  Fescennina  per  hunc  inventa  licentia  rnorem 
versibus  alternis  opprobria  rustica  fudit, 
libertasque  recurrentis  accepta  per  annos 
lusit  amabiliter,  donec  iam  saeous  apertam 

cator  ^Ib  pol  haud  censebam  istarum  esse  operarum  patrem);  der  Plural  steht 
für  den  Singular  (vgl.  das  lehrreiche  Gegenbild  Dig.  32,  73, 3  proinde  si  quis  seroos 
lidbuit  proprios,  sed  quorwn  operas  locabat  vel  pistorias  vel  histrionicas  vel  alias 
similes).  Nur  freilich,  für  Plautus  gewinnen  wir  doch  nichts,  da  die  Echtheit 
jenes  Stückes  ja  bestritten  war.  Er  wird  nicht  der  einzige  Komiker  gewesen 
sein,  der  von  der  Picke  auf  gedient  hat. 

1)  Er  wird  in  der  Quelle  des  Livius  durchaus  als  Protagonist,  also  als  dux 
gregis,  beschrieben. 

2)  Der  Verweis  auf  Naevius,   der  Soldat  gewesen  sei  (aber  nicht  römischer 
Bürger),  hat  noch  weniger  üeberzeugungskraft. 


252  R.  Reitzenstein, 

in  rabiem  coepit  verti  locus  et  per  honestas 
150  Ire  domos  inpune  minax.  doluere  cruento 

dente  lacQSsitij  fuit  intactis  quoque  cura 

condiäone  super  communi,   quin  etiam  lex 

poenaque  lata,  malo  quae  nollet  carmine  quemquam 

describi.  vertere  modum^  formidine  fustis 
155  ad  bene  dicendum  delectandumque  redacti. 

Graecia  capta  ferum  victorem  cepit  et  artis 

intulit  agresti  Latio.     sie  horridus  ille 

defliixit  numerus  Saturmus  et  grave  virus 

munditiae  pepulere ;  sed  in  longum  tarnen  aevum 
160  manserunt  hodieque  manent  vestigia  ruris. 

serus  enim  Graecis  admovit  acumina  chartis 

et  post  Funica  bella  quietus  quaerere  coepit 

quid  Sophocles  et  Thespis  et  Aeschylus  utile  ferrent. 

temptavit  quoque  rem,  si  digne  vertere  posset, 
165  et  placuit  sibi  natura  sublimis  et  acer: 

nam  spirat  tragicum  satis  et  feliciter  audet, 

sed  turpem  putat  inscite  metuitque  lituram. 

creditur,  ex  medio  quia  res  arcessit,  habere 

sudoris  minimum,  sed  habet  comoedia  tanto 
170  pltis  oneris,  quanto  veniae  minus,   adspice,  Flautus 

quo  pacto  partis  tutetur  amantis  ephebi, 

ut  patris  attenti,  lenonis,  ut  insidiosi, 

quantus  sit  Dossennus  edacibus  in  parasitis, 

quam  non  adstricto  percurrat  pulpita  soqco. 
176  gestit  enim  nummum  in  loculos  demittere,  post  hoc 

securus,  cadat  an  recto  stet  fabula  tdlo. 
Mit  Livius  berühren  sich  nur  die  Verse  139  -155.  Nur  sie 
geben  einen  zusammenhängenden  Bericht,  der  sich  auf  eine  literar- 
historische oder  antiquarische  Darstellung  zurückführen  läßt,  und 
auch  sie  geben  ihn  natürlich  nur  in  der  Umgestaltung  durch  einen 
Dichter,  der  aus  der  gelehrten  Angabe  ein  anschauliches  und  in 
sich  geschlossenes  Bild  herausgestaltet.  Was  nur  diesem  Zwecke 
dient,  werden  wir  als  sein  Eigentum  absondern '  und  zugleich  mit 
der  Wahrscheinlichkeit  rechnen  müssen,  daß  jenes  Bild  in  einen 
neuen,  durch  den  Zweck  des  Briefes  gegebenen  Gedankenzusammen- 
hang gerückt  ist.  Die  Charakteristik  der  altlatinischen  Bauern 
und  ihrer  Gedanken  wird  niemand  für  die  Quelle  in  Anspruch 
nehmen ;  dann  dürfte  man  es  freilich  auch  nicht  ohne  weiteres  mit 
der  entsprechenden  Angabe  der  Stimmung  und  Gedanken  der 
Städter,  die  zu  dem  Gesetz  führen.   Auch  hier  waltet  eine  Breite 


Livius  und  Horaz  über  die  Entwicklung  des  römischen  Schauspiels.      253 

und  Anschaulichkeit,  die  mehr  für  den  Dichter  als  für  die  gelehrte 
Quelle  Zweck  hat.  Gerade  hier  aber  finden  sich  die  Berührungen 
mit  den  Traktaten  über  die  attische  Komödie,  die  besonders  Hen- 
drickson hervorhebt.  Tatsächlich  sind  hier  Züge  aus  dem  Grie- 
chischen übernommen,  und  sie  passen  sogar  für  die  römische  Si- 
tuation nicht  recht.  Setzen  sie  doch  ein  Einzelgesetz  voraus,  das 
unmittelbar  aus  den  geschilderten  Uebelständen  entspringt,  wäh- 
rend in  der  Quelle,  wie  wohl  kein  Erklärer  mehr  bestreitet,  von 
dem  Gesetz  der  Zwölf  Tafeln  die  Rede  war  *).  Nun  kennt  Horaz, 
der  ja  schon  früh  die  Satire  des  Lucilius  mit  der  ap/aia  xcojKpSta 
vergleicht  und  selbst  mit  der  v^a  wetteifern  möchte,  jenes  angeb- 
liche Verbot  des  ovoi^aotl  oTcwTcrstv  in  Athen.  Die  Einzelnheiten 
dieser  Schilderung  können  daher  durchaus  auf  ihn  selbst  zurück- 
gehen, ja  sie  erweisen  sich  bei  näherer  Betrachtung  als  eng  mit 
dem  Grundgedanken  verbunden,  in  dfen  er  die  Angaben  der  anti- 
quarischen Quelle  gerückt  hat.  Horaz  benutzt  sie,  um  einerseits 
zu  betonen,  daß  die  römische  Dichtung  unter  den  Bauern  entstanden 
sei  und  die  Spuren  dieses  Ursprungs  erst  spät,  ja  eigentlich  nie 
völlig  losgeworden  sei,  andrerseits  um  hervorzuheben,  daß  nur  die 
grausamste  Strafe  (das  fustiarium)  die  erste  Wendung  dieser  Dich- 
tung zu  einer  harmlosen  Kunstübung  erzwungen  habe.  Die  Worte, 
die  er  dabei  gebraucht  formicUne  ftislls  ad  hene  dicendiim  de- 
lecfandtimque  redadi,  zeigen  dabei  in  dem  Spiel  mit  der  Doppel- 
deutigkeit der  Worte  bene  dicendum  die  Erinnerung  an  ein  eigenes 
früheres  Wortspiel  Sat.  II  1,80  ff.  iu  forte  negoti  incutiat  tibi  quid 
sandanim  insdtia  legum:  si  mala  condiderit  in  quem  quis  car- 
mina,  ins  est  iudidumque.  —  Esto,  si  quis  mala:  sed  bona  si  quis 
iudice  condiderit  laudatus  Caesare?  Auch  hier  wird  auf  das  Zwölf- 
tafelgesetz angespielt.  Wir  begreifen,  welche  Gedankengänge  und 
Erinnerungen  ihn  bei  der  Ausgestaltung  der  antiquarischen  Quelle 
beeinflussen  konnten.  Für  diese  selbst  glaube  ich  mit  einiger 
Sicherheit  nur  folgende  Angaben  in  Anspruch  nehmen  zu  können : 
das  Alter  der  Poesie  in  Latium  bezeugen  schon  die  Zwölf  Tafeln^); 
das  malum  Carmen,  von  dem  sie  sprechen,  müssen  die  sogenannten 
Fescennini  versus  gewesen  sein,  die  mit  ihrer  Anknüpfung  an  das 
ländliche  Leben  bis  in  frühe  Zeit  hinaufreichen  müssen;  sie  haben 
freilich  unter  der  Einwirkung  dieses  Gesetzes  ihren  Charakter  und 

1)  Vgl.   auch  Useners  klassischen   Aufsatz    'Altitalische  Volksjustiz'   Khein. 
Mus.  LVI  Iff.  =  Kl.  Schriften  IV  356  ff. 

2)  Vgl.  Cicero  Tusc.  IV  4 :   quamquam  id  qtiidem  etiam  XII  tabulae  decla- « 
rant,  condi  iam  tum  solitum  esse  Carmen,  quod  ne  liceret  fieri  ad  alterins  iniuriam, 
lege  sanxerunt  (vgl.  De  re  p.  IV  12). 


2Ö4  R.  Üeitzen stein, 

ihre  Weise  einigermaßen*  geändert.  So  weit  reicht  ein  klaret  Zu- 
sammenhang und  ist  gelehrtes  Material  benutzt.  Was  Horaz  weiter 
hinzufügt,  sind  allgemeine  Betrachtungen,  für  die  er  eine  antiqua- 
rische Quelle  nicht  bedarf).  Wenn  er  wirklich  in  v.  162  die  falsche 
Datierung  des  Andronicus  durch  Accius  voraussetzt,  was  mir  nicht 
ganz  sicher  erscheint,  so  ist  nur  er  selbst,  nicht  die  Quelle,  für  dies 
Festhalten  an  einem  längst  'berichtigten  Irrtum  seines  Lehrers 
verantwortlich. 

Horaz  hat  uns  also  nur  eine  Angabe,  die  bis  zum  Jahre  450 
reicht,  erhalten;  der  Bericht  des  Livius  beginnt  erst  364.  Ein 
Vergleich,  wie  ihn  Leo  in  seinem  zweiten  Aufsatz  anstellt  und 
Weinreich  weiter  fortführt  (Horaz  nimmt  ländlichen,  Livius  städti- 
schen Ursprung  an  u.  s.  w.)  kann  daher  nicht  beweisen ,  was  er 
soll,  die  beiden  Schriftsteller  reden  von  ganz  Verschiedenem.  Hen- 
dricksons Deutungen  des  Livius  aus  Horaz  und  des  Horaz  aus 
Livius  kennzeichnen  sich  nunmehr  ohne  weiteres  als  schwere  Ver- 
stöße gegen  die  Methode  der  Quellenforschung  wie  der  Interpre- 
tation. Wohl  aber  lohnt  es  zu  fragen,  ob  nicht  Leos  erster  Ge- 
danke, das  Horaz-Stück  ließe  sich  in  die  Darstellung  des  Livius 
einfügen^),  glücklicher  war.     Ich  möchte  für  ihn  eintreten. 

Es  ist  sehr  auffällig,  daß  Livius  und  Horaz  den  Vers  nicht 
nur  fast  mit  denselben  Worten  charakterisieren,  sondern  daß  auch 
der  eine  scharf  hervorhebt,  daß  er  nicht  mehr  von  dem  Fcscen- 
ninnf  versus  selbst,  sondern  von  einer  ihm  ähnlichen  Fortbildung 
redet  (qui  non,  siciit  ante,  Fescennino  versu  similem  incom- 
posHiim  fernere  ac  rudern  alternis  möiebant),  während  der  andere 
berichtet,  daß  dieser  Vers  durch  das  Zwölftafel  -  Gresetz  seinen 
Charakter  geändert  hat  {Fescennina  per  Jiunc  inventa  licentia  morem 
versibus  alternis  opprobria  rustica  f udit  .  .  .  .  vertere  modum 
formidine  fustis)  ^).  Für  beide  Berichte  ist  die  Voraussetzung,  daß 
die  versus  Fescennini  die  älteste  lateinische  weltliche  Poesie  dar- 
stellen. Mir  genügen  diese  sehr  auffälligen  Uebereinstimmungen, 
um  bei  Horaz  den  Anfang  des  von  Livius  benutzten  Berichtes 
wieder  zu  erkennen,    doch   muß    ich  befürchten,    daß   sich    bei  der 

1)  Künstlerisches  Interesse  und  Kunstempfinden  kam  erst  aus  Griechenland; 
so  konnte  Ennius  den  Hexameter  einführen,  Terenz  u.  a.  auf  den  sermo  purus 
achten  u,  s.  w. 

2)  Vgl.  ohen  S.  233  A.  2. 

3)  Den  Charakter  des  Wechselgesanges  mochte  man  dabei  entweder  aus  den 
noch  üblichen  Neckereien  bei  der  Hochzeit  oder  aus  anderen  Neckversen,  wie  den 

.bei  dem  Triumph  bekannten,  erschließen.  Die  Improvisation  (auf  sie  deutet  ja 
das  von  Lejay  u.  a.  falsch  übersetzte  Wort  temere)  war  durch  die  gleichen  Ana- 
logien und  die  Theorie  gegeben. 


Livius  und  Horaz  über  die  Entwicklung  des  römischen  Schauspiels.      255 

Mehrzahl  der  Forscher  das  Mißtrauen  gegen  dessen  sachliche  An- 
gaben eben  dadurch  steigert,  da  sie  den  Fescennimis  versus  anders 
betrachten.     Ich  muß  daher  auf  ihn  noch  eingehen. 

Wissowa  geht  in  seiner  Besprechung  Realencycl.  VI  2222  von 
dem  Gedanken  aus,  daß  wo  die  Worte  Fescennimis  versus  u.  dgl. 
im  lebendigen  Sprachgebrauch  erschienen  —  die  Stellen  reichen 
von  Catull  bis  zum  Ausgang  des  Altertums  — ,  Hochzeitsgesänge 
bezeichnet  würden;  also  sei  dies  die  ursprüngliche  Bedeu- 
tung; wegen  ihres  ausgelassenen  Charakters  sei  dann  die  ur- 
sprünglich spezielle  Bezeichnung  vereinzelt  auch  für  kecke  Spott- 
gedichte allgemeineren  Charakters  verwendet  worden,  so  von  Oc- 
tavian  für  Hohngedichte  auf  Asinius  Pollio  (Macrobius  Sat.  II  4, 21), 
ja  der  alte  Cato  habe  das  Wort  Fescenninus  geradezu  in  dem 
Sinne  von  'Frechling'  verwendet.  Die  beiden  bisher  besprochenen 
Stellen  des  Livius  und  Horaz  werden  dabei  als  Konstruktion  eines 
Gelehrten,  der  die  Aristotelische  Darstellung  der  Anfänge  des 
griechischen  Dramas  auf  Italien  übertrug,  beiseite  geschoben.  Allein, 
wenn  seit  der  klassischen  Zeit  ein  alter  Brauch  improvisierter 
Scherzlieder  nur  noch  bei  der  Hochzeit  nachweisbar  ist,  so  folgt 
daraus  nicht  notwendig,  daß  die  Bezeichnung  dieserLieder 
ursprünglich  nur  für  die  Hochzeit  geprägt  ist;  unverständlich 
bleibt  ferner,  warum  diese  Lieder  dann  den  Namen  'Verse  aus 
Fescennium'  erhielten,  bedenklich  endlich,  daß  wir  hierbei  von 
einer  technischen  Bezeichnung  einer  Dichtart  oder  Versart  aus- 
gehen ^),  zumal  da  der  älteste  Gebrauch  Fescenninus  als  Personen- 
oder Standesbezeichnung  kennt.  Ich  möchte  von  diesem  Gebrauch 
ausgehen. 

In  der  Rede  Si  se  M.  Gaelius  tribunus  plebis  appellasset  ^)  hat 
Cato  seinen  Gegner  als  lächerliche  Person  charakterisiert :  er  ver- 
gleicht ihn  mit  der  Citeria,  die  bei  der  pompa  mit  den  Zuschauem 
plaudert  (oben  S.  249) ,  mit  dem  Quacksalber,  der  unter  Witzen 
seine  Mittel  ausschreit,  mit  dem  Bettelsänger,  der  für  ein  Stück 
Brot  redet  oder  schweigt,  endlich  mit  dem  Fescenninus :  in  colo- 
niam  me  Jiercules  scrlbere  nolim,  si  triumvirum  sim,  spatiatorem  atcpie 
Fescenninum.  Das  Bild  erweitern  die  unmittelbaren  Schilderungen 
praeter ea  cantat,  ubi  coUibuit,  interdum  Graecos  versus  agit,  iocos 
dicit,  voces  demutat,  staticulos  dat^)  und  descendit  de   cantherio,   inde 

1)  Auf  den  versus  Satumius  wird  man  sich  kaum  berufen  können,  er  setzt 
m.  E.  die  Bezeichnung  Italiens  als  Saturnia  tellus  voraus,  ist  also  eine  relativ 
junge,  künstliche  Bildung. 

2)  Eine  Datierung  der  Rede  ist  Jordan  nicht  gelungen  ;  sie  ist  für  uns  zeitlos. 

3)  Vgl.  Plautus  Persa  824  nequeo,  Uno,   quin  Ubi   saltem  staticulum,   olim 


I 


256  R.  Reitzenstein, 

staticulos  dare,  ridicularia  fundere.  Ein  lebensvolles  Bild  nicht  des 
Frechlings,  sondern  des  gewerbsmäßigen  Spaßmachers 
wird  hier  gezeichnet;  er  ist  der  Fescenninns,  Ich  möchte  in  dem 
Fragment  sogar  einen  gehässigen  Seitenhieb  auf  Fulvius  Nobilior 
sehen,  der  den  Ennius  als  Bürger  in  die  Kolonie  aufgenommen  hat, 
und  für  die  Verbindung  mit  spatiator  das  bekannte  Fragment  aus 
dem  Carmen  de  moribus  (Gellius  XI  2)  vergleichen :  poeticae  artis 
honos  non  erat.  *)  siquis  in  ca  re  stiidehat  aut  sese  ad  convivia  adpli- 
cabat,  grassator  vocahatur.  Von  hier  gewinnen  wir  eine  verständ- 
liche Entwicklung:  der  fahrende  Mann,  der  bei  den  Festen  der 
latinischen  Bauern  erschien  und  seine  Spaße  vortrug,  war  ur- 
sprünglich nach  der  südetrurischen  Stadt  Fescennium  benannt 
worden,  in  der  vielleicht  eine  Art  Grilde  bestand  oder  von  wo  zu- 
erst einige  bekanntere  Vertreter  dieses  G-ewerbes  gekommen  waren  ^). 
Leicht  erklärlich  ist  dann,  wie  hieraus  die  Sachbezeichnungen 
Fescennina  iocatio,  oder  Fescennini  loci  (bzw.  versus)  enstanden.  Als 
die  Nachahmung  des  alten  Brauches  im  wesentlichen  auf  die  Hoch- 
zeit beschränkt  war,  entstanden  für  sie  dann  neue  Erklärungen, 
deren  eine  wir  durch  ihre  Benutzung  bei  Lukan  II  368  auf  eine 
bestimmte  Quelle  zurückführen  können: 

non  soliti  lusere  sales  nee  niore  Sabin o 
excepit  tristis  convieia  festa  maritus. 
Die  gelehrte  Quelle  ist  klar.  War  in  ihr  ein  altitalischer 
Brauch  auf  die  Sabiner  zurückgeführt,  wie  das  Varro  ja  liebte, 
so  konnte  der  Name  des  Verses  dabei  kaum  von  der  etrurischen 
Stadt  abgeleitet  werden.  Also  geht  von  den  beiden  im  Altertum 
üblichen  Worterklärungen,  die  Festus  (Paulus)  p.  85  M.  verbindet, 
Fescennini  versus^  qui  canebantur  in  nuptiis,  ex  urbe  Fescennina  di- 
cuntur  allati  (vgl.  Servius  zu  Äen.  VII  695),  sive  ideo  dicti,  quia 
fascinum  putabantur  arcere,  die  zweite,  sprachlich  unmögliche  auf 
Varro  zurück,  der  dabei  eine  ältere  auf  die  Person  des  Fescenninus 


quem  Hegea  faciebat.  vide  vero,  si  tibi  satis  placet.  —  Me  quoque  volo  reddere, 
Biodorus  quem  olim  faciebat  in  lonia. 

1)  Cato  weiß  also,  daß  zu  den  Gelagen  und  Festen  schon  in  üer  Vorzeit 
fahrendes  Volk  zu  kommen  pflegte,  das,  ähnlich  wie  in  seiner  Zeit  die  poetae  bei 
den  Mahlen  der  Großen,  für  Unterhaltung  sorgte ;  nur  waren  jene  Leute  mißachtet. 

2)  Auf  die  Personen,  nicht  aber  auf  die  Verse  könnte  sich  auch  die  Glosse 
des  Festus  (Paulus)  p.  86  beziehen :  Fescemnoe  (wohl  Fesceninoe)  vocabantur,  qui 
depellere  fascinum  credebantur.  Es  wäre  an  sich  durchaus  möglich,  daß  jene  fah- 
renden Gesellen  in  älterer  Zeit  auch  allerlei  Zauberbrauch  getrieben  haben  oder  daß 
der  sakrale  Charakter  ihres  Tuns  stärker  empfunden  worden  ist.  Doch  gestattet 
die  Unsicherheit  über  die  Herkunft  und  Beziehung  der  Glosse,  die  auf  ein  Sprach- 
denkmal sehr  früher  Zeit  bezug  nehmen  muß,  keine  sicheren  Schlüsse. 


Livius  und  Horaz  über  die  Entwicklung  des  römischen  Schauspiels.      267 

bezügliclie  Glosse  benutzt  haben  mag.  Ist  dies  richtig,  so  hatte 
seine  Erklärung  des  Begriffes  zwar  manche  Aehnlichkeit  mit  der 
bei  Horaz  und  Livius  gebotenen  (auch  er  betont  ja  die  convicia\ 
unterschied  sich  aber  doch  von  ihr ;  für  uns  ist  sie  in  keiner  Weise 
verbindlich. 

Eine  gewisse  Bestätigung  meiner  Annahme,  daß  der  technische 
Gebrauch  des  Wortes  zunächst  von  der  Person  ausgeht,  bietet 
vielleicht  eine  Betrachtung  der  zweiten  Bezeichnung,  die  bei  Li- 
vius vorausgesetzt  wird,  Atellana.  Wie  ein  Blick  in  den  Thesaurus 
uns  lehrt,  steht  neben  der  Bezeichnung  Atellana  fabula  eine  zweite 
Atellania^)  (einmal  auch  fabula  Atellania  Gellius  XII  10,7).  Das 
ist  am  leichtesten  begreiflich,  wenn  wir  auch  hier  von  der  Personen- 
bezeichnung Atellanus  ausgehen,  die  nach  den  Glossen  den  ßioXöfoc, 
ioculatorj  cantor,  mimus  bedeutet,  wie  ja  auch  die  typischen  Figuren 
der  Atellane  ebenda  sämtlich  als  parasiti  bezeichnet  werden  *).  Nach 
Festus  p.  217  {Per Sonata)  traten  sie  von  Anfang  an  in  Masken  auf 
und  unterschieden  sich  dadurch  von  den  Fescennini^).  Auch  in 
ihrer  Kunst  spielt  der  Gesang  und  wahrscheinlich  auch  der  Tanz 
eine  große  Bolle  (vgl.  Terentianus  Maurus  G.  L.  VI  p.  396  K). 
Eine  Darbietung,  in  welcher  mehrere  solcher  A^tellani  auftraten, 
ward  in  einer  neuen  Ableitungsform  Atellania  genannt  (wie  Atel- 
lania ars  die  Kunst  des  Atellanus  ist).  Daß  daneben  auch  Atellana 
fabula  üblich  wurde,  besonders  als  man  die  Arten  der  fabula,  also 
des  römischen  Dramas,  zu  scheiden  und  nebeneinander  zu  stellen 
begann,  ist  wieder  leicht  begreiflich.  Wir  entgehen  bei  dieser  Annahme 
den  Schwierigkeiten,  die  sich  von  selbst  bei  der  anderen  ergeben, 
Atellana  fabula  sei  ursprünglich  der  technische  Ausdruck,  von  dem 
die  weiteren  Bildungen  ausgehen:  ein  ausgebildetes  literarisches 
Y^voc  müßte  vor  der  Schlacht  von  Cannae  und  doch  —  wegen  der 
schon  festen  Bildung  des  Begriffes  fabula  für  Drama  —  nach  24Ö 
aus  Atella  übernommen  und  dabei  so  stark  romanisiert  sein,  daß 
die  Personennamen  nicht  oskisch,  sondern  griechisch  wurden,  wäh- 
rend es  die  Heimatsbezeichnung  weiter  behielt.  Ein  Anlaß  dafür 
wäre  damals  kaum  zu  erweisen ;  was  wir  durch  Lucilius  und  Horaz 
von  oskischen  volkstümlichen  Spielen  wissen,  wiche  weit  ab. 

Die   beiden  vielleicht  nicht   ohne  Beziehung  auf  einander  ge- 


1)  Daher  im  Briefwechsel  des  Fronto  (p.  34  N.)  Ätellaniolae. 

2)  Der  Wortgebrauch  von  Atellanus  entspricht  genau  dem  von  mimus. 

3)  Daß  auch  Porphyrie  zu  Ep.  II  1, 145  die  carmina  Fescennina  mit  den 
Ätellanica  zu  identifizieren  scheint,  möchte  ich  nicht  hervorheben,  da  das  Sätzchen 
vielleicht  verstümmelt  ist  (etwa:  ut  et  Ätellanica  nominata  sunt)  und  in  den  so- 
genannten Acro-Scholien  fehlt. 

Kgl.  Ow.  d.  Wist.  Nachrichten.    PhU.-hist.  Klasse.    1918.    Heft  2.  17 


268    R-  Reitzenstein,  Livius  u.  Horaz  üb.  d.  Entwickl.  d.  rom.  Schauspiels. 

bildeten  Bezeichnungen  der  fahrenden  Leute  als  Fescennini  und 
Atellani  zeigen  uns  die  Einflüsse,  die  zunächst  auf  Latium  wirken, 
den  etruskischen  und  den  oskischen.  Beide  geben  in  letzter  Linie 
griechische  Anregungen  weiter;  es  ist  an  sich  nicht  wunderbar, 
daß  die  Metrik  der  Gesangspartien,  welche  die  römische  fabula 
gegen  ihre  attischen  Originale,  offenbar  dem  G-eschmack  des  Publi- 
kums zuliebe,  einlegte,  die  hellenistische  Technik  zeigt.  Nur  möchte 
ich  daraus  nicht  ohne  weiteres  mit  Leo  auf  ein  hellenistisches  Sing- 
spiel schließen,  das  ohne  genügenden  Grund  mit  dem  gesprochenen 
Drama  verquickt  wurde.  Nur  Einzelvorträge,  nicht  eigentliche 
Singspiele  dieser  Art  sind  uns  auf  griechischem  Boden  bisher  be- 
zeugt. Dagegen  bietet  die  Geschichte  des  römischen  Bühnenspiels 
durchaus  die  Möglichkeit ,  auch  eine  Verbindung  jener  Einzelvor- 
träge zu  heiteren  Szenen  für  Rom  selbst  anzunehmen^).  An  sie 
schloß  später  das  rein  griechische  Drama  an. 

Die  Theatergeschichte,  welche  die  Quelle  des  Livius  bot,  war 
gewiß  nicht  frei  von  kühner  Konstruktion^)  und  war  in  Erinne- 
rung an  griechische  Theorien  entworfen^).  Dennoch  ist  in  ihr 
gutes  Material  im  ganzen  verständig  benutzt ;  die  Einwirkung  der 
Theorie  ist  lange  nicht  so  stark,  als  man  annahm;  wir  dürfen  sie 
gewiß  nicht  kritiklos  verwenden,  aber  noch  weniger  ihre  Angaben 
unberücksichtigt  lassen,  wenn  wir  uns  von  den  Anfängen  der  rö- 
mischen Dichtung  eine  Anschauung  zu  bilden  versuchen. 


1)  Von  einer  dramatischen  satura  kann  bei  scharfer  Interpretation  nicht  die 
Rede  sein;  für  die  Existenz  von  Gesangsszenen  gewinnen  wir  wirklich  eine  Art 
Zeugnis. 

2)  Man  denke  an  die  Verbindung  der  Fescennini  versus  mit  dem  Gesetz  der 
Zwölf  *  Tafeln.  Gegeben  war  nur  die  Auffassung  der  Fescennini  versus  als  con- 
vida,  die  man  in  den  Neckliedern  bei  der  Hochzeit  noch  wiederfand,  und  das 
Verbot  beschimpfender  carmina  (nach  der  von  griechischer  Anschauung  beein- 
flußten, damals  allgemein  verbreiteten  Deutung  der  Stelle). 

3)  Auf  Aristoteles  selbst  weist  nichts. 


Moyccy7av2/  und  onager. 


Von 

E.  Schramm. 

Vorgelegt  in  der  Sitzung  vom  22.  März  1918  von  R.  Reitzenstein. 

Das  als  Einarm,  |j.ova7%o)v,  bezeichnete  griechische  Wurfgeschütz 
wird  bei  Heron  und  Philon  überhaupt  noch  nicht,  bei  den  übrigen 
griechischen  Kriegsschriftstellern  nur  selten  und  fast  nur  nebenbei 
erwähnt. 

Die  erste  Beschreibung  und  Zeichnung  eines  dem  Einarm  ähn- 
lichen Instrumentes  gibt  die  „Belagerungskunst"  des  Apollodoros 
AnOAAOAßPOr  nOAlOPKHTIKA. 


Sie  lautet  Wescher  188.  2  ff. 

IldXiv  6  v.pi6(;  ov  [idaov  ai 
xXi[i.axe<;  (p^pooat  "k'q^exa.i  xat'  Äxpov 
TSTpaYcbvoüc  iTrtTnrjYac  56o  woavel 
otaifovta.  TaÖTa  ipirj^dvia  x^^^^~ 
ziöac  Xri^BZOLi  xal  OTpo^ac  veopwv 
v.cd  otYXwva  [xiaov  [laxpöv,  olot  elotv 
Ol  Xt^oßöXot  [lovdYXCövsc  öu?  Ttvs<; 
o^pevöövac;  xaXoöatv,  Sc  ^)  uttö  xfjc 
pojc^C  l7ui«pspö[ievo<;  tij)  TSL^et,  a)(aa- 
TTjpiav  Xaßd)V  eTca^pYJast  toi?  tsi/o- 
^uXa^t  töv  [lovdYTtcDva,  %al  tuoXXtjv 
^pYdasrai  twv  l^peaTwicüV  aXwoiv. 


') 


Ferner  bekommt  der  Widder, 
der  in  der  Mitte  der  Leitern  ge- 
tragen wird,  vom  2  vierkantige 
Ansätze,  gleichsam  Backenstücke. 

Diese  werden  durchbohrt  und 
erhalten  Buchsen  und  Sehnen- 
bündel mit  einem  langen  Arm  in 
der  Mitte,  wie  die  einarmigen 
Steinwerfer,  die  manche  Schleu- 
der nennen.  Wird  er  (der  Wid- 
der) dann  gegen  die  Mauer  ge- 
schwungen, wird  der  Abzug  frei, 
daß  der  Einarm  gegen  die  Mauer- 
verteidiger schlagen  und  eine 
große  Menge  der  Dortstehenden 
fangen  wird. 


1)  Siehe  auch  R.  Schneider,  Griechische  Poliorketiker  Abhandl.  d.  Kgl.  Ges. 
d.  Wissenschaften  Göttingen.    X,  1,  S.  46. 

2)  6  Sc  xploc  R.  Sehn. 

17* 


260 


E.  Schramm, 


Bild  1.    cod.  M.  fol.  44. 
Einen  ähnlichen,    aber  sehr  erweiterten  Text  geben  die  ano- 
nymen Anweisungen  zur  Belagerungskunst  üAPArrEAMATA  IIO- 
AIOPKHTIKA,   ANQNTMOr  HTOI  HPQNOS  ETZANTIOT.     Hand- 
schrift vom  Jahre  1535.     Der  Text  lautet  W.  252.  3  v.  u.^): 


252.  '0  Bk  'üpiÖQ,  8v  xam  |idaov 
al  7tXi|jLa>ce?  ^spoooiv,  1^  IxaT^pwv 
Twv  TüXaYioöVTtaia  tö  s{X7:ppo6-£V  axpov 
TrpocXdßot  l7rt7:7JY[i.aTa  Süo  leTpocYcova, 
(253)  xaddcTTsp  oiaYÖvta,  op^a  7üpö<; 
oifoc,  6;u£paveaTY]%ÖTa  toö  Ttpioö  tuyj- 
^£(«)(;  a)(pt,  elg  ös  tyjv  TupoaT^Xwovv 
%al  xd-cwO-sv  Sta  ttjv  Tdotv  toö  tö- 
voo  da^paXtCöfisva. 

Taöta  öl  TpöTüdo^waav  It:'  sü- 
«ö-stac  aTuevavxiov  dXXvjXwv    ;upö?   tö 


Wenn  die  Leitern  den  Wid- 
der in  der  Mitte  tragen,  kann 
man  an  dessen  Vorderende  zu 
beiden  Seiten  2  viereckige  An- 
sätze, gleichsam  Backenstücke, 
senkrecht  anbringen,  die  oben  den 
Widder  um  eine  Elle  überragen  und 
unten  durch  ein  starkes  Querholz 
verbunden  sind,  um  sie  vor  der 
Kraft  der  Spannsehnen  zu  sichern. 

Diese  Backenstücke  sollen  in 
der  Mitte  an  2  gegenüberliegen- 


1)  Siehe  auch  R.  Schneider  a.  a.  0.  XI,  1,  S.  60. 


Movdtyxtov  und  onager. 


261 


-üpTjiidTCöV  7rpoa'A]Xöt)o^(öaav  aie^pavai 
oxepsal  Tca^dTTsp  %pi7,ot,  §e/ö[i£vai 
zatd  ^daov  Tag  XsifO[i,eva<;  )^oivi7Ci§a<;, 
6{iOioü[i^vag  Iv  a^7][iaaiv  oaipaxtvoK; 
oüDXTjviStotc;,  sz  y^cuXiiob  slpYaoji^va? 
ocTuö  TÖpvoo  scca^ev  t]  I^  sotovcov 
Gi§Yjpoi<;  l^w^sv  ivSsSejx^vac;  izezoiX- 
Xoig,  eopoTspac  ßdostc  Tcspl  t7]V  ^d- 
OLV  e)^o6aorcj  >tal  %axd  iy]V  Tcspioipo- 

(pTjV  OTTO  TWV  TrpOOTQXoöö-SVTCöV  %pa(ov 
7t(J)X00[J.SVag  TOÖ  TUapeTCTTtTüTSlV  TOix; 
lä)V    TpTJJxdTtOV    TÖ7rOü(;. 


Td  ÖS  Tü)V  xoivtTtiSwv  dva>to7:d- 
Twoav  aTÖ{j.La  %al  ös'/ea^waav  xa- 
vövia  TSTpd'jfüöva  lir£[j.ßaivoV'üa  waavsl 

7r£piaT0[ii§a<;,  Tupöc  id  axpa  twv  gto- 
^icov  Tcaps^s^^ovua  •  TTpög  d  veopot«; 
(ö[i.iaiotg  7)  vcöTiaiOK;  Tcdvrwv  C<pwv 
;rX7]V  auwv  Sid  [isooo  twv  /otvixiSwv 

Siep^O[j.£VOi(;  IttI  t"^  x'^c  GTpoff^q  idost 
öid  TÖ  süxovov,  (§£1)  ^)  7r£pi£iX£La^at, 

7)   TOt<;   k%   V7]{J.dT0DV    OTJplXWV  d§pox£- 

poig  {iaXd^otc,  ^  vtal  o/oiviotg  ex 
X(voD  VYj[iaxi7tot<;,  %axd  [isoov  eia§£- 
yo\i.Bvoi<;  ^oXov  {xaxpöv  l[i.ßaXXö[i.£Vov 
Iv  0)(75[iaTt  ;uaXtVTÖvoo  aYXwvoi;  dv- 
T£axpa[i[i£Vov  ö;uig^£V  xal  xaxaxXelS', 
%paTOü[X£Vov,  oloL  sloiv  Ol  Xi^oßöXoi 
liovdY%{ov£<;,  (254).  oog  Ttvs?  a(p£V- 
Sövac   TtaXoöat. 


Mo)rX6v  Se  (§£t)  oiÖYjpoöv  pt- 
Coxpixiv  s'xovxa,  Tcpög  xdc  pY]'ö'£i(3ag 
7r£piaxo[i.i§ac  ltißaXXö[X£Voy,  ßiaiav 
T7]v    iTTtaxpo^pYjV    sttI  xwv  ^oivivciScov 


den  Stellen  durclibohrt  «werden, 
an  die  Außenseiten  der  Löcher 
sollen  ringförmige  Kränze  ge- 
nagelt werden,  welche  die  soge- 
nannten Buchsen  umfassen.  Diese 
sind  tonröhrenförmig  aus  Erz 
hergestellt  und  inwendig  ausge- 
bohrt, oder  aus  starkem  und 
äußerlich  mit  Eisenblech  beschla- 
genem Holze ;  an  der  Auflage  ist 
der  Rand  breiter,  bei  der  Um- 
drehung verhindern  die  aufge- 
nagelten Ringe,  daß  sie  von  der 
Stellung  über  den  Löchern  wei- 
chen. 

Die  Buchsen  sollen  oben  Ein- 
schnitte erhalten  und  darin  vier- 
kantige Bolzen  aufnehmen,  gleich 
wie  Klammern,  die  über  die  En- 
den der  Ausschnitte  hervorragen. 
Daran  werden  Schulter-  und 
E/ückensehnen  aller  Tiere,  außer 
der  Schweine,  befestigt,  die  zwi- 
schen den  Buchsen  liegen  und 
mit  Kraft  straif  gezogen  werden, 
auch  stärkeres  Seidengarn  und 
Hanfstricke  sind  verwendbar,  und 
endlich  wird  in  deren  Mitte  ein 
starkes  Holz  durchgeschlagen, 
das  in  der  Art  wie  ein  Arm  beim 
Palintonon  rückwärts  gedreht 
und  mit  einem  Riegel  festgehalten 
wird,  wie  bei  dem  einarmigen 
Steinwerfer,  von  Einigen  Schleu- 
der genannt. 

Ein  eiserner  Hebel  mit  Wur- 
zelring ist  außerdem  nötig,  er  wird 
auf  die  genannten  Klammern  ge- 
schoben, um  die  Buchsen  mit  Ge- 
walt herumzudrehen  und  dadurch 


1)  M  xZ  dvxov^tp  (durch  die  Spann leiter)  R.  Sehn. 


262 


E.  Schramm, 


Tüoteiv  %a^  o^oSpav  ty]V  xdatv  ÄTrep- 
YaCeodat.    '0  dk  xpi6<;  airö  tcov  xXt- 

iTUKpepöfievo^  iTütppitfsi  ToFc  tei^o^pö- 
Xa^tv  otTToXo^^vra  töv  [lova^zcöva, 
xal  ttoXXyjv  IpYdasTai  twv  l(peoTa)T(öv 
aXcootv.  Kai zb  cxr^jia  xaiaYeYpaTr-cat. 


eine  starke  Kraft  zu  erzeugen. 
Der  Widder  wird  von  den  Leitern 
gegen  die  Mauer  gestoßen,  wird 
den  freigewordenen  Einarm  gegen 
die  Verteidiger  der  Mauer  schla- 
gen und  eine  große  Menge  der 
Dortstehenden  erfassen.  Das  Bild 
ist  beigefügt. 


Bild  2.     cod.  B.  fol.  182. 


Bild  und  Beschreibung  genügen  um  das  Instrument  als  eine 
Art  Menschenfalle  zu  rekonstruieren.  Die  Breite  des  größten  be- 
kannten Widderbalkens  des  Hegetor  von  Byzanz  beträgt  369,6  mm, 
rund  37  cm.  Die  Höhe  über  Widderbalkenobcrkante  ist  auf  443,6  mm. 
rund  44  cm  angegeben.  Die  Dicke  des  Balkens  beträgt  295,7 
rund  30  cm. 

Obgleich  der  Widder  sich  nach  vorn  verjüngt,  um  ihn  wegen 
des  dortiges  Eisenbeschlages  und  der  Tauumwickelung  nicht  zu 
schwer  zu  machen,  ist  trotzdem  in  der  beigegebenen  Zeichnung 
(Bild  3)  absichtlich  seine  größte   Stärkeabmessung  eingesetzt,   da- 


Movotyxwv  und  onager. 


263 


mit  die  Leistung  des  darauf  befindlichen  Instrumentes,  das  Menschen 
fangen  soll,  lieber  überschätzt  als  unterschätzt  wird. 


"^^w\^^ 


Die  erwähnten  Backenstücke  müssen  aus  zwei  Gründen  sehr 
stark  gehalten  werden. 

1)  Da  sie  über  den  Widderbalken  nach  oben  frei  auskragen, 
d.  h.  oben  keine  zweite  Unterstützung  haben,  wie  bei  dem  Plin- 
thion  eines  Geschützes ,  so  können  Peritrete  von  nur  1  Kaliber 
Dicke,  wie  sie  der  Vorschrift  bei  zweifacher  Unterstützung  ent- 
sprechen, nicht  genügen,  sie  sind  also  stärker  gehalten.  Die  beiden 
durchbohrten  Backen,  die  die  doppelt  unterstützten  Peritrete  er- 
setzen müssen ,  werden  auseinandergehalten  durch  den  Widder- 
balken, vermutlich  zusammengehalten  durch  einen  warm  aufgezo- 
genen Eisenblechrahmen,  sowie  durch  Bolzen  mit  breiten  Köpfen. 
Die  wegen  des  Reißens  des  Holzes  unbedingt  nötigen  Verstärkungs- 
bleche ersetzen  zugleich  auf  jeder  Seite  die  Unterlage,  oTrö^Yjjia. 

Ohne  diese  Verstärkungen  würde  beim  Trocknen  und  allmäh- 
ligen  Schwinden  des  Holzes  des  Widderbalkens  infolge  der  starken 
Spannung  der  Sehnen  ein  Schrägdrücken  der  Backen  nach  Innen 
stattfinden.  Die  Buchsen  verkeilen  sich  dann  in  ihren  Lagern 
und  lassen  sich  nicht  mehr  drehen. 


264  ^-  Schramm, 

2)  Bei  normalem  Philon' sehen  Rahmen  müßten  die  Buchsen 
5^2  Kaliber  Abstand  von  einander  haben.  5  Kai.,  wie  in  beiliegender 
Zeichnung  angenommen  ist,  dürfte  als  äußerste  Grenze  eines  ka- 
tatonischen Rahmens  bezeichnet  werden  und  ist  bei  Geschützen 
mit  2  Bogenarmen  vielleicht  auch  angewandt  worden,  aber  dann 
bei  gleichzeitiger  Vergrößerung  der  Bogenarme,  um  einen  genügend 
langen  Pfeilweg  unter  Druck  zu  erreichen,  ohne  eine  Verdrehung 
der  Bogenarme  bis  über  30^  zu  benötigen.  Für  das  Instrument 
auf  dem  Widderbalken  reicht  aber  eine  Bewegungsfreiheit  des 
Armes  von  30^  nicht  aus  um  mit  einem  Querholz  und  einer  Schlinge 
daran  den  Feind  zu  erfassen.  Er  muß  bis  vor  die  Spitze  des 
Widders  schlagen  können. 

Die  größte  Breite  des  Widders  ist  eingesetzt  worden  weil  da- 
durch der  Abstand  der  Buchsen  von  5  Kai.  leichter  erreicht  werden 
kann.  Trotz  dieser  absichtlich  günstig  gewählten  Verhältnisse 
kann  man  von  einer  nur  einigermaßen  erheblichen  Leistungsfähig- 
keit des  Instrumentes  nicht  reden.  Denn  nach  der  beigegebenen 
Konstruktionszeichnung  kann  das  Kaliber  des  Spannloches  nicht 
über  4  Daktylen  (knapp  8  cm)  gewesen  sein.  (Also  entsprechend 
dem  Ampuriasgeschütz,  aber  nur  mit  einem  Arm).  Das  ist  sehr 
wenig  und  für  das  Fangen  von  Feinden  mit  Schlingen  oder  Netzen 
sehr  schwach  bemessen.  Das  ganze  Instrument  ist  keine  glück- 
liche Konstruktion  zu  nennen. 

Alles  in  Allem  kann  weder  die  Beschreibung  bei  Apollodoros 
noch  bei  dem  Anonymus  den  Eindruck  erwecken,  daß  man  es  mit 
einem  wirklichen  Geschütz  zu  tun  hat,  es  soll  nur  „nach  Art  des 
einarmigen  Steinwerfers"  einen  in  einer  Vertikalebene  beweglichen 
Arm  haben,  und  zwar  nicht  zum  Schleudern  mit  der  o^evSövT]  son- 
dern zum  Überwerfen  einer  Schlinge  oder  eines  Netzes. 

Das  Wichtigste  an  der  Beschreibung  beider  Kriegsschriftsteller 
sind  einmal  die  Worte :  „wie  die  einarmigen  Steinwerfer,  die  manche 
Schleuder  nennen",  und  in  zweiter  Linie:  „wie  beim  Palintonon 
rückwärts  gedreht  und  mit  einem  Riegel  festgehalten".  Dadurch 
erhält  die  Beschreibung  und  Zeichnung  des  Instrumentes  erst  den 
richtigen  Wert,  denn  ohne  sie  hätten  wir  nur  Vermutungen  über 
das  Aussehen  des  Einarmes.  Wenn  man  aus  der  Beschreibung 
beider  Kriegsschriftsteller  auch  nicht  direkt  die  Konstruktion  des 
Einarmes  ableiten  kann,  so  sind  doch  einige  Anhaltspunkte  gegeben. 
Geht  man  beiden  Sätzen  genau  auf  den  Grund,  so  tritt  allmählich 
das  einarmige  Steingeschütz  immer  klarer  vor  unsre  Augen.  Die 
griechische  Stockschleuder,  otpevSövYj,  besteht  aus  einer  hänfenen 
oder  ledernen  Schleuder  mit  2  Ösen.    Die  eine  Öse  fest  an  einem 


Movttyxfov  and  onnger.  265 

Stocke  befestigt,  die  andere  lose  über  das  sorgfältig  geglättete 
daumenartige  Ende  des  Stockes  geschoben.  Beim  Wurfe  zieht  das 
in  der  Schleuder  befindliche  Geschoß  die  obere  Ose  vom  Stocke 
ab  und  der  Stein  wird  frei. 

Der  menschliche  Arm,  die  Hand  und  der  Schleuderstock  werden 
beim  Geschütz  durch  den  Wurfarm  ersetzt,  die  Armkraft  aber 
bedeutend  verstärkt.  Die  Schleuder  bleibt  die  gleiche.  Der  Wurf- 
arm muß  sich  wie  der  menschliche  Arm  in  einer  senkrechten  Ebene 
bewegen.  Dieser  Arm  wird  wie  beim  Palintonon  nach  rückwärts 
gedreht  und  durch  einen  Riegel  ^befestigt. 

Das  Spannsehnenbündel  liegt,  wie  bei  dem  Widderinstrument, 
horizontal. 

Der  Halbrahmen  eines  Palintonon  horizontal  gelegt  mit  einem 
Schleuderarm  an  Stelle  des  Bogenarmes  entspricht  also  dem  Mo- 
nankon.  Der  Wurfarm  bewegt  sich  dann  in  einer  senkrechten 
Ebene.  Der  Stein  soll  die  Schleuder  unter  einem  Winkel  von  45^ 
verlassen,  weil  er  dann  die  größte  Schußweite  erreicht.  Das  Ver- 
lassen der  Schleuder  muß  erfolgen  kurz  ehe  der  Arm  gegen  das 
Widerlager  anschlägt,  damit  möglichst  der  ganze  Weg  des  Steines 
in  der  Schleuder  unter  Druck  zurückgelegt  wird.  Verläßt  er  die 
Schleuder  erst  später,  so  geht  ein  Teil  der  Kraft  nutzlos  in  dem 
zu  starken  Schlag  gegen  das  Widerlager  verloren,  verläßt  er  sie 
schon  früher,  so  wird  die  Kraft  des  Armes  nicht  voll  ausgenutzt. 

Die  Bewegungsfreiheit  des  Wurfarmes  ist  wie  die  der  Bogen- 
arme keine  beliebige. 

Das  normale  Euthytonon  mit  nur  5^2  Kai.  Spannlänge  eignet 
sich  nicht  zum  Vergleich  mit  dem  Einarm,  da  es  zunächst  beim 
Spannen  nur  Ausschlagswinkel  der  Bogenarme  unter  30^  anwendete 
und  erst  mit  abnehmender  Spannung  30^  erreichte,  sicher  nicht 
überschritt.  Denn  die  Verlängerung  des  Pfeilweges  ist  nur  bis 
zu  einer  gewissen  Grenze  von  Vorteil.  Das  Palintonon  mit  7^2 
Kai.  Spannlänge  kann  unbeschadet  um  die  Ausdauer  des  Sehnen- 
bündels von  vornherein  stärker  in  Anspruch  genommen  werden 
und  allmählich  dieser  Winkel  unter  Ausnutzung  der  ganzen  Leiter- 
länge beim  Zurückziehen  des  Schiebers  bis  ca.  45*^  erhöht  werden, 
bei  gebogenen  Bogenarmen  noch  etwas  mehr.  Diese  Erfahrungen 
sind  auf  den  Einarm  zu  übertragen. 

In  beistehendem  Bilde  (Bild  4)   ist   die  Bewegung  des  Armes 
und   der  Schleuder  von    der  Spannstellung    bis   zur  Euhestellung 
am  Widerlager  eingezeichnet.     Der  Weg  des  Schleudersteines  in 
der  Schleuder  ist  a  b  c  d  und  von  da  ab  nach  dem  Verlassen  der 
Schleuder  d  f. 


266 


E.  Schramm, 


•  V         1:20 


^\L}vix}AX^^iö€^ei/n£ic^  dXncxhrui/yia' ^ea  Sla^icn:>. 


i^ssT" 


Bild  4. 

Die  Schleuderlänge  von  V*  der  Bogenarmlänge  hat  sich  als 
die  praktischste  herausgestellt.  Zu  lange  Schleudern  beeinträch- 
tigen die  Wucht  des  Wurfes  durch  ihr  elastisches  Nachgeben,  auch 
dürfen  sie  nicht  bis  auf  das  Spannseil  herabreichen.  Zu  kurze 
Schleudern  sind  für  wechselnde  Steingrößen  nicht  brauchbar,  sie 
verlassen,  wenigstens  bei  Anwendung  größerer  Wurfkörper,  leicht 
vorzeitig  mit  der  losen  Ose  den  Daumen  des  Wurfarmes.  Berech- 
nungen sind  ganz  unzuverlässig.  Dieselbe  Schleuder,  die  sich  an- 
fangs durch  ihre  Steifigkeit  und  durch  starke  Reibung  der  losen 
Ose  am  Daumen  schwer  von  dem  Wurfarme  löst ,  ergibt  nach 
einigen  Feilstrichen   am  Daumen  größere  Abgangswinkel  und   im 


MovayxcDv  und  onager. .  267 

Laufe  ihrer  Verwendung  muß  sogar  durch  die  Daumenform  nach- 
geholfen werden,  daß  sie  den  Schleuderarm  nicht  zu  früh  verläßt. 

Ist  der  Arm,  der  Daumen  au  demselben  und  die  Schleuder 
schließlich  richtig  zu  einander  eingespielt,  so  geht  der  Wurfstein 
nicht  von  d  nach  e  wie  es  der  Fall  sein  würde  wenn  die  Öse  den 
Daumen  nicht  verläßt,  sondern  bereits  in  der  Stellung  des  Steines 
bei  d  streift  sich  die  lose  Ose  vom  Daumen  ab  und  der  Stein  fliegt 
unter  einem  Winkel  von  45"  weiter.  Der  Bogenarm  hat  an  dieser 
Stelle  einen  Ausschlag  von  37  V2  Grrad  gemacht,  also  einen  Winkel  von 
67  V2  Grad  zur  Horizontalen  erreicht :  den  gleichen  Winkel  müßten 
auch  die  Spannbolzen  in  den  Buchsen  haben,  wenn  in  dieser  Stel- 
lung der  Druck  des  Sehnenbündels  auf  den  Wurf  arm  zu  Ende 
sein  soll.  Unmittelbar  darauf  müßte  der  Wurfarm  gegen  das 
Widerlager  schlagen.  Dann  wäre  der  ganze  Weg  unter  Druck 
zurückgelegt  und  keine  Kraft  verloren.  Bei  frischer  Bespannung 
ist  das  das  Richtige.  Leider  ist  man  durch  das  Nachlassen  der 
Spannung  bald  genötigt  die  Buchsen  zu  überdrehen.  Dadurch  wird 
sofort  die  Kraft  des  Schlages  gegen  das  Widerlager  so  stark,  daß 
trotz  der  Polsterung  desselben  der  Wurfarm  leicht  bricht.  Des- 
halb hat  sich  eine  Anordnung  des  Widerlagers  unter  7ö"  vor- 
teilhafter herausgestellt,  als  unter  67^2  Grad  zur  Horizontale. 
Die  Anordnung  der  Spannwelle  und  des  Angriffspunktes  des  Spann- 
seiles muß  ungefähr  der  Zeichnung  entsprechen ;  liegt  der  Angriffs- 
punkt mehr  nach  dem  Drehpunkte  zu,  wird  die  Kraft  zum  Spannen 
vergrößert,  liegt  er  entfernter  davon,  stören  sich  Seil  und  Schleuder. 

Die  Anordnung  des  Spannrahmens  wäre  theoretisch  richtig 
wie  sie  im  Bilde  dargestellt  ist  mit  Schrägstellung  der  Ständer 
unter  45^,  wenn  daß  Reißen  des  Holzes  in  Richtung  der  Maserung 
nicht  berücksichtigt  werden  müßte.  Dieses  Reißen  zwischen  Bohr- 
loch und  Außenseite  ist  aber  in  diesem  Falle  höchst  wahrscheinlich, 
vor  allem  wenn  man  bei  größeren  Geschützen  gezwungen  ist,  um 
das  Gewicht  nicht  zu  sehr  zu  erhöhen,  den  Schwellen  außerhalb 
des  Spannrahmens,  wo  sie  dem  Drucke  der  Spannsehnen  nicht  aus- 
gesetzt sind,  möglichst  kleine  Abmessungen  zu  geben. 

Ferner  beansprucht  die  Herstellung  schräggestellter  Ständer 
eine  viel  schwierigere  Bearbeitung  des  Holzes,  so  daß  man  auch 
aus  diesem  Grunde  annehmen  kann,  daß  die  Ständer  einfach  senk- 
recht gestellt  wurden.  Das  bedingt  zwar  eine  Schwächung  des 
rückwärtigen  Ständers  durch  den  Einschnitt  für  den  Bogenarm, 
die  sich  aber  durch  etwas  stärkere  Abmessungen  desselben  und 
Eisenbeschlag  wieder  ausgleichen  läßt. 

Die    mutmaßliche    senkrechte    Anordnung    der    Ständer   zeigt 


268 


E.  Schramm, 


1 :  W. 


*V\Mvzfu:(um\tufie  dUunb^^^^.vna^  2teö  Ji^ahAruno 


Bild  5. 
Bild  5.     Bei  kleineren  Geschützen  ließ   man   vermutlich   auch   die 
Ausbiegung  nach  unten  weg,  so  daß  das  auf  der  Tafel  dargestellte 
Geschütz  entsteht  ^). 

Stimmt   nun   diese  Konstruktion   des  Einarmes   mit    der   Be- 
schreibung des  Ammianus  Marcellinus  XXIII,  4  vom  onager? 

Der  Text  dieser  Beschreibung  lautet: 

Scorpionis  autem,  quem  ap-  Der  Skorpion  aber,  welcher 

pellant'nunc  onagrum,  huiusmodi    jetzt  onager  genannt  wird ,   hat 


forma  est.  Dolantur  axes  duo  quer- 
nei  vel  ilicei  curvanturque  me- 
diocriter,  ut  prominere  videan- 
tur  in  gibbas,  hique  in  modum 
serratoriae  machinae  connectun- 
tur,  ex  utroque  latere  patentius 


folgende  Form.  Zwei  eichene 
oder  steineichene  Schwellen  wer- 
den bearbeitet  und  mäßig  so  ge- 
rundet, daß  sie  sich  in  Buckeln 
zu  erheben  scheinen,  diese  wer- 
den nach   Art   einer    Säge   ver- 


1)  Die^Tafeln,  aus  „die  antiken  Geschütze  der  Saalburg  1917"  entnommen, 
sind  von  der  Saalburgverwaltung  kostenlos  überlassen  worden,  wofür  auch  hier 
der  beste  Dank  ausgesprochen  wird. 


Movctyxwv  und  onager. 


269 


perforati;  quos  inter  per  caver- 
nas  funes  colligantur  robusti  com- 
pagem,    ne  dissiliat,   continentes. 


Ab  hac  medietate  restium 
lignens  stilus  exsurgens  obliquus 
et  in  modum  iugalis  temonis  e- 
rectus  ita  nervorum  nodulis  im- 
plicatur,  ut  altius  tolli  possit  et 
inclinari ;  summitatique  eins  unci 
ferrei  copulantur,  e  quibus  pen- 
det  stuppea  vel  ferrea  funda. 
Cui  ligno  fulmentum  prosternitur 
ingens,  cilicium  paleis  confertum 
minutis,  validis  nexibus  illiga- 
tum^).  Et  locatur^)  super  con- 
gestos  caespites  vel  latericios  ag- 
geres.  Nam  muro  saxeo  huiusmodi 
moles  imposita  disieetat,  quid- 
quid  invenerit  subter,  concussione 
violenta,  non  pondere. 


Cum  igitur  ad  concertatio- 
nem  ventum  fuerit,  lapide  rotundo 
fundae  imposito  quaterni  altrin- 
secus  iuvenes  repagula,  quibus  in- 
corporati  sunt  funes,  explicantes 
retrorsus  stilum  paene  supinum 
inclinant ;  itaque  demum  sublimis 
adstans  magister  claustrum,  quod 
totius  operis  continet  vincula, 
reserat  malleo  forti  percussum; 
unde  absolutus  ictu  volucri  stilus 
et    mollitudine     offensus     cilicii 


bunden,  auf  beiden  Seiten  mit 
großen  Löchern  versehen.  Zwi- 
schen ihnen  sind  durch  die  Löcher 
starke  Taue  gezogen,  welche  das 
Gestell  zusammenhalten,  daß  es 
nicht  auseinanderfalle. 

Mitten  in  diesen  Seilen  er- 
hebt sich  schräg  ein  Holzarm 
nach  Art  einer  Wagendeichsel 
aufgerichtet,  und  so  in  den  Seh- 
nenknäuel eingefügt,  daß  er  auf- 
gerichtet und  gesenkt  werden 
kann.  An  seiner  Spitze  werden 
eiserne  Haken  befestigt,  von  de- 
nen eine  hänfene  oder  eiserne 
Schleuder  herabhängt.  Diesem 
Holze  wird  ein  Widerlager  ent- 
gegengesetzt, ein  mit  kleinge- 
machter Spreu  vollgestopftes 
Haar  tuch,  das  mit  starken  Stricken 
befestigt  ist.  Man  stellt  es 
auf  eine  Rasenziegel-  oderZiegel- 
maner,  denn  stellt  man  ein  sol- 
ches Ungetüm  auf  eine  Bruch- 
steinmauer, so  zerstört  es  durch 
die  Erschütterung,  nicht  durch  das 
Gewicht,  alles  Unterliegende. 

Kommt  es  zum  Kampfe,  wird 
ein  runder  Stein  in  die  Schleuder 
gelegt  und  4  junge  Männer  auf 
jeder  Seite  drehen  die  Welle,  um 
die  das  Tau  geschlungen  ist,  und 
ziehen  den  Arm  weit  nach  rück- 
wärts (fast  horizontal),  dann  erst 
löst  der  Geschützmeister,  von  er- 
höhtem Standpunkte  zur  Seite, 
den  Eiegel  zur  Verbindung  mit 
dem  Geschütz  durch  kräftigen 
Hammerschlag,  worauf  der  Arm, 


1)  Punkt  statt  Komma  gesetzt. 

2)  locatur  statt  locatum  gesetzt  nach  I^  Sehn. 


270  ■^-  Schramm, 

saxum  contorquet,  quidqaid  in-  durch  den  schnellen  Schlag  frei- 
currerit,  collisurum.  geworden,     indem     er    auf    das 

elastische  Haartuchkissen  auf- 
schlägt, den  Stein  fortschleudert, 
der  alles  zerstört  was   er   trifft. 

Et    tormentum    quidem    ap-  UndTorsionsgeschützwirdes 

pellatur  ex  eo,  quod  omnis  expli-  deshalb  genannt,  weil  alle  seine 
catio  torquetur;  scorpio  autem,  Kraft  aus  der  Torsion  hervor- 
quoniam  aculeum  desuper  habet  geht,  Skorpion  aber,  weil  es 
erectum ;  cui  etiam  onagri  voca-  einen  aufrechten  Stachel  hat ;  die 
bulum  indidit  aetas  novella  ea  Neuzeit  gab  ihm  auch  den  Na« 
re,  quod  asini  feri,  cum  venati-  men  Waldesel  weil  die  wilden 
bus  agitantur,  ita  eminus  lapides  Esel,  auf  der  Jagd  verfolgt,  hinten 
post  terga  calcitrando  emittunt,  ausschlagend  Steine  mit  solcher 
ut  perforent  pectora  sequentium  Kraft  rückwärts  schleudern,  daß 
aut  perfractis  ossibus  capita  sie  die  Brust  der  Verfolger  durch- 
ipsa  displodant.  bohren  oder  selbst  ihre  Schädel 

zerschmettern. 

Die  naive  Beschreibung  und  namentlich  das  „ne  dissiliat"  werden 
dem  braven  Ammian  zum  Vorwurf  gemacht.  Man  kann  aber  auch 
ohne  hervorragende  technische  Kenntnisse  ein  tüchtiger  Soldat 
sein.  Wort  für  Wort  der  Beschreibung  stimmt  auf  das  vorbeschrie- 
bene einarmige  Geschütz.  Die  Langschwellen,  die  Buckel  an  dem 
Spannrahmen,  die  Bohrlöcher  für  das  horizontale  Spannsehnenbündel, 
der  Wurfarm,  die  eiserne  oder  hänfene  Schleuder,  das  Widerlager 
mit  einem  mit  Spreu  wohlgestopftem  Haartuchkissen,  das  mit  Seilen 
an  dem  Holze  des  Widerlagers  festgebunden  ist. 

Ammian  hat  sich  bemüht  seinem  Leserkreise  die  Sache  so  an- 
schaulich als  möglich  zu  machen.  Wie  bei  der  Handsäge  der 
Knebel,  steckt  der  Bogenarm  in  dem  Sehnenbündel.  Wenn  man  bei 
der  Handsäge  den  Knebel  herauszieht,  kann  man  sie  ganz  ausein- 
andernehmen, das  hat  ihm  bei  dem  Ausdrucke:  „Damit  sie  nicht 
auseinanderfalle"  vorgeschwebt. 

Daß  die  drei  rekonstruierten  onager  den  Eindruck  von  Säge- 
böcken machen,  war  jedenfalls  nicht  beabsichtigt.  Übersetzt  man, 
wie  Schneider,  serratoria  machina  mit  Dreschmaschine,  so  stimmt 
die  Rekonstruktion,  wenn  man  die  Eäder  wegläßt,  die  ja  nur  zum 
Transport  da  sind  und  beim  Gebrauche  abgezogen  werden  können, 
wie  bei  unseren  älteren  Mörsern. 

Absichtlich  ist  bei  jedem  der  3  onager  die  Spannvorrichtung 
etwas  anders  konstruiert  worden  um  zu  zeigen,'  daß  es  zweifellos 
verschiedene  Konstruktionen  derselben  gegeben  hat. 


MovctYxtov  und  onager.  271 

Ammian  schreibt,  daß  an  der  Spitze  des  Schleuderarmes  eiserne 
Haken  befestigt  waren.  Vielleicht  war  das  nur  bei  Verwendung 
eiserner  Schleudern  nötig.  Eiserne  Haken  wurden  mit  eisernen 
und  hänfenen  Schleudern  ausprobiert.  Nach  wenigen  Schüssen 
zerbrach  regelmäßig  der  Bogenarm,  selbst  bei  Umwickelung  des- 
selben mit  Eisenblech  oder  geleimten  Stricken.  Alle  entsprechenden 
Holzarten  wurden  probiert;  Eschenholz  hat  sich  am  besten  be- 
währt. Schließlich  wurde  der  eiserne  Haken  ganz  weggelassen, 
der  Arm  hielt  und  die  Schußweite  vergrößerte  sich.  Eine  eiserne 
Einlage  für  die  Kugel  in  die  Hanfschleuder  hat  sich  als  günstig 
herausgestellt.     Auch  das  würde  der  Beschreibung  entsprechen. 

Ammian  schreibt  ferner,  daß  der  Greschützmeister  von  erhöhtem 
Standpunkte  mit  einem  Hammerschlage  den  Schuß  löste.  Der  Ab- 
zug lag  bei  einem  onager  von  doppelter  Größe  wie  das  große  Saal- 
burggeschütz auf  2ni  Höhe  über  dem  Boden.  Man  mußte  also 
auf  ein  Podium  treten,  um  ihn  mit  dem  Hammer  zurückschlagen 
zu  können.  Das  Abziehen  mit  der  Leine,  das  der  Gefahr  wegen 
nur  seitlich  erfolgen  konnte,  zog  den  Wurfarm  seitlich  aus  der 
Richtung.  Der  Hammerschlag  brachte  den  Wurfarm  nicht  aus 
seiner  Richtung,  war  leichter  und  bequemer.  Beim  Schlage  auf 
die  rechte  Schwelle  des  Geschützes  zu  treten  war  zu  gefährlich 
und  deshalb  ein  Auftritt  nötig. 


Nachrichten  von  der  Königl.  Gesellschaft  der  Wissenschaften  zu  Oötting. 
Phil.-hist.  Klasse  1918,  Heft  2  (Schramm). 


en. 


Nachncnten  von  der  Königl.  Gesellschaft  der  Wissenschaften  zu  Göttingen. 
Phil.-hist  Klasse  1918,  Heft  2  (Schramm). 


Onager  nach  Ammianus  Marcellinus 

/  Längsschnitt ,  2  Ansicht  von  der  Seite,  3  von  Oben ,  ^  von  Tunten, 
5  Spann- n.Äbzugsvorrichtunff  t-^ 


r*^  .  ,  .  f 


Maßstab  1:W 


RICHTCriÄ:  &EP3ER.METZ 


RICHTER*  6ERBER,M£TZ 


Die  böotische  Betonung. 

Von 

Eduard  Hermann. 

Vorgelegt  in  der  Sitzung  vom  14.  Juni  1918. 

Von  der  Betonung  des  Böotischen  haben  uns  die  Alten  keine 
Nachricliten  hinterlassen.  Meister  konnte  daher  in  seinen  Grriechi- 
schen  Dialekten  I,  213  fg.  auch  nur  ein  paar  oxytonierte  Eigen- 
namen zusammenstellen  und  daraus  den  Schluß  ziehen,  daß  die 
böotische  Mundart  in  der  Betonung  nicht  mit  dem  Lesbisch-Aoli- 
schen  zusammengegangen  sei.  Einen  wirklichen  Einblick  in  die 
böotische  Betonung  haben  wir  erst  erhalten,  seitdem  Papyrusblätter 
aus  dem  2.  Jahrhundert  v.  Chr.  zwei  Gredichte  der  Korinna  ans 
Tageslicht  gefördert  haben.  Ihr  erster  Herausgeber,  v.  Wilamo- 
witz,  hat  in  den  Berliner  Klassikertexten  V,  2,  42  fg.  die  Akzent- 
zeichen der  Papyrusblätter  vermutlich  mit  Recht  sofort  für  das 
Böotische  in  Anspruch  genommen  und  die  Betonung  richtig  als 
zwischen  der  attischen  und  dorischen  liegend  bezeichnet.  So  küm- 
merlich nun  auch  die  Überreste  sind,  möchte  ich  doch  die  böotische 
Akzentuation  noch  etwas  genauer,  so  weit  es  möglich  ist,  festlegen. 

Bei  den  ÜSTachrichten  über  dorische  Betonung  sowie  in  den 
akzentuierten  Papyrusrollen,  die  dorische  Verse  enthalten,  finden  wir 
neben  Echtdorischem  gelegentlich  die  Betonung  der  Koine.  Wenn 
nun  der  Korinnatext  eine  Akzentuation  aufweist,  die  nur  in  ein- 
zelnen Fällen  von  der  attischen  abweicht,  könnte  man  auf  deu 
Gedanken  kommen,  daß  nur  die  Abweichungen  sicher  Echtmund- 
artliches enthalten.  Ein  solcher  Gedanke  scheint  mir  nicht  be- 
rechtigt zu  sein.  Ich  will  natürlich  nicht  behaupten,  daß  die  Be- 
tonung der  Koine  dem  Schreiber  nirgends  eine  Form  seiner  Aus- 
sprache der  Betonung  in  die  Finger  diktiert  hätte,  aber  im  großen 

Kgl.  Ges.  d.  Wiss.  Nachrichten.    Phil.-hist.  Klasse.    1918.    Heft  3.  18 


274  Eduard  Hermann, 

ganzen  scheint  mir  die  Überlieferung  des  Papyrus  Echtes  zu  ent- 
halten, dazu  ist  die  Akzentuation  in  sich  zu  folgerichtig.  Wir 
wollen  deshalb  einmal  den  Versuch  machen,  die  überlieferte  Ak- 
zentuation der  Korinna  überall  zu  verstehen. 

Die  Drittletzte  wird  im  allgemeinen  ebenso  betont  wie  im 
Attischen,  dafür  liefern  Beispiele  1,29  y^d[d]6xtog,  2,68  7C8Ö[oxo]g^ 
2,76  noxiddcovog,  2, 132  nkdtr}[av],    2,85   dr}^6v[666iv],  1,29  [I6]vjtri0i,, 

2,81    TG)V£K,    1,18    S^slfS^,    1,90    ÖÖQOVÖSV,    1,20    haTtOV,    1,27    SKOÖ^iOV^ 

2,97  Fado[iiri],  2, 107  J'ddo^t]  ts,  2,98  tvccvo^t],  2,62  söyEvvdöovd'',  2,63 
Kae^oyd-iq.  Auch  das  Hemagesetz  scheint  geherrscht  zu  haben; 
denn  wir  lesen:  1,6  (povXov,  2,5&  ^vßog,  1, 30  [%aXs7c]riaLv,  2,6  ötr[f], 
1,22  aQd'sv.  Eine  Ausnahme  machen  nur  l,i9  ^667],  2,84  X6v[6ov]r 
2,114  Fadüäv. 

Für  1166Y1  hat  v.  Wilamowitz  an  die  dorische  Betonung  TcaCöeg 
erinnert.  Wenn  meine  Ausführungen  über  die  dorische  Betonung 
IE  38  richtig  sind  und  im  Böotischen  das  Hemagesetz  einmal 
bestanden  hat,  kann  diese  Anknüpfung  nicht  richtig  sein.  Wir 
haben  im  Dorischen  sogar  Fälle,  die  dem  böotischen  ^(höri  noch  ähn- 
licher zu  sein  scheinen,  z.B.  TtQdvai^  und  doch  liefern,  wie  ich 
glaube,  diese  vom  Attischen  abweichenden  Betonungen  des  Dori- 
schen keine  Parallele  für  das  Böotische.  Wohl  aber  stehen  avsi- 
Qo^svai  u.  a.  mit  ^coöt}  auf  einer  Stufe. 

Wie  ich  IE  38  auseinandergesetzt  habe,  beruhen  dyxvQaL^ 
avsiQo^svai  usw.  auf  analogischer  Einwirkung  des  Akzents  des 
Dativs  und  Akkusativs  Pluralis.  Ebenso  wird  ^coörj  zu  erklären 
sein.  Weil  man  ^60i^g^  ^66ag  sprach,  änderte  man  ^aüTj  in  /ic&öi^ 
um.  Wir  werden  vermuten  dürfen,  daß  die  Maskulina  sich  ent- 
sprechend verhielten,  d.  h.,  daß  z.  B.  nach  dd^icjv,  dd^vg,  dd^cag  der 
Nominativ  dä^iv  zu  ddfiv  geworden  war.  Ja,  man  wird  die  weitere- 
Vermutung  wagen  dürfen,  daß  die  Maskulina  bei  diesem  Ausgleick 
den  Femininen  vorausgegangen  sein  werden,  weil  bei  ihnen  da- 
durch der  ganze  Plural  in  seiner  Betonung  einheitlich  wurde.  Ob 
man  auch  die  Proparoxytona  unter  den  Nominativen  der  Maskulina^ 
und  Feminina  nach  den  beiden  ersten  Deklinationen  zu  Paroxy- 
tonen  umgestaltete,  wie  das  im  Dorischen  mit  ccvd-QaTCOL,  äynvQai 
geschah,  können  wir  nicht  wissen,  weil  in  dem  Korinnatext  keine 
derartige  Form  belegt  ist.  Wie  dem  aber  auch  sein  mag,  analogi- 
sche Veränderung  des  Akzentes  werden  wir  im  Böotischen  jeden- 
falls wegen  fi(6(?)^  anzuerkennen  haben. 

Wenn  nun  böotisch  ii^ari  auf  Analogie  beruht,  liegt  es  nahe^ 
auch  bei  dorisch  zgdvai  an  Analogie  zu  denken  und  in  der  erör- 
terten Akzentveränderung  des  Böotischen  einen  dorischen  Einschlag 


Die  böotische  Betonung.  275 

in  dieser  Mundart  zu  vermuten.  Das  wäre  aber  doch  verkehrt. 
Manche  der  dorischen  Formen  mit  mundartlichem  Akut  auf  der 
Vorletzten  lassen  sich  nicht  gut  als  Analogiebildungen  verstehen, 
so  vdeg  und  wohl  auch  die  Infinitive  dfivvai,  auf  die  doch  kaum  der 
Akzent  der  Infinitive  des  Mediums  oder  der  Partizipien  eingewirkt 
haben  wird.  Für  das  Dorische  bleibt  eben  nichts  andres  als  die 
Annahme  übrig,  daß  das  Hemagesetz  nie  wirksam  gewesen  ist. 
Im  Böotischen  war  das  aber  anders,  vorausgesetzt,  daß  man  Ovßog, 
q)ovXov  als  dialektecht  anerkennen  will. 

Mit  der  Betonung  fadsiäv  hat  es  seine  besondere  Bewandtnis. 
V.  Wilamowitz   hält  sie  a.  a.  0.  S.  35  für  falsch ,    S.  44  für  rätsel- 
haft,   'wenn  die  Länge   nicht   etwa   besagen   soll,    daß   das  -av  so 
lang  war,  daß  es  den  Zirkumflex  verbot'.   Ich  meine,  ein  Versehen 
ist  dabei  ziemlich  ausgeschlossen;    der  Schreiber   müßte  sich  dann 
schon  zweimal  versehen  haben.   Das  Längezeichen  auf  dem  ä  spricht 
deutlich   genug.     Länge  und  Kürze  werden   in   unsrem   Text  ja 
nur  aus  besonderen  Grründen  bezeichnet.     So  steht  ziemlich  häufig 
über  V  der  Strich,    um  zum  Ausdruck  zu  bringen,    daß  hier  v  für 
attisch   OL   steht.     Umgekehrt   trägt  ödxQov  %    über   dem   ov   das 
Zeichen  der  Kürze;    denn  ov  war  im  Attischen  und  in  der  Koine 
lang.   Der  Strich  über  a  in  fadsCccv  war  also  bei  derartiger  Schreib- 
weise, die  für  einen  der  Mundart  nicht  mächtigen  Leser  berechnet 
war,  sehr  angebracht,  vorausgesetzt,  daß  dieses  a  lang  war :  denn 
die  Länge   steht  im  Gegensatz    zu  der  Messung  im  Attischen  und 
in  der  Koine.     Paroxytonon  und  Länge   stützen   sich   aber  gegen- 
seitig,   also   sind  beide  richtig.     Wir  haben    demnach   aus    dieser 
Schreibung  zu  lernen,  daß  im  Böotischen  die  Feminina  zu  Adjek- 
tiven der  w-Stämme  nicht  mehr  auf  -ta,  sondern  auf  -lä  ausgingen. 
Di^  Kürze   des  Nominativs    und  Akkusativs   war  also    verdrängt 
durch  die  Länge  des  Genetivs  und  Dativs.  Eine  Länge  von  außer- 
gewöhnlicher Art,  nämlich  eine,  die  zur  Kürze  hinneigt,  ist  dem- 
nach nicht  darin  zu  suchen,    sondern   die   gewöhnliche  zweimorige 
Länge  der  (X-Stämme. 

V.  Wilamowitz  ist  geneigt,  das  ohne  Akzent  überlieferte  yriav 
2, 78  auch  zu  akuieren.  Ich  weiß  nicht,  ob  das  richtig  ist.  Wenn 
man  die  Betonung  von  2, 132  niutri[av\  als  echt  gelten  lassen  will, 
wird  man  vorsichtiger  sein  müssen.  Man  soll  nur  nicht  vergessen, 
daß  die  Analogie  Schritt  für  Schritt  wirkt;  gegen  diese  Grund- 
wahrheit wird  leider  nur  gar  zu  häufig  verstoßen.  Dieses  lang- 
same Umsichgreifen  der  Analogie  werde  ich  an  andrer  Stelle  in 
größerer  Ausführlichkeit  behandeln.    Hier   sei  nur   deswegen  mit 

18* 


276  Eduard  Hermann, 

besonderem  Nachdruck  kurz  darauf  hingewiesen ,  weil  v.  Wilamo- 
witz  für  1, 22  (allerdings  aus  andern  Gründen)  auch  hdttov  fordert. 

Daß  hattov  zu  schreiben  ist,  lehrt  1,2?  sxöö^iov.  Mit  dem 
ehemals  auslautenden  -t  hat  der  dorische  Akzent  in  iXsyov  u.  a. 
nichts  zu  tun,  sondern  beruht  auf  Analogiebildung,  s.  IF  38. 
Dagegen  ist  mit  Recht  der  Singular  ^layov  im  Dorischen  propa- 
roxytoniert.  Die  im  Korinnatext  überlieferten  Akzente  sind  sehr 
wohl  zu  verstehen.  Im  Böotischen  hat  die  Analogie  eben  nicht  so 
weit  um  sich  gegriffen  wie  im  Dorischen  oder  hat  andre  Wege 
eingeschlagen,  so  wie  in  iiaörj. 

In  dem  Akzent  von  2,84  k6v[öov]  steckt  aber  nicht  etwa  eine 
—  unverständlich  bleibende  —  Analogiebildung ;  hier  war  vielmehr 
die  erste  Silbe  im  Böotischen,  wie  wir  hieraus  lernen  können,  kurz, 
also  die  Kürze,  nicht  der  Akzent  war  analogisch  eingeführt.  Da- 
gegen läßt  sich  über  1,46  ä6[6ov],  falls  es  richtig  ergänzt  ist  (Crö- 
nert  liest  c^<?(%  .  .),  kein  bestimmtes  Urteil  fällen,  weil  man  ebenso- 
gut an  analogische  Betonung  wie  an  Kürze  denken  kann. 

Was  das  merkwürdige  iitLr  2,77  für  etceixo,  anlangt,  so  ist  es 
vielleicht  erlaubt,  an  die  von  Hirt  IF  16, 88  und  genauer  von 
Vendryes  MSL  13,  218  fg.  für  s^oiya  gegebene  Erklärung  anzu- 
knüpfen. Wie  bei  fester  Komposition  aus  siioC  +  ys  durch  das 
Hemagesetz  erst  *Biiotys  werden  mußte,  das  dann  im  Attischen 
in  s^OLys  umschlug,  gleich  iQfjiiog  in  egrj^og,  so  würde  stcsC,  mit  toj 
verknüpft,  *E7tslra  ergeben  haben,  das  im  Attischen  weiter  zu 
äTtsita  wurde.  Auffällig  ist  allerdings,  daß  wir  im  Gregensatz  zu 
igfj^og  usw.  nichts  von  einer  außerattischen  Akzentuation  bei  ejtsLta 
wissen.  Aber  vielleicht  darf  man  sich  darüber  hinwegsetzen,  ho- 
merisches sTtEixa  würde  ja  auch  äolisch  sein  können ;  wir  vermissen 
also  nur  jonisches  "^BTtEixa  und  dorisches  *a7CsCxa.  Dabei  darf  man 
jedoch  nicht  vergessen,  daß  die  Betonung  von  ^Tcsita  bisher  ziem- 
lich im  Dunkeln  geblieben  war.  Für  die  Richtigkeit  meiner  Ver- 
mutung könnte  noch  elta  sprechen,  das  den  bei  eTtsita  vermißten 
Zirkumflex  aufweist.  Diese  Auffassung  scheint  mir  vor  der  Wacker- 
nagels (Beiträge  zur  Lehre  vom  griech.  Akzent  15)  den  Vorzug 
zu  verdienen.  Böotisches  h%Cta  käme  bei  meiner  Hypothese  leicht 
unter,  es  würde  eine  erst  nach  dem  Wirken  des  Hemagesetzes 
vollzogene  Komposition  darstellen  so  wie  ovts  usw. 

V.  Wilamowitz  erwähnt  noch  als  etwas  Besonderes  S.  43  die 
Stellung  des  Akuts  auf  dem  ersten  Vokalzeichen  eines  Diphthongs. 
Er  meint  damit  vermutlich  2,98  7Cavo[fi't^] ,  lu  fadiiäv,  so  ovtavj 
«4  [li\a[vto6]övvcD,  55  XQatovvi,  140  (pMvQ[ivo],  58  x6v:tQLS,  84  I6v[0ov], 
1,29  [X6]v7cri6i,  2,64  t'  äreiQcoT  (=  t^  äystgcx)  t).     Es  ist  aber  unge- 


Die  böotische  Betonung.  277 

nau  zu  sagen,  daß  die  Stellung  des  Akuts  auf  dem  ersten  Vokal- 
zeichen der  guten  Praxis  entspreche.  Genau  genommen  ist  ja 
beides  unrichtig,  der  Akut  auf  dem  ersten  wie  der  auf  dem  zweiten 
Zeichen.  Da  beim  Akut  der  Ton  von  Anfang  bis  zum  Ende  an- 
steigt, müßte  der  Strich  über  die  beiden  Zeichen  gesetzt  werden. 
In  der  Tat  zeigt  auch  das  Facsimile  auf  der  Tafel  VII  Berl.  Klass.  V 
ganz  deutlich,  daß  der  Akut  in  einigen  der  genannten  Fälle  nicht 
nur  auf  dem  ersten  Vokalzeichen  steht,  sondern  sich  über  beide 
erstreckt,  und  zwar  bei  XQato'vvi,  xovJCQLg,  '^4x[Qri](pslv,  fadfiäv,  (pi- 
ldvQ\ivo\ ,  der  Akut  wurde  also  ebenso  wie  der  Zirkumflex  z.  B. 
1,6  (povXov  in  guter  Praxis  über  die  zwei  Vokalzeichen  gesetzt. 
Daß  diese  Schreibung  nichts  mit  einer  absonderlichen  Betonung  zu 
tun  hat,  geht  zur  Grenüge  auch  daraus  hervor,  daß  sowohl  echte 
wie  unechte  Diphthonge  den  Akut  auf  dem  ersten  Vokalzeichen 
tragen.  Und  es  ist  nicht  etwa  so,  daß  der  Strich  nur  aus  Flüch- 
tigkeit über  die  beiden  Vokale  geraten  ist.  Denn  da  jeder  Vokal, 
der  kein  Akzentzeichen  trägt,  den  Gravis  hat,  wäre  z.  B.  X6v6ov 
so  viel  wie  Xövöov,  das  wäre  aber  nichts  anderes  als  Xövöov.  Daß 
daran  gar  nicht  zu  denken  ist,  ergibt  sich  aus  Ttdvo^i],  ^avtoöövvcj 
usw.  Wie  in  unserm  Text  wird  denn  auch  in  andern  Papyris  der 
Akut  häufig  auf  beide  Teile  des  Diphthongs  gesetzt,  oder  er  steht 
scheinbar  nur  auf  dem  ersten. 

Eine  besondere  Eigentümlichkeit  des  Böotischen  scheint  nach 
V.  Wilamowitz  die  häufige  Doppelakuierung  eines  Paroxytonons 
vor  einem  Enklitikon  zu  sein,  s.  Meillet  MSL  16,  51  fg.  Belegt 
ist  sie  dreimal  in  1,  le  [t\DcvC}td  vlv,  2, 48  [ovjjtd;«'  avto ,  wobei 
die  Enklise  des  avto  Erwähnung  verdient,  und  in  2,89  dthcgov  x'. 
Nach  den  Lehren  der  alten  Grammatiker  wurde  sonst  nur  ein 
trochäisch  ausgehendes  Paroxytonon  so  behandelt.  Wie  das  zu 
verstehen  ist,  hat  Wackernagel  durch  eine  glänzende  Kombination 
erkannt  (Beiträge  zur  Lehre  vom  griechischen  Akzent,  24  f.) ;  da- 
nach ist  Ev^'d  ol  aus  ivd-d  ol  umgebildet.  Da  die  Grammatiker 
auch  die  Betonung  oq)Qd  rot  lehren,  die  bei  dem  Momentanlaut  (p 
nicht  auf  älterer  Schleiftonigkeit  der  ersten  Silbe  beruhen  kann, 
und  ferner  vor  den  mit  <J^-  beginnenden  enklitischen  Formen  des 
Personalpronomens  der  dritten  Person  auch  ein  nichttrochäisches, 
d.  h.  jedes  Paroxytonon  doppelt  akuiert  wird,  könnte  es  nahe  lie- 
gen, für  das  Böotische  eine  weitere  Verallgemeinerung  des  Doppel- 
akuts  auf  einem  Paroxytonon,  das  vor  einem  Enklitikon  steht, 
anzunehmen.  Ich  glaube  aber  doch  nicht,  daß  damit  das  Richtige 
getroffen  wäre. 

In  der  Koine   gibt   es  ja  auch  noch  ein  paar  andre  Fälle  der 


278  Eduard  Hermann, 

Doppelakuierung,  das  sind  3ttC  (loi,  xiitte  (le  usw.,  die  Wackernagel 
a.  a.  0.  25  richtig  aus  der  alten  Enklise  des  zweiten  Teils  erklärt 
hat.  Dieselbe  Erklärung  paßt  nun  auch  auf  ovTtöx  a\)to  und  wahr- 
scheinlich auch  auf  zccvUd  vlv.  Hier  wird  doch  wohl  -xa  enklitisch 
angetreten  sein  wie  in  8xa,  aXloxa,  ccötUa.  Diese  Wörter  verraten 
die  Zusammensetzung  durch  die  Betonung  tavCxa  avtCna  gegenüber 
üXkoTta.  Sie  enthalten,  wie  ich  vermute,  dasselbe  -t-  wie  ohto^C, 
böot.  toit  usw.,  rav-  ist  dann  Akkusativ  zum  Ausdruck  der  Zeit- 
erstreckung.  Diese  Erklärung  setzt  sich  allerdings  in  Widerspruch 
mit  der  Perssons  IF  2,251  (vgl.  R.  Meister  IE  25,315),  der  in 
taviKcc  die  Partikelform  7ii  sucht.  Aber  auch,  wenn  Persson  recht 
haben  sollte,  könnte  man  die  Doppelakuierung  von  ravCKcc  viif  ver- 
stehen, und  zwar  aus  dem  Wheelerschen  Gesetz.  Wegen  xYivi^dds 
vermutet  Wheeler  (S.  94),  daß  die  Barjtonese  in  tYjvLTca  infolge 
des  daktylischen  Rhythmus  entstanden  ist.  TavCxa  vlv  könnte  dann 
die  ältere  und  jüngere  Betonung  zusammengeschmiedet  haben,  in- 
dem sich  zunächst  noch  tavLxä  viv  hielt,  später  aber  wegen  tavCxa 
zu  ravLxd  viv  wurde.  Mag  man  die  erste  oder  die  zweite  Deutung 
vorziehen,  in  beiden  Fällen  bleibt  nur  noch  dd%Qov  ts  übrig,  das 
mit  o(pQcc  rot  ganz  auf  einer  Stufe  steht.  Danach  würde  also  das 
Böotische  nicht  jene  sonderbare  Betonung  eines  Paroxytonons  vor 
einem  Enklitikon  zeigen,  die  von  allem  sonst  Bekannten  abwiche. 
Wenn  übrigens  in  dem  Pindarpapyrus  Oxyrrh.  Pap.  V,  S.  40,  Z.  44 
svd^d  IIB  und  an  der  von  Meillet  herangezogenen  Alkmanstelle  [il^tC 
ng  steht,  kann  das  kaum  echt  dorische  Betonung  sein ;  denn  wenn 
im  Dorischen  das  Hemagesetz  nie  geherrscht  hat,  wird  auch  die 
Doppelbetonung  trochäischer  Paroxytona,  die  uns  nur  als  Folge 
des  Hemagesetzes  verständlich  ist,  nicht  üblich  gewesen  sein.  Die 
jetzt  vermehrten  Beispiele  doppeltbetonter  Paroxytona,  die  niemals 
den  Schleifton  getragen  haben  können,  lehren  aber,  daß  diese  Ak- 
zentuierung doch  mehr  als  eine  Schrulle  der  Grammatiker  sein 
wird,  worüber  Wackernagel  noch  im  Zweifel  war.  Bemerkenswert 
ist  nur,  daß  bcpQa  bloß  solange  trochäisch  war,  als  Mata  mit  Li- 
quida noch  Position  bildete.  Demnach  muß  die  Doppelakuierung 
vor  einem  Enklitikon  stehender  Paroxytona  älter  sein  als  die 
Veränderung  der  Silbengrenze  bei  Muta  +  Liquida,  d.  h.  älter  als 
Homer. 

Ohne  Belang  für  die  Sprachwissenschaft  ist  die  Betonung  des 
Dativs  Eycovov^oi.  Wilamowitz  hat  sich  darin  geirrt,  daß  sie  be- 
sonders wichtig  sei.  Für  den  Akzent  ist  -ol  jedenfalls  lang,  mag 
es  aus  -(OL  gekürzt  oder  alte  Lokativendung  sein.  Beide  Endungen 
hatten  Schleifton,   vgl.  oYxol  gegenüber   ohoi,    und   galten  darum 


•  Die  böotische  Betonung.  279 

für  die  Betonung  als  lang.  Zur  Entscheidung  der  Frage,  wie  das 
böotische  -ot  im  Dativ  entstanden  ist,  trägt  also  unsre  Form 
nichts  bei. 

Über  d^og  brauchen  wir  uns  den  Kopf  nicht  zu  zerbrechen, 
da  sich  der  Akut  als  Spiritus  asper  entpuppt  hat  und  «fidg  zu 
lesen  ist.  —  Die  Setzung  eines  Gravis  in  Nichtschlußsilbe  1, 24  Kl- 
^ijQcov,  2,85  dij^öveöötv,  2,6o  hvvi!,  2,  io4  dlä  bedeutet  keine  Über- 
raschung, da  in  einigen  Papyris  sogar  jede  unbetonte  Silbe  den 
Gravis  erhält.  Das  Besondere  könnte  wie  ander^^ärts  sein,  daß 
hier  lediglich  die  vor  der  Haupttonstelle  des  Wortes  stehende  Silbe 
den  Gravis  trägt,  Gegenbeispiele  sind  nicht  vorhanden. 

Schließlich  sei  darauf  hingewiesen,  daß  die  Oxytona  vor  dem 
folgenden  Wort  ihren  Akut  nicht  immer  in  den  Gravis  verwandeln 
sollen.  Das  würde  allerdings  glatt  erklärt  werden  können,  vgl. 
Wackernagel  a.  a.  0.  6  fg.  Aber  die  von  v.  Wilamowitz  genannten 
Beispiele  halten  der  Kritik  nicht  ganz  stand.  1,4  xoQddg  steht 
nicht  nur  am  Versende,  sondern  vielleicht  auch  am  Ende  eines 
Satzes,  es  kann  also  gar  nicht  mitzählen.  2,49  d'tdg  behält  seinen 
Akzent  mit  Recht,  wenn,  wie  vermutet  wird,  t  darauf  folgt.  Es 
bleibt  nur  2,78  [f]dv  übrig,  das  nach  einer  Vermutung  Crönerts 
RhM  63, 174  gemäß  dem  fccdolfirj]  2, 97  als  [/jav  zu  lesen  ist. 

Wir  können  also,  wie  ich  gezeigt  zu  haben  hoffe,  über  die 
Schwierigkeiten  der  böotischen  Betonung  Herr  werden.  Wenn  wir 
zurückblicken,  werden  wir  erkennen,  daß  eine  besonders  große  Ähn- 
lichkeit mit  der  dorischen  Betonung  nicht  vorliegt,  sondern  daß, 
abgesehen  von  verschiedenen  Einzelheiten,  ungefähr  die  Betonung 
des  Attischen  üblich  war,  daß  aber  wie  im  Dorischen  durch  System- 
zwang die  Analogie  manches  Altere  aufhob. 

Demnach .  dürfte  man  vielleicht  annehmen,  daß  das  Dreisilben- 
gesetz schon  urgriechisch  war,  daß  das  Hemagesetz  sich  aber  nur 
auf  die  jonisch-attischen  und  vielleicht  auch  die  achäischen  Mund- 
arten erstreckte,  das  Dorische  aber  nicht  mit  umfaßte.  Im  Lesbi- 
schen haben  das  Dreisilben-  wie  das  Hemagesetz  alle  Wörter  er- 
faßt, d.h.  sie  haben  jeden  älteren  näher  am  Wortende  liegenden 
Akzent  beseitigt.  Im  Attischen  vollzog  sich  ein  Kampf  mit  dem 
Dreisilbengesetz,  der  beim  Nomen  zumeist  mit  dem  Sieg  des  alten 
Akzents  endete.  Das  Böotische  und  das  Dorische  scheinen  hierin 
dem  Attischen  nahegestanden  zu  haben.  Das  Attische  blieb  dann 
im  ganzen  bei  dieser  Betonung.  Im  Böotischen  dagegen  durch- 
brach die  Analogie  das  Hemagesetz ,  dem  sich  übrigens  auch  im 
Attischen  jüngere  Zusammensetzungen  mit  einem  Enklitikon   wie 


280  Eduard  Hermann,  Die  böotische  Betonung. 

Tovdds  nicht  mehr  zn  fügen  hatten.  Im  Dorischen  setzte  sich  die 
Analogie  wie  im  Mittel-  und  Neugriechischen  über  das  Dreisilben- 
gesetz hinweg. 

Anders  liegt  aber  die  Situation,  wenn  die  Überlieferung  des 
Akzents  im  Korinnatext  nicht  soviel  Vertrauen  verdient,  als  ich 
ihr  vermutungsweise  im  Obigen  geschenkt  habe.  War  etwa  nur 
li667]  dialektecht,  tpovXov  aber  nicht?  Galt  etwa  im  BÖotischen 
das  Hemagesetz  so  wenig  wie  im  Dorischen?  Dann  wäre  wohl 
auch  die  Betonung  öccxqov  z  nicht  echt;  denn  nur  im  Hemagesetz 
findet  sie  ihre  Erklärung.  Wahrscheinlich  kommt  mir  das  nicht 
vor.  Immerhin  können  erst^  weitere  akzentuierte  böotische  Texte 
Sicherheit  geben. 


Etymologisches. 

Von 

Eduard  Hermann. 

Vorgelegt  in  der  Sitzung  vom  14.  Juni  1918. 

1.    Qqdiog. 

Boisacq  sagt  Yon  Qadiog  Dict.  831  'sans  parente  en  dehors  du 
grec'.  Dieses  Urteil  stammt  von  Wackernagel  (Vermischte  Bei- 
träge 14),  der  uns  gezeigt  hat,  daß  hom.  qia,  Qsta,  äol.  ßQä  als 
'^fQä[0]a  aufzufassen  ist.  Soll  die  hier  zutage  tretende  Wurzel 
*fQä6-  etwa. so,  wie  wir  das  in  letzter  Zeit  von  gar  manchem 
griechischen  Wort  gelernt  haben,  von  den  nichtindogermanischen 
vorgriechischen  Bewohnern  Griechenlands  entlehnt  sein?  Das  ist 
gleich  auf  den  ersten  Blick  höchst  unwahrscheinlich  wegen  der 
Bedeutung  des  Wortes,  der  mancherlei  Ableitungen,  die  man  von 
der  Wurzel  kennt:  Qea,  QaÖLog,  qo:(ov,  QrfttsQog,  Qac^co,  und  wegen 
des  indogermanischen  Aussehens. 

*/p«[^]oj  scheint  gebildet  zu  sein  wie  xQvg)cc,  fidXa,  odcpa  u.  a. 
Man  darf  daher  in  Qä  Tiefstufenvokalismus  f  vermuten.  Das  führt 
darauf,  fQüa-  an  ai.  varsman-  'Höhe',  lit.  virsztis  'das  Obere',  ab.- 
vrhc}n>  'Höhe',  ahd.  riso  usw.  anzuknüpfen,  die  Hirt  Ablaut  127 
unter  der  Basis  '^'^ueres-  vereinigt  hat.  Es  bedarf  nur  der  An- 
nahme, daß  es  neben  **weres  die  schwere  Basis  ^'^iieres  gegeben  habe, 
um  fgäö-  als  Tief  stufenform  idg.  *tifs-  zu  verstehen.  Die  Bedeu- 
tung von  *%ieres  wird  'heben,  erheben'  gewesen  sein,  */pä[(jJ«  war 
also  'hebbar'  und  erinnert  an  levis  'leicht'  neben  leväre  'heben^ 
erleichtern'. 

Zu  einer  schweren  zweisilbigen  Basis,  aber  ohne  -5-,  d.  i.  **uere, 
gehört  auch  hom.  ccTCrjVQcc,  äjtovQÜg,   während  aus  einer  wieder  an- 


282  Eduard  Hermann, 

ders  gebildeten  leichten  Basis  ädQo  und  hom.  ä7t6sQ6s  herzuleiten 
sind.   Alle  diese  Basen  werden  in  der  Bedeutung  'heben'  vereinigt. 

.Qadiog  liefert  also  neben  ccTtrivQä  ein  weiteres  Beispiel  für  die 
Lautentwicklung  f  >  qü  ,  während  sich  gco  immer  deutlicher  als 
Hochstufe  oder  analogische  Bildung  für  qü  =  f  herausstellt.  Da- 
mit gesellen  sich  zu  den  Beispielen  für  diese  mit  Unrecht  be- 
strittene Lautentwicklung  (vgl.  Jahresber.  phil.  Ver.  Berlin  40, 
140  fg.)  zwei  sehr  erwünschte  isolierte  Fälle. 

Die  richtige  Zusammenstellung  der  Wörter  gadtog  usw.  hat 
schon  Prellwitz  Etym.  Wörterb.  ^  393  gegeben,  aber  ohne  sich  auf 
die  Einzelheiten  der  Bildung  einzulassen. 

2.    nöa. 

W.  Schulze  hat  att.  noä,  jon.  TtoCrj^  dor.  Tto^ä  Quaest.  ep.  45 
Anm.  2  mit  lit.  peva  'Wiese'  verknüpft.  Eine  weitere  Beziehung 
ist  bisher  nicht  aufgedeckt  worden.  Sucht  man  bei  Brugmann 
Grdr.  ^  II,  1,  207  unter  den  Suffixen  -uä,  so  ist  allerdings  nicht 
leicht  ein  Leitmotiv  herauszufinden,  eine  gemeinschaftliche  Bedeu- 
tung wird  nicht  ersichtlich;  die  einzige  Bemerkung,  die  weiter 
führen  kann ,  steht  S.  624.  Hier  wird  mit  Bezug  auf  S.  205  litt.- 
lett.  -ava  als  Sufiix  für  Ortlichkeitsnamen  angeführt.  Leskiens 
Bildung  der  Nomina  im  Litauischen  S.  346  fg.  läßt  aber  erkennen, 
daß  nicht  nur  -ava,  sondern  auch  schon  -va  als  derai:tiges  Bedeu- 
tungselement betrachtet  werden  muß.  Man  findet  hier :  dirvä  'Acker', 
uppiü  grewa  'Flußbett',  halva  'Hügel',  maiva  'Sumpf  in  einer  Wiese', 
narva  'Bienenzelle',  revä  'Steinkluft',  stovä  'Stelle',  urva  'Höhle'. 
Demnach  sind  die  Wörter  auf  -ava  sekundäre  Bildungen ,  wie  ja 
auch  ohne  weiteres  ersichtlich  ist,  sekundäre  Bildungen,  die  erst 
auf  Grund  solcher  wie  der  obengenannten  möglich  waren.  Man 
vergleiche  auch  abulg.  glava,  niva  und  die  Wörter  auf  -ava,  s.  Von- 
dräk,  Vgl.  sl.  Grr.  1,  410.  Es  ist  also  rätlich,  auch  bei  peva  nicht 
von  der  üblichen  Bedeutung  des  griechischen  Wortes:  'Gras',  son- 
dern von  der  des  litauischen  auszugehen.  Dann  ergibt  sich  aber 
leicht  Verknüpfung  mit  lit.  pemu  'Hirtenjunge',  dessen  ehemaliger 
Diphthong  in  dem  finnischen  aus  dem  Litauischen  entlehnten  paimen 
deutlich  sichtbar  ist,  und  mit  gr.  tcoliiyjv.  Die  Bedeutung  von 
peva  ist  darum  von  Haus  aus  'Weideplatz',  woraus  dann  'Wiese' 
geworden  ist.  Dieselbe  Bedeutungsentwicklung  liegt  im  Griechi- 
schen vor.  'Weideplatz'  haben  wir  Homer  l  449  zu  übersetzen, 
wo  Polyphem  zu  dem  Widder  sagt :  dlXä  %okv  jtg&Tog  vefisccc  tsqsv 
.Mvd'sa  TtoCrig  naxQa  ßißdg,    Tcgcbtog    de  Qoäg  TCotan&v   ätpixdvsig,    da- 


Etymologisches.  283 

gegen  'Wiese'  z.  B.  Xenoph.  Hellen.  IV,  1,  30 :  'AyriöCkaog  xul  ol 
%eQl  avtbv  tQLaxovta  xaiial  iv  %6a  xivX  JcaraTisC^svoL  ccve^svov  und 
Plutarch  Agesil.  36:  cog  dh  iagav  .  .  .  ävd'QcoTtov  TCQSößmrjv  zuta- 
KsC^svov  SV  xLvv  Ttöcc  jtaQCi  f^v  d-dXaödav.  Des  weiteren  ist  dann 
erst  die  Bedeutung  'Futterkraut',  'Grras'  entstanden. 

Zu  den  genannten  "Wörtern  gehört  auch  noch  lit.  pisa  'Herde', 
das  Leskien  a.  a.  0.  221  in  sonderbarer  Verkennung  des  handgreif- 
lich Richtigen  in  pes-a  zerlegt.  In  der  Tat  aber  enthält  pesa  das 
Suffix  -sa,  das  auch  in  andern  litauischen  Wörtern  vorkommt,  die 
gewissermaßen  KoUektiva  eines  Nomens  agentis  sind,  /jesa  ist 
'das  Weidende,  die  Herde',  wie  s^vesä  'das  Leuchtende,  das  Licht', 
gaisa  'das  Scheinende,  der  Lichtschein',  lett.  rusa  'das  rot  Seiende, 
der  Rost'  ist.  Dieselbe  Bedeutung  hat  -sä  schon  von  urindoger- 
manischen Zeiten  her  besessen,  wie  lat.  terra  aus  ^tersä  'das  trocken 
Seiende,  die  Erde',  lixa  'das  Fließende,  das  Wasser',  aisl.  eisa  'das 
Brennende,  die  feurige  Asche',  hussa  =  gr.  %vC(5ri  'das  Dampfende, 
der  Fettdampf  usw.  lehren.  Interessant  ist  dabei  der  in  -ä  steckende 
Kollektivbegriff,  weil  sich  hieran  gerade  die  Schmidtsche  H3rpo- 
these  von  dem  aus  einem  Kollektivum  entstandenen  Neutram  Plu- 
ralis  auf  -ä  besonders  hübsch  verfolgen  läßt.  Gerade  weil  Nomina 
agentis  zugrunde  liegen,  läßt  sich  hier  auch  für  uns  Deutsche  leicht 
die  Neigung  der  kollektiven  Bedeutung  zum  Neutrum  hin  nach- 
fühlen. Wollen  wir  die  in  pesa  steckende  Bedeutung  'weidend* 
wiedergeben,  so  können  wir  im  Deutschen  nur  das  Neutrum  'Wei- 
dendes, das  Weidende'  anwenden.  Auf  der  andern  Seite  vermag 
diese  Erkenntnis  Solmsens  Vermutung  (Beiträge  griech.  Wortf. 
244  fg.,  KZ  42,  227)  zu  stützen,  daß  die  Wörter  auf  -sos  von  Haus 
aus  Nomina  agentis  waren.  Von  dem  Kollektivum  aus  ist  dann 
leicht  die  Brücke  zu  den  Abstrakten  auf  -sä  gefunden  wie  abulg. 
Icrasa  'Schönheit',  lit.  tamsä  'Dunkelheit',  ai.  hhäsä  'Sprache',  ahd. 
wisa  'Kenntnis,  Weise'  usw. 

3.    inaQY], 

Man  hat  früher  ybagr}  'Hand'  mit  {lagTCta  'erfasse'  zusammen- 
gebracht. Davon  ist  man  abgekommen,  seitdem  man  es  mit  lat. 
manus  zusammenstellt.  Man  kann  aber  mit  letzterer  Etymologie 
einverstanden  sein,  ohne  erstere  abzulehnen.  Allgemein  gilt  wohl 
die  Überzeugung,  daß  ^ccQTttco  und  ai.  mars  'anfassen,  berühren' 
zusammengehören.  Beide  stimmen  aber  nur  in  den  ersten  drei 
Lauten  überein.  Damit  kommt  man  auf  eine  Basis  **mer  'erfassen'. 
Hierzu  stellt  sich  (iccqyi  sehr   einfach   als  'Greif erl'   mit   einer   Be- 


284  Eduard  Hermann, 

deutungs  entwicklung  ähnlich  wie  bei  lit.  ranlä  Hand  gegenüber 
renkü  ^sammle  auf  oder  gr.  ayo6t6g  'Hand'  gegenüber  äysCgm  (s. 
Solmsen  Beitr.  gr.  W  ortf .  1 6).  Das  a  in  ^idQri,  ^aQTttcj  läßt  sich  als 
Günterts  92  auffassen.  Will  man  auch  manus  damit  verknüpfen, 
so  hat  man  von  einer  Basis  mit  einer  nasalen  statt  einer  liquiden 
Erweiterung  auszugehen.  Wiederum  kann  a  auf  92  zurückgehen, 
desgleichen  aber  auch  u  von  ahd.  munt.  Möglich  ist,  daß  man 
statt  **me-r  und  **f«e-w  vielmehr  *'^a77te-r  und  **ame-n  oder  mit 
anderem  anlautenden  Vokal  anzusetzen  hat,  das  erlaubt  dann  lat. 
ansa  u.  a.  anzuknüpfen,  vgl.  Walde  Über  älteste  Beziehungen  zw. 
Kelten  u.  Italikern  43  Anm.  2  und  Persson  Beiträge  idg.  Wort- 
forsch. 1  fg. 

4.    vnaQ. 

Die  Etymologie  von  vitag  ist  eigentlich  längst  gefunden,  sie 
steht  bei  Johannsson  BB  14,  163  und  bei  Prell witz  ^  333  fg.  Sie 
hat  aber  keinen  Glauben  gefunden.  Boisacq  urteilt  1002  kurz: 
Etymologie  obscure.  Es  verlohnt  darum,  die  bereits  gefundene 
Etymologie  so  zu  begründen,  dg^ß  ihre  Einfachheit  und  Wahr- 
scheinlichkeit auch  erkannt  wird. 

vTcaQ  ist  das  Gegenstück  zu  oVc^^.  Das  sollte  man  nicht  be- 
zweifeln, sein  Gebrauch  zeigt  es  ja  nur  gar  zu  deutlich.  Bei  Homer 
kommt  es  nur  zweimal  vor,  beide  Male  in  Verbindung  mit  ovag: 
T  547  o'hK  ovaQ,  äXX'  vjtaQ  iöd-Xöv,  o  tot  xsrsXeö^svov  eörac  und 
V  90  x^'^Q%  ^^^^  o^;c  ig)dfi7]v  övojp  s^fiEvat,  cclX^  vjtaQ  i]d7].  Auch  in 
späterer  Zeit  erscheint  das  Wort  vorzugsweise  in  derselben  Ver- 
bindung, ich  nenne:  Aischylos  Prom.  486:  tcccxqcvcc  TCQ&rog  hl  ovsi- 
gdtav  ä  %Qii  vtcccq  ysvBOd-ai,  Pindar  Ol.  13,  66  fg.  £|  ovsIqov  d'  av- 
tCxa  ^v  v:taQ^  Plato  Eep.  382  e  und  Phileb.  65  e  ovO-'  vicag  ovts 
i)vaQ,  Phileb.  36  e  ovrs  drj  6Vc^()  ovO''  vTtccg,  Phaidros  277  e  ro  yäg 
äyvostv  vTCag  xs  ^al  ovaQ,  Theait.  158  b  itsgl  tov  ovag  ts  aal  vjtag, 
158 d  Ttotsgöv  sotuv  VTtag  tj  ovag,  Politikos  277 d  klvövvsvel  yäg 
Yiii&v  £}ia6tog  olov  ovag  sidcog  a%avta  av  %dXiv^  cjöTCsg  vTtag  dyvoslv, 
278  e  IW  VTtag  dvx'  bveCgatog  r^itv  ylyvritai,  Eep.  576  b  söxi  ds  Ttov, 
olov  ovag  dLTJXd-o^sv,  bg  äv  vTtag  toLovtog  ri,  vgl.  574  e,  Briefe  319  b 
vTcag  dvT  bvsCgaxog  ysyovsv,  Demokrit  (Diehls  Vorsokr.  B  17)  y.al 
VTtag  xal  ovag,  Libanios  Reden  62,  §  66  vjcag  ovag  loyi^o^svog  rd- 
Tcovg,  Heliodor  Aith.  2,16  xal  sl'd's  ys  vTtag  ^v  xal  ^rj  ovag,  Plu- 
tarch  Moralia  565  B  oxa  xb  vTtag  äv  sIltj  xov  ovsCgaxog  ivagysöxsgov. 

Die  Fülle  dieser  Belege  lehrt,  daß  vTtag  wirklich  der  Gegen- 
satz zu  ovag  ist  und  daß  das  Wort  ganz  besonders  in  der  Ver- 
bindung mit  seinem  Oppositum  in  der  Sprache  lebte,    wie  ja  auch 


Etymologisches.  285 

Photios  vTtag  als  ccX7]d^sLa  ovx  iv  övsCgip  interpretierte.  Dabei  ist 
zu  beachten,  daß  sehr  häufig,  darunter  an  den  beiden  Homerstellen, 
gerade  die  mit  vjtccQ  reimende  Form  'övaQ,  nicht  ein  andrer  Kasus 
gebraucht  ist.  Das  aber  liefert  alle  nur  wünschenswerte  Klarheit 
für  die  Etymologie.  Nichts  liegt  näher  als  in  diesem  Gegensatz 
auch  die  Entstehung  des  Wortes  vitag  zu  suchen.  Danach  muß 
vütag  mit  rein  griechischen  Sprachmitteln  gebildet  sein  und  vTt- 
als  V7c6  'unten,  darunter'  der  Gregensatz  zu  ov-,  das  für  dvd  'darauf 
steht,  sein.  Daraus  folgt  weiter,  daß  jene  Griechen,  bei  denen 
vTcaQ  aufkam,  das  Wort  ovccq  volksetymologisch  mit  der  Präpo- 
sition ov-  zusammenbrachten.  Das  konnten  aber  nur  solche  Griechen 
sein,  bei  denen  6v-  gebräuchlich  war.  Zu  diesen  gehörten,  soviel 
wir  sehen,  nur  die  achäischer  Mundart,  ob  einmal  auch  die  andern 
Griechen  sie  besessen  hatten,  wissen  wir  nicht.  Somit  wird  es 
sehr  wahrscheinlich,  daß  v:caQ  aus  der  äolischen  Sprache  Homers 
herstammt  und  von  da  aus  seinen  Weg  in  die  griechische  Lite- 
ratur gefunden  hat.  Das  Wort  hatte  also  für  den  Griechen  der 
nachhomerischen  Zeit  einen  poetischen  Beiklang,  so  verstehen  wir 
auch,  daß  es  sich  so  lange  in  der  Verbindung  mit  öi^c^^  gehalten 
hat.  Daran  kann  man  wieder  einmal  lernen,  daß  sich  die  Analogie 
nur  schrittweise  ausdehnt.  Das  Wort  vTtag  macht  eben  gar  keine 
rechten  Anstalten,  ein  eigenes  Leben  zu  führen,  es  braucht  noch 
lange  die  Anlehnung  an  sein  Oppositum  ovag. 

.  Diese  volksetymologische  Zerlegung  des  Wortes  ovag  zeigt 
sich  aber  auch  noch  an  etwas  anderem.  Hesych  bewahrt  uns  die 
Glosse  avaiQov '  ovslqov  KQfjtsg  auf.  Hier  sehen  wir  die  Anknüpfung 
an  die  Präposition  ja  ganz  deutlich.  Das  cc  des  Diphthongs  «t  ist 
dabei  natürlich  aus  einer  Kontamination  von  ovccq  und  ovslqov  ent- 
standen. 

Die  Bedeutung  der  Gegensätze  övc^p,  vTcag  hat  Prellwitz  be- 
reits in  die  richtigen  Worte  gekleidet :  ^vTtag  bezeichnet  den  wirk- 
lichen Kern  im  Gegensatz  zum  darüber  befindlichen,  vergänglichen 
Schein  und  Traum'. 

Noch  etwas  anderes  gilt  es  dabei  festzuhalten:  vtckq  ist  in- 
deklinabel. Auch  das  ist  aus  ovag  heraus  zu  verstehen,  ovccg  kommt 
ja  nur  als  Nominativ  und  Akkusativ  sowie  adverbial  'im  Träum' 
vor.  Die  andern  Kasus  werden  von  ovsLQog,  ovsLgov  gebildet;  zu 
denen  dem  Sprachgefühl  nach  auch  ovsLgatog  u.  a.  gehört  haben 
werden.  Genau  so  wie  ovag  ist  vitag  im  Gebrauch:  als  Nominativ 
und  Akkusativ  sowie  adverbial  'in  Wahrheit',  darüber  hinaus  sind 
Kasus  von  vTtag  nicht  gebildet  worden.  Wiederum  ein  Wink,  wie 
die  Analogie  wirkt :  sie  macht  keine  Sprünge,  sondern  geht  Schritt 


286  EduardHermann, 

für  Schritt  voran.  Erst  ganz  spät  hat  man  gewagt,  xccd'^  v^a^ 
zu  sagen,  wie  man  auch  xar'  öi/a^  sagte,  so  Matthäusevangelium 
1,  20  ayyeXog  KvqCov  xar"  ovag  iq^dvrj  avrö.  Also  beide  Adverbien 
hat  man  später  gleichmäßig  verändert,  man  sieht  wiederum,  wie 
stark  die  beiden  zusammenhängen. 

Höchst  interessant  ist  dazu  die  Bemerkung  des  Phrynichos 
(ed.  Lobeck  421,  Rutherford  494) :  zcct^  ovao '  noXenov  6  icavi'no^ 
^riiLod^ivovg  xov  QiqxoQog  sixöva  xaXxfjv  iv  ^AöxXriJttov  rov  iv  Ueg- 
ydiifp  tfi  Mv6i(f  äva%^8ig  STcdyga^ev  snCygan^a  tOLÖvds '  ^rj^oöd'svri 
IlaioLVLBa  TloXs^cav  Tcat  ^vag,  ädoTa^cotätG)  tö  %ax  ovag  %gi]0d^6vog, 
G)(57teg  yäg  xad'^  vTtag  ov  kiyaxai  dXX^  vjtag,  ovxcog  ovdh  xax  ovagy 
dXX'  ^rot  ovag  idhv  tJ  s^  bveCgov  oipsag.  Lobeck  hat  an  der  ge- 
nannten Stelle  eine  Zahl  von  Belegen  für  dieses  von  Phrynichos 
als  unattisch  gerügte  xax^  ovag  zusammengetragen.  Die  Sammlung^ 
enthält  Beispiele  nur  aus  späterer  Zeit,  wie  auch  7cad'\  vjcag  erst 
spät  aufkommt. 

So  geht  also  der  Parallelismus  zwischen  ovag  und  vTtag  durch 
die  ganze  griechische  Literatur  hindurch.  Offenbar  war  dabei  lange 
auch  die  adverbiale  Bedeutung  der  beiden  Wörter  deutlich  im 
Sprachbewußtsein,  erst  die  Verbindung  mit  xaxd  zeigt,  daß  sich 
das  später  geändert  hat.  Vielleicht  war  auch  der  Ausgangspunkt 
gerade  der  adverbiale  Gebrauch  gewesen,  Formen  wie  dq)ag,  avxdg^ 
äxdg,  ydg  konnten  es  dem  griechischen  Sprachgefühl  nahe  legen, 
in  ovag  {vitag)  ein  Adverbium  zu  suchen,  das  nur  gelegentlich  auch 
als  Substantivum  gebraucht  wird,  aber  natürlich  der  Deklination 
entbehrt. 

5.    dxOfjaai, 

Boisacq  735  und  Prellwitz  ^  347  sind  geneigt,  6i%-fi6aL  zu  ^^O-og- 
zu  stellen.  Diese  Etymologie  scheint  mir  ganS:  unmöglich  zu  sein. 
Die  Bedeutungen  der  Wörter  passen  gar  nicht  zu  einander,  s^d-og^ 
braucht  man  von  dem  tödlichen  Haß,  besonders  von  der  aus  der 
Blutrache  stammenden  Feindschaft,  6%^Yi6ai  ist  nur  'unwillig,  un- 
wirsch, aufgebracht  werden',  die  beiden  Wörter  unterscheiden  sich 
in  dem  G-rad  so  wie  der  Orkan  und  der  Wind,  sie  können  also 
nicht  zusammengehören.  Auch  die  Form  scheint  ihre  Verbindung 
zu  verbieten.  Wenn  ich  mit  Recht  s%%^og  von  der  Präposition  s^ 
ableite  (GGN  1918,  223  fg.),  darf  man  nicht  eine  dazu  ablautende 
Bildung  in  6%^i]0ai  suchen;  denn  s%%^og^  h^Q<^S  nsw.  werden  erst 
im  Griechischen  entstanden  sein. 

öx^y^^ai  hat  man  vielmehr  an  ax^og,  äxd^ofiai  anzuknüpfen,  de- 
ren Bedeutungen  'Kummer'   und  'unwillig  sein'   sich   eng  an  die 


Etymologisches.  287 

von  b%^Yi6m  anschließen.  Des  weiteren  gehören  dazu  äxw^ai,  %o- 
[lai  'unwillig  sein'  und  ccxog  *  Verdruß,  Schmerz'.  Nun  bedeuten 
aber  ccx&og,  äxd-o^ccL  außerdem  auch  noch  'Last'  und  'belastet  sein'. 
Welche  dieser  Bedeutungen  die  älteste  ist,  läßt  sich  leicht  ver- 
muten: doch  wohl  die  anschaulichere  'Last'.  Danach  hat  sich  aus 
1)  'Bürde'  entwickelt:  auf  der  einen  Seite  2)  'physischer  Druck', 
d.  i.  'Schmerz',  auf  der  andern  3)  'psychischer  Druck',  d.  i.  'Kummer' 
und  weiter  4)  'Unwille'.  Daneben  steht  weiter  aus  3)  entwickelt 
'Furcht'  im  Germanischen  und  Keltischen;  denn  wir  werden  got. 
agis  'Furcht',  unagands  'furchtlos',  air.  aichthi  'furchtbar',  ferner 
got.  og  und  air.  ägor  'fürchte'  nicht  beiseite  lassen  dürfen.  Von 
der  Bedeutung  'Bürde'  aus  sind  auch  got.  aglus  'schwierig',  usagljan 
'bedrängen'  ausgegangen. 

Eine  gewisse  Schwierigkeit  könnte  der  Vokalismus  bereiten; 
denn  Grüntert  wird  IF  37,  Ifg.  damit  recht  haben,  daß  a  nicht  in 
Ablaut  mit  o  stand.  Aber  wieder  Güntert  kann  uns  da  aus  der 
Verlegenheit  helfen  mit  seinem  Schwa  secundum.  Wir  werden 
von  einer  Wurzel  "^ogh  auszugehen  haben,  die  in  dx^rj^ca,  agis, 
aichthi  vorliegt ;  die  Dehnstufe  dazu  steckt  in  og,  ägor ;  d2  haben 
wir  in  ^O-og  usw.  zu  sehen.  Die  Neutra  auf  -os  haben  sonst  al- 
lerdings meist  die  Hochstufe,  daneben  gibt  es  aber  auch  tiefstufige, 
vgl.  Brugmann  Grundr.^  IE,  1,  516.  Tiefstufe  in  axw^iai  ist  selbst- 
verständlich, s.  Brugmann  -  Thumb.  337;  äxonccL,  ax^oiiau  werden 
sekundäre  Bildungen  sein.  Vielleicht  hat  man  aber  auch  in  axvv- 
liai  eine  Umbildung  zu  sehen,  falls  Güntert  Ablautprobl.  24  fg.  für 
92  im  Griechischen  wegen  des  folgenden  v  mit  Recht  Entwicklung 
zu  i  fordern  sollte.  Jedenfalls  lassen  sich  die  Wörter  auch  nach 
der  formellen  Seite  hin  ohne  Schwierigkeit  mit  einander  verbinden, 
wie  sie  ja  auch  schon  früher,  z.B.  von  Leo  Meyer,  allerdings  unter 
Vermischung  mit  Falschem ,  mit  einander  verbunden  worden  sind» 


Ein  aegyptischer  Vertrag  über  den   Abschluss  einer 
Ehe  auf  Zeit  in  demotischer  Schrift. 

Von 

Kurt  Sethe. 

Hierzu  eine  Tafel. 
Vorgelegt  in  der  Sitzung  vom  28.  Juni  1918. 

I. 

Spiegelberg  hat  im  J.  1909  in  der  Aeg.  Ztschr.  46,  112 ff. 
ein  demotisches  Ostrakon  aus  dem  Ende  der  Ptolemäerzeit ,  im 
Besitze  der  Wissenschaftlichen  Gesellschaft  zu  Straßburg,  veröf- 
fentlicht, das  in  den  Kreisen  der  Rechtshistoriker  berechtigtes 
Aufsehen  erregt  hat,  enthält  es  doch  eine  Rechtsurkunde  ganz 
eigener  Art,  einen  Vertrag  über  die  Schließung  einer  Ehe  auf 
kurze  Zeit,  oder,  wie  Spiegelberg  es  (wir  werden  sehen,  in  ge- 
wissem Sinne  richtig)  nannte,  einer  Probeehe. 

Durch  E.  Rabel,  der  sich  für  das  Stück  lebhaft  interessierte, 
auf  die  Probleme,  die  es  bot,  hingewiesen,  habe  ich  die  Urkunde 
seit  längerer  Zeit  nicht  aus  den  Augen  verloren  und  immer  wieder 
von  Zeit  zu  Zeit  vorgenommen.  Dabei  lichtete  sich  das  Dunkel, 
das  über  dem  merkwürdigen  Texte  lag,  zwar  allmählich  in  ein- 
zelnen Punkten,  aber  die  eigentliche  Pointe  blieb  verborgen,  bis 
mir  die  soeben  erschienene  ausgezeichnete  Arbeit  von  Greorg 
Möller,  Zwei  aegyptische  Ehe  vertrage  aus  vorsai' tischer  Zeit 
(Abhandl.  der  Berliner  Akademie  1918,  Phil.-hist.  Kl.  Nr.  3)  durch 
einige  treffende  Bemerkungen,  die  der  Verfasser  unserer  Urkunde 
widmete,  Anlaß  gab,  die  Sache  nochmals  zu  durchdenken.  Dabei 
fand  ich  des  Rätsels  Lösung.  Der  letzten  Hindernisse,  die  sich 
dem  Verständnis   in  einigen  nebensächlichen  Punkten  noch  in  den 


Kurt  Sethe,  Eia  aegypt.  Vertrag  über  d.  Abschluß  einer  Ehe  auf  Zeit  etc.      289 

Weg  stellten,  Herr  za  werden  und  den  Wortlaut  des  Textes 
lückenlos  zu  gewinnen,  gelang  mir  erst  angesichts  des  Originales, 
das  mir  Spiegelberg  mit  der  freundschaftlichen  Bereitwilligkeit, 
durch  die  er  mich  so  oft  schon  zu  Dank  verpflichtet  hat,  darch 
Vermittlung  der  Straßburger  Landesbibliothek  zum  Studium  nach 
Gröttingen  senden  ließ. 

Nach  Spiegelbergs  Lesung  und  Deutung  des  Textes  sollte 
in  (ier  Urkunde  ein  Gränsezüchter  Psenmin  (Psenminis)  für  5  Mo- 
nate eine  Frau  Tamln  zur  Ehefrau  nehmen,  indem  er  für  sie  ein 
Frauengeschenk  (Morgengabe)  von  4  Silberlingen  (80  Silberdrach- 
men) in  zwei  Tempeln  deponierte  und  mit  ihr  vereinbarte,  daß 
dieses  Greld  an  ihn  zurückfallen  solle,  falls  sie  ihn  vor  Ablauf 
der  5  Monate  verlasse  und  in  ihr  Haus  zurückkehre,  dagegen  ihr 
zustehen  und  ausgezahlt  werden  solle,  falls  er  seinerseits  sie  inner- 
halb der  genannten  Frist  von  sich  gehen  lasse. 

Möller  wendet  nun  in  seiner  erwähnten  Arbeit  (S.  24)  gegen 
Sp iegelb er gs  Definition  der  Sache  als  Probeehe  ein,  eine  solche 
könnte  doch  nur  den  Zweck  haben,  „die  Fruchtbarkeit  der  Frau 
vor  dem  Eingehen  einer  dauernden  Bindung  zu  prüfen".  Dann 
würde,  meint  er,  der  Schreiber  aber  wohl  klar  und  unbedenklich 
geschrieben  haben:  „bist  du  am  1.  Choiak  des  Jahres  17  (der  Ter- 
min, mit  dem  die  angegebene  Frist  von  5  Monaten  ablief)  nicht 
schwanger,  so  lasse  ich  dich  gehen,  und  das  Geld  verfällt  dir" 
d.h.  zu  deinen  Grünsten.  Gegenüber  Mitt eis' Bemerkung  (Grund- 
züge der  Papyruskunde  S.  204)  aber,  daß  in  der  Urkunde  ein  ehe- 
liches Verhältnis  begründet  werde,  das  der  Vollehe  diametral  ge- 
genüber stehe,  müsse  ausdrücklich  festgestellt  werden,  daß  der 
Vertrag  die  beiden  Kennzeichen  der  Vollehe  trage,  insofern  die 
Frau  zur  Ehefrau  erklärt  werde  und  eine  Morgengabe  erhalte, 
wenn  diese  auch  vorerst  für  sie  nur  deponiert  werde.  Möller 
meint  (wie  wir  sehen  werden,  mit  vollem  Recht),  es  würden  per- 
sönliche Verhältnisse  besonderer  Art  vorgelegen  haben,  die  dem 
Ehemann  verboten,  der  Frau  eine  längere  Dauer  der  Ehe  in  Aus- 
sicht zu  stellen.  Er  sieht  in  der  Sache  also  einen  singulären  Aus- 
nahmefall. 

Mir  war  es  seit  langem  klar,  daß  die  Lösung  des  Rätsels  von 
einer  Bemerkung  des  Urkundentextes  in  Z.  17/18  (Rs.  2/3)  ausgehen 
werde,  die  bisher  nicht  richtig  verstanden  worden  ist.  Dort  ist 
nämlich  nach  meiner  Lesung  und  Deutung,  die  beide  ganz  sicher 
sind  (s.  u.),  von  einem  Eide  die  Rede,  den  die  Frau  dem  Manne 
geleistet  habe  „betreffs  jenes  Menschen,  von  dem"  er  sie  „getrennt 
habe".     Das  kann  m.  E.   nur   so  verstanden  werden,    daß   es  sich 

Kgl.  Ges.  d.  Wiss.   Nachrichten.   Phil.-hist.  Klasse.   1918.    Heft  3.  19 


290  KuTt  Sethe, 

Din  eine  Frau  handelt,  die  sich  von  ihrem  ersten  Mann,  ob  es  nun 
ihr  Ehegatte  oder  nur  ihr  Liebhaber  war,  geschieden  hat  und  nun 
ihrem  zweiten  Manne  einen  Eid  über  ihr  Verhältnis  zu  dem  ersten 
geleistet  hat. 

Nachdem  nun  Möller  (übrigens  ohne  Kenntnis  der  richtigen 
AuJÖPassung  der  kritischen  Stelle)  richtig  die  Frage  der  Schwanger- 
schaft als  den  springenden  Punkt  erkannt  hat,  um  den  sich  die 
Sache  drehen  müßte,  wenn  es  sich  wirklich  um  etwas  wie  eine 
Probeehe  handeln  sollte,  ward  mir  sogleich  klar,  worauf  sich  der 
erwähnte  Eid  der  Frau  bezogen  haben  wird.  Grewiß  hat  sie  ge- 
schworen, daß  sie  mit  dem  ersten  Manne  entweder  überhaupt  nicht 
oder  nicht  mehr  in  der  letzten  Zeit  geschlechtlich  verkehrt'  habe, 
jedenfalls  aber  daß  sie  kein  Kind  von  ihm  unter  dem  Herzen  trage. 

Ist  das  aber  richtig,  so  wird  die  Bemessung  der  Frist  für  die 
neue  Ehe  auf  5  Monate  seltsam.  Was  man  erwarten  sollte,  wäre 
9  Monate  oder  allenfalls  auch  10,  wenn  dieselbe  vorsichtige  Praxis 
wie  im  römischen  und  im  modernen  bürgerlichen  Rechte  ange- 
wendet sein  sollte  ^).  Das  erstere,  9  Monate,  steht  nun  in  der  Tat 
auch  da,  wenn  man  das  Datum,  das  den  Anfang  der  Frist  bezeich- 
net, richtig  liest.  Spiegelberg  las  „Jahr  16  Monat  3  der  Som- 
merjahreszeit Tag  1",  also  den  1.  Epiphi.  Nichts  hindert  aber^ 
stattdessen  „Monat  3  der  Winter  Jahreszeit  Tag  1"  d.  i.  den  1. 
Phamenoth  zu  lesen,  wodurch  das  Datum  um  4  Monate  zurück- 
gerückt wird.  Die  Schreibungen  für  die  2.  und  die  3.  Jahreszeit 
des  aegyptischen  Kalenderjahres  2?^(.Q  „Winter"  und  smw  „Sommer'^ 


1)  Die  Höchstdauer  der  Scliwangerschaft  wird  bekanntlich  auf  rund  280 
Tage  =  40  Wochen  =  10  Mondmonate  =  9  Sonnenmonate  berechnet.  Die  mo- 
dernen Rechte  geben  der  Frau  eine  Frist  von  300  Tagen  nach  der  Beendigung^ 
der  Ehe  für  die  Geburt  eines  als  ehelich  anzuerkennenden  Kindes.  Daß  die 
Aegypter  im  bürgerlichen  Leben  mit  9  Monaten  rechneten,  was  bei  der  Natur 
ihres  Kalenders  (Jahr  von  365  Tagen)  zu  erwarten  ist,  geht  aus  einer  aegypti- 
sehen  Textstelle  hervor,  deren  Kenntnis  ich  einer  freundlicLen  Mitteilung  Möllers 
verdanke.  Auf  dem  aus  römischer  Zeit  stammenden  Sarge  Berlin  17043  (aus  den 
Ausgrabungen  von  Abusir  el  Melek)  heißt  es  in  einem  Totentexte :  „o  Osiris  NN 
deine  Mutter  ist  schwanger  geworden  mit  dir,   sie  gebiert  dich"  <cz>  ^'^  ^  O 

„bis  zum  1.  Tage  des  10.  Monats".  Wenn  dagegen,  worauf  mich  gleichfalls 
Möller  hinweist,  in  dem  Isistexte  von  der  Insel  los  (C.  I.  Gr.  12,  fasc.  5,  1, 
S.  217,  Z.  22)  die  Göttin  von  sich  sagt:  iyat  yvvai^l  8Biiäyir\vov  ^gicpog  ivira^oc, 
so  ist  das  weniger  aegyptisch  als  griechisch  gedacht,  vgl.  SsTtafiriviciLov  ßgicpog 
„ein  10  Monat  alter,  im  10.  Monat  stehender  Foetus"  Plut.  Numa;  yvvi}  yivst  St-^ 
xd/Lirjvos  „das  Weib  trägt  10  Monate  lang"  Menand.  bei  Gell.  Noct.  att.  3, 16. 
Der  griechische  Kalender  beruhte  ja  auf  dem  Mondjahr,  und  auf  den  Mondmonat 
bezieht  sich  ja  auch  die  Bezeichnung  der  naTcciirjvicc. 


Ein  aegyptischer  Vertrag  über  den  Abschluß  einer  Ehe  auf  Zeit  etc.       291 

sind  einander  dermaßen  ähnlich,  daß  man  immer  wieder  in  Zweifel 
gerät,  was  denn  eigentlich  gemeint  sei,  wenn  man  nicht  Beispiele 
für  beide  Worte  in  einer  und  derselben  Urkunde  nebeneinander 
hat,  sodaß  eine  Vergleichung  ermöglicht  ist.  Der  eine  Schreiber 
schreibt  pr{.t)  so,  wie  der  andere  smw.  Was  in  unserm  Texte  steht, 
hat  tatsächlich  eine  Form,  die  man  nicht  nur  jederzeit  auch  pr{.t) 
lesen  darf,  sondern  bei  der  diese  Lesung,  wie  Spiegelberg  jetzt 
selbst  zugibt  (brieflich),  sogar  die  paläographisch  näher  liegende  ist. 
Die  Dauer  unserer  Probeehe  —  um  eine  solche  handelt  es  sich 
also  wirklich,  wenn  auch  in  anderem  Sinne  als  man  erwartete  — 
ist  demnach  auf  die  Zeit  vom  1.  Phamenoth  (7.  Kalendermonat) 
des  Jahres  16  bis  zum  1.  Choiak  (3.  Kalendermonat)  des  Jahres 
17  festgesetzt  und  somit  auf  9  Monate  oder,  da  die  Epagomenen 
in  diese  Zeit  fallen,  auf  genau  275  Tage  bemessen.  Kommt  die 
Frau  in  dieser  Zeit  nicht  nieder,  so  wird  die  provisorische  Ehe 
in  eine  definitive  umgewandelt  werden.  Das  ist  im  Texte  zwar 
nirgends  gesagt,  ist  aber  offenbar  die  stillschweigende  Voraus- 
setzung der  ganzen  Abmachung.  Und  noch  etwas  anderes  muß 
dabei,  so  seltsam  es  auch  scheinen  muß,  vorausgesetzt  sein,  wefln 
es  sich  um  eine  Probeehe  zu  solchen  Zwecken  handeln  soll :  die 
neuen  Ehegatten  müssen  wenigstens  für  die  ersten  Monate  der 
Ehe  auf  den  natürlichen  Greschlechtsgenuß  verzichtet  haben,  wenn 
anders  das  Ganze  seinen  mutmaßlichen  Zweck  nicht  verfehlen 
sollte. 

II. 

Ich  lasse  nunmehr  den  Text  der  Urkunde,  wie  er  sich  jetzt 
darstellt,  in  Umschrift^)  und  Übersetzung  folgen  und  verweise  für 
das  demotische  Textbild  auf  die  Tafel.  Das  Faksimile,  das  sie 
bietet,  beruht  auf  einer  nach  Spiegelbergs  Publikation  von  mir 
hergestellten  Pause,  die  durchweg  nach  dem  Original  berichtigt 
wurde.  Ein  Lichtdruck  würde  an  den  ohnehin  ganz  deutlichen 
Stellen  nicht  mehr  als  Spiegelbergs  erste  Lesung,  die  als  solche 
vortrefflich  war,  zeigen,  an  den  minder  deutlichen  Stellen,  an  denen 
Spiegelberg  damals  noch  nicht  die  endgültig^  Lesung  gefunden 
hat  und  auf  die  es  jetzt  gerade  ankommt,  aber  nichts  ergeben. 


1)  Die  demotische  Schrift  umschreibe  ich  im  Unterschied  zu  Spiegelberg^ 
da,  wo  sie  historisch  schreibt,  was  bekanntlich  meist  der  Fall  ist,  auch  historisch, 
lautlich  hingegen  nur  da,  wo  sie  wirklich  rein  lautlich,  unhistörisch,  schreibt.  Das 
hat  den  großen  Vorteil,  daß  der  Kenner  der  aeg.  Sprache  (und  für  den  ist  doch 
nur  die  Umschrift  berechnet)  sogleich  erkennen  kann,  was  dasteht. 

19* 


292  Kurt  Sethe, 

Umschrift. 

a)  Vorderseite. 

1.  hU-sp  16  ihd  3  pr{.t)  ssw  1 

2.  Pi'Sr-{n')mn  si  ffnsw-dhwtj  pi  min.w  ipd 

3.  pi  ntj  dd  n  Ii{'\i>)'mn   U  (t«^)    Pi(iii>.ymnt  pij  hd  wdh  (1)  J2  r 
(=  irj-n)  sttr  lO.t  r  (=  Irj-n)  M  wdh  2  'w 

4.  ntj  wih-j  dj,t  st  n-t  m-hih  H.t-hr  (3)  pij  hj  hd  wdh  2  r  {=  irj-n) 
sttr  lO.t 

5.  r  (=  Irj-n)  hd  wdh  2  "n  ntj  wih-j  dj.t  st  (3)   n-t  m-hih  R.\.ty 
ti.wj  (4)  r  (=  irj-n)  hd  wdh  4  r  (=  Wj-n)  sttr  20. t 

6.  r  (=  irj-n)  hd  wdh  4  'w  ntj  wih-j  dj.t  st  n-t  m-hih  m  ntr,w 
s-hm.t.w 

7.  mtW't  ^pr  n  pij-j  \wj  (hi)  iw-t  mtw-j  n  hm.t  n-tij-n  (H-'sjit)  pi-hrw 
(nooY) 

8.  hi.t-sp  16  Ihd  3  pr(.t)  ssw  1  r-hn-r  hi.t-sp  17  Ihd  4  il>{.t)  ssw  1 
iw-f  J^pr 

9.  Iw  sm{-t)  n-t  (5)   r  pij-t  \tvj  (hi)  iw  hn-pw-t   ij  (ei)i)  r  ihd  4 
ibi't)  ssw  1 

10.  n  pij-j  \wj  (hi)   mtw-t  mh  pi  hd   wdh  4  (n)   hht  (6)  ntj  sh  hrj 
iw-f  (7)  hpr 

11.  iw  inJc  pi  ntj  wih  (8)  dj.t  sm-(t)  n-t  iw   hn-pw-t  ij  (ei)   r  ihd  4 
ij^{.i)  SSW  1 

12.  mtw-j  mh  pi  hd  wdh  4  ntj  sh  hrj  mtw-t  (9)  wih-j  mh-w  r 

13.  d.t  m  rd.w  (n)  Pi'Sr-{n-)  inp  (10)  pi  shj.tj  (11) 

14.  p]  rd  (13)  mtw-j  tm  dj.t  hn-f  (13) 

15.  r.hr-t  (epo) 

b)  Rückseite. 

16.  iw  hn^)  tw-j  (14)  m-si-t  n  'wj  n  s-hm.t  in  (e^n) 

17.  m-si  pj  'wj  ntj  wih-t  ir-f  n-j  r  (15)  pi  rmt  (16)  ntj  wih-j 

18.  prd-f  Wm-t  (17)  m-si  (18)  pi  'w^ 

19.  n  pi  w''b{-t)  n  pij-j  \wj  (hi)  (19)  r  ir-f  (30)  n-j  n  hj  hrw 


1)  Unter  dem  Zeichen  für  '.j  „kommen"  in  Z.  9  und  dem  Zeichen  für  6n 
^nicht"  in  Z,  16  steht  im  Original  noch  ein  einzeln  dastehender  Füllpunkt,  wie 
er  bei  diesen  und  andern  sich  horizontal  in  die  Länge  erstreckenden  Zeichen 
häufig  (vgl.  die  Schreibungen  derselben  beiden  Worte  in  Z.  11,  sowie  sm  „gehen" 
in  Z.  9,  \ivj  „Haus"  in  Z.  7.  10.  19,  ink  „ich"  in  Z.  11,  p  von  prd  in  Z.  18,  mn 
von  Fi-mnt  in  Z.  3),  aber  keineswegs  regelmäßig  zu  stehen  pflegt  (vgl.  &n  in  Z.  9, 
sm  in  Z.  11).  In  den  genannten  beiden  Fällen  ist  dieser  Punkt  bei  Herstellung 
der  Zinkätzung  für  die  Tafel  durch  Schuld  der  technischen  Anstalt  weggefallen 
und  konnte  in  der  Reproduktion  nicht  wieder  hergestellt  werden. 


Ein  aegyptischer  Vertrag  über  den  Abschluß  einer  Ehe  auf  Zeit  etc.       293 

Übersetzung. 

a)  Vorderseite. 

1.  Jahr  16,  Monat  3  der  Winter  Jahreszeit  (Phamenoth),  Tag  1. 

2.  P-sen-min,  Sohn  des  Chens-dhowt,  der  Gänsehirt, 

3.  ist  es,  der  sagt  zu  Ta-min,  Tochter  des  Pa-mont:  „Jene  2 
(voll)ausgegossenen  (1)  Silberlinge,  —  macht  10  Statere,  macht 
2  vollausgegossene  Silberlinge  wiederum  — , 

4.  die  ich  dir  gegeben  habe  vor  (der  Gröttin)  Hathor  (2),  (und) 
jene  andern  2  (voll)ausgegössenen  Silberlinge,  —  macht  10 
Statere, 

5.  macht  2  (voll)ausgegossene  Silberlinge  wiederum  — ,  die  ich. 
dir  gegeben  habe  vor  (der  Göttin)  R\t-ß.tvj  (4),  (das)  macht  (zu- 
samnien)  4  (voll)ausgegossene  Silberlinge  —  macht  20  Statere, 

6.  macht  4  (voll)ausgegossene  Silberlinge  wiederum  — ,  die  ich 
dir  gegeben  habe  vor  den  Göttinnen. 

7.  Du  wirst  in  meinem  Hause  sein,  indem  du  mir  eine  Ehefrau 
bist,  von  heute, 

8.  Jahr  16,    Monat  3  der  Winterjahreszeit  (Phamenoth),   Tag  1 
bis  zum  Jahre  17,    Monat  4  der  Überschwemmungsjahreszeit 
(Choiak),  Tag  1.     Wenn  es  geschieht, 

9.  daß  du  weggegangen  bist  (5)  in  dein  Haus,  bevor  du  gekom- 
men bist  zum  Monat  4  der  Überschwemmungsjahreszeit  (Choiak), 
Tag  1 

10.  in  meinem  Hause,  so  wirst  du  die  4  (voll)ausgegossenen  Sil- 
berlinge von  früher  (6),  die  oben  geschrieben  sind,  (zurück)- 
zahlen.     Wenn  (7)  es  geschieht, 

11.  daß  ich  es  bin,  der  dich  hat  (8)  weggehen  lassen,  bevor  du 
gekommen  bist  zum  Monat  4  der  Überschwemmungsjahreszeit 
(Choiak),  Tag  1, 

12.  so  werde  ich  (dir  aus)zahlen  (lassen)  die  4  (voll)ausgegossenen 
Silberlinge,  die  oben  geschrieben  sind,  die  (9)  ich  bereits  ge- 
zahlt habe 

13.  in  die  Hand  der  Vertreter  (oder  Beauftragten)  des  P-sen-anüp 
(10),  des  Geldwechslers  (11), 

14.  des  Vertreters  (d.  i.  des  Treuhänders)  (12).  Und  ich  werde 
ihn   sich  nicht  nähern  lassen  (13) 

15.  dir  (d.  h.  keine  Forderungen  an  dich  stellen  lassen). 

b)  Rückseite. 

16.  Ich  bin  (14)  aber  nicht  hinter  dir  in  bezug  auf  (d.  h.  ich  habe 
von  dir  nicht  zu  fordern)  einen  Frauenspersonen-Eid 


294  Kurt  Setho, 

17.  außer  dem  Eide,    den  du  mir  bereits   geleistet  hast   betreffs 
(15)  jenes  Menschen  (16),  den  ich 

18.  von  dir  getrennt  habe  (17),  (sowie)  außer  (18)  dem  Eide 

19.  de(ine)r  Reinigung  in  bezug  auf  mein  Haus  (19),    der  mir  zu 
leisten  ist  (30)  an  einem  andern  Tage". 

Kommentar. 

1.  Zu  diesem  Ausdruck,  dessen  Lesung  und  Übersetzung  un- 
sicher ist,  der  aber  jedenfalls  irgendwie  die  YoU Wertigkeit  der 
Münze  bezeichnen  muß,  s.  Griffith,  Ryl.  III  270  note  4,  der 
dort  den  Beweis  lieferte,  daß  die  ältere  Lesung  dbn  „Pfund"  un- 
möglich ist. 

2.  Das  ergänzende  Praedikat  zu  diesem  und  dem  koordinierten 
Parallelausdruck  ist  sicherlich  in  der  Summier ung  ;, macht  (zu- 
sammen) 4  Silberlinge"  (Z.  5)  zu  suchen,  vgl.  „was  aber  den  Hori- 
zont der  Sonnenscheibe  betrifft  von  der  südlichen  Stele  bis  zur 
nördlichen  Stele,  gemessen  zwischen  Stele  und  Stele,  so  macht  das 
(irw-n)  6  Schoinoi  und  179  Ellen"  Davies,  Amama  5,  pl.  28, 
S.  18. 

3.  st  im  Original  deutlich,  wenn  auch  verblaßt,  erhalten. 

4.  Neue  Lesung  von  Spiegelberg,  die  er  demnächst  in  der 
Aeg.  Ztschr.  begründen  wird.  Hathor  und  die  ihr  wesensähnliche 
B\t-U.wj,  die  in  Hermonthis  zu  Hause  ist,  sind  vielleicht  in  ihrer 
Eigenschaft  als  Gröttinnen  der  Liebe  und  der  Mutterschaft  zu  Zeu- 
ginnen der  Greldzahlung  gewählt. 

5.  Man  könnte  an  sich  zweifeln,  ob  so  zu  ergänzen  ist  oder 
*w{-t)  sm  „daß  du  gehst".  Für  die  perfektische  Fassung  spricht 
der  Satz  in  Z.  11,  der  von  der  entsprechenden  Tat  des  Mannes 
redet.  Auch  daß  der  Schreiber  in  Z.  7  richtig  iw-t  und  in  Z.  11 
ebenso  unrichtig  sm(-t)  geschrieben  hat,  spricht  gegen  die  Ergän- 
zung iw't  sm  ^).  In  Verbindung  mit  dem  futurisch  gedachten  „wenn 
es  geschieht"  entspricht  das  Perfektum  uns erm  Futurum  exactum: 
aeg.  „wenn  es  geschieht,  daß  du  gegangen  bist"  =  deutsch:  „wenn 
du  gegangen  sein  wirst".    Vgl.  Spiegelberg,  Erbstreit  S.  52, III. 

6.  IiLt  „früher"  (antea)  findet  sich  wie  hier  als  mutmaßlich 
genitivischer  Zusatz  auch  sonst  gern  bei  Greldbezeichnungen,  z.  B. 
;,du  hast  mein  Herz  zufriedengestellt  mit  ihm  (dem  Pachtzins)  in 


1)  Die  Weglassung  des  Suffixes  2.  f.  sg.  t  bei  sm  an  beiden  Stellen  dürfte 
mit  der  Ähnlichkeit,  die  das  Determinativ  des  Gehens  mit  einem  t  hat,  zusammen- 
gehangen haben. 


Ein  aegyptischer  Vertrag  über  dea  Abschluß  einer  Ehe  auf  Zeit  etc.       295 

0-eld  von  früher  (M  hi.ty  Kairo  30615,7;  „15  Artaben  Weizen, 
davon  ab  Greld  von  früher  zu  meinen  Lasten  heute  =  11  Artaben, 
bleiben  4  Artaben"  Kairo  30615.14;  vgl.  auch:  „du  hast  mir  ihn 
(den  Pachtzins)  gegeben  in  Geld  von  früher  als  heute  {hd  hi.t 
pl-hnvY  Kairo  31079,  18/9.  30613,11.  Überall  handelt  es  sich  da- 
bei um  eine  Darlehensschuld.  Vielleicht  soll  auch  an  unserer  Stelle 
das  für  die  Frau  deponierte  Geld,  das  sie  gegebenenfalls  zurück- 
zahlen soll,  als  ein  solches  Darlehen  hingestellt  werden. 

7.  Iw  in  Resten  erhalten. 

8.  Der  Ausdrucksform  wlh-j  sehn  „ich  habe  gehört^,  „habe 
bereits  gehört",  eigentlich  „ich  bin  fertig  mit  Hören"  =  altkopt. 
^d^i-cui-rü ,  die  unser  Text  so  gern  mit  dem  Relativwort  ntj  ver- 
bunden gebraucht  (Z.  4 — 6.  12.  17)  ^),  entspricht  hier  ein  ntj  ivlJi  sdm 
„welcher  bereits  gehört  hat",  das  die  Bedeutung  eines  alten  Part, 
act.  perf.  hat.  Es  ist  offenbar  das  Prototyp  des  achmim.  e-r-ö.^- 
ciu-Tü.,  für  das  ich  Aeg.  Ztschr.  52,  112  eben  eine  solche  Entste- 
hung postuliert  habe.  Daß  dieser  letztere  Ausdruck  mit  e-r-d^g^- 
im  Kopt.  nur  auf  den  Dialekt  von  Achmim  beschränkt  ist  und  daß 
unser  Ostrakon,  das  in  Luksor  gekauft  wurde,  in  den  Namen  der 
beiden  Kontrahenten  P-sen-min  („der  Sohn  des  Gottes  Min")  und 
Ta-min  („die  des  Gottes  Min")  Beziehungen  zu  einem  Orte,  der 
dem  Gotte  Min  diente,  also  Achmim  oder  Koptos,  zu  verraten 
scheint,  ist  ein  merkwürdiges  Zusammentreffen.  Man  könnte  da- 
nach auf  den  Gedanken  kommen,  daß  wir  in  unserer  Urkunde,  die 
sich  in  dem  oben  belegten  Gebrauch  des  perfektischen  Hülfsverbums 
tvlh  im  Relativsatz  mit  ntj  merklich  von  der  übrigen  Masse  der 
demotischen  Urkunden  aus  Memphis,  dem  Faijum,  Theben,  Gebelen 
und  Edfu  unterscheidet,  das  älteste  Denkmal  des  achmimischen 
Lokaldialektes  zu  erblicken  hätten.  Dagegen  spricht  jedoch  der 
von  Spiegelberg  gelesene  Name  der  Göttin  R\f-t'.wj,  der  ebenso 
wie  der  Personenname  Pa-mont  eher  auf  die  Umgegend  von  Er- 
ment  (Hermonthis)  als  eigentlichen  Herkunftsort  des  Ostrakons 
schließen  läßt.  Die  mit  Min  gebildeten  Personennamen  finden  sich 
in  griechisch-römischer  Zeit  tatsächlich  auch  ebenso  in  der  Um- 
gegend von  Erment,  in  Gebelen  wie  in  Theben,  nicht  selten,  sind 
also  damals  keineswegs  auf  die  eigentlichen  Kultorte  des  Min  be- 
schränkt gewesen. 

9.  Das  mtiV't  (n-re),  das  hier  steht,  muß,  wie  Spiegelberg 
bereits  sah,  eine  Verschreibung  für  das  Relativ  wort  ntj  sein,  das 
der  Zusammenhang  mit  Notwendigkeit  fordert.     Vielleicht  verrät 

1)  Anderweitig,  soviel  ich  weiß,  bisher  noch  nicht  belegt. 


296  KvLTt  Sethe 


sich  in  dieser  Fehls chreibung  die  Aussprache,  die  das  Relativwort 
in  der  Verbindung  mit  dem  Hülfszeitwort  wih-j  damals  noch  hatte, 
etwa  *ente-ha'i. 

10.  Man  kann  zweifeln,  ob  das  r-d.t  m  rd.w  (n)  P3-^/*-(w-)mp 
„in  die  Hand  der  Vertreter  des  P-gen-anup"  mit  dem  vorhergehen- 
den Relativsatz  „die  ich  bereits  gezahlt  habe"  zu  verbinden  ist, 
wie  das  oben  in  der  Übersetzung  angenommen  worden  ist,  oder 
mit  dem  Hauptsatze  „so  werde  ich  zahlen".  Wegen  des  plurali- 
schen Ausdruckes  nl  rd.w  „die  Vertreter"  ist  wohl  das  erstere 
vorzuziehen.  Denn  darin  sind  doch  gewiß  die  Personen  zu  er- 
kennen, die  die  beiden  Zahlungen  in  Gegenwart  der  Göttinnen 
Hathor  und  K.t-tiwj,  also  vermutlich  in  deren  Tempeln,  entgegen- 
genommen haben. 

11.  Das  letzte  Zeichen  des  Wortes  ist  hier  wie  in  Kairo  30601 
und  Berlin  3116,  3, 13,  wo  das  Femininum  davon  vorliegt  (P.  sb.tj.t 
^die  Geldwechsler  in") ,  deutlich  tj.  Das  Wort,  das  vom  Infinitiv 
shj.t  (igefiic-,  lyifie)  kommt,  wird  entweder  *s^hjet  (vgl.  tanm-x)  oder 
*s'hlt  (vgl.  juepn)  gelautet  haben. 

12.  Da  vor  pl  rd  „der  Vertreter",  „der  Beauftragte"  kein  n 
steht,  kann  nicht  daran  gedacht  werden,  etwa  einen  den  Empfänger 
angebenden  Dativ  zu  dem  Hauptsatz  „so  werde  ich  zahlen"  darin 
zu  suchen:  „dem  Vertreter"  im  Sinne  von  „deinem  Vertreter". 
Der  Ausdruck  kann  vielmehr  nur  Apposition  zu  „P-§en-anup,  der 
Geldwechsler"  sein.  Andernfalls  wäre  auch  wohl  der  Possessiv- 
artikel pij-t  „dein"  zu  erwarten.  Die  Ersetzung  eines  solchen  Pos- 
sessivausdrucks  durch  den  einfachen  bestimmten  Artikel  ist  ja  sonst 
gerade  bei  appositionellem  Verhältnis  nicht  selten  (vgl.  die  Bei- 
spiele bei  Sethe-Partsch,  Demot.  Bürgschaftsurkunden,  Urk. 
15,  §  15) ,  aber  naturgemäß  überall  nur  da  anzutreifen ,  wo  das 
Wort,  auf  das  sich  das  nicht  ausgedrückte  Pronomen  personale 
bezieht,  im  selben  Satze  vorher  genannt  ist.  Das  ist  an  unserer 
Stelle  aber  nicht  der  Fall,  wenn  man  das  „der  Vertreter"  nicht 
als  „mein  Vertreter"  deuten  will,  was  durch  den  Zusammenhang 
ausgeschlossen  erscheint.  Aus  diesem  Grunde  wird  man  in  dem 
pl  rd  wohl  den  Vertreter  einer  dritten  Person  oder  Korporation 
zu  erkennen  haben,  etwa  des  Notars,  der  Priesterschaft  ^)  oder  der 
Gaubehörde  ^).  Das  paßt  in  der  Tat  auch  allein  in  den  Zusam- 
menhang,   der  als  Empfänger  der  ersten  Doppelzahlung  eine  neu- 


1)  So  z.  B.  in  den  Statuten  der  Priesterkorporation  von  Tebtynis,  vgl.  meine 
Arbeit  Sarapis  und  die  sogen,  xaro^ot  S.  93. 

2)  Vgl.  Ryl.  9,  7, 1. 


Ein  aegyptischer  Vertrag  über  den  Abschluß  einer  Ehe  auf  Zeit  etc.       297 

trale  Stelle  erfordert,  die  die  Geldsumme  bis  zur  Entscheidung 
der  Angelegenheit  zu  verwahren  hat,  einen  Treuhänder.  Nur  so 
wird  auch  das  nachher  folgende  mtiv-j  tm  dj.t  Im-f  r-hr-k  „und  ich 
lasse  ihn  sich  dir  nicht  nähern"  verständlich,  s.  u. 

13.  tm  auf  dem  Original  ganz  deutlich.  Das  dj.t,  das  damit 
zusammengelaufen  ist,  ist  in  seiner  linken  Hälfte  etwas  verblaßt. 
Daher  das  Ganze  von  Spiegelberg  verkannt.     Zur  Lesung  von 

hn  „sich  nähern"  (g^mn)  und  seiner  Konstruktion  mit  r  vgl.    x—  ^ 
Spieg.,  Mythus  4, 29  (hn-s  r  pi  giw  „sie  näherte  sich  der  Speise„); 
^nü    Grriffith -Thompson,  Mag.  Pap.  4,4  {liv-f  hn  r  didi-Jc 
„indem  er  deinem  Kopfe  nahe  ist"). 

Das  Suffix  3.  m.  sing,  f  in  hn-f  kann  sich  nur  auf  das  unmit- 
telbar vorher  genannte  „P-sen-anup,  der  Vertreter"  beziehen,  also 
auf  die  Person,  die  das  Geld  in  Verwahrung  genommen  hat.  Der 
Sinn  der  Zusicherung  „und  ich  werde  ihn  sich  dir  nicht  nähern 
lassen"  kann  nur  sein,  daß  die  Frau  vor  etwaigen  Forderungen, 
die  diese  Person  an  sie  bei  oder  nach  der  Auszahlung  des  ihr  ver- 
fallenen Geldes  stellen  sollte,  etwa  auf  Provision,  Spesen  oder  der- 
gleichen, sicher  gestellt  sein  soll,  indem  der  Ehemann  diese  Un- 
kosten übernimmt.  "Wir  haben  in  dem  Ausdruck  dj.t  hn  x.  r  y. 
„Jemanden  (x.)  sich  einem  andern  (y.)  nähern  lassen"  ofi^enbar  das 
Gegenstück  zu  dem  bekannten  Ausdruck  der  demotischen  Rechts- 
sprache dj.t  wij  X.  r  y.  „Jemanden  (x.)  sich  von  einem  andern  (y.) 
entfernen  lassen"  d.  i.  bewirken,  daß  er  keine  Ansprüche  in  bezug 
auf  etwas  {n  bezw.  im-)  an  den  andern  stelle,  daß  er  es  ihm  über- 
lasse. Nur  pflegt  das  kausative  dj.t  „veranlassen*^,  „bewirken"  im 
negierten  Satze  meist  die  Bedeutung  „lassen",  „zulassen"  zu  haben. 
Der  Ehemann  verspricht  also  wohl,  nicht  zulassen  zu  wollen,  daß^ 
die  Frau  mit  Ansprüchen  des  Geldwechslers  verfolgt  werde. 

14.  Spiegelberg  las  mtw-j.  Der  von  ihm  für  m  gehaltene 
Strich  muß,  da  er  nicht  zufällig  zu  sein  scheint,  wohl  oder  übel 
zu  der  Negation  hn  gehören,  mtw-j  gibt  keinen  Sinn.  Der  adver- 
biale Nominalsatz  und  die  Negation  hn  —  In  (n  —  «.n)  verlangen 
das  tw-j  des  Praesens  I  (e-n-^-Ilctu  d.n). 

15.  Es  steht  deutlich  r  „betreffs"  da,  nicht  n  „in  bezug  auf",^ 
das  in  Z.  19  hinter  "nfi  „Eid"  steht. 

16.  Es  steht  völlig  deutlich  rmt  „Mensch"  da,  das  Spiegel- 
berg nur  deshalb  in  M  „Silber"  emendieren  wollte,  weil  er  mit 
rmt  nichts  anzufangen  wußte;  und  dies  war  wohl  lediglich  Folge 
seiner  Verkennung  des  folgenden  Relativsatzes. 


17.  ^-?r^  (ntupi)  vom  Trennen  eines  Paares  auch  Mag.  pap. 
13,1;  prd  hivtj  r  s.hm.t  „Mann  von  Weib  trennen";  ib.  13,9:  sf 
mtw-iv  prd  r  nij-w  irj.iv  „bis  sie  (Mann  und  Weib)  sich  von  ein- 
ander trennen".  Hier  ist  das  Verb  mit  r  konstruiert.  Die  Kon- 
struktion mit  irm  „mit",  »und",  die  bei  uns  stattdessen  vorliegt, 
ist  indeß  aus  demKopt.  gut  belegt  in:  nen-Texq-nuip-zE.  efiioA  n3ÄJüiö.Y^) 
„der,  welcher  sich  von  ihnen  getrennt  hatte"  Act.  15,  38  (roi/  äito- 
^tdvta  alt  avtcbv),  eigentlich  „der,  welcher  sich  und  sie  getrennt 
hatte".  Bei  uns  könnte  man  es  etwa  so  wiedergeben;  „zwischen 
den  und  dich  ich  getreten  bin".  Die  dem  Hülfsverbum  wih  inne- 
wohnende Bedeutungsnüance  der  vollkommenen  Vollendung  der 
Handlung  kann  hier  so  wenig  wie  in  Z.  11  und  auch  sonst  oft 
im  Deutschen  durch  „bereits"  wiedergegeben  werden,  eher  viel- 
leicht durch  das  Plusquamperfektum. 

18.  Dieses  Wort,  das  Spiegelberg  in  seinem  offenbar  nicht 
nach  dem  Originale  selbst,  sondern  nach  einer  mangelhaften  Photo- 
graphie hergestellten  Faksimile  (s.  u.  Note  13)  als  undeutlich  an- 
gab und  js  „siehe"  lesen  wollte^),  ist  im  Original  völlig  deutlich 
m-sl  „außer"  in  genau  dens-elben  Formen,  die  es  vorher  in  Z.  16 
und  Z.  17  hatte. 

19.  pl  ^n^  n  p]  iv'b  n  p\j-j  \wj  (hi)  „der  Eid  der  Eeinigung 
in  bezug  auf  mein  Haus",  das  ist  wohl  ein  Eid,  durch  den  sich 
die  Frau,  wenn  sie  das  Haus  des  Mannes  verlassen  sollte,  von  dem 
Verdachte  zu  reinigen  hat,  daß  sie  Dinge  aus  dem  Haushalte  des 
Mannes  verdorben  oder  beiseite  geschafft  habe.  Zum  Ausdruck 
^fijj,  n  pi  w'b  njit  der  ungewöhnlichen  Setzung  des  bestimmten  Ar- 
tikels vor  dem  Infinitiv  vgl.  mtw-iv  Wk-w  (n)  pi  '^ J  (n)  ''nji  (n)  p 
tv^b-f  „und  sie  schwören  den  Eid  als  einen  Eid  der  Selbstreinigung" 
Rev.  ^g.  4,  pl.  1  zu  p.  143.  Danach  wird  vermutlich  auch  bei 
uns  hinter  w^b  das  reflexive  Objekt  in  Grestalt  des  Suffixes  2.  fem. 
sing,  -t  „dich"  zu  ergänzen  sein,  das  ja  so  oft  unbezeichnet  bleibt, 
weil  es  in  der  Aussprache  weggefallen .  war  (z.B.  Z.  9.11  nach 
am).    Zu  w'b  mit  reflexivem  Objekt   vgl.  Qriffith  Ryl.  III  339. 

Das  Wort  w^'b,  das  in  Spiegelbergs  Faksimile  ein  sehr 
ungewöhnliches  Aussehen   hat   und   daher   von  ihm  nur  zweifelnd 


1)  In  Budge's  Ausgabe  irrig  nach  dem  bohair.  Text  juLJULooTf  ergänzt. 

2)  Dieses  Wort  js  „siehe"  ist  nebenbei  bemerkt  recht  problematisch.  Über- 
all daj  wo  S  p  i  e  g  e  1  b  e  r  g  bisher  so  lesen  wollte,  liegen  m.  E.  andere  Worte  vor. 
Das  gut  beglaubigte  Aequivalent  des  kopt.  eic  im  Demotischen  sieht  wie  iw-s 
„es  ist"  aus,  mit  dem  meiner  Meinung  nach  das  kopt.  eic  ebenso  wie  die  alt- 
.aegyptische  Partikel  is  in  der  Tat  identisch  ist. 


Ein  aegyptischer  Vertrag  über  den  Abschluß  einer  Ehe  auf  Zeit  etc.       299 

SO  gelesen  wurde,  hat  im  Original  durchaus  wohlerhalten  seine 
normale  spätere  Grestalt,  wie  sie  seit  dem  letzten  vorchristlichen 
Jahrhundert  (z.B.  Spiegelberg,  Prinz- Joachim-Ostraka  Taf.  4, 
Nr.  10  vom  J.  59  v.  Chr.) ,  dem  unser  Text  angehören  dürfte,  üb- 
lich ist. 

20.  r  ir-f  „zu  machen"  neben  n  ir-f  der  gewöhnliche  Aus- 
druck für  das  Grerundivum  im  Demotischen,  s.  Sethe-Partsch, 
Demot.  Bürgschaftsurkunden  S.  67.  Unsere  Stelle  macht  es  wahr- 
scheinlich, daß  die  beiden  Ausdrucksformen  nicht,  wie  dort  noch 
angenommen  wurde,  nur  graphisch  verschieden  und  tatsächlich  iden- 
tisch, sondern  daß  sie  wirklich  von  einander  verschieden  waren. 


Die  ältesten  Berührungen   der  Russen  mit  den  nord- 
ostflnnischen  Völkern  und  der  Name  der  Russen. 

Von 
H.  Jacobsohn  in  Marburg  i.  H. 

Vorgelegt  von  E.  Hermann  in  der  Sitzung  vom  12.  Juli  1918. 

Der  alte  russische  Clironist  Nestor,  der  von  1056  bis  etwa 
1116  gelebt  hat,  erwähnt  einige  Male  ein  Volk  der  Fetscheren ', 
Kapitel  1  (der  Ausgabe  von  Miklosich):  w^  Jafetowje  ie  casti  sjed- 
jaU  Rust,  Cjudt  i  si  jazytsi :  Merja,  Muroma,  West,  Morzdva,  Za- 
wolchsJcaja  Cjudt,  Fermh,  Fecera,  Jamt>,  Vgra  usw.  usw.  =  „im  An- 
teil Jafets  sitzen  Eussen,  Tschuden  und  diese  Völkerschaften: 
Merja,  Muroma,  Wepsen(?),  Mordwinen,  Tschuden  von  jenseits  des 
Wolok,  d.  h.  der  großen  unbebauten  Waldstrecke,  Permier,  Pet- 
scheren,  Jamen,  Ugrier  usw.  usw."  Kapitel  7  a  se  sutt>  ini  jazyts% 
i^e  dam  dajuit»  Biisi:  Cjudh,  Merja,  West,  Muroma,  Ceremisa, 
Morzdva,  Permt,  Fecera,  Jamt  usw.  usw.  =  „das  sind  andere  Na- 
tionen, die  Tribut  an  Rußland  geben:  die  Tschuden,  Merja,  Wep- 
sen(?),  Muroma,  Tscheremissen,  Mordwinen,  Permier,  Petscheren, 
Jayien  usw.  usw.^  Dazu  kommt  eine  berühmte  Stelle,  die  die 
ersten  zuverlässigen  Nachrichten  über  das  Volk  der  Ugrier  bringt, 
von  der  ich  aber  nur  den  Anfang  ausschreibe,  Kap.  81:  se  äe  cho- 
ätsju  szJcasati,  jaie  slüsachz  prjeMe  sichz  cetürb  IjetZj  ja^e  szka^a  mi 
Gurjata  Bogovistsh  Nowogradttst  .  .  .:  jalio  poslachz  otroJcz  moi  wn 
FecerUy  Ijudi,  iie  sutt  dam  dajustse  Nowii  Gradu  i  ,  .  .  oiz  tudu  ide 
WZ  Jugru.  Jugra  äe,  ...  szsjedjatt  sz  Samojadiju  na  polunostshnücht 
stranachz:  „dies  will  ich  erzählen,  was  ich  vor  vier  Jahren  hörte 
(das  ist  das  Jahr  1096),  was  mir  ein  Nowgoroder,  Gurjata  Rogo- 
witsch  sagte :  ich  sandte  meinen  Diener  zu  den  Petscheren,  Leuten, 
die  Nowgorod  Tribut  zahlen,  und  von  dort  ging  er  zu  den  Ugriem. 


H.  Jacobsohn,   Die  ältesten  Berührungen  der  Russen  etc.  301 

Die  Ugrier  aber  sind  Nachbarn  der  Samojeden  in  den  nördlichen 
Gregenden." 

Die  Wohnsitze  dieses  Volkes  der  Tetscheren  lassen  sich  ziem- 
lich dadurch  bestimmen,  daß  sie  Kap.  1  und  7  in  Verbindung  mit 
den  Permiern  und  Jamen  genannt  werden,  daß  Nestor  sie  Kap.  1 
nicht  weit  von  den  Tschuden  von  jenseits  des  Wolok  und  den 
Ugriern  stellt,  und  daß  sie  nach  Kap.  81  deutlich  (westliche)  Nach- 
barn der  Ugrier  sind^).  Die  Annahme  liegt  sehr  nahe,  daß  sie 
den  Syrjänen  zuzurechnen  sind,  einem  finnisch-ugrischen  Volke,  das 
mit  den  Wotjaken  zusammen  den  permischen  Zweig  dieses  Sprach- 
stammes bildet  und  heut  seine  Wohnsitze  auf  dem  ungeheuer  aus- 
gedehnten Grebiet  an  den  Flüssen  Petschora,  Ishma,  Mesenj,  WaschJcüj 
Wytschegda,  Sysola,  Lusa  und  Kama  in  den  Grouvernements  Wologda, 
Archangelsk,  WjatJca  und  Perm  hat,  und  das  ist  auch  früh  aus- 
gesprochen worden.  Vgl.  etwa  Schafarik,  Slavische  Altertümer  II 
54  f.  Aber  man  ist  zu  dieser  Annahme  offenbar  nur  deswegen 
gelangt,  weil  in  späterer  Zeit  wie  noch  heute  der  nördlichste  Teil 
der  Syrjänen  an  der  mittleren  Petschora  sitzt.  Einen  Beweis  da- 
für hat  man  nicht  versucht,  und  noch  vor  wenigen  Jahren  haben 
es  Yrjö  Wichmann,  Die  tschuwaschischen  Lehnwörter  in  den  permi- 
schen Sprachen  (=  Memoires  de  la  soci^te  finno-ougrienne  21)  146 
und  Jalo  Kalima,  Die  russischen  Lehnwörter  im  Syrjänischen  (= 
Memoires  de  la  sociöt^  finno-ougrienne  29)  180  f.  nur  für  wahr- 
scheinlich erklärt,  daß  die  Petscheren  zu  den  Syrjänen  gehörten. 
Ich  glaube,  der  Beweis,  daß  dies  richtig  ist,  läßt  sich  führen. 

Es  wird  niemandem  einfallen,  den  Namen  der  Petscheren  von 
dem  Flusse  Petschora  zu  trennen^).  Unzweifelhaft  ist  der  Fluß- 
name das  primäre  und  hat  dem  an  seinen  Ufern  hausenden  Volke 
erst  den  Namen  gegeben.  Entscheiden  läßt  sich  nicht  völlig,  ob 
der  Name  der  Petscheren  bei  dem  Volke  selbst  aufgekommen  ist, 
als  dieses  sich  am  Flusse  Petschora  niedergelassen  hatte,  oder  ob 
die  Russen  ihm  diesen  Namen  erst  gegeben  haben.    Aber  durchaus 


1)  Genannt  werden  die  Petscheren  noch  lange  nach  Nestor,  so  in  der  etwas 
später  oben  im  Text  angeführten  russischen  Chronik  von  1396,  wo  sie  zwischen 
Lappen,  Korelaern,  Jugrern  auf  der  einen  Seite,  Wogulen  und  Samojeden  auf  der 
andern  Seite  unter  einer  großen  Anzahl  von  Völkernamen  als  Petscheren  erwähnt 
werden,  ebenso  das  Land  Petschera  in  einer  Chronik  für  das  Jahr  1264,  wo  von 
den  Distrikten  Nowgorods  unter  anderen  Jugra,  Sawoloksie,  Perem  (=  Perm)  und 
Petschera  aufgezählt  werden,  und  so  ständig  unter  den  Wolosten  der  Kepublik 
Nowgorod,  vgl.  Lehrberg,  Untersuchungen  zur  Erläuterung  der  älteren  Geschichte 
Kußlands  29 f.;  32 f.;  57  Anm.  1  usw. 

2)  Vgl.  den  in  der  Chronik  von  1264  genannten  Distrikt  Petschera  Anm.  1. 


302  H-  Jacobsohn, 

wahrscheinlich  ist  das  Letztere.  Dafür  spricht  auch  die  Form. 
Die  Russen  haben  doch  wohl  die  Gegend  an  der  Petschora  nach 
dem  Flusse  benannt  und  dann  die  Bezeichnung  für  das  Land 
kollektiv  auch  für  das  dort  wohnende  Volk  gebraucht,  wie  es  der 
Sprache  Nestors  entspricht,  wo  Wörter  wie  Litwa,  3Ierja,  ügra, 
Bush  usw.  gleicherweise  für  das  Land  und  kollektivisch  für  das 
Volk  verwandt  werden^).  Man  beachte  auch,  daß  die  Russen  ge- 
rade die  einzelnen  Teile  der  Syrjänen  gern  nach  den  Flüssen  be- 
nennen, an  denen  diese  ihre  Sitze  haben.  Ich  verweise  auf  eine 
Chronik  vom  Jahre  1396,  die  ein  Verzeichnis  der  Völkerschaften 
des  nördlichen  Rußlands  enthält,  und  in  der  von  Völkern  der  per- 
mischen Landschaft  und  der  umliegenden  Gegenden  und  Orter 
unter  anderm  genannt  werden  die  Wytschegdaery  das  sind  die  Syr- 
jänen von  der  Wytschegda,  und  die  Juger^  das  sind  die  Syrjänen 
am  Jug  usw.  In  dieser  Chronik  folgen  nun  gleich  auf  die  Juger 
die  Syrjänen  selbst,  aber  Nestor  und  die  ältesten  russischen  Chro- 
niken kennen  den  Namen  Syrjänen  noch  nicht.  Sie  reden  zwar 
von  Permiern,  unter  denen  wohl  Syrjänen  mit  einbegriffen  'sind. 
Aber  Perm  ist  ein  Gebiet,  das  nach  derselben  Chronik  innerhalb 
der  Grenzen  der  Wytschegda  und  Kama  liegt  ^).  Die  Gegend  an 
der  Petschora  fällt  außerhalb  dieses  Landstrichs.  Waren  nun  die 
Petscheren  ein  Stamm  der  Syrjänen,  was  erst  bewiesen  werden 
soll,  so  kannten  doch  die  Russen  zu  Nestors  Zeiten  diesen  Zusam- 
menhang mit  den  übrigen  Syrjänen  oder  Permiern  nicht.  Um  so 
näher|lag  es  für  sie,  diesen  Stamm,  den  sie  nicht  einordnen  konnten^ 
nach  der  Gegend  zu  benennen,  in  der  sie  ihn  trafen. 

Wir  werden  also  keinen  Fehler  begehen,  wenn  wir  annehmen, 
daß  der  Name  Petscheren  auf  die  Russen  zurückgeht.  Für  unsere 
Untersuchung  ist  es  übrigens  gleichgültig.  Die  Hauptsache  ist 
vielmehr  die :  gelingt  es,  den  Flußnamen  Petschora  einwandfrei  aus 
syrjänischem  Sprachgut  zu  erklären,  haben  erst  die  Syrjänen  die- 
sem Fluß  im  äußersten  Nordosten  Europas  den  uns  bekannten 
Namen  gegeben,  so  setzt  auch  der  Volksname  Petscheren  die  An- 
wesenheit von  Syrjänen  in  diesen  Gegenden  voraus  ^).    Nun  scheint 


1)  Vgl.  zu  diesem  Gebrauch,  der  dem  des  Finnischen  entspricht,  V.  Thomsen, 
Der  Ursprung  des  russischen  Staates  (deutsche  Übersetzung)  101  ff.,  aber  auch 
W.  Schulze,  K.  Z.  41,  168  f.,  der  denselben.  Gebrauch  im  Gotischen  nachweist. 
Haben  ihn  die  Finnen  aus  dem  Germanisehen  entlehnt? 

2)  Mit  dem  heutigen  Gouvernement  Perm  deckt  sich  dies  Gebiet  nicht. 

3)  Natürlich  hat  der  Flußname  Petschora  nichts  mit  dem  russischen  Orts- 
namen Petschory  zu  tun,  der  'Höhlen'  oder  'Grotten'  bedeutet  und  zu  der  kirchen- 
slavischen  Form  pestsera  gehört.    Diese  früher  vertretene  Ansicht,  die  z.  B.  Lehr- 


Die  ältesten  Berührungen  der  Russen  mit  d.  nordostfinnischen  Völkern  etc.     303 

es  mir  ohne  weiteres  klar,  daß  im  Flusse  Petschora  das  syrjäni- 
sche  Wort  für  „Nessel"  steckt:  petser  oder  petsör  nach  Wiedemanns 
syrjänischem  Wörterbuch  224  f.,  petser  mit  dem  Vokal  /i,  der  zwi- 
schen ö  und  e  steht  und  bei  Ruhelage  der  Zunge  gesprochen  wird, 
in  den  beiden  Dialekten  aus  dem  Bezirk  Ust-SysolsJc  des  Gouver- 
nements Wologda,  aus  denen  ich  Aufzeichnungen  machen  konnte. 
In  beiden  Dialekten  wurde  der  Flußname  ebenfalls  in  der  zweiten 
Silbe  mit  demselben  Vokal  gesprochen.  Aber  auch  die  Wortbil- 
dung, das  im  Flußnamen  überschüssige  a,  läßt  sich  vortrefflich  aus 
dem  Syrjänischen  deuten.  Nach  Wiedemann,  Grramm.  der  syrj. 
Spr.  46,  bildet  das  Suffix  -a  im  Syrjänischen  „am  häufigsten  Ad- 
jektive, welche  dann  .  .  .  wieder  substantivisch  gebraucht  werden 
können :  das-a  „zehn  enthaltend",  „Zehner  im  Kartenspiel"  zu  das 
„zehn";  gos-a  „fett,  fettig,  mit  Fett  versehen"  zu  gos  „Fett"; 
eia-a  „mit  Rasen  versehen"  zu  eäa  „Rasen"  ;  va-a  „wässerig"  zu 
va  „Wasser^.  So  ist  petsera,  PetscJwra  der  mit  Nesseln  bestan- 
dene, an  Nesseln  reiche  Fluß^).  Vgl.  den  syrjänischen  Namen  der 
WytscJiegda:  e^-va^  ein  Kompositum  aus  ei,  eza^  „Rasen,  Grasplatz" 
und  va   „Wasser,  Fluß"  =  „der  Rasenfluß,  das  Rasenwasser". 

So  bleibt  nur  die  Frage,  was  die  Syrjänen  in  diesen  Gegenden 
veranlaßt  haben  kann,  dem  Flußnamen  grade  diese  Bezeichnung 
zu  geben.  Daß  an  dem  Mittellauf  der  Petschora,  dort  wo  ein  Teil 
der  Syrjänen  sitzt,  und  wohin  Syrjänen  aus  andern  Gegenden  als 
Jäger  oder  in  andrer  Tätigkeit  kommen,  die  Flußufer  stark  mit 
Nesseln  bewachsen  sind,  haben  mir  meine  syrjänischen  Gewährs- 
männer erzählt.  Aber  es  läßt  sich  nun  auch  verständlich  machen, 
warum  den  Syrjänen  die  Nessel  so  wichtig  war,  daß  sie  von  ihr 
den  Namen  der  Petschora  herleiteten. 

Bekanntlich  haben  die  Griechen,  Lateiner,  Germanen  und  Slaven 
den  Ha'iif  und  seine  Verwendung  zur  Herstellung  von  Stricken, 
Webstoffen  usw.  von  den  Völkern  des  östlichen  Europas  kennen, 
gelernt.  0.  Schrader  hat  das  Wort  für  Hanf  in  den  europäisch- 
indogermanischen Sprachen,  üccwaßig,  lat.  cannahis,  ahd.  hanaf, 
ags.  hcenep,  altnord.  hampr,  altkirchenslav.  Jconoplja,  lit.  Jcanäpes, 
altpreuß.  Jcnupios^)   aus   dem  Ostfinnischen  hergeleitet   und  es  als 


berg  a.  a.  0.  65  Anm.  6  ausspricht,  kann  schon  deswegen  nicht  richtig  sein,  weil 
keine  einzige  dieser  Völkerschaften  des  Nordens  mit  einem  Namen  aus  russischem 
Sprachmaterial  genannt  wird. 

1)  Vgl.  etwa  die  deutschen  Ortsnamen  Nesselbach  in  Würtemberg,  Nesseln- 
bach in  der  Schweiz,  Nesselbrunn  im  Marburger  Kreise. 

2)  Die  schwierigen  Fragen,  die  sich  an  die  Herleitung  des  Wortes  knüpfen, 
behandele   ich    hier  nicht  weiter.     Immerhin  ist   doch   hervorzuheben,    daß   das 


304  ^'  Jacobsohn, 

^ine  Zusammensetzung  aus  den  beiden  Bestandteilen  kanna,  Jcana 
-und  pis,  bis  erklärt,  von  denen  der  erste  zu  tscheremissiscli  kenej 
Jcine  „Hanf"^  gehöre  —  vgl.  moksa-mordwiniscli  Jcantf,  erzja-mord- 
winisch  Icaht  — ,  während  der  zweite  mit  syrjänisch  ^/^■5  „Hanf", 
wotjakisch  pis,  pes  „Hanf"  ^)   identisch  sei.     Mit  Sicherheit  ist  an- 


schwanken zwischen  h  und  p  in  KavvccßLg^  lat.  canndbis  einerseits,  slavisch  Ico- 
Moplja  andrerseits  —  vgl.  lat.  cannapis  Thesaurus  Linguae  Latinae  III  262,  70  flf. 
—  ein  Zeichen  finnisch-ugrischen  Ursprungs  sein  kann  und  möglicherweise  auf 
die  Sprache  zurückgeht,  aus  der  das  Wort  stammt.  In  weitem  Umfange  kennen 
finnisch-ugrische  Sprachen  eine  Art  von  'äußerem'  Sandhi,  durch  den  anlau- 
tende Teöuis  nach  stimmhaftem  Auslaut  zur  Media  wird,  eine  progressive  Au- 
sgleichung, die  im  Indogermanischen  hinter  der  regressiven  sehr  zurücktritt  und 
nur  in  der  Lenition  des  Keltischen  eine  große  Rolle  spielt.  Mag  es  sich  nun  hier 
um  einen  einmal  durchgeführten  Satzsandhi  handeln  oder  dieser  Sandhi  eigentlich 
nur  in  Wortgruppen  zur  Erscheinung  kommen,  jedenfalls  hält  er  sich  auch  in 
Sprachen,  die  ihn  im  eigentlichen  Wortanlaut  nicht  mehr  kennen,  in  engen  Wort- 
verbindungen, und  so  könnte  auch  h  von  Kccvvaßig,  lat.  canndbis  seine  Deutung 
finden  gegenüber  syrjänisch  pis  usw.  In  slavischem  Tconoplja  würde  p  aus  dem 
selbständigen  zweiten  Gliede  restituiert  sein.  Dies  konoplja  aber  muß  ein  Kollek- 
tivum  sein.  Es  ist  entweder  vom  Stamme  konopi-  mittels  -ä  abgeleitet  wie  rus- 
sisch gospodd,  das  als  Plural  zu  gospodin  „herr''  fungiert,  altbulgarisch  gospoda 
j7tciv8o%Eiov  usw.  mit  demselben  Suffix  vom  Stamme  gospod-,  oder  von  einem 
Stamme  ko7iopo-  mittels  des  Kollektivsuffixes  -ja  wie  das  urslavische  bratrbja, 
hraibja,  das  als  Plural  zu  hratrii  „Bruder"  dient  (russisch  hrätbja  usw.).  Vgl. 
die  griechischen  Bildungen  cpgcctQ-ä  und  cpgcctg-ia  zu  (pQÜtrjQ.  Auf  die  ursprüng- 
lich kollektive  Natur  des  Wortes  führt  mit  Sicherheit,  daß  das  Wort  für  Hanf 
in  den  slavischen  Sprachen  immer  wieder  als  neutrales  Kollektiv  oder  als  Plurale 
iantum  erscheint.  Vgl.  kleinrussisch  pluralisches  TconöpU  neben  singularischem 
konöpia,  serbokrotisch  pluralisches  könoplje,  Genitiv  könopäljä  neben  singulari- 
schem konoplja  usw.  usw.,  dazu  die  aus  dem  Slavischen  entlehnten  litauisch  ka- 
mäp'es,  lettisch  känepes,  altpreußisch  knapios\  ferner  die  neutralen  Kollektive 
bulgarisch  konop'e,  serbokroatisch  könoplje,  slovenisch  konopie.  Ob  das  Kollek- 
tivum  die  Hanffasern  bezeichnet  oder  aber  Hanf  hier  in  der  Weise  gebraucht 
wird  wie  „Korn,  Roggen"  usw.,  weiß  ich  nicht  zu  sagen.  Sehr  merkwürdig  sind 
bulgarisch  konöp  Mask.  „Hanf",  serbokroatisch  kcmop,  Genitiv  konöpa  Mask. 
„Strick",  die  ebensogut  auf  altes  ^konopos  wie  auf  *konopis  zurückgehen  können. 
1)  Vgl.  Munkäcsi,  A  Votjäk  nyelv  szötära  557.  Ich  habe  von  einem  Wot- 
jaken  aus  dem  Bezirk  Glasof,  Kreis  Jagoschursk,  pii&^  aufgezeichnet.  Übrigens 
erinnert  Schrader  Reallexikon  331  zu  tscheremissisch  fcene,  kine  selbst  an  das 
erste  Glied  von  tatarisch  ken-dir,  tschuwaschisch  kan-dyr.  Vgl.  auch  ungarisch 
ken-der  aus  alttschuwaschisch  "^kändir,  vgl.  Gombocz,  Die  bulgarisch-türkischen 
Lehnwörter  in  der  ungarischen  Sprache  92  f.,  dessen  Bemerkungen  über  die  Sippe 
-überhaupt  zu  vergleichen  sind.  Bei  den  Kasantataren  bedeutet  km-dir  sowohl 
„Hanf"  (den  „weiblichen  Hanf",  russisch  konoplja)  wie  die  daraus  hergestellte 
grobe  Leinwand,  russisch  cholst.  Daß  in  diesem  Worte  übrigens  wirklich  als 
erstes  Glied  km-  abzutrennen  ist,  was  die  Verknüpfung  mit  tscheremissischem 
Mne  um  so  sicherer  macht,   lehrt  kasantatarisch  km-djep  „der  Faden",  eigentlich 


Die  ältesten  Berührungen  der  Russen  mit  d.  nordostfinnischen  Völkern  etc.     305 

zunehmen,  daß  die  Syrjänen  seit  alters  den  Hanf  gekannt  haben. 
Nun  ist  nachgewiesen,  daß  sie  ihre  nördlichen  Wohnsitze  in  den 
Gouvernements  Wologda  und  Archangelsk,  in  denen  jetzt  der 
größte  Teil  des  Volkes  wohnt,  erst  später  erreicht  haben.  Der 
Beweis  ist  geführt  auf  Grund  der  tschuwaschischen  Lehnwörter, 
die  das  Syrjänische  in  allen  seinen  Dialekten  hat.  Die  Tschu- 
waschen repräsentieren  für  uns  den  einzigen  Rest  der  ehemals 
mächtigen  Wolgabulgaren,  die  ihr  Reich  an  der  mittleren  Wolga' 
hatten.  Berührungen  zwischen  ihnen  und  den  Syrjänen  können 
aber  nur  stattgefunden  haben,  als  die  letzteren  noch  weiter  südlich 
saßen,  etwa  im  Gouvernement  Wjatka,  wo  noch  heute  die  ihnen 
nächstverwandten  Wotjaken  wohnen,  nur  hier  können  die  Syrjänen 
Lehnwörter  aus  dem  Tschuwaschischen  aufgenommen  haben.  Aber 
auch  die  Zeit  für  diese  Beziehungen  läßt  sich  einigermaßen  bestim- 
men.    Die    Wolgabulgaren,    die    Vorfahren    der   heutigen    Tschu- 


Tconopljdnaja  nitlca  „der  hänfene  Faden",  denn  djep  heißt  auch  an  sich  „Faden". 
Also  bleibt  Jan  als  Bezeichnung  für  „Hanf"  übrig.  (Das  entsprechende  kirgisische 
Mn-jep  bedeutet  entweder  „grobe  Leinwand",  =  russisch  cholst,  oder  „Faden"). 
Munkäczi,  Keleti  szemle  5,327;  6,209  stellt  die  erwähnten  tscheremissischen, 
tatarischen  und  mordwinischen  Wörter  zu  ossetisch  gänä,  gän  „Hanf".  Für 
syrjänisch  pis,  wotjakisch  pts  ist  moksa  -  mordwinisch  j^a^ej,  erzja- mordwinisch 
paze  „männlicher  Hanf"  zu  nennen,  die  Paasonen,  Journal  de  la  societe  finno- 
ougrienne  15,  2,  43  aus  mischärtatarisch  päzi  ds.  ableitet,  das  mit  kasantatarisch 
hasä,  tschuwaschisch  pozä  zusammengehört.  Im  kasantatarischen ,  wo  Uin-dir  den 
weiblichen  Hanf  und  die  daraus  hergestellte  grobe  Leinwand  bezeichnet,  steht 
neben  hasä  „männlicher  Hanf"  als  Wort  für  die  aus  dem  männlichen  Hanf  be- 
reitete feine  Leimvand  (russisch  polotnö)  iüss  (kirgisisch  äfe^-  hüss  „Leinwand" 
=  türkisch  hez,  krimtatarisch  basmä).  Andrerseits  vergleicht  Paasonen,  Beiträge 
zur  finnischugrischen-samojedischen  Lautgeschichte  262  mit  den  permischen  Wör- 
tern osttscheremissisch  patsas  „der  männliche  Hanf". 

[C.-N.  Das  osttscheremissische  kme  „Hanf"  stimmt  im  i-Vokal  zu  Mn-dir 
meines  kasantatarischen  Gewährsmannes.  Das  von  Jän-dir  abgeleitete  Wort  für 
„Strick"  gab  mir  dieser  in  der  Form  Mndrä  an  (a  bedeutet  ein  sehr  geschlossenes 
a,  in  der  Klangfarbe  etwa  wie  mittelhannoversches  ä),  sagte  aber,  daß  die  Frauen 
bei  ihnen  auch  Jcandra  sprächen.  Das  osttscheremissische  hat  hier  kand^rd  mit 
a- Vokal.  Vgl.  tschuwasch.  kandrä.  Vgl.  dasselbe  Verhältnis  der  Vokale  in  fol- 
genden ostscherem.  Lehnwörtern  aus  den  Türksprachen,  wobei  unter  tatarisch 
immer  die  Sprache  meines  kasantatarischen  Gewährsmannes  zu  verstehen  ist: 

osttscheremissisch  kaskä  )    ^^,      „  .  .     .    ,    ,-w    ,       , ,  .  .    i    ikeskä. 

,     ,  ,     „Klotz"  =  tatarisch  kiskä,  baschkirisch  U     t  , 

„  kastä      „Dachsparren"  =        „         kiSta,  „  keStä  ^ 

(tschuwasch.  kasta  „Querbalken  an  der  Zimmerdecke"). 
„  kätik      „Bruch"  =  tatarisch  kiti^'k,     baschkirisch  ketik. 

„  ka^äs     „Bat"  =        „         kiwgos.         „  ke^äs 

usw.  usw.]. 
Kgl.  Ges.  d.  Wiss.  Nachrichten.  Phil.-hist.  Klasse.   1918.    Heft  3.  20 


306  H-  Jacob söhn, 

waschen,  sind  nicht  vor  dem  sechsten  nachchristlichen  Jahrhundert 
an    die   mittlere  Wolga   gekommen,    vgl.  Wichmann  a.a.O.  140 ff. 
Erst  nach  dieser  Zeit   können  die  Syrjänen  gegen  Korden  aufge- 
brochen sein,    etwa  im  achten  und  neunten  Jahrhundert,   und  nun 
gelangten  sie  in  Gegenden,    in  denen  der  Hanf  infolge  der  Kälte 
nicht  gedieh.    Um  so  notwendiger  war  es  für  sie,  einen  Ersatz  zu 
finden,   um  Garn  und  daraus  ihre  Webstoffe  herzustellen.     Diesen 
Ersatz  aber  bot  ihnen  die  Nessel,  sei  es  daß  sie  selbständig  darauf 
verfielen,    aus  ihren  Fasern  Zwirn  zu  verfertigen,    sei   es   daß  sie 
es  von  den  arktischen  Yölkern    lernten,    auf  die    sie   dort  trafen. 
Ahlquist,    die  Kulturwörter    der   westfinnischen  Sprachen   43,    er- 
wähnt,  daß   das  wogulische  Wort  für   ;-Hanf",   panla  und  pönale 
ebenso  das  ostjakische  pöUn  und  pötlen    eigentlich  Nessel  bedeute, 
erst  sekundär  diese  Wörter  für  Banf  gebraucht  wären.    „Dies  er- 
klärt sich  dadurch",  fährt  er  fort,  „daß  die  Völker  im  asiatischen 
Norden,  wo  kein  Kulturgewächs,  also  auch  der  Hanf  nicht  gedeiht, 
es  verstehen,  aus  den  Fibern  einer  wildwachsenden  Nesselart  .  .  . 
Garn  zu  bereiten  und  erst  durch  die  Russen  Bekanntschaft  mit  dem 
Hanf  gemacht  haben,  auf  den  sie  dann  den  Namen  des  ihnen  früher 
bekannten  Fasergewächses   übertragen  haben".     Vgl.  das.  S.  78ff. 
Alle  diese  Völker  taten  und  tun  ja   nur  das,    worauf  wir  wieder 
im  Kriege  zurückgegriffen  haben,    indem  auch   wir   jetzt  Kleider- 
stoffe und  Stricke   aus  Nesselfasern  herstellen.     Ein   Syrjäne   aus 
der  Gegend   der  Petschora  erzählte  mir,   daß  in  der  Nähe  seines 
Dorfes  eine  Insel  in  der  Petschora  läge,  die  dicht  mit  Nesseln  be- 
standen  sei.     Auch  heute  noch    verwende   man   die  Nesseln  von 
dieser  Insel,    um   Stricke,    Hosen,    Jacken   daraus   zu  verfertigen, 
weil  Hanf  und  Flachs   bei   ihnen  wegen  der  Kälte  nicht  wüchsen. 
Freilich  geschähe  dies  nur  noch  selten,    da  man  jetzt  fertige  An- 
züge, die  aus  Hanffasern  gemacht  würden,  kaufen  könne. 

Wir  finden  daher  in  diesen  Sprachen  sehr  häufig,  daß  Hanf 
und  Nessel  mit  demselben  Worte  bezeichnet  werden,  bez.  ursprüng- 
lich identische  Bildungen  sind.  Ein  Wort  für  Nessel  ist  im  Wo- 
gulischen onahS'panla,  das  ist  ,;der  wogulische  Hanf".  Erinnern 
will  ich  auch  an  das  russische  ostjätsJcoja  Jcrapiva  (uriica  cannabina) 
„der  Nesselhanf,  die  sibirische  Hanfnessel",  wörtlich  „die  ostjaki- 
sche Nessel".  Im  Ostjak-samojedischen  bedeutet  säe  (am  mittleren. 
Ob),  säcu  (in  der  Ketschen  Mundart)  usw.  —  die  Formen  der  ein- 
zelnen Dialekte  bei  Castr^n,  Wörterverzeichnis  aus  den  Samojedi- 
schen  Sprachen  157  —  sowohl  Hanf  wie  Nessel.  Vgl  auch  H. 
Paasonen,  Beiträge  zur  finnischugrischen-samojedischen  Laut- 
geschichte 169,  der  diese  Wörter  mit  syrjänisch  söd0,  sod£  ^Faser^ 


Die  ältesten  Berührungen  der  Russen  mit  d.  nordostfinnischen  Völkern  etc.    807 

Hede,  Werg",  ungarisch  s;zös^  „Hanf,  Werg"  zusammenbringt. 
So  wird  man  wohl  auch  ohne  weiteres  ein  anderes  syrjänisches 
Wort  für  Nessel,  das  ich  aus  dem  Kreise  Turinsk,  Bezirk  Jarinsk 
des  Gouvernements  Wologda  aufgeschrieben  habe,  jön,  und  das 
Wiedemann  im  Wörterbuch  als  Jon,  jön  aus  dem  Dialekt  an  der 
IsJima  verzeichnet,  das  aber  auch  die  Bedeutung  von  'Klette, 
Distel'  hat '),  mit  jurak-samojedisch  jien,  tawgy-samojedisch  jenth 
jenissei-samojedisch  jedcli  gleichzusetzen  haben,  das  im  Samojedi- 
schen  überall  „Hanf"  bedeutet.  Von  diesen  Wörtern  aber  kann 
man  kaum  trennen  die  gleichlautenden  jurak-samojedisch  jien,  jen 
„Bogensehne",  tawgy-samojedisch  jenti,  jenissei-samojedisch  jeddiy 
ferner  ostjaksamojedisch  Mnd  (am  mittleren  Ob),  Jxendde  (in  der 
Ketschen  Mundart),  ccnd  (in  der  Narymschen  Mundart)  usw.,  vergl. 
das  Verzeichnis  bei  Castren  Wörterverzeichnis  116,  208,  der  selbst 
schon  an  der  letzten  Stelle  unter  tawgysamoj.  jenti  auf  das  gleiche 
Wort  für  Hanf  verweist.  Diese  samojedische  Gruppe  aber  gehört 
zusammen  mit  finnisch  jünne  (Grundform  jänfee  aus  *jäntege)  „Sehne, 
Bogensehne,  Saite",  tscheremissisch  iidü'^  „Strang,  Bogensehne", 
wogulisch  iänJDeß  „Bogensehne",  ostjakisch  idndl  ds.,  ungarisch  ideg 
ds.,  „Nerv".  Vgl.  zuletzt  Paasonen  ds.  87,  269.  Die  Bogensehne  ist 
also  in  der  „uralischen",  d.  h.  finnisch-ugrisch-samojedischen  Ur- 
sprache die  aus  Hanffasern  oder  Nesselfasern  gesponnene  Schnur, 
wobei  ich  mich  über  das  Verhältnis  der  zuletzt  genannten  Wörter 
zu  syrj.  jön  nicht  weiter  auslasse.  Bestimmen  läßt  sich  natürlich 
nicht,  ob  das  Wort  ursprünglich  Nessel  oder  Hanf  hieß.  Denn 
es  kann  auch  grade  umgekehrt,  als  Ahlquist  es  angibt,  die  Be- 
zeichnung für  Hmif  auf  die  Nessel  als  Ersatzmittel  des  Hanfs 
übertragen  worden  sein,  wenn  ein  Stamm  aus  südlicheren  Gegenden 
in  kalte  Regionen  einrückte,  in  denen  der  Hanf  nicht  gedieh. 

Haben  demnach  die  Syrjänen  dem  Elusse  Fetschor a  erst  den 
Namen  gegeben,  so  müssen  die  nach  ihm  benannten  Petsclieren  ein 
syrjänisches  Volk  gewesen  sein.  Die  Annahme,  daß  die  Syrjänen 
das  Wort  für  „Nessel"  und  den  Flußnamen  von  einem  Volke  über- 
nommen haben,  das  vor  ihnen  in  den  dortigen  Gegenden  saß,  ist 
nach  jeder  Seite -unglaubhaft,  schon  deswegen,  weil  petser  als 
Name  der  Nessel  auch  außerhalb  des  Gebiets  an  der  Petschora 
bei  den  Syrjänen  gebräuchlich  ist.  Es  kommt  hinzu,  daß  petser 
offenbar   zusammenhängt  mit   dem   ossetischen   Wort   für   Nessel: 


1)  permjakisch  jen  „Distel" ;  das  Wort  kann  wegen  seiner  Bedeutung  und 
Verbreitung  in  den  syrjänischen  Mundarten  nicht  etwa  aus  dem  Juraksamojedi- 
schen  entlehnt  sein, 

20* 


308  H.  Jacobsohn, 

ostossetisch  plsira,  pslra,  westossetisch  pur  sä  mit  Umstellung  der 
inneren  Konsonanten.  Vgl.  zu  dieser  Umstellung  Wsewolod  Miller, 
Sprache  der  Osseten  37  ^)  ^).  Freilich  so  sicher  mir  diese  Wortglei- 
chung zu  sein  scheint,  so  wenig  bin  ich  in  der  Lage,  das  genaue 
lautliche  Verhältnis  des  ossetischen  und  syrjänischen  Wortes  auf- 
zuklären. Schon  das  ist  die  Frage,  ob  das  Wort  von  den  Iraniern 
zu  den  finnisch-ugrischen  Stämmen  gewandert  ist,  oder  ob  es  um- 
gekehrt die  Iranier  entlehnt  haben.  Die  finnisch-ugrischen  Sprachen 
haben  in  sehr  alter  Zeit  eine  Reihe  von  Worten  von  den  Vorfahren 
der  Osseten  übernommen,  mögen  dies  nun  im  Einzelfall  die  Alanen 
oder  andere  nabverwandte  skythisch-iranische  Stämme  gewesen  sein. 
Eine  große  Anzahl  von  iranischen  Lehnwörtern  im  finnisch-ugri- 
schen, die  im  Ossetischen  ihre  direkte  Entsprechung  haben,  gibt 
davon  Zeugnis.  Vgl.  Munkacsi,  Keleti  szemle  5,  304  ff.,  besonders 
B26  f. ;  6,  208  ff.  Auch  die  permischen  Sprachen  weisen  solches 
Sprachgut  auf.  Ob  das  umgekehrte  stattgefunden,  das  Ossetische 
aus  den  finnisch-ugrischen  Sprachen  entlehnt  hat,  ist  weniger  sicher, 
die  Beispiele ,  die  Miller  a.  a.  0.  S.  8  dafür  bringt,  sind  sämtlich 
nicht  voll  beweiskräftig.  Wir  haben  also  nicht  die  Möglichkeit, 
zu   sagen,   welche  Sprache   die  gebende  war.     Das  Wort  braucht 

1)  Fernzuhalten  ist  wotjakisch  pusner  'Nessel'.  ^ 

2)  Eine  ähnliche  Konsonantenumstellung  treffen  wir  in  westossetisch  nimäl 
„Freund"  neben  Umän,  ostossetisch  llmän,  vgl.  Miller  ds.  Hier  zeigt  die  Her- 
kunft des  Wortes,  daß  nimäl  sekundär  ist.  Andreas  hat  das  Wort  auf  dem 
Kopenhagener  Orientalistenkongreß  auf  altiranisch  oryomon  zurückgeführt,  das  ist 
„der  Stammesgenosse",  also  „der  Freund".  Aber  der  „Stammesgenosse"  kann 
auch  ganz  allgemein  als  „Mensch"  aufgefaßt  werden,  vgl.  etwa  den  umgekehrten 
Vorgang  in  syrjänisch  Tcomi  „Syrjäne,  Permier"  zu  wogulisch  %um,  khum,  khom 
„Mensch".  So  besteht  die  Herleitung  des  gemein-mordwinischen  loman  „Mensch", 
das  dann  sekundär  „Fremder"  bedeutet,  aus  ossetisch  Umän,  Umän  zu  recht  (z.  B. 
Setälä,  Journal  de  la  soci^te  finno-ougrienne  14,  3,  37),  noch  dazu,  wenn  man  be- 
denkt, daß  die  finnisch-ugrischen  Sprachen  das  Wort  für  „Mensch"  des  öfteren 
dem  Arischen  entlehnt  haben.  Vgl.  etwa  wotjakisch  murt,  syrjänisch  mort  „Mensch" 
=  altindisch  mdrta  „Sterblicher,  Mensch",  awestisch  murta  „Mensch"  usw.  usw. 
Dann  aber  ist  mordwinisch  lomah  nicht  nur  ein  weiterer  Beweis  für  die  unur- 
sprüngliche Konsonantenfolge  in  westossetisch  nimäl  gegen  Umän,  ostossetisch 
limän,  es  bringt  auch  eine  höchst  erwünschte  Bestätigung  für  den  Vokal  o,  der 
von  Andreas  für  die  zweite  Silbe  des  altiranischen  oryomon  angesetzt  wird,  und 
der  dem  ossetischen  i,  l  vorausliegt.  In  loman  ist  sozusagen  die  Zwischenform 
wirklich  belegt,  die  wir  zwischen  altiranisch  oryomon  und  ossetisch  limän,  Umän 
erschließen  müssen.  Daß  Andreas'  Ansatz  des  altiranischen  Vokalismus  auch 
sonst  teilweise  durch  die  iranischen  Lehnwörter  im  Finnisch-ugrischen  bestätigt 
wird,  hoffe  ich  bald  zeigen  zu  können,  bemerke  aber,  daß  die  obige  Gleichung 
wotjakisch  mort,  syrjänisch  murt  „Mensch"  =  awestisch  7norta  (altindisch  mdrta) 
nicht  ohne  weiteres  als  beweisend  in  Frage  kommt. 


Die  ältesten  Berührungen  der  Russen  mit  d.  nordostfinnischen  Völkern  etc.    309 

aber  weiter  weder  direht  aus  dem  ossetischen,  bez.  alanischen,  ins 
syrjänische  noch  bei  einem  ev.  umgekehrten  Wege  aus  dem  syr- 
jänischen  ins  ossetische  gedrungen  zu  sein.  Aber  bei  dieser  Un- 
sicherheit wird  man  alle  Versuche,  das  Wort  zu  etymologisieren, 
unterlassen  ^). 

Die  von  verschiedenen  Forschern  geäußerte  Vermutung,  daß 
die  Syrjänen  schon  im  11.  Jahrhundert  an  der  Wytschegda  und 
Ishma  und  Petschora  in  ihren  heutigen  Wohnsitzen  in  den  Gou- 
vernements Wologda  und  Archangelsk  gesessen  haben,  läßt  sich 
auch  von  einer  ganz  anderen  Seite  her  bestätigen,  nämlich  durch 
die  Form,  in  der  der  Name  der  Russen  bei  den  Syrjänen  erscheint. 
Bekanntlich  hat  V.  Thomsen  diesen,  der  zuerst  als  kollektiver 
Singular  Bus'b  belegt  ist,  mit  der  finnischen  Bezeichnung  für  Schwe- 
den, Riiotsi,  zusammengebracht:  Thomsen,  Der  Ursprung  des  russi- 
schen Staates  (deutsche  Übersetzung)  97  if.  Riiotsi  hätten  auch  die 
skandinavischen  Ansiedler  auf  der  Ostseite  des  bottnischen  Meer- 
busens, an  der  finnischen  Küste,  geheißen,  und  so  sei  der  Name 
auch  auf  den  Teil  der  skandinavischen  Waräger  übertragen,  der 
unter  Rurik  und  seinen  Nachfolgern  das  Grebiet  der  russischen 
Slaven  unterwarf.  Von  den  Finnen  übernahmen  ihn  die  Slaven, 
und  schließlich  verlor  er  bei  diesen  seine  alte  ethnographische  Be- 
deutung und  ward  erst  von  dem  Lande  und  dann  auch  von  dessen 
Bewohnern  gebraucht,  über  die  die  Ruriks  herrschten.  Gegen  diese 
ausgezeichnete  Herleitung  ist  immer  wieder  eingewandt  worden, 
daß  dem  Russennamen  das  ts  von  Ruotsi  von  Anbeginn  an  mangele, 
es  gebe  keinen  Beleg  dafür,  daß  die  Form  mit  ts  für  etwas  an- 
deres als  Schweden  gebraucht  sei.  Diese  Lücke  hat  nun  Mikkola 
ausgefüllt,  der  auf  die  syrjänisch-wotjakische  Benennung  für  die 
„Russen"  hingewiesen  hat :  syrjänisch  röts  ^),  wotjakisch  dMiis  (mit 
Übergang  des  anlautenden  r  im  Wotjakischen  in  c/i),  vgl.  Finnisch- 
ugrische  Forschungen  2,75.  Syrjänisch  röts^),  wotjakisch  d^uts 
setzen  eine  Form  rötsi  voraus,  mit  ö  wie  in  estnisch  Röts  „Schweden", 


1)  An  sich  ließen  sich  ostossetisch  pislra,  pslra,  westossetisch  pursa  auf 
eine  Grundform  altiranisch  *posuro-  zurückführen  und  mit  altindisch  päsas 
„Schlinge,  Fessel,  Strick",  pas  „Strick",  päsäyati  „bindet",  griech.  nriyvviLi  „be- 
festige", näyri  «Falle,  Schlinge"  usw.  usw.  verbinden,  d.  h.  sie  würden  zu  der  indo- 
germanischen Wurzel  pak  „flechten,  winden"  usw.  gehören,  so  etwa  wie  man  ahd. 
nazza,  nezzila,  ags.  netele  „Nessel"  usw.  mit  gotisch  nati  „Netz"  usw.  verknüpft. 
Auch  im  Suffix,  d.  h.  in  der  Bildung,  könnten  ahd.  nezzila,  ags.  netele,  norwegisch 
netla„  Nessel"  und  iranisch  *posuro-  fast  zusammentreffen.  Aber  alles  dies  ist 
ganz  unsicher. 

2)  So,  mit  langem  ö,  habe  ich  die  Form  aufgezeichnet  aus  den  beiden  oben 
erwähnten  Dialekten  des  Bezirks  Ust-Sysolsk;   das  s  von  röts  ist  mouilliert. 


310  H*  Jacobsohn, 

Bötslane  „der  Schwede",  wotisch  i^ö^^i  „Schweden",  Eötsalaine  „der 
Schwede" ;  uo  des  finnischen  Buotsi  beruht  erst  auf  späterer  Diph- 
thongierung. 

Es  ist  oben  hervorgehoben  worden,  daß  die  Wanderungen  der 
Syrjänen  in  die  Gouvernements  Wologda  und  Archangelsk  frü- 
hestens im  achten  Jahrhundert  begonnen  haben  können.  Im  neunten 
Jahrhundert  dringen  die  germanischen  Bush  in  Rußland  ein,  Mitte 
des  neunten  Jahrhunderts  setzt  sich  Rurik  in  Nowgorod  fest.  Früh 
sind  die  Russen  von  Nowgorod  weiter  nach  dem  Osten  Rußlands 
gezogen,  um  dort  Handel  zu  treiben,  vor  allem,  die  kostbaren 
Felle  und  Pelze  der  dortigen  Gregend  einzutauschen.  Wir  wissen, 
daß  die  Nowgoroder  im  elften  und  zwölften  Jahrhundert  dem  Groß- 
fürsten von  Kiew  die  petschorische  Abgabe  entrichten  müssen.  Mögen 
die  Nowgoroder  zuerst  noch  als  Germanen  in  diesen  Gegenden 
aufgetreten  sein,  gar  bald  kamen  sie  als  Russen  im  heutigen  Sinne, 
mit  rassischer  Sprache,  sie  hatten  sich  mit  den  Ostslaven,  die  sie 
in  Nowgorod  vorfanden,  verschmolzen.  Es  muß  aber  eine  kurze 
Periode  bestanden  haben,  in  der  die  von  den  Finnen  herüberge- 
nommene Form  zur  Bezeichnung  der  skandinavischen  Eindringlinge» 
Bötsi,  noch  als  solche  in  Nowgorod  gebraucht  wurde,  bevor  sie 
formell  zu  Bust  abgewandelt  ward.  Und  die  Form  Bötsi  wird 
dort  eine  Zeit  auch  noch  für  die  slavisierten  Waräger,  bez.  für 
das  aus  der  Verschmelzung  von  Germanen  und  Slaven  hervorge- 
gangene Volk  gegolten  haben.  In  dieser  kurzen  Epoche  nun,  die 
von  der  Übertragung  des  Namens  auf  das  aus  Warägern  und  Ost- 
slaven gebildete  Volk  bis  zu  seiner  Umwandlung  in  Biist  verstrich, 
müssen  die  Nowgoroder  zuerst  mit  den  Syrjänen,  die  in  den  Gou- 
vernements Wologda  und  Archangelsk  saßen,  in  Fühlung  getreten 
sein.  Damals  nahmen  diese  die  Form  Bötsi  auf,  um  sie  für 
alle  Zeit  als  Bezeichnung  der  Russen  festzuhalten  und  sie  weiter- 
zugeben an  die  stammverwandten  Wotjaken  und  weiterhin  an  die 
Samojeden  und  Tungasen;  vgl.  juraksamojedisch  lüca,  jenissei-sa- 
mojedisch  luota,  tungusisch  lüca  (Yrjö  Wichmann,  Finnisch-Ugri- 
sche  Forschungen  2,  183).  Dabei  aber  kann  es  sich  nur  um  die 
ersten  Jahrzehnte  nach  dem  Erscheinen  der  Waräger  unter  Rurik 
in  Nowgorod  handeln,  auch  wenn  wir  annehmen,  daß  die  Form 
Bötsi  sich  in  Nowgorod  länger  als  sonst  gehalten  hat.  Denn  daß 
s  für  ts  sich  sonst  schnell  im  Rassenname  durchsetzte,  zeigen  die 
Schriftstellerbelege,  Thomsen  a.a.O.  42 ff.  Wir  werden  also  auf 
die  Wende  des  neunten  zum  zehnten  Jahrhundert  als  die  Zeit  ge- 
führt, in  der  die  Syrjänen  schon  in  ihre  nördlichen  Wohnsitze 
gelangt  waren  und  dort  mit  den  Nowgorodern  in  Verbindung  traten. 


Die  ältesten  Berühruagea  der  Russen  mit  d.  nordostfinnischen  Völkern  etc.     311 

~  Dürfen  wir  das  Grleiche  aucli  daraus  folgern,  daß  syrjänisch 
röts  im  ö  zu  altfinniscliem  Bötsi  stimoat?  Das  u  des  russisch-sla- 
wischen Rusb  erklärt  sich  bekannblich  so,  daß  die  Slawen  das  ö 
von  altfinnischem  Röisi  durch  ü  ersetzten,  weil  sie  kein  langes  ö 
hatten:  Thomsen  a.a.O.  102.  Wir  dürfen  zudem  voraussetzen, 
daß  das  alte  finnische  ö  ein  geschlossener  Laut  war,  also  slawisch - 
russischem  ü  nahestirid.  An  sich  könnte  nun  das  syrjanische  ö 
umgekehrt  slawisch  -  russisches  ü  der  Form  *Ratsi  wiedergeben^). 
Aber  möglich  ist  doch  auch  Folgendes :  wenn  wir  auch  keinen  Be- 
leg dafür  haben,  daß  der  skandinavische  Stamm,  der  sich  in  Buß- 
land festsetzte,  den  Namen  Rötsi  oder  eine  dem  ähnliche  Form,  die 
die  Finnen  durch  Rötsi  wiedergaben,  selbst  geführt  hat,  bevor  er 
die  Slawen  und  Finnen  um  Nowgorod  unterwarf,  so  könnten  diese 
Skandinavier  doch  schon  sehr  früh  diese  Benennung,  die  sie  bei 
ihren  Untertanen  hatten,  von  diesen  aufgenommen  haben.  Sie 
könnten  sie  sich  angeeignet  haben,  als  sie  noch  auf  der  Grenze 
der  Assimilation  standen,  sozusagen  schon  mit  einem  Fuß  im  Sla- 
wentum steckten,  aber  ihre  heimische  Sprache  noch  nicht  ganz 
aufgegeben  hatten.  Ob  es  sich  so  erklären  würde,  daß  die  Leute 
schwedischer  Nationalität,  die  der  byzantinische  Kaiser  Theophilos 
nach  dem  Bericht  des  Bischofs  Prudentius  von  Troyes  in  den  An- 
nales Bertiniani  unter  dem  Jahre  839  an  Ludwig  den  Frommen 
schickte,  angaben,  ihr  Volk  heiße  'Pco^?  Daß  diese  Leute  durch 
Rußland  nach  Konstantinopel  gekommen  sind,  ist  sicher,  vgl. 
Thomsen  44,  der  selbst  die  Stelle  anders  auffaßt,  42  ff.;  94  ff. 
Haben  sie  den  Namen  von  ihren  Untertanen  übernommen,  so  könnten 
sie  das  ö  des  Namens  Bötsi,  den  sie  nicht  nur  von  den  Slawen, 
sondern  auch  von  den  Finnen  kannten,  noch  eine  Zeit  lang  fest- 
gehalten und  diese  Form  zu  den  nördlichen  Syrjänen  getragen  haben. 
Auch  das  würde  auf  dieselbe  Zeit  führen,  da  sie  ja  immer  von 
Nowgorod  ausgingen,  um  diese  fernen  Gregenden  zu  erreichen.  Da- 
bei ist  es  gleichgültig,  ob  sie  damals  noch  teilweise  germanisch 
sprachen,  und  die  Syrjänen  sie  so  kennen  lernten,  oder  ob  sie  als 
zweisprachige  Leute  auch  in  ihrer  Aussprache  des  russisch-slawi- 
schen eine  Zeit  lang  das  ö  nicht  eingebüßt  hatten.  Immer  waren  sie 
für  die  Syrjänen  die  Leute  von  Nowgorod,  das  sind  für  die  Syr- 
jänen noch  lange  die  Russen  ;car'  i^ox^jv-   Alle  diese  Möglichkeiten 

1)  In  dem  oben  genannten  Buch  von  Jalo  Kalima,  Die  russischen  Lehnwörter 
im  Syrjänischen,  wird  das  Wort  nicht  erwähnt.  Die  von  K.  behandelten  Lehn- 
wörter gehören  einer  jüngeren  Zeit  an,  die  bei  ihnen  vorhandenen  Lautentspre- 
chungen (syrjänisch  u  meist  =  russisch  u:  Seite  29)  sind  also  für  röts  nicht  ohne 
weiteres  maßgebend. 


312  H-  Jacobsohn,  Die  ältesten  Berührungen  der  Russen  etc. 

hier  genau  darzulegen,  scheint  mir  zwecklos.  Am  wahrscheinlichsten 
bleibt  es  immer,  daß  die  Russen,  die  ihre  Reisen  zu  den  Syrjänen 
in  Wologda  und  Archangelsk  machten,  schon  Repräsentanten  des 
verschmolzenen  slawisch-germanischen  Volkes  waren,  daß  die  Syr- 
jänen unter  röts  von  Anfang  an  durch  die  Jahrhunderte  hindurch 
dieselben  Russen  verstanden  haben.  Die  Annahme,  daß  bei  ihnen, 
zu  denen  die  Nowgoroder  nur  als  Handelsleute  kamen,  der  Name 
dieselbe  Verschiebung  in  der  Bedeutung  erfahren  habe  wie  in  Now- 
gorod und  Kiew,  ist  nicht  ohne  Bedenken.  So  ist  es  denn  auch 
das  Nächstliegende,  das  o  von  röts  gegenüber  ü  you* Bütsi  aus 
dem  Sonderleben  des  Syrjänischen  zu  erklären.  Kein  Vokalwechsel 
ist  in  den  permischen  Sprachen  häufiger  als  der  von  o  und  u,  vgl. 
Y.  Wichmann,  Zur  Geschichte  des  Vokalismus  der  ersten  Silbe  im 
Wotjakischen  usw.  74  §  1H5.  Daß  dabei  in  einer  Reihe  von  Fällen 
wotjakisch  u  gegen  syrjänisch  o  das  ursprüngliche  ist,  scheinen 
Beispiele  wie  finnisch  julma  „grausam"  :  wotj.  jim  „stark,  fest; 
sehr",  syrj.  Jon,  ds.,  finnisch  husiainen  =  wotj.  kuhili  „Ameise", 
syrj.  hül-lcodhu  ds.  ^)  usw.  zu  erweisen.  Die  Syrjänen  haben  also 
u  von  Butsi  in  o  geändert,  im  wotjakischen  d^ufs  ist  das  u  geblieben. 
Ausgeschlossen  ist,  daß  die  Syrjänen  den  Namen  für  die  Russen 
direkt  von  den  Finnen  übernahmen.  Erstens  haben  damals  sicher 
keine  Beziehungen  zwischen  Finnen  und  Syrjänen  bestanden,  kein 
Lehnwort  herüber  und  hinüber  gibt  von  solchen  Kunde.  Dann 
aber  hat  sich  Buotsi  im  Finnischen  niemals  auf  die  Russen  bezogen. 
Vielmehr  heißt  Rußland  seit  alters  bei  den  Finnen  Venäjä.  Diese 
Form  geht  ajd*Venädä  zurück:  Thomsen,  Einfluß  der  germanischen 
Sprachen  auf  die  finnisch-lappischen  72,  182;  Setälä,  Yhteissuoma- 
lainen  äännehistoria  66.  Sie  entspricht  den  Venedi  des  Plinius,  den 
Veneti  des  Tacitus  usw.  usw.  Mag  sie  nun  aus  dem  Germanischen 
entlehnt  sein  oder  nicht,  so  setzt  jedenfalls  schon  ihre  dreisilbige 
Gestalt  ein  beträchtliches  Alter  voraus.  Wäre  sie  jüngeren  Ur- 
sprungs, d.  h.  in  dem  Falle  entlehnt  und  zwar  erst  nach  der  Zeit, 
in  der  der  Name  Bötsi  zu  den  Slawen  kam,  so  müßten  wir  eine 
zweisilbige  Form  erwarten  wi*e  in  altnordisch  Vm^r,  Vindr^  mhd. 
Wint,  nhd.   Wende. 


1)  So  Wichmann,  Wotjakische  Chrestomatie  77 ;  anders  Munkäczi,  'Arja  ös 
Kaukäzusi  elemek  I  326  f.  (Wichmann,  Finnisch-ugrische  Forschungen  11,  182), 
der  das  Wort  aus  den  kaukasischen  Sprachen  ableitet.  Auch  dann  hat  es  ur- 
sprünglich u. 


Zur  handschriftlichen  Überlieferung  des  Daniel- 
kommentars Hippolyts. 

Von 

Nathan ael  Bonwetsch. 

Vorgelegt  in  der  Sitzung  vom  12.  Juli  1917. 

In  diesen  Nachrichten,  philol.-hist.  Klasse  aus  dem  Jahr  1896, 
S.  16  if.  habe  ich  über  die  handschriftliche  Überlieferung  des  Daniel- 
kommentars Hippolyts  gehandelt  (vgl.  auch  Nachr.  1895,  S.  515  ff. 
über  „die  Datierung  der  Greburt  Christi  in  dem  Danielkommentar 
Hippolyts").  Inzwischen  ist  ein  neuer  Textzeuge  für  umfangreiche 
Abschnitte  des  Danielkommentars  entdeckt  worden,  und  die  Grüte 
des  Herrn  Hahlfs  hat  mir  die  photograpbischen  Aufnahmen  der 
betreffenden  Teile  der  berühmten  Handschrift  der  Bibliothek  des 
Fürsten  Chigi  gr.  R.  VII,  45  —  u.  a.  von  Lagarde  herausgegeben 
in  Hippolyti  Romani  quae  feruntur  omnia  graece,  Lpz.  1858,  S.  151  ff. 
und  von  mir  in  meiner  Ausgabe  jenes  Kommentars  verwertet  nach 
einer  Kollation  von  H.  Achelis  —  und  der  Handschrift  der  Daniel- 
catene  aus  derselben  Bibliothek  R.  VIII,  54  zur  Verwertung  freund- 
lichst überlassen.  Es  erscheint  angezeigt,  darüber  zu  berichten, 
welchen  Beitrag  zur  Kenntnis  des  Textes  Hippolyts  der  neue  Fund 
und  die  Kollationen  der  Chigihandschriften  liefern. 

Der  russische,  1885  verstorbene  Bischof  Porfirij  Uspenskij  hat 
zuerst  in  einem  Katalog  der  bemerkenswerten  Handschriften  der 
Meteorischen  und  Kissawo  -  Olympischen  Klöster  —  aus  seinem 
Nachlaß  1896  herausgegeben  —  auf  eine  Handschrift  des  Meteoron- 
klosters  in  Thessalien  hingewiesen,  die  neben  Hippolyts  Schrift 
über  den  Segen  Jakobs  (diese  unter  dem  Namen  des  Irenaeus)  auch 
Teile  des  Danielkommentars  Hippolyts  enthält.  Alexander  Berendts 
hat  auch  die  abendländische  Wissenschaft  adf  sie  aufmerksam  ge- 
macht und  über  ihren  Inhalt  berichtet  („Texte  und  Untersuchungen'^ 


314  NathanaelBonwetscli, 

von  V.  aebhardt  u.  Harnack,  N.  F.  XI,  3,  S.  67  ff.,  Leipzig  1901). 
Er  hielt,  von  mir  befragt,  nicht  für  ausgeschlossen,  daß  die  Hand- 
schrift nach  Athen  gebracht  worden  sei.  Wilhelm  Meyer  hat  jedoch 
auf  meine  Bitte,  als  er  in  Athen  weilte,  festgestellt,  daß  eine 
Überführung  von  Handschriften  des  Meteoronklosters  nach  Athen 
nicht  stattgefunden  habe.  Inzwischen  aber  hatte  der  verdienstvolle 
eifrige  Erforscher  der  Bibliotheken  der  Meteor aklöster  N.  Bei's  in 
Athen  die  Aufmerksamkeit  auf  jene  Handschrift  gelenkt.  Seine 
Mitarbeit  hat  es  C.  Diobouniotis  in  Athen  ermöglicht,  den  Text 
der  Schriften  Hippolyts  aus  jener  Handschrift  herauszugeben  (in 
jenen  Texten  und  Unters.,  3.  Reihe,  VIII,  1,  Leipzig  1911).  Ich 
habe  den  Druck  der  Ausgabe  geleitet  und  trage  namentlich  die 
Verantwortung  für  Interpunktion  und  Einteilung.  Für  Hippolyts 
Erklärung  des  Segens  Jakobs  ist  die  Meteoronhandschrift  573  (frü- 
her 108)  die  einzige  griechische.  Der  armenische  Text  ist  noch 
unediert,  und  die  Übersetzung  des  Georgischen  ins  Russische,  aus 
der  ich  1904  jene  Erklärung  herauszugeben  hatte,  ist  leider  in 
recht  freier  Weise  gehalten.  Nach  Veröffentlichung  der  armeni- 
schen Version  und  einer  erneuten  Übertragung  bezw.  einer  Edition 
der  georgischen  wird  erst  die  definitive  Ausgabe  jener  Abhandlung 
Hippolyts  erfolgen  können,  dürfte  es  sich  wohl  gleich  um  keine 
größeren  Differenzen  gegenüber  dem  jetzt  vorliegenden  Text  handeln. 

Von  derselben  Hand  s.  X/XI  wie  jene  Abhandlung  sind  auch 
in  der  Meteoronhandschrift  die  Brachstücke  des  Danielkommeutars 
auf  Bl.  156^^ — 201^^  geschrieben.  Von  beiden  Texten  hat  die  Kirchen- 
väterkommission der  König!,  preußischen  Akademie  der  Wissen- 
schaften auf  meine  Bitte  durch  die  Expedition  von  Jantzsch  Auf- 
nahmen in  Schwarz -Weiß  machen  lassen  und  mir  gütigst  ihre 
Verwertung  gestattet.    Ich  habe  ihren  Text  aufs  Neue  verglichen. 

Welches  ist  nun  das  Verhältnis  des  Textes  der  Meteoron- 
handschrift (=  E)  zu  dem  der  sonstigen  Überlieferung  des  Daniel- 
kommentars Hippolyts?  Schon  Berendts  hat  auf  seine  Verwandt- 
schaft mit  dem  der  altsla vischen  Übersetzung  (=  S)  jenes  Kommen- 
tars hingewiesen.  Wie  diese  und  wie  die  Vorlage  der  Catenen- 
fragmente  (=  C)  hat  auch  E  das  Danielbuch  in  Visionen  eingeteilt. 
Aber  nicht  wie  in  S  und  in  C  steht  in  E  die  Greschichte  der  Su- 
sanna voran,  sondern  sie  folgt  erst  als  zwölftes  Gresicht,  wie  in 
^er  ursprünglichen  Septuagintaübersetzung.  Die  nahe  Beziehung 
zu  S  und  C  wird  dadurch  djch  nicht  aufgehoben.  Mit  S  und  C 
■steht  aber  auch  die  Athoshandschrift  (=  A)  des  Danielkommentars 
in  enger  Verwandtschaft.  Ich  habe  dies  „Nachrichten"  1898,  S.  38 
gezeigt.     Einzelne  Beispiele   mögen   die  Zugehörigkeit   von   E   zu 


Zur  handschriftlichen  Überlieferung  des  Danielkommentars  Hippolyts.   315 

der  Grruppe  ASC  belegen.  Im  Gregensatz  zu  der  Chalkihandschrift 
(B),  aus  der  Georgiades  zuerst  das  vierte  Buch  des  Danielkom- 
mentars Hippolyts  herausgegeben  hat,  kommt  in  einer  ganzen  An- 
zahl von  Fällen  E  mit  A  überein.  Dies  tritt  gleich  dort  zu  Tage, 
wo  neben  A,  S  und  B  auch  E  als  Textzeuge  einsetzt,  S.  228,  17  ff. 
meiner  Ausgabe  jenes  Danielkommentars.  Zwar  bietet  E  230,  3 
ort  Iyyoc  tö  tsXo<;  ähnlich  wie  B  on  i^^b<;  Iotiv  B,  während  in  AS 
dies  fehlt;  230,  3 f.  kommt  SYsp^YJaovraL  Y^p  Xsysi  mehr  mit  B  Iy^P" 
-ö-YJasTai  Y^p  ^Tjatv  überein  als  mit  Bib  Xsysi  in  A,  und  ebenso  heißt 
es  230,  6  qiipxal  wSivcov  (prjoiv  wie  in  ß,  statt  «pyjolv  ^pycd  wSlvcov  wie 
in  A.  Aber  230, 1  fehlt  gegen  ASE  [j.övoo  in  B,  230,  7  Iv  aoroi«, 
230, 11  Ixsi.  230, 10  haben  ASE  Sitjy.  Ss  gegenüber  StyjY-  y«?  in  B, 
Z.  11  IfiTTÖvo)«;  (s{JL7uopo?  B),  Z.  12  Tai?  ^wvaic  (t^  ywvg  B),  Z.  18  fehlt 
Ixsivo?  in  E  wie  in  S,  Z.  19  lesen  ASE  TraiSicov  (tsxvcdv  B),  Z.  20 
aTTsX^sLV  nach  epY]{JLov  (l^eX^stv  vor  el?  t.  sp.  B),  S.  232,  3  im  (xal  B), 
Z.  4  SE  o7ü'  aüTOD  (§l'  auTOüc  AB),  fehlt  Träotv  in  B,  Z.  5  7rop£i)ö[i.£Voi 
+  AE,  Z.  8  (paiverai  AE  ((pavsi  B),  Z.  9  ji-^xP^  ^E  (sco?  B),  Z.  14 
p.i%pöc  ASE  (eursXy]?  und  +  [lövov  B),  Z.  15  Tuap-^v  AE  (TuapsY^vsTo  B), 
Z.  16  lassen  ASE  udyzaq  ajjiapTcoXoDc  %al  weg,  ebenso  Z.  17  TULOTcäv 
(allerdings  Z.  18  f.  sie,  iv  und  Ix,  Z.  21  t^  -|-  A)  und  Z.  20  s^^-aasv 
Yap  Itu'  auröv  iq  oovrsXsia,  234,  1  oLO'^aXwc,  Z.  6  auToö  TrpoXsYOVTuo«;,  w? 
OTt  IveotYjxsv  IQ  T^ii.spa  toö  xopioo,  Z.  21  axpißtöc,  Z.  22  xal  Täte  iaoröv 
^cXdvatc  xal  tol?  saoxwv  lvo;rviotc  xal  [ioO-oXoYia:c  >tal  Xöyok;  YpaipSsatv, 
236,  4  7rpoa£)(ovT£?  opdjtaai  pLaiatoi?  xal  öiSaoxaXiaK;  Saiji.ovi(oy  xal,  Z.  5 
%cd  xoptax^  ;coXXaxtc.  S.  318,  3  fehlt  niaioi,  Z.  16  aYtcov  ASE,  322,  10 
xal  xam/^oviüiv;  S.  326,18  haben  ASE  aYtwv  für  otv^pcoTucov ;  aller- 
dings S.  318,  16  AS  ayaoxa7:T0[i£V(üv  für  xaTaaxaTuroiJ.svcDV  in  BE. 

Das  Verwandtschafts  Verhältnis  von  ASE  gegenüber  B  ist  so- 
mit ein  klares.  Alle  drei,  ASE,  sind  aber  treffliche  Textzeugen. 
Da  erhebt  sich  die  Frage,  ob  nicht  einfach,  was  ASE  bieten,  die 
ursprüngliche  Textgestalt  ist,  daß  alle  Abweichungen  in  B  spätere 
Korrekturen  und  daher  für  die  Herstellung  des  Textes  bei  Seite 
zu  lassen  sind.  Zufällig  kann  die  Differenz  von  B  einerseits,  ASE 
andererseits  nicht  sein.  Für  den  hohen  Wert  der  Textüberlieferung 
in  A  ist  kein  Greringerer  als  Usener  eingetreten  („Sol  Invictus", 
Ehein.  Mus.  f.  PhiloL,  N.  F.,  60,  S.  486  ff.).  Er  hat  dort  in  scharf- 
sinniger Weise  gezeigt,  wie  in  der  mannigfachen  Korrekturen 
unterzogenen  Stelle  Buch  IV,  23  A  und  S,  zum  Teil  A  allein  den 
ursprünglichen  Text  erhalten  haben,  da  ihre  Datierung  der  Greburt 
Christi  mit  der  sonst  von  Hippolyt  vertretenen  übereinkomme.  Der 
Text  von  ASC  empfängt  nun  durch  den  Hinzutritt  von  E  noch 
eine  Stärkung.    Sind  nun  dem  entsprechend  die  Abweichungen  von 


316  Nathanael  Bonwetsch, 

B  in  IV,  18  ff.,  S.  230  ff.  als  Änderungen  der  ersten  Vorlage  und 
als  Zusätze  zu  beurteilen?  Ohne  Zweifel  machen  IV,  19, 4,  S.  234,  6  f. 
die  an  avtooaavxs?  sich  anschließenden  Worte  autoö  TTpoXi^ovio?,  wc 
oTi  IvsaTTjzsv  1^  T^jispa  Toö  Ttopioo  durchaus  den  Eindruck  der  Echtheit, 
obschon  sie  nach  dem  vorangegangenen  el;csv  Ytvwaxsts,  otSeX^poi^ 
ozi  {jLsia  IviaoTÖv  i]  xpioig  [xsXXsi  Yivsad-at  entbehrt  werden  können. 
Ein  Anlaß,  sie  einzuschalten,  lag  doch  kaum  vor.  Dasselbe  gilt 
von  den  Worten,  die  IV,  20, 1,  S.  234,  22  f.  (s.  o.)  B  über  ASE  hinaus 
bietet.  Noch  klarer  liegen  die  Dinge  IV,  20,  3,  S.  236,  4  f.  Hier 
trifft  der  Satz  ;upoae/ovTs?  6pd[jLaai  [laxaioK;  %cd  SiSaaTtaXiatc  Satjxoviwv 
wörtlich  mit  dem  zusammen,  was  Epiphanius  Panarion  haer.  48, 1, 
S.  426,  20  f.  aus  Hippolyt  entlehnt  hat,  er  geht  also  so  gut  wie 
gewiß  auf  Hippolyt  selbst  zurück.  Es  könnten  sich  etwa  indem 
Archetypus  von  ASE  die  Auslassungen  dadurch  erklären,  daß  der 
in  Kap.  19 f.  gegebene  historische  Bericht  in  dem  exegeti- 
schen Werk  nicht  mehr  interessierte. 

Daß  aber  ASE  gegenüber  B  auf  einen  gemeinsamen  Arche- 
typus zurückgehen,  empfängt  eine  Bestätigung  durch  IV,  59,  9  ff., 
S.  336,  9  ff.  Es  soll  nach  Dan.  12,  9  f.  die  Schrift  der  Weissagung 
versiegelt  bleiben,  sw?  av  stcXs^wclv  >tai  exXsDxavO-waiv  ncd  IxTroptoO-waiv 
TüoXXoi.  Nun  fragt  Hippolyt  IV,  59,  3  ff.  nach  ASE  nur,  wer  die 
l/tX£YÖ[isvoi  und  die  XsoxaivöixsvcL  sind,  dagegen  nach  B  auch,  wer 
die  i7t;uopo6[X£Voi.  Er  muß  aber  doch  auch  diese  Frage  gestellt 
haben.  Damit  stimmt  der  Inhalt  ihrer  Beantwortung  überein, 
denn  das  Hindurchgehen  durch  Feuer  und  Wasser,  von  dem  hier 
Hippolyt  unter  Hinweis  auf  Ps.  66, 12  redet,  entspricht  der  Deu- 
tung, die  dieser  Psalmstelle  der  von  hippolytischer  Tradition  ab- 
hängige Methodius  von  Olympus  De  res.  I,  56  gibt.  —  Auf  eine 
Auslassung  in  der  Vorlage  von  AS  in  III,  28,  6,  S.  174,  17  habe 
ich  schon  in  meiner  Ausgabe  des  Kommentars  hingewiesen. 

Haben  somit  ASE  eine  gemeinsame  Wurzel,  so  fragt  es  sich 
weiter,  ob  E  näher  A  oder  S  verwandt  ist.  Es  will  nicht  viel 
besagen,  wenn  II,  26, 1,  S.  88,  li  S  und  E  ISwv  lesen  gegenüber 
slSox;  in  A  und  88,  15  Tudviüx;  ^ap  statt  nur  TrdvTox;  wie  A.  Aber 
II,  26,  4,  S.  90, 1  und  5  f.  heißt  es  in  A  Koppoo  und  Koppoc  6  n§paYj<;, 
dagegen  in  ES  Aaptoo  und  Aapioc;  6  Mf^Soc,  90,  6  Tcaraßpcö^evia  statt 
7.a'üa;üo^£V'ca,  und  II,  27,  S.  90, 12  f.  lassen  E  und  S  aorwv  und  I;üsI 
üTTspio/osv  TÖ  TOD  ßaoiXscöc  p^{j.a  weg  und  fügen  90,  20  xaXwc  hinzu 
(§ia  zobio  fehlt  freilich  daselbst  in  S).  92,  2  ließt  E  mit  S  Tcdvia 
statt  TüdvTOTe  in  A,  92,  8  ttjV  ISiav  statt  zbv  lSlov,  92, 14  1%  /oög  statt 
kv.  xe^P^<s,  II,  32,  S.  104, 19  izazpbq  (nicht  TTveuixaro?)  poTTJpLa,  104,  21 
-h  Ix  zri<;  xa[ALVoo,  106,  3  rjXaovöjxsvov  statt  TeXo6[isvov,  III,  7,  S.  134,  25 


Zur  bandschriftlichen  Überlieferung  des  Danielkomraentars  Hippolyts.    317 

oTTÖTs  statt  TÖTs,  136,  5  avaYYsXXsL  statt  aTUTJYYsiXsv.  136,  20  fehlt  xöv 
ßaaiXda  %aX  svöo^ov  Ysv^o^ai  in  SE,  dagegen  IV,  30, 9,  S.  266, 11 
Itjooöc  +  SE,  und  sie  lesen  IV,  49,  1  6  XaXwv  statt  XaXv^asi;  IV, 
35,  3,  S.  278, 15  freilich  haben  AE  Iv  Tuavul  t(j)  %öo[jl(j)  für  Iv  Travil 
TÖTKp  in  B  und  „an  allen  Orten"  in  S. 

Ein  näheres  Verhältnis  von  E  zu  den  Excerpten  aus  Hippolyt 
in  den  Catenen  läßt  sich  daraus  noch  nicht  entnehmen,  daß  S.  106, 16 
E  und  C  sail  liest  gegen  -^v  in  A  und  daß  S.  108, 1  beide  ev  %a[i.iv(j) 
hinzufügen.  S.  4,  2  läßt  C  'Iwoiac  weg  gegen  SE  und  4,  13  fügt 
C  xal  £ßSö[JL(|)  hinzu. 

Wie  in  der  Chigihandschrift  R  VII,  45  (==  J,  vgl.  Nachrichten 
1896,  S.  22)  sind  auch  in  E  Stücke  aus  Hippolyt  De  antichristo 
und  In  Danielem  vereinigt;  aber  es  sind  nicht  dieselben  Stücke, 
vielmehr  in  J  aus  De  antichr.  c.  23—28,  in  E  aus  c.  48.  50  f.  und 
54.  Mit  J  liest  E  S.  330,  5  IttI  zb  xstXo(;  für  ItcI  toö  ^siXodc  in  AB. 
Eine  nähere  Beziehung  von  E  und  J  ist  nicht  nachzuweisen,  und 
ergibt  sich  daher  auch  aus  E  nichts  für  das  Verhältnis  von  J  zur 
sonstigen  Textüberlieferung. 

Durch  E  liegt  jetzt  fast  der  ganze  Danielkommentar  Hippo- 
lyts auch  im  griechischen  Text  vor. 

Die  Vergleichung  der  photographischen  Aufnahme  des  Textes 
V  0  n  J  zeigte  die  Zuverlässigkeit  der  Kollation  von  H.  Achelis.  — 
Ebenso  bestätigte  die  Vergleichung  des  photographischen  Textes 
der  Danielcatene  in  Chis.  VIII,  54  s.  X,  daß  diese  Handschrift  die 
Vorlage  des  in  meiner  Ausgabe  des  Danielkommentars  verwerteten 
Paris,  gr.  159  ist.  Schon  der  verstümmelte  Anfang  zeigt  dies  (vgl. 
Caro-Lietzmann,  Caten.  graec.  catalogus  S.  118  (350)).  Auch  die 
Seitenanfänge  treffen  zusammen.  Danielkommentar  II,  5,  2,  S.  52, 18 
steht  im  Chis.  ßl.  455^  voslv  am  Rand ;  infolge  davon  ist  dies  Wort 
versetzt  im  Parisinus  Bl.  340^  und  steht  dort  hinter  soaTcXa^/vtav. 
Dasselbe  ist  aber  auch  im  Vat.  1153/54  der  Fall,  von  dem  Faul- 
haber, Die  Prophetencatenen  nach  römischen  Handschriften  (Freib. 
1899),  gezeigt  hat,  daß  er  aus  dem  Chisianus  abgeschrieben  ist. 
Nun  lesen  aber  auch  der  Vaticanus  und  der  Parisinus  S.  290, 12  f. 
GTcXirjpoxdpSLOv  für  GvX-qpoxpdyrfikov.  Daher^wird  der  Parisinus  durch 
Vermittlung  des  Vaticanus  auf  den  Chisianus  zurückgehen.  Der 
Anfang  von  Vat.  1153  war  dann  noch  nicht  in  dem  Maße  wie 
gegenwärtig  verstümmelt,  als  Par.  159  von  ihm  abgeschrieben  wurde. 


Ge'ez-Studien. 

Von 

Enno  Littmann. 

Vorgelegt  in  der  Sitzung  vom  26.  Juli  1918. 

in. 

Texte  und  Paradigmata  nach  Takla-Märyam. 

Im  Nachtrag  zu  Teil  II  meiner  Ge'ez  -  Studien  (Nachrichten 
der  K.  Gr.  d.  W.,  Phil.-hist.  KL,  1917)  habe  ich  darauf  hingewiesen, 
daß  ich  in  einem  dritten  Teile  die  Angaben  verwerten  würde,  die 
ein  Abessinier  über  die  Aussprache  des  Ge'ez  gemacht  hat.  Es 
handelt  sich  um  die  dort  genannten  Schriftchen  von  Takla-Märyäm 
Samhäräy :  Mamlwra  Idsäna  gd'dz  und  Fotün  malmade  fldal  wandbäh 
sahsäna  gd^dz.     Beide  sind  in  Eom  im  Jahre  1911  erschienen^). 

Im  ManiJwr  setzt  der  Verfasser  nach  der  Einleitung,  in  der  er 
von  seinen  Vorgängern  spricht,  sein  eigenes  System  der  diakritischen 
Zeichen  {td'^mdrtäta  sdhfat)  auseinander.  Dann  gibt  er  die  Accentre- 
geln  für  Verba,  Substantiva,  Pronomina  und  Partikeln,  Eigennamen, 
danach  für  Verba  und  Substantiva  sowie  Partikeln  mit  Suffixen.  Die 
diakritischen  Zeichen  teilt  er  ein  in  solche  für  den  Accent  i^dTizat) 
und  für  die  Verdoppelung  i^osnd'o).  Den  Accent  definiert  er  dahin, 
„daß  man  auf  einen  Buchstaben  mehr  Ton  verwenden  müsse  {yäd- 
mds)  als  auf  die,  welche  mit  ihm  in  demselben  Worte  vereint  sind.. 
Und  ein  Buchstabe,  auf  dem  der  Accent  ruht,  heißt  betont  (dd- 
müsy.    Er  verwendet  vier  Accentzeichen :  l)^aVdl^)  (d.i.  „erhebe")^ 


1)  Ersteres  zitiere  ich  als  Mamhdr,  letzteres  als  Malmade. 

2)  Diese  Namen    erinnern   in   merkwürdiger  Weise   an   die  Benennungen  in 
der  hebräischen  Grammatik  b*i3?bü  und  S^^bü. 


Ge'ez-Studien.   III.  319 

",  wem  der  Ton  auf  dem  ersten  Buchstaben  des  Wortes  liegt; 
2)  ^andh  (d.  i.  „erhöhe"  oder  „verlängere"),  ~,  wenn  er  auf  einem 
der  mittleren  Buchstaben  liegt;  3)  ^asnon'^)  (d.i.  ^neige"),  ^,  wenn 
er  auf  dem  letzten  Buchstaben  liegt;  dazu  kommt  4)  ''ahaz  (d.  i. 
„halte  fest"),  •,  für  Buchstaben  mit  dem  6.  Vokalzeichen,  wenn 
dieser  Buchstabe  innerhalb  eines  Wortes  nicht  vokallos,  sondern 
mit  einem  unbetonten  kurzen  o  zu  sprechen  ist,  oder  wenn  d  der 
einzige  Vokal  eines  einsilbigen  Wortes  ist.  Denn  Buchstaben  der 
6.  Vokalreihe  haben  dreierlei  Aussprache  nach  T.-M. :  a)  hochbe- 
tont Qd^üla  dams),  wenn  sie  den  Accent  haben;  b)  kurzbetont  (ha- 
stra  (hms),  wenn  sie  am  Anfang  oder  in  der  Mitte  der  Wörter  mit 
kurzem  9  zu  sprechen  sind ;  c)  schwachbetont  {ddMma  dams)^  wenn 
sie  am  Schlüsse  oder  in  der  Mitte  der  Wörter  ohne  Vokal  zu 
sprechen  sind. 

Diese  Unterscheidung  nach  Buchstaben  ist  rein  willkürlich  und 
äußerlich.  Sie  führt  auch  zu  großen  Inkonsequenzen ;  so  hat  z.  B. 
nad  den  'Al'ol,  sä  den  'Asnen,  zd  den  'Ahaz,  ivarad  den  'Al'el, 
qabar  den  'Aneh,  ^allä  den  'Asnon,  u. s.w.  Daraus  ergibt  sich, 
daß  die  Art  des  Accents  in  allen  Fällen  dieselbe  sein  muß.  Ich 
habe  daher  für  'Al'el,  'Aneh  und  'Asnen  in  der  Umschrift  stets 
den  Acut  gesetzt,  für  'Ahaz  in  den  wenigen  Fällen,  in  denen  er 
zum  Ausdruck  gebracht  ist,  jedoch  den  Gravis.  Eine  Unterschei- 
dung zwischen  musikalischem  und  exspiratorischem  Accent  ist,  wie 
man  sieht,  nicht  gemacht;  die  Bezeichnung  des  so  wichtigen  Ge- 
gentons und  Vortons,  mag  dieser  nun  exspiratorisch  oder  musika- 
lisch sein,  fehlt  vollständig.  Aus  den  von  T.-M.  gewählten  Namen 
jedoch  geht  mit  großer  Wahrscheinlichkeit  hervor,  daß  er  im  We- 
sentlichen den  musikalischen  Hochton  im  Auge  hat^). 

Das  für  die  „Verdoppelung"  angewandte  Zeichen  'Asna'ö  sind 
zwei  Punkte  (")  über  dem  betreffenden  Buchstaben;  ich  habe  in 
diesen  Fällen  natürlich  den  Konsonanten  doppelt  gesetzt. 

Im  Mahnade  gibt  T.-M.  zunächst  eine  Art  Lesefibel :  Alphabet^ 
Konsonanten  zuerst  mit  dem  1.  Vokal,  dann  mit  anderen  Vokalen, 
Leseübungen  einzelner  Buchstaben,  dann  ganzer  Wörter ;  zwischen 
diese  Wörter  werden   die  Namen   der  Monate,  Jahre  u.  s.w.  ein- 


1)  S.  Anm.  2  der  vorigen  Seite. 

2)  So  wird  auch  im  hebräischen  gottesdienstlichen  Vortrag  der  Accent  we- 
sentlich musikalisch  gewesen  sein;  vgl.  die  Schrift  von  E.  Hommel,  Der  Akzent 
des  Hebräischen;  man  muß  dabei  aber  die  Worte  von  E.  Sievers,  Metr.  Studien 
I,  S.  65,  im  Auge  behalten,  wonach  alle  Accentsysteme  gemischt  sind  und  nur 
bald  das  eine  bald  das  andere  Prinzip  vorwiegt. 


520  EnnoLittmanu, 

gestreut.  Dann  folgt  ein  maihd'  (d.  i.  „Stärker")  genannter  Ab- 
schnitt mit  weisen  Sprüchen,  die  zum  größten  Teile  aus  dem  Buche 
Sirach  genommen  sind;  am  Schlüsse  der  Schrift  stehen  die  ersten 
drei  Kapitel  des  1.  Johannes-Briefs  aus  dem  Neuen  Testamente. 

Die  Namen  der  Buchstaben  werden  nicht  gegeben,  doch  steht 
neben  U  halle,  neben  /fi  hamär,  neben  UJ  7idgüs,  neben  fl  "'osat, 
neben  "i  bd^mhän,  neben  A  'alef,  neben  U  ^ain,  neben  Ä  salot  und 
neben  ^  sahäi.  Dazu  vergleiche  man  die  Namen  in  Teil  II  {'Nach- 
ricJden  1917,  S.  677  f.). 

Am  Schlüsse  des  Ge'ez-Alphabets,  nach  den  Zahlzeichen,  stehen 
auch  die  Zeichen,  die  im  Amharischen  und  Tigrina  neu  hinzuge- 
kommen sind.  In  einer  Anmerkung  weist  T.-M.  darauf  hin,  daß 
$ ,  S?o  nnd  'jff  nur  im  Tigrina  .vorkommen,  ferner  daß  die  Aus- 
sprache des  tl  im  Amharischen  verschieden  ist  von  der  im  Ti- 
grina, endlich  daß  im  Tigrina  U—  (tl—'i,  Ä— ö  von  W  —  ^h.  —  'i, 
\—Uj  verschieden  sind  und  nicht  mit  letzteren  zusammenfallen 
wie  im  Gre'ez. 

In  der  Verwertung  des  von  T.-M.  gebotenen  Materials  bin 
ich  nun  folgendermaßen  verfahren.  Zuerst  gebe  ich  in  A  die  zu- 
sammenhängenden Texte  in  Umschrift  (Mahnade,  S.  25 — 33) ;  dann 
die  einzelnen  Wörter  aus  den  Leseübungen,  und  zwar,  des  rascheren 
Verständnisses  wegen ,  in  Urschrift  und  Umschrift ;  danach  die 
Aufzählungen  der  Wochentage  u.  s.  w.,  einzelne  Sätze,  den  Mathe' - 
Abschnitt  nur  in  Umschrift.  In  B  folgen  die  Beispiele  zu  den 
Accentregeln  aus  dem  Mamlidr.  Da  T.-M.  immer  nur  die  Buch- 
staben für  die  Accentregeln  zu  Grrunde  legt,  ist  seine  Anordnung 
vielfach  ganz  anders,  als  wir  sie  nach  den  Silben  treffen  würden. 
Auch  ist  bekanntlich  die  grammatische  Einteilung  bei  den  Abes- 
siniern  ganz  anders  als  bei  uns.  Da  es  sich  hier  aber  nicht  um 
eine  Darstellung  der  abessinischen  Nationalgrammatik,  sondern  le- 
diglich um  eine  möglichst  übersichtliche  Materialsammlung  handelt, 
habe  ich  alle  Formen,  deren  Aussprache  durch  diakritische  Zeichen 
festgelegt  ist,  hier  in  der  Weise  unserer  Grammatiken  und  Para- 
digmata angeordnet.  Es  war  nicht  möglich,  dies  Prinzip  restlos 
durchzuführen,  weil  dazu  eine  systematische  Darstellung  nötig 
gewesen  wäre;  aber  ich  hoffe  doch,  daß  eine  gute  Übersichtlichkeit 
erreicht  ist.  Die  Verbalformen  sind  nur  spärlich  vertreten,  die 
Nominalformen  aber  desto  reichlicher ;  das  ist  sehr  erwünscht,  da 
in  Teil  II  die  Nomina,  infolge  der  Art,  wie  sie  in  den  Tabellen 
bei  Dillmann  erscheinen,  sehr  stiefmütterlich  behandelt  sind.  Im- 
merhin läßt  sich  aus  den  Texten  in  Teil  I  und  in  III A  eine  große 


Ge'ez-Studien.    III.  321 

Anzahl  Nomina  zusammenstellen ;  und  so  haben  wir  ein  gutes  Ver- 
gleichsmaterial zu  der  Darstellung  bei  Trumpp. 

Meine  Art  der  Umschrift  muß  hier  naturgemäß  von  der  in  Teil 
I  und  II  gebrauchten  etwas  abweichen ;  denn  bei  letzteren  handelt 
es  sich  um  die  von  mir  gehörte,  individuelle  Aussprache  eines  Ein- 
zelnen, hier  in  Teil  III  jedoch  um  meine  Wiedergabe  einer  ge- 
druckten Vorlage,  die  von  ihrem  Verfasser  als  ein  normiertes  Sy- 
stem beabsichtigt  ist.  Aber  gerade  die  Abweichungen  werden  für 
eine  historische  Gesamtbetrachtung  der  Überlieferung  ihren  Wert 
haben. 

Ich  habe  also  den  5.  und  den  7.  Vokal  hier  durchweg  einfach 
mit  ö  und  ö  umschrieben ;  es  ist  durchaus  möglich,  daß  Takla-Mär- 
yäm,  dessen  Muttersprache  Tigrina  ist,  selbst  auch  ä  oder  in 
halb  tigrinischer,  halb  amharischer  Weise  *a  spricht.  Die  Normal- 
aussprache für  die  beiden  Laute  sollte  der  Theorie  nach  e  und  Ö 
sein,  und  danach  habemch  mich  hier  gerichtet,  da  mir  die  Unter- 
lage individueller  Praxis  hier  fehlt.  So  habe  ich  auch  den  Gre*ez- 
Vokal  immer  durch  a  wiedergegeben,  obgleich  er  wohl  mit  Aus- 
nahme der  Fälle,  in  denen  er  vor  oder  nach  Gutturalen  steht, 
mehr  oder  weniger  konsequent  als  ä  gesprochen  wird. 

Besondere  Schwierigkeiten  bietet  wiederum  der  6.  Vokal.  Wenn 
T.-M,  sein  'Ahaz  konsequent  in  allen  Fällen,  in  denen  ein  unbe- 
tontes 9  steht,  gesetzt  hätte,  so  wäre  keinerlei  Zweifel  möglich. 
Aber  das  hat  er  eben  leider  nicht  getan,  sondern  er  hat  es  nur 
da  gesetzt,  wo  eine  Verwechslung  stattfinden  könnte ,  also  z.  B. 
bei  Jcafdl  (;,teile")  im  Unterschiede  von  kdfl  („Teil"),  ferner  bei  dem 
Worte  ^^,  das  er  aber  ebenso  gut  ^d  hätte  schreiben  können.  Ich 
habe  mich  hier,  soweit  es  möglich  war,  nach  meinen  eigenen,  in 
Teil  I  und  II  niedergelegten  Erfahrungen  gerichtet;  um  nur  eins 
zu  erwähnen,  für  die  Form  JBYl4^Ai,  die  von  Gabra-Mikä'el 
iJcaffdldnm  gesprochen  wurde,  habe  ich  die  Umschrift  ikafdlänl  ge- 
wählt,  da  T.-M.  JBYl4^Äi  schreibt  ^). 

Für  gewöhnlich  wird,  wie  es  scheint,  in  der  überlieferten  Aus- 
sprache des  Ge'ez  ebenso  wie  im  Hebräischen  und  im  Tigre,  teil- 
weise auch  im  Tigrina  kein  vokalloser  Guttural  im  Inneren  eines 
Wortes  gesprochen,  vielmehr  muß  ein  Guttural,  der  im  Silbenaus- 
laut vor  einem  anderen  Konsonanten  steht,  einen  kurzen  vokali- 
schen Nachschlag  erhalten,  falls  man  sich  nicht  in  anderer  Weise 
aus  der  Schwierigkeit  hilft ,  wie  z.B.  bei  ^äimdra  (vgl.  Teil  I, 
Nachrichten  1917,  S.  631).     T.-M.  macht  bei  solchen  Wörtern  aber 


1)  Zur  Verdoppelung  des  Suffix-Konsonanten  vgl.  unten  S.  336. 
Kgl.  Oes.  d.  Wiss.  Nachrichten.  Phil.-hist.  Klasse.  1918.  Heft  3.  21 


322  Enno  Littmann, 

nie  sein  'Ahaz-Zeichen,  so  daß  man  annehmen  könnte,  er  betrachte 
den  6.  Vokal  dort  als  „schwachbetont".  Aber  wenn  er  z.B.  hadd, 
ladlc  als  dieselbe  Form  ansieht  wie  sädSg,  sähs,  so  deutet  er  eben 
an,  daß  bei  den  ersteren  beiden  0  and  2\  mit  Vokal  zu  sprechen 
sind.  In  Teil  I  und  II  finden  sich  manche  Schwankungen  bei 
solchen  "Wörtern.  Ich  habe  nun,  um  hier,  wo  ich  die  gesprochenen 
Formen  nicht  gehört  habe,  wenigstens  ein  gewisses  System  durch- 
zuführen, nach  '  stets  den  Hilfsvokal  durch  hochstehendes  '  ange- 
deutet, auch  bei  5\  als  zweitem  Radikal  von  fal-  und  fil-  (qdtl-) 
Formen,  die  sonst  im  Ge'ez  nach  der  Theorie  einsilbig  zu  sprechen 
sind ;  das  Amharische  unterscheidet  sich  eben  hierin  von  der  über- 
lieferten Ge'ez- Aus  spräche  wie  das  Syrisch- Arabische  vom  Ägyp- 
tisch-Arabischen. Bei  fa^l-  oder  /i7-Formen  entsteht  im  Kontext 
ein  Hilfsvokal  am  Schlüsse ;  vgl.  Teil  1  {Nachrichten,  1917),  S.  630. 
Diesen  Hilf s vokal  habe  ich  in  den  Texten  und  Sätzen  hier  natür- 
lich auch  gesetzt.  Wenn  aber  solche  Forrflen  in  pausa  stehen,  habe 
ich  ihn,  auch  bei  Bildungen  von  Stämmen  tertiae  gutturalis,  nicht 
ausgedrückt;  das  '  und  h  ist  dann  sicher  nur  sehr  schwach  zu 
hören.  Hoffentlich  werden  künftige  Forschungen  diese  Frage,  die 
für  die  Überlieferung  des  Gre'ez  von  gewisser  Wichtigkeit  ist,  ein- 
mal restlos  aufhellen.  Bei  h  ist  auch  im  Inlaut  der  Hilfsvokal 
nicht  angedeutet,  da  hier  nach  meiner  Erinnerung  die  vokallose 
Aussprache  vorwiegt. 

Mit  allem  Nachdruck  aber  sei  hervorgehoben,  daß  so  sehr  T.- 
M.  auch  zum  Schlüsse  des  Mamhdr  (s.  unten  am  Ende  von  Teil  III, 
S.  339)  betont ,  seine  Accentregeln  seien  durchaus  einheitlich  und 
gültig,  doch  (1)  bei  ihm  selbst  Inkonsequenzen  vorkommen,  und  daß 
(2)  von  ihm  Verschiedenheiten  der  Überlieferungsschulen  zugegeben 
werden;  für  das  Hebräische  vgl.  Nöldeke,  Iiikonsequenzen  in  der 
hebräischen  Punliation  (Zeitschr.  f.  Assyr.  26,  1  ff .  —  Festschrift  für 
Ignaz  Goldziher,  1  ff.).  Von  ersteren  seien  erwähnt  kafaldna  neben 
wahabdnna,  ndJcafdlaMmü  neben  ndsendwaMdmü.  Vermutlich  aber 
hat  er  an  Stellen,  wo  er  sein  Augenmerk  nur  auf  den  Accent  rich- 
tete, oft  das  Verdoppelungszeichen  vergessen,  und  zuweilen  auch 
den  Accent  nicht  gesetzt,  wo  er  wohl  zunächst  die  Verdoppelung 
im  Auge  hatte;  hier  habe  ich  in  der  Umschrift  stets  verbessert, 
und  zwar  so,  daß  ich  bei  nicht  bezeichneter  Verdoppelung  den 
zweiten  Konsonanten  in  eckigen  Klammern  hinzufügte,  bei  feh- 
lendem Accent  aber  in  einer  Anmerkung  auf  die  Form  bei  T.-M. 
hinwies.  Von  Verschiedenheiten  der  Schulen  führt  T.-M.  an  tdhöh- 
hdrd,  tehöbdrdy  höbdrd  neben  den  regelmäßigen  Formen  mit  Paenul- 
tima- Betonung  (unten  S.  333,  Anm.  1);    qeqph  neben  qeqdh  (bei  den 


Ge'ez-Studien.   III.  323 

Nomiiialformen,  S.  334,  5b/3);  yäred,  yos^f^  romän  neben  den  Formen 
mit  Ultimabetoniing  (bei  den  Eigennamen,  S.  335) ;  betontes  Suffix 
-]{9n  neben  unbetontem  (bei  den  Verbalformen  mit  Suffixen,  S.  336). 

In  Teil  I  und  II  sind  die  umschriebenen  Texte  und  Wörter 
in  gewöhnlicher  Antiqua- Schrift  gedruckt.  Ich  hatte  zunächst  be- 
absichtigt, alles,  was  umschrieben  ist,  kursiv  drucken  zu  lassen. 
Als  aber  damals  bereits  ein  ganzer  Bogen  in  1.  Korrektur  mit 
Antiqua- Satz  ankam,  konnte  ich  meine  ursprüngliche  Absicht  nicht 
durchführen,  sondern  behielt  diese  Schrift  bei,  zumal  die  Druckerei 
einige  neue  Typen  in  ihr  hatte  anfertigen  lassen.  Für  die  Um- 
schrift von  1.  Joh.  1 — 3  habe  ich  diese  Schrift  auch  hier  beibe- 
halten. Aber  dort,  wo  Umschrift  und  Übersetzung  oder  sonstiger 
deutscher  Text  zusammenstoßen,  maß  unbedingt  ein  Schriftunter- 
schied gemacht  werden.  In  letzteren  Fallen,  hier  am  Ende  von  A, 
sowie  durchgängig  in  B,  habe  ich  also  die  umschriebenen  Wörter 
in  Kursivschrift  gegeben;  diese  Inkonsequenz  bitte  ich  zu  ent- 
schuldigen. 

Die  W^issenschaft  ist  dem  gelehrten  Abessinier  Takla-Märyäm 
für  das,  was  er  geboten  hat,  sehr  dankbar.  Wenn  auch  seine  Dar- 
stellung noch  nicht  als  abschließend  gelten  kann,  so  bringt  sie 
doch  viel  neues  und  wichtiges  Vergleichsmaterial,  das  innerhalb 
des  Eahmens  meiner  Ge'ez- Studien  nicht  fehlen  darf  und  Anspruch 
auf  sorgfältigste  Berücksichtigung  hat. 


mal'ekta  yöhanes  hawarya  walda  zabde^os  qadamäwf. 
me'^räf  I  Uü  I. 

nazenewakk^mü  ba'onta  W9'5tü  zahallö   'emq^dm    we'otü      1 
zasamä'^nähü  wazaro'inähü  ba'a'^yentina  wazataiyaqna  waza- 
gasasähü   'edawlna  ba'enta  nagara  hoiwat.    —   'esma   hoiwät      2 
ta'auqat  lana  ware'inähä   wasem'a   könna  wanozenawakkemü 
lak^müni  heiwäta  'enta  la'äläm  '9nta  hallawat  haba  ^)  'ab  wa- 
ta'auqat  lana.  —  ware'inähä  wasamä''näha  wanazenawakkomü      S 
lakemüni   kama  'antomüni   tokünü   sütäfe  meslena.     wasütäfg- 
nassa  mesla  'ab  wamesla  waldd  'iyasüs   kr8stüs.   —   wazanta      4 
nas^hef  lakomü  kama  tofsehtekemü  fass^mta  t^kün.  —  wazätf      5 
ya'^ti  zenä  'enta  samä'^nähä  tokat  '8m[en]nehd  wanezenewak- 
k^mü  kama   'egzi'abehgr  berhän  we'^tü  waselmatessa  ^)  'albö 


1)  So!    L.  haha.  2)  Im  Text  -sa  ohne  Accent. 

21* 


324  Enno  Littmann, 

6  habehd  wa'i'ahattini.  —  wa'emmassa  nabelakemü  b^na  sütäfg 
meslehti  waw9sta  salmat  nahauwar  nahessü  wa'inagaberä  lar^t'. 

7  —  wa'ammassa  w9sta  barhan  nahauwar  bakama  wa'atü  wasta 
barhan   wa'atü   sütüfän   n^bna  babainätina  wadamd  la'iyasds 

8  krastös  yänasahanna  'amkuUd  hätäwa'ina.  —  wa'ammassa 
n^bj  'albana  häti'ät  naggggl  lara'*s5na  wa'albö   rat'a  babgna. 

9  —  wa'ammassa  nagarna  wa'amanna  häti'atäna  ma'^man  wa'atü 
wasäd^q  kama  yalidag  lana  hätäwa'ina  wayänasahanna  'am- 

10  kuUü  'abasäna.  —  wa'ammassa  nab6  'i'abbasna  hassäw6  na- 
resayö  lötd  waqäldni*)  'iballö  habena. 

ma'^räf  II. 

1  daqiq^ya  zanta  'asahaf  lakamü  kama  'ita'abb§sü  wa'am- 
manf  bö   za'abbasa  paräqlitös   b5na  haba  'ab   'iyasüs   krastös 

2  §äd6q.    —    wa'atü  y^hdag   lana  hätäwa'ina   wa'akkö   ba'anta 

3  zi'ana  bähtitü  'alld   ba'anta   'älamanl.   —    waba'anta   za   na- 

4  'ammar  kama  'a'^marnähti  la'amma  'aqabna  ta'®zäzö.  —  wa- 
zassa    yöbj    Vamarö    wa'iya'aqqab    ta'^zäzö   hassäwi   wa'atü 

5  wa'albo  sadqa  'agzi'abaher  [.  .  —  •  •  •]  ^)  fassüm  lä'^lehd.   wa- 

6  bazantü  na'ammar  kama  bötd  hallauna.  —  wazassä  yab}  bötu 

7  hallaukü  maft^u  y6hür  bakama  höra  zaktü.  —  'ahawina  'akko 
ta'^zäza  haddisa  za'as^haf  lakömü  'aUa  ta'^zäza  balita  'anta 
bak^mü  takät.  'asma  ta'^zäz   balüi  wa'atü   zantd   qäl   zasamä- 

8  '^kamü.  —  waka'^ba  ta'^zäza  haddisa  'as^hef  lakamü  wa- 
wa'^tü    'amdn   bötd  wabakamü.   'asma  halafat  salmat  wabar- 

9  hän  zaba'aman  waddö'a  'astar'aya.  —  wazassa  yab}  wasta 
barhan  hallökü  waisaUa'  biso   hassäwi  wa'atü   wawasta   sal- 

10  mat   hallö    'aska    ya'^ze.    —    wazassa   yäfaqqar   biso    wasta 

11  barhan  inabbar  wa'albö  'aqaft  bahabehd.  —  wazassä  isalla* 
bi§ö  wasta   §almat   wa'atü   yahauwar   wa'iya'ammar  haba  ya- 

12  hauwar  'asma  salmat  'a'örö  'a'^yantihd.  —  'asahef  lakömü  da- 
qiqaya  'asma  tahadga  lakamü  häti'atak^mü  ba'anta  samd.  — 

18     'asahaf  lakömü  'abau  'asma  'a'^markamiiwö  laqadämäwi.     'as§- 

14  haf  lakamü  waräzdt  'asma  mö'^amüwö  la'akkdi.  —  sahafkü 
lakamü  daqiqaya  'asma  'a'^markamiiwö  la'ab.  sahdfkü  lakamü 
'abau  'asma  'a'^markamüwö  laqadämäwi.  sahafkü  lakamü  wa- 
räzdt 'asma  sanü'an  'antamü  waqäla   'agzi'abaher  inabbar  ha- 

15  bekamü  wamö'^kamüwö  la'akkdi.  —  'itäfqariiwö  la'älam  wa'f 
zahallö  wasta  'älam.    wazassa   'afqarö   la'älam  'ihallö   faqra 

16  'egzi'abahgr  habehd.  —  'asma  kulld  zahallö   wasta  'älam  fat- 


1)  S.  325,  Anm.  1,  2)  Hier  fehlt  ein  Satz  im  äthiopischen  Text. 


Ge'ez-Studien.   III.,  325 

wata  lasegä  wafetwatd  la'din  wasaräliti  lamanbart  'iköna  zantn 
'emhaba  'ab  'allä  'em'äläm   we'otü.   —    wa'älamanf  ^)    yahälbf    17 
wafetwatdnf  ^)  wazassa  igabbor  fotwatö  la'agzi'abaher  inäbber 
la'äläm.  —  daqiqoya  zäti  sa'at  dahärit  ye'ati   wabakama  sa-     18 
mä'^k^mü  kama  imas^a'  hassäwe  maslh  waye'^zeni  ^)  könü  be- 
zühän  hassäwayäna  masih.    wabazentd  'a'^märna  kama  dahärit 
sa'at  ya'eti.   —  'osma  'araannena  was'ü   *alla  'ikönü  bähtd  'a-     19 
menngna.      wasöbassa  'amannena   'amüntd  'amnabarü  maslena. 
wabäbtd  kama  yat'awäqü  kama  'ikönü  kuUömü  'amanngna.  —     20 
wa'antamüssa    qab'at   bakamü    'amanna    qaddds    wata'ammarü 
kuUö.    —    'i§ahafkü  lakamü  kama  za'ita'amarüwä  lasadq  'allä     21 
kama  ta'amarüwä.    'asma  knllä  hassat  'ikönat  'amsadq.  —  wa-    22 
mannü  wa'atü  bassäwi  za'anbala  zaik^bad  wayabj  'asma  'lya- 
sds   'ikona  masiha   wazantd   wa'atü   hassäwe    masih   zaikahad 
ba'ab  wabawald.  —  wakullu  zaikahad  bawäld  waba'äbani^)  'i-     23 
hallö  wazassa  ya'amman  bawald  waba'abani')  halläwa.  —  wa'an-     24 
tamüssa  zasamä'^kamü  takat  layanbar  habekamü  wa'ammassä 
zasamä'^kamü  takat  nabara  habekamü  wa'antamüni  tanabbarü  ^) 
ba'ab    wabawald.    —   wazäti   ya'ati   tasfä   'anta   'asaffawänna    25 
haiwäta  zala'äläm^).  —  wazanta  nas^haf  lakamü  ba'anta  'alla    26 
yäsahatükamü.  —  wa'antamüssa   qab'at   bakamü   'anta  nasä'®-     27 
kamü   'amhabehd   tanabbar   habekamü   wa'itafaqqadü    mannohl 
yamharkamü  'allä  manfasa  zi'ahd  imeharakkamü  ba'anta  kulld 
wa'amdn  wa'atü  wa'iköna  hassata.     wabakama  tamhartakamü 
nabarü  bäti.  —  waya'^zenf^)  daqiqaya  nabarü  bäti  kama  'ama    28 
'astar'aya  narkab  gässa  wa'inathäfar  'amannehd  'ama  imassa'. 
—  wa'ammassä  ra'ikamü  kama    sädaq  wa'atü   'a'^marü  kama    29 
kulld  zaigabarä  lasadq  'amannehd  tawälda. 

ma'^räf  III. 
wara'ayü  zakama  'afö  faqrd  zawahabanna  'ab  kama  wa-       1 
lüda    'agzi'abahür  nakün  wakönnahi    waba'antaza    'ifatawänna 
'älam  'asma  lötdni^)  'iyä'^marö.  —  'ahawina  ya'®zessä   daqiqa      2 
'agzi'abahgr  nöhna  wa'ädi   'ita'auqa  lana  manta  nakauwan.  — 
na'ammar  bähtd  kama  'amkama  ta'anqa  lana  kamähd   nakau- 
wan 'asma  nare'ayö  lötd  bakama  wa'atü.  —  wakuUd  zatawak-       3 
kala  kiyähd  yänässah  ra'^sö  bakama  wa'atü  nasdh.  —  wakulld      4 
zaigabarä  lahäti'at  wala'abasäni  ^)   gabrä  wa'atü  'asma  'abasä 
hätl'at  wa'atü.  —  wata'ammarü  kama  'astar'aya  zaktd  kama      5 


1)  Im  Text  -m  ohne  Accent.  2)  Im  Text  ohne  Verdoppelungszeichen. 

3)  Im  Text  ohne  Accent. 


326  Enno  Littmann, 

6  yäsas[s]5llä  lahäti'ät  wahäti'ätassa  'albö  habehd.  —  wakulld 
zabötd  inabbar  'iy^'ebbas  'asma  kuUd  zai^'ebbes  'iy®re'eyö  wa'i- 

7  ya'amarö.   —   daqiq^ya    'iyäsahatükemü    kulld    zaigabara    la- 

8  §5dq  säd^q  we'etü  bakama  zektd  sädeq  wa'^tü.  —  wazassd 
igabarä  lahäti'ät  'emanna  gängn  we'^tü  'asma  qadämikd  sai- 
tän   'abbasa.     waba'anta   zentd   'astar'dya   walda  'ogzi'abahgr 

9  kama  yes'ar  gabrö  lagänen.  —  wakulld  zayatwallad  'am  'ag- 
zi'abahgr   'iy^gabara   lakäti'at   'asma   zar'a   zi'ahd   bötd  inab- 

10  bar  wa'iyakl  'abbaso  'asma   'am  'agzi'abaher  tawalda.  —  wa- 
bazantd   'amüran   wa'atömü  daqlqa  'agzi'abaher  wadaqiqa  gä- 
ngn.    wakulld  za'iy®gabarä  lasadq  'iköna  'am'agzi'abahgr.   wa- 
ll    kamähd   za'iyäfaqqar   biso.  —  'asma  zäti  ya'6ti   ta'^zäz  'anta 

12  samä'*kamü  takat  kama  natfäqar  babainätiaa.  —  wa'akkö  ba- 
kama qäyan  za'am'akkdi  wa'^tü  waqatalö  la'ahühd.  waba'anta 
mant  qatalö?  'asma  magbära  zi'ahd  'akkdi  wa'6tü  waza'ahühdssa 

13  sädaq  wa'^tü.  —  wa'itänkarü  'ahäwlna  'ammaki   'älam   sal'a- 

14  kamü.  —  nahna  na'ammar  kama  'adauna  'ammöt  wasta  haiwät 
'asma  näfaqqar   bisana.   wazassa  'iyäfaqqar   biso  wasta  salmat 

15  inabbar.  —  kulld  zaisalla'  biso  qatäle  nafs  wa'^tü  wata'am- 
m^rü  kama  laqatäle  nafs  'albö  haiwät  zala'älam  'anta  tahellü 

16  lä'^lehd.  —  wabazantd  'a'^marnähd  latafäqarö  'asma  wa'atü 
mattäwa    nafsö    ba'anti'ana    wanahnani   idalawanna    namattü 

17  nafsäna  ba'anta  bisana.  —  wazabötd  manbarta  zantd  'älam 
waire'i  bi§ö  sanndsa  waya'ässü  mahratö  'amannehd,  'afö  inab- 

18  bar  faqra  'agzi'abaher  lä'^lehd?  —  daqiq^ya  'inatfaqar  baqal 

19  wabalasän  za'anbala  bamagbar  wabasadq.  —  wabazantd  na'am- 
mar kama  'am  s6dq  nahna.   wanahnassa  qadmehd  nämak[k]arrö 

20  lalabb^na.  —  wa'ammassa  yärsahasahanna/)  labbana  'am  'aba- 
säna   wayä'abayö    'agzi'abaher    lalabbana   waya'ammar   kullö. 

21  —  'ahawina  'ammassa  'iqalayanna  labbana  gassa   b^na  haba 

22  'agzi'abaher.  —  wazahi   sa'alnähd  nanassa'   'am   habehd  'asma 

23  ta'^zäzö  na'aqqab  wanagabbar  zai^'edamö  qadmehd.  —  wazäti 
ya'ati  ta'®zäzd  kama  n^'^man  bawaldd  'iyasds   krastös  wanat- 

24  fäqar  babainätina  bakama  wahabanna  ta'^zäzö.  —  wazassa  ya- 
'äqqab  ta'^zäzö  bötd  inabbar  wawa'^tüai^)  bötd.  wabazantd 
na'ammar  kama  inabbar  maslena  'amanna  manfasd  qaddds  za- 
wahabanna. 


1)  L.  yarsahasdhänna.  2)  Im  Text  -m  ohne  Accent. 


Ge'ez-Studien.   III. 


327 


Einzelne  Wörter  ans  den  Leseübnngen. 


S.  16  und  17  (mit  zwei  Buchstaben 


<^^ 

mdrra 

j-or 

tau 

n 

nagg 

Ä> 

s5g- 

Wo 

sö'a 

AM 

Mi 

•atx 

k-äk-ä 

ec 

§dr 

*Ä 

qs'a 

^z. 

q^arra 

CliA 

talla 

j?.;?- 

ddd 

U-A 

hol 

iry 

höhe 

üp 

hebö 

P-2 

yögf 

[\,R 

bis 

U4. 

kefä 

TVi 

wäkd 

17 

gög 

Art 

hässa 

9^ 

qänä 

OÖ 

'6§ 

flt-1^ 

tat 

4,(3^ 

qöm 

UTl 

höka 

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pekä 

dl,* 

haq'S 

n,H 

beza 

A.a 

libä 

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goäg^ä 

FÄ. 

zöpf 

VA 

halle 

üi^ 

set 

n4 

bdrra 

«■A 

näld 

ii'P^ 

s§m 

ÄU 

'äh 

^'A 

qäl 

<P4: 

'öf 

cpci» 

möqa 

"L""^ 

pTsä 

A<I> 

leqa 

4:^ 

f^tt 

jea 

ibe 

OiA 

'ädt 

S.  18  (mit  drei  Buchstaben). 

^^i^    höh^t      A^4^'  saiyäf    ÄJ?A    sadäl      H<^R,  zamadd 
TT^papTrä     HOrÖ   zäw^'     Hin    zagaba    "K-fl^    '^bn 
^^^    dalun      ^Z^     'örlt        7\H'$  '^zh        ^U^f^  te'üm 

S.  19  (mit  vier  Buchstaben). 

VCn^      harbada  ÄÜYIP    'abkäya  P^A^^   maltän 

IUZ7A      saragala  UfJ'P-^  säqäyit  A^^A<^  lamlama 

-fC^Pi      tamaiyäna  UA:^^:'    hallatät  Z.[\^^     rabbanat 

mc^ J-^  simatät  IfUJ^-r    höheyät  A^ÖA'E    lualäwi 


S.  20  (mit  fünf  Buchstaben), 


'M-flAf 

tanbalannä 

A5-f^C^ 

'anämört 

•J^ar"?^ 

hasäw^nt 

Az.n^t- 

'arabönät 

iWXj»! 

nasä'oyän 

Ährfi^J» 

'ashatyä 

ii\":rt 

nagastat 

An^a'^ 

'asräbät 

ifli-fi'n-a 

natabtäb 

^^A^J»^ 

q'el'eyät 

f.HH.J>^ 

nüzäzeyät 

g28  Enno  Liitmann, 

S.  21  (mit  sechs  Buchstaben). 

Äil't'Tr^J?       'astawädäda  <^jfl'l">if^C    mastasäm^r 

AilA^J^^       'asfaredäta  ^^J*JP^      tonqäqeyat 

^arillilj'ft'  t8iih8stät  ^'?ÖC:^'1t•       teg'ertdt 

-^^ÄOrjP^     '  dansäw9yän  ^-flÖ^W'A    dab'enk^^l 

Ö^CdC^/i,^       ma'är'Irän  ^CW^W-J"^   derk-akHat 
Ä^A*A^      'adlaqldqü 

Die  Wochentage  (S.  18). 
'a/md!.     sanüi.    salus.    rdbu.    hamus.     "'drb.    qadäm. 

Die  vier  Jahreszeiten  (S.  19). 

saddi.  Icdrämt.  masdu.  hagdi.  Oder:  taivdn.  samdna  zar*\ 
samdna  söge,    mä^^rdr. 

Die  zwölf  Monate  (S.  20). 

maskardm.  teqdmt.  hddär.  tähsäs.  tar.  yalcättt.  maggdhiL 
miyäzyd,  gdnhöt.  sandi.  hamU.  naliase.  —  (wadlatät  tarräfdta  'au~ 
rdh  ydssammdya)  päg^^me. 

Die  Evangelistenjahre  (S.  21). 

samdna  mate'^ös.  zamdna  mdrqös'^).  zamdna  lüqäs.  mmdna 
yölidnds. 

Einzelne  Sätze')  (S.  17). 

hün  liera  Jidgga  Mllü  sdlli  hahd  ^dh 

„Sei  gnt,  hüte  das  Gresetz,  bete  zum  Yater^^ 

nd^a  §ä^  hur  hahd  habt  &a?[Z]ö  qdla  robbt 

„Wohlan,  geh  hinaus^),  geh  zum  Hauptmann,  sage  ihm  daa 
Wort  des  Meisters!" 

qeha  kamd  ddm  „Er  war  rot  wie  Blut". 

sdd  lötü  S9gd  ^dd  „Bringe  ihm  das  Fleisch  des  Armes  (Vorder- 
beines)". • 

dihd  mdi  höra  „Auf  dem  Wasser  ging  er". 

mo'a  sdr[r]a  „Er  besiegte  den  Feind". 


1)  Im  Text  mär^qös;  wohl  Druckfehler. 

2)  Diese  Sätze  haben  die  einzelnen  Wortaccente  wie  beim  Skandieren. 

3)  Der  Druck  hat  }^^  („überwinde!");  es  ist  aber  wohl  ^^^  gemeint. 


Ge'ez-Studien.   III.  329 

mit  gd§sa  ^om  hdbd  hdssa  „Wende  das  Antlitz  von  dort,  wo 
wenig  ist". 

Mta  rddü,  hdbü  sddü  „Geht  zum  Haus  hinab,  gebt,  bringt!* 

""alle  16  la^a  Mta  hhbü  qim  hallo 

„Wehe  dem,  in  dessen  Herz  Eachedurst  ist". 

S.  22—24. 

zaijäsdt\t\dt  Jiddäta  yähdgg^dl  hdzuha 

„Wer  ein  wenig  vernachlässigt,  verdirbt  vieP.  —  Sirach  19 1. 

hün  fdtüna  lasami    wag**dndüya  lanabib 

„Sei  schnell  zum  Hören  und  langsam  zum  Reden".  —  Jacob.  I19. 

'97n[m]d  tabiba  Jconka  lara^'sdJca  tabiba  tdhduwdn  lahlsaka. 

„Wenn  du  weise  bist  für  dich  selbst,  so  wirst  du  auch  weise 
sein  für  deinen  Nächsten". 

'UdtMJiad  ba'dntd  sddq 

;,Rede  nicht  wider  die  Wahrheit!"  —  Sir.  4:25. 

0ayahd^[b]9^  "abasä  ifdqqdd  "ariqa ;  zaisdlld''dssd  ^)  habia  iUlll 
^a"»rdUa 

„Wer  die  Schuld  verbirgt,  wünscht  die  Versöhnung;  wer  [sie] 
aber  nicht  verbergen  will,  trennt  die  Freunde".  —  Proverbia  179. 
^    ^drh  haddis  wdin  haddis 

„Neuer  Freund,  neuer  Wein".  —  Sir.  9 10. 

htdhddg  ^arkdJca  satdhät  ''dsmd  ''ty^'kanwdnd'kha  Tcamähü  ^drlca  gabt 

„Gieb  einen  alten  Freund  nicht  auf;  denn  wie  er  ist  dir  der 
zufällige  Freund  nicht".  —  Sir.  9 10. 

W9std  ^dda  kenyahü  ydssamd*  ^)  gdbrü 

„Durch  die  Hand  seines  Künstlers  wird  das  Werk  glänzend". 
—  Sir.  9 17. 

^lyämsdtka  'arkdka  *amd  tdfs^litdka  iva^iydthabd'^ka  salaika  *amä 
mdndäbeka 

„Dein  Freund  fliehe  nicht  vor  dir  zur  Zeit  deiner  Freude,  und 
dein  Feind  bleibe  dir  nicht  verborgen  zur  Zeit  deiner  Not''.  — 
(Sirach  12  s ;  statt  des  Jussivs  wäre  besser  der  Indikativ  zu  lesen). 

kullü  ''dns9sä  yäfdqqdr  zamadö 

„Jedes  Tier  liebt  seine  eigene  Art".  —  Sir.  18 15. 

^ttdhres  Jiassdta  laHa  bisdka  ivahtdgbar  kamazb  laHa  ^arkaka 

„Säe  nicht  Lüge  auf  deinen  Nächsten,  und  tue  nicht  so  gegen 
deinen  Freund!"  —  Sir.  7 12. 

Id'ogzfabaher  fdrdhö  iva'^dkbdr  zay9ssammad6 

„Fürchte  Gott  und  ehre  den,  der  ihm  dient!"  —  Sir.  Tai. 


1)  Im  Druck  -sa  ohne  Accent.  2)  So  im  Druck;  1.  ydüämmä*. 


330  Enno  Littmann, 

haJcullu  hhhdha  ^aJcharrö  laahuka  wcbiidrsoi   h9mämä  lä*9mm^ka 

„Von  ganzem  Herzen  ehre  deinen  Vater  und  vergiß  nicht  die 
Wehen  deiner  Mutter!"  —  Sir.  727. 

S9ruf  zaigaddfo  ladbühü  warogum  zayämd''d''a  la9mmü 

;,Ein  Gotteslästerer  ist,  wer  seinen  Vater  im  Stiche  läßt,  und 
verflucht  ist,  wer  seine  Mutter  erzürnt.  —  Sir.  Sie. 

^akhdro  ^db  yäkähbdr  iva^astahaqdro  ^amm  yähdssdr 

„Den  Vater  ehren  bringt  Ehre,  und  die  Matter  verachten 
bringt  Schande«.  —  Vgl.  Sir.  3ii. 

zaikäm  g^bba  lablsü  iwädddq  wsstetu 

„Wer  seinem  Nächsten  eine  Grrabe  gräbt,  fällt  in  sie  hinein". 
Sir.  2726;  Prov.  2627;  Eccles.  10  s.  Vgl.  auch  die  von  mir  heraus- 
gegebenen Ardbic  Proverbs,  Cairo  1913,  S.  42. 

bdb^sJia^)  fdntägü  ibäz29h  lahäu  fdhnü 

„Darch  die  Menge  seiner  Scheite  mehrt  sich  des  Feuers  Grlut^. 

—  Sir.  11 32. 

^dbd  ^dmhöhdt  iheuwds  beta  basd  wdbd'dsissd'^)  tdbtb  iqduwdm  ''af^d. 

„Der  Tor  schaut  durch  die  Tür  in  das  Haus  des  Anderen; 
der  kluge  Mann  aber  bleibt  draußen  stehen^.  —  Sir.  21 23. 

madhdra  ^db  yäsdnnQ^  'abyäta  wamargdma  ^amm  iserrü  masardta. 

„Der  Segen  des  Vaters  festigt  die  Häuser,  und  der  Fluch  der 
Mutter  reißt  das  Fundament  aus".  —  Sir.  89. 

lanadäi  sdfäli  ^ddeka  hamd  fessamta  tdkün  barahüdka 

„Dem  Armen  reiche  deine  Hand,  damit  dein  Glück  vollkommen 
sei!"  —  Sir.  732. 

^td'äbbds  lahagardka  wahtäsahet  rd*^sdka^  bama'^kdla  hdMka 

„Sündige  nicht  gegen  deine  Mitbürger  und  führe  dich  nicht 
selbst  irre  unter  deinem  Volke!"  —  Sir.  7?. 

^amd  ^dldta  sannäit  iras9^üwä  laekkit  toa*amd  ^dldta  ^dkkit  ira- 
sd'üwä  lasann&it 

„Am  Tage  des  Glücks  vergißt  man  das  Unglück,  und  am  Tage 
des  Unglücks  vergißt  man  das  Glück".  —  Sir.  11 25. 

qöqdh  tasdgra  baq^^dsla  ^)  ^asrdqo 

„Ein  Rebhuhn  wurde  gefangen  in  geflochtener  Schlinge  (?)". 

—  Sir.  11  so:    dieser  Satz 'ist  hier  sehr   wenig  am  Platze;    er   ist 
unvollständig  und  unverständlich. 

baWHa  ^)  wdlüdü  yästarft  lasdh'd  nobratu 
„An  seinen  Nachkommen   erscheint  des  Menschen  Art".    — 
Sir.  11 28. 


1)  Im  Druck  ohne  Accent.  2)  S.  329,  A.nni.  1.  3)  Besser  rd*»sdka 

ifio  auch  in  Dillmann's  Ausgabe. 


Ge'ez-Studien.    III. 


331 


^amhä  wälidlydn  yä^duwsr  ^a^'yantlhomil  latdblbdn 
„Greschenke  und  Gaben  blenden   die  Augen   der  Weisen".  — 
Sir.  20  29. 

WHa  gardhta  bd^dsi  hakdi  haldfkü  ivahahd  ^asdda  wdina  hd'dst 
naddya  ""cL^mdro  horkü;  ivanähü  baq**dla  W'Wiü  sök  wayadbbdr  sä- 
^'rü  fdssüma  waßduwan  bddwa  wasaq^dna  ^dbanlhu  iridhdl. 

„Am  Acker  eines  faulen  Mannes  ging  ich  vorüber  und  zum 
Weinberg  eines  Mannes  von  wenig  Verstand  ging  ich.  Und  siehe 
da,  auf  ihm  sind  Dornen  gewachsen,  und  sein  G-ras  ist  völlig  ver- 
dorrt und  er  ist  wüste  und  sein  Steinzaun  zerfällt".  —  Prov. 
24  80  f. 

tabiba  kün  wdlddya  kamd  ydtfas[s]dhdnni  hbbdya 
„Sei  weise,  mein  Sohn,   damit  mein  Herz  sich  freue".  —  Vgl. 
Prov.  23 15.  27 11. 


B. 

Formen  und  Paradigmata  aus  Mamhara  bsnna  gddz. 


Verbalformen  (S.  14-18). 
Starkes  dreiradikaliges  Verbum. 

Ox 


Perfectum 
qatdla                      qatdlü 
qatdlat                     qatdlä 
qatdlka                     qatalkdmü 
qatdlkl                     qatdlkm 
qatdlkü                    qatdlna 

gdbra 
gdbrat 

Imperfectum 
Indikativ                   Jussiv 

Imperativ 

ikdffdl                   y^kfdl 
tdgdbbdr                tagbar 

kaßl  (S.  12) 
-saifäh  (Malmade 

S.  24). 

0, 
Perfectum          Imperf.  Indik.            Jussiv 

A, 

A, 

wad[d]dska        t9wed[d\ds        t9ivdd[d]9S 
qad[d]dsä           iqed[d]^sä        iqad[d]9Sä 

'aqad[d]dsa 

yäqed[d]9S 

yaqdd[d]9S 

^äbärdka 
yobdrrdk 
yObdrsk 

Imperativ        wdd[d]9S 


332 

Enno  Littmann, 

Tx 

•T, 

T» 

Perfectum 

Perfectum 

[taqdtla 
[tagabra 

taqad[d]dsa 

taqad[d]dsü 

tafäqdra 

taqaä{d']dsat 

taqad[d]dsa 

tafäqdrat 

Impf.  Indik. 

ydtqdttal 

taqajA[d'\dsha 

taqad[d]asJc9mü 

tdtfdqqar 

Impf.  Jussiv 

ydtqdtdl 

taqad{d'\dslii 
taqad[d]dskü 

St, 

taqad{d]ask9n 
taqad[d]dsna 

N.(?) 

tdtfdqar 

Perfectum 

''astaqätdlna 

''angal[l]dgg'i 

ü 

Impf. 

Indik. 

nästaqattdl 

"angel[l]9g 

Impf. 

Jussiv 

nästaqätdl 

'angdl[l]9g 

0, 


Vierradikaliges  Verbum. 


Tx 


Perfectum           dangdsa 

^amanddba 

tamanddba         tan 

lähsdna 

Impf.  Indik.       idandggds      yamanddddb      ydtmanddddb     yotmaJidssan 

Impf.  Jussiv      iddngds 

yamdnddb 

ydtmdndab         ydtmdhsan 

Imperativ           ddngds 

tamdndab 

Verbnm  mediae  geminatae. 

Verba  mit  einttnralen. 

Ox 

Tx 

Ox 

O3 

Tx 

Perfectum       ndbba 

tandbba 

b9Ji9Ja 

bälahkü 

taUMa 

ndbbü 

tanabdbJca 

hdMlJcl     , 

bälahMmü 

Impf.  Indik.    jndbbdb 

t9tndhbab 

tdbdhdll 

'dbalM 

inabbabü 

tdbälldhü 

Impf.  Jussiv    ydnbdb 

tdtndbab 

tdbhdll 

'sbäUh 

ydnbdbü 

tQbäUhü 

Imperativ 

tandbab 

balidll 

baWiü 

Die  unregelmäßig 

:eii  Formen  von  "flUA: 

jf)e 

yohl 

ydbdl 

t9be 

tm 

tdbal 

tdbe 

tdbl 

tdbal 

hdl 

tdbeli 

tdbli 

tdbdli 

ball 

'dbe 

'9bl 

'abal 

ibelü 

ydblü 

ibdlü 

ibelä 

yMa 

ibdlä 

tdbelü 

tdblü 

tdbalü 

bdlü 

tdbelä 

tdbU 

tdbdlä 

bdlä 

ndbe 

mbl 

n^bal 

Ge'ez-Studien.   III.                                            333 

Verbum  mediae  (D.                         Verbum  mediae  P. 

A 

Ol     §6ra 

Ol     sema                Perfectum        ^asema 

Ti     ta§dura 

Ti     tasdima                                ^asemü 
Impf.  Indik.    yäsdiyim 

• 

yäsaiyimü 
Impf.  Jussiv    ydsim 

yäsimü 

Verbum  secundae  e. 

Perfectum   Uldina            Impf.  Indik.  ndUlU            Impf.  Jussiv  ndUll 

Verbnm  secundae  ö. 

Perfectum 
Impf.  Indik. 

Ol                              Ai                                         Sts 
liöhdrat                   ^amögdsa                  ^astamwäqaha 
höbarJcan                                               ^astamwäqähna 
tdJiohbdr                 yämöggds                 nästamwdqqah 
toJiöbbarä  ^) 

Impf.  Jussiv 

tdhohdr                   yämögds                   nästamwdqdh 
tdhöhdrä  ^)                                           TN 

Imperativ 

höbarä^)                                       tantölfa 

Doppelt  sebwaches  Verbum. 

Ts      taziyändwa  (so  im  Druck,  mit  HL)« 
Sts     ^astawäddya,     ^astasanadwa 

Nomina,  Pronomina,  Partikeln. 
(S.  19—26). 

1.  Einsilbige  vokalisch  auslautende  Wörter :  m   ha   M    z^   ho, 

2.  Partikeln  und  Pronomina  (in  Pausa):  'asma  ha^dntd  haind 
^dnhaind  hdyantd  Jiabd  mangald  wd'ddd  Icamd  hazd  ^dmm  söhd 
"amd    ''dsM    ^dntd    '9l[l]d     ''dnhald    dlhd. 

Ausnahmen:  ^^iika    zdya    tiq^q\a     ''dna     "dnta    nohna 

3.  Enklitika.  1)  An  Partikeln  angehängt:  ha^dntassd  zan% 
^dm[m]aM  söhahü,  —  2)  An  andere  Wörter  angehängt:  qdhssd^) 
taghdrdni    nahdhanü    wB^dtümmd^)  ma^'zemmd^). 

4.  Alle  Wörter,  die  auf  i  ü  ä  e  ö  ausgehen,  [mit  Ausnahme 
der  suffixlosen  Formen  des  Verbum   finitum  auf  w,  ä,  t  sowie  ver- 

1)  Nach  anderer  Schulüberlieferung:  idhobldra,  tdhöhdrä,  hobdrd* 

2)  Im  Druck  fehlt  der  Accent  auf  der  letzten  Silbe. 


334  £nno  Littmann, 

schiedener  Verbal-  und  Nominalformen  mit  Suffixen]  haben  den 
Ton  auf  der  letzten  Silbe,  bötü  Jcullü  Tcantu  dä^^mü  bäJitu,  — 
rab[b]i  ^ädt  kaist  qatält  mafqari  äaJiärt.  —  q^al[l]d  'aZ[?]d  ta- 
hHä  Tcawälä  äabtarä  —  ibe  gue  bdrdl\l]e  c^dnc^ne  Äa?p]a 
'aZ:[Ä;]o  ^albo  qafö  dörho  qad[d]9s6  bäroM  degono  höbdro  dan- 
gd§Ö    masanqo    mährdlw. 

Ausnahmen :  wd^Mü    y9*dtl    'änti    ^anUmü. 

5.     Konsonantisch  auslautende  Wörter. 

a)  Wörter  mit  zwei  Konsonanten:  läi  ndd  ddq{q]  su  Uq 
qim    qäl    set    ^dm[m]     ldb[b]     rös    bok  (1.  bdhT). 

b)  Wörter  mit  drei  Konsonanten,  deren  zweiter  vokallos  ist 
oder  d  hat. 

a)  Mit  a(ä)  beim  1.  Konsonanten:  Idbh  Idwh  sdtn  bdd^ 
wdr*    wä\     lahm    ba^s    ddhn. 

[Scheinbare]  Ausnahmen :  bagg9^    mä^ddd. 

Wörter,  die  auf  GX"  und  JB  endigen:  qähdti  säMu  mähatf^ 
bdkdi(    sandi    rä'di     lähdi. 

Nomina  agentis:  sädsq  rätd  bd^dl  dägim  Mlf  säUs,  u.  s.  w» 
bis  ^äsdr^). 

[Scheinbare]  Ausnahmen:  bd^dd  Wdlc, 

Eine  genauere  Besprechung  dieser  Formen  wird  in  Teil  IV 
gegeben  werden.  Hier  sei  nur  bemerkt,  daß  bd''dd  und  Wdlc  keine 
/a'i/-Formen,  sondern  /a^Z-Formen  sind,  daher  durchaus  regelmäßig 
den  Ton  auf  dem  a  haben ;  vgl.  ba'd  in  den  alten  Inschriften.  Da- 
gegen würde  man  die  Form  dähon  erwarten,  da  die  Inschriften 
dälidn  haben,  vgl.  den  Index  zu  Deutsche  ATcsum-Expedition  Bd.  IV. 
Die  Wörter  baggd^  und  ma*ddd  gehören  natürlich  nur  dem  abessini- 
schen  Schriftbilde  nach  mit  den  vorhergehenden  Wörtern  zusammen ; 
die  Verdoppelung  des  g  in  baggd^  zeigt  sich  auch  im  Tigrifia  und 
Tigre,  und  mä''ddd  geht  auf  mä'ddt  (*mäHdat)  zurück. 

ß)  Mit  üj  %  e  beim  ersten  Konsonanten :  qüst  Uqt  hert  qeqah 
(nach  anderer  Überlieferung:  qeqdh). 

y)  Mit  ö  beim  ersten  Konsonanten:  qöbf    möqdh    möga^    höhdL 

d)  Mit  d  beim  ersten  Konsonanten :  hdlm  mMh  bdr  sdru  gdbr 
^dzh, 

Ausnahme :    ^dhdt.     Mit  dT  und  J2 :    ''dhd^    td*di     Uhdi     hetat^ 

'dSdU. 

c)  Wörter  mit  drei  Konsonanten,  deren  zweiter  einen  anderen 
Vokal   als    d  hat:    qabdr    harür    bürüJc    Jcdfül    balth    baldh    nabib 


1)  Druck:  'as^r. 


Ge'ez-Studien.  III.  385 

sayim  qatU  hdhil  saläm  hasen  qanöt  hürdt  müläd  heran 
qälät    gdhbäb  (1.  g9ldb?)    slhät    mögds    römän    qöhdr, 

d)  Wörter  mit  vier  oder  mehr  Konsonanten:  masarät  matqd* 
'ar'üt  §aräm  maUlU  räganät  7nar^dt  malahöt  §drnd^  manäf^q 
^afbdt  dahatdr  uaräzut  bürüMn  qdd[d]üsdt  naklrdn  lalihdt  masßh 
maansdh  ^alplis  nag'^adg^dd  ^asfared  häimänot  ^adbärdt  masa-^ 
ratdt  ddngü§dn  mdhrülät  ddFdnh^al  mastahq^f  mastagädü  'an- 
sdlüul  TcetrögäuUs  mastagäddJdt  mastaqätsldn.  —  qddddst  Tcdh^rt 
hürekt  mantdft  mdltdht  Jionqart  ddngdst  mdhrakt  maVdkt  wa- 
Mydzt  'ahJidrt  kaläsdst  mantöWH  matar^9st  mastagäddlt  masta- 
wädddd.  —  maslidt    matMt    mastaiväkdt    naßst.  —  ^ant4n. 

Wenn  die  Endung  -a  antritt,  so  bleibt  der  Accent  wie  vor- 
her: Idya  tad§fa.  —  qdrna  ndfha  —  ralidba  taaggdsa  —  feqro  ka- 
sdta  (gehört  nur  hierher,  weil  fdqrö  im  Akkusativ  steht).  —  nadä- 
yäna  "ab^dla. 

Wörter  im  sogen,  status  constructus  und  Partikeln  (mit  Aus- 
nahme derer,  die  auf  ^ü,  -i  endigen,  sowie  'a?[/]a)  verlieren  den 
Ton  im  Kontext. 

gdbra  sdb\  —  ^aqähe  sdräj.  —  sab^a  ^aganrnt  —  ''autära  ^dnzirä, 

^dsma  ^a2\z\dza.  —  badnta  sataivdkfa.  —  fddä  sahdVa.  —  gize 
tansd^a.  —  di^ba  ^anlidst  ^drgü.  —  beza  säb^d  mota. 

Eigennamen. 

Sie  werden  betont  wie  die  Appellativa. 

^lyäsu  "aragäwt  lalibalä  }ian[n]d  taklä  nidnäse  Htyöpydr 
^9syd  ^afräqyd  sdr  gdbs  sänd  tak[k'\azi  tak[k]aze  zäg^e  däm& 
^ak^süm  hardn  (d.  i.  Cheren)  ^asmard.  —  newäya  S9l\lYis.  —  ivdlda 
märydm.  —  gdbra  mikael.  —  it'alat[i\a  qdddüsdn.  —  ^amata  yöhands 
(so !  Aber  oben  S.  323  yöhdnos ;  die  häufigere  Aussprache  ist  aber 
wohl  yölmnnds). 

Gekürzte  Formen:  ivaldä  takla  ^asgada  gabrd  (im  Druck 
mit  dem  1.  Vokal)     taklü    gabru    kdbrd. 

Fremde  Eigennamen  sollen  wie  in  der  Ursprache  betont  werden 
[aber  wenige  Leute  in  Abessinien  werden  diese  Ursprache  kennen] ; 
jedoch  betont  nur  eine  Schule  in  dieser  Weise,  die  andere  betont 
nach  abessinischer  Weise,  daher  die  Varianten 

yäred  :  ydred,  —  yösef  :  yos^f.  —  röman  :  romän  u.  s.  w. 


336 


Enno  Littmann, 


Verbnm  mit  Suffixen. 

r 

(S.  29—33). 

3. 

Pers.  masc.  sing.  (HC'f-^)- 

Jcafalo 

ihafdlo 

ydJcfdllö 

Jcafalä 

ikafdlä 

ydkfdlU 

Jcafaldka 

jkafdldka 

yeJcfüka 

JcafaläJcl 

iJcafaldkt 

ydJifdllii 

Jcafaldm 

ikafdldm 

ydkfoldnl 

Jcafalomü 

ikafdlömü 

ydJcfollomü 

Jcafalon 

ikafdlön 

ydJcfallön 

JcafalaJcamü 

ikafdlakimü 

ydkfdlkamü 

JcafaldJcdn 

ikafaldkdn 

ydkfdlkdn 

Jcafaldna 

ikafdldna 

ydkfdldna 

Anm.:  Nach  anderer  Schulüberlieferung  wird  -kdn  stets  be- 
tont; dann  also  Jcafalakan,  ikafdlakan,  ydkfdlJcdn;  kafalatakan,  tdkafdla- 
Mn;  Jcafalükan,  ikafdlükan,  yokfdlükm  u.  s.  w. 

Hier  sind  die  Konsonanten  nach  dem  Bindelaut  nicht  verdop- 
'pelt;  vgl.  aber  wahdbänna  1.  Joh.  3i.23.24;  hfatawdnna  ib.  3i;  yä^ 
nasdJidnna  ib.  I7.9;  nezendwakkimü  ib.  li;  I5;  ''asaffawdnna  285; 
imeJi9rakk^mü  2  27 ;  idahwdnna  3  ig  ;  ^ly^Jcamvdndkka ,  oben  S.  329, 
.Z.  22;  ydtfas[s\9hdnn%  S.  331,  Z.  12  u.  a. 


3. 

Pers.  fem.  sing.  (HCi^ 

P't). 

kafdldtö 

tdkafdlö 

tdkfdllö 

kafaldtä 

tsJcafdlä 

tdJcfdllä 

hafalatdka 

tdkafdldka 

tdkfdlka 

kafalatdJci 

tdkafdldkl 

tdkfdlM 

kafalatdm 

tdkafsldni 

tdkfdldm 

kafalatomü 

tdkafdlömü 

tdkfdllömü 

Jcafaldtön 

tdkafdlön 

tdJcfdllön 

kafalatakamü             takafdlak^mü 

tdkfdlJcdmü 

kafalatdkdn 

tdkafdldkdn 

tdJcfdlJcdn 

kafalatdna 

tdkafdldna 

tdkfdldna 

2.  Pers.  masc.  sing.  (H*4.-fl). 

Mfalkö 

tdkafdlo                tdkfdllö 

kdfdllö 

kafalJcä 

tdkafdlä                 tdkfdllä 

kdfdllä 

Icafalkdnl 

tdkafdldnl            tdkfdldm 

kdßldm 

kafalkomü 

tdkafdlömü            tdkfdllömü 

kdfdllömü 

kafalkon 

tdkafdlön              tdkfMlön 

kdfdllön 

Jcafalkdna 

tdkafdldna            tdkfdldna 

kdßldna 

Ge'ez-Studien.   III. 

2.  Per». 

fem.  sing.  (H4>C-fl^). 

kafaUiyö 

tdka] 

fdliyö               tdkfdUyö 

kdßliyö 

hafalMyä 

t'dkafdUyä              tdkfdliyä 

kdßliyä 

hüfalkdni 

tdkafdUm               tdkfdUnl 

kdßUni 

kafalklyomü 

tdkafsUyÖmü          tdkfdliyomü          kdßliyömü 

kafalkiyön 

tokafoliyön            tdkfdUyön 

kdßliyön 

kafalkdna 

t^kafdlhia              tdkfsUna 

hdßUna 

1. 

Pers.  sing.  (HÄf). 

kafalküwö 

"dkafdU 

'okßllö 

kafalküwä 

'Qkafdlä 

'dkßlla 

kafalküka 

^9kaf9ldka 

'dkßlka 

kafalkukl 

'dkafdUkl 

'dkßlki 

kafalkuwömn 

\ 

^dkafdlomü 

'dkßllömü 

kafalküwön 

^dkafdlou 

'dkßllön 

kafalkükdmii 

"'dkafdlakimü 

^dkßlkdtnü 

kafalkukdn 

^dkofdldkdn 

^dkßlkdn 

3.  Pers. 

masc    plur.  [HO^^^). 

kafaJüivö 

ikafolmvö 

ydkfdlüwö 

knfalüwa 

ikafdlüivä 

ydkfdlüwä 

kafalüka 

ikafdluka 

ydkfdluka 

kafalükl 

iJiofdlükl 

ydkfdlüki 

kafalünl 

ikafdlünl 

ydkfdlüm 

hafaluwomü 

ikafdluwömü 

ydkfdlmvomü 

kafaJüwön 

ikafdlüwön 

ydkfdlüwön 

kafalükdmü 

ikafdlükdmü 

ydkfdlükdmü 

hafalukdn 

ikafdlukdn 

ydkfolükdn 

hafaluna 

ikafolüna 

ydkfdiüna 

3.  : 

Perf 

fem.  plur.  (HC'i-3'^). 

kofalähu 

ikafdläJiü 

ydkfdWm 

kafalähä 

ikafdlähä 

ydkfdlälid 

kafaläka 

ikofdläka 

ydkfdldka 

kafaläki 

ikafdläkl 

ydkfdldkl 

kafalänl 

ikafdlänl 

ydkfdldm 

kafaläJidmü 

ikafdlähomü 

ydkfdlälwmü 

Jcafalähon 

ikafdlähon 

ydhfdlähdn 

kafalakamü 

ikafdlükdmü 

ydkfdläkamu 

kafaldkdn 

ikafdläkdn 

ydkfdldkdu 

kafaläna 

ikafdidna 

ydkfdldna 

887 


Kgl.  Oes.  d.  Wiss.  Nachrichten.  Phil.-hist.  Klasse.  1918,  Heft  3, 


22 


338 

E»no  Littmann, 

2.  Pers.  masc. 

plur.  (H*4.a^). 

hafalkdmüwö 

tdkafdlüwö 

tdkfdlüwö 

kdfUüwo 

JcafalJcQmüwa 

takafdlüivä 

tdkfdlüwä 

kdßlüwä 

kafalJcdmunl 

tdkafdlünl 

t9kfdlünl 

kdßlunl 

kafalhdmuwömü 

tdkafdlnwomü         tdkfdluwömü 

kdßlüwomü 

Jcafalkdmüwön 

tdkafdlüwön 

tdkfdluivon 

kdßlüwön 

kafalkdniüna 

tdkafdlüna 

tdkfdluna 

kdfMna 

2.  Pers.  fem.  ] 

plur.  (H*4.a^). 

kafalkdnähü 

tdkafdlahü 

tdkfdläJiü 

kdßlähü 

kafalkonähd 

tskofdlähd 

tdkfdiähä 

kdßlaJid 

kafdlkdnam 

tskafoläni 

tdkfdläm 

ksßldnl 

kafalkdnähömü 

tdkafdlähomü          Mf^lähomü 

kdßlähomü 

kafalkdnähon 

tdkafdlähön 

tdkf9lah6ii 

kdßlähon 

kafalkdnäna 

tdkafdläna 

tdkfdläna 

kdßldna 

. 

1.  Pers.  p] 

lur.  (H^fhJ) 

kafalnähü, 

kafalnö 

ndkafdlo 

ndkßllö 

kafalnäJid, 

kafalnä 

fidkafdlä 

ndkßllä 

kafalndka 

ndkafdJdka 

nolßlka 

kafalnäkl 

n9kafdldkl 

ndkßlki  ^ 

kafalnähomüj  kafalnömü 

ndkafdlömü 

ndkfdllonm 

kafalnähon, 

,  kafalnön 

ndkafMon 

ndkfdllön 

kafalnäkdmü 

ndkafdlakdmü 

ndkfdikdmü 

kafalnäkdn 

ndkafdldkdn 

ndkfükdn 

Wenn  ein 

Verbum  mit  Suffix  ein  Objekt  nach  sich  hat,  werden 

die  Accente  nicht  verändert:  sataqä    labdhr   waahlafomü    ladsrael. 

Nomina  und  Partikeln  mit  Suffixei 

(S. 

34  f.). 

qälu 

kafüötu 

kafiU 

'abühü 

qalä 

kafllötä 

kafüd 

'abühd 

qäldka 

kafllötdka 

kafüäka 

qäldki 

kafllötdkl 

kaftldM 

qäUya 

kafüötdya 

kafüdya 

qälomü 

JcaftJötomü 

kafllomü 

^ahühomH 

qälon 

kaßlöton 

kafilon 

'ahühon 

qaUkdmü 

kafllötdkdmü 

kafllakdmü 

qählmi 

kafilötskdn 

kafllakan 

qäldna 

kafilötdfia 

kafildna 

Ge'ez-Studien.    III.  339 

Im  Kontext  bleiben  die  Accente:  hBtü  lahä^^l.  —  halföiü  lahd- 
J)9st.  —  qdddüsü  ladgzfabdher.  —  kamähü  lahrdstos  kona.  —  ndbdra 
dlbehü  lasaragalä.  —  mdslehomü  laglgüyän  tah**alläq*'a. 

Wörter,  die  nur  darch  diakritische  Zeichen  unterschieden  wer- 
den können  (S.  36),  sind  Ä-JH!,  mCTf:,  ^^l ,  Ü^IA.".  D.  i. 
^dha^  (wohl  =  Arfl*H)  „ich  möge  fließen",  V?a^  „nimm!".  —  setü 
„sie  verkauften",  setü  „sein  Preis".  —  ddq  „falle!",  ddqq  „Kind". 
—  Jcdfdlä  „teilet!"  (fem.),  hdfdllä  „teile  siel",  kdflä  „ihr  Teil".  — 
Dazu  vgl.  auf  S.  12:  IJf^^O^  und  5l4:A  :  setdBmü  „euer 
Preis",  semmfi  „ihr  habt  verkauft".  —  BfU  „teile!",    Bfl  „Teil". 

Die  proklitischen  Wörter  wa-,  ha-,  'f-,  la-  haben  keinen  Ac- 
cent;  wardd  „und  steig  hinab!",  —  hanasi  laivdhih.  —  hhafdla; 
ly'kdffdl ;  ^tydkfdl  u.  s.w.     Vgl.  aber  w^iiahatltm  1.  Joh.   1  5. 

Wenn  zwei  Suffixe  an  dasselbe  Verbum  antreten,  kommt  nur 
das  erstere  für  den  Ton  in  Betracht  (S.  37):  habdntyö ;  sag[g']9wd- 
ntyä;  yäsmd^dnahä;  ivahabkükdmüwä. 

Als  besondere  Zeichen  werden  noch  vorgeschlagen :  '  zur  Be- 
zeichnung des  Verbums,  '  zur  Bezeichnung  des  Substantivs,  in 
zweifelhaften  Fällen,  z.B.  gabrä'  lasddq  bd'amän^)  „er  tat  das 
Rechte  fürwahr"  ;  gabra  lasddq  ^)  „Diener  der  Gerechtigkeit"  ;  ferner 
ein  kleines  C  über  dem  letzten  Buchstaben  eines  Wortes,  falls 
dieser  einen  unbetonten  Vokal  hat. 

Schlußbemerkung  des  Verfassers  (S.  37):  „So  zweifle 
nun  niemand  mehr  an  der  Richtigkeit  dieser  Accentregeln ,  sofern 
er  es  nicht  mit  denen  hält,  die  sie  im  Gresang  {zenia)  anwenden; 
denn  wo  sie  nach  Belieben  abweichen,  machen  sie  sich  zantdl  ^aqa- 
mätü  (d.i.  „betone  falsch,  kokettire!")  zur  Regel,  indem  sie  die 
gewöhnlichen  Accentgesetze  außer  Acht  lassen;  manchmal  aber 
auch  geschieht  es,  weil  ihnen  die  Stimme  ausgeht  und  sie  nicht 
den  Accent  erfassen  läßt". 


1)  Die  Wortaccente  fehlen  im  Druck. 


22 


Die  Heimat  des  Linzer  Entechrist. 

Von 

Edward  Schröder. 

Vorgelegt  in  der  Sitzung  vom  26.  Juli  1918. 

Den  von  Hoffmann  v.  Fallersleben  in  den  Fundgruben  II  (1837) 
S.  102 — 134  aus  einer  Pergament  -  Handschrift  der  Bibliothek  zu 
Linz  veröffentlichen  'Entechrist'  einer  bestimmten  Heimat  zuzu- 
weisen ist  bisher  nicht  gelungen,  obwohl  es  mit  den  durch  Kraus 
und  besonders  Zwierzina  verfeinerten  Mitteln  der  Reimforschung 
nicht  eben  schwer  fallen  dürfte.  Scheins,  der  in  der  Zs.  f.  d.  Alt. 
16,  157  ff.  die  Unmöglichkeit  nachwies,  das  Werk  mit  einer  ver- 
lorenen Dichtung  desselben  Stoffs  von  Hartmann,  dem  Verfasser  des 
'Credo',  gleichzusetzen,  blieb  doch  bei  mitteldeutscher  Herkunft 
des  Autors  stehn,  obwohl  diese  bereits  von  Reißenberger,  Über 
Hartmanns  Rede  vom  Glauben  (Leipz.  Diss.  1871)  S.  17  Anm.  ent- 
schieden bestritten  worden  war.  Wundrack,  Der  Linzer  Entechrist 
(Marb.  Diss.  1886)  S.  6  f.  sprach  sich,  da  ihm  die  Reime  keine  Ent- 
scheidung gewährten,  auf  Grund  des  Wortschatzes  für  oberdeutsche 
Heimat  aus,  und  zwar  für  die  Gegend  in  welcher  das  Gedicht 
handschriftlich  aufgefunden  wurde,  also  für  Ober  Österreich. 

Die  dem  Ausgang  des  12.  Jahrhunderts  zuzuweisende  Hand- 
schrift stammt  nämlich  aus  dem  Benedictinerkloster  Gleunk  (ältere 
Schreibung  Gleink)  im  oberösterreichischen  Trauntal.  Aber  eben 
darauf  hatte  Scherer  eine  andersartige  Vermutung  gegründet,  und 
Kelle  ist  ihm  darin  gefolgt.  Das  um  1121  gegründete  Kloster 
(vgl.  jetzt  Hauck,  Kirchengeschichte  IV  973)  ist  eine  Stiftung  Otto- 
kars IV  von  Steiermark  und  seines  Sohnes  Leopold,  bei  der  aber 
auch  Bischof  Otto  I  von  Bamberg  mit  Gütern  und  Lehen  beteiligt 


Edward  Schröder,  Die  Heimat  des  Linzer  Entechrist.  341 

war.  Scherer  Q.-F.  1 69  wies  auf  diese  bambergischen  Beziehungen 
hin,  die  ihm  auch  für  die  litterarische  Tendenz  unseres  Gredichtes 
wegweisend  schienen,  und  hat  dieses  dann  Q.-F.  XII  35  unter 
Franken  eingereiht.  Kelle  hat  im  II.  Bande  seiner  Litteratur- 
geschichte  S.  164  diesen  Hinweis  erneuert,  ohne  Scherer  zu  nennen: 
bei  ihm  sieht  es  fast  so  aus,  als  ob  er  die  Handschrift  zur  ältesten 
Ausstattung  der  Gleunker  Klosterbibliothek  rechne,  was  natürlich 
ganz  ausgeschlossen  ist. 

Zu  einem  ganz  andern  Ergebnis  kam  Reuschel,  Untersuchungen 
zu  den  deutschen  Weltgerichts  dich  tungen  des  11.  bis  15.  Jahr- 
hunderts I  (Leipz.  Diss.  1896)  S.  11  iF.:  er  meint,  das  Werk  sei  ale- 
mannisch, und  zwar  eher  schweizerisch  als  schwäbisch.  'Mindestens 
zweimal  wurde  dann  das  Gedicht  abgeschrieben,  das  erste  Mal  in 
Mitteldeutschland  (Moselfranken?),  das  zweite  Mal  in  Bayern'. 

Aber  die  Erörterungen  von  Reuschel  sind  unsicher  tastend,  und 
die  wichtigsten  Dinge  bleiben  dabei  unberührt.  So  erklärte  denn 
Zwierzina  Anz.  f.  d.  Alt.  23,  199  die  Ausführungen  R.s  zu  Dialekt 
und  Heimat  für  'ziemlich  problematisch',  ohne  eine  eigene  Meinung 
zu  verraten,  und  Vogt  in  Pauls  Grundriß  II  2, 166  Anm.  3  urteilt: 
'Weder  durch  Wundracks  noch  durch  Reuschels  Untersuchungen 
über  die  Sprache  des  Entechrist  ist  die  Herkunft  des  Denkmals 
festgestellt'. 

Das  Gedicht  umfaßt  594  Reimpaare,  zu  deren  Feststellung 
ich  meine  Bemerkungen  zur  Textkritik  Zs.  f.  d.  Alt.  47,  289  f.  heran- 
ziehe; davon  sind  bei  Berücksichtigung  der  dialektisch-reinen  Bin- 
dungen 15  %  unrein,  das  Werk  gehört  mithin  der  Zeit  zwischen 
1160  und  1180  an,  man  mag  es  'um  1170'  datieren.  Ich  zähle 
273  einsilbig  stumpfe,  50  zweisilbig  stumpfe  Reime,  sodaß  also 
271  Reimpaare  d.  i.  fast  46  7o  klingend  sind.  Die  meisten  und 
stärksten  Unreinheiten  begegnen  natürlich  bei  den  klingenden,  wo 
die  archaischen  Reime  des  Typus  nväre :  ivcere  (107,25  f.),  hluote  igüete 
(124,  35  f.)  und  weiter  meghicrefte  :lnfte  (116,  41  f.),  töde  :  gnade  (126, 
16 f.),  houcJien  :  zeichen  (127,5—7),  lande  :  Urkunde  (123,  26 f.)  ein 
volles  Drittel  aller  unreinen  Bindungen  darstellen.  Um  so  bemerkens- 
werter ist  es,  daß  selbst  hier  nur  das  eine  gesceiden  :  Itden  131,  42  f., 
kein  Reim  ü  :  ou  und  vor  allem  keiner  der  so  überaus  beliebten  bai- 
risch-österreichischen  Reime  wie  worte:  harte,  v alt e  :  solle  begegnet. 
Die  Reime  dieser  altertümlichen  Technik  sind  also  nur  negativ 
verwertbar,  insofern  sie  nichts  für  bajuvarische  Herkunft  bieten. 
Noch  unergiebiger  sind  die  konsonantischen  Unreinheiten,  auf  die 
einzugehen    es   sich   hier   so   wenig   lohnt   als    bei   den    zweisilbig 


342  Edward  Schröder, 

stumpfen  Reimen.  Vokalisch  unrein  sind  von  den  zweisilbig 
stumpfen  nur  ligen  :  wege  (107,  39 f.)  und  die  Reime  von  e  :  e:  ent- 
svebet :  lebet  111,  12  i.,  wonach  ich  gebessert  habe  strebint :  *hebint 
112,  5  f. ;  ferner  stete  :  tete  117, 1  f.,  ;  anebete  123,  32  f. 

Unter  den  einsilbig  stumpfen  Reimen  treffen  wir  nur  ganz 
wenige  konsonantische  Freiheiten :  -s  :  -z  in  Judas :  äaz  107,  31  f. 
Ms:{dar)üz  124,  21  f.  133,  32  f.;  -t : -p  in  trat :  gap  117,  5  f.;  -c  : -ch 
creftic  :  gelich  109, 10  f. ;  überschießendes  n  in  verholn  :  sol  111,  22  f. ; 
'ic  i.'inc  in  ividirwerdic  :  dinc  108,  32  f.  Die  Qualität  des  Vokals  diffe- 
riert nur  bei  grdg-.muoz  128,  29  f.  und  bei  den  e- Reimen  her:  wer 
132,  19  f.,  unwert  lernert  121,  27  f.  und  *verfert :  swert  120,  9  f.,  die 
unter  diesen  Umständen  entscheidend  gegen  Mitteldeutschland 
sprechen  würden,  wenn  es  überhaupt  eines  derartigen  Einwandes 
bedürfte.  Es  fehlen  alle  dem  Bajuvaren  geläufigen  Reime,  wie 
wort :  vart,  mir :  tier,  sun :  tuon !  Die  Qualität  wird  nicht  berück- 
sichtigt bei  creftic : gelich  109, 10  f.,  was  wieder  gegen  Österreich 
spricht.  Das  alte  Präsens  und  Partizipium  Prät.  der  II.  schw.  Konj. 
auf  -dt  duldet  neben  5  Bindungen  auf  not  (:  eroffenöt  109,  32  f.  :  ver- 
wandelöt  130, 12  f.  :  gesamenöt  134,  3  f.)  und  tot  (:  weigeröt  123,  34  f. 
:  gelonöt  125, 15  f.)  eine  auf  got  [:  gebildot  116,  39  f.). 

In  der  Behandlung  von  -age-,  -ege-  (vgl.  Zwierzina  Zs.  f.  d. 
Alt.  44, 345  ff.)  stellt  sich  das  Denkmal  deutlich  zu  H.  Fischers 
zweiter ,  der  alemannischen  Grruppe :  d.  h.  es  kennt  neben  treit 
(:  cristenheit  131,  27)  auch  seit  (:  leit  118, 12.  :  wärheit  108, 16.  ;  cristen- 
heit  115,25),  während  irwagit :  clagit  (110,42.43)  :  sagint  (120,31), 
irzaget :  gedagit  (126,  2.  3)  sowie  magit :  sagit  (108,  20)  der  Kontraktion 
widerstreben;  beides  hält  der  Schreiber  fest. 

Bei  der  großen  Zahl  der  einsilbig  stumpfen  Bindungen  mit 
kurzem  und  mit  langem  a  ist  nun  aber  die  Strenge,  mit  der  die 
Quantität  im  Reime  geschieden  wird,  besonders  beachtenswert. 
Von  Reimen,  bei  denen  Konkurrenz  der  beiden  Quantitäten  in 
unserm  Denkmal  möglich  ist,  zähl  ich: 

alial   5x   (112, 19 f.  37 f.;    116,25f.;    121, 5f.;    125,29f.)  - 

dl  :äl  Ix  (134,  33  f.)  —  kein  al :  all 
an: an  6x  (107,7f.;   109,  24 f.;    119,  9 f.  41  f.;  122,  36 f.;  123, 

2 f.)  —  an: an  22  x  (107,  7 f.  35 f. i);   108, 10 f.  44 f. 2);   110, 

6  f.  14 f.;  111,  20 f.  36 f.  40 f.;  116,  43 f.;  118, 15 f.;    123,  6 f.; 

124, 1  f.;  128,  25  f.  451;  129,  38 f.;    130,  4 f.  34 f.;    132,  39 f.; 

133, 14  f.  36  f.)  —  kein  an  :  an ! 


1)  hän:Dän. 

2)  üzänilegän. 


Die  Heimat  des  Linzer  Entechrist.  343 

at  :at  ^x  (113,  21  f. ;  127, 18  f. ;  132,  41  f.)  -^  at :  ap  Ix  (117, 
5 f.)  —  ätiät  15  X  (118,  29 f.;  119,  3 f.  27 f.;  122,  4 f.;  124, 
40 f.;  125,  9 f.  39 f.;  130, 18 f.  20 f.  30 f.;  131,  6 f.  40 f.;  132, 
9 f.;  133,  38 f.;  134,  7 f.  —  kein  at :  ät\ 

Daß  sich  neben  diesen  15  und  38  Fällen  kein  einziger  Reim 
mit  al :  dl,  an  :  an,  at :  ät  einstellt,  ist  eine  Erscheinung,  die  in  einer 
bairisch  -  österreichischen  Dichtung  nicht  nur  dieser  sondern  auch 
die  Folgezeit,  der  Zeit  der  reinen  Reime,  ganz  unerhört  wäre. 
Die  einzigen  Abweichungen  von  dieser  strengen  Einhaltung  der 
Quantität  finden  wir  je  einmal  bei  ant  und  ar : 

ant:ant  ßx  (iöd,  4:2  t',  110,  24 f.;  119,  13 f.;  121,  35 f.;  123, 
38 f.;  132,  15 f.)  —  ant :  änt  4x  (112,  9  f.;  131, 14 f.;  132, 
5  f. ;  133,  6  f.)  —  daneben  stdnt :  want  127,  10  f. 

ar ;  ar  7  X  (110,  28  f.;  112,  27  f.;  115,  30  f.;  123, 14  f.;  130,  28  f.; 
131,  22 f.  32 f.)  —  äriär  2x  (113, 13 f.;  121,  21  f.)  —  da- 
neben bluotvar :  war  128,  35  f. 

Nachdem  dieses  Zwierzinasche  Kriterium  (vgl.  Zs.  f.  d.  Alt. 
45,  68)  uns  mit  Sicherheit  aus  dem  bajuvarischen  Sprachgebiet 
herausgeführt  hat,  werden  die  Anzeichen,  welche  deutlich  für 
Alemannien  sprechen,  besser  gewürdigt  werden.  Da  ist  zunächst 
die  charakteristische  Negation  niut  {:liut  128,24.  133,5);  dann 
weiter  das  mit  seiner  Länge  gesicherte  Adverb  üzän  (;  begän  108, 
44).  Neben  der  einen  Präsens-  und  den  fünf  Partizipialformen  auf 
-6t  (s.  0.)  fehlen  auch  volle  Vokale  in  den  Endungen  des  Nomens 
nicht:  110,  34 f.  reimt  auf  Oliveti :  seti  (mhd.  scete,  'segetes');  der 
Schreiber  hat  diese  Form  offenbar  bewahrt  und  nicht  mechanisch 
eingestellt;  und  132,  17 f.  müssen  wir  den  Reim  gewiß  lesen  als 
güeti  :benedictt;  man  erinnere  sich,  daß  noch  Hugo  von  Langen- 
stein derartige  ^-Feminina  (wie  gchörsami)  im  Reime  braucht. 

Weniger  beweisend  ist  die  Reimform  hit  (:  zU  106,2.  110,41. 
126,  6),  denn  obwohl  es  richtig  ist,  daß  die  normale  bairische  Form 
Jciut  lauten  muß  (so  chiiit :  Hut  bei  Heinr.  v.  Melk,  Erg.  109  f.), 
drängt  sich  doch  auch  bei  bairischen  Dichtern  das  bequeme  schrift- 
sprachliche Mt  (quU)  vor :  charakteristisch  ist  da  das  Anegenge,  das 
zwar  echt  bairisch  cJiot  (: gebot,  got)  reimt:  18,10.  18,43.  25,72; 
aber  daneben  das  Präsens  chit  (:  wtp,  sU)  braucht :  16, 17.  33,  9,  das 
dann  freilich  derselbe  Schreiber,  der  chot  bewahrte,  in  seit  um- 
änderte (Q.-F.  44,  3). 

Aus  dem  Wortschatz  ist  zunächst  herauszuheben  das  st.  Ntr. 
wdsigeivitere  114,23  (Sturm  auf  dem  Wasser),  das  ebenso  in  der 


344  Edward  Schröder, 

Mainauer  Naturlehre  14  begegnet  und  dessen  Varianten  {gewazgewiter^ 
gewaswiter,  wasweter)  sowie  die  Ableitung  woswittrig  die  Wörter- 
bücher ausschließlich  aus  alemann.  Quellen  belegen;  imcgewüere  im 
obd.  (Augsburger?)  Servatius  wird  man  davon  trennen  müssen. 
Dann  das  zweimal  (und  das  zweite  Mal  im  Reime!)  verwendete 
Adv.  vürdermdl  'hinfort'  184,3.33;  es  ist  anderweit  nur  bei  dem 
Thurgauer  Ulrich  v.  Zatzichoven  Lanz.  5904  und  dann  vor  allem 
bei  Hartmann  von  Aue  bezeugt,  bei  dem  es  ganz  gewiß  zu  den 
bodenwüchsigen  Idiotismen  gehört,  die  ihm  eben  darum  nur  ganz 
gelegentlich  einmal  unterlaufen :  Erec  4265,  Büchl.  1025,  Gregor  2183, 
Iwein  8080  (wozu  Lachmanns  Anmerkung,  die  deutlich  zeigt,  wie 
fremdartig  das  Wort  den  meisten  Schreibern  erschien).  Wörter 
von  landschaftlicher  Beschränkung  dürften  ferner  sein  die  selten 
bezeugten :  mune  resp.  müne  (Plur.  107, 20  :  süne)  'cogitationes'  (bisher 
nur  bei  dem  Eßlinger  Johann  v.  Würzburg  nachgewiesen :  dne  mun 
und  dne  sin  9346  u.  ö.);  sege  st.  F.  (127, 17)  vom  Fallen  resp.  Tief- 
stand des  Wassers  (zu  sigan,  vorläufig  aitoE,  £i)Qri^evov) ;  foiim  st.  M. 
(128,  34),  das  sich  freilich  über  Bayern  litterarisch  bis  nach  Ost- 
deutschland verfolgen  läßt,  findet  sich  auch  wieder  in  der  Mai- 
nauer Naturlehre  8;  gewaJit  st.  M.  (134,6)  ist  mhd.  nur  noch  in  der 
'Hochzeit'  (Waag  V.  750)  bezeugt,  und  die  Abfassung  der  aus  Kärn- 
ten überlieferten  Gredichte  'Recht'  und  'Hochzeit'  läßt  sich  jetzt 
auf  Grund  des  Zwierzinaschen  Kriteriums  der  a- Reime  mit  viel 
größerer  Bestimmtheit  als  früher  (Kraus,  Recht  u,  Hochzeit  S.  6  f., 
dazu  Anz.  f.  d.  Alt.  17,  289  f.)  nach  Alemannien  verlegen. 

Der  Nachweis,  daß  der  Linzer  Entechrist  ein  alemannisches 
Werk  ist  (wie  das  Reuschel  schon  ausgesprochen  hat,  ohne  es^ 
aber  bewiesen  zu  haben),  ist  für  die  Litteraturgeschichte  nicht 
gleichgiltig.  Man  bedenke,  wie  dürftig  unsere  direkte  Überlieferung 
für  Alemannien  aus  der  ganzen  Zeit  zwischen  Notker  und  Hart- 
mann  von  Aue  ist:  bisher  waren  es  eigentlich  nur  'Memento  Mori', 
'Mariensequenz  von  Muri',  'Rheinauer  Paulus'  —  und  dann  Heinrich 
der  Glichezare.  Zwischen  die  beiden  letztem  stellt  sich  nun  der 
Entechrist,  dem  damit  vorläufig  freilich  nur  recht  äußerlich  ein 
Platz  angewiesen  ist.  Und  vor  ihm  noch  werden  'Recht'  und  'Hoch- 
zeit' einzureihen  sein. 

Wichtig  ist  die  Feststellung  auch  für  die  Geschichte  der  Litte- 
ratursprache  in  Alemannien,  insofern  uns  das  Werkchen  neben 
der  Bewahrung  einiger  weniger  vollen  Endungen  doch  schon  den 
weit  vorgeschrittenen  Gebrauch  des  klingenden  Reims  mit  ab- 
geschwächtem e  zeigt. 


Die  Heimat  des  Linzer  Entechrist.  345 

Wie  steht  es  nun  aber  mit  der  Überlieferung  des  Gedichtes? 
Die  sich  bisher  darüber  geäußert  haben,  waren  der  Meinung,  es 
sei  durch  die  Hände  dialektfremder  Schreiber  gegangen:  Scheins, 
der  es  für  mitteldeutsch  hielt,  schob  einem  Schreiber  die  ober- 
deutschen Elemente  zu,  Wundrack,  der  es  als  oberdeutsch  er- 
kannte, fand  in  der  Handschrift  'oft  Spuren  mitteldeutscher  Schreib- 
weise', Eeuschel,  dessen  Blick  auf  Alemannien  gerichtet  war,  wollte 
eine  mitteldeutsche  und  eine  bairische  Überlieferungsstation  auf- 
spüren. 

In  Wirklichkeit  ist  die  Handschrift  so  gut  alemannisch  wie 
das  Gedicht!  —  und  das  scheint  mir  fast  das  wichtigste  an  meinem 
Fund,  daß  wir  nun  zu  den  sehr  wenigen  bekannten  alemannischen 
Handschriften  des  12.  Jahrhunderts  eine  bisher  unbeachtete  ge- 
winnen. Die  charakteristischen  Reimformen  des  Dichters  sind  von 
dem  Schreiber  nur  selten  gestört:  ich  weise  nochmals  auf  das 
dreimalige  Ä:iif,  d^uiinnan  vnt  v^an  108,44,  d^xxi  seti  110,35,  niut  128, 
24.  133,  5  hin.  Und,  was  wichtiger  ist,  die  so  gesicherten  Formen 
sind  auch  im  Versinnern  bewahrt:  so  chit  107,39,  hit  109,30; 
124,  27,  hiet  124, 15  usw.  —  kein  md.  quit^  kein  bair.  cliivt;  niut 
steht  107,8.15;  108,20.23;  109,2;  111,41;  112,32;  117,40;  119. 
28;  120,9.20.29.41  usw.  als  herrschende  Form  des  Negations- 
Adverbs  (und  -Substantivs,  vgl.  se  nivte  120, 5)  —  das  seltener 
vorkommende  tnlh  111,23;  114,32;  115,4  usw.  kann  recht  wohl 
auch  in  der  Originalhs.  daneben  bestanden  haben:  braucht  doch 
auch  der  Dichter  neben  zweimaligem  niut  im  Reim  einmal  7iieht :  lieht 
(128, 16,  geschrieben  nit);  und  noch  weniger  widerspricht  die  dritte 
Form  niwit  109,39;  121,13.  Auch  da  wo  der  Schreiber  vom  Reim- 
gebrauch abweicht,  bietet  er  entweder  bekannte  alemannische  For- 
men, wie  etwa  123,16  rappin  {:  vnbegrahiot),  oder  er  stellt  uns  doch 
solche  zur  Erwägung,  wie  in  der  öftern  Schreibung  stein,  gein 
(121,4.5.13;  126,34.35;  129,29).  Es  ist  schlechterdings  unmöglich, 
daß  ein  Werk  wie  dieses  jemals  einen  mitteldeutschen  Schreiber 
passieren  und  dabei  konstant  für  Ind.  u.  Konj.  Präs.  die  Form 
mege{n)  {1^1,7-,  114,12;  116,44;  120,18;  122,31;  125,23;  131,13), 
für  den  Konj.  Prät.  mehte  (122,3.4  [me}iti\\]  124,24)  bewahren 
konnte.  Ebenso  ist  die  Festhaltuug  der  archaischen  Formen  cristan 
(119,26;  121,15),  achtodim  (128,20),  ^iveJftun  (129,2),  oheroste  (131, 
23)  nur  eben  bei  einem  Alemannen  natürlich,  und  nur  aus  alem. 
Hss.  ist  bisher  liowescrikil  (111,39)  bekannt.  Mitteldeutsch  mutet 
gestirre  (128, 13)  an,  das  aber  sogar  durch  den  Reim  gesichert  scheint. 

Unter  diesen  Umständen  gewinnt  die  Orthographie  der  Hand- 
schrift   eine    bisher    nicht    erkannte    Bedeutung ,    was    besonders 


346  Edward  Schröder,  Die  Heimat  des  Linzer  Entechrist. 

für  die  Schreibung  der  Dentale  gilt.  Daß  sich  beispielsweise  im 
Konj.  Prät.  lüde  (122,  38)  schon  dieselbe  Dehnung  des  Konsonanten 
zeigt  wie  in  hitdirn  (122,  39),  dritde  (127,  15)  (freilich  auch  soltde 
(133,35),  sandte  Johannes  {112,  SS),  hetvtde  (127,29)),  ist  gerade 
wieder  für  Alemannien  und  speziell  Hochalemannien  charakteri- 
stisch; und  anderseits  darf  hier  doch  auch  die  Schreibung  d  für 
anlautendes  t,  die  in  unserer  Handschrift  sehr  stark  hervortritt 
(dac,  dot,  divel,  drutin,  dut,  dete,  dbivin),  keineswegs  wunder  nehmen. 
Diese  Anlauts-c?  aber  und  allenfalls  die  Schreibung  e  für  den  Um- 
laut des  ä  sind  faktisch  die  einzigen,  sehr  trügerischen  Anhalts- 
3)unkte  für  diejenigen  gewesen,  welche  bald  das  Gredicht  bald  die 
Handschrift  nach  Mitteldeutschland  setzen  wollten. 


Berichtigung  zu  oben  S.  81  Anm.  2. 

Die  Vermutung,  daß  das  im  heutigen  Hessisch  fehlende  lern  ('link')  dem  Würz- 
l3urger  Schreiber  von  Herborts  Trojanerkrieg  angehöre,  muß  ich  zurücknehmen, 
nachdem  ich  es  inzwischen  auch  in  dem  althessischen  Athis  A*  120  aufgefunden 
habe.  E.  S. 


Briefe  des  Historikers  Heinrich  Leo  an  Frau  von  Quast. 

Von 
N.  Bonwetsch. 

Vorgelegt  in  der  Sitzung  vom  18.  Oktober  1918. 

In  seinen  Briefen  an  Hengstenberg,  den  Herausgeber  der  Evan- 
gelischen Kirchenzeitung  (vgl.  diese  Nachrichten,  Phil. -bist.  Klasse 
1917  Heft  3  und  4),  gedenkt  Heinrich  Leo  wiederholt  mit  beson- 
derer Verehrung  der  Schwiegermutter  desselben,  Frau  von  Quast, 
als  einer  Frau  noch  von  altem  Schlage  und  besseren  Nerven  als 
der  Nachwuchs  (vgl.  522.  533.  548).  Nach  Hengstenbergs  Tod  (1869) 
suchte  sie  ihn  zur  weiteren  Mitarbeit  an  der  Kirchenzeitung  zu 
bestimmen,  auch  für  eine  Biographie  Hengstenbergs  zu  gewinnen. 
Dies  führte  zu  weiterer  Correspondenz.  Durch  die  Grüte  der  Enkelin 
Hengstenbergs,  Fräulein  Therese  Hengstenberg  in  Berlin,  von  der 
die  Königliche  Bibliothek  die  Sammlung  der  Briefe  an  Hengsten- 
berg erhalten,  sind  mir  auch  diese  Briefe  zur  Verfügung  gestellt 
worden.  Sie  bieten  eine  wertvolle  Ergänzung  der  an  Hengsten- 
berg selbst  gerichteten.  Sie  zeigen  Leo  als  einen  schwer  er- 
Itrankten  Mann.  Aber  die  ganze  Eigenart  seines  Wesens  tritt  in 
ihnen  noch  unmittelbarer  hervor,  ja  wohl  nirgends  läßt  sie  sich 
in  dem  Maße  erkennen,  wie  in  diesen  Briefen.  Der  Zeitraum,  dem 
sie  angehören  ist  ein  kurzer  1869—1871,  aber  eben  1869 — 71.  Sie 
zeigen  daher  sein  in  innerster  Beteiligung  erfolgtes  Miterleben  der 
großen  Vorgänge  des  Jahres  1870,  so  sehr  auch  da  manches  seinen 
Wünschen  nicht  entsprach  und  so  sehr  er  auch  das  Bedenkliche 
der  Entwicklung  nach  dem  Krieg  vorausschaute.  Zur  Wertung 
der  Briefe  dürfte  schon  genügen,  wie  Le'o  der  Auseinandersetzung 
mit  England  als  einer  viel  ernsteren  als  der  mit  Frankreich  ent- 
gegensieht. 


348  ^-  Bonwetsch, 

[6.  6.  1869].  Verwundert  und  erfreut  zagleich  habe  ich,  meine- 
innig  verehrte  Grönnerin  und  Freundin!  die  fast  blitzschnelle  Ant- 
wort auf  meinen  kurzen  Brief  erhalten  —  verwundert,  daß  es  Ihnen 
verehrteste  Frau  möglich  geworden  ist,  in  der  ohne  Zweifel  co- 
lossalen  Unruhe  der  letzten  Tage,  auch  Zeit  zu  finden  für  mich  — 
erfreut,  weil  ich  daraus  schließen  darf,  daß  es  wenigstens  Ihnen 
unter  den  so  von  allen  Seiten  zusammenbrechenden  Verwandten 
noch  nicht  an  Lebenskräften  mangelt,  über  allem  diesen  Jammer 
oben  zu  bleiben  und  geistige  Elasticität  genug  zu  behalten,  auch 
an  mich  unbedeutenden  Trabanten  Ihres  Hauses  zu  denken.  Ich 
wundere  mich  mit  um  so  mehr  Grund  darüber  meinerseits,  als  ich 
in  Folge  eines  Nervenleidens  seit  September  voriges  Jahres  mit 
einemmal  um  alle  Elasticität  des  Körpers  und  Greistes  gekommen 
bin;  wenn  auch  die  Lähmung,  die  ich  anfangs  in  den  Füßen  fühlte^ 
sich  in  hohem  Grade  gebessert  hat,  so  daß  ich  wieder  ohne  Stock 
sogar  (was  mir  anfangs  das  schwerste  war)  auch  Treppen  herunter 
gehen  kann,  und  der  anfangs  mit  solchen  Versuchen  verbundene 
Schwindel  sich  fast  ganz  verzogen  hat,  bin  ich  doch  noch  immer 
moralisch  wie  gelähmt;  in  meinen  Vorlesungnn  habe  ich  alle  le- 
bendige Heproductionskraft  verloren  und  bin  fast  ganz  auf  meine 
alten  Hefte  verwiesen,  aller  innere  Antrieb  ist  wie  ausgebrannt, 
die  Poesie  ist  fort,  das  Phlegma  ist  geblieben!  — Daß 
Sie  diesen  kläglichen  Zustand,  in  dem  ich  mich  befinde . . ,  noch  nie- 
persönlich an  mir  gekannt  haben,  dieses  hilflose  Versinken  in  eine 
energielose  Gleichgültigkeit  und  Interesselosigkeit,  die  mich  fast 
jeder  Bethätigung  unfähig  macht,  so  daß  ich  auch  meine  Lehr- 
thätigkeit  nur  wie  ein  matter  Esel  einen  Karren  mühsam  fort- 
schleppe —  dies  allein  kann  Sie,  meine  Hochverehrteste  Gönnerin  l 
auf  den  Gedanken  gebracht  haben,  ich  sei  der  rechte  Mann,  un- 
serem lieben,  unvergeßlichen  Hengstenberg  auch  ein  öfiPentlichea 
Denkmal  zu  stiften  —  mir  dagegen  erscheint  es,  wenn  ich  zu  Ihrer 
Aufi'oi'derung  Ja  sagen  wollte ,  nur  wie  die  ärgste  Selbstverblen- 
dung, deren  ich  doch  nur  in  äußerster  Geistesschwäche  und  Ver- 
kennung meiner  Kräfte  fähig  sein  könnte.  Vielleicht  kehren  meine 
Gräfte  noch  einmal  wider,  zunächst  aber  erschiene  es  mir  fast  wie 
ein  Frevel  an  dem  Andenken  des  Seligen,  wenn  ich  mich  in  meiner 
Liebe  zu  ihm  hinreißen  ließe,  diese  ßolle  in  meiner  Dankbarkeit 
zu  übernehmen.  Eine  solche  Schrift  müßte  ja  vor  allen  Dingen 
schlagend  und  in  scharfen  Umrissen  die  Verdienste  des  Seligen  in 
seinem  wissenschaftlichen  und  kirchenpolitischen  Thun  hervorheben 
—  allein  dazu  fehlen  mir  sogar  die  Kenntnisse,  denn  wenn  ich 
auch  einen  großen  Theil  der  Schriften  Hengstenbergs  gelesen  und 


Briefe  des  Historikers  Heinrich  Leo  an  Frau  von  Quast.  349 

mehreren  von  ihnen  erst  das  Verständniß  einiger  der  Bücher  der 
Bibel  zu  verdanken  habe,  so  daß  Er  sie  mir  gewissermaßen  erst 
-erobert  und  entdeckt  hat  (z.  B.  die  Offenbarung  Johannis  und  das 
Hohe  Lied,  die  mir  früher  unverständlich,  ja!  sogar  unangenehm 
waren)  so  fehlen  mir  doch  so  sehr  weitere,  umfassendere  objective 
Kenntnisse  über  diese  Dinge,  daß  ich  bei  jeder  Zeile  zittern  müßte, 
ob  ich  nicht,  wie  es  so  häufig  Schülern  bei  Aeußerungen  über  ihre 
Lehrer  geht,  Dinge  drucken  ließe,  die  Hengstenbergs  Andenken 
eher  compromittirten  als  feierten ;  und  so  bin  ich  auch  wohl  seinen 
Aeußerungen  über  die  Stellung  zur  Kirche  treu  überall  gefolgt, 
habe  mich  auch  den  von  ihm  ausgesprochenen  und  verfochtenen 
Ansichten  fast  überall  angeschlossen,  aber  ich  habe  das  nie  mit  einem 
so  geschäftsmäßigen  Gredächtniß  und  mit  der  eindringenden  Auf- 
merksamkeit gethan,  daß  ich  nicht  auch  da  fürchten  müste,  zumal 
bei  dem  in  der  letzten  Zeit  eingetretenen  Taubwerden  gewisser- 
maßen meines  Gedächtnisses  für  Einzelheiten,  ungehöriges  nider- 
zuschreiben,  was  mich  vielleicht  in  Kurzem  furchtbar  reuen  würde. 
Ich  habe,  seit  ich  der  oben  angedeuteten  Nervenschwäche  verfallen 
bin,  mich  wohl  gehütet,  irgend  etwas  drucken  zu  lassen  —  nur 
im  Volksblatt  habe  ich  ein  Paarmal  kleine,  fast  ganz  auf  von  an- 
deren gebrachtes  Material  sich  beziehende  Arbeiten  gebracht  — 
und  übrigens  im  Gefühl  meiner  Gebrechlichkeit  und  der  dieselbe 
notbwendig  begleiten  müssenden  Lebensklugheit  geschwiegen ;  sollte 
ich  nun  mit  einemmale  so  aller  Discretion  gegen  mich  und  gegen 
das  Andenken  eines  so  verehrten  Freundes  vergessen  und  eine 
solche  Arbeit,  wie  Sie  mir  zudenken,  in  meine  schwachgewordene 
Hand  nehmen?  Das  können  Sie  unmöglich  —  das  können  Sie  in 
Hengstenbergs  Interesse  nicht,  das  können  Sie  in  dem  Interesse, 
was  ich  eitel  genug  bin,  Ihnen  auch  noch  für  mich  beizumessen, 
nicht,  das  können  Sie  unmöglich  wünschen. 

Verzeihen  Sie,  wenn  ich  es  also  wage  im  Interesse  der  Sache 
diesmal  mich  Ihren  Wünschen  unfügsam  zu  erweisen  —  das  La- 
zareth  entbindet  ja  auch  im  übrigen  Leben  einen  Ritter  des 
Dienstes  seiner  Dame  —  und  im  Lazareth  bin  ich,  wenn  ich  auch 
in  freier  Luft  herumgehe  und  täglich  meine  Stunde  Vorlesung  im 
Schweiße  meines  Angesichts  und  in  innerer  Beschämung  herunter- 
würge.    In  unverbrüchlicher  Liebe  und  Treue  der  Ihrige     H.  Leo. 

Halle  den  6ten  Juni  18ö9. 

[13.  6.  1869].  Verzeihen  Sie,  meine  gnädige  ungnädige,  dasz 
ich  mehrere  tage  habe  vergehen  lassen,  ohne  Ihnen  zu  antworten, 
aber  Sie  gaben  mir  so  fest  und  unumwunden  auf  den  köpf  hinauf 


350  ^'  Bonwetsch, 

schuld,  dasz  ich  flansen  mache,  gar  nicht  krank  sei  und  gar  nicht 
wolle;  so  dasz  die  sache  mir  vollkommen  imponirte,  und  ich  wirk- 
lich der  meinung  war,  ich  müsze  doch  genau  mich  prüfen,  ob  ich 
denn  krank  sei  oder  nicht.  Deshalb  beschlosz  ich  also  erst  heute,. 
Sonntag  den  13ten  jnni  zu  schreiben  und  die  tage  bis  dahin  mit 
mir  genaue  rechnung  zu  halten.  Das  habe  ich  nun  gethan  und  kann 
doch  nicht  anders  als  wieder  schreiben :  ja !  ich  bin  zwar  nicht  in 
einer  fieber-  oder  sonstigen  acuten  krankheit,  aber  krauk  und  schwach, 
an  leib  und  seele  bin  ich  doch  —  denn  erstens  ich  trinke  auf 
befehl  des  arztes  Eger-Franzensbrunnen  was  das  zeug  hält,  zwei- 
tens ich  habe  von  vorigem  September  bis  zu  letzten  Ostern  ge- 
hinkt wie  ein  vom  schlage  getroffener . . ,  drittens  habe  ich  mich 
auch  geistig  fast  ohne  alle  productionsfähigkeit  gefühlt  und  end- 
lich viertens  hat  auch  pastor  Besser,  der  zu  pfingsten  bei  mir 
war,  mir  frischweg  erklärt,  als  mich  im  juni  1866  der  leichte 
Schlaganfall  getroffen  gehabt  habe  und  er  mich  kurz  hernach  be- 
sucht habe,  habe  er  mich  lange  nicht  .so  verändert  gefunden,  als 
dieses  jähr,  wo  ich  durch  mein  zitteriges  stehen  und  unruhiges 
herumtrippeln  ihm  einen  völlig  greisenhaften  eindruck  mache,  als 
seie  ich  seit  vorigem  jähre  nicht  ein,  sondern  zehn  jähre  älter 
geworden  —  summa  summarum  ich  bin  krank,  ich  musz,  wenn 
es  eine  lüge  ist,  wie  Sie  zu  behaupten  die  gute  haben,  doch 
alles  respectes  ungeachtet,  den  ich  vor  Ihrem  urtheil  habe,  bei 
dieser  lüge  bleiben.  Körperlich  allerdings  bin  ich  fast  ganz 
wider  hergestellt,  aber  geistig  hängt  mir  noch  gewaltige  schwäche 
an  —  hauptsächlich  und  mich  am  meisten  und  härtesten  treffend, 
le  defaut  de  memoire  —  wenn  ich  mich  noch  so  gut  vorbereitet 
habe  und  auf  das  catheder  komme,  ohne  mein  wohlausgearbeitetes 
heft  in  der  tasche,  bin  ich  ein  verlorener  mann.  Das  beste  zeugniS 
darüber  ertheilen  mir  die  Studenten  durch  ihr  ausbleiben  —  ia 
meiner  historischen  Vorlesung  sind  nur  4  angemeldete  Studenten, 
und  von  diesen  fehlen  oft  zwei,  ja  einmal  schon  dreie  so  dasz  ich 
vor  einem  lesen  muste  —  und  wirklichen  fleisz  und  eifer  finde 
ich  nur  noch  in  einer  sprachlichen  Vorlesung  über  isländische 
spräche,  in  der  ich  abschnitte  aus  der  Edda  erkläre.  Ob  ich  je- 
mals wider  dazu  kommen  werde  eine  Vorlesung  auf  dem  catheder 
mit  einer  gewissen  freiheit  und  frische  zu  reproduciren,  das  weisz 
ich  noch  nicht  —  kurz!  ich  bin  in  einem  ähnlichen  zustande  wie 
unser  theologischer  College  [Julius]  Müller  —  nennen  Sie  das  ge- 
sundsein ?  —  nennen  Sie  das  eine  eingebildete  krankheit  ?  Ich  kann 
es  wahrhaftig  nicht  ?  Ich  bin  ja  auch  zu  diesem  zustande  gekommen 
wie  durch  einen  zweiten  schlaganfall  —  ich  gieng  eines  sonntag's 


Briefe  des  Historikers  Heinrich  Leo  an  Frau  von  Quast.  351 

im  vorigen  September  gegen  mittag  aus,  zu  einem  spatziergang 
auf  die  buschige  höhe  hinter  Kosen  —  gleich  beim  austritt  aua 
meiner  wohnung  begegnet  mir  ein  kleines  munteres  mädchen,  eine 
tochter  meines  Schülers  und  freundes  Vorreiters,  der  als  lehrer 
in  Gütersloh  gestorben  ist;  das  kleine  ding  fragt  mich,  wo  ich 
hin  will  und  ich  sage  ihr,  ich  wolle  spatzieren  gehn,  da  fragt  sie, 
ob  sie  mitgehen  dürfte,  ich  erlaube  es  und  sie  läuft  ins  haus,  um 
von  ihrer  mutter,  der  doctorin  Vorreiter,  einer  tochter  des  doctors 
Eosenberger,    bei   dem   ich   wohnte,   ebenfalls  erlaubniß  zu  hohlen 

—  und  nun  kömmt  sie  wider,  und  schieszt  wie  ein  pfeil  vor  mir 
her,  den  berg  in  die  höhe;  da  neben  dem  gebahnten  wege  eine 
menge  sehr  steile  stellen  waren,  und  sie  nach  allen  seiten  herum- 
quirlte, kam  ich  in  die  gröseste  angst,  sie  möge  einen  bösen  fall 
thun,  und  so  kam  ich  endlich  auf  der  höhe  ganz  abgehetzt  an,  und 
setzte  mich  in  der  Sonnenhitze,  um  auszuruhen  auf  einen  stein  in 
pralle  sonne;  abwärts  gieng  es  noch  übler,  denn  sie  hatte  ein 
kleines  kind  in  einem  wägeichen  erblickt,  wie  es  von  einer  Schwester 
desselben  gezogen  war,  und  letztere  rief  sie,  ob  sie  ihren  kleinen, 
bruder  sehen  wolle,  er  sähe  so  hübsch  aus,  da  war  kein  halten 
mehr  und  in  einem  stürm  flog  sie  den  berg  abwärts,  ich  hinterher, 
bis  ich  sie  wider  unten  hatte,  und  so  kam  ich  nicht  wie  von  einem 
spatziergang,  sondern  wie  von  einer  hetzjagd  unten  an.  Als  ich 
anderes  morgens  aufstehen  wollte,    war   mein  linkes  bein  gelähmt 

—  ich  glaubte  mir  bei  der  jagd  am  vorigen  tage  den  fusz  oder 
das  knie  verdehnt  zu  haben  und  rieb  meine  gelenke  des  linken 
fusses  stark  mit  kampferspiritus  und  arnica  ein,  aber  nicht  nur 
half  das  nichts,  sondern  diese  einreibungen  hatten  mich  auch  so 
aufgeregt,  dasz  ich  in  der  folgenden  nacht  nicht  einen  augenblick 
schlafen  konnte  —  ich  setzte  die  einreibungen,  aber  nur  mit  ar- 
nica, noch  etwa  14  tage  fort,  aber  sie  halfen  nichts;  als  ich  dann 
wider  nach  Halle  kam,  sagte  mir  mein  arzt,  diese  einreibungen 
würden  mir  überhaupt  nichts  helfen,  denn  es  sei  keine  gelenkver- 
dehnung  sondern  die  lahmheit  rühre  von  einer  Irritation  der  rücken- 
marksnerven  her:  er  verschrieb  mir  ein  pulver,  dessen  hauptbe- 
standtheil  schwefeleisen  war,  ich  konnte  bald  wieder  gehen  aber 
nur  am  stocke,  und  alles  abwärtsgehen,  namentlich  auf  treppen 
war  mit  starkem  schwinde!  und  groszer  angst  dasz  ich  fallen 
möge  verbunden ,  sogar  das  aussteigen  aus  einem  wagen  machte 
mir  angst,  nur  abends,  wenn  es  dunkel  war,  gieng  die  sache  ohne 
fremde,  hilfe  und  ohne  Schwindel.  In  diesem  zustande  war  ich 
noch  kurz  vor  weibnachten  in  Berlin  im  Herrenhause ;  und  dabei 
wurde  mir,   wenn  ich   im   zusammenhange   sprach   wie   betrunken 


352  N.  Bonwetsch, 

gewissermaszen  nnd  nachdem  ich  aufgehört  hatte  zu  sprechen, 
hatte  ich  beim  gehen  das  gefühl,  als  hätte  ich  sand  in  den  strumpfen. 
Das  hat  sich  nun  alles  wider  gebeszert;  ich  kann  wider  gehen, 
.auch  ohne  stock;  der  schwinde!  ist  weg  und  namentlich  seit  ich 
seit  etwa  3  wochen  Eger  Franzensbrunn  trinke  fühle  ich  mich  täg- 
lich wieder  frischer  und  ich  hoffe  wenn  die  ferien  kommen  und 
ich  meine  Vorlesungen,  die  mich  fortwährend  ängstigen,  eine  zeit 
lang  ganz  los  bin,  wird  alles  wider  in  Ordnung  kommen  —  aber 
für's  erste  bin  ich  noch  krank,  Sie  mögen' s  glauben  oder  nicht, 
und  eine  arbeit  deren  mislingen  mich  schmerzen,  deren  Vorsatz 
trotz  meiner  inneren  gelähmtheit,  so  lange  er  nicht  ausgeführt 
wäre,  mich  ängstigen  würde,  wäre  das  beste  mittel,  eine  eigentliche 
genesung  unmöglich  zu  machen,  und  mich  in  einem  zustande  fest- 
zuhalten, wie  ihn  der  arme  Wilke  nun  schon  seit  einigen  zwanzig 
Jahren  trägt.  Ich  wundere  mich  übrigens  über  meinen  zustand 
nicht  im  mindesten.  Ich  kann  nun  seit  225  jähren  rückwärts  meine 
familie  urkundlich  verfolgen  —  mein  vater  starb,  wie  er  42  jähre 
alt  war,  am  nervenschlage;  mein  groszvater,  wie  er  49  jähre  alt 
war,  am  nervenschlag :  mein  urgroszvater,  wie  er  42  jähr  alt  war, 
am  nervenschlag:  mein  ururgroszvater,  wie  er  56  jähre  alt  war, 
am  nervenschlag  —  ich  bin  der  erste  in  dieser  ganzen  reihe,  der 
^as  60 te  jähr  erreicht  hat  und  bin  nun  sogar  volle  70  jähre  alt, 
so  dasz  ich  in  die  wege  meiner  mutter  und  groszmütter  einzubiegen 
scheine;  meine  mutter  starb  im  75ten,  meines  vaters  mutter  im 
75ten,  meines  groszvaters  mutter  im  80ten,  meines  urgroszvaters 
mutter  freilich  im  kindbett  mit  ihm,  mit  ihrem  ersten  kinde,  also 
jung. 

Dasz  ich  so  alt  geworden  bin,  ist  mir  selbst  ein  blaues  wunder 
—  als  Student  habe  ich  mehrere  jähre  tief  in  der  demagogie  ge- 
steckt und  in  dieser  zeit,  wie  viel  botengänge  mit  wenig  geld  und 
groszer  anstrengung  fast  durch  ganz  Deutschland  gemacht.  Ich 
bin  einmal,  wo  mir  das  geld  ausgieng  und  ich  mit  den  letzten  paar 
groschen  noch  nach  Grießen  gelangen  mußte,  die  ganze  strecke  von 
Nassau  an  der  Lahn  bis  Grießen,  zehn  meilen,  wobei  ich  mich  noch 
zuletzt  so  verlief,  daß  ich  auf  das  falsche  Lahnufer  kam,  in  einer 
tagtour  gelaufen^);  und  ähnliche  märsche  mehrfach;  ebenso  habe 
ich  dann  als  die  demagogischen  Untersuchungen  begannen  4  jähre 
von  Ostern  1819  bis  ostern  1823,  wo  ich  meinen  frieden  mit  herrn 
von  Kamptz  machte,  eigentlich  in  steter  angst  gelebt,  denn  nicht 
■blosz  Kamptz  sagte  mir,    sie    hätten   mich  für   einen   mittelpunct 


1)  Vgl.  Heinrich  Leo,  Meine  Jugendzeit,  Gotha  ISSO,  S.  211. 


Briefe  des  Historikers  Heinrich  Leo  an  Frau  von  Quast  353 

der  ganzen  demagogie  gehalten  und  doch  nirgends,  weder  in  Göt- 
tingen,  noch  in  Jena,  sondern  er^t  in  Rudolstadt  faszen  können 
und  da  sei  offenbar  mein  verhör  ganz  schlecht  geführt  worden, 
weshalb  sie  mich  nochmals  in  Erlangen  hätten  verhören  laszen, 
wo  aber  offenbar  mein  verhör  ganz  dumm  geführt  worden  sei. 
Es  ist  ganz  richtig,  wäre  ich  früher  als  in  Rudolstadt  und  da 
nicht  so  verhört  worden,  dasz  mir  das  Mainzer  requisitorium  am 
morgen  vor  dem  verhör,  was  des  nachmittags  erfolgte,  vorgelesen 
worden  und  so  gehalten  worden,  dasz  ein  vetter  und  alter  freund 
meiner  familie  es  gehalten,  der  darauf  hielt,  dasz  auch  nicht 
ein  wort,  woran  man  mich  hätte  faszen  können,  in  das  protokoll 
kam,  so  wäre  ich  in  die  ganze  Untersuchung  verstrickt  und  am 
ende,  wie  andere,  die  minder  betheiligt  waren  als  ich,  zum  tode 
verurtheilt  und  auf  25  jähr  festung  begnadigt,  vielleicht  wie  eben 
diese  anderen  mit  10  jähren  schon  entlaszen  worden  —  aber  meine 
ganze  lebensbahn  wäre  doch  zerstört  worden  —  und  diese  besorgaiß 
liat  mich  4  jähre  begleitet  und  ward,  wenn  ich  sie  einmal  ein 
wenig  vergeszen  hatte,  immer  in  wanderbarster  aber  glücklich 
immer  rettender  weise  erneuert  —  so  in  Göttingen,  wo  ich  einmal, 
als  ich  früh  8  uhr  aus  der  Vorlesung  kam,  an  meiner  thüre  einen 
Zettel  befestigt  fand,  der  mir  andeutete,  wenn  mir  an  meiner 
Sicherheit  etwas  liege,  möge  ich  machen,  dasz  ich  bis  11  uhr  aus 
der  Stadt  sei  —  so  in  Rudolstadt  wo  mich  eines  schönen  morgens 
(als  ich  schon  in  Erlangen  privatdocent  und  während  der  ferien 
zu  hause  war)  der  geheimrath  von  Beulwitz  rufen  liesz  und  mich 
mit  dem  Mainzer  requisitorium  bekannt  machte  und  für  den  nach- 
mittag das  verhör  ankündigte ;  so  wider  in  Erlangen,  als  ich  wider 
dahin  zurückgekehrt  war,  und  mich  eines  schönen  abends  der  stadt- 
commissar  (polizeichefj  Wöhrnitz  rufen  liesz  und  dann  ein  wirklich 
dummes  verhör  hielt,  wobei  er  eine  in  Frankfurt  mit  tausenden 
von  Unterschriften  versehene  und  abgegebene,  in  ganz  Deutschland 
colportirte  petition  —  mit  einer  nie  stattgehabten  an  den  groß- 
herzog von  Darmstadt  —  verwechselte,  so  dasz  ich  ohne  zu  lügen, 
alle  seine  fragen  verneinend  beantworten  konnte,  während  ich 
selbst  einer  der  drei  verfaszer,  jener  ersten  eigentlich  in  den 
Mainzer  anfragen  gemeinten  petition  gewesen  war,  und  sie  selbst 
1818  auf  dem  Eulbacher  markte  im  Odenwalde  den  beiden  Colpor- 
teuren,  herrn  von  Mühlenfels,  damals  stattanwaltsgehülfe  in  Cöln, 
und  dem  Advocat  Heinrich  Hofmann  in  Darmstadt  übergeben  hatte. 
[Vgl.  Meine  Jugendzeit  S.  206]. 

Und  wie  habe  ich  sonst  bald  in  toller  last,  bald  in  toller  angst 
oder  entschloszenheit  auf  meinen  armen  körper  gewüthet,  auch  ab 

Kgl.  Ges.  d.  Wiss.  Nachrichten.    Phil.-hist.  Klasse.    1918.    Heft  3.  23 


354  N.  Bonwetsch, 

und  zn  durch  anstrengende  arbeit  auf  meinen  geist  —  und  das 
alles  hat  doch,  o  wunder  gottes!  sieben  zig  jähre  gehalten!  und 
scheint  noch  länger  halten  zu  wollen. 

Nun  also:  trotz  alledem:  ich  bin  krank  —  verstehe  Sie 
aber  aufrichtig  gestanden,  auch  nicht  recht,  was  Sie  von  mir  wollen 
—  also:  einen  lebensabrisz  nicht,  und  darin  haben  Sie  jedenfalls 
recht.  Tauscher  [der  neue  Herausgeber  der  Evang.  Kirchenzeitung] 
fordert  mich  eben  zu  einem  solchen  auf  und  verspricht  mir  von 
Hengstenbergs  Bruder  material  dazu,  soviel  ich  brauche  —  ich 
denke  aber  auch  das  macht  beszer  ein  anderer,  der  auch  einen 
theologischen  beruf  und  vorrath  dazu  hat.  Aus  Ihrem  briefe 
möchte  ich  schlieszen,  dasz  Sie  sich  eigentlich  dächten,  ich  sollte 
eine  geistige  rackete  steigen  laszen ,  zu  des  lieben  Hengstenberg 
todtenfeier  —  aber  erstens  könnte  ich  das  doch  nicht  beszer  machen, 
auch  nicht  ernster  und  verehrender,  als  es  Nathusius  in  der  nr.  45 
seines  volksblattes  es[!]  schon  gemacht  hat  —  und  sodann  was 
glauben  Sie,  dasz  jetzt  das  nützen  könne.  Unsere  zeit  reitet  so 
schnell,  wie  die  todten,  denn  sie  ist  selbst  eine  todte  —  es  ist 
weit  beszer  für  Hengstenbergs  andenken,  und  für  das  weiterfort- 
wirken seines  andenkens,  wenn  die  evangel.  Kirchenzeitung  in  der- 
selben festen,  klugen  und  unwankenden  weise  weiter  getragen 
wird  ,  wie  bisher.  Sie  ist  doch  sein  schönstes  und  dauerndstes 
monument,  und  sie  zu  hüten,  ihr  zu  helfen,  so  viel  jeder  nur  ir- 
gend kann,  das  halte  ich  für  etwas  weit  bedeutenderes  und  wich- 
tigeres, als  zehn  racketen  die  ich  losliesze.  In  diesem  sinne  werde 
ich  auch  Tauscher  antworten.  ^ 

Vor  allen  dingen,  ehe  ich  nach  irgend  einer  seite  etwas  irgend 
wie  bedeutenderes  thun  kann  mit  der  feder,  muß  die  moralische 
Seekrankheit,  an  der  unsere  zeit  leidet  wider  soweit  vorüber  sein, 
dasz  ich  sie  selbst  abgeschüttelt  habe,  dazu  gehört  aber  auch  vor 
allem,  dasz  ich  zunächst  nichts  mit  der  kreutzzeitung  zu 
thun  bekomme.  Wenn  das  irgend  einen  vernünftigen  sinn  hat,, 
dasz  Bismarck  die  prächtige  zeit  des  krieges  und  sieges  nicht  nur 
hat  vorüber  gehen  laszen,  ohne  durch  irgend  einen  schritt  dem 
parlamentarischen  wesen  einen  tieferen  knick  zu  geben,  so  kann 
es  doch  nur  der  sinn  sein,  dasz  er  durch  Überkröpfung  der  zeit- 
genoszen  mit  parlamentarischen  redeanstalten,  mit  reichstag,  zoll- 
Parlament,  directen  wählen  etc.  etc.  gleich  den  äuszersten  gipfel 
all  dieses  unsinnes  hat  erreichen  und  die  leute  mit  parlamenta- 
rischer langeweile  die  kröpfe  hat  so  voll  laden  wollen,  dasz  ihnen 
übel  und  weh  werden  sollte  —  dazu  hätte  aber  gehört,  dasz  die 
conservativen  Zeitungen  nicht  blosz  das  langweilige  zeug  abdruckten,. 


Briefe  des  Historikers  Heinrich  Leo  an  Frau  von  Quast.  366 

sondern  auch  von  höhn  und  spott  überfloszen  auf  die  philiströse 
eitelkeit  und  Phrasendrescherei  und  hundertmal  wider  holt  hätten, 
dasz  sie  ihr  geld  an  solchen  verdammten  plunder  von  parlamen- 
tarischen lumpenreden  verschwenden  müsten,  die  im  publicum  doch 
kein  einziger  verständiger  mensch  vor  purer  langer  weile 
mehr  lesen  können.  Davon  aber  ist  sehr  wenig  zu  lesen  gewesen 
sondern  nur  die  weitschweifigst  abgedroschenen  philisterreden.  Auch 
hat  Beutner  [Redakteur  der  Kreuzzeitung]  seinem  muthe  gar  kein 
groszes  denkmahl  errichtet,  dasz  er  die  schwächliche  haltung  der 
regier ung  der  Usedomschen  note  und  Lamamoraschen  publication 
gegenüber,  gar  nicht  gestriechelt  hat.  Dasz  unsere  regierung 
daran  gedacht  hat,  Böhmen  und  Ungarn  zu  revolutioniren,  ist 
nach  der  proclamation  mit  der  unsere  truppen  in  Prag  eingerückt 
sind  und  nach  der  herstellung  der  ungarischen  legion  gar  nicht  zu 
leugnen  —  warum  hat  man  da  nicht  die  courage,  die  Usedomsche 
note,  die  ja  doch  nur  den  dreiklang  mit  jenen  beiden  thaten  voll 
macht,  selbst  auf  sich  zu  nehmen  ?  und  zu  erklären,  ja !  da  wir 
einmal  krieg  hatten  mit  Oestreich  und  zwar  in  nothwehr,  weil 
dies  uns  verderben  wollte,  waren  wir  auch  entschloszen  Oestreich 
wo  möglich  zu  gründe  zu  richten,  wer  will  uns  das  übelnehmen? 
Freilich  hätten  wir  auf  diesem  wege  auch  wahrscheinlich  krieg 
mit  Frankreich  bekommen  —  aber,  wenn  das  nur  geschehen  wäre ; 
es  wäre  1866  ein  wahres  glück  gewesen  —  die  Franzosen  hätten 
schlieszlich  doch  auch  hiebe  bekommen,  wie  unser  volk  bis  auf  den 
kleinsten  mann  überzeugt  und  entschloszen  war,  und  das  rhein- 
landevolk  wäre  durch  die  angst,  die  es  durchgemacht  hätte,  uns 
noch  etwas  beszer  \serbunden  worden  als  durch  den  sieg  in  Böhmen 
allein. 

[3.  Juli  1869].  Meine  hochverehrteste  gönnerin  und  freundin  f 
Zweimal  mahnen  Sie  mich,  dasz  mein  letzter  brief  keinen 
schluz  gehabt.  Ich  kann  das  nur  so  verstehen,  dasz  der  formale 
schlusz  gefehlt  habe,  was  ich  gern  glaube,  aber  wenn  Sie  darauf 
bestehen,  Sie  müsten  den  Schluß  auch  noch  haben,  so  können  Sie 
doch  unmöglich  wünschen,  dasz  ich  Ihnen  einen  formalen  brief^ 
schlusz  auf  einen  briefbogen  schreibe,  zu  einem  briefe,  den  Sie 
schon  vor  drei  wochen  oder  länger  erhalten  haben.  Ich  hatte  eine 
anzahl  briefe  zu  schreiben,  was  für  ein  armes  zerquältes  gehim. 
jetzt  schon  eine  schwere  arbeit  ist.  Sobald  ich  den  einen  im  we- 
sentlichen dem  Inhalt  nach  fertig  hatte,  legte  ich  ihn  hin,  damit 
er  austrockne  —  als  sie  alle  fertig  waren,  suchte  ich  die  couverte, 
fügte  die  formellen  schlüsze  hinzu  couvertirte  und  siegelte  —  bei 

23* 


356  N.  Bonwetsch, 

solcliein  verfahren  könnte  es  auch  gekommen  sein,  dasz  Sie  einen 
ganzen  falschen,  an  jemand  andres  gerichteten  brief  erhalten  hätten. 
Dies  ist  nun  glücklicherweise,  wie  ich  aus  dem  anderweitigen  In- 
halte Ihrer  letzten  briefe  ersehe,  nicht  der  fall  gewesen,  aber  ich 
habe  offenbar  bei  dem  an  Sie  gerichteten  briefe  den  formalen 
schlusz  ganz  vergeszen,  und  jetzt  weisz  ich  nun  auch  das  einzelne 
des  inhalts  nicht  mehr,  kann  also  auch  zu  dem  inhalte  nichts  er- 
gänzendes mehr  zufügen  —  bin  überhaupt  mit  meinem  gedächt- 
nisse  noch  immer  entsetzlich  brouillirt  —  und  wenn  ich  auch  kör- 
perlich durch  den  gebrauch  des  Eger-Franzensbrunn  wider  leidlich 
bei  wege  bin,  wider  meine  zwei  stunden  marschiren  und  nur  noch 
Dicht  ohne  schmerzen  und  ermattung  längere  zeit  ruhig  stehen 
kann,  so  bin  ich  doch  geistig  noch  lahm  und  es  will  nicht  vor- 
wärts ;  ich  kann  nichts  arbeiten,  und  habe,  um  die  plage  für  mich 
und  meine  zuhörer  losz  zu  werden,  meine  Vorlesungen  in  diesem 
Semester  aufgegeben  und  nur  ein  privatissimum  behalten,  in  dem 
ich  auf  meiner  stube  mit  einem  zuhörer  die  Snorra-Edda  lese  — 
ich  habe  offenbar  mit  meiner  arbeit  und  namentlich  mit  meinem 
gedächtnisse  schlechte  und  unbedachte  wirthschaft  getrieben,  habe 
um  überall  selbst  zusehen  zu  können  und  um  mich  nicht  auf  fremde 
Übersetzungen  verlaszen  zu  müszen,  almälich  36  sprachen  soweit 
erlernt  daß  ich  in  ihnen  verfaszte  bücher  selbständig  lesen  und 
sicher  verstehen  konnte  —  die  hälfte  davon  aber,  die  ich  erst 
nach  dem  40  ten  jähre  gelernt,  sitzen  so  locker  in  meinem  gedächt- 
nisse, also  namentlich  alle  slawischen  und  keltischen,  dasz  ich  alle 
jähre  einmal  ein  buch  in  ihnen  lesen  musz,  soll  ich  sie  nicht  un- 
versehens wie  einen  lumpigen  thalerschein  aus  mHnem  porte-monnaie, 
so  aus  meinem  porte-langage  verlieren.  Das  nimmt  mir  schon  eine 
masse  zeit  von  anderer  ernsterer  arbeit  hinweg.  .  .  Es  ist  .  .  [?] 
wie  eine  leidliche  bibliothek,  die  einen  ja  auch  zwingt  auf  eine 
menge  Wohnungen  zu  verzichten ,  die  man  sonst  wählen  könnte, 
und  die  man  nur  und  allein  nicht  wählen  kann,  weil  keine  mög- 
lichkeit  ist,  die  dazu  gehörigen  dummen  bücher  alle  in  bequemer 
weise  unter  zu  bringen  —  also  z.  b.  mich  jetzt  in  einer  wohnung 
außerhalb  Halle  d.  h.  im'  letzten  hause  gegen  Giebichenstein  hin 
festhält,  die  zwar,  in  beziehung  auf  gute  luft  und  hübsche  aus- 
sieht vortrefflich  ist,  aber  nur  unter  den  gröszesten  Unbequemlich- 
keiten einen  logir-gast  zuläszt  und  entsetzlich  weite  wege  auf 
schlechtestem  pflaster  zuläszt  und  auf  tausend  andere  bequemKch- 
keiten  verzichten  läszt  —  schon  die  wege  zur  post,  die  fast  eine 
halbe  stunde  entfernt  liegt,  läszt  eine  menge  zeit  verlottern  und 
reibt  einen  menschen,  der  wie  ich  sieben  monate  lang  lahme  beine 


Briefe  des  Historikers  Heinrich  Leo  an  Frau  von  Quast.  ;  357 

hatte,  schon  körperlich  mehr  auf  als  mir  gut  war  .  .  .  Nun  auch 
dieses  wird  vorübergehen!  Aber  doch  zunächst  wahrscheinKch  nur 
dadurch,  daß  ich  mich  bei  gelegenheit  selbst  auf  die  beine  mache 
und  ausfliege  —  während  reisen  doch  für  mich  auch  eine  art  ratten- 
gift  ist  und  das  sitzen  in  fremden  hause  und  ...[?]  an  das  eisen- 
bahn  und  wirthshausgesindel  die  galle  den  ganzen  tag  in  bewe- 
gung  hält ,  mir  auch  nicht  dient.  .  .  Nun !  ich  mußte  Ihnen  aber 
doch  endlich  auch  antworten ,  schon  weil  Sie  mir  schrieben,  ich 
solle  Tauscher  und  die  ev.  K.  Z.  im  thätigen  angedenken  halten. 
Ich  habe  ihm  geschrieben,  daß  ich  das  in  demselben  masze  will, 
wie  es  bei  unserm  seligen  freunde  der  fall  war,  und  er  hat  mir 
nicht  geantwortet,  so  daß  ich  am  ende  fürchte  es  ist  noch  ein 
brief  von  mir  yerloren . . .  und  so  tragen  wir  denn  auf  allen  selten 
folgen  davon,  daß  .  .  .  die  postverbindung  so  wohlfeil  geworden, 
dasz  gar  keine  Sicherheit  mehr  in  derselben  sein  kann . . .  Den  kauf- 
leuten  zu  gefallen  wird  das  postgeld  auf  ein  minimum  reducirt, 
so  dasz  wir  ein  deficit  bekommen  und  dann  hindert  die  canaille^ 
dasz  wir  eine  börsensteuer  bekommen,  die  das  deficit  decken  hilft. 
Kurz !  es  wird  alles  miserabel.  Bismark  hat  uns  doch  offenbar 
mit  reichstag  und  zollparlament  überladen,  um  uns  die  politischen 
Versammlungen  und  redeübungen  zum  brechmittel  zu  machen  .  .  . 
Das  alles  macht  mir  so  übel,  dasz  ich  nicht  einmal  mehr  einen 
krieg  wünsche  —  denn  dann  feiert  doch  nur  die  freimaurerische 
humanität  (alles  was  international  heiszt  ist  ja  in  unsrer  zeit  frei- 
maurerisch und  wird  von  den  logen  aus  regirt)  wider  triumphe 
und  verdirbt  und  vergiftet  unser  gut  deutsches  —  allem  interna- 
tionalen wesen  abgekehrtes  empfinden  so  scheußlich,  dasz  man  am. 
ende  lieber  ein  Jude  .  .  sein  möchte  als  ein  deutscher  —  wenn  wir 
Frankreich  halb  Frankreich  absiegen,  so  kriegt  Frankreich  doch 
alles  wider,  wie  Oestreich  Böhmen,  die  hochburg  Deutschlands, 
ohne  die  noch  niemand  in  Deutschland  eigentliche  herrschende  ge- 
walt  gehabt  hat.  Und  wenn  wir  ja  von  dem  eroberten  etwas  be- 
halten, wird  das  sogleich  mit  vollem  recht  wie  alle  alten  Preußen 
in  den  preußischen  landtag  eingestellt  —  Grott  behüte  uns  vor 
solchen  kriegen  —  zwischen  Deutschland  und  Frankreich  müste 
eine  10  meilenbreite  wüste  geschafi'en  werden,  an  deren  grenzen 
sogar  die  eisenbahnen  ein  ende  hätten  und  die  nur  zum  dienst  der 
regierungen  von  telegraphischen  depeschen  überschritten  werden 
dürfte.  Im  jähr  1848  hatten  die  guten  bürger,  von  denen  ja  noch 
ein  rest  übrig  war,  die  gröste  Sehnsucht  nach  neuer  corporativer 
Organisation  und  erlösung  aus  der  auf  blosze  concurrenz  der  wohl- 
feilen preise  gestellten  gewerbefreiheit.     Als  ich  Grerlach  auf  dies 


358  ^-  Bonwetsch 


wichtige  antirevolutionäre  moment  aufmerksam  machte,  lachte  er 
mich  aus  —  er  mochte  freilich  beszer  wiszen  als  ich,  dasz  die  re- 
gierungsweisheit  unsrer  behörden  so  ersoffen  wäre  in  den  neuen 
theorieen,  dasz  daraus  doch  nichts  ordentliches  werden  könne  — 
nun  ja!  es  ist  wahr,  etwas  theurere  preise  hielten  die  zünfte  und 
auch  sonst  war  man  durch  sie  genirt  —  aber  sie  hielten  einen 
ehrenfesten  handwerks stand ,  und  was  wir  noch  mit  dem  s.  g.  ar- 
beiterproletariat  für  erfahrungen  zu  machen  und  wie  viel  geld 
wir,  um  es  nider  zu  halten,  zahlen  müszen,  weisz  auch  zur  zeit 
niemand  —  und  wenn  das  zeug  nidergehalten  werden  soll,  wirds 
auch  nur  der  geschliffene  degen  und  die  kugel  im  laufe  thun  und 
die  liebe  humanität  sich  als  ehrliche  metze  an  den  arm  hängen. 
Gog  und  Magog  werden  heranziehen  —  aber  nicht  so  wie  man 
sonst  dachte,  mit  höllischen  führern,  sondern  in  der  Form,  dasz 
sich  alles  lebendige  in  lause  verwandelt  und  wir  von  diesen  bei 
lebendigem  leibe  gefreszen  werden  —  und  dennoch  habe  ich  noch 
lebenslust  genug,  um  zu  wünschen,  das  ding  zu  guter  letzt  noch 
selbst  mit  ansehen  zu  dürfen  —  das  ist  dann  zum  schlusze 
doch  wirklich  auch  noch  etwas  neues. 

Nun  will  ich  aber  doch  diesmal  den  formalen  schlusz  nicht 
wider  vergeszen  —  also  erlauben  Sie  mir,  dasz  ich  mir  die  ehre 
gebe  mich  zu  unterzeichnen  Ew.  Hochwolgeboren,  wenn  nicht  über- 
all ganz  unterthäniger  —  doch  sicherlich  überall  mit  treues tem 
herzen  ergebenster  H.  Leo. 

Leider  gottes  darf  ich  nicht  schreiben  Dr.  Leo,  denn  wenn 
mein  Dr.  eine  Wirklichkeit  wäre,  ich  wollte  die  weit  lehren  mit 
blut  und  eisen  eine  ganz  andere  wirthschaft  herzustellen  als  mit 
internationaler  humanität.  Die  leute  wollen  jetzt  alle  nichts  vom 
ieufel  wiszen,  blosz  offenbar,  weil  sie  sich  vor  dem  eszenkehrer 
viel  zu  sehr  fürchten  —  ich  fürchte  mich  gar  nicht,  denn  der  kerl 
soll  und  musz  uns  ja  dienen  —  aber  freilich  dasz  er  uns  wirklich 
diene,  dazu  ist  die  erste  bedingung,  dasz  wir  selbst  Grott  recht 
lieb  haben  von  ganzem  herzen,  dann  werden  wir  auch  courage 
genug  haben,  den  herrn  teufel  Excellenz  in  unsrer  küche  mit  un- 
seren anderen  dienstboten  als  kutscher  oder  velocipeder  miteszen 
zu  laszen. 

[11.8.  1869].  Meine  verehrteste  GrÖnnerin  und  Freundin!  Ich 
kann  unmöglich  von  Halle  scheiden,  ohne  Ihnen  noch  vorher  auf 
Ihren  letzten  Brief  zu  antworten.  Ich  will  übermorgen  Freitag 
den  13ten  August  eine  Reise  antreten  mit  meinem  Töchterchen 
zusammen.   Meine  Frau  geht  inzwischen  nuch  Rudolstadt  za  meinen 


Briefe  des  Historikers  Heinrich  Leo  an  Frau  von  Quast.  359 

dortigen  Verwandten;  ich  aber  habe  eine  große  Sehnsucht  noch 
einmal  die  Schweitz  wieder  zu  sehen  von  demselben  Platze  von 
dem  ich  sie  zuerst  sah,  von  der  Hohe  jenseits  Tutlingen,  wo  man 
den  ganzen  Hegau  mit  seinen  Burgen,  Hohentwiel,  Hohenkrähen 
u.  s.w.  unser  sich  hat,  weiterhin  den  Bodensee  und  dann  als  Schluß 
der  Bühne  die  schweitzerischen  Hochalpen  von  den  Kuhfirsten  und 
dem  Dödi  bis  zur  Jungfrau  —  es  machte  damals  vor  nun  46^/2 
Jahren^)  den  großartigsten  Eindruck  auf  mich.  Nun  weiß  ich 
allerdings,  daß  das  ein  riskirtes  Ding  ist,  es  kömmt  so  viel  auf 
Wind,  Wetter  und  Beleuchtung  an,  daß  ich  fast  wollen  kann,  wenn 
Grott  nicht  besonders  gnädig  sein  wird,  daß  es  ein  ganz  oder  halb 
verfehlter  Versuch  ist,  doch  wollte  ich  ihn  meinem  Töchterchen 
gönnen,  auf  die  Grefahr  hin,  damit  Fiasco  zu  machen.  Je  älter 
man  wird,  je  mehr  Courage  bekömmt  man  zu  solchen  Dingen  — 
wirds  nichts,  nun  so  schaiets  auch  nicht  ungeheuer  und  die  Freude 
einer  gelungenen  Repetition  ist  doch  zu  groß.  Um  mich  besorgt 
zu  sein  wegen  meiner  Kränklichkeit  haben  Sie  keine  Ursache;  es 
ist  schon  wider  um  vieles  besser  geworden;  ich  leide  im  Wesent- 
lichen an  Blutmangel,  wie  ein  bleichsüchtiges  Mädchen  und  mit 
Hilfe  von  Stahlarzneien  und  Eger-Franzensbrunn  habe  ich  schon 
wieder  einen  leidlich  Vorrath  an  Blut  und  jedenfalls  wäre  die 
Sache  schlimmer,  wenn  ich  an  Blutüberfluß  litte,  weil  dann  der 
Erbfehler  meiner  Familie  ein  Grehirnschlag  weit  näher  läge.  In 
die  Schweitz  selbst  herein  werde  ich  nicht  gehen,  sondern  nur  nach 
Schaffhausen  und  von  da  nach  Lindau,  dann  hoffe  ich  rasch  zu- 
rückzukommen, so  daß  ich  zum  Anfange  Septembers  schon  wieder 
in  Halle  bin,  d.  h.  mit  Grottes  gnädiger  Hilfe. 

Im  übrigen  ist  mir  allerdings  curios  in  der  Welt  zu  Muthe 
—  ich  komme  mir  oft  vor,  wie  einer,  der  das  Unglück  hat,  in  ein 
Narrenhaus  gesteckt  zu  sein,  während  er  selbst  seine  fünf  Sinne 
noch  bei  einander  hat.  Courage  hat  fast  niemand  mehr  als  der 
Pabst,  der  aber  auch  mit  seinem  Concil  in  eine  Greschichte  herein 
taumelt,  von  der  er  die  Folgen  schwerlich  richtig  taxirt  hat. 
Meines  Erachtens  wird  die  Sache  'mit  einem  Ende  der  römischen 
Herrlichkeit  enden  und  eine  Trennung  der  romanischen  und  ger- 
manischen Völker  zur  Folge  haben.  Villeicht,  daß  sich  dadurch 
auch  die  Erwerbung  Süddeutschlands  für  uns  erleichtert.  Jeden- 
falls wird  dies  Concil  mehr  Rumor  machen,  als  alles  andere  was 
gegenwärtig  in  der  Luft  liegt.  Als  ich  vor  etwa  10  Jahren  ein- 
mal dem  Präsident  Grerlach  sagte,  an  Stelle  des  Königs  von  Preußen 


1)  Im  Frühling  1823  bei  Gelegenheit  seiner  Reise  nach  Italien. 


360  N.  Bonwetich, 

würde  ich  dem  Pabst  eine  preußische,  katholische  Besatzung  für 
Rom  anbieten  —  er  lachte  mich  damit  aus,  wie  mit  dem  anderen 
Gedanken,  Preußen  müsse  Böhmen  nehmen,  denn  nur  wer  Böhmen 
fest  in  der  Hand  habe,  sei  Herr  in  Germanien.  Es  hat  mir  furchtbar 
leid  gethan,  daß  Bismarck  1866  Böhmen  so  leicht  fahren  ließ  — 
allein  hätte  er  es  behalten,  so  hätten  wir  allerdings  einen  Krieg 
mit  FraDkreich  gehabt;  es  damals  aber  auch  geschlagen  und  hätten 
nun  Luxemburg  überdies,  nnd  alles  wäre  anders  gekommen;  auch 
wäre  dann  an  dies  Concil  wahrscheinlich  nicht  gedacht  worden; 
Oestreich  wäre  zu  dem  Ende  gekommen,  auf  welches  es  jetzt 
langsam  zubrustet,  und  wir  hätten  Hannover  und  Hessen  auch, 
aber  nicht  annectirt,  sondern  in  Personalunion,  womit  beide  neue 
Landestheile  sehr  zufrieden  wären;  sie  hätten  ihre  Namen  Hessen 
und  Hannover  nicht  verloren  und  ihre  innere  Einrichtung  nicht 
verloren;  deren  Verlust  sie  nun  widerwärtig  macht  und  täglich 
mehr  machen  wird,  denn  die  außerordentliche  Fähigkeit  unserer 
preußischen  Bureaukratie  fremde  Eigenthümlichkeit  richtig  zu  fassen, 
ist  ja  weltbekannt,  und  sie  schicken  alle  Augenblicke  Leute  in  die 
neuen  Landestheile  die  die  Widerwärtigkeit  noch  vermehren  werden. 
Um  den  Verlust  des  Weifenkönigs  und  des  Casselscben  Dietrichs 
allein,  hätten  sich  die  Leute  nicht  zwei  Monate  gekümmert  —  nun 
sind  wir  im  besten  Zuge,  uns  Feinde  im  eigenen  Lande  zu  ziehen. 
Doch  wo  gerathe  ich  hin  mit  meinem  Phantasien  ?  ich  muß  doch 
auch  schon  eine  kleine  Anlage  zur  Verrücktheit,  die  in  der  Zeit 
liegt,  in  mir  haben,  sonst  käme  ich  nicht  auf  den  Einfall  mich  um 
Dinge  zu  kümmern*,  die  Gott  in  seiner  Hand  hält  und  wofür  ich 
gar  nichts  zu  verantworten,  also  auch  nichts  zu  kritisiren  habe. 
Jetzt  sage  ich  auch  schon:  Gott  behüte  uns  vor  einem  Kriege  — 
oder  wenn's  einer  sein  soll,  dann  wenigstens  nicht  ein  ähnlicher 
wie  der  Sommernachts-Siegestraum  wie  der  östreichische.  Nur  so 
viel  weiß  ich,  das  Concil  macht  uns  die  Verwirrung  in  der  wir 
leben,  für  einige  Jahre  noch  toller,  als  sie  schon  ist. 

Im  October  bin  ich  wider  auf  einige  Zeit  in  Berlin,  hoffent- 
lich ist  bis  dahin  einiges  schon  klarer,  als  in  diesem  Augenblicke. 

Meine  besten  Empfehlungen  an  Frau  von  K  . ,  und  falls  Sie 
ihn  sehen  an  Herrn  Obristlieutenant  von  Senfft,  der  allerdings 
voriges  Jahr  nicht  glauben  wollte,  daß  es  mit  der  conservativen 
Partei  bei  uns  zu  Ende  sei,  und  meinte,  als  ich  ihm  sagte  als 
Partei  hätten  wir  keine  Grundsätze  mehr  als  das  Halten  a'n  der 
Monarchie,  wir  hätten  ja  Mosen  und  die  Propheten.  Leider  passen 
aber  die  mosaischen  Gebote  und  die  Eathschläge  der  Propheten 
nicht  mehr  recht  zu  der  Politik  unserer  Tage,   und  das  Anpassen 


Briefe  des  Historikers  Heinrich  Leo  an  P'rau  von  Quast.  361 

derselben  wird  in  gut  deutscher  Weise  in  jedem  Kopfe  ein  anderes 
sein.  Nun !  wir  sind  alle  in  Grottes  Hand !  er  wirds  ja  am  Besten 
machen  —  die  Schlacht  von  Jena  war  1806  auch  ein  großes  Un- 
glück und  nun  sehen  wir  ein,  daß  doch  fast  alles  was  wir  gutes 
und  auch 'noch  festes  unter  den  Füßen  haben,  auf  Jena  gebaut 
worden  ist,  oder  doch  von  da  seinen  Auslauf  genommen  hat. 

Der  Brief  ist  zwei  Tage  liegen  geblieben  und  füge  nun  hinzu: 
Es  ist  doch  wohl  barmherzig  vom  lieben  Grott,  daß  er  Hengsten- 
berg abgerufen  hat.  So  daß  er  die  Widersprüche  und  Narrheiten 
unserer  Tage  nicht  mehr  in  der  beschränkten  Weise  unserer  Tage, 
sondern  gleich  in  ihrer  ewigen  Bedeutung  d.  h.  in  der  Lösung  ihrer 
Disharmonien  sieht  und  vielleicht  preist,  vor  dem  wir  erschrecken  . . 
Ich  bin  nun  zur  Reise  fertig  13ten  August  69. 

In  alter  Liebe  und  Treue  der  Ihrige         Dr.  L. 

[4.  4.  70].     Meine  hochverehrteste  Gönnerin  und  Freundin! 

Sie  haben  mir  mit  ihrem  Briefe  eine  außerordentliche  Freude 
gemacht,  namentlich,  daß  Emma  Ihnen  so  viel  Freude  gemacht 
hat.  Ich  bin  selbst  ein  Bischen  in  sie  verliebt,  lasse  es  ihr  aber 
natürlich  nicht  merken,  denn  sonst  würde  ich  bald  meinen  Willen 
nicht  mehr  zu  finden  wissen.  ... 

Was  übrigens  Tauschers  Zeitung  anbetrifft,  so  gefällt  sie  mir 
ganz  gut  —  nur  fehlt  ihr  Eines,  was  ihr  unser  lieber  Hengsten- 
berg zubrachte,  nämlich  die  weiten  Augen,  mit  welchen  dieser  die 
Dinge  ansah,  und  eigentlich  alle  Zweige  und  Aste  der  sittlichen 
Bildung  bedachte  und  beachtete.  Tauscher  hält  sich  mehr  im 
engen  kirchlichen,  eigentlich  kirchlichen  Kreis.  —  Das  mag 
für's  Erste  sehr  zweckmäßig  sein ;  aber  mit  der  Zeit  muß  er  doch 
die  Augen  weiter  aufthun  und  einen  größeren,  weiteren  Kreis  in 
seine  Theilnahme  ziehen,  wenn  er  der  Zeitung  ihre  frühere  Be- 
deutung erhalten  will. 

Halle  den  4ten  März  70. 

In  alter  Liebe  und  Treue  Ihr     H.  Leo. 

[27.  5.  70].       Meine  hochverehrteste  gönnerin  und  freundin! 

Wie  können  Sie  auch  nur  mit  so  groszen  werten  von  meinem 
s.  g.  jubileum  reden !  [11.  5.  1870  vgl.  M.  Jugendzeit  S.  235].  Ich 
danke  gott,  dasz  ich  das  ding  im  rücken  haben.  Hätte  ich  ge- 
wust,  an  welchem  tage  es  war,  so  wäre  ich  feig  genug  gewesen, 
der  geschichte  aus  dem  wege  zu  gehen,  so  aber  wüste  ich  nur  den 
monat  und  konnte  doch  unmöglich  auf  einen  ganzen  monat  aus- 
reiszen.   Erst  zwei  tage  vor  dem  eigentlichen  tage  kam  der  rector 


^62  N.  Bonwetsch, 

zu  meiner  frau  um  sie  zu  avertiren,  damit  die  sache  uns  nicht 
ganz  unerwartet  über  den  hals  käme,  denn  er  hatte  sich  in  Jena 
nach  dem  tage  erkundigt.  Mit  dem  ausreis zen  wer  [I]  ich  die  sache 
doch  nicht  los  geworden,  ich  hätte  sie  nur  verschoben  und  ihr  das 
genommen,  was  mir  nachträglich  die  hauptsache  daran  ist,  dasz 
ich  nämlich  —  ohngeachtet  ich  in  meinem  leben  genug  menschen, 
wenn  auch  nicht  absichtlich  doch  durch  mir  einmal  natürliche  also 
gottverliehene  art,  schwer  genug  geärgert  und  so  lange  ich  in 
Halle  bin  mir  alle  weit  auf  armslänge  von  halse  gehalten  habe, 
also  annehmen  muste,  dasz  ich  sehr  wenig  freunde  hier  hätte, 
habe  ich  doch  auszer  der  hergebrachten  für  die  Voigtische  theorie 
sprechenden  complimente ,  auch  viel  wirkliche  freiindlichkeit  er- 
fahren, so  daß  mein  stolztrotziger  und  störrischer  sinn  durch  dies 
jabileum  einiger  maszen  gebeugt  worden  und  mir  vom  lieben  gotte 
zu  dieser  vorfeier  meines  begräbnisses,  was  im  gründe  jedes  ju- 
bileum  ist,  auch  eine  milde  lehre  und  zucht  gewährt  worden  ist, 
ohne  mir  in  irgend  einer  weise  wehe  zu  thun.  Jedes  jubileum  ist 
ja  von  gottes  und  rechts  wegen  zugleich  oder  vielmehr  vor  allem 
ein  buszfest  —  auch  ein  ehejubileum  ist  es.  Hengstenbergs  Wider- 
willen gegen  solche  dinge  begreife  ich  vollkommen  —  aber  im 
gründe  ist  solcher  Widerwille  grundlos  —  es  ist  einmal  sitte  der- 
gleichen feiern  zu  begehen  und  ganz  entziehen  kann  man  sich 
ihnen  nur  wenn  man  hart  und  scharf  dagegen  protestirt,  was  doch 
manche  Verletzungen  im  geleite  hat  und  nur  den  meisten  menschen 
als  eigensinn  erscheint  —  da  ist  doch  das  beste  den  steifen 
nacken  zu  beugen  und  den  stolz  der  persönlichen  gesinnung  hier 
wie  in  tausend  fällen  zum  opfer  zu  bringen.  Es  giebt  viele  opfer 
die  weit  schmerzlicher  sind  und  doch  gebracht  werden  müszen. 

Dasz  ich  mich  den  arbeiten^ für  die  kirchenzeitung  wegen 
meiner  angelsächsißchen  arbeit  auf  einige  zeit  entziehe,  haben  Sie 
mir  wie  es  scheint  sehr  übel  genommen  und  diese  angelsächsischen 
interessen  als  dummes  zeug  charakterisirt  —  worin  ich  Ihnen 
freilich  nach  einer  seite  vollkommen  recht  geben  musz,  allein  ganz 
kann  ich  es  doch  nicht.  Ich  für  mein  theil  halte  das  wachsen 
und  verändern  der  Wortbedeutungen  für  wichtigere  dinge,  als 
schlachten  und  diplomatische  vertrage  —  denn  an  jenen  sieht  man 
den  Wechsel  des  menschlichen  denkens  und  das  ist  doch  auch  der 
tiefere  grund  der  schlachten  und  diplomatischen  actionen.  Nun 
ist  aber  die  angelsächsische  spräche  eine  rein  deutsche  und  zwar 
plattdeutsche  mundart  und  zeigt  uns  unser  liebes  plattdeutsch  wie 
es  vor  tausend  jähren  war  —  und  wie  tröstlich  ist  es  das  erbe 
^es  deutschen  geistes  in  mancher  hinsieht  so  uralt  zu  sehen.    Der 


Briefe  des  Historikers  Heinrich  Leo  an  Frau  von  Quast.  363 

glaube  an  die  Unsterblichkeit  der  seele,  der  jetzt  der  heutzutage 
den  meisten  unseres  gebildeten  und  leider  auch  des  ungebildeten 
pöbeis  ziemlich  auf  gleicher  linie  steht  mit  dem  gespensterglauben 
war  damals,  wie  man  der  ganzen  spräche  anfühlt  fest  wie  ein 
stahlblock  in  den  herzen  der  menschen  —  ist  das  nicht  mehr  werth 
dasz  unsere  vorfahren  auch  als  deutsche  beiden  so  fest  diesen  theil 
des  glaubens  gehabt  haben.  Das  wort  pflicht  ist  auch  damals 
schon  vorhanden  als  pliht,  aber  es  bedeutet  ursprünglich  den 
einsatz  den  jemand  im  hazardspiel  in  der  plega  macht,  woraus 
folgt  dasz  die  menschen  damals  das  leben  als  etwas  betrachteten 
worin  jemand  einen  einsatz  zu  machen  und  diesen  einsatz  zu 
zahlen  hatten,  die  pflicht  zu  leisten  hatten,  wenn  sie  nicht  ehrlos 
werden  wollten.  Ist  das  nicht  schön;  muth  zu  haben  und  zu  be- 
weisen, war  ein  theil  dieses  einsatzes,  den  der  mensch  in  diesem 
hazardspiel  des  lebens  zu  machen  hatte,  und  wer  sich  einmal  als 
feig  oder  als  wortbrüchig  ertappen  liesz,  hatte  seine  pflicht  nicht 
geleistet  und  seine  ehre  verloren  —  war  das  nicht  beszer  als  das 
gieren  und  haschen  unserer  männer  nach  purem  geld  und  dafür 
zu  kaufender  lust  —  und  das  und  noch  viel  schönes  anderes  lernt 
man  aus  diesen  alten  sprachen  .unserer  vorfahren  —  auch  macht 
die  Umkehr  der  leute  zum  Christentum  einen  ganz  anderen  ein- 
druck,  als  unsere  neumodischen  Judenbekehrungen.  Da  ist  überall 
metall  in  den  leuten  und  das  metall  lernt  man  auch  in  ihren 
Worten  kennen  —  wir  sehen  neben  diesen  alten  prächtigen  kerlen 
samt  und  sonders  aus  wie  candidaten  geistiger  Schwindsucht. 

Haben  Sie  herzlichen  dank  für  Ihr  treues  angedenken  —  auch 
für  Ihren  verspäteten  glückwunsch  zum  jubileum  —  obwohl  Sie 
ihn  mit  etwas  salzspeck  spicken  —  ich  bin  aber  eben  schon  von 
selbst  in  sich  ganz  wohl  dazu  schickender  buszstimmung.  Ich 
ursprünglich  blutarmer  pfarrersjunge  bin  vom  lieben  gott  durch's 
leben  geführt  worden  so  dasz  ich  allezeit  gehabt  habe  was  mir 
noth  war  und  auch  immer  etwas  mehr.  Ist  das  nicht  über  bitten 
und  verlangen?  und  was  habe  ich  dafür  meinem  gotte  grosz  ge- 
leistet? —  Ursache  zur  demuth !  zur  bescheidenheit,  zur  busze ! 
auf  allen  Seiten. 

Halle  den  27ten  Mai  70. 

In  alter  liebe  und  treue  Ihr  Dr.  Leo. 

[Aug.  1870].        Hochverehrteste  Gönnerin  und  Freundin! 

Daß  Sie  mitten  in  diesem  Trouble  der  Freude  und  des  Dankes 
auch  noch  meiner  gedenken,  habe  ich  eigentlich  gar  nicht  verdient 
und  nun  wollen  Sie  gar  von  mir   wie  von  einem  Orakel  allerhand 


364  ^-  Bonwetsch, 

"Weihesprüche,  haben:  Was  wird  aus  Frankreich,  wenn  Napoleon 
abdanken  muß?  —  Ja!  fort  wird  er  allerdings  müssen;  aber 
gleich  dem  Louis  Philipp  wie  ein  überflüssig  gewordener  Barbier 
fährt  er  nicht  im  Fiaker  davon.  Er  hat  erst  noch  großes  zu  voll- 
bringen. Die  Strafe  für  die  Herzenshärtigkeit  und  Lüderlichkeit 
des  französischon  Volkes  für  jenen  infamen  Königsmord  ist  noch 
immer  nicht  einkassirt  und  der  Herr  will  die  Frevel  der  Väter 
bis  ins  dritte  Glied  strafen  —  die  dritte  Greneration  wird  aber 
erst  in  den  1890  er  Jahren  ausgehen,  dafür  scheint  mir  der  Louis 
Napoleon  recht  eigentlich  als  Büttel  ausgewählt  und  erzogen  zu 
sein.  ... 

Ich  habe  immer  nur  Angst  vor  unserem  Weichwerden,  wenn  es 
zum  Frieden  geht,  und  Bismarck  ist  eigentlich  für  diesen  letzten 
Act  meine  einzige  Hoffnung,  der  hat  doch  noch  ein  festes  Rück- 
grat und  hoffentlich  keine  Thränen,  wenn  Alles  um  ihn  zu  heulen 
anfängt.  Daß  die  Süddeutschen  Könige  zu  unserem,  dann  nicht 
mehr  norddeutschen  sondern  deutschen  Bunde  treten  werden,  sehe 
ich  als  selbstverständlich  an;  und  daß  unser  König  dann  Kaiser 
werden  muß,  schon  um  den  Süddeutschen  das  Eintreten  in  den 
Bund  zu  erleichtern,  sehe  ich  als  selbstverständlich  an ;  aber  auch 
daß  dann  der  Bund  eine  Etwas  allgemeinere  Haltung  bekommen 
muß.  Einen  Einheitsstaat  erträgt  unser  Deutschland  auf  die 
Dauer  doch  nimmermehr,  nur  in  einer  straffen  Militärverfassung 
und  soweit  sie  damit  zusammenhängt  Finanzverfassung  muß  es 
beim  bisherigen  bleiben.  —  Die  Einerleimachung  der  ßechts- 
bildung  und  der  Recbtsverfassung  hat  nun  von  selbst  eine  Unter- 
brechung erhalten,  und  man  wird  hoffentlich  die  scheusliche  Gre- 
setzmacherei  nicht  noch  einmal  anfangen,  wenn  man  nach  dem 
Siege  Deutschland  nicht  nachträglich  ruiniren  will.  Der  Rest  von 
Frankreich  mag  dann  Republik  werden,  zum  abschreckenden  Exempel 
aller  Völker,  und  zu  unserer  Ruhe  auf  lange  Zeit.  Die  Orleans 
wenigstens  werden  dort  nichts  machen.  Die  früheren  Zeitläufe 
haben  hoffentlich  von  ihnen  hinlänglich  zurückgeschreckt,  so  daß 
auch  die  Franzosen  ein  Grrauen  davor  haben. 

Mit  unseren  Siegen,  scheint  es,  ist  nun  auch  die  Infallibili- 
tätsnarrheit  des  Herrn  Pabstes  der  Hauptsache  nach  in  Brunnen 
gefallen  —  in  Deutschland  wenigstens  wird  diese  jesuitisch-ro- 
manische abstracte  Auffassung  des  Summepiscopates  nicht  durch- 
dringen, uud  unsere  Kirchensachen  wird  hoffentlich  auch  ein  deut- 
scher Kaiser  ihren  eignen  Weg  gehen  lassen  und  sich  seinen  Waffen- 
sieg nicht  durch  das  Bestreben,  auch  einen  theologischen  Federsieg 
seinem  Waffensieg  beizugesellen,  verderben. 


Briefe  des  Historikers  Heinrich  Leo  an  Frau  von  Quast.  365 

Ihr  Rothenmoorer  Malzahn  gefällt  mir,  obwohl  da  auch  einige 
theatralische  Buchmacherei  mit  unterläuft,  —  und  daß  der  liebe 
Gott  endlich  anfängt  auch  unserer  Kronprincessin  ein  deutsches, 
ein  preußisches  Herz  zu  geben,  ist  auch  prächtig  —  obwohl  das 
noch  manchen  Kampf  kosten  wird ,  wenn  es  endlich  darauf  an- 
kömmt, auch  das  englische  Schlangengezisch  vornehm  ablaufen  zu 
lassen.  Nur  behüte  uns  Gott  vor  einem  Frieden  a  la  1815,  den 
wir  damals  dem  schlafmützigen  Alexander  verdankt  haben.  Jetzt 
wird  das  slawische  Gesindel  wohl  das  Maul  halten  müssen,  denn 
durch  die  Bauernfreiheit  ist  ja  nun  der  östliche  Coloß  bis  tief  in 
das  Innere  so  desorganisirt,  daß  es  nichts  in  den  nächsten  Jahr- 
zehnten wagen  darf,  zumal  auch  in  seinem  Rücken,  das  neue  Slaven- 
Volk,  was  in  Sibirien  erwachsen  ist,  die  Siberaks,  auch  schon  ein 
hinlänglich  trotziges  Bewußtsein  gewonnen  hat. 

Kurz!  dieser  Krieg  ist  der  5te  Act  des  großen  Dramas  der 
Freiheitskriege  —  und  Gott  gebe  uns  nur  nicht  zu  leichte  Siege, 
sondern  so  daß  auch  die  zu  Hause  gebliebenen  Ernst  und  Trauer 
genug  erhalten;  denn  ein  Krieg,  der  überall  so  glatt  liefe,  wie 
der  Sommernachtstraum  von  1866,  wäre  der  Anfang  unseres  Endes, 
wenn  es  in  Uebermuth  und  Luxus  so  fortgehen  sollte,  wie  seit 
1866.  Dann  könnte  es  noch  kommen,  daß  man  unsere  jetzigen 
Siege  beklagen  müste. 

Traum  ist  das,  was  wir  erleben,  nicht,  aber  Poesie, 
prächtige  Thatenpoesie,  Gott  gebe  nur,  daß  die  elende  Zerschlagen- 
heit  der  Franzosen,  und  das  Grauen  unserer  Diplomatie  nicht 
alles  wider  verderben,  was  das  Blut  und  die  Tapferkeit  unserer 
braven  Leute  gut  gemacht  haben.     Amen!  Amen!  Amen! 

In  alter  Liebe  und  Treue 
Ihr  72  jähriger  Junger  — 
denn  dieser  Sommer  ist  eine  jungmachende  Badekur  —  wer  hätte 
1815  einen  solchen  prächtigen  Schlußact  auch  nur  träumen  können !  — 

[Sept.  1870].  Mein  Gott!  mein  Gott!  was  soll  ich  sagen.  Mir 
wird  Angst  vor  soviel  Glück !  Noch  habe  ich  lebendig  im  Ge- 
dächtniß,  wie  wir  am  Abend  des  18ten  Octobers  1814  aus  der 
Kirche,  wo  Dank-Gottesdienst  gewesen  war,  traten,  und  an  dem 
herrlichen  Abend  alle  Berge  der  Umgegend  mit  Ereudenfeuern 
gekrönt  fanden  — •  und  wie  viele  langweilige  Nörgeleien,  Ver- 
pfuschungen u.  s.  w.  folgten  hinter  her.  —  Wirds  nun  besser  gehen? 
Wenn  das  Pestloch,  das  Metz,  aufgeht  und  unsere  durch  die  furcht- 
baren Anstrengungen  und  Spannungen  der  letzten  Wochen  ange- 
griffene Armee   den  Pesthauch   aufnimmt  —  was   wird   dann    be- 


366  N-  Bonwetsch, 

ginnen.  —  Seit  40  Jahren  ist  das  stete  Schicksal  gewesen,  daß 
man  mit  nichts  zu  wirklichem  festen  Abschlüsse  gekommen  ist  — 
Nichts,  Nichts  ist  fertig,  was.  seitdem  begonnen  worden  ist, 
nicht  einmal  die  Orleans  sind  wir  entschieden  und  ganz  los  — 
sie  fahren  immer  noch  in  der  Welt  herum  und  vor  England  habe 
ich  größere  Besorgniß  als  vor  Frankreich.  Bei  allem  Geschwätz 
von  E-eligion  ist  kein  europäisches  Volk  innerlich  religionsloser 
und  mammonistischer  als  das  englische  und  dabei  frecher  und  un- 
verschämter. Wer  sich  als  die  Frucht  unseres  jetzigen  Glückes 
alsbaldigen  Frieden  träumt  wird  sich  entsetzlich  täuschen  —  das 
eigentlich  böse  Eingen  wird  nun  erst  beginnen  und  dabei  wird 
sich  zeigen,  wer  ein  festes  Herz  hat  —  wer  eigentlich  an  Gott 
glaubt.  Wir  gehen  einem  tiefen,  tiefen  E,einigungsproce«se  ent- 
gegen —  und  nicht  wegen  des  zeitherigen  Glückes,  sondern  darum, 
daß  Gott  uns  solches  Alles  zu  tragen  geben  wird  —  hebt  sich 
meine  Hoffnung  erfrischt  —  es  ist  mir  als  stünden  wir  in  den 
letzten  Dingen  mitten  darin  und  ich  sähe  mit  offnen  Augen  in  die 
Geheimnisse  des  Himmels  hinein.  Noch  hat  unser  Herr  und  Gott 
nie  seinen  Kindern  größere  Lasten  auferlegt,  als  die  er  ihnen,  zu 
tragen,  auch  Kräfte  gegeben  hatte  —  also :  Durch !  Durch !  und 
mitten  hinein! 

Ich  hatte  gezögert  auf  Ihren  letzten  Brief  zu  antworten,  und 
muß  deshalb  um  Verzeihung  bitten  —  daß  Sie  auch  schweres  per- 
sönliches Leid  zu  tragen  hatten ,  wüste  ich  schon  —  aber  wer 
kann  damit  jetzt  ein  Leid  verbinden,  daß  einer  im  Siege  fällt  und 
des  weiteren  Ringens  überhoben  ist;  er  sieht  nun  schon  klar  den 
letzten  Sieg,  während  wir  noch  alle  Zwischenstationen  za  fürchten 
haben.  Zuweilen  möchte  ich,  ich  wäre  auch  schon  todt  —  aber 
dann  kömmt  mir  solcher  Wunsch  doch  wieder  wie  purer  Frevel 
vor ,  wenn  ich  das  Theater  betrachte ,  dessen  Vorhang  der  liebe 
Gott  eben  noch  in  meinen  alten  Tagen  vor  meinen  Augen  aufrollt. 
Wo  keine  Menschen  Weisheit  und  Menschentapferkeit  mehr  ausreicht, 
muß  Er  ja  helfen  und  wird  Er  helfen  —  und  das  wäre  doch 
noch  ein  ganz  andrer  Triumph  als  die  Capitulation  von  Sedan, 
wenn  unsere  Fürsten  endlich  fest,  d.  h.  lebendig  in  der  Bewegung 
jedes  Blutstropfens  fühlten  und  erkenneten,  daß  Er  allein  hilft 
und  helfen  kann,  wenn  sie  über  alle  jüdisch-menschliche  Berech- 
nung hinaus  den  Glauben  gewönnen,  daß  er  auch  wirklich  helfen 
wird  —  und  Etwas  von  solcher  Einsicht  dämmert  doch  schon  — 
Gott  gebe  uns,  daß  es  Licht  werde  und  vor  aller  Augen  die  Sonne 
aufgehe. 

Unsere  gestrige  Illumination  brachte  ein  Transparent :  Kaiser 


Briefe  des  Historikers  Heinrich  Leo  an  Frau  von  Quast.  367 

Napoleon  ist  gefangen  —  ach  war  er  doch  gehangen !  darin  ist 
auch  ein  Schimmer  der  Erkenntniß  von  Gottes  Gerechtigkeit  — 
denn  daß  ein  Mensch  wie  der,  nachdem  er  sich  auf  das  frevelhaf- 
teste vermessen,  nun  nachdem  er's  so  weit  gebracht,  daß  er  in 
Paris  zerrissen  würde,  noch  die  Juden gescheidigkeit  hat,  sich  un- 
serm  Könige  zu  Füßen  zu  werfen,  wo  er  weiß,  daß  er  honett  be- 
handelt werden  wird,  das  ist  wirklich  Etwas  von  dem  alten  Volks- 
witz: lustig  gelebt  und  selig  gestorben  das  heißt:  dem  Teufel  die 
Rechnung  verdorben.  Ich  finde  es  natürlich,  daß  Menschen,  die 
nicht  innerlich  so  vornehm  sind,  wie  unser  König,  den  edlen  Louis 
lieber  hängen  ließen  .  .  . ,  als  ihn  nach  Wilhelmshöh  schickten.  — 
Der  liebe  Gott  ist  aber  innerlich  noch  weit  vornehmer!  damit 
dürfen  wir  uns  trösten,  daß  die  Gerechtigkeit  der  Weltregiernng 
oft  noch  eine  viel  andere  ist  als  die  unsrige. 

Wir  gehen  dem  5ten  Act  in  dem  furchtbaren  Drama,  was  mit 
1806  anfing  entgegen  —  und  auch  unsere  Kraft  —  wo?  fängt  sie 
an,  wenn  nicht  bei  Salfeld  und  Jena  —  damals  schienen  wir  zer- 
treten und  nun  wird  einem  Angst  vor  der  Erhöhung.  Mir  ists 
als  sollte  ich  nun  im  allervornehmsten  Saale  der  Welt  nächstens 
eintreten,  und  mir  wird  ängstlich  dabei  um  mein  hochzeitliches 
Kleid  —  ich  denke,  ich  werde  ob  meiner  Lumpen  vor  die  Thüre 
geworfen. 

Während  mir  Angst  wird  vor  dem  lieben  Gott  und  seinen 
Gerichten  —  schickt  er  mir  einen  Tropfen  Balsam  auf  die  Zunge 
—  Emma,  die  um  Pfingsten  an  einer  fast  tödtlichen  Lungenent- 
zündung erkrankte,  eben  als  ich  im  Begriff  war,  zu  ihr  zu  reisen, 
hat  wie  ich  gestern  erfuhr,  endlich  eben  wider  die  ersten  Zeichen 
einer  Neuerstarkung  gegeben.  Sie  liegt  in  voller  Einsamkeit  in 
Warnemünde,  und  kann  endlich  wider  Etwas  Fleischbrühe  und 
Fleisch  genießen  ohne  sich  zu  erbrechen  —  nur  die  Brust  ist  noch 
sehr  angegriffen,  doch  hat  ihr  die  kühle,  rauhe  Seeluft  bisher  nur 
stärkend  gedient. 

In  alter  Liebe  und  Treue  wie  immer 

der  Ihrige    Dr.  Leo. 

Der  arme  D.  dauert  mich  von  Herzen!  Weiß  doch  keiner,  wie 
und  wann  ihn  sein  Schicksal  ruft  —  doch  Alles  dergleichen  ist 
einem  jetzt  ja  im  Grunde  irrelevant  geworden  —  o  wer  doch  noch 
einmal  17  Jahre  alt  wäre  —  doch  nicht  um  alle  die  Sünden  noch 
einmal  aufzudecken,  die  nun  im  Rücken  liegen?  doch  wer  ist  rein 
bevor  er  als  Todter  gewaschen  wird? 


368  N.  Bonwetsch, 

Meine  hochverehrteste  gönnerin  und  frenndin! 
Ich  habe  diesmal  längere  zeit  auf  antwort  warten  laszen,  weil 
ich  zugleich  an  Tauscher,  der  mir  auch  geschrieben,  antworten  und 
ihm  und  Ihnen  dadurch  einigermaszen  den  willen  thun  wollte. 
Tauscher  schreibt  mir,  ich  möchte  ihm  nur  einen  ähnlichen  aufsatz, 
wie  die  letzten  briefe  an  Sie  schicken  —  da  irrt  er  sich  aber  in 
zweierlei,  erstens  darin,  dasz  er  gleich  Ihnen  auf  diese  briefe  einen 
besonderen  werth  legt  und  zweitens  darin,  daß  er  meint  aufsätze 
schreibe  man  so  bequem  wie  briefe.  Einen  [!]  brief  liegt  in  einem 
anderen  briefe  in  der  regel  eine  veranlaszung,  auf  die  er  antwort 
ist  zu  gründe,  er  ist  gewissermaszen  nur  ein  abglanz  des  vorher- 
gehenden, und  so  mag  es,  wenn  an  meinen  briefen  etwas  war,  eben 
nur  der  abglanz  von  Ihren  vorhergehenden,  auf  die  sie  antwor- 
teten, sein.  Wenn  ich  einen  brief  schreibe,  reflectire  ich  gar  nicht, 
sondern  überlasze  mich  dem  eindruck  dessen  was  ich  zu  beant- 
worten habe,  und  denke  übrigens  nur,  wie  fast  mein  leben  lang 
in  bildern  und  ahnungen  und  drücke  diese  aus.  Dagegen,  so  wie 
ich  einen  aufsatz  schreiben  will,  fange  ich  an  zu  reflectiren,  zu 
spindisiren,  suche  zweck  und  mittel  zusammen  zu  bringen  —  kurz ! 
bin  ein  ganz  anderer  mensch  und  zwar  ein  viel  unbehilflicherer, 
pedantischerer.  So  ists  mein  lebelang  gewesen  —  ich  habe  alle- 
zeit etwas  nur  im  unmittelbaren  herausgeben  wirksames  gehabt  — 
und  gar  nichts,  sobald  reflexion  und  vermittelter  entschlusz  vor- 
hergehen muste  —  in  den  ersten  jähren  nach  1848  habe  ich  mit 
reden  in  Versammlungen  etwas  wirken  können,  weil  ich  durch  zorn 
und  unmittelbar  dazu  getrieben  war  und  mich  gehen  liesz  und 
gehen  laszen  konnte  —  im  herrenhause  tauge  ich  gar  nichts,  weil 
ich  da  um  nichts  ganz  ungehöriges  zu  reden  am  tage  vorher  die 
Sache  bedenken  und  das  merken  müste  —  das  geht  mir  nicht  — 
ich  musz  ungenirt  herausplatzen  können  ohne  das  gefühl  einer 
rücksicht,  oder  das  maul  halten.  Nun  sind  aber  gegenstände  und 
personen  im  herrenhause  selten  so ,  dasz  ich  einen  zorn  darüber 
empfinde,  und  sitten  und  ausdrucksweisen  der  herren  alle  so  ver- 
schieden von  denen ,- bei  den  ich  aufgewachsen  bin,  dasz  ich  mich 
nie  ungenirt  fühle.  Das  feine  jüdchen  Stahl  war  für  diese  herren 
wie  geschaffen,  dasz  man  mich  hinein  geschickt  hat,  ist  eigentlich 
grundlos,  zumal  ich  um  nur  meine  meinung  ausdrücken  zu  können, 
zuerst  mit  einer  polemik  gegen  Stahl  anfangen  müste,  denn  dessen 
art  von  conservatismus  habe  ich  nie  von  herzen  theilen  können. 
Na!    ich  habe  nun  also    doch   eine    art   aufsatz    an  Tauscher    ge- 


Briefe  des  Historikers  Heinrich  Leo  an  Frau  von  Quast.  369 

schrieben  und  zugleich  mit  diesem  briefe  abgesandt^).  Ich  an 
seiner  stelle  liesze  ihn  aber  nicht  drucken,  denn  er  ist  zu  persön- 
lich gehalten  und  ohngeachtet  er  reflexiouen  groszestheiles  ver- 
meidet und  die  sache  historisch  zu  faszen  sucht,  doch  zu  trocken 
und  langweilig.  Also  —  ich  nähme,  falls  ich  redacteur  wäre, 
den  aufsatz  nicht,  und  er  hat  ja  nach  dieser  seite  vollkommen 
freiheit  zu  thun  was  er  will.  Aber  wenn  er  ihn  nimmt,  bitte 
ich  um  correcten  abdruck,  und  Sie,  dasz  Sie  diesem  interesse 
mütterlichen  schütz  gewähren.  .  . 

Sie  wollten  noch  wiszen,  mit  wem  wir  frieden  schließen 
sollten.  Das  denke  ich  ist  unsere  sorge  gar  nicht  —  wir  brauchen 
nur  auszuhalten.  Die  Franzosen  sind  ja  nicht  bloß  äuszerlich, 
sondern  auch  innerlich,  so  geschlagen  und  auseinander  gefahren, 
dasz  fast  jede  that  und  äuszerung  derselben  jetzt  ein  wahnsinns- 
merkmal  wird  —  Grott  hat  sie  mit  blindheit  geschlagen,  verblendet 
—  haben  wir  nur  noch  ein  Vierteljahr  geduld,  so  verlieren  sie  ent- 
weder alle  einheits punkte  oder  kommen  auf  ihren  knieen  gerutscht 
und  betteln  um  frieden,  dann  haben  wir  die  wähl:  zeit,  ort  und 
personen  zu  bestimmen  —  laszen  wir  also  getrost  die  sorge,  wie 
sie's  anfangen  wollen,  frieden  zu  erhalten.  Wer  wird  sich  mit 
fremden  sorgen  beladen  —  Bismarck  scheint  zu  derselben  ansieht 
gekommen  zu  sein  —  wenn  nur  Majestät  die  geduld  nicht  verliert, 
und  nicht  zu  gutmüthig  ist,  das  übrige  wird  sich  alles  finden. 
In  alter  liebe  und  treue  der  Ihrige  H.  L. 

[7.  11.  1870].  Ich  habe  lange,  viel  zu  lange  gezögert  mit 
meiner  Antwort,  aber  ich  dachte  immer,  ich  wollte  den  Schlußact, 
den  Strafact  für  Paris  erzögern,  was  der  Welt  soviel  Leid  zuge- 
fügt hat,  und  eigentlich  schon  lange  der  rechte  Blocksberg  war, 
wo  alltäglich  und  allnächtlich  Teufelsdienst  gehalten  wurde  .  .  . 
Ich  denke  mir  auch  die  Verhandlung  über  den  Waffenstillstand  sei 
ein  Bismarckscher  Humor  —  er  weiß  doch  daß  bei  den  verrückten 
Menschen  nichts  draus  wird,  und  schiebt  damit  den  Franzosen  alle 
Schuld  des  weiteren  Krieges  in  die  Schuhe  —  oder  wenn  Etwas 
daraus  wird,  so  bricht  der  Wahnsinn  den  Waffenstillstand  durch 
irgend  ein  Attentat  oder  andere  feindliche  Handlung.  Eine  Haupt- 
sorge von  mir,  daß  durch  die  Pocken-  und  Typhuskranken  und 
Lazarethbrandkranken  aus  Metz  nun  auch  neben  der  Viehseuche 
-eine  Menschenseuche  über  Deutschland  ausgesäht  werden  möchte, 
wie  1814  im  Anfange  des  Jahres,   die  ja  weit  gräulicher  war   als 


1)  Offenbar  Deutschland  und  Frankreich,  Ev.  K.  Z.  1871. 
Kgl.  Ges.  d.  Wiss.   Nachrichten.  Phil.-hist.  Klasse.   1918.   Heft  3.  24 


370  N.  Bonwetsch, 

die  Cholera,  ist  ja  nun  auch  beseitigt,  dadurch,  daß  keiner  der 
Kranken  dieser  Art  nach  Deutschland  gebracht  werden  darf.  Daß 
Sie  von  meiner  Federthätigkeit  noch  so  viel  erwarten,  ist  zwar 
für  mich  persönlich  recht  schmeichelhaft,  aber  es  thuts  halt  nimmer- 
mehr —  es  ist  kein  Anhalten  mehr  in  meiner  Thätigkeit,  das  Er- 
lahmen des  Alters  liegt  nicht  sowohl  im  Wegfallen  der  Einfälle, 
als  im  Aushalten  bei  deren  Ausführung,  trotz  aller  Lust  noch  am 
Leben,  bin  ich  müde,  schlafmüde  durch  und  durch,  und  eigentlich 
immer  halb  im  Traume,  außer  wo  ich  ganz  trockne  Sachen  vor- 
nehme. Lexiconarbeit,  wobei  ein  Wort  mühelos  zum  andern  führt 
kann  ich  noch  machen,  aber  Sachen  wobei  Gredanken  festgehalten 
und  ausgeführt  werden  wollen,  geben  nicht  mehr.  Ich  fühle  wie 
ich  almälich  inwendig  zusammenschrumpfe  und  in  eine  Grleichgül- 
tigkeit  hereinfalle,  von  der  ich  sonst  keinen  Begriff  mehr  hatte  . . . 
Ich  halte  in  diesem  Winter  auch  nur  eine  einstündige  Vor- 
lesung alle  Woche  —  alle  unsere  einjährigen  Freiwilligen  sind  fort 
und  bleiben  fort  bis  zum  Ende  des  Krieges.  Was  irgend  noch 
dienstlos  da  war  und  im  Juni  noch  sein  Abiturientenexamen  unter 
erleichterten  Formen  abmachen  konnte  ist  im  August  freiwillig 
eingetreten  und  Ende  September  der  Armee  nachgeschickt  worden. 
Alle  meine  Zuhörer  vom  vorigen  Semester  liegen  vor  Paris  und 
sehen  ungeduldig  dem  Bombardement  entgegen.  Wir  haben  hier 
wenig  Studenten,  großestheils  nur  Theologen  und  in  irgend  einer 
Art  Krüppel  —  sogar  unsere  Oekonomiestudirenden  sind  dünn  ge- 
worden, da  eine  so  große  Menge  Inspectoren  und  Verwalter  in  die 
Armee  eingezogen  sind,  und  also  auch  jüngere  Landwirthe  jetzt 
sehr  günstige  Anstellungen  finden.  Zu  meinen  Privatvorlesungen 
hatte  sich  als  ich  herein  kam,  sie  anzufangen,  noch  nicht  ein  ein- 
ziger gemeldet;  ich  gieng  herein,  da  ich  den  Anfang  einmal  an- 
gekündigt hatte  und  fand  14  Zuhörer,  sagte  ihnen  aber  rund  heraus, 
ich  würde  nicht  anfangen,  wenn  sich  nicht  wenigstens  5  meldeten; 
ob  sie  das  verdrossen  hat,  weiß  ich  nicht,  es  hat  sich  aber  nie- 
mand weiter  gemeldet  als  ein  in  Folge  des  böhmischen  Krieges 
zur  Disposition  gestellter,  mit  Orden  decorirter  ßitmeister,  so  daß 
ich  diese  Vorlesung  nicht  anfangen  konnte,  und  auf  ein  einstün- 
diges Publicum  über  mittelaltrige  Geographie  reducirt  bin,  was 
mir  auch  langweilig  genug  ist.  Kurz !  in  allem  tragischen  Tumult 
wird  mir  die  Welt  täglich  langweiliger.  Dazu  ist  mir  auch  nun 
das  eine  Bein  durch  rheumatische  Schmerzen  halb  gelähmt,  daß 
ich  bei  dieser  naßkalten  Witterung  nur  mit  Mühe  meiae  täglichen 
Spatziergänge  machen  kann,  und  eine  ganz  stubensieche,  aschfarbene 
Couleur  bekomme.  -Immer  noch  bequemer  als  bei  gleichem  Wetter 


Briefe  des  Historikers  Heinrich  Leo  an  Frau  von  Quast.  371 

vor  Paris  Wache  halten.     Die  ewige  traurige  Melodie  der  Wache 
am  Rheio,  wird  mir  almälich  auch  langweilig. 

In  alter  Treue  und  Liebe  verehrungsvoll 
Halle  7/11  70.  H.  Leo. 

[Anfang  1871J.        Hochverehrteste  Gönnerin  und  Freundin! 

.  .  .  Tauschers  Vorwort  hat  mir  außerordentlich  wohl  ge- 
fallen, wenn  er  auch  nicht  die  gewissermassen  wissenschaftlich- 
fürstliche Stellung  in  demselben  nimmt,  die  ungesucht  und  natürlich 
Hengstenbergs  Vorworte,  in  den  letzten  Jahren  zumal,  stets  be- 
gleitete —  indessen  glaube  ich  nicht ,  daß  irgend  jemand  anders 
die  Sache  zweckentsprechender  eingerichtet  und  geschrieben  hätte^ 
als  Tauscher;  Hengstenbergs  Blick,  der  ihn  zum  Fortführer  seine» 
Werkes  ausersehen,  hat  sich  auch  nach  dieser  Seite  sehr  gut  be- 
währt .  .  . 

Ihrem  Herrn  Sohn,  der  wohl  noch  bei  Ihnen  weilt,  bitte  ich 
mich  allerbestens  als  einen  alten  Verehrer  zu  empfehlen  —  mich 
aber  Ihnen  selbst  als  Weissager  zu  empfehlen  trage  ich  große 
Bedenken.  Mir  thut  nur  leid,  wenn  unser  Kaiser  die  Grutmüthig- 
keit  so  weit  ausdehnt,  daß  er  dies  alte  Satansnest,  Paris,  nicht  in 
der  Wurzel  zerstört,  denn  leider  haben  wir  gute  Deutsche  (wobei 
ich  mir  die  Freiheit  nehme,  mein  romanisches  Herz  diesmal  aus- 
zunehmen) so  viel  von  gutmüthiger  Schwäche  in  uns ,  daß  unser 
Haß  allein  uns  nicht  gegen  den  auch  nun  noch  fortdauernden  Ein- 
fluß von  Paris  schützt,  und  da  doch  der  liebe  Gott  in  dem  ganzen 
Kriege  offenbar  den  Kaiser  so  geführt  hat,  daß  er  seiner  Aufgabe 
gewissermaßen  die  Spitze  abbricht,  wenn  er  in  Paris  einen  Stein 
auf  dem  anderen  läßt,  so  kömmt  mir  ein  Schonen  von  Paris  ge- 
wissermaßen wie  ein  im  Stichelassen  der  von  Gott  gestellten  und 
ermöglichten  Aufgabe  vor,  und  wie  ein  Unterlassen  der  Befreiung 
Deutschlands  von  Satans  Einfluß.  Jedes  falls  bekommen  wir  in 
einigen  Jahren  doch  einen  neuen  Krieg  mit  Frankreich,  und  wer 
wird  aufschieben,  was  man  augenblicklich  rein  und  präcis  abmachen 
kann.  Wer  weiß  ob  wirs  so  schön  wider  in  unsre  Hände  be- 
kommen! Der  liebe  Gott  wird  sich  hüten,  uns  noch  einmal  so  in 
die  Hände  zu  arbeiten,  wenn  wir  einmal  unsre  Pflicht  versäumt 
und  seine  Hoffnung  auf  uns  getäuscht  haben.  .  .  [Aber  siehe  den 
Br.  V.  2.  Pfingst.  71]. 

In  alter  Liebe  und  Treue  der  Ihrige  Dr.  Leo. 

[April  1871  [.  Ihr  letzter  eben  erhaltener  Brief,  meine  hoch- 
verehrte Gönnerin  und  Freundin!    erinnert  mich  lebhaft  an  meine: 

24* 


372  N.  Bonwetsch, 

Sünden,  Ihnen  so  lange  Antwort  schuldig  geblieben  zu  sein,  da 
aber  zu  wirklichen  Sünden  aber  wesentlich  auch  gehört,  daß  man 
auch  anders  hätte  handeln  können,  und  ich  eben  die  ganze  Zeit 
über  unfähig  war,  zu  antworten,  bin  ich  eben  auch  nicht  an  wirk- 
liche Sünden,  sondern  an  das  erinnert  worden,  was  Luther  Puppen- 
sünden nennt,  denn  ich  bin  schon  seit  Anfang  dieses  Jahres  in 
einem  halben  Krankheits zustande,  in  dem  sich  für  die  letzten  14: 
Tage  eine  entsetzliche  Grippe  vorbereitete,  die  mich  nun  schon  so 
lange  zu  Stubenarrest  verurteilt  und  auch  zu  der  kleinsten  Pro- 
duction  völlig  unfähig  gemacht  hat.  Die  72  Jahre  ^)  meines  Alters 
machen  sich  eben  doch  almälich  sehr  hartnäckig  geltend  und  strafen 
auch  für  jedes  geringste  Wagniß.  Dazu  ist  nun  zuletzt  noch  der 
verhältnismäßig  traurige  Ausgang  dieses  Krieges  gekommen,  der 
mich  statt  einer  Trümmermasse,  wie  die  von  Babel  und  Ninive 
an  der  Stelle  von  Paris  sehen  zu  lassen  einen  traurigen  Abzug 
unseres  Heeres  sehen  läßt,  der  uns  mehr  als  genarrte  Leute  denn 
als  Sieger  den  kommenden  Greschlechtern  präsentirt,  und  das  mo- 
derne Babel  in  seinem  Einfluß  auf  Frankreich  und  dadurch  Frank- 
reichs Einfluß  auf  die  Welt  in  unveränderter  Weise  hinstellt.  Der 
Ausgang  ist  wirklich  fürchterlich  matt,  so  daß  er  mich  auf  das 
lebhafteste  an  v.  Arnims  Worte  im  Wintergarten  erinnert:  „seit 
Gott  nun  genialisch  ist  es  die  Welt  nicht  mehr"  —  und  das  geht 
mir  schwer  ein  .  .  .  Natürlich  denen,  die  bei  der  Stang  waren, 
ist  alles  nicht  so  langweilig  gewesen,  wie  uns  in  den  Winterquar- 
tieren, die  zum  Ernst  ermahnt,  doch  nirgends  zu  rechtem  tiefen 
Ernst  kommen  konnten,  sondern  immer  von  Neuem  durch  die  Groß- 
thaten  unsrer  Frauen  unterhalten  und  zerstreut  wurden,  um  am 
Ende  einer  Großthat  der  Humanitäts-  u.  Freimaurerreligion  zuzu- 
schauen. Mich  tröstet  und  erfrischt  dieses  Spiel  der  Humanität 
nach  keiner  Seite,  auch  weiß  ich  nicht  was  uns  diese  Freude  un- 
serer altliberalen  an  dem  humanen  Schlüsse  im  Inneren  helfen  soll 
—  ja  wenn  man  daraus  auf  ein  inhumanes  Finale  gegen  das 
liberale  Zeug  im  Lande  selbst  schließen  dürfte  —  aber  im  Gegen- 
theil,  die  Humanität  wird  da  zuletzt  auch  den  Vogel  abschießen 
Tind  uns  freudig  mit  langer  Nase  als  die  geprellten  Söhne  des 
Conservatismus  abziehen  sehen.  Ich  habe  mich,  auch  wenn  ich 
hätte  ausgehen  dürfen,  diesmal  auch  grundsätzlich  an  keiner  Art 
Wahl  betheiligt.  Kein  Conservativer  giebt  sich  die  mindeste  Mühe 
«ine  Wahl  aus  sich  zu  ziehen  oder  für  eine  solche  Wahl  das  min- 
deste Vertrauen   zu   erwerben.      Was   soll   man  Zeit    und  Kräfte 


1)  Leo  war  geboren  am  19.  März  1799. 


Briefe  des  Historikers  Heinrich  Leo  an  Frau  von  Quast.  373 

daran  wenden  leeres  Stroh  zu  dreschen  und  leere  Nüsse  aufzu- 
beißen. Ich  bleibe  dabei,  es  hilft  uns  nichts,  als  wenn  endlich 
einmal  alle  ordentlichen  Menschen  dazu  kommen,  zu  keiner  Wahl 
nur  zu  gehen,  für  keine  auch  nur  eine  Sylbe  zu  reden  und  da- 
durch endlich  den  Beweis  zu  führen,  daß  dies  ganze  constitutionelle 
Puppenspiel  für  Deutschland  eine  Narrheit  ist,  eine  IJeerheit  ohne 
Fundament.  Es  kann  sein  meine  Stimmung  ist  z.  Theil  nur  das 
Ergebniß  meiner  von  lange  her  eingefädelten  und  durch  diesen 
tückischen  Winter  großgezogenen  Grippe.  Ich  will  mich  deshalb 
auch  nicht  zu  sehr  innerlich  aufbringen  lassen  —  aber  ein  Refrän 
bleibt  doch  schließlich:  Gott  bessers,  und  mache  seine  Genialitäten 
in  Zukunft  nicht  so  ganz  alleine,  wie  diesmal,  wo  er  den  Menschen 
doch  eigentlich  nur  die  strategischen  Berechnungen  und  das  sitt- 
liche Ertragen  überlassen  hat ,  worin  sie  ihm  hoffentlich  leidlich 
genug  gethan  haben,  um  in  zwei  Jahren  (länger  wirds  doch  nicht) 
dieselben  Leistungen  noch  einmal  zu  übernehmen. 

Emma  ist  wohl  und  munter  und  die  Freude  an  ihrem  kleinen 
Charlottchen  ist  so  kindlich  und  hinreißend,  daß  sie  sogar  mich 
alten  Knasterbart  damit  ansteckt.  Ich  werde  Ihre  Grüße  bestellen 
und  daß  Charlotte  Ihren  Taufnamen  trägt  treulich  berichten,  wo- 
mit ich  gewiß  große  Freude  anstelle.  Und  nun  behüte  Sie  Gott 
treulichst  wie  bisher,  ich  fürchte  auf  keinen  Fall  diesmal  meinen 
letzten  Brief  an  Sie  geschrieben  zu  haben.  Meine  besten  Empfeh- 
lungen an  Ihren  Herrn  Sohn  ...  —  auch  an  Tauscher,  dem  ich 
aus  gleichen  Gründen ,  wie  Ihnen  die  Antwort  auf  seinen  letzten 
Brief  schuldig  geblieben  bin.  Wie  sehr  ich  mich  auch  an  seiner 
Zeitung  freue,  schicken  kann  ich  ihm  doch  für  dieselbe  nichts.  Ich 
stehe  mit  meinen  Gedanken  und  Phantasieen  doch  zu  weit  dabei 
bei  Seite.  Um  in  dieser  letzten  langweiligen  trüben  Zeit  nicht 
gar  zu  sehr  in  langer  Weile  zu  verkommen,  habe  ich  mir  Lübke's 
histoire  de  la  renaissance  Fran9aise  kommen  lassen  und  erfreue 
mich  an  den  französischen  Schloß-  und  Hotelbauten,  die  mich  auck 
in  Zeiten  Frankreichs  zurückführen,  wo  von  ihren  heutigen  Teu- 
feleien noch  viel  weniger  an  den  Franzosen  hieng  dagegen  viel 
Weltverstand  und  verständige  Weltfreude.  Um  von  diesen  Dingen 
einen  Sprung  in  unsere  protestantischen  Kjrchenfreuden  zu  machen, 
müsten  aber  meine  Kniee  allerdings  noch  eine  größere  Sprungkraft 
besitzen,  als  in  diesem  Augenblicke  meine  Grippe  noch  gestattet; 
nicht  einmal  an  der  Correctur  meines  angelsächsischen  Wörter- 
buches habe  ich  die  volle  Freude,  die  ich  davon  hoffte  —  dies  gute 
englische  Volk  ist  doch  auch  durch  sein  constitutionelles  Wesen 
ein  größeres  Rindvieh  geworden,  als   ich  ihm   zugetraut  habe  — 


374  ^-  Bonwetsch, 

das  Zeug  verdummt  jeden  der  sich  damit  einläßt  —  Gott  sei  Dank 
daß  uns  kein  Eid  aufgelegt  worden  ist  das  Zeug  zu  lieben,  sondern 
nur  es  zu  beobachten  d.  h.  gründlich  hassen  zn  lernen. 

In  alter  Liebe  und  Treue  der  Ihrige  H.  Leo. 

Der  gute  SeniFt  schafft  auch  im  treuen  Dienst  das  Seine  — 
allerdings  zuweilen  in  zu  einfachen  Reflexionen,  für  die  unsre 
Zeit  nicht  mehr  geschaffen  scheint.  Warum  ist  nur  unser  guter, 
braver,  einfacher  Wilhelm  nicht  auch  einfach  bei  solcher  Einfach- 
heit geblieben,  sondern  hat  sich  von  diesem  überbürgerlichen  Staats- 
räsonnement  imponiren  lassen;  jedermann  fast  .  .  .  jubelt  .  .  .  wenn 
wir  einmal  von  der  letzten  Wahl  hören,  deren  jede  doch  mit  einem 
Stück  von  altem  preußischen  Wesen  zum  Teufel  fährt.  G-ott  er- 
halte uns  wenigstens  unser  Heer  in  alter  Treue  und  Gehorsam,  die 
noch  keine  Wahl  hat  anfechten  können. 

[etwa  Mai  1871].  Nach  Berlin  zum  Herrenhause  bin  ich  aller- 
dings noch  nicht  gekommen,  werde  auch  in  diesem  Jahre  nicht 
kommen,  denn  ich  bin  fast  unmittelbar  nach  dem  Ende  der  Ferien 
wider  in  wunderbarer  Weise  erkrankt  und  während  der  ersten 
Woche  nach  den  Ferien  etwa  9  mal  auf  der  Straße  der  Länge  nach 
zu  Boden  gefallen  und  zwar  zum  Theil  sehr  gefährlich  —  das 
eine  Mal  mit  dem  Kopf  an  ein  Wagenrath,  so  daß  nur  der  Zufall, 
daß  der  Mann,  der  den  Wagen  leitete,  neben  demselben  hergieng 
und  denselben  unmittelbar  anhalten  konnte  und  nicht  erst  abzu- 
steigen brauchte  [!]  Der  Minister  Mühler  hat  mich  für  dies  Semester 
von  Vorlesungen  dispensirt;  ich  war  bei  den  engen  Straßen  und 
dem  miserablen  Pflaster  in  Halle  wenn  ich  in  unseren  Straßen  zu 
gehen  wagte  in  der  Regel  sehr  bald  wie  behext  und  kann  nur, 
wenn  mich  meine  Frau  führte  und  geleitete,  es  wagen  auf  der 
Straße  zu  gehen.  Erst  in  den  letzten  Tagen  habe  ich  wider  einiger- 
maßen gehen  können.  Zu  Hause  geht  es  leidlich;  doch  nie  ohne 
Leitung  und  Aufrechthaltung.  Etwas  besser  scheint  es  wider  gehen 
zu  wollen  —  namentlich  im  Freien,  wo  ich  noch  nicht  gefallen 
bin;  dagegen  in  den  Straßen  der  Stadt  geht  es  noch  durchaus 
nicht ;  der  Arzt  macht  mir  Hoffnung  nur,  wenn  ich  gar  keine  Ex- 
perimente mache,  namentlich  nur,  wenn  ich  gar  keine  Versuche  zu 
gehen  in  der  Stadt  mache;  jedes  neu  umfallen  werde  mir  Schwindel 
und  Hinfallen  verursachen;  nur  wenn  ich  mich  sehr  in  Acht  nehme 
und  viel  im  Freien  gehe,  macht  er  mir  Hoffnung  auf  dauernde 
Besserung  .  .  .  Ich  selbst  habe  eigentlich  wenig  Hoffnung  auf 
gründliche  Besserung,  obwohl  der  Arzt  die  beste  Hoffnung  hat, 
zumal  es  in  den  letzten  Wochen   besser   geht,    denn  bei  meinem 


Briefe  des  Historikers  Heinrich  Leo  an  Frau  von  Quast.  375 

Yater  war  das  ebenso ;  der  ScElag  rührte  ihn  plötzlich ;  Präsident 
V.  Gerlach  .  .  hat  mich  durch  Tholuck  warnen  lassen.  Ich  möge 
mich  in  Acht  nehmen,  es  scheine  zu  Ende  zu  gehen.  Nun,  wie 
Gott  will !  ich  bin  auf  Alles  gefaßt.  Wenn  unsere  Welt  nur  nicht 
so  sentimental  zu  werden  anfienge.  Daß  unser  Geschlecht  keine 
Courage  mehr  hat,  zum  Xode  zu  verurtheilen,  ist  doch  ein  sehr 
bedenkliches  Zeichen  —  am  Ende  wird  man  auch  keine  Courage 
mehr  haben,  Krieg  zu  führen. 

[2.  Pfingstt.  1871].  Meine  hochverehrte  gönnerin  und  freundinl 
Ich  schreibe  Ihnen  heute  nach  langem  schweigen  in  einer  art 
Zerknirschung !  Sie  können  sich  denken,  dasz  ich  meine  aufregung, 
daß  die  preußische  armee  in  einer  art  einsiedlerischer  demuth 
Paris  passirt  ist,  nicht  blosz  Ihnen,  sondern  allen  freunden  auch 
bier  laut  genug  ausgesprochen  habe,  dasz  die  plane  gottes  an 
diesem  der  fauligen  gährung  anheimgefallenen  Paris  so  ganz  von 
unseren  leuten  unbeachtet  gelaszen  sind,  und  nun  zeigt  sich  dasz 
die  plane  gottes  doch  weit  gründlicher  und  ohne  allen  schaden  für 
uns  ausgeführt  worden  sind,  als  wir  sie  hätten  ausführen  können. 
Wenn  wir  Paris  in  einen  trümmer-  und  aschenhaufen  verwandelt 
hätten,  welch  ein  geschrei  über  die  nordischen  barbaren  würde  das 
gegeben  haben,  nun  wo  die  Franzosen  das  alles  selbst  weit  gründ- 
licher leisten,  als  wir  es  gekonnt  hätten,  werden  die  neutralen 
tropfe,  die  herren  engländer,  beigier  und  Italiener  belehrt,  daß  sie 
zeither  esel  ohne  alle  einfalle  gewesen  sind  und  müszen  uns  nach- 
träglich nach  allen  selten  recht  geben  —  ich  bin  durch  die  ge- 
schichte  belehrt,  dasz  ich  auch  ein  esel  war,  dasz  ich  mir  ein- 
bildete, der  liebe  gott  brauche  unsre  preußische  armee,  um  zu 
strafen,  wie  er  es  für  recht  findet,  während  er  doch  strafmittel 
die  hülle  und  fülle  auszer  der  preußischen  armee  hat,  wenn  er 
strafen  will  in  seiner  gerechtigkeit.  Wenn  man  sich  denken  könnte, 
Bismarck  habe  eine  gottgleiche  voraussieht  gehabt  und  in  dieser 
Voraussicht  den  ganzen  handel  um  den  Präliminarfrieden  ange- 
fangen und  ausgeführt,  so  müßte  man  ihm  eine  raffinirte  bosheit 
zutrauen,  wie  er  sie  entfernt  nicht  hat,  denn  so  wie  mit  diesem 
scheinbar  so  barmherzigen  Präliminarfrieden  ist  noch,  so  lange 
die  weit  steht  kein  volk  hinters  licht  und  in  sein  verderben  ge- 
führt worden,  wie  jetzt  die  franzosen,  von  denen  nun  auch  die  in 
Deutschland  auf  sicherem  boden  sitzenden  gefangenen  noch  zur 
theilnahme  an  der  strafe  herbeigeholt  werden  und  sie  in  dem  Paris, 
was  sie  von  innen  heraus  in  rauch  aufgehen  laszen,  einen  mittel- 
punct  aufgehen  laszen,    den   weder  sie,    noch   irgend   ein  Mensch 


376  N.  Bonwetsch, 

ihnen  zn  ersetzen  vermag,  wie  viel  knnstwerke,  wieviel  einzig  in 
Paris  vorhandene  Schriftwerke  werden  in  diesen  tagen  von  feuer 
verzehrt  werden,  und  was  gerettet  wird,  so  viel  es  sein  mag,  wird 
doch  nur  ein  armseliger  rest  sein.  .  .  und  ehe  Frankreich  sich  von 
dieser  strafe  nur  ein  wenig  erholt,  werden  dort  ganz  neue  bil- 
dungen  und  Schöpfungen  erwachsen  und  städte  wie  Lyon  und  Tou- 
louse werden  Paris  weit  voran  wachsen,  neue  mittelpuncte  sich 
bilden,  keiner  so  herrschend  wie  Paris,  keiner  so  gottlos  und  ver- 
derbend wie  Paris,  und  eine  ganz  andre  weit  wird  dem  Prank- 
reich, was  diesen  dampf  überdauert,  in  die  äugen  sehen,  nicht  der 
krieg  von  1870  sondern  der  brand  von  1871  wird  den  Charakter 
der  neu  entstehenden  weit  bezeichnen.  .  .  Als  ich  gestern,  als  am 
ersten  pfingsttage,  ohne  in  der  kirche  gewesen  zu  sein,  ausgehen 
wollte,  traf  ich  an  meiner  hausthüre  einen  prediger,  der  mir  sagte, 
er  passe  eben  auf  mich,  um  mir  eine  predigt  zu  halten,  und  mich 
zu  fragen,  wie  ich  dazu  komme?  unsres  herrn  Gottes  göttliches 
regiment  zu  tadeln,  der  uns  doch  gerade  durch  sein  regiment  so 
endlos  beschämt  und  gezeigt  habe,  was  und  wie  es  hätte  geschehen 
müszen,  um  seinen  willen,  auch  seinen  strafwillen,  durchzuführen 
und  dennoch  uns  vor  den  vorwürfen  heidnischer  barbarei  zu  be- 
wahren; ich  thäte  beszer,  in  sack  und  asche  busze  zu  thun  als 
darüber  zu  eifern,  dasz  unsere  leute  Paris  unberührt  hinterlaszen 
und  esseinen  eignen  söhnen  zur  strafe  und  Zerstörung  hinter- 
laszen hätten.  .  . 

In  alter  liebe  und  treue  der  Ihrige 

Dr.  Leo. 

[Sommer  1871].  Leider,  verehrteste  Gönnerin  und  Freundini 
bTn  ich  nicht  wohl.  Es  geht  mir  allerdings  besser,  aber  ich  brauche 
fortwährend  den  Stock  zum  Gehen  und  habe  bei  der  geringsten 
Anstrengung  Zittern  in  den  Beinen  und  mein  Gedächtniß  wird 
immer  weniger  präsent,  das  heißt  —  namentlich  Namen  verlieren 
sich  mir  oft  auf  Viertelstunden  dann  sind  sie  plötzlich  wieder  da. 
Emma  ist  wohl  und  ihre  kleine  Charlotte  gedeiht,  die  ich  leider 
noch  nicht  gesehen  hatte.  Ich  dachte  zu  Pfingsten  nach  Rostock 
zu  reisen,  aber  meine  Frau  setzte  sich  mit  Macht  dagegen,  wohl 
auch  mit  Recht!  denn  da  ich  aus  keinem  gewöhnlichen  Wagen 
ohne  die  Hilfe  eines  Stockes  aussteigen  kann,  und  mir[!]  das  in 
der  Regel  ungeschickte  Helfen  andrer  Leute  nicht  leiden  mag, 
auch  durch  irgend  Etwas,  was  mich  reitzt  sogleich  in  entsetzliche 
Aufregung  gebracht  werde,  hat  meine  Frau  schon  mehrfach  Scenen 
erlebt,  wo  wenig  gefehlt  hat,  daß  ich  einen  ungeschickten  Kutscher 


Briefe  des  Historikers  Heinrich  Leo  an  Frau  von  Quast..  377 

mit  dem  Stocke  über  den  Kopf  geschlagen  hätte,  stellte  sie  vor: 
was  soll  daraus  werden,  wenn  Du  in  solchem  Zustande  auf  einem 
fremden  Bahnhofe  einen  Babnbeamten  behandelst  und  doch  ist 
nichts  wahrscheinlicher  als  das  geschieht  und  dazu  das  überall 
jetzt  höchst  aufgeregte  und  empfindliche  Volk,  was  überall  nur 
Respect  haben  und  sehen  will,  weil  es  uns  wie  sie  meinen  allein 
vor  den  Franzosen  bewahrt  habe,  daß  das  die  Officiere  in  erster 
Stelle  mehr  gethan  haben,  als  es  selbst,  will  ja  niemand  begreifen, 
da  man  sogar  dem  Könige  übelnimmt,  daß  er  überall  dem  lieben 
Gotte  die  Ehre  giebt,  die  wie  es  meint  dem  deutschen  Volke  ganz 
allein  gebührt.  Hoffentlich  bin  ich  bis  zum  August  wider  so  weit, 
daß  ich  ohne  Stock  aus  einem  Wagen  kommen  kann  —  ich  habe 
jetzt  wenigstens  eine  kräftige  Stahlarznei,  die  auch  augenscheinlich 
Etwas  hilft  —  mir  mehr  ßuhe  schaft,  das  Zittern  der  unteren 
Gliedmaßen  mildert  und  mich  ordentlich  schlafen  läßt.  .  . 

Der  Arzt  hatte  gewollt,  ich  sollte  diesen  Sommer  nicht  lesen. 
Ich  habe  es  aber  doch  durchgesetzt.  Es  war  mir  zu  häßlich,  daß 
ich  nachdem  ich  70[!]  Jahre  gelesen,  nun,  bei  gesunden  Sinnen 
mein  Amt  im  Stiche  lassen  sollte  .  . 

Die  Zeit  ist  allerdings  sehr  confus  —  daß  der  jetzige  Pabst 
so  große  uimöthige  ßumor  macht  am  Gängelband  der  Jesuiten  ist 
wohl  begreiflich,  da  er  vom  Bischöfe  Malachias  die  Prophezeihung 
bekommen  hat :  cruce  de  cruce !  ein  Kreutz  vom  Kreutze !  —  da- 
gegen hat  der  nächste:  lumen  de  coelo.  Der  jetzige  also  ein 
Kreutz  vom  Kreutze,  der  nächste :  ein  Licht  vom  Himmel !  Da 
finde  ich  auch  noch  Etwas,  was  Sie  noch  lernen  müssen  —  nämlich 
warten !  und  Geduld !  —  Warten  Sie  nur,  das  Licht  vom  Himmel 
wird  auch  noch  kommen  —  die  katholische  Kirche  hat  ja  die 
Wahrsagung,  daß  nur  der  letzte  Pabst  wider  Petri  Priesterjahre 
erreichen  werde :  Petrus  war  nach  der  katholischen  Tradition  über 
25  Jahre  Haupt  der  Kirche,  und  Leo  IX[!]  ist  in  den  letzten 
Wochen  auch  über  das  25.  Jahr  hinausgekommen  —  es  scheint  also, 
er  wird  der  letzte  sein.  —  Daß  das  gerade  mit  dem  neuen  Kaier- 
thum  zusammen  trifft  —  der  erste  protestantische  Kaiser  —  wenn 
nun  der  nächste  Pabst  auch  der  erste  protestantische  Pabst  würde? 
was  dann?  Wo  wäre  dann  die  Infallibilität?  .  . 


ßeimstudien  L 

Von 
Edward  Schröder. 

Vorgelegt  in  der  Sitzung  vom  18.  Oktober  1918. 

Das  Adverbium  zu  hoch. 

Die  vorstehnde  Studie  und  in  engem  Zusammenhang  mit  ihr 
auch  die  zweite  sind  erwachsen  aus  Erwägungen  über  die  Text- 
gestalt von  ein  paar  Versen  des  'Helmbrecht'  (210.  605  f.  1391  f.), 
auf  die  ich  S.  379.  381  zu  sprechen  komme,  und  ihre  Entstehung  liegt 
schon  eine  Reihe  von  Jahren  zurück.  Für  die  Form  aber  in  der 
ich  sie  jetzt  zum  Druck  bringe,  ist  das  Material  nicht  nur  neu 
überprüft ,  sondern  bedeutend  vermehrt  worden :  alles  in  allem 
hab  ich  nach  meiner  Zählung  über  700,000  Verse  altdeutscher 
Dichter  auf  die  in  Frage  kommenden  Reime  exzerpiert^),  annä- 
hernd ebenso  viele  flüchtig  durchgesehen.  Es  gilt  das  namentlich 
für  die  zweite  Studie,  aber  ich  erwähn  es  schon  hier,  um  Behaup- 
tungen größern  Nachdruck  zu  geben,  die  ich  hier  aufstellen  muß, 
ohne  den  Raum  für  das  Beweismaterial  zur  Verfügung  zu  haben. 

Unsere  mittelhochdeutschen  Wörterbücher  (Mhd.  Wb.  I  696  f., 
Lexer  1 1323)  notieren  zu  hoch  das  Adverbium  mit  den  Formen 
hohe  und  hö^  Lexer  schaltet  zwar  dazwischen  noch  hoch  ein:  aber 
indem  er  nur  zwei  späte  Belege  anführt,  verrät  er,  daß  er  dies 
hoch  für  eine  apokopierte  Form  hält  ^}.    Die  Grrammatiken  schweigen 


1)  wobei  ich  mich  freilich  überall  wo  Reimlexika  existieren  (für  etwas  mehr 
als  100,000  Verse),  au^  diese  rerlassen  habe. 

2)  Die  verhängnisvolle  Nachwirkung  der  Wörterbücher  zeigt  z.  B,  das  Glossar 
von  Singer  zu  seiner-  Ausgabe  des  Heinrich  von  Neustadt,  wo  geradezu  angesetzt 
«wird:  'ho  Adv.'  —  'hoch  Adj.' 


Reimstudien  I.  379 

demgemäß  von  der  Form  und  betrachten  das  Adv.  ho  als  Kontrak- 
tion aus  höhe  >  höe :  so  Wilmanns  §  90  Anm.  1,  der  die  Erklärung 
von  Kögel  aus  einer  Form  mit  gw  (Idg.  Forsch.  3,  295)  als  ge- 
künstelt ablehnt,  und  Paul,  Mhd.  Gr.  §72,  der  in  der  Anm.  hö  =  hoch 
('wahrscheinlich')  auf  solche  Formen  zurückführt,  'wo  h  im  Inlaut 
zwischen  Vokalen  stehn  würde'.  Nur  Michels,  Mhd.  Elementar- 
buch §118  wirft  die  Frage  auf:  'Oder  ist  in  einem  Teil  der  mhd. 
Dialekte  ch  im  Auslaut  nach  langem  Vokal  lautgesetzlich  geschwun- 
den?' —  von  dem  Adverbium  speziell  sagt  er  nichts,  er  würde  aber 
jedenfalls  nichts  dagegen  haben,  auch  das  Adv.  hö  aus  einer  Form 
hoch  abzuleiten ,  wenn  sich  eine  solche  nachweisen  und  morpholo- 
logisch  begründen  läßt. 

Dem  im  Ahd.  unbedingt  vorherrschenden  hoho  (Graff  I  777), 
der  alten  Ablativform  des  Adverbs,  entspricht  im  Mhd.  natürlich 
zunächst  höhe.  Es  fehlt  aber  dafür  fast  ganz  an  Reimbelegen: 
denn  der  vlöh  springt  zwar  'hoch',  kommt  aber  in  der  Poesie  wenig 
vor  (und  gar  im  Dativ !) ;  bleibt  also  nur  der  (NGAkk.)  Plural  des 
Mask.  loh  und  der  Dat.  Sg.  des  gleichen  Wortes  (als  Mask.  u. 
Ntr.):  tatsächlich  beschränken  sich  die  Reimzeugnisse  auf  höhe: 
(in  dem)  lohe  Neidh.  29,  35 :  37,  wo  Überlieferung  und  Strophenform 
die  Form  sichern,  und  ähnlich  Helmbr.  605.  1391,  wo  die  Ausgaben 
seit  Haupt  der  Hs.  A  folgen  —  wie  sich  unten  zeigen  wird,  mit 
Unrecht. 

In  der  Zäsur  und  im  Versinnern  ist  die  zweisilbige  Form  höhe 
überreich  belegt.  In  der  Zäsur  z.  B.  Nib.  B  207,  2.  462,  2.  826, 1 
u.  s.  w. ;  Kudr.  59,  2.  253,  4.  366, 2.  863,  3  u.  s.  w. ;  im  Versinnern 
einerseits  da0  ez  im  höhe  stät  Nib.  330,  3,  ir  dinc  in  beiden  höhe  stät 
Nib.  546, 4 ;  vil  höhe  man  die  ivac  Kudr.  605,  2,  ich  ivil  dich  höhe 
mieten  Kudr.  1296,  3;  so  höhe  stet  des  Mneges  dinc  Bit.  4994,  dö  hete 
höhe  üf  erwegen  Bit.  10843  u.  s.  w.  —  anderseits  si  sint  vil  hohe  ge- 
muot  u.  ähnl.  Nib.  390,  4.  955,  4.  1171,  4.  1669,  4.  Für  Wolfram 
sind  sichere  Belege  z.  B.  höhe  oh  den  werden  Parz.  254,  25 ,  swie  un- 
höhe  iuch  daz  wigt  Parz.  287,  24.  Bei  Walther  steht  höhe  als  takt- 
füllend sechsmal,  das  nähere  s.  u.  S.  390  f. 

Nun  zeigt  aber  die  Überlieferung  mhd.  Dichter  nicht  selten 
im  Vers  die  Adverbialform  A  o  c  Ä ,  aber  hier  pflegen  unsere  Heraus- 
geber einzugreifen  und  sie  durch  höhe  zu  ersetzen,  so  oft  dies  ir- 
gend möglich  erscheint.  Ein  solcher  Fall  ist  Helmbr.  210,  wo 
beide  Hss.  bieten  {daz  ich  hi  dem  selben  hnaben)  den  wiben  hei  u ti- 
li och  erhaben,  und  weiter  a.  Heinr.  386  dajs  hoch  offen  stuont  sin 
tor,  wo  es  vor  Gierach  gleichfalls  alle  Herausgeber  für  nötig  ge- 
halten haben,  gegen  die  (hier  einzige)  Hs.  A  zu  schreiben  höh. 


380  Edward  Schröder, 

Diese  Adverbialform  hoch  ist  jedoch  auch  in  guten  alten  Hss. 
überliefert,  so  in  der  Milst.  Exodus  162,9  sin  haut  er  hoch  6f 
hup,  11  f.  sa  besinnt  er  sich  6f  tele  hoch  als  ein  ynore.  Reichlich 
so  alt  ißt  aber  auch  mein  frühster  Reimbeleg,  Rol.  109, 12  {die 
füren  gegen  dem  himele)  in  die  lüfte  vil  hoch  (: enzöch).  Aus  der 
Blütezeit  führ  ich  hier  an:  K.  Fleck  6824  {als  ez  sich  darzuo 
ge^öch)  niht  ze  nidere  noch  ze  hoch,  Wolfr.  Parz.  740,23  der  heiden 
warf  daz  swert  üf  hoch  {: gezöch),  Will.  88,  27  Jcastänen  homne  ein 
schache  da  stuont  mit  winrehen  hoch  {:  enpfloch)-  aus  den  Epigonen: 
Reinmar  v.  Zweter  159, 5 ;  Ulrich  v.  Licht.  Lied  m  58,  30 ;  Ulrich  v.  d. 
Türlin  140, 17.  152,18;  Ulrich  v.  Eschenbach  Alex.  4855.  7375; 
Heinr.  v.  Fr eib.  Trist.  5208;  Lohengr.  275,4.  326,1.  551,1;  Boner 
42,49.  49,1.  Ich  habe  mich  auf  Autoren  beschränkt,  für  die  das 
-ch  im  Reimwort  feststeht,  und  Fälle  fortgelassen  wie  Pass.  I  (Hahn) 
30,4,  wo  man  für  hoch:  zöch  allenfalls  auch  ho:  z6  erwägen  könnte. 
Allzu  zahlreich  sind  die  Belege  natürlich  auch  hier  nicht,  da  {ge)zöch 
und  {en)flöch  fast  die  einzigen  Reimwörter  sind  und  diese  sich 
schlecht  zu  hoch  gesellen. 

Eigentlich  hätte  es  solcher  Reimbelege  auch  gar  nicht  bedurft, 
um  die  Adverbialform  hoch  zu  erkennen ;  wir  besitzen  eine  ganze 
Reihe  adjektivischer  Zusammensetzungen  oder  Zusammenrückungen, 
in  denen  hoch  schlechterdings  nichts  anderes  als  das  Adverbium  sein 
kann.  Daß  man  das  jemals  verkannt  hat,  erscheint  merkwürdig 
und  doch  ist  es  so :  in  dem  oben  zitierten  Glossar  von  Singer  wird 
höchgehorn  ausdrücklich  beim  Adj.  hoch  eingestellt.  Aber  die 
entsprechende  Form  bei  guot  lautet  nicht  *guotgeborn,  sondern  wol- 
gehorn,  wie  es  ebenso  wolgemtwt  und  wolgezogen  heißt !  So  sind  denn 
all  die  Bildungen  wie  hoch  gel  oh  et,  höchgoneit,  höchg  emuot^ 
hoch  genant^  hochheschorn  u.  s.  w.  als  mit  dem  Adverbium  zusammen- 
gesetzt anzugehen  und  trotz  ihrer  äußern  Zugehörigkeit  zu  höchvart 
{höchvertic),  höchgemüete,  höchgerihte,  höchgezit  von  diesen  formell  zu 
scheiden.  Besonders  lehrreich  ist  in  dieser  Beziehung  das  Nibelungen- 
lied. Zu  den  zahlreichen  Stellen,  in  denen  höhe  gemüot  (besonders  für 
die  letzte  Halbzeile)  gesichert  ist,  treten  ebenso  zahlreiche  mit 
höchgemüot  (s.  Bartschs  Wb.  *) ;  man  vgl.  z.  B.  die  Halbverse 
si  sint  vil  höhe  gemuot  390,4 
und  si  sint  vil  höchgennwt  1721,  3. 
Die  im  vorhergehnden  aus  dem  Reim,  der  Wortbildung  und  der 
Überlieferung  gesicherte  Adverbialform  hoch  ist  nun  auch  mit  der 


1)  natürlich  weichen  die  Lesarten  hier  vielfach  ab. 


Reimstudien  I.  381 

Handschrift  B  an  den  beiden  Stellen  des  Helmbrecht  in  den 
Reim  einzusetzen.  605  f.  ist  im  genauen  Anschluß  an  diese  Hs. 
zu  lesen 

wie  du  soldest  fliegen  hoch: 

über  velt  und  über  loch, 
velt  und  loch  geben  hier  ein  besseres  Paar  als  walt  und  loch  oder 
gar  walt  und  lohe,  wie  A  überlieferte,  so  daß  von  den  Herausgebern 
erst  in  weide  und  lohe  geändert  werden  mußte.  —  Ebenso  schließ 
ich  mich,  und  hier  hab  ich  einen  Vorgänger  an  Kraus,  Zs.  f.  d.  Alt. 
47,308,  an  B  an  13911: 

derselbe  ritter  sie  gevienCy 
1390  dö  sie  den  äbent  späte  gienc 

suochen  Jcelber  in  den  loch: 

des  stät  QU  ch  mir  min  muot  hoch. 
Die  Mutter  war  in  das  Wäldchen  gegangen,  die  dort  weidenden 
Kälber  heimzuholen  ^) :  der  Akkusativ  ist  es  der  hier  verlangt  wird, 
nicht  der  Dativ;  und  das  ouch  mir  ist  kaum  zu  entbehren,  denn 
die  Schwester  sagt  zu  dem  Bruder  'du  hast  nichts  vor  mir  voraus'. 
Was  aber  zuletzt  bei  Panzer  steht:  suochen  helber  in  dem  lohe:  des 
stät  min  muot  so  höhe  ist  überhaupt  ein  abscheuliches  E-eimpaar 
(kl.  4:  3  Hebungen),  wie  es  so  wenig  bei  Werner  dem  Gärtner 
wie  sonst  in  dieser  Zeit  vorkommt. 

Wie  ist  nun  dies  Adverbium  hoch  aufzufassen?  Keinesfalls 
als  Apokope  von  höhe  —  also  muß  es  eine  ganz  andere  Form  sein. 
Es  bieten  sich  zwei  Möglichkeiten :  'hoch'  ist  unter  allen  Umständen 
ein  relativer  Begriff,  somit  würde  der  Komparativ  des  Adver- 
biums leicht  an  die  Stelle  des  Positivs  treten  können :  es  könnte 
dann  hoch  sich  zu  hoeher  verhalten  wie  ba^  zu  be^jser,  d.  h.  auf  ein 
german.  *hauhi;^  zurückgeführt  werden,  das  in  lautgesetzlicher  Ent- 
wickelung  zu  ahd.  hoch  wurde.  Gregen  diese  Auffassung  wird  man 
vielleicht  einwenden,  daß  die  Adverbialform  hoch  vorläufig  im  Ahd. 
nicht  belegt  sei;  mir  scheint  dieser  Einwand  nicht  stichhaltig, 
aber  ich  glaube  selbst,  daß  eine  andere  Erklärung  näher  liegt. 

Wir  wissen  daß  neben  dem  Ablativ,  der  in  höhe  wie  in  lat. 
merito  vorliegt,  bei  vielen  Adjektiven  auch  der  Akkusativ  des  Neu- 
trums als  Adverbium  gebraucht  wird,  bei  uns  wie  im  Lateinischen 
{multum,  satis,  facile).  Wilmanns  II  602  f.  hat  dafür  eine  sehr  lehr- 
reiche Sammlung  geboten;  er  zeigt  auch,  daß  in  einzelnen  Fällen 
von  demselben  Adjektiv  beide  Bildungsweisen,    die  akkusativische 


1)  vgl.  den  niederdeutschen  Ortsnamen  Kalverlah  (bei  Gifhorn)  und  die  Fa- 
miliennamen Kdlberldh  und  Kälberloh  im  Berliner  Adreßbuch. 


382  Edward  Schröder, 

und  die  ablativische  vorkommen  (so  garo — garaivo,  näh — näho),  hat 
aber  kaum  erkannt,  daß  diese  Erscheinung  eine  größere  Ausdeh- 
nung besitzt.  So  ist  ihm  nicht  nur  das  Paar  höch-höhe  entgangen^ 
sondern  noch  eine  Reihe  weiterer  Fälle,  wo  wir  eben  gewohnt  waren 
mit  Apokope  zu  rechnen.  Ich  greife  davon  nur  einige  heraus. 
Da  ist  zunächst  die  weit  verbreitete  Adverbialform  auf  -lieh  {'Uch)y 
besonders  auch  in  der  Zusammenrückung  beliebt :  jämerlich  gevar^ 
Jcumberlich  gemuot.  Weiterhin  lanc  neben  lange.  Sodann  rechne 
ich  hierher  unsere  neuhochdeutschen  'schon'  und  'fast',  die  adver- 
bial schon  um  1300  in  ostmd.  Quellen  bezeugt  sind  denen  Apokope 
keineswegs  geläufig  ist  (s.  Weinhold  §  318):  es  sind  das  die  nach 
dem  Sieversschen  Synkopierungsgesetz  regulär  entwickelten  Formen 
der  adjektiv.  i- Stämme ;  neben  vast  und  schön  ist  auch  hart  sa 
anzusetzen,  vgl.  Pass.  ed.  Hahn  65,  3  die  suche  traf  in  also  hart, 
—  Auf  oberdeutschem  Boden  haben  wir  dieselbe  Erscheinung,  wenn 
neben  schiere  auch  schier  als  Adverbium  schon  früh  erscheint,  und 
zwar  durch  den  Reim  belegt  in  alten  Quellen  die  noch  keine  Apo- . 
kope  aufweisen,  so  z.  ß.  in  Albers  Tundalus  659.  995  schier:  {ein) 
tier.  In  allen  diesen  Fällen  liegt  nicht  ein  veiskürztes  Ablativad- 
verb vor,  sondern  vielmehr  die  Akkusativform  des  Neutrums,  die 
daneben  die  gleiche  Verwendung  hatte  und  offenbar  in  historischer 
Zeit  mehr  und  mehr  Raum  gewann. 

Eine  reichere  Bezeugung  im  Reim  als  hoch  findet  naturgemäß^ 
die  Form  ho,  für  die  sich  bequemere  ßindungsmöglichkeiten  bieten. 
Es  sei  mir  gestattet,  meine  Auffassung  des  Gutturalschwunds  hier 
voranzustellen,  eh  ich  das  Alter  und  die  Ausbreitung  der  Erschei- 
nung in  den  mhd.  Quellen  beleuchte.  Die  vorwiegende  Meinung,, 
wie  sie  Wilmanns  und  Paul  vertreten,  geht  dahin,  daß  dies  h  zu- 
nächst lautgesetzlich  im  Inlaut  geschwunden  sei  und  die  Ao-Form 
des  Adverbs  also  durch  Kontraktion,  die  des  Adjektivs  durch 
Formübertragung  ihre  Erklärung  finde.  Nachdem  wir  ein  Adver- 
bium hoch  festgelegt  haben,  muß  die  Möglichkeit,  daß  ho  direkt 
aus  hoch  entstanden  sei,  zunächst  für  die  Adverbialform  ins  Auge 
gefaßt  werden;  wir  können  davon  freilich  das  unflektierte  (prädi- 
kative) Adjektiv  nicht  trennen. 

Man  sieht  eigentlich  nicht  ein,  warum  für  das  auslautende  -h 
so  hartnäckig  die  Analogie  verantwortlich  gemacht  und  der  Um- 
weg über  die  Formen  mit  Schwund  im  Inlaut  gesucht  wird.  Bei 
zöQi)  z.  B.,  wo  dieser  Abfall  weit  verbreitet  ist,  kann  er  nicht  aus 
dem  Prät.  stammen  und  müßte  also  aus  dem  Präs.  zien  abgeleitet 
werden,  dem  die  Präteri talformen  ziigen,  mge,  gezogen  doch  wahr- 


Reimstudien  I.  3g^ 

lieh  ein  Gegengewicht  boten ;  eher  könnte  man  schon  aus  der  Form 
mit  enkliniertem  Pronomen  wie  söher  den  Ausfall  herleiten.  Warum 
soll  aber  nicht  ebensogut  der  Abfall  des  -h  {-cli)  nach  langem  Vokal 
möglich  gewesen  sein,  wie  der  Abfall  des  -r,  der  sich  in  dar,  war, 
sär  vor  unsem  Augen  vollzieht  ?  Haben  wir  doch  in  den  heutigen 
Dialekten  auf  weitausgedehntem  Gebiete  den  Schwund  des  -ch  nicht 
nur  in  hoch,  sondern  auch  in  auch  und  gleich,  wo  das  ch  sogar  einem 
germanischen  h  entspricht !  auch  hat  seinen  auslautenden  Guttural, 
wie  der  Sprachatlas  erweist,  nahezu  auf  dem  gesamten  hochdeut- 
schen Sprachgebiet  verloren,  glei  statt  gleich  herrscht  in  zwei  aus- 
gedehnten Territorien :  Schwaben  und  Obersachsen. 

Über  den  Schwund  des  -ch  beim  prädikativen  Adjektiv  hoch 
gibt  der  Bericht  Wredes  im  Anz.  f.  d.  Alt.  22, 101  genaue  Auskunft^ 
das  betr.  Blatt  des  Sprachatlas,  das  ich  in  Marburg  selbst  einge- 
sehen habe,  weist  zwei  getrennte  Hauptgebiete  auf,  Mittelfranken 
und  Schwaben :  dort  hü,  hier  hö  mit  Neigung  zur  Diphthongierung. 
Die  schwäbische  Grenze  muß  dann  in  die  Nordostschweiz  fortge- 
führt werden  (wofür  ich  gegenwärtig  nur  auf  das  Schweizer  Idio- 
tikon II 972  verweisen  kann),  und  anderseits  erstreckt  sich  die 
Erscheinung  bald  in  dichten  Ortsgruppen,  bald  mehr  vereinzelt  tief 
nach  Bayern  hinein.  Was  hier  für  das  prädikative  Adjektiv  fest- 
gestellt ist,  gilt  natürlich  ebenso  für  das  Adverbium  hoch. 

Ein  paar  Belege  für  das  Adv.  h  ö  finden  wir  schon  bei  Notker  : 
Boeth.  I  2  (Piper  I  9,  26)  So  si  daz  houbet  hö  üferlüreta,  Ps.  130, 1 
Noh  miniu  öugen  nesint  hö  irhduen  (vgl.  9,  15  Du  mich  hoho  irheiiesf, 
72, 9  Uf  hoho  huöben  sie  iro  münt).  Ich  bin  nicht  sicher ,  ob  für 
diese  Fälle  bereits  die  Erklärung  durch  Abfall  des  -h  zutrifi't:  ha 
steht  hier  beidemal  im  Satzinnern  vor  Vokalanlaut,  und  so  war 
zunächst  Elision  (Apokope)  gegeben  (wie  bei  Otfrid  an  Hartm.  63 
Höh  ^)  er  oba  mdnnon  suebeta)  und  weiterhin  innerer  Ausfall  des 
h  möglich,  den  ich  darum  keineswegs  aus  der  Berechnung  ganz 
ausschalten  will. 

Auf  Reimbelege,  bei  denen  ich  gleichmäßig  das  Adv.  und  das 
unflektierte  Adj.  beachte,  sie  aber  in  meiner  Sammlung  geschieden 
habe,  hab  ich  zunächst  die  gesamte  Dichtung  von  ca.  1050  bis  1200 
durchgelesen  und  glaube  versichern  zu  können,  daß  bis  um  1150 
nicht  ein  einziges  Beispiel  vorkommt.  Das  kann  freilich  auch  mit 
dem  merkwürdigen  Zurückbleiben  der  d -Heime  zusammenhängen, 
das   ich   in  Studie  II   erörtere.     Nicht   nur   die   großen   bayrisch- 


1)   Da  diesem  einen  höh  siebenmaliges  hoho  bei  Otfrid  gegenübersteht,    hab 
ich  es  bestimmt  nicht  als  Beleg  für  die  Adverbialform  hoch  angesehen. 


"384:  Edward  Schröder, 

osterreichisclien  Werke  von  der  Wiener  Grenesis  bis  zum  Rolands- 
lied und  der  Kaiserchronik  ermangeln  der  Belege,  auch  was  wir 
von  rheinischer  Litteratur  aus  dieser  Zeit  besitzen:  beim  E-other 
konstatier  ich  freilich  die  merkwürdige  Tatsache,  daß  er  übh. 
keinen  Reim  auf  -o  bietet.  Die  Dichter  bajuvarischen  Stammes 
meiden  den  Reim  zunächst  auch  weiterhin,  z.  Tl.  mit  großer  Strenge, 
wie  wir  unten  sehen  werden :  im  12.  Jh.  fehlt  er  auch  bei  Heinrich 
V.  Melk,  in  der  Litanei,  in  Anegenge,  in  Werners  Marienleben,  in 
Albers  Tundalus,  im  obd.  Servatius;  in  Alemannien  fehlt  er  dem 
Linzer  Entechrist,  in  Mitteldeutschland  dem  Credo  Hartmanns,  was 
bei  3800  Versen  immerhin  aufiällig  ist,  und  der  alten  (erschließbaren) 
Fassung  des  Brandanus;  s.  u.  S.  408. 

Die  frühsten  Belege  entfallen  auf  mitteldeutsche  Dichter. 
Wild.  Mann,  Christi.  Lehre  136  vrö:  ho  Adv.;  Werner  v. Nieder- 
rhein, Vier  Scheiben  132  also:  ho  Adv.;  Werner  v.  Elmen- 
dorf  713  ho  Adv.:  Cicero.  Während  die  Form  im  Vorauer  Text 
fehlt,  stehn  im  Straßburger  Alexander  drei  Belege  auf  engem 
Räume:  Adj.  ho:  6101.  6466.  6854.  Bei  allen  vier  Dichtern  ist 
der  Fortfall  der  auslautenden  -h  auch  für  andere  Wörter  gesichert, 
der  Reim  also  sicher  bodenständig.  Dasselbe  trifft  für  das  älteste 
alemannische  Zeugnis  zu:  aus  dem  alten  Reinhart  hat  die  deutsch- 
böhmische Umarbeitung  den  Reim  ho:  fro  797 f.  ebenso  beseitigt 
wie  an  5  Stellen  (795  f.  969  f.  1689  f.  1699  f.  1729  f.)  die  Bindung 
gä(ch):  sd  resp.  da.  Es  sei  schon  hier  betont,  daß  der  elsässische 
Landsmann  Heinrichs  des  Gleißners  Gottfried  v.  Straßburg  keine 
Spur  derartiger  Reime  aufweist. 

In  der  Sprache  des  Autors  begründet  ist  das  Reimwort  ho 
ferner  im  Lanzelet  des  Ulrich  v.  Zatzichoven:  Belege  für  das 
Adverb  2912.  3729.  4793.  5931.  6429;  Adj.  765.  6573. 

Auch  bei  Hartmann  von  Aue  entstammt  das  Reim  wort 
ho  sicherlich  der  Heim^tsmundart.  Ich  finde  es  im  Erec  als 
Adverb  1432.  7341.  7661.  10040,  als  Adj.  9015,  darüber  hinaus 
aber  nur  noch  je  einen  Beleg  im  Gregorius  734  (Adj.)  und  im 
Iwein  7081  (Adv.),  was  dafür  spricht  daß  H.  die  Form  später 
gemieden  hat ;  weniger  wahrscheinlich  ist,  daß  er  sie  einem  andern 
Sprachgebiet  litter  arisch  entlehnte  und  später  aufgab. 

Ebenso  Sprech  ich  die  Form  der  Mundart  des  Schwaben  Frei- 
dank zu:  Adv.  43,2  (unhö).    103,27.   118,24.  123,22;   Adj.  9,  10. 

Sie  gehört  sicher  zu  eigen  dem  Hadlaub,  für  den  ich  (in 
2220  Versen)  5  Fälle  des  Adv.  ho  notiere:  6,23.  20, 10.  24,9.  32,3. 
39,3,  undnoch  später  dem  Konrad  V.  Ammenhausen:  Adj.  ho: 
3917.   8821.   18140  —   der  Dichter  reimt  auch   dö:  empflö   9558, 


Reimstadien  I.  335 

rintsclmo:  mo  11751.  19315.  Ulrich  Boner,  für  den  ich  oben 
zwei  Fälle  von  hoch  (Adv.)  im  Reim  verzeichnete  (dazu  Adj.  16, 11), 
der  aber  den  vlö  immer  ohne  -h  reimt  (48, 1.  35.  130.  137),  hat  auch 
zweimal  hö  (Adv.) :  49,  44.  82,  14.  Welche  Form  seiner  Mundart 
entstammt,  müssen  die  Schweizer  feststellen. 

Im  rechten  Gregensatz  zu  Gottfried  steht  125  Jahre  später 
der  Eappoltsteiner,  oder  wie  man  wohl  besser  sagen  sollte,  Straß- 
burgerParzival,  für  den  ich  in  3000  Versen  5  Beispiele  des  Ad- 
jektivs hö  im  Reime  verzeichne :  92,  25.  95, 17.  95,  37.  102,  7.  111, 24 ; 
dabei  schreibt  Henselin  im  Versinnern  79,  2  die  worent  tief  und 
hoch  erhaben. 

Bei  den  übrigen  Alemannen  fehlt  die  Form  entweder  ganz, 
wie  bei  den  Elsässern  Grottfried  von  Straßburg  und  Egenolf 
von  Staufenberg  und  ihren  nördlichen  Nachbarn,  dem  Dichter  des 
Moriz  von  Craon  und  dem  von  Tristan  als  Mönch,  ferner  in  der 
G-uten  Frau,  in  Ulrichs  von  Türheim  Tristan,  bei  Heinrich  von  Be- 
ringen, bei  Johann  von  Würzburg  und  im  Friedrich  von 
Schwaben  —  oder  sie  tritt  nur  ganz  vereinzelt  auf,  und  dann  ist 
es  nicht  immer  leicht  zu  entscheiden,  ob  sie  als  Dialektform  unter- 
drückt wurde,  oder  aber  als  litterarische  Reminiszenz  eingeschlüpft  ist. 

Fest  steht,  daß  sie  dem  Churrätier  Rudolf  von  Ems  fremd 
war:  im  Guten  Gerhard  hab  ich  kein  Beispiel  gefunden,  und  für 
die  ganze  Weltchronik  weist  Wegeners  Reimregister  nur  den  einen 
Beleg  32189  auf.  Konrad  v.  Würzburg,  der  das  Adj.  immer 
auf  flöch,  zoch  reimt,  hat  im  Engelhard,  den  ich  allein  ausgezogen 
habe,  einmal  Adv.  ho  {:do)  2594.  Konrad  Fleck,  der  hoch  als  Adj. 
4174.  4229,  als  Adv.  6824  im  Reim  bietet,  braucht  dem  gegenüber 
einmal  das  Adv.  hö  (:fro)  5304.  Ebenso  findet  sich  ein  Beleg  bei 
Konrad  von  Stoffeln  (1746).  Von  den  Lyrikern  verdient  Reinmar 
d.  A.  Beachtung:  zweimal  Adv.  hö:  174,  15.  185, 18;  sodann  haben 
Gottfried  v.  Neifen  (4, 1)  und  Ulrich  von  Winterstetten  (Leich 
IV  30)  je  einmal  adverbiales  hö  im  Reime.  Im  Reinfried  von  Braun- 
schweig hab  ich  in  9000  Versen  nur  frö:  hö  (Adj.)  8794  gefunden, 
bei  Hugo  V.  Langenstein  in  ebenso  viel  nur  (Adj.)  hö:  Patdö  96,58. 

An  die  Grenze  des  bairisch-schwäbischen  Gebiets  gehört  Konrad 
von  Heimesfurt:  ohne  Beleg;  Südfranken  und  Österreich  teilen 
sich  in  den  Stricker,  dessen  Daniel  gleichfalls  kein  Beispiel 
aufweist.  Auch  den  Barlaam  des  Otto  II  von  Freising  schließ 
ich  hier  an,  der  in  mehr  als  16000  Versen  nur  das  eine  Adv.  ho 
{:do)  12487' ergibt. 

Wir  wenden  uns  wieder  nach  Mitteldeutschland  und  be- 
ginnen mit  dem  mittelfränkischen  Gebiet,  in  welchem  heute  hü 

Kgl.  Ges.  d.  Wiss.    Nachrichten.    Phil.-hist.  Klasse.    1918.    Heft  3.  25 


386  Edward  Schröder, 

herrscht.  Das  starke  Hervortreten  des  Reimworts  M  im  Herzog 
Erns  t  B  (808.  2125.  2835.  2935.  3848)  geht  gewiß  auf  das  mfrk.  oder 
rhfrk.  Original  zurück,  dessen  Fragmente  zu  wenig  umfangreich  sind, 
um  es  zu  bestätigen.  Dem  Heimatsdialekt  entspricht  deutlich  das 
Marienlob  aus  dem  Ahrtal  (Zs. f.  d. alt.  10) :  hier  ist  nicht  nur  das 
Adv.  46,  38f.,  sondern  auch  das  Adj.  als  ho:  bezeugt,  und  gerade 
dies  recht  reichlich:  3,  9.  9,  9.  13, 16.  70,  28.  71,  38.  80,  20.  91,  35. 
125,  1.  131,35  —  im  ganzen  10  mal  auf  5140  Verse.  Ebenso  steht 
die  Sache  inMorant  undGralie  (Karlmeinet),  wo  auch  das  hier 
häufige  zöQi)  zu  den  Reimen  auf  -6  tritt ;  ho :  als  Adv.  260, 6. 
274,25  und  bes.  als  Adj.  223,26.  247,60.  272,24.  278,4.  285,55. 
291,57.  Für  Hermann  v.  Luxemburg  notier  ich  Adj.  unho 
1609,  Adv.  ho  807.  5823;  hier  reimen  vloich:  zoich  ausschließlich 
untereinander.  —  Auffällig  ist  der  völlige  Ausfall  der  Reimform 
bei  Gottfried  Hagen  (6292  Verse),  wo  Dornfeld  §  102  den 
Schwund  des  -h  immerhin  für  nä  (5x),  geve  (2x),  vlö  (1  x)  notiert. 

Für  sich  mag  Heinrich  v.  Veldeke  behandelt  werden. 
Die  21  Äo-Reime  der  Eneide  zählt  v.  Kraus  §  63  auf,  auf  das  Ad- 
verb fällt  nur  ein  gutes  Drittel:  594.  2147.  4756.  6833.  10834. 
11926.  12466.  13263.  Im  Servatius  hab  ich  im  ganzen  9  Fälle 
gezählt ;  in  den  Liedern  einen  (63,  6). 

Von  den  rheinfränkischen  und  hessischen  Dichtern 
weist  der  Pilatus  (in  nur  445  Versen)  zwei  Beispiele  auf:  Adv.  291, 
Adj.  41,  daneben  das  Adjektiv  hoch:  zöch  183.  Die  Athis-Frag- 
mente  dagegen  (ca.  1590  Verse)  bleiben  ohne  Beleg,  den  der  Reim 
tröste:  hoste  F  99  allenfalls  erwarten  ließe.  In  Ottes  Eraclius  ein 
Fall:  Adj.  ho:  strö  2199.  Für  Herbort  von  Fritzlar  stellt 
Brachmann  §  92  5  Belege  fest,  die  durch  zahlreiche  nä :  da  u.  s.  w. 
gestützt  werden.  Sparsam  damit  ist  die  Elisabeth,  wo  in 
10534  Versen  3x  das  Adjektiv  ho:  begegnet  (1307.  3783.  3852), 
anderseits  hoch:  Äntioch  die  Erhaltung  des  Gutturals  sichert;  in 
der  Erlösung  (6593  VV.)  dagegen  zähl  ich  das  Adverb  5  x  (307. 
1772.  1966.  3100.  4751),  das  Adj.  2x  (4031.  6179).  Die  gleich- 
falls rheinfränkische  Marien  Himmelfahrt  Zs.  f.  d.  Alt.  5  (1844  VV.) 
ergibt  wieder  nur  ein  Beispiel  für  das  Adverb  sungen  ho :  deö  1454. 

In  Thüringen  haben  wir  zunächst  Ebernand  von  Er- 
furt (4752  VV.),  bei  dem  hantschuoch:  enruoch  3759,  ^och:  vlöch  unter 
sich  oder  gar  auf  den  'KigennamenlGundelöch  4070  reimen,  dagegen 
nä  ^prope'  {:dd)  Sx  und  hößx:  Adj.  75.  1467.  1799;  Adv.  ,143L 
3530.  4126.  Noch  zahlreicher  sind  die  Fälle  bei  Heinrich  v. 
Morungen  (ca.  900VV.):  122,12.  132,30.  133,25.  143,12,  durch- 
weg Adverb,  und  fünfzig  Jahre  später  bei  Heinrich  v.  KröU- 


Reimstudien  I.  387 

Witz  (4889  VV.):  Adj.  3315.  4713.  4725,  Adv.  824.  3719.  4340. 
4415. 

Weiter  nördlich  gehört  das  Reimwort  ho  zur  Litteratursprache 
Eilards  v.  Oberg  (Gierach  §  53,  2),  Bertholds  v.  Holle,  der 
im  Demantin  (11760  YV.)  ho:  als  Adj.  Ix  (6938),  als  .Adv.  2x 
(7572.  7957)  verwendet  und  Bruns  ron  Schönebeck,  bei  dem 
ich  es  in  den  ersten  3000  Versen  5  x  gefunden  habe.  Auch  in  der 
ßraunschweig.  Reimchronik  taucht  es  gelegentlich  auf  (2446  f.)  und 
noch  viel  später  bei  Eberhard  von  Zersen  (231.  935). 

Von  D  eut  schordensdichtern  hab  ich  6000  Verse  des 
Passionais  (Hahn  1—33,63;  Köpke  53 — 84,78)  ohne  Ergebnis 
gelesen,  in  Heinrichs  v.  Hesler  Evangelium  Nicodemi  (5392  V V.) 
nur  einmal  das  Adv.  ho :  gefunden  3779. 

Bei  den  Ostfranken,  die  kein  nä  im  Reime  kennen,  ist  als 
bodenständig  auch  kein  hö  zu  erwarten:  in  der  Tat  sind  die  ver- 
einzelten Beispiele  bei  Wirnt  (Adv.  87,27.  150,22)  als  Litte- 
raturreime  anzusehen,  denen  Belege  für  das  viel  schwerer  zu  rei- 
mende hoch  gegenüberstehen  (Adj.  175,  29.  245,  7).  Im  Renner  des 
Hugo  vonTrimberg  V.  1 — 6000  hab  ich  nur  das  eine  Adv.  hö 
1208  gefunden. 

Für  Ulrich  von  dem  Türlin,  Ulrich  von  Es chenbach 
und  Heinrich  von  Freiberg  hab  ich  oben  S.  380  Reimbelege  zu 
dem  Adv.  hoch  gegeben :  wenn  sich  bei  allen  dreien  daneben  die 
Doppelform  hö :  findet,  ist  dies  ein  Zeugnis  für  die  ähnliche  Sprach- 
mischung dieser  deutschböhmischen  Dichter :  U.  v.  d.  Türlin 
140,  22  (Adj.),  154,  31  (Adj.) ;  U.  v.  Eschenbach  Alex.  5622.  6356. 
6899  (immer  Adv.);  H.  v.  Freiberg  Trist.  2074  (Adv.). 

Auch  der  Schlesier  Johann  v.  Frankenstein  hat  beides:  Adv. 
hoch:  9214,  Adv.  hö  3466.  In  Ludwigs  Kreuzfahrt  aber  ist  zwar 
Adj.  hoch:  1418  und  hö:  275,  aber  als  Adv.  nur  hö  zu  finden  734. 
2239. 

Die  Bayern  und  Österreicher ,  zu  denen  wir  nun  kommen, 
lassen  von  vornherein  keine  Verwendung  von  hö  im  Reim  erwarten. 
In  der  Tat  fehlt  die  Form  vollständig  bei  Wolfram  von  Eschen- 
bach, im  Nibelungenlied,  in  der  Klage,  in  der  Kudrun, 
imBiterolf,  weiter  bei  Konrad  von  Fußesbrunnen,  Rein- 
bot v.  Dürne,  in  der  Warnung,  bei  dem  Fleier  (in  9000 
von  mir  ausgezogenen  Versen),  bei  Herrant  von  Wildon,  Werner 
dem  Gärtner,  Konrad  von  Haslau,  Rüdiger  von  Hunkhofen,  im 
Lohengrin  und  bei  dem  sog.  Seifried  Helbeling.  Wir  dürfen 
also  da  wo  wir  sie  trotzdem  antreffen,  wieder  auf  unbewußte  Re- 


388  Edward  Schröder, 

miniszenz  oder  bewußte  litterarische  Entlelinung  schließen.  Das 
erstere  gilt  ohne  weiteres  für  die  Fälle  vereinzelten  Vorkommens, 
z.B.  Neidhart  63,5  (Adv.),  Wigamur  1213.  5727  (Adj.),  Enikel 
(Wehr.  4936),  Ottokar  13456.  68024,  Gundacker  (4630),  Tho- 
masin, der  einmal  ivundern  ho  8249  und  ein  anderes  Mal  sogar 
das  Abstractum  in  der  Form  (weder  sin  tiefe  noch  sin)  ho  8990 
braucht.  Nur  wenig  zahlreicher  sind  die  Belege  bei  Heinrich 
V.  d.  Türlin,  der  in  V.  1—10000  vier  Fälle  bietet  (1424.  3750. 
4164.  4568),  und  bei  Heinrich  von  Neustadt,  wo  ich  zwar  in 
V.  1 — 6000  des  Apollonius  nur  ein  Beispiel  für  das  Adv.  hö  no- 
tierte (5330),  nachträglich  aber  in  Singers  Glossar  unter  '7iö  Adv.'  noch 
10  Stellen  aus  andern  Partieen  der  Werke  finde,  von  denen  5  freilich 
als  adjektivisch  zu  fassen  sind.  Der  Dichter  von  Mai  und  Bea- 
f  lor  braucht  das  Adv.  ho:  nur  zweimal  im  Eingang  seines  Werkes  : 
13, 10.  18,  36. 

Zahlreicher  (im  Verhältnis  sind  die  Belege  bei  Liutwin 
(3942  VV.),  den  Zwierzina  Zs.  f.  d.  Alt.  44,  252  (wie  Steinmeyer  Anz. 
f.  d.  Alt.  8,  230)  nach  Österreich  setzt:  Adv.  1857.  3835,  Adj.  3073. 
3822. 

Es  bleiben  nun  noch  zwei  österreichische  Dichter  zu  besprechen, 
Yon  denen  der  eine,  Ulrich  von  Lichtenstein  eine  merkwürdige  Wuche- 
rung des  Reimbrauchs  aufweist,  der  andere,  Walther  von  der  Vogel- 
weide uns  durch  die  Frage  nach  der  Herkunft  der  Erscheinung 
besonders  interessiert. 

Daß  Ulrich  von  Lichtenstein  'das  Adv.  hö  als  gefüges 
Reimwort  sehr  häufig  anwende' ,  bemerkt  Beckstein  gleich  zu  1,  8 
des  Frauendienstes.  In  der  Tat  erstreckt  sich  diese  massenhafte 
Verwendung  über  alle  Teile  des  Frauendienstes  und  obendrein 
über  das  Frauenbuch.  Ulrich  kennt  und  braucht  auch  die  beiden 
andern  Formen:  höhe  freilich  nur  innerhalb  des  Verses,  z.  B.  Man 
loht  si  höhe:  daz  ivas  reht  5,  5,  Min  miiot  von  iviben  höhe  stät  424,  7 
=  429,9,  oder  gar  min  muot  der  stuont  mir  höhe  hö  60,16;  hoch 
sowohl  im  Versinnern :  si  ist  ze  hoch  gar  uns  geborn  5,  27  (wo  Bech- 
stein  fälschlich  höhe  einführt),  wie  gelegentlich  einmal  im  Reime: 
Höher  muot  du  twingest  tnir  den  Up  ze  hoch:  flöch  58,  30  (Lied  iii). 
Die  eigentliche  Reimform  für  diesen  echten  Dichter  des  hohen  Mutes 
ist  indessen  hö:  es  findet  sich  im  erzählenden  Text  des  Frauen- 
dienstes (14800  VV.) :  70  x,  in  den  kleinen  Zwischenstücken  (95  VV.): 
0  X,  in  den  drei  Büchlein  (1155  VV.) :  3  X,  in  den  Liedern  (2339  VV.) : 
14 X,  schließlich  im  Frauenbuche  (2136  VV.):  10 x,  alles  in  allem 
in  20525  Versen  97  x,    d.  h.  nahezu   ein  Prozent  aller  Reimpaare 


Reimstudien  I.  389 

(die  Lieder  mögen  einmal  als  paarig  gereimt  gelten)  enthält  das 
Reimwort  ho.  Das  klingt  an  sich  schon  erstaunlich,  wird  es  aber 
noch  mehr,  wenn  man  erwägt,  daß  di<5  Form  der  Heimatsprache 
Ulrichs  unbedingt  fremd  war.  Sein  Freund  Herrant  von  Wildon 
hat  in  1702  Versen  kein  Beispiel,  sein  jüngerer  Landsmann  Ottokar 
läßt  sich  die  litterarische  Form  nur  ganz  vereinzelt  entschlüpfen, 
auch  in  den  5320  Versen  des  Steiermärkers  Gundacker  von  Juden- 
burg begegnet  sie  nur  ein  einziges  Mal.  Und  bei  Ulrich  kommt 
ein  Fall  auf  100  Reimpaare! 

Es  handelt  sich  so  gut  wie  ausschließlich  um  das  Adverbium, 
und  das  Eeimwort  ist  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  fro:  in  den 
Liedern  frö  9  x  ^),  unfrö  1  x  ^),  so  4  X  ^).  Damit  haben  wir  deut- 
liche Hinweise  auf  die  litterarische  Quelle  des  Reimes ,  denn  fro 
ist  (wie  die  IL  Studie  zeigen  wird)  ein  Reimwort,  das  erst  mit 
der  Lyrik  hochkommt,  und  ebenso  entstammen  dem  Minnesang  die 
sämtlichen  Wendungen,  in  denen  das  Adverb  M  bei  Ulrich  er- 
scheint. Für  die  Lieder  ist  das  selbstverständlich,  ich  will  daher 
zum  Zeugnis  die  10  Belege  des  Frauenbuchs  vorführen,  in  dem  sich 
der  Dichter  gewiß  am  meisten  von  der  lyrischen  Ausdrucksweise 
entfernt.     Hier  reimen 

auf  also :  des  stet  mtn  muot  von  schulden  ho  595,  4 ; 
auf  fro :    und  unser  gmüete  tragen  ho  ?  598,  32 

und  ir  fjemüete  tragen  ho  625, 14.  655, 4 
und  diu  ir  gemüete  ho  (.  .  .  treit)  626,  18 
(ir  gemüete)  von  ivibes  güete  stiget  hö  637, 11 ;  ferner 
der  muot  uns  stet  vil  ofte  unhö  596, 14 
e^  hüebe  uns  all  von  rehte  unhö  516,4; 
auf  ?m/Vo;  und  stiget  ir  gemüete  hö  623,11 

und  uns  der  muot  niht  stiget  //o  651,  32. 
Nun  ist  die  Phraseologie  dieser  7iö-Verse  allerdings  hier  in  Ulrichs 
spätestem  Werke  noch  mehr  zusammengeschrumpft,  aber  sehr  reich 
ist  sie  nie  gewesen:  als  Subjekt  und  Objekt  wechseln  ich  (resp.  mich), 
mtn  muot,  gemüete,  sin,  herze,  das  Verbum  ist  stdn,  Icomen,  stigen, 
heben,  tragen.  Die  Variationen  dieser  Floskel  sind  es  nun  aber, 
denen  wir  auch  vor  Ulrich  überall  im  Minnesang  verstreut  be- 
gegnen, wo  das  hö  im  Reime  sich  einstellt.     Ich  notiere 

Reinmar  d.  A.  177,  15  sin  herze  stdt,  ob  irz  gebietent,  iemer  hö  (:  frö) 
185,  30  und  inin  gemüete  tragen  hö  (;  frö) 

1)  97,24.  400,3.  410,25.  423,12.  457,7.  507,26.  536,12.  549,22.  556,21. 

2)  556,  9. 

3)  110, 12  {unU).  553,  27.  554, 16  (:  also).  580,  26. 


390  Edward  Schröder 

H.  V.  Morungen  182,30  so  stuont  ir  daz  herze  Jiö  (:fr6:  do) 
"Walther  41,15  tougenliche  stdt  min  herze  ho  [:fr6) 

4A^  5f.  und  tragen  gemüete  ze  mdze  nider  tinde  ho 

(:frö) 
76, 13  mm  herze  sweht  in  sunnen  ho  (Yokalspiel) 
117,2  min  herze  st  an  fröiden  ho  {idlsö:  fro) 
Neidhart  63,  5  des  trüret  manic  herze  des  gemüete  stuont 
e  ho  {:frd:  do) 
Gr.  V.  Neifen  4, 1  min  herze  stüende  ho  (:  fro) 
U.  V.  Winterstetten 

Lied  IV  30  reht  so  stüende  min  gemüete  ho  (:frd:  so). 

Bei  Reinmar,  Neidhart,  Neifen  und  Winterstetten  sind  die  aufge- 
führten die  einzigen  Verse  mit  dem  Ausgang  ho  und  überhaupt 
mit  Fortfall  des  -h:  ein  deutlicher  Beweis,  daß  es  sich  hier  um 
eine  beliebte,  leichten  Modifikationen  unterliegende  Wanderzeile 
handelt.  Einen  weiteren  Beleg  dafür  bietet  auch  Wirnt  von  Grrafen- 
berg  mit  den  beiden  einzigen  Versen  mit  Abwurf  des  -hj  die  er 
seinem  Dialekt  entgegen  zuläßt:  87,  17  sttgent  diu  herzen  ho  und 
150,  21  deistvär,  gestuont  din  herze  ie  ho  ? 

So  deutlich  nun  auch  die  Verbreitung  des  Versausgangs  ho 
in  Verbindung  mit  einer  bestimmten  lyrischen  Floskel  ist*),  zu 
einer  Wucherung  wie  wir  sie  bei  Ulrich  von  Lichtenstein  antreffen, 
war  in  dem  Minnesang  der  vorausgehenden  Zeit  kein  Anlaß  ge- 
boten: das  ist  des  Steiermärkers  eigenste  Leistung,  und  es  gibt 
keine  Vermutung  darüber,  von  welcher  Seite  er  überhaupt  die 
Anregung  dafür  erhielt.  Nach  unserer  Überlieferung  kämen  nur 
Reinmar  mit  den  obigen  beiden  Beispielen,  Morungen  (dessen  3 
übrige  Beispiele  ganz  abliegen)  und  Walther  in  Betracht. 

Walther  von  der  Vogelweide,  dem  ich  mich  am  Schlüsse 
zuwende,  hat  außer  den  oben  angeführten  noch  zwei  Belege : 
17,37  er  ist  guot  nider  unde  ho  {ifrö:  stro) 
85,  31  daz  iuwer  top  da  enzwischen  stiget  unde  sweibef  ho  {:  fro:  also). 

Ich  fasse  alle  6  Fälle  adverbiell  auf,  auch  117,  2,  wejin  nicht 
gar  hier  gegen  die  Überlieferung  (CE)  zu  ändern  ist  7mn  herze  ste 
an  fröiden  ho. 

Im  Versinnern  laßt  sich  bei  Walther  ausschließlich  die  zwei- 
silbige Form  nachweisen,  denn  wenn  wir  finden  das  Adverbium 
taktfüllend : 

17, 12  Sit  ez  in  also  höhe  ste 

43,  22  daz  ir  so  höhe  tiuret  minen  Up 

1)  Ein  zweiter  Träger  der  Verbreitung  war  die  feste  Formel  nider  und  ho. 


Reimstudien  I.  391 

47,  3     nu  hin  ich  aber  ze  höhe  siech 
58, 16  als  einen  der  vil  höhe  springet 
101, 16  daz  ich  dich  ie  so  höhe  wac 
111,  20  diti  ir  swarxen  nac  vil  höhe  blecken  lät, 
so  ist  natürlich  auch  die  zweisilbige  Form  mit  Elision  unanfechtbar : 
28, 13  sU  geivis,  tvenn  ir  uns  körnet,  ir  werdet  höhe  enpfangen 
47, 1     wirhe  ich  nidere  wirbe  ich  höhe,  ich  bin  verseret. 
Der  Dichter  hat  also  die  Form  Jiö  ausschließlich  um  des  Reimes  willen 
verwendet:    er    hatte    dafür   einen  Anhalt  an   seinen  beiden  Vor- 
bildern Reinmar  und  Morungen   —  weiter  braucht  man   nicht   zu 
suchen.     In  seiner  eigenen  Sprache  bot  sich  ihm  keine  Unterlage: 
W.  hat  bei  häufigem  ßeim  auf  d  kein  nä  und  gä,  bei  massenhaften 
e-Reimen  kein  geve  und  verxe,  und  das  einzige  Mal  wo  er  sich  über 
das  ganz  isolierte  litterarische  hö  hinauswagt,  geschieht  es  in  dem 
am  meißnischen  Hofe   gedichteten   und  vorgetragenen  Vokalspiel: 
hier   hat   er   beim  ö  außer  hoQi)   auch  noch  lö{h),  beim  ü  rü(Ji)  und 
drüQi)  verwendet:  vor  einem  Publikum,    vor   dem   er  sich  dies  ge- 
statten durfte,   ja  dessen  Sprache  mit  den  vielen  Langvokalen  im 
Auslaut  ihn  wohl  direkt  zu  dieser  Spielerei  ermuntert  haben  mag. 

Ich  bin  mir  durchaus  darüber  klar,  daß  ich  nicht  alle  Fragen 
gelöst  habe,  die  uns  bei  diesem  winzigen  Ausschnitt  aus  dem 
Reimgebrauch  der  mhd.  Dichtung  entgegentraten.  Ich  habe  zwar 
meist  angedeutet  und  in  den  meisten  Fällen,  denk  ich,  dem  Leser 
darüber  Klarheit  gegeben,  ob  ein  Autor  mit  dem  Grebrauche  der 
Form  hö  seinem  Heimatsdialekt  folgte  oder  litterarischem  Brauch 
resp.  einer  Erinnerung  seiner  Lektüre  nachgab.  Aber  nicht  immer 
war  ich  in  der  Lage,  diese  Frage  zu  entscheiden.  Einmal  hab  ich 
nicht  die  Zeit  aufwenden  mögen,  mich  über  den  heutigen  Stand  der 
Mundarten  genau  zu  unterrichten,  und  dann  steh  ich  nicht  dem  ver- 
gleichenden Studium  der  heutigen  Dialekte  und  der  alten  Schrift- 
sprache, wohl  aber  der  augenblicklich  geübten  Methode  und  den 
durch  sie  gewonnenen  Schlüssen  mit  starker  Skepsis  gegenüber. 
Unter  allen  Lokalisierungsversuchen  der  letzten  dreißig  Jahre  hat 
auch  nicht  einer  entfernt  ein  so  reinliches  Resultat  erzielt  wie 
Nörrenbergs  köstliche  Festlegung  des  niederrheinischen  Marienlobs 
im  Ahrtal.  In  den  thüringischen  Bialekten  von  heute  eine  genaue 
Widerspiegelung  der  mittelalterlichen  Verhältnisse  zu  sehen,  halte 
ich  z.B.  für  grund verkehrt :  hier  haben  sich  (wie  weiter  östlich) 
Verschiebungen  in  der  Bevölkerung  vollzogen,  die  sprachlich  ihre 


392  Edward  Schröder,  Reimstudien  I. 

volle  Wirkung  erst  ausgeübt  haben  viele  Generationen  nachdem 
die  Bewegung  selbst  zum  Abschluß  gekommen  war.  Man  halte 
sich  nur  einmal  den  Fall  des  Dialekts  von  Merseburg  vor  Augen: 
dort  sprach  und  schrieb  man  zur  Zeit  Thietmars  eine  anglofrie- 
sische  Mundart  —  und  kaum  300  Jahre  später  ist  mit  dem  Auftauchen 
deutscher  Urkunden  auch  die  letzte  Spur  davon  verschwunden. 

Drei  Zentren  haben  wir  im  Laufe  unserer  Wanderung  durch 
die  Litteratur  der  deutschen  Landschaften  erkannt,  wo  das  ho 
bodenständig  gewesen  sein  muß  :  Schwaben  mit  der  Nordostschweiz, 
Mittelfranken  mit  Teilen  von  E-heinfranken  (aber  ohne  Südfranken) 
und  Thüringen  mit  Meißen.  Aber  in  Schwaben,  wo  wir  bisher 
keinen  der  älteren  Autoren  genauer  lokalisieren  können,  trafen 
wir  die  merkwürdigste  Verschiedenheit;  im  Elsaß,  wo  Grottfried 
von  Straßburg  unserer  Erwartung  entsprechend  kein  Beispiel  bot, 
stand  der  Dichter  des  Eeinhart  dazu  in  auffälligem  Gegensatz.  In 
Köln  ist  Gottfried  Hagen  von  einer  Erscheinung  ganz  frei  in  über 
6000  Versen,  für  die  das  Fragment  des  wahrscheinlich  hessischen 
Pilatus  in  knapp  einem  Zwölftel  davon  gleich  zwei  Beispiele  bringt^). 
Die  Dichter  die  wir  sonst  als  Hessen  anzusehen  gewohnt  sind, 
verhalten  sich  darin  ganz  verschieden,  und  nur  die  thüringische 
Gruppe  erscheint  einheitlich  —  aber  nicht  in  Übereinstimmung  mit 
der  heutigen  Mundart.  Volle  Klarheit  gewannen  wir  für  die 
Eajuvaren  und  die  meisten  ostdeutschen  Dichter:  sie  alle  kennen 
das  liö  nur  als  Entlehnung  aus  dem  Reimgebrauch  anderer  Land- 
schaften ;  inwieweit  hierfür  aber  Mittel-  und  Niederfranken,  Schwaben 
oder  Thüringen  in  Betracht  kommen,  läßt  sich  nur  in  einzelnen 
Fällen  vermuten:  so  bei  Walther  v.  d.  Vogelweide,  wo  der  Aufent- 
halt in  Thüringen  und  Meißen  jedenfalls  Voraussetzung  ist.  Aber 
auch  ihm  konnte  schon  in  Wien  Reinmar  ein  Vorbild  abgeben  — 
und  woher  dieser  sein  liö  hat,  wissen  wir  wieder  nicht. 


1)   Einen  Versuch,    solche  Fälle   reimpsychologisch  zu  erklären,   macht  die 
II.  Studie. 


Die  Scholien  zu  Horaz  Od.  1 14. 

Von 

B.  ßeitzenstein.- 

Vorgelegt  in  der  Sitzung  vom  15.  November  1918. 

Die  Aufschriften  des  Gedichtes  geben  zwei,  bzw.  drei  ver- 
schiedene Deutungen;  eine  vierte  fügt  der  sogenannte  Acro-Com- 
mentar  hinzu.     Sondern  wir  zunächst  den  Bestand. 

1)  FV  überschreiben:  Poraenetice  tetracolos  ad  Brufum.  Die 
gleiche  Deutung  bietet  bekanntlich  Porphyrie  und  bewahrt  sie 
durch  die  ganze  Erklärung  des  Gedichtes ;  es  ist  nach  ihm  (zu  v.  1) 
Warnung  vor  der  zweiten  Schlacht.  Polemik  gegen  eine 
andere  Deutung  scheint  er  zu  verraten  zu  3:  manifestae  allegoriae, 
per  quas  significat  ex  parte  iam  dehüitatum  exercihim  Bruti  et  vires 
partium  eins  minutas  esse  und  zu  17:  ecce  hie  manifeste  ostendit  se 
poeta  partium  Bruti  fuisse  e.  q.  s.  Die  Aufschriften  der  Klasse  F 
stehen  in  diesem  ganzen  Teil  in  nahem  Verhältnis  zu  Porphyrie; 
auch  hier  entspricht  bei  diesem :  in  hac  ode  ad  M.  Brutum  loquitur. 

2)  AB  (und  wahrscheinlich  auch  zwei  Blandinii)  überschreiben : 
Ad  rem  publicum  tetracolos.  Ebenso  deutet  bekanntlich  Quin- 
tilian  VIII  6,  44 :  navem  pro  re  publica,  fluctus  et  tempestates  pro  bellis 
civilihus,  portum  pro  pace  atque  concordia  dicit.  Zu  der  gleichen 
Deutung  gehören  aus  Acro  (AFacp)  die  Scholien  zu  2.  3:  (fluctus} 
bellum  civile  vocavit^  (portum)  pacem  ut  Terentius:  „in  portu  navigo^j 
ferner  zu  6.  9 :  (sine  funibus)  aut  sine  administrationibus^) 
intellegendum  aut  sine  expensis    et  pecunia.    (integra  lintea)   integer 


1)  So  cp ;  administratoribus  Keller  mit  Ary.     Vgl.  zu  1 :  metaphoram  autem 
sumpsit  a  navi  ex  cuius  armamentis  et  milites,   et  divei'sas  völuit  administrationes 
intellegi  (vgl.  das  Folgende  oben). 
Kgl.  Ges.  d.  Wiss.    Nachrichten.    Phil.-hist.  Klasse,     1918.    Heft  3.  26 


394  ^'  Reitzenstein, 

cursus  sine  exercitu  vel  auxiliis.  Jintea  vero  vela  dixit  ut  „dare  lintea 
retro"j  ferner  zu  10  {qiws  itenmi)  siciit  sxib  Gaio  Caesare  oppressa 
maus  rogaveratj  wahrscheinlich  also  auch :  in  Jioc  deos  vidt  iratos  in- 
tellegi,  quod  denuo  de  hello  civili  cogitetur^  endlich  zu  17 :  id  est  ^) ;  navis 
sive  res  publica^  quae  sollicitudinem  ex  suis  maus  induxerit,  ne  iterum 
sicut  süb  Caesare  trepidaret.  Es  ist  eine  einheitlich  bis  ins  kleinste 
durchgeführte  Deutung ;  leider  darf  die  auffällige  Übereinstimmung 
mit  Quintilian  für  die  chronologische  Festlegung  kaum  verwendet 
werden.    EsJ.st  offenbar  die  Vulgaterklärung  der  Schule. 

3)  E»,  der  auch  sonst  in  diesen  Überschriften  einen  einheit- 
lichen und  festen  Stil  hat  und  sich  weit  von  F  entfernt,  über- 
schreibt :  De  Bruto  reparante  ^)  bellum  civile  in  navi.  Mit  ihm 
berührt  sich  eng  CDa :  In  navem^)  de  Bruto  reparante^)  bellum  ci- 
vile I  Ad  rem  publicam  tetracolos  ^).  Die  letzten  vier  Worte  stammen 
offenbar  aus  einer  zweiten  Vorlage,  die  mit  AB  übereinstimmte. 
Zwei  gesonderte  Überlieferungen  sind  hier  kontaminiert.  Es  wäre 
an  sich  möglich,  dem  entsprechend  die  Aufschrift  in  R  ebenfalls 
schon  aus  Kontamination  zu  erklären:  In  navem  (navim)  könnte 
ein  ^  Schreiber  als  Aufschrift  gewählt  haben,  der  wie  Muretus  und 
Tanaquil  Faber  oder  in  neuerer  Zeit  Ernest  Ensor  ^)  eine  Allegorie 
nicht  anerkennen  wollte ') ;  die  erste  Vorlage  von  C  Da  böte  dann 
die  gleiche  Mischung  zweier  Überlieferungsformen  in  anderer  Reihen- 
folge. Allein  möglich  ist  an  sich  auch  eine  andere  Deutung,  daß 
nämlich  der  Verfasser  der  in  R  erhaltenen  Überschrift  an  den 
Ausbruch  dieses  Bürgerkrieges,  nämlich  an  die  Abfahrt  des 
Brutus  und  Cassius  nach  dem  Osten  dachte  und  den  Dichter  dabei 


1)  Eingeschoben  ist  das  auf  mihi  bezügliche  Scholion  se  posuit  pro  navi<ta>^ 
Die  Form  ist  wegen  v.  14  gewählt.  Ähnlich  eingeschoben  ist  in  das  ebenfalls 
wohl  zu  diesem  Teil  gehörige  Scholion  Ordo  est:  tu  cave,  nisi  debes  ludibrium 
ventis,  id  est  eris  ezercitium  ventorum  ein  anderes :  cave  pro  caveas  (Fcp  zu  15.  16). 

2)  reparentem  R  ursprünglich. 

3)  navim  Da. 

4)  reparantem  C. 

5)  tetralocos  C,  fehlt  a.  —  Ich  nehme  die  deteriores,  deren  Analyse  hier 
nichts  ergibt,  in  andern  Gedichten  freilich  recht  lehrreich  ist,  mit  hinzu,  nämlich 
du:  Paraenetice  tetracolos  (soweit  aus  F)  |  allegorice  Bruto  \  vel  ad  rem  publicam 
(Ursprüngliche  Benutzung  der  F-Klasse  ist  auch  nach  der  Variante  actus  africo  wahr- 
scheinlich), ferner  u:  Pragmatice  dicolos{l)  ad  navem  Bruti,  endlich  y :  ad  navem  M. 
Bruti  reparantem .  bellum  civile  (man  könnte  versucht  sein,  hier  repetentem  zu 
schreiben,  doch  widerspräche  das  Acro-Scholion  zu  1,  vgl.  unten  S.  895).  Ebenso, 
doch  mit  dem  Zusatz  seu  <ad?>  rem  publicam  ein  Blandinius. 

6)  Classical  Review  XVII  1903  S.  158. 

7)  Die  Polemik  des  Porphyrio  zu  3  (oben  S.  393)  könnte  darauf  bezogen 
werden,  braucht  es  aber  natürlich  nicht. 


Die  Schollen  zu  Horaz  Od.  I U.  395 

das  Schiff  anreden  ließ*).  Auch  auf  diese  Deutung  des  Gedichtes 
weisen  nämlich  einzelne  Schollen,  so  zu  19  sis  alienus  a  helli 
consiliis  und  zu  15  hoc  est  ne  victtis  tiirpitudini  ludihnoque  suhiaceas, 
und  wenn  man  sie  lediglich  mit  einer  Deutung  auf  S.  Pompeius 
in  Verbindung  bringen  wollte,  würde  das  Scholion  zu  11  wider- 
sprechen :  mit  rem  publicam  adloqiiitur  aut  Cassium  ^)  —  vel  Fompeium^ 
cuius  pater  de  Mitridate  Pontico  triumphavit.  Für  Cassius  ist  nur 
bei  dieser  Auffassung  des  Gedichtes  auf  den  Ausbruch  des  Krieges 
Platz.  Eine  volle  Allegorie  liegt  dann  nicht  vor;  es  handelt  sich 
um  den  zweiten  Krieg,  nicht  um  die  zweite  Schlacht. 

Für  diese  Auffassung  scheint  mir  nun  der  Eingang  des  Kom- 
mentars zu  sprechen,  der  freilich  stark  verdorben  ist ;  Kellers  Ap- 
parat gibt  über  die  Tradition  zu  wenig  Aufschluß,  um  die  Worte 
sicher  herstellen  zu  lassen,  nur  den  Sinn  kann  man  einigermaßen 
erkennen:  Fer  allegor iam  öden  istam  civile  bellum  secundum^) 
(designare  certum  est),  in  qua  volunt  (alii  Brutum  moneri) ^  dlii  rem 
pid)licam.  Der  Verfasser  sollte  fortfahren  secundum  autem  civile 
bellum,  schiebt  aber  vorher  eine  eigene  Deutung  ein,  die  gegen  die 
Beziehung  auf  Brutus  und  den  zweiten  Bürgerkrieg  polemisiert 
certius  tarnen  est  quod  Sextum  Pompeium  fiUum  Ponipei  moneat,  qui 
.  .  .  bellum  civile  reparare  denuo  voluit  ^).    Ich  glaube  aus  dem  Wort- 

1)  Hart  wäre  dabei  allerdings  die  Verbindung  Yon  in  navi  mit  reparante 
bellum  civile]  man  würde  eher  ein  Verbum  des  Bewegens,  also  etwa  auch  hier 
repetente  erwarten  oder  einsetzen  wollen  und  die  Schreibung  reparentem  vielleicht 
dafür  anführen  können.  Allein  reparare  scheint  durch  die  Überlieferung  von  CDay 
und  die  Wiederholung  in  der  abweichenden  Deutung  auf  S.  Pompeius  (Acro  zu  1, 
siehe  oben  den  Text)  gesichert.  Die  Plärte  wäre  durch  die  in  der  Aufschrift  erfor- 
derliche Kürze  entschuldigt.  Der  Erfinder  derselben  will  zum  Ausdruck  bringen, 
daß  Brutus  schon  auf  dem  Schiff  ist  und  dies  statt  seiner  angesprochen  wird, 
und  will  daneben  den  Plan  des  Brutus  angeben,  nicht  aber  ausdrücken,  daß  das 
Schiff  zur  Verwirklichung  des  Planes  dient. 

2)  Ich  vermute  <Brutum  et>  Cassium. 

3)  In  quodam  Hss.  Nur  nach  Erwähnung  der  Zahl  schließt  richtig  an 
secundum  autem  civile  bellum  inter  Augustum  Caesarein  et  Cassium  et  Brutum  erat: 
qui  fuerunt  interfectores  Grai  Caesaris.  Natürlich  darf  nicht,  wie  bei  Kellers 
ohne  Rücksicht  auf  die  Hss.  aus  Hauthal  entnommenem  Text  civile  bellum  der  res 
publica  entgegengesetzt  werden.  Die  Bezeichnung  des  zweiten  Bürgerkrieges 
kehrt  fast  mit  den  gleichen  Worten  in  dem  zweiten  Scholion  FbV  zu  Epod.  16,  1 
wieder:  Execratur  autem  bella  civilia,  quia  post  bellum  commissum  a  Caesare  et 
Pompeio  alterum  parabatur  ab  Augusto  Caesare  (fehlt  br,  ist  aber  zu 
halten)  contra  Brutum  et  Cassium  interfectores  Caesaris.  Das  erste 
dem  widersprechende  Scholion  von  FbV  stammt  aus  Porphyrie.  Vergleiche  auch 
das  Scholion  AV  zu  Epod.  17,1.    Sie  gehören  einem  Autor. 

4)  In  ähnlicher  Weise  ist  an  die  Deutung  von  v.  11  ac  si  diceret:  magnae 
originis    et   nobilitatis,    sed  per  metaphm'am   aut  rem  publicam   adloquUur   aut 


396  ^'  Reitzenstein,  Die  Schollen  zu  Horaz  Od.  114. 

laut  entnehmen  zu  dürfen,  daß  er  für  die  Deutung  auf  Brutus 
schon  die  Form  fand:  de  Brnto  reparante  bellum  eivile,  ja  vielleicht 
selbst  die  Worte  in  nuvi,  die  ihn  am  leichtesten  auf  seinen  eigenen 
Versuch  führen  konnten.  Die  Sachlage  ist  m.  E.  so :  der  Verfasser 
benutzte  zwei  schon  recht  ärmliche  Schulkommentare,  deren  einer 
das  Lied  auf  die  res  publica,  der  andere  auf  Brutus  deutete,  der 
den  zweiten  Bürgerkrieg  beginnt.  Die  aus  beiden  entnommenen 
Glossen  schob  er  einfach  in  einander^)  und  fügte  ein  paar  eigene 
Zusätze  (aus  Nebenquellen?)  hinzu.  Dazu  mag  auch  das  einzige 
Scholion  gehören,  daß  sich  in  der  Auffassung  mit  Porphyrio  be- 
rührt, ohne  doch  aus  ihm  stammen  zu  können,  zu  4:  nudatum  latus 
fuga  Cassi  et  amissione  exercitus,  vgl.  Porphyrio:  manifestae  alle- 
goriae ,  ^er  quas  significat  ex  parte  iam  debilitatum  exercitum  Bruti 
et  vires  partium  eius  minutas  esse  ^). 

Den  drei  Grundtypen  der  Aufschrift  entsprechen  also  drei 
Erklärungen,  die  des  Porphyrio  und  die  der  beiden  Hauptquellen 
des  sogenannten  Acro;  daneben  findet  sich  bei  diesem  noch  ver- 
sprengtes Gut. 

Ist  es  nun  wirklich  denkbar,  daß  der  ganz  einheitliche  Text 
des  Porphyrio  und  der  sich  mit  ihm  hier  kaum  berührende  Text 
dieser  Sammlung  erst  in  karolingischer  Zeit  aus  demselben  Arche- 
typus abgeleitet  sind  ?  Oder  daß  die  Verschiedenheit  der  Aufschriften 
damals  entstand?  Jedenfalls  könnte  man  erwarten,  daß  Vollmer, 
der  dies  annimmt,  versuchte  den  Hergang  irgendwie  zu  erklären 
und  zu  veranschaulichen,  sei  es  auch  nur  für  dies  Gedicht.  Für 
die  wirkliche  Erkenntnis  der  Horaz-Überlieferung  wäre  es  wichtig, 
zu  untersuchen,  ob  in  jüngeren  mit  Scholien  versehenen  Hand- 
schriften eine  der  beiden  bei  dem  sogenannten  Acron  vereinigten 
Erklärungen  etwa  noch  allein  erscheint.  Vielleicht  regen  diese 
Zeilen  dazu  an. 


—7 

<Brutum  et>  Cassium  nachträglich  angefügt :  vel  Pompeium,  cuius  pater  de  Mitri- 
date  Pontico  triumpJiavit.  Schon  weil  dies  offenbar  Zusatz  ist,  sind  die  Scholien 
zu  19  und  15  (zu  denen  man  noch  das  zu  14  gehörige  zufügen  kann)  schwerlich 
ursprünglich  auf  S.  Pompeius  gemünzt. 

1)  So  ist  zu  erklären  ,  daß  in  der  Einleitung  der  Satz  metaphoram  autem 
sumpsit  a  navi,  ex  cuius  armamentis  et  milites  et  diversas  administrationes  voluit 
intellegi  (vgl.  oben  S.  393  A.  1)  von  dem  ursprünglich  vorausstehenden  in  qua  volunt  . . 
<.moneri>  .  .  rem  puhlicam  durch  die  Worte  der  zweiten  Hauptquelle  getrennt 
wurden. 

2)  Vgl.  zu  1  suh  quibus  Horatius  müitaverat  mit  Porphyrio':  quoniam  sub 
ipso  militaverat. 


Nachrichten  von  der  Königl.  Gesellschaft  der  Wissenschaften  zu  Göttingen. 
Phil.-hist.  Klasse  1918,  Heft  3  (Sethe). 


Demotisches  Ostrakon  Strassburg  D.  1845. 

^A  nat.  Gr. 
(Zu  den  Zeilen  9  und  16  s.  die  Anmerkung  auf  Seite  292) 


^7 

^8 


Zur  Kenntnis  der  griechischen  Dialekte. 

Von 

Friedricli  Bechtel, 

auswärtigem  Mitgliede. 

Vorgelegt  in  der  Sitzung  vom  12.  Dezember  1918. 

1.    Lokrische  Conjunctive  auf  -EEI. 

Auf  dem  Epökengesetze  von  Naupaktos  erscheinen  drei  Con- 
junctive, die  man  mit  liTtoxeliäi^  ccvxöqesi,  doxssi  umschreibt.  Bei 
diesem  Verfahren  kommt  man  den  Formen  äv%ÖQElv^  z^arstv,  Tca^o- 
TocpaystöiaL  der  selben  Bronze  gegenüber  in  das  größte  Gedränge, 
da  man*  nicht  erklären  kann,  warum  die  Hiaten  hier  beseitigt,  dort 
offen  gelassen  werden.  Wen  die  übliche  Ausrede  nicht  befriedigt, 
der  sucht  nach  einer  andren  Auffassung. 

Man  gewinnt  diese,  wenn  man  sich  der  thessalischen  Con- 
junctivform  TcatotzsCovvd'i  erinnert.  Überträgt  man  sie  in  das  Lo- 
krische, so  erhält  man  xatoLxricovn.  Und  wenn  man  nach  der 
Singularform  sucht,  die  zu  diesem  Plurale  gefordert  wird,  so  ge- 
langt man  zu  xatoLxrjrji,.  Umschreibt  man  nach  dieser  Anleitung 
die  lokrischen  Conjunctivformen  mit  XiitoTsltEiy  dvxÖQssi,  doxssi, 
so  ist  die  Schwierigkeit,  die  sich  der  bisherigen  Auffassung  ent- 
gegenstellte, beseitigt:  in  diesen  Grebilden  fällt  der  Hiatus  nicht 
auf,  denn  sie  sind  erst  dann  in  das  Leben  getreten,  als  das  Wirken 
der  Contraction  zu  Ende  gekommen  war. 

In  der  Gruppe  der  nordwestgriechischen  Dialekte  sind  die  Zeug- 
nisse für  die  Umbildung  der  Verba  auf  -scj,  die  in  den  besprochnen 
Formen  zu  Tage  kommt,  nicht  selten;  parallel  mit  den  neuen 
Präsentien  auf  -tjco  gehn  Präsentia  auf  -60. 

Aus  dem  Atolischen  stammt  die  Form 

Ttoujsits  Ditt.  Syll.3  622  B 10 

Kgl.  Oes.  d.  Wiss.    Nachrichten.    Phil.-hist.  Klasse,    1918.    Heft  4.  27 


398  '  Friedrich  B echt el, 

in  einem  Briefe  der  Vaxier  an  die  Ätoler,  der  zusammen  mit  einem 
Dekret  der  Ätoler  in  Delphoi  eingehauen  worden  ist.  Sie  stimmt 
zu  den  delphischen 

Tcoi'^ovöcc  Rüsch  Grramm.  d.  delph.  Dial.  I  328  no.  27  5, 
ucoLYJOLöav  BGH  22.  60  no.  56  8, 
die  eben  darum  anders  erklärt  werden  müssen ,  als  bei  Rüscli  61 
gescbielit.  Es  ist  dabei  gleickgiltig/'ob  das  Präsens  noiTJco  in  Delpkoi 
bodenständig  oder  erst  durch  die  ätolische  Kanzleisprache  nach 
Phokis  gelangt  ist.  Von  der  gleichen  Art  sind  die  bekannten, 
fast  sämmtlich  auf  delphischen  Freilassungsurkunden  erscheinenden 
Formen 

aTtaXlotQicooirj  Coli.  1718 13,  ccjtaXkotQLcoovöa  1684:8; 

ßi6ri  18517,  19524,  1967 10; 

üXaQasiv  Ditt.  Syll.^  64783; 

Iia6xiy6(xiv  Coli.  2261 15; 

örecpccvoEtca  177021,  1801 5. 
Sie  haben  in  Orchomenos  Parallelen: 

da^icos^sv  BCH  19.  157  II 7, 

da^i6ovtsg  ebd.  I4,  IGr  VII  31986,   3199i2,   3200i4,   3201 10, 
3203 12,  3204 17; 
daß  diese  aus  Atollen  eingedrungen  sind,  hat  Sadee  richtig  bemerkt 
(De  Boeotiae  titul.  dial.  29). 

Hier  wird  nun  auch  die  delphische  Form 

övXTJovtsg  Coli.  2 100 10,  2107 12 
verständlich,  die  wiederholt  behandelt  worden  ist.  Wenn  ein  Formen- 
paar ^oLsco  und  Ttoiiqco  neben  einander  lief,  so  war  es  unausbleib- 
lich, daß  neben  övXsol,  övXecdv,  övXsovzsg,  (3vXEOV(3a  mit  ri  vokali- 
sierte  Formen  in  das  Leben  traten.  Eine  davon  ist  eben  öv^ovrsg. 
Es  bleiben  noch  die  delphischen  Conjunctive 

ddizsT]  Coli.  2088  23, 

TtoiET]  Rüsch  316  no.  2  s, 
die  in  schneidendem  Gegensatze  zu  TcatayoQfji  auf  dem  Labyaden- 
gesetze(B5i)  nnd  doKrjc  auf  dem  Amphiktyonengesetze  von  380/79 
(Ditt.  Sy  11.^  14525)  stehn,  durch  ihren  Hiatus  aber  zu  den  west- 
lokrischen  Formen  stimmen,  von  denen  die  Untersuchung  ausge- 
gangen ist.  Ich  betrachte  sie,  als  Nachkommen  von  adtxt^'r^t,  Ttoiririi. 
Es  ist  bekannt,  daß  die  Längen  ä,  ?^,  co  in  einem  Teile  der  grie- 
chischen Dialekte  vor  «,  o  und  vokalischem  i  verkürzt  werden 
können.  So  sind  auf  Kreta  aus  vä6g,  'iXrjog,  'Hgcatdag  die  Formen 
vaog,  iXsog,  'Hgotdag  hervorgegangen  (Brause  Lautl.  d.  kret.  Dial.  66  ff.). 
Die  delphischen  Karaigelc^ai,  xataxQsC0d'(D6av,  %QSi[isvog  (Ditt.  Syll.^ 
67232.53,  438 11)  werden  verständlich,    wenn  es  ein  Präsens  %QBoiiaL 


Zur  Kenntnis  der  griechischen  Dialekte.  399 

gab,  das  auf  dem  gleichen  Weg  aus  xQ7]o^aL  geflossen  war  wie 
kret.  XQBog  aus  xQfjog.  Betrachtet  man  die  Conjunctivformen  delph. 
^^ercod^mvn  (Coli.  2034 17),  rhod.  iyQua^aoovtL  (Coli.  41 10 7),  kret. 
nsid^d'iCDvtL  (Coli.  50225),  herakl.  ^yJ^rilri^Ccovri  (Coli.  4629  1 152),  so 
nimmt  man  wahr,  daß  in  dieser  Kategorie  die  Verkürzung  des  ri 
vor  CO  den  westgriechischen  Dialekten  gemeinsam  ist  und  daß  sie 
im  Kretischen  und  Herakleotischen  in  ein  hohes  Alter  hinaufreicht, 
da  der  verkürzte  Vokal  noch  von  dem  Wandel  des  s  zu  t  getroffen 
wird.  Hierauf  gestützt  darf  man  behaupten,  daß  auch  das  ri  der' 
Conjunctivformen  «dtxijco,  aduTiricoiisg,  adLxrjcovri,,  die  auf  Grrund  des 
thessalischen  KatoiKsCovvd'i  angesetzt  sind,  der  Grefahr  der  Verkür- 
zung ausgesetzt  war.  Erlag  es  ihr,  so  entstanden  die  neaen  Con- 
junctivformen aöixsGJ,  ädixeco^sg,  ccdLxscovtt,  die  nun  mit  ccdiKtjrjig, 
ccöiKrji]i,  ccdiXYJrjrs  zum  Systeme  verbunden  waren.  Dieses  System 
konnte  in  zweifacher  Weise  einheitlich  gemacht  werden.  Die,  auf 
die  es  hier  ankommt,  bestand  in  der  Ersetzung  von  ädLK7]riLg,  ddi- 
xririL,  döixririts  durch  äYiixerjcg,  ddivJrji,  ccdixstive.  In  den  delphischen 
Conjunctiven  ddi%8i],  Ttoisr}  sehe  ich  Zeugnisse  dafür,  daß  dieser 
Weg  in  Wahrheit  eingeschlagen  worden  ist. 

2.    Lokr.  telsog  =  TtvQiog. 
Die  letzte  Bestimmung  des  Epökengesetzes  lautet: 

Kai   ro  d'ed'^iov   tolg  HvTtoxva^idloig  AoqQolg   ravzä  teXsov 
sln&v  Xaksiioig  tolg  övv  'Avxicpdxai  fOLTCEtalg. 
Sie  verwendet  also  reksov  in  Sinne  des  attischen  xvqlov. 

Den  gleichen  Sprachgebrauch  beobachtet  man  auf  dem  Bundes- 
vertrage  der  Ätoler  mit  den  Akarnanen,  der  Ditt.  Syll.^  421  be- 
handelt ist.  Hier  erscheinen  xvqlov  und  reXsiov  neben  einander. 
Während  Z.  8  f.  festgesetzt  wird 

V7C6Q  dh  xcbv  xsQiiovcov  xov  IlQavvög^  st  ^sy  xa  ^XQaxiOL  ;cal 
^ÄQyaioi  6vy%(x)QBaivxi  avtol  itox^  avtovg^    xovxo  xvqlov  sota), 
schließt  der  nächste  Punkt  der  övvd'iJKa  mit  dem  Satze 
Tcad'cjg  ds  xa  xsQ^d^cjvxc^  xeXslov  söxo. 
Aus  dieser  Übereinstimmung  muß  man  schließen,  daß  es  Eigen- 
tümlichkeit der  nordwestgriechischen  Dialektgruppe  war  den  Begriff 
von  xvQiog  mit  xiXsiog  auszudrücken. 

Es  ist  nun  von  hohem  Interesse  wahrzunehmen ,  daß  sich  die 
Eleer  an  dieser  Eigentümlichkeit  beteiligen.  Auf  der  7.  Olym- 
pischen Bronze  findet  man  die  Bestimmung  (Z.  2  f.) : 

al  ds  xig  itaQ  xb  ygdcpog  dixdöoL,  dtsXsg  x'  sls  d  dbxa,  d  ds 
xa  fQaxQa  d  da^oöCa  xsXsCa  sls  8ixdöö6a. 

27* 


400  Friedrich  Bechtel, 

Also  ats^ijg  in  dem  Sinne,  den  man  sehr  oft  in  Delphoi  (z.  B.  Ditt. 
Syll.^672i8  t6  ijjaqjiöd'ev  ^  diaivsd-lv  axvgov  aal  dteXhg  sötm),  aber 
auch  bei  Piaton  {ätsXrj  xal  ccxvqov  ylyvEG^ai  tijv  dlxriv  Ges.  954  e) 
antrifft,  taXsLog  jedoch  in  einer  Weise  gebraucht,  die  bisher  nur 
aus  dem  Nordwesten  ^)  bekannt  geworden  ist.  Man  darf  diese  Er- 
scheinung unter  die  Züge  aufnehmen,  die  auf  ein  engres  Ver- 
hältnis der  Eleer  zu  den  Nordwestgriechen  hinweisen. 

3.  Delph.  ig. 
Daß  die  Präposition  i^  im  Phokischen  vor  Consonanten  die 
Grestalt  ig  annehmen  konnte,  weiß  man,  seit  die  Lesung  xricyovcav 
für  das  Laby  ad  engesetz  gesichert  ist  (Rüsch  Gramm,  d.  delph.  Dial. 
I  271  Anm.).  Es  gibt  aber  noch  ein  zweites  Beispiel  für  diese  Erschei- 
nung. Die  erste  Bestimmung  der  Inschrift  an  der  Stützmauer  des 
delphischen  Stadions  lautet  nach  der  Lesung  ihres  Herausgebers 
Homolle  (BCH  23.  611): 

Thv  J^otvov  ^E  (paQEv  ig  xh  [^E\vdQ6\iiov. 
Ihren  Inhalt  gibt  Ziehen  Leges  sacrae  II  217  mit  den  Worten  wieder : 
Lex  de  vino  ah  Eudromi  fano  proMÖendo.  Der  sonst  nicht  bekannte 
fleros  EvÖQo^og  ist  durch  KEgaiioitovllog  {^E(p.  äQ%.  1906.  157  ff.) 
beseitigt,  der  durch  neue  Untersuchung  des  Steins  festgestellt  hat, 
daß  an  der  Stelle,  an  der  Homolle  E  einsetzt,  niemals  ein  Zeichen 
eingehauen  gewesen  ist.  So  kommt  man  notwendig  auf  die  Lesung 
ig  xov  dQÖ^ov.  KsQa^ÖTtovlXog,  der  diese  selbst  vorschlägt,  wird 
alsbald  dadurch  in  Verlegenheit  geführt,  daß  er  ig  als  Vertreter 
von  slg  nimmt;  denn  so  wird  der  Genetiv  unbegreiflich.  Diese 
Schwierigkeit  tritt  nicht  ein,  wenn  man  dem  Dialekte  keine  Gewalt 
antut,  sondern  ig  so  nimmt,  wie  es  in  einem  nordwestgriechischen 
Texte  genommen  werden  muß:  als  Vertreter  von  i^.  Denn  nuij 
spricht  der  Satz  das  Verbot  aus,  den  zu  einem  bestimmten  Zweck 
in  den  ÖQÖ^og  gebrachten  Wein  (es  heißt  rbv  fotvov,  nicht  folvov) 
aus  ihm  zu  tragen,  um  ihn  anderwärts  zu  gebrauchen.  Ahnliche 
Bestimmungen  sind  aus  Kos  bekannt;  der  für  Delphoi  behaupteten 
kommt  am  nächsten  der  Satz:  tovtcov  ovk  iiC(poQä  ix  tov  vaöv 
Ditt,  Syll.2  617io. 

4.    Delph.  xQixtsva  xrjva. 
Die  Analyse  dieser  beiden  Wörter,  die  zweimal  auf  dem  Am- 
phiktyonengesetze  von  380/79   (Ditt.  Syll.^  14534)  erscheinen,    ist 
bisher  nicht  geglückt.  Für  das  zweite  hoffe  ich  zu  einem  annehm- 
baren Vorschlage  gelangt  zu  sein.     Zur  Erklärung  des  ersten  habe 

1)   Wegen  arg.  aXiaicc  tslsia  verweise  ich  auf  Dittenbergers  Bemerkung  zu 
Syll.3  594,  1. 


Zur  Kenntnis  der  griechischen  Dialekte.  401 

icli  nur  einen  Einfall,  den  ich  aber  laut  werden  lassen  will,  weil 
er  vielleicht  Andre  zu  einem  bessren  anregt. 

Daß  Ki]va  mit  xfl^ai  im  Zusammenhange  steht  und  Brandopfer 
bedeutet,  ist  eine  sichre  Erkenntnis,  zu  der  Böckh  (CIGr  I  811) 
durch  Heraaziehung  der  Hesychglosse  Tcrita-  Ka^uQ^iara  den  Weg 
gewiesen  hat.  Aber  die  Bildung  des  Wortes  ist  auch  von  Prell- 
witz (Beitr.  17.  167  f.)  nicht  ins  fleine  gebracht.  Ich  sehe  in  xriva 
eine  Form  der  gleichen  Art  wie  äyvia,  also  den  Nachkomman  einer 
Participialform  hevusja,  die  sich,  wie  ^tijfv^  zu  x}]v^,  über  xrjfvLu 
zu  K^via  entwickelt  hat.  Ob  die  historisch  gegebne  Form  hyjvu 
mit  oder  ohne  Hiatus  gesprochen  worden,  ob  t  mit  dem  voraus- 
gehenden V  zur  Länge  verschmolzen  (vgl.  att.  xatsayva  und  ähn- 
liche Formen  bei  Meisterhans^  54)  oder  zum  Consonanten  geworden 
und  so  geschwunden  sei,  läßt  sich  nicht  feststellen,  ist  auch  für  die 
Analyse  gleichgiltig. 

Das  an  erster  Stelle  erscheinende  Wort  tQiyctsva  ist  schon  von 
Ahrens  (De  dial.  dor.  491)  als  'mira  forma'  bezeichnet  worden. 
In  der  Tat  bietet  es  Schwierigkeiten,  die  auch  von  den  beiden 
Gelehrten,  die  sich  zuletzt  mit  ihm  beschäftigt  haben,  nicht  be- 
seitigt worden  sind. 

Das  Abstractum  vQiictvq  ist  für  Sophron  bezeugt :  tqizxv^  ccXe^l- 
(paQ^iccxav   Fragm.  3.     Neben   ihm   hat   XQmtva   bestanden.     Diese 

Grestalt  des  VVortes  ist  bei  Hesychios  überliefert :  xqixxvdc  ' %'v6Ca 

TcccTtQOVy  xQLov,  tccvQov,  hergestellt  ist  sie  für  Epicharmos  von  Kaibel 
(Fragm.  187),  für  Kallimachos  von  Schneider  (zu  Fragm.  403).  Das 
Verhältnis  der  beiden  Bildungen  ist  klar:  es  ist  das  gleiche,  das 
zwischen  iyvvg:  iyvvi]  und  ähnlichen  Paaren  besteht.  Auf  Attica 
ist  die  Form  tQittoia  beschränkt  (Ditt.  Syll.^  833?);  sie  läßt  sich 
als  Umbildung  eines  alten  Abstractums  xQi%tofCa  betrachten  (Fränkel 
Nom.  ag.  I  205).  Wie  aber  soll  man  sich  die  Geschichte  des  histo- 
rischen XQiKxsvcc  denken? 

Brugmann  (Grundr.^  II 1, 447)  lehrt,  indem  er  von  der  Vocalbe- 
wegung  handelt,  die  in  7]iit(3vg :  ruiCxeia  waltet,  sie  sei  der  in  xgiKtvg, 
delph.  XQixxsva  und  att.  xQixxoia  in  Erscheinung  tretenden  zu  ver- 
gleichen. Dabei  bleibt,  von  andrem  abgesehen,  gerade  die  Haupt- 
schwierigkeit unberührt :  die  Differenz  der  Ausgänge  -sia  und  -sva. 

Fränkel  spricht  sich  dahin  aus,  daß  >xQtxxsva  ....  speciali- 
sierende  Apposition  von  xriva<  sei,  und  hält  im  Gefolge  dieser  Auf- 
fassung yxQiKXBva  ....  für  eine  von  XQtxxva  nur  durch  den  Ablaut 
verschiedene  Parallelform <  (208  unten).  Hier  vermißt  man  den 
Nachweis,  daß  es  Abstractbildungen  auf  -sva  gegeben  hat,  die  mit 
Abstracten  auf  -SLa  parallel  liefen. 


402  Friedrich  Bechtel, 

Denkt  man  sich,  daß  neben  dem  durch  att.  XQitroia  angedeu- 
teten Abstractum  xQixxofCa  ein  mit  s  vocalisiertes  bestand,  so 
würde  sein  lautgesetzlicher  Nachfolger  die  Gestalt  tQLXtsCa  auf- 
weisen. Das  ist  die  Form,  der  Ahrens  den  Vorzug  vor  tQixtsva 
geben  wollte,  von  der  aber  der  jetzt  besser  bekannten  Überliefe- 
rung gegenüber  nicht  mehr  die  Eede  sein  kann.  Aber  vielleicht 
ist  sie  erst  nachträglich  aus  dem  Felde  geschlagen  worden:  viel- 
leicht ist  dadurch ,  daß  xQizreLa  mit  Ktjva  zu  enger  Gemeinschaft 
verbunden  war,  bewirkt  worden,  daß  tQixtsCcc  in  seinem  Ausgang 
an  ;«7yva  angeglichen  ward.  Warum  die  Beeinflussung  stecken  ge- 
blieben ist,  nur  einen  Teil  der  Endung  getroffen  hat,  weiß  ich  freilich 
nicht  zu  sagen.   Ich  wollte  ja  aber  auch  nur  einen  Einfall  vortragen. 

5.    Arkad.  Msilixcav,  MsXi%Log. 

Der  arkadische  Name  MsiXC^cov,  den  ein  Tegeate  des  4.  oder 
3.  Jahrhunderts  führt  (IG  V2  no.  38  ei),  beweist  durch  den  Gegen- 
satz, in  dem  sein  sl  zu  dem  r}  in  KXriviag  61  &i,  ^arivcc  26621, 
lyTtsxrjQTJTcoL  und  q)d'YJQcov  612. 17  steht,  daß  im  Arkadischen  die  Folge 
sXl  eine  ähnliche  Entwicklung  wie  in  Attica  genommen  hat,  indem 
in  Arkadien  der  offne  e-Laut  vor  U  zur  geschlossnen,  mit  sl  ge- 
schriebnen,  Länge  geführt  worden  ist,  in  Attica  aber  die  geschlossne 
Länge,  die  in  ion.  MlUiiog^  %sXiol  bewahrt  ist,  nach  dem  Nach- 
weise Wackernagels  (Idg.  Forsch.  25.  328  f.)  schon  in  der  ältesten 
Periode  des  Dialekts  bei  ^  angekommen  ist. 

Nun  aber  ist  im  höchsten  Grad  auffällig,  daß  neben  MslXCxcov 
n  Arkadien  MsXtxiog  erscheint:  z/u  MsXlxicol  auf  der  Weihin- 
schrift 90 1.  Daß  die  Kürze  nicht  angelastet  werden  darf,  machen 
die  parallel  gehenden  Kürzen  von  (pd^eQai,  ös  und  VgLTticovog  271 15 
gewiß.  Damit  aber  ist  ein  Gegensatz  in  der  Behandlung  der  Liquida- 
gruppen constatiert,  den  man  nur  unter  der  Annahme  begreifen 
kann,  daß  das  Arkadische  ein  Mischdialect  sei.  Diese  Annahme 
wird  auch  durch  das  gleichzeitige  Erscheinen  von  xs  und  äv  in 
dem  gleichen  Dialekte  nötig:  ich  fahre  nämlich  fort  die  Gruppe 
EIKAN  in  si!  71^  äv  aufzulösen,  wie  ich  ßeitr.  YIII  305  zuerst  vor- 
geschlagen habe. 

Der  Gegensatz,  der  soeben  zwischen  MeXCxt'Og^  'OQiTtiovog,  (pd'BQao 
und  den  mit  iyxexfjQrj^oL  gleich  vocalisierten  Formen  festgestellt 
worden  ist ,  besteht  auch  im  Lakonischen.  Zu  ^OgiitCcov  stimmt 
"OginTcCdag  IG  V  1  no.  964.  Aus  der  Zahl  der  lakonischen  Seiten- 
stücke zu  ark.  lyTcsxrjQTjxoi  führe  ich  zwei  an,  die  Hesychglossen 
©TjQkag'  ^EvvdXiog,  nagä  Ad^cnöiv. 
IlYiQ£(p6vsLa'  nsQ0£(p6v£ia.  Adxcovsg, 


Zur  Kenntnis  der  griechischen  Dialekte.  403 

deren  erste  zuerst  von  W.  Schulze  (Ztschr.  f.  Gymnasial w.  1893. 
162)  richtig  beurteilt  worden  ist.  Daß  im  Lakonischen  Erschei- 
nungen zweier  verschiedner  Dialekte  mit  einander  verbunden  sind, 
ist  längst  beobachtet;  zu  denen,  die  man  als  vordorische  Züge 
betrachtet,  tritt  jetzt  das  Auftreten  von  altem  rz  als  q. 

6.    Arkad.  svd'voQfLa. 

Die  Kenntnis  dieses  Wortes  verdanke  ich  der  Güte  des  Herrn 
Hiller  von  Gärtringen,  der  mir  seine  Abschrift  einer  Grenzbe- 
schreibung aus  dem  arkadischen  Orchomenos  zur  Verfügung  ge- 
stellt hat,  die  in  dem  mir  nicht  zugänglichen  39.  Bande  des  Bull, 
de  corr.  hell.  (1915)  veröffentlicht  worden  ist.  Das  Compositum 
erscheint  in  der  Bestimmung  (Z.  14) 

ccTtv  xCbivv  6v&voQfiav  Ttbg  dsQfäv  :rög  X6(pov. 
Man  sagt  sich  sofort,  daß  man  hier  eine  Wortform  vor  sich  hat, 
die  auf  die  Geschichte  von  att.  svd-vcoQCa  (z.  B.  ov  xat'  ev^vcogCav 
äXkä  naxä  xvKXovg Kvisioi.  UsqI  ^colov  ^oq.  654  ai?),  herakl.  svd'vcoQSLa 
{tovTCjg  Tcdvtag  ctv  svd'vcDQslav  ö^oXöyGyg  äXXdXoig  Coli.  4629 1  es)  helles 
Licht  wirft.  Denn  es  wird  durch  sie  bewiesen,  daß  evd'voDQ^a, 
ev&vcDQSLa  aus  avd-vcoQficc,  sv&vcoQfsCa  hervorgegangen  sind.  Haben 
diese  Formen  aber  bestanden,  so  sind  sie,  wie  äXXrjXav  und  hom. 
67C7]y}csvCdsg,  aus  der  Periode  der  Sprache  übrig  geblieben,  in  der 
auch  solche  Kürzen  von  der  Compositionsdehnung  betroffen  wurden, 
die  durch  zwei  Consonanten  beschwert  waren  (vgl.  Wackernagel 
Dehnungsgesetz  33  f.).  Ihnen  gegenüber  zeigt  ark.  avQ'voQfCa  den 
Bau,  der  zur  Norm  erhoben  worden  ist.  « 

Das  Adjectivum ,  zu  dem  evd^voQfCa  Abstractum  ist ,  hat  man 
sich  als  svd^voQfog  zu  denken.  Bei  Xenophon  hat  es  die  Gestalt 
sv&vcoQog  (svd'vcDQov  aycov  Anab.  II  2, 16),  die  auf  sv^vcjgfog  zurück- 
weist. 

Die  Etymologie  ist  nun  nicht  mehr  zu  verfehlen.  Das  Element 
'OQfog  ist  Laut  für  Laut  identisch  mit  ar.  arva-  in  avest.  aurva- 
(schnell)  und  germ.  arva-  in  altisl.  grr,  ags.  earu,  alts.  aru  (schnell, 
bereit).  Die  Zusammensetzung  £v%voQfog^  sv^voQfog  bedeutet  also 
'geradeaus  eilend'. 

Die  Urkunde,  der  ich  svd-ogfLa  entnommen  habe,  gibt  dem 
Grammatiker  und  dem  Etymologen  manches  Rätsel  auf.  Von  den 
neuen  Wörtern  bringe  ich  noch  eines  zur  Sprache,  weil  es  eine 
interessante  Parallele  zu  einem  homerischen  Worte  bildet.  Z.  20 
wird  eine  Örtlichkeit  TQiayHda  genannt.     Das    ist  die  'Dreitäler- 


404  Friedrich  Bechtel, 

schaff,  die  Stelle,  an  der  drei  ccyKscc  zusammenstoßen.    Das  home- 
rische [iKfyciyxeLa  drängt  sich  dabei  jedem  auf. 

7.    Arkad.  navdyoQCSLg. 

Von  dem  oq  in  navayÖQöc,  TQiicavayoQöiog  des  Tempelgesetzes 
von  Alea  (IG-  V  2  no.  3)  lehrt  Hoffmann  (Griech.  Dial.  1 173) ,   daß 
es  silbebildendes  r  vorstelle.     Mustert  man  die  übrigen  Zeugnisse, 
die  diese  G-eltung  der  Verbindung  oq  für  Arkadien    erwägenswert 
erscheinen  lassen,  so  sind  sie  von  mehr  oder  weniger  zweifelhafter 
Beweiskraft.     Es  kommen  in  Betracht: 
BQ6ivg  la  V2no.  500; 
ZtOQTtalog  in  /liog  ZtoQTcdö  64; 
tstÖQtav  6 104,  7 8,' [tsr]6Qra  33  ii; 
6q)d'0QXG)g  6 10. 

Von  diesen  vier  Beispielen  ist  das  letzte  schon  von  Spitzer 
beseitigt,  der  das  o  des  x-Perfects  aus  dem  starken  Perfect  über- 
nommen sein  läßt  (Lautl.  d.  arkad.  Dial.  12).  Von  den  drei  andren 
wäre  BQÖxvg  entscheidend,  wenn  Arkadien  die  Heimat  des  Toten 
wäre;  aber  die  Herkunft  des  Steins  ist  unbekannt.  Die  arkadische 
Form  etoQTid  muß  mit  dem  kyprischen  ötQOTcd,  das  durch  die 
Hesychglosse  ötgoTtd'  detQuitTJ.  Udcpioi  geboten  wird,  zu  dreisil- 
bigem ötoQOTcd  zusammengesetzt  werden,  dessen  ötoQOJt-  die  gleiche 
Vocalisation  zeigt  wie  ötcoXoz-  in  6k6Xoi{j  und  ^oXo%-  in  syrak. 
kret.  ^oXo^d;  die  drei  Nomina  beruhen  auf  den  Elementen  öteqstc- 
(vgl.  öTSQ07C7f)j.  ö/sXsjt-,  ^8X6%-  uud  enthalten  die  in  den  o-  und  ä- 
Stämmen  regelmäßige  Ablautung  s :  o,  also  keine  silbebildende  Li- 
quida. Die  Form  rsroQtog  endlich,  neben  der  tstaQtog  in  dem  Namen 
des  Tegeaten  Tetagrog  (IG  V  2  no.  32  6)  erscheint,  ist  auf  die  gleiche 
Weise  zu  seinem  o  gekommen  wie  dsnotog  und  eKotöv,  die  Vorbilder 
von  Tts^Ttorog  (Tts^TCÖta  33 13),  zu  dem  ihrigen:  durch  Assimilation 
des  unbetonten  Vocals  der  zweiten  Silbe  an  den  der  dritten  (Joh. 
Schmidt  KZ  32.  371). 

Da  es  also  um  die  Geltung  des  arkadischen  oq  als  Nachkommen 
des  silbebildenden  r  mislich  steht,  so  empfiehlt  es  sich,  das  Ver- 
ständnis der  Vocalisation  auf  andrem  Wege  zu  suchen.  Und  dieser 
Weg  liegt  nicht  weit  ab.  Es  sind  jetzt  gerade  vierzig  Jahre,  daß 
Fick  mir  seine  Theorie  von  0  als  dem  zu  e  ablautenden  Vocale 
des  Nachtons  vorgetragen  hat ,  die  von  ihm  später  (GGA  1880. 
421  ff.)  ausführlicher  entwickelt  worden  ist  und  die  so  glänzende 
Combinationen  wie  die  von  e^l^Ca  und  ijtoilJLog  (Beitr.  14.  316)  mög- 
lich gemacht  hat.  Indem  ich  mich  von  ihr  leiten  lasse,  behaupte 
ich,    daß   'äyoQöLg  die  Gestalt   des   aus  Milet  bekannten  Nomens 


Zur  Kenntnis  der  griechischen  Dialekte.  405 

aysQfiig  (Coli.  54983.1?)  vorstellt,  die  im  zweiten  Gliede  des  Com- 
positums  einzutreten  hatte. 

8.  Lesb.  evvsxa. 

Auf  einer  Anzahl  lesbischer  Inschriften,  als  deren  älteste  ver- 
mutlich die  Ehrung  der  Adobogiona,  der  Tochter  des  Galaters 
Deiotaros  (IG-  XII  2  no.  516) ,  zu  gelten  hat ,  die  also  der  ersten 
Hälfte  des  ersten  vorchristlichen  Jahrhunderts  angehört  (vgl. 
Haussoullier  Etudes  sur  Thistoire  de  Milet  222  f.) ,  begegnet  die 
Form  ^'vvsxa.  Daß  die  doppelte  Nasalis,  die  sie  aufweist,  nicht 
Assimilationsproduct  von  vf  vorstellen  kann,  weiß  man  lange,  steht 
vollends  seit  dem  Bekanntwerden  der  Form  sjcegog  fest,  die  lehrt, 
daß  in  der  lesbischen  Sprache  des  3.  Jahrhunderts  /  hinter  Con- 
sonant  spurlos  verschwunden  war.  Aber  wie  kommen  Leute,  die 
sich  des  künstlichen  Dialekts  befleißigen,  dazu  svvBxa  zu  schreiben? 
Darauf  kann  man  jetzt  mit  Sicherheit  antworten. 

Auf  einem  der  neuen  Alkaiosfragmente  aus  Oxyrhynchos  OP 
1233  Fr.  2  heißt  es  (Z.  17) 

Will  man  wissen,  welcher  Wert  dem  doppelten  v  zukomme,  so 
braucht  man  nur  in  zwei  Versen  eines  andren  Bruchstücks,  OP  1234 
Col.  IIg.t 

cDvrjQ  sjtsidri  tcqCoxov  övetgoTCS, 

Ttaiöaig  yccQ  dvvcoQivs  vvxtag, 
auf  den  Gegensatz  zwischen  ovstgoTts  und  övvaQivs  zu  achten,  um 
Bescheid  zu  erhalten :  die  Gelehrten,  die  den  Text  der  lesbischen 
Lyriker  constituiert  haben,  schrieben  doppelte  Nasalis,  wo  der 
Vers  Längung  des  kurzen  Vocales  verlangte.  Genau  nun  wie  Bal- 
billa  den  lesbischen  Dialekt,  in  dem  sie  dichten  wollte,  aus  den 
Ausgaben  der  lesbischen  Dichter  kennen  lernte,  denen  sie  auch 
falsche  Formen  entnahm  (vgl.  Drenkhahn  KZ  46.  300  f.) ,  so  griffen 
die  Schriftkundigen,  die  eine  Prosaurkunde  in  dem  ausgestorbnen 
Dialekte  herzustellen  wünschten,  nach  den  Ausgaben  des  Alkaios 
und  der  Sappho  und  orientierten  sich  aus  ihnen  über  die  Gestalt 
der  Formen,  die  sie  anwenden  wollten.  So  sind  sie  zu  ihrem  svvsxcc 
gelangt. 

9.  Lesb.  XaQQcov. 

In  einem  Gedichte  des  Alkaios,  in  dem  die  Hochzeit  des  Peleus 
mit  Thetis  beschrieben  war,  erscheint  der  Name  des  Chiron  in  der 
Gestalt  XsQQCDv:  OP  1233  Fr.  2  Col.  IIa 

ig  do^ov  XsQQCJvog. 


406       Friedrich  Bechtel,  Zur  Kenntnis  der  griechischen  Dialekte. 

Angesichts  des  Zeugnisses  einer  hocharchaischen  Felseninschrift 
aus  Thera  (IGr  XJI  3  no.  360)  und  einer  Anzahl  attischer  Yasen 
(Kretschmer  Yaseninschr.  131  f.),  die  übereinstimmend^  X/^()cov  ge- 
währen, fällt  XsQQCJv  in  hohem  Grad  auf.  Denn  daß  der  Name  in 
zweifach  vocalisierter  Gestalt  lebendig  gewesen  sei,  deren  eine 
sich  bei  den  Aolern  erhalten  habe,  während  die  andre  auf  Thera 
und  in  Athen  herrschend  geworden  sei,  wird  niemand  für  möglich 
halten,  der  Ausweg  aber  XCqov  durch  lautliche  Entwicklung  aus 
XsQQcov  hervorgehn  zu  lassen  ist  abgeschnitten,  weil  diese  nur  zu 
X£Q(Dv  hätte  führen  können.  Ich  sehe  daher  in  Xeqqcov  keine  selbst- 
ständig in  die  Zeit  der  Lyriker  hinaufreichende  Überlieferung 
sondern  das  Ergebnis  grammatischer  Speculation.  Die  Gelehrten, 
denen  die  Lyrikerausgaben  verdankt  werden,  sind  von  der  Namen- 
foTm  XsLQcjv  ausgegangen,  sei  es  daß  sie  diese  als  Umdeutung  der 
undurchsichtigen  ursprünglichen  Form  schon  in  der  Bildungssprache 
vorfanden,  sei  es  daß  sie  die  Umdeutung  selbst  vornahmen.  Sie 
verstanden  den  Namen  also  so,  wie  ihn  die  heutigen  Gelehrten 
bis  zum  Bekanntwerden  der  genuinen  Form  XCqcov  ebenfalls  ver- 
standen haben,  als  Benennung  des  xsiQi6og)og,  und  setzten  ihn  in 
der  Gestalt  Xsqqodv  in  das  Lesbische  um,  weil  sie  wußten,  daß  dem 
attischen  xslq-  bei  den  Lesbiem  xsqq-  entsprach. 


Eeimstüdien  IL 

Von 

Edward  Schröder. 

Vorgelegt  in  der  Sitzung  vom  18.  Oktober  1918. 

Die  Reime  auf  -o  in  der  mhd.  Litteratur. 

Wie  ich  dazu  gekommen  bin,  auf  den  in  der  Überschrift  an- 
gekündigten Ausschnitt  aus  dem  Reimbestand  der  mhd.  Zeit  eine 
nicht  unbeträchtliche  Zeit  und  Mühe  zu  verwenden ,  ergibt  sich 
aus  der  I.  Studie.  Die  Untersuchung  über  die  Reime  auf  -6  mußte 
den  Hintergrund  aufhellen,  auf  dem  die  Reime  mit  M  und  ihr 
ungleichmäßiges  Auftreten  verständlich  würden;  was  sie  darüber 
hinaus  ergeben  hat ,  ist  begreiflicherweise  nichts  abgeschlossenes : 
es  sind  kleine  Ergebnisse  für  die  Grrammatik,  wichtigere  Gesichts- 
punkte für  die  Reim  Statistik  und  Reimpsychologie. 

Wer  sich  einmal  mit  der  jungen  Überlieferung  von  Dichtungen 
des  12.  Jahrhunderts  beschäftigt  hat,  erinnert  sich  des  bald  ver- 
einzelten bald  häufigen  Vorkommens  'von  Kotreimen,  die  in  der 
bequemsten  Weise  dadurch  zu  Stande  gebracht  sind,  daß  hinter 
die  ursprünglichen  Träger  der  archaischen  Bindung  kleine  Flick- 
wörtchen angeklebt  wurden,  wie  da:  sd  und  besonders  cJö:  so. 
Bei  der  Arbeit  sehen  wir  so  einen  Reimflicker  in  den  Nürnberg- 
Ermlitzer  Bruchstücken  des  Rother,  wo  ein  Korrektor  hinzuge- 
schrieben hat  1086  f.  ivcegene]  do :  ze  saniene]  fo  und  1387  f. 
lange]  do :  manne]  fo.  In  der  Deutschordenshs.  von  Werners 
Maria  finden  wir  gegenüber  der  Berliner  die  plumpen  Retuschen 
engel  do:  ivandel  so  (681  f.  =  156,31)  und  sere  (st.  harte)  do: 
ivorte(n)  so  (1665  f.  =  170,  40).  So  hat  denn  Bartsch  (Beitr.  8,  496) 
im  Anegenge  3,  35 f.  guote  do:  rate  also  gewiß  richtig  den  9,  67 f. 
überlieferten  altertümlichen  Reim  guote:  rate  erkannt,   und  gegen- 


^Qg  Edward  Schröder, 

über  einem  ähnlichen  Falle  bei  Eilard  v.  Oberg  4585  war  Grierach 
S.  114  gewiß  nicht  gut  beraten,  als  er  dem  gcnoch:  zöcli  DB  die 
Lesart  genüg  so:  zoch  jo  H  vorzog.  Das  Reimpaar  im  Herzog  Ernst 
B  3927  f.  ist  vermutlich  bei  Bartsch  (nach  Hs.  b)  her  nider  in  daz 
schif  dö:  ruofte  er  den  recken  so  ebenso  unecht  wie  in  a  mit  da:  sä. 
Besonders  kraß  liegen  die  Dinge  in  der  uns  überlieferten  Fas- 
sung des  B.randanus,  wo  alle  8  Eeime  mit  dö:  so  (immer' in 
dieser  Folge:  29  f.  567 f.  859 f.  1011  f.  1117  f.  1441  f.  1457  f.  1903 f.) 
und  obendrein  noch  do:  ho  187  f.,  so:  jö  41  f.  auf  Rechnung  des 
Überarbeiters  kommen,  vgl.  bes.  187 f.  daz  sie  den  Jciel  g eivunnen 
dö:  des  gotes  lop  sie  sungenhö,  1011  f.  um  daz  ez  gerou  mich  harte 
dö:  ich  gab  ez  mit  siner  vorhte  so,  1457  f.  karten  sie  ze  lande  dö: 
wider  in  die  winde  so,  1903 f.  do  sprach  diu  gotes  stimme  do:  zu 
dem  heiligen  manne  so.  —  Auch  im  jungen  Reinhart  ist  nicht 
nur  dö:  so  907  f.  eine  gesicherte  Änderung,  sondern  auch  1925  f.  ist 
der  Reim  unecht:  statt  ergän  so:  dannen  dö  stand  im  alten  Text 
ergän:  dannän,  genau  wie  im  Fragment  775,  wo  der  Bearbeiter 
gleichfalls  das  alemannische  dannän  aus  dem  Reim  herausschaffte ; 
wenn  wir  sehen,  wie  1871  f.  der  Reim  also :  dö  eingeschwärzt  wird, 
erkennen  wir  leicht,  daß  er  auch  1947  f.  sekundär  ist  für  ergie: 
die{h),  und  nicht  minder  verdächtig  erscheint  er  dann  in  dem  ein- 
zigen Falle  der  noch  übrig  bleibt :  1457  f.  —  In  der  Yoraner  Über- 
lieferung der  Gredichte  der  A  v  a  steht  kein,  einziges  dö  im  Reime ;  die 
Görlitzer  Fassung  hat  1395  f.  aus  sciere  >  schiere  dö  gemacht  und  ß 
ivaren  vil  unvrö  in  die  augenscheinliche  Lücke  gesetzt,  ihr  wird 
auch  der  Reim  frö:  dö  im  Johannes  429  f.  zuzusprechen  sein.  Auf 
die  Überlieferung  eines  späteren  Gedichtes,  des  Wigamur,  komme 
ich  weiter  unten  (S.  414)  zu  sprechen. 

Aus  allen  diesen  Zutaten  einer  Jüngern  und  im  Reime  zwar 
auf  Reinheit  hinstrebenden,  aber  sonst  wenig  feinfühligen  Über- 
lieferung wird  man  zunächst  die  Vorstellung  gewinnen,  daß  ein 
Reim  wie  dö:  so  an  sich  zu  den  Kennzeichen  niederer  Kunst  ge- 
höre. Und  wenn  wir  aus  späterer  Zeit  einen  elenden  Reimer 
herausgreifen  wie  etwa  den  schlesischen  Verfasser  der  Kreuzfahrt 
Ludwigs,  der  diese  Bindung  massenhaft  verwendet  (etwa  in  V.  1 
—1000  5x  dö:  so,  2x  dö:  also),  so  scheint  sich  das  zu  bestä- 
tigen. Und  doch  ist  die  Vermutung  keineswegs  allgemein  zutref- 
fend: das  vulgäre  Paar  wird  weder  von  allen  Dichtern  die  etwas 
auf  ihre  Kunst  halten,  gemieden,  noch  stellt  es  sich  bei  jedem  be- 
quemen Reimschmied  ohne  weiteres  ein. 

Bei  Gottfried  von  Straß  bürg  haben  wir  in  19552  Versen 
151  Reime  auf  ö,  in  annähernd  gleicher  Verteilung  über  das  ganze 


Reimstudien  II.  409 

Grediclit  (79  in  der  ersten,  72  in  der  zweiten  Hälfte),  also  1:65 
Reimpaare ;  davon  zählen  136  dö  als  das  eine  Reimwort,  und  nicht 
weniger  als  80  Reimpaare  bringen  dö:  so  (31)  resp.  do:  also  (49) 
d.  i.  1: 122  Rpp..  Von  seinen  Schülern  hat  Konrad  von  Würz- 
burg im  Engelhard  auf  6504  Verse  42  o-Reime,  also  1 :  77  Rpp., 
dabei  39  mit  dö,  und  22 x  dö:  {cd)sö  d.  i.  1:148  Rpp.;  Rudolf 
V  0  n  E  m  s  im  Guten  Grerhard  auf  6928  Verse  62  o-Reime,  1 :  56 
Rpp.,  davon  48  mit  dö,  15  x  dö:  {al)s6  d.i.  1:231  Rpp.  In  der 
Weltcbronik,  die  entschieden  lässiger  gereimt  ist,  haben  wir  nach 
Wegener  319  o-Reime  in  33064  Versen,  d.  i.  1 :  52  Rpp.,  darunter 
278  mit  dö  und  175  X  do:  (al)sd  d.i.  1 :  94  Rpp.  Zu  bemerken  ist 
bei  den  Epigonen  die  starke  Zunahme  des  also  gegenüber  so:  im 
Engelhard  do:  tö  5x,  dö:  also  17  x ;  im  G.  Gerhard  dö :  so  4  x, 
dö:  also  11  x,  in  der  Weltchr.  gar  dö:  so  18  x,  do:  also  157  X/ 
Der  Grund  ist  natürlich  die  bequeme  Taktfüllung  im  jambischen 
Vers  dieser  Dichter.  Von  irgend  einer  Neigung,  den  ö-Reim  und 
insbesondere  das  Reimpaar  dö :  (al)sö  zu  meiden,  ist  bei  keinem  der 
drei  etwas  zu  spüren;  die  Verhältniszahlen  liegen  nicht  allzuweit 
von  einander. 

Ganz  anders  steht  es  schon  mit  Hartmann  und  Wolfram.  In 
Hartmanns  von  Aue  epischen  Werken,  auf  die  ich  mich  hier 
beschränke,  kommen  auf  23828  Verse  143  o-Reime,  d.  i.  1 :  83  Rpp., 
davon  85  mit  dö,  aber  nur  12  x  dö:  (al)söj  also  1  :  1000  Reimpaare; 
bei  Gottfried  bilden  diese  Reime  53  ^/o,  bei  Hartmann  nur  8  ^/o  der 
O-Reime.  Von  der  Gesamtzahl  entfallen  auf  den  Erec  (10135  VV.) 
68  d.  i.  1 :  74  Rpp.,  auf  den  Iwein  (8166)  38  d.  i.  1  :  108  Rpp.,  was 
eine  sehr  deutliche  Abnahme  bedeutet;  daran  sind  beteiligt  die 
Reimwörter  fjö  und  unfrö  (Erec  53  X,  Iwein  25  x),  hö  (Erec  5x, 
Iwein  Ix)  und  vor  allem  dö  (Erec  46  x,  Iwein  17  x)^);  die  Zahl 
der  Bindungen  dö:  (aT)sö  ist  in  beiden  Dichtungen  die  gleiche  (4), 
nur  scheint  bei  Hartmann  selbst  die  Verdrängung  von  so  durch 
also  hervorzutreten: 


dö:  so 

dö:  also 

Erec                3 

1 

Gregorius       1 

1 

a.  Heinrich   — 

2 

Iwein              1 

3 

1)  Unter  dö:  so  u.  s.  w.  versteh  ich,  wenn  nicht  ausdrücklich  das  Gegenteil 
bemerkt  ist,  stets  auch  die  umgekehrte  Stellung  so:  do  mit. 

2)  Diesen  Rückgang  der  tZd-Reime   bei  Hartmann  hat  schon  beobachtet  und 
sehr  gut  erklärt  Zwierzina  Zs.  45,  28 1. 


410  Edward  Schröder 


Bei  Wolfram  von  Eschenbach  scheidet  der  Titurel  wegen 
seiner  ausschließlich  klingenden  Versausgänge  aus.  Auf  die  38738 
Verse  von  Parzival  und  Willehalm  entfallen  i.  g.  96  o-Reime,  d.  i. 
1 :  202  Epp. ,  davon  nur  47,  also  die  knappe  Hälfte  mit  dö  (bei 
Gottfried  waren  es  Vio,  bei  Hartmann  immer  noch  ^/lo),  und  gar 
nur  16  (12  +  4)  Reime  dö:  so  resp.  also,  also  1  :  1210  Rpp.  —  mithin 
nur  ein  Zehntel  des  Grebrauchs  den  Gottfried  von  dieser  bequemen 
Bindung  macht. 

Bei  Hartmann  ist  es  gewiß  der  Reichtum  der  Bindungen,  die 
Sorgfalt  der  Reimwahl  und  die  Freiheit  der  Wortstellung,  die  ihn 
so  weit  von  Gottfried  abrücken  lassen,  bei  Wolfram  hat  die  Sache 
einen  andern  Grund :  er  schwankte  zwischen  den  beiden  Formen 
dö  und  duo,  wenn  er  auch  die  letztere  nur  3  x  anwendet :  fruo 
P.  166,8;  :^uo  368,14.  752,8. 

Wolframs  fränkischer  Nachbar  Wirnt  von  Grafenberg 
kennt  dies  duo  nicht.  Bei  ihm  entfällt  zunächst  auf  240  Drei  reime 
ein  einziger  mit  -6:  61,13 — 15  frö:  also:  dro.  Unter  Fortlassung 
dieser  Abschnittschlüsse  fallen  auf  10088  Verse  80  o-Reime,  d.  i. : 
1 :  68  Rpp. ,  also  genau  soviel  wie  bei  Hartmann  im  Erec ,  und 
darunter  7  (3  +  4)  x  dö :  so  resp.  also.  Daß  die  Verhältniszahl  in 
der  ersten  Hälfte,  die  ganz  unter  Hartmanns  Einfluß  steht,  etwas 
günstiger  ist  als  in  der  zweiten ,  wo  der  Einfluß  Wolframs  vor- 
wiegt (46^+  1  Dreireim  gegen  34),  halte  ich  für  einen  Zufall. 

Bayrische  und  fränkische  Elemente  in  einer  ganz  persönlichen 
Mischung  weist  die  Sprache  Lamprechts  von  Regensburg 
auf,  der  im  S.  Franciscus  30:5049  d.i.  1:84  Rpp.  hat;  darunter 
19  X  frö;  4x  Fremdwörter,  5x  dö:  {cd)sö. 

Das  österreichische  Nibelungenlied  hat  in  2379  Strophen 
(B)  mit  ausschließlich  stumpfen  Reimen  nur  13  o-Reime,  d.h.  genau 
so  viele  wie  der  arme  Heinrich:  dabei  zählte  der  a.  Heinrich  510 
stumpfe  Reimpaare,  das  Nibl.  4758  —  Hartmann  hat  hier  also  fast 
das  Zehnfache!  Obendrein  handelt  es  sich  im  Nibl.  ausschließlich 
um  den  Reim  dö:  frö  —  alle  andern  Bindungen  fehlen,  vor  allem 
dö:  so! 

Und  noch  merkwürdiger  ist  die  bairischeKudrun:  sie  kennt 
in  1705  Strophen ,  d.  h.  (mit  den  98  Nibelungenstrophen)  in  1803 
stumpfen  Reimpaaren  überhaupt  keinen  o-Reim!  Das  ist  um 
so  auffälliger,  als  sich  Versausgänge  auf  Langvokal  im  ganzen 
recht  häufig  finden:  -ä  6,  -e  44,  -t  15,  4e  30,  -uo  19,  zusammen  114. 

In  der  Klage  entfallen  auf  4360  Verse  3  o-Reime  {vrö:  dö 
1147  f.  2455  f.;  so:  vrÖ  3031  f.),  d.i.  1:726  Rpp.,  auf  einen  ent- 
sprechenden  Abschnitt   des  Biterolf  (V.  1—4360)   8,    auf  das 


Reimstudieu  IL  4-11 

ganze  Werk  16  (1 :  422  Rpp.)  sämtlich  Eeime  mit  frö :  nämlich 
;  cid  6,  :  so  9,  :  drö  1. 

Von  weitern  bajuvarischen  Dichtungen  haben  je  drei  Reime 
mit  frö  der  Servatius  ^)  auf  3548  VV.  und  die  Warnung  auf 
3889  VV.,  je  einen  der  Helmbrecht  (50; /tö  1025  f.)  auf  1934  VV., 
und  Konrad  von  Haslau  {frö:  drÖ  817  f.)  auf  1264  VV.;  Rü- 
digervonHünkhofenim  Schlegel  bringt  keinen  einzigen  o-Reim 
in  1200  VV.  — 

Ich  mache  hier  einmal  Halt,  um  die  durchaus  verwandte  Lage 
in  den  angeführten  Werken  und  insbesondere  in  den  Gedichten  aus 
der  Heldensage  zu  erläutern.  Wir  sahen  bei  Grottfried  von  Straß- 
burg, daß  unter  151  Reimpaaren  auf  -0  nicht  weniger  als  136  den 
Komponenten  dö  aufwiesen:  das  ist  offenbar  bei  einem  gewandten 
Erzähler,  der  durch  keinerlei  .lautliche  Bedenken  behindert  wird, 
das  gegebene ;  es  folgen  nach  dem  Gerade  der  Häufigkeit :  also  (58) 
+  s6  (37)  95  X,  frö  (48)  +  tmfrö  (4)  52  x,  Marjodö  11  x,  zivö  7  X, 
strö  1  X.  Nun  fällt  für  den  größten  Teil  der  bairischen  Dichter 
dö  als  duo  fort,  und  wenn  nun  frö  aus  irgend  einem  Grrunde,  der 
im  Stoffe  sogut  wie  in  der  Psyche  des  Dichters  liegen  kann,  zurück- 
tritt oder  im  Untergrunde  des  Bewußtseins  bleibt,  dann  kann  es 
eintreten,  daß  der  o-Reim  vollständig  ausfällt,  wie  bei  dem  Dichter 
der  Kudrun,  der  ganz  gewiß  nicht  mit  Absicht  diese  Bindung 
gemieden  hat.  Merkwürdig  ist  dabei,  daß  er  auch  das  duo  im. 
Reime  verschmäht:  er  hat  11 X  moituo  (149.  258.  489.  691.  758. 
779.  1052.  1061.  1209.  1612.  1625),  7x  suo:  fruo  (267.  438.  1106. 
1185.  1229.  1270.  1692)  und  nur  einmal  duo:  fruo  {S27).  Mit  dieser 
doppelten  Abneigung  gegen  dö  und  duo  und  dem  gleichzeitigen 
Fehlen  des  frö  steht  die  Kudrun  unter  den  größern  Dichtungen 
isoliert  streng  da:  eine  komplizierte  Überlieferung,  wie  sie  Müllen- 
hoff  und  gar  Wilmanns  angenommen  haben,  ist  dadurch  ganz  aus- 
geschlossen, die  Einheitlichkeit  des  Gedichtes  erhält  eine  neue 
Stütze. 

Klage  und  Biterolf  stehn  sich  wie  in  so  vielem  auch  im 
Punkte  der  d-Reime  und  speziell  des  dö  näher.  Der  Träger  des 
o-Reimes  ist  bei  beiden  durchweg  das  in  der  Kudrun  ganz  aus- 
fallende frö:  es  reimt  in  Kl.  : so  3031,  : dö  1147.  2455;  in  Bit. 
:{ai:}sÖ  121.  1291.  1385.  2173.  3345.  5715.  6735.  7305  (^m/^ro).  12435; 
:o'ol853.  3817.  3879.  10057.  12993.  13169;  :drÖ  9851;  den  Reimen 
dö :  frö  stehen  aber  gleichzeitig  in  überwiegender  Zahl  Reime  auf 
duo  gegenüber,  denn  dies  wird  gebunden :   in  der  Klage  ;  ^uo  663. 


1)  dabei  erscheint  mir  1075  f.  verdächtig,  ursprünglich  albe :  Walhe . 


^12  Edward  Schröder, 

2399.  3851.  4013;  im  Bit.:  mo  1193.  3395.  3513.  5309.  7107.  7291. 
7325.  8505.  8555.  9297.  11589.  11785.  12723.  13363;  :  tuo  2461. 
2487.  5489.  9931;  friw  1013.  4855.  4861.  7579.  9567;  es  verhält 
sich  also  die  Gesamtzahl  der  ö-Reime  zu  den  duo-'ReimGn  allein 
wie  3  : 4  in  der  Klage,  wie  16 :  23  im  Biterolf. 

Wieder  anders  liegt  die  Sache  im  Nibelungenlied  mit  seinen 
13  Reimen  do :  fr 6.  Dies  umfaßt  in  B  4758  stumpfe  Reimpaare,  das 
sind  mehr  als  in  der  Gesamtsumme  des  Erec  enthalten  sind,  der 
im  ganzen  65  ö-Reime  und  darunter  do:  frd  30  x  bringt,  die  An- 
gabe 'sehr  oft'  für  das  Nibl.  (Zwierzina  Zs.  44,  88)  bedarf  also  einer 
Einschränkung.  Das  Reimwort  duo  (;  vriio)  findet  sich  nur  zweimal 
auf  engem  Räume:  1819.  1830  (30.  Aventüre). 

Ich  schalte  hier  zunächst  die  Lyriker  Walther  und  Neidhart 
ein.  Walther  von  der  Vagelweide  hat  in  rund  4800  Versen, 
wenn  ich  das  Vokalspiel  abziehe,  34  ö-Reime,  d.h.  1:141  Verse 
(nicht  Reimpaare);  darunter  sind  2  Dreireime  und  1  Vierreim.  Ein- 
mal so:  dö  (64,  8/12),  in  allen  andern  Reimen  ist  frd  enthalten, 
zumeist  als  Reimträger.  Von  den  6  Reimen  mit  ho  entfallen  nur 
zwei  auf  ein  Reimpaar,  die  übrigen  auf  Mehrreim,  sodaß  man  deut- 
lich sieht:  die  fremde  Form  wird  hier  herangeholt.  —  Neidhart 
von  Reuental  ist  der  echte  Bajuvare  auch  in  der  spärlichen 
Anwendung  des  o-Reims :  in  ca.  3800  VV.  braucht  er  ihn  6  x^ 
d.  i.  1 :  633  Verse ;  das  einzige  hö  steckt  in  dem  einzigen  Dreireim 
(63,6). 

Von  den  spätem  österreichischen  Dichtungen  nehmen  die  Sa- 
tiren des  sog.  Seifried  Helbeling  eine  eigentümliche  Stellung 
ein.  In  seinem  Vokalspiel  (XII)  reimt  der  Dichter  unter  A  nur 
reine  a-Reime,  unter  0  aber  sieht  die  Reihe  in  gutes  Mhd.  umge- 
schrieben so  aus: 

bid:  Jcrä:  jswö:  ougenhrä:  da:  nä{h):  wd:  also:  ö, 
also  6  d  und  nur  3  6.  Danach  sollte  man  erwarten,  daß  die  Bin- 
dung -d:  '6  und  in  der  Schreibung  der  Hs.  etwa  übh.  die  Reime 
auf  '6  stark  hervorträten.  Das  Gegenteil  von  beidem  ist  der  Fall: 
ich  zähle  15  reine  Reime  auf  -d  (8  durch  Eigennamen  verursacht, 
kein  da:  sd),  zwei  Kompromißreitne  {also:  da  VIII  713  f.  Md:  frd 
VII 399  f.) ^),  aber  auch  nur  6  reine  Reime  auf  -o:  also:  hohohdf 
XIV  27  f.,  :^w6  II 479  f.  :  deö  VII 1125  f.;  stro:  fro  IX 89  f.,  dÖ:  sd 
I  816  f.  VII 987  f.,    d.  i.  (bei  über  8000  Versen  mit  überwältigend 


1)  weitere  Reime  a:  6  und  o  s.  bei  Seemüller  S.  LXX  f. 


Keimstudien  II.  413 

stumpfem  Eeim)  1 :  667  Rpp.  Der  bequeme  Reim  dö :  sd  findet 
sich  also  nur  einmal  auf  2000  Rpp.,  obwohl  der  Verf.  kein  duo: 
kennt. 

Bei  Ottokar  fallen  auf  V.  1 — 6000  11  unserer  Reime  (9  mit 
fro  resp.  tinfro)  d.i.  1 :  273  Rpp.,  darunter  ein  do:  also  49C3  f.  Bei 
Gundacker  von  Judenburg  wird  der  Versausgang  -6  durch 
die  vielen  latein.  Formen  (Egipto,  Pilato,  heremo,  evangelio)  ange- 
zogen und  liegt  dem  Dichter  schon  deshalb  nahe,  er  verwendet  ihn 
in  5320  Versen  41  x,  d.  i.  1 :  65  Rpp. ,  etwas  häufiger  als  Wirnt 
und  Hartmann  im  Erec ;  dö :  sd  nur  einmal  (1591  f.).  Dem  altern 
Herrant  vonWildon  Hegt  er  vielleicht  von  der  Lyrik  her:  in 
seinen  Erzählungen  (1630  VV.)  kommen  8  Fälle  (1 :  102  Rpp.)  vor, 
aber  kein  do :  so,  7  X  fr 6,  unfrö. 

Für  UlrichvonLichtenstein  hab  ich  oben  S.  388  f.  die  emi- 
nente Häufigkeit  des  ho :  konstatiert ;  daraus  ergibt  sich  ohne  wei- 
teres die  starke  Verwendung  des  Versausgangs  auf  -ö  überhaupt : 
für  das  Gesamtwerk  des  Dichters  stellt  er  mit  296  auf  20525  VV. 
fast  3  ^/o  aller  Reime ,  in  den  erzählenden  Strophen  des  Frauen- 
dienstes wird  diese  Zahl  gut  erreicht,  230  auf  14800  Verse,  also 
1 :  32  Rpp.,  ein  Verhältnis  das  im  12.  und  13.  Jh.  nirgends  annä- 
hernd wiederkehrt;  auch  im  Frauenbuche  (29  auf  2136)  sind  es 
noch  1 :  37  Rpp.  Dabei  kann  man  das  Anwachsen  der  ö-Reime  im 
Frd.  gut  beobachten :  auf  die  ersten  3000  Verse  (Bechstein  Str.  1—375) 
fallen  deren  31  {hd:  10),  auf  die  letzten  3000  (Bechst.  Str.  1476— 
1850)  55  {hd:  19).  Die  Häufigkeit  der  Reimglieder  ist:  fro  (unfrö) 
168  X,  {al)s6  157  X,  hd79x,  do  55  X,  drö  Ix.  Also  do,  das  bei 
Gottfried  an  erster  Stelle  steht,  tritt  hier  ganz  «urück,  und  man 
kann  beobachten,  wie  der  Dichter  mit  dessen  Gebrauch  anfangs 
zögert  und  dann,  nachdem  er  das  Reimwort  vorher  nur  einmal 
(12,71)  in  über  1900  Versen  angewendet  hat,  mit  einemmale  die 
Zurückhaltung  aufgibt  (79,  3.  11.  22).  Später  entschließt  er  sich 
dann  auch,  das  seiner  Heimatssprache  gemäße  duo  (;  vruo)  zu  brauchen : 
206,3.  211,5.  464,23.  484,26.  495,-19.  496,28. 

Ulrichs  auffällige  Vorliebe  für  den  d-Reim  stammt  unzweifel- 
haft aus  der  Lyrik:  in  den  2136  Versen  seiner  Lieder  finden  sich 
30  derartige  Reimpaare  (1 :  71  Verse) :  darin  erscheint  frd  25  x, 
hd  14 X,  {al)s6  19 X,  drö  Ix,  dö  Ix)  frö  und  hö  sind  in  der 
Lyrik  die  Träger  des  Reims  und  werden  von  da  in  die  Erzählung 
und  in  das  Lehrgedicht  übernommen. 

Thomasin  vonZircleere  hat,  wenn  ich  das  fünfmalige 
Auftreten    des  Paars  Batio - Imaginatio  abrechne,    15  o-Reime   auf 

Kgl.  Oes.  d.  Wiss.    Nachrichten.    Phil.-hist.  Klasse.    1918.    Heft  4.  28 


414  Edward  Schröder, 

14752  Verse,  also  1:492  Rpp.  —  das  völlige  Fehlen  von  do:  s6 
kann  hier  so  wenig  auffallen  wie  bei  Freidank. 

Konrad  von  Fußesbrunnen  hat  auf  3026  VV.  20  o-Reime, 
d.  i.  1 :  75  Rpp. ;  7  X  ist  der  Reim  durch  ein  Fremdwort  herbei- 
geführt, 8x  steht  dö:,  darunter  4x  do:  (al)sd;  kein  duo:. 

In  der  Wolfenbüttler  Bearbeitung  des  Wigamur  kommen 
(nach  Abzug  der  sieben  rein  graphischen  Reimbilder  mit  -o)  30 
Fälle  auf  6106  Verse,  also  rund  1:100  Rpp.;  für  das  Original 
aber  gehn  davon  einige  dö:  sd  ab,  die  sich  aus  Vergleichung  mit 
dem  Fragment  M  (S  gibt  keine  Grelegenheit)  und  aus  andern  Er- 
wägungen (z.B.  1932  f.  darumhe  do:  ze  stunde  so)  als  Zusätze 
oder  auch  als  einfache  Schreibung  für  da:  sä  (so  792 f.)  ergeben. 
Das  Paar  duo:  fruo  ist  für  den  Dichter  durch  M  988  und  W  712 
gesichert  —  wie  bei  vielen  Dichtern  die  zwischen  do  und  duo  schwan- 
ken, spielt  dies  Adverbium  im  Versausgang  eine  unbedeutende 
Rolle. 

Heinrich  von  demTürlin  hat  im  Mantel  auf  994  VV.  nur 
den  einen  Fall  fr 6 :  zwo  792  f. ;  auch  in  der  Krone  geht  er  mit  dem 
ö-Reim  sehr  sparsam  um:  ich  zähle  auf  V.  1 — 3000:  5,  auf  V.  3001 
—6000:  6,  auf  V.  6001—10000:  9  Fälle,  darunter  kein  einziges 
dö:  so!  Im  Durchschnitt  nur  1 :  250  Reimpaare ;  später  tritt  noch 
eine  leichte  Zunahme  ein,  die  sich  vor  allem  in  den  Dreireimen 
offenbart :  auf  die  größere  erste  Hälfte  des  Werkes  entfallen  davon 
nur  2  mit  dem  Ausgang  -ö  (2742  ff.  8427  ff.),  das  ist  ein  Verhältnis 
wie  im  Wigalois,  auf  die  kleinere  zweite  dagegen  8  (17269  ff.  19226  ff. 
21774ff.  22330ff.  23716  ff.  25010ff.  28769 ff.  29870ff.),  also  im  ganzen 
10:1008,  nicht  ganz  1%;  do:  (al)sd  wird  erst  in  4  von  den  5 
letzten  Dreireimen  eingeschlossen.  Die  ausgesprochene  Abneigung 
gegen  diesen  Reim  erklärt  sich  natürlich  wieder  aus  der  dem  Autor 
geläufigen  Form  duo,  von  der  er  freilich  nicht  gern  Grebrauch 
macht. 

Im  Lohengrin  (wo  auch  die  kurze  thüringische  Partie  des 
Eingangs  ohne  -o  bleibt)  ist  die  Enthaltsamkeit  womöglich  noch 
strenger:  in  7670  Versen  (60 Vo  stumpf)  haben  wir  nur  8  Fälle, 
also  1:470  Rpp.,  nur  2x  dö,  kein  dö:  so! 

Vom  Pleier  hab  ich  ausgezogen  Garel  V.  6001 — 9000,  Tan- 
darois  V.  3001—6000,  Meleranz  V.  1—3000;  Resultat  20-1-19  + 
34  =  73 :  9000,  d.  i.  im  Durchschnitt  1 :  62  Rpp. ,  mehr  als  bei 
Hartmann  im  Erec.  Darunter  dö :  frö  13  +  12  +  25  =  50  x^ 
{aT)sö:  frö  7  +  6  +  6  =  19 X,  deö:  dö  Ix,  (al)sö:  dö  (nur  im  Me- 
leranz) 3x.  duo  ist  für  den  Pleier  durch  den  Reim  gesichert: 
duo:  fruo  z.B.  Garel  12297.    Tand.  2027.    Mel.  1529;    der  häufige 


Reimstudien  U.  415 

Gebrauch  der  Bindung  do :  frö  geht  also  auf  litterarische  Übung 
zurück. 

Ziemlich  ähnlich  wie  im  Meleranz  steht  es  mit  Mai  und  B ea- 
flor:  in  V.  1 — 3000  finde  ich  30 ö-Reime  d.i.  1 :  50  E-pp.,  darunter 
aber  6  x  dd:  {al)sö  und  anscheinend  kein  duo ;  die  Reim  wähl  hat 
wie  beim  Pleier  durchaus  den  Charakter  der  Litteratur spräche. 

In  Enikels  Weltchronik  V.  1—6000  zähl  ich  32  o-Reime,  d.i. 
1:94  Rpp.,  wovon  aber  allein  6  auf  Pharao  fallen;  4x  also:  dd, 
das  also  nicht  gemieden  wird.  —  Bei  Heinrich  vonNeustadt 
V.  1—6000  sind  es  47,  d.  i.  1 :  64  Rpp.,  dabei  12  Fremdnamen, 
2x  ho  (5181.  5330),  aber  nur  ein  einziges  also:  dd  (265  f.).  —  In 
Liutwins  Adam  und  Eva  19  :  3942  VV.,  also  1  :  104  Rpp.,  davon 
aber  mehr  als  ein  Drittel  (7)  dd:  so  (also). 

Von  den  deutsch  -  böhmischen  Dichtern  haben  Ulrich  von 
demTürlin  im  Wilhelm  1 — 3100  (so  gezählt  wegen  der  Dreireime) 
13  Ö-Reime  (1 :  119  Rpp.),  darunter  1  x  dd:  sd  (106,  15 f.);  Ulrich 
V.  Es  chenbach  im  Alexander  V.  3001-9000  deren  18  (1 :  167Rpp.), 
'kein  dö :  (al)sö ! ]  Heinrich  von  Freiberg  in  den  6890  Versen  des 
Tristan  17  (1:203  Rpp.)  >  wovon  aber  11  mit  dd  und  4x  dd:  so 
(1829  f.  2109  f.  2391  f.  2267  f.). 

Auf  der  Grenze  zwischen  Bayern  und  Schwaben  steht  Konrad 
von  Heimesfurt  (M.  Himmelfahrt  1130  4- Ürstende  2160  VV.), 
zusammen  19  ^-Reime  auf  2290  Verse,  d.  i.  1 :  86  Rpp. ;  davon  6  x 
:  Fremdwörter,  11  x  dd:,  4x  dd :  alsd  —  und  Otto  II  vonFrei- 
sing:  V.  1 — 3000  des  Barlaam  weisen  18  ö-Reime  auf,  d.i.  1:83 
Rpp.,  davon  14  mit  dd,  5  dö:  {al)sÖ  (347 f.  1154f.  1358 f.  1968 f. 
2258  f.). 

Ein  ähnliches  Interesse  wie  die  bayrisch-österreichischen  Dichter 
erregen  die  Mittelfranken,  da  auch  bei  ihnen  mit  dem  dm 
gerechnet  werden  muß.  Dieser  Umstand  drückt  von  vornhereia 
die  Zahl  der  ö-Reime  herab,  die  man  im  Hinblick  auf  den  hier  zu 
erwartenden  Abfall  des  h  nach  6  als  hoch  vermuten  könnte.  Die 
5140  Verse  des  Marienlobes  (Zs.  f.  d.  Alt.  10)  bieten  18  ö-Reime, 
d.  i.  1  :  142  Rpp. ;  Komponenten  sind  :  {aT)s6  13  x,  hdQi) :  und  vrö  ' 
je  10  X,  Magdald  Ix  und  schließlich  vld{1i):  zdQi)  106,  31  f.;  dd 
kommt  also  überhaupt  nicht  vor,  aber  ebensowenig  diio]  das  wird 
nicht  ausschließlich  *an  der  lyrischen  Natur  des  Werkes  liegen. 
Die  Seltenheit  des  Versausgangs  uo  (ich  habe  nur  zwei  Beispiele 
29,  1  f.  111,  31  f.  notiert)  hängt  allerdings  damit  zusammen. 

Ganz  anders  steht  es  bei  Morant  und  Galie  (im  Karl- 
meinet):   auf    5200  Verse    entfallen   32   Reimpaare,    1:81   Rpp., 

28* 


416  Edward  Schröder, 

darunter  8  auf  äo(ä),  8  auf  zoQi))  do  stellt  nie  im  ö-Reim,  wohl 
aber  14  x  als  duo  im  Reim  auf  zuo,  vruo. 

Die  Praxis  Gottfried  Hagen s  stell  ich  vorläufig  hin,  ohne 
sie  zu  erklären:  er  hat  überhaupt  in  6292  Versen  nur  4  ö-Reime, 
d.  i.  1 :  786  Rpp. ,  und  zwar  alle  in  der  zweiten  Hälfte  seines 
Werkes:  vrö:  also  3107.  :  s6  5063.  :  do  5117;  vloQi):  also  4909;  er 
meidet  aber  auch  das  duo  durchaus ,  das  der  Dichter  von  Morant 
und  Galie  so  häufig  verwendet. 

Hermann  von  Luxemburg  hat  in  5962  Versen  38 ö-Reime, 
d.i.  1:78  Rpp.,  davon  33  x  (un)vr6:  (aT)s6,  2x  hö:  also,  2x 
strd :  also  resp. :  unvro,  1 X  unJid :  tmvrö,  —  niemals  dd,  aber  eben- 
sowenig dafür  duo.  Von  Hagen  unterscheidet  sich  der  Dichter 
dadurch,  daß  seine  wenigen  (5)  «o-Reime  sich  ganz  auf  zu:  vrü 
beschränken,  während  jener  (ebenso  oft)  ausschließlich  zu:  tu  bindet. 

Auch  die  niedrige  Reimkunst  P h i  1  i p p s  des  Karthäusers 
weist  keine  hohen  Zahlen  auf,  wohl  aber  größere  Unsicherheit.  In 
V.  1—6000  hab  ich  17  echte  ö-Reime  gezählt ,  d.  i.  1 :  176  Rpp., 
darunter  4x  UQi):  (2217.  2796.  3246.  3727)  und  3x  z6{h):  (141. 
652.  4322).  Zweimaligem  do:  also  (4774 f.  3800 f.)  steht  duo:  zuo 
3  X,  duo:  vruo  1  x  gegenüber,  auch  zwuo:  duo  2764  les  ich  so. 
Unreine  Reime  sind  also:  hantschuo  3642 f.,  :  Jesu  3660 f.,  darzuo: 
z6{h)  4328  f.  1). 

In  der  Eneide  Heinrichs  von  Veldeke  gestaltet  sich 
das  Verhältnis  der  Reime  auf  -ö  sehr  verschieden  innerhalb  des 
Gedichtes ;  ich  teile  ein : 

a)  V.  1—3000:  45  d.i.  1:33  Rpp.,  b)  3001—6000:  13  d.i. 
1:231  Rpp.,  c)  6001—9000:  5  d.i.  1:300  Rpp.,  d)  9001—12000: 
16  d.  i.  1 :  94  Rpp.,  e)  12001—13528 :  7  d.  i.  1 :  109  Rpp.'  Im  ganzen 
also  86  d.  i.  im  Durchschnitt  1 :  79  Rpp.  Daß  auf  den  ersten  Ab- 
schnitt weit  mehr  als  die  Hälfte  entfällt,  erklärt  sich  aus  dem 
starken  Vorwiegen  der  Fremdnamen,  von  denen  hier  allein  Bido 
31  X  im  Reim  erscheint ;  der  Abschnitt  c) ,  in  dem  dies  Material 
ganz  ausfällt,  hat  auch  die  kleinste  Zahl.  Nach  ihrer  Häufigkeit 
ordnen  sich  die  Reimwörter  so ;  Fremdnamen  53  x  {Bido  34,  an- 
dere 19);  also  (25)  und  so  (21)  46  x;  frö  (25)  und  unfro  (20)  45  x; 
U{]i)  22 x;  z6Qi)  3x;  floQi)  2x;  strö  Ix.,  do:  fällt  also  ganz 
aus,   wie   schon  v.  Kraus  S.  75   bemerkt   hat,    indem  er  zugleich 


.  .  1)  Eher  rheinfränkisch  als  mittelfränkisch  ist  die  Erzälilung  vom  Junker 
und  dem  treuen  Heinrich :  10  d-Reime  auf  2185  Versr,  d.  i.  1 :  109  Rpp.,  Reim- 
träger durchweg  frö,  kein  do:  so,  kein  duo. 


Reimstudien  II.  417 

nachwies,  daß  der  Dichter  auch  duo:  keineswegs  ohne  Anstoß  ge- 
braucht: die  11  Belege^)  verteilen  sich  obendrein  derart,  daß  10 
auf  V.  3155—7187,  der  elfte  auf  V.  13113  fallen.  —  Im  Ser- 
vatius  (27:  6224  VV.,  d.i.  1:115  Rpp.),  wo  das  dö  gleichfaUs 
fehlt,  wird'c?wo;  sogar  nur  einmal  verwendet:  1,1729. 

Die  noch  übrigen  Alemannen  sowie  die  Binnendeutschen  und 
Ostdeutschen  mit  der  gleichen  Ausführlichkeit  wie  die  Bayern  und 
Mittelfranken  zu  behandeln  verbietet  mir  gleichmäßig  die  Rück- 
sicht auf  den  Leser  und  auf  das  Papier.  Ich  werde  mich  also 
auf  eine  Aufzählung  in  losen  druppen  beschränken  und  nur  be- 
sonders eigenartige  Erscheinungen  hervorheben. 

Wenn  wir  uns  vor  Augen  halten,  daß  das  Verhältnis  der  ö- 
Reime  zur  Gesamtzahl  der  Reimpaare  bei  Gottfried  1 :  65 ,  bei 
Hartmann  (im  Durchschnitt  der  epischen  Gesamtproduktion)  1 :  83 
war,  bei  Konrad  von  Würzburg  zwischen  beiden  in  der  Mitte 
stand,  bei  Rudolf  von  Ems  nocb  über  Gottfried  hinaufstieg,  dann 
überraschen  die  niedrigen  Zahlen  nahezu  aller  ihrer  alemannischen 
Zeitgenossen  zwischen  1190  und  1300.  ülrichvonZatzichoven 
hat  28  ö-Reime  in  9444  VV.,  d.  i.  1  :  168  Rpp.,  obwohl  der  Sprache 
des  Dichters  ho,  ^ö,  vlö  gemäß  sind  (s.  Be3rwls  Reimregister) ;  nur 
ein  einziges  dö:  sd  485 f.,  und  dies  kein  Flickreim,  da  so  in  der 
Frage  steht.  —  Im  auffälligsten  Abstand  von  Gottfried  bietet 
Konrad  Fleck  nur  21:  8006  VV.,  d.i.  1:190 Rpp.,  SxdÖ:alsd, 
alle  andern  Reime  beherrscht  durch  fro,  unfrd.  —  Auch  der  Dichter 
der  Guten  Frau  mit  12:  3058  VV.,  d.i.  1:127  Rpp.  —  wobei 
kein  do :  so  —  entfernt  sich  weit  von  seinem  Lehrer  Hartmann.  — 
Gottfrieds  Fortsetzer  Ulrich  vonTürheim:  11 :  3728  VV.,  d.i. 
1:169  Rpp.,  2x  dö:  also. 

Bei  dem  Spruchdichter  Freidank  darf  das  Fehlen  des  dö 
nicht  Wunder  nehmen,  er  hat  12  Fälle  in  ca.  4800  VV.,  d.  i.  1 :  182  Rpp., 
davon  7  mit  fro,  5  mit  hö. 

Spätere  Epiker :  beiKonradvonStoffeln  find  ich  in  Khulls 
Text  14:  4172  VV.,  d.  i.  1 :  149  Rpp.,  kein  dö :  so,  im  übrigen  13  X 
fro :,  1  X  hö :.  Auch  in  den  ca.  2000  Versen  aus  I  oder  D,  welche 
der  Herausgeber  in  die  Lesarten  verwiesen  hat,  bleibt  das  Ver- 
hältnis ähnlich  und  fehlt  dö:  so  durchaus.  —  Noch  spröder  der 
jüngere  Friedrich  von  Schwaben:  14:  8064  VV.,  d.i.  1:288 


1)   Zu  den  von  v.  Kraus  aufgezählten  tritt  noch  3757,    wo  Behaghel  ohne 
Nötigung  doen  (;  toe)  gegen  das  do  aller  Hss.  eingesetzt  hat. 


418  Edward  Schröder, 

Rpp.,  alle  bedingt  durch  /ro,  also  auch  kein  do:  so!  Aus  Hugo 
vonLangenstein  hab  ich  zwei  Proben  mit  recht  verschiedenem 
Ergebnis  entnommen:  V.  1 — 6000  mit  sehr  vielen  (12)  Fremd- 
wörtern und  Eigennamen  im  ßeim  hat  22  o-Reime,  d.  i.  1 :  136  Rpp., 
V.  9001—12000,  wo  diese  fortfallen,  nur  3,  also  1 :  500  Rpp.  Der 
Reim  d6:  so  kommt  in  diesen  9000  Versen  nur  einmal  vor:  31, 13  f. 
—  Reinfried  von  Braunschweig  Y.  1—6000:  27,  d.i.  1:167 
Rpp.,  aber  mit  recht  ungleichmäßiger  Verteilung,  sodaß  auf  V.  4001 
— 6000  17  Fälle  kommen,  darunter  5  von  den  7  dö:  {al)s6.  — 
Walther  von  Rheinau,  Buch  II  Bl.  49—101»,  3000  Verse  mit 

15  Fällen,  d.  i.  1:100  Rpp.;  10  x  do:  {un)fr6j  5x  dö:  (al)sd.  — 
Egenolf  von  Staufenberg:  8:1174  VV.,  1:73  Rpp.,  3x 
dö:  also  —  und  dem  wieder  entgegen  vom  Nordrand  Schwabens 
Johann  von  Würz  bürg  der  in  V.  1 — 6000  nur  9  o-Reime 
bringt,  1:333  Rpp.,  5  mit  frö:^  3  mit  Fremdwörtern,  ein  dö:  so 
3425  f. 

Jüngere  Didaktiker :  Heinrich  von  Beringen  in  V.  1 — 3000: 

16  d.  i.  1  :  94  Rpp. ,  aber  darunter  7  mit  fremden  Eigennamen^ 
ein  dö:  also  (1530f.).  -  Minnelehre  9:2250  VV.,  1:142  Rpp.| 
ein  dö:  also  499  f.  —  Konrad  von  Ammenhausen  V.  1 — 3000: 
25  d.  i.  1 :  60  Rpp.,  gut  die  Hälfte  (13)  dö:  {aT)sö.  —  Ulrich  Boner 
Nr.  1—56,  3000  VV.  mit  31  Fällen,  d.i.  1:48  Rpp.;  Qx  dÖ:  (al)sÖ, 

Mit  diesen  Dichtern  des  14.  Jahrhunderts  und  ihrer  lässigen 
Reimkunst  haben  wir  den  Zahlenstand  Gottfrieds  nicht  nur  wieder 
erreicht,  sondern  überschritten.  Übertroffen  werden  sie  noch  von 
den  Fortsetzern  des  Straßburger  Parzival,  in  deren  Sprache 
freilich  ä  und  ö  bereits  zusammengefallen  sind:  V.  3001 — 6000 
ergeben  zunächst  27  reine  o-Reime  (1 :  56  Rpp.)  und  davon  18  dö : 
(al)sö,  dazu  noch  12  Kompromißreime  d :  o,  also  im  ganzen  39,  d.  i. 
1 :  38  Rpp.  — 

Von  den  Lyrikern  hatReinmar  d.  A.  in  annähernd  2000 
Versen  19  solche  Reime,  d.  i.  1 :  gut  100  Verse ;  ein  dö :  so  (185,  23  f.), 
sonst  steckt  in  allen  frö,  zweimal  auf  M  reimend.  —  Ulrich 
von  Winterstetten,  ca.  2220  VV.  (mit  vielen  Binnenreimen), 
12  O-Reime,  d.i.  1:^00  Verse,  sämtlich  frö  (unfrö):  so  (also).  — 
Gottfried  von  Neifen,  rund  1800  Verse,  6  o-Reime  (alle  mit 
frö),  d.i.  1:300  Verse.  —  Hadlaub,  2220  Verse  mit  23  Fällen, 
also  1 :  rund  100  Verse ;  in  22  Reimen  steckt  frö  (inkl.  1  unfrö),  in 
5  ho,  dies  immer  :frö. 


Keimstudien  IL  419 

Den  Übergang  von  den  Alemannen  zu  den  Südfranken 
stellen  dar:  Moriz  von  Craon:  8  auf  1784  VV.,  d.  i.  1 :  124 Epp., 
7x  frö:  (unfrö),  kein  ho,  kein  dö:  so,  und  Tristan  als  Mönch: 
18  auf  2705  VV.,  d.  i.  1 :  75  Rpp.,  kein  ho,  Sx  dö:  so.  — 

Auifallend  gering  ist  die  Zahl  der  o-Reime  bei  dem  Hessen 
HerbortvonFritzlar,  sobald  wir  wenigstens  die  Fremdnamen 
abziehen  (Juno,  Priamo,  Frothesilao  u.  s.  w.):  mit  ihnen  enthalten 
Y.  1—6000  30  o-Reime,  d.i.  1:100  Rpp.,  ohne  sie  nur  10  d.i. 
1  :300  Rpp.,  und  das  obwohl  der  Dichter  flö{h):  frö  2047  f.  reimt, 
ich  also  unbedenklich  auch  ho:  enphlö  1785  hingenommen  habe,  dö 
kommt  in  dieser  Partie  7  X  im  o-Reim  vor:  1848.  2422.  3339.  3399. 
3970.  4899.  5243,  aber  nur  einmal  findet  sich  also:  do  3969  f.; 
Herbort  hat  diesen  Reim  also  offenbar  gemieden  —  dafür  aber 
verwendet  er,  anfangs  zögernd,  dann  häufig  das  ihm  gewiß  nicht 
eigene  duo  im  Reim  auf  ^uo  701.  4251.  4600.  4724.  5525.  5683. 
Hier  liegt  zweifellos  Einfluß  mittelfränkischer  Dichtung  vor,  und 
gewiß  nicht  nur  von  Seiten  Veldekes.  —  Nach  Hessen  setzt  man 
auch  den  Athis,  der  in  1570  Versen  der  erhaltenen  Fragmente 
keinen  o-Reim  aufweist,  und  Ottes  Eraclius  mit  14  auf  5392 
Verse,  d.i.  1  :  192  Rpp.;  9  werden  durch  frö  getragen,  3  durch 
Fremdwörter,  einmal  steht  ho  (:strö)  im  Reim  2199  und  einmal 
dö :  so  4201  f.,  wo  aber  so  die  Frage  schließt,  also  kein  Flickreim 
vorliegt,     duo:  fehlt  hier  wie  bei  dem  folgenden. 

Aus  dem  Ende  des  Jahrhunderts  hat  die  E 1  i  s  a  b  e  t  h  in  10534 
Versen  33  Fälle,  also  1:  160  Rpp,,  9  mit  Fremdwörtern,  3  mit  hö: 
(immer  Adjektiv,    und   daneben  3x   hoch:),  Qx   dö:  also]    frö  ist 

14  X  Reimträger,  je  2  x  mit  hö  und  mit  Fremdwörtern  gebunden. 
—  Fast  doppelt  so  stark  ist  die  Zahl  in  der  Erlösung:  37  auf 
6593  VV.,    d.i.   1  auf  89  Rpp.;    dabei  ist  der  Reim  herbeigeführt 

15  X  durch  frö,  7x  durch  hö,  12  x  durch  Fremdwörter;  bis  über 
V.  4000  hinaus  sind  diese  drei  Gfruppen  alleinherrschend,  dann 
taucht  im  letzten  Drittel  der  Flickreim  iedö :  also  auf  (4428  f. 
4652  f.  5014f.).  —  In  Marien  Himmelfahrt  (Zs.  f.  d.  Alt.  5) 
haben  wir  14 :  1844  Verse,  1 :  66  Rpp. ;  12  sind  durch  frö,  je  einer 
durch  h6{:  deo  1454  f.)  und  durch  ein  Fremdwort  {Effeso :  also  747  f.) 
bedingt;  kein  dö:  so. 

Von  den  Thüringern  hat  Ebernand  von  Erfurt  nur 
18:4752  VV.,  d.i.  1:132  Rpp.,  obwohl  er  hÖ :  fast  so  oft  (6x) 
im  Reime  verwendet  wie  frö  (7x);  ein  einziges  dö:  also  (349 f.). 
Bei  Heinrich  von  Kröllwitz  (4889  VV.)  liegen  die  Verhält- 
nisse noch  einfacher:  7x  reimt  hö:  also  {so),  3x  frö:  also,  dem- 
nach nur  1:244  Rpp.;   kein  dö:  (al)sö,  —   Der  Meißner  Hein- 


420  Edward  Schröder, 

rieh  von  Mtigeln  hat  in  der  Meide  Kranz  bei  2592  ausschließ- 
lich stumpfen  Reimen  nur  7  o-Reime  mit  Fremdwörtern  und  außer- 
dem hö :  ivö  83  f.  —  also  überhaupt  keines  der  altgewohnten  Reim- 
paare, vor  allem  auch  kein  dö:  so. 

Der  Lyriker  Heinrich  vonMorungen  hat  in  rund  900  YV. 
6  o-Reime,  d.i.  1  auf  150  Verse,  wobei  je  ein  Binnenreim,  ein 
Dreireim  und  ein  Vierreim,  fro  (5  x)  und  hö  (4  x)  sind  Reim- 
träger, dazu  kommt  Ix  dö:  also  130,21/24. 

Ich  mache  einen  Abstecher  nach  Norden.  Von  den  Nieder- 
sachsen hat  Albrecht  von  Haiberstadt  in  den  424  Versen 
der  alten  Fragmente  2x  vro(iinvro):  d.i.  1 :  106  Rpp.  —  Eilard 
von  Oberg  in  der  Überlieferung  der  Fragmente  (wozu  jetzt 
Fragm.  X  Pßßeitr.  41,  513  ff.  tritt)  von  echten  o-Reimen  4 :  1070  VV., 
d.  i.  1 :  134  Rpp. ;  sie  kehren  sämtlich  im  Jüngern  Text  wieder : 
vrö:  dö  X136f.  =  L.  7199  f.  X276f.  =  L.  7343  f.  X438f.  = 
L.  7501  f.,  dazu  ^w6:  dö  VIII  34  f.  =  L.  3061  f.  Während  ein  Reim 
dö:  so  fehlt,  kommt  dö  im  Reim  auf  vro  =  vriio  III 50  =  1778 
und  auf  darsu  X337  =  L.  7404  vor,  ohne  daß  eine  Entscheidung 
möglich  ist,  ob  hier  eine  heimatliche  Bindung  :-ö  oder  aber  litte- 
rarischer Einfluß  vom  Rheine  :  -uo  vorliegt.  In  Lichtensteins  Text 
fallen  auf  V.  1—3000  14  echte  o-Reime,  d.  i.  1  :  107  Rpp.,  wovon 
4x  dö:  so.  —  Berthold  von  Holle  hat  nur  13  Fälle  auf  den 
ganzen  Demantin  (11760  VV.),  d.  i.  1 :  452  VV.,  also  auffälligste 
Zurückhaltung :  kein  dö :  so !  Reimträger  ist  10  x  frö,  Sx  hö,  zur 
Füllung  dient  10  x  dö,  Sx  {al)sö ;  es  ist  mithin  keine  Abneigung 
gegen  (?o  an  sich  vorhanden.  — Brun  von  Schönebeck  V.  1 — 3177^) 
ergibt  17  hochdeutsche  o-Reime  und  dazu  4,  in  denen  ßö  =  zuo 
auf  ö  gebunden  wird,  im  ganzen  1 :  71  Rpp.,  darunter  2  x  dö:  (al)sö. 
—  In  der  Braun  seh  weigis  che  n  Reimchronik  kommen  auf 
V.  1 — 3000  zwar  11  reine  o-Reime,  aber  davon  sind  10  durch 
Namen  herbeigeführt,  dazu  nur  das  eine  vro:  dho  1912 f. 

Bei  dem  Schlesier  Johann  von  Frankenstein  ist  be- 
reits der  Zusammenfall  des  -ä  mit  -o  vollzogen,  der  auch  vor  dem 
Latein  nicht  Halt  macht :  so :  pascJia  389  f.  1193  f. :  materia  3835  f. 
Rechnet  man  zu  den  reinen  o-Reimen  die  Bindungen  zwischen 
'ä:  -0  hinzu,  so  ergeben  sich  36:  1—6000,  d.i.  1:83  Rpp.,  13 X 
dö:  so,  wovon  aber  der  erste  Beleg  2905 f.  —  Der  ärgste  Reim- 
stümper ist   der  Verfasser  von  Ludwigs  Kreuzfahrt,    wobei 


1)  das  sind  3000  deutsche  Verse,  nach  Abzug  der  lateinischen  Zeüen. 


Reimstudien  II.  421 

freilich  die  vielen  Namensformen  auf  -o  einwirken:  in  den  ersten 
1000  Versen  sind  es  33  Fälle ,  d.  i.  1 :  15  Reimpaare !  (davon  7 
dö :  (al)sÖ),  in  V.  1  -3000  ^) ;  68,  d.  i.  1 :  22  Rpp. 

Aus  der  Deutschordenslitteratur  hab  ich  zunächst  vom 
Passional  Buch  I  V.  1—3000  (Hahn  1 — 33,'63)  and  dann  noch 
3000  Verse  aus  dem  III.  Buch  (Köpke  53—84,78)  geprüft:  ich 
fand  dort  17,  hier  27  Fälle,  wobei  die  größere  Anzahl  der  Fremd- 
wörter (dort  7,  hier  14)  mitwirkt  —  im  ganzen  44 :  6000  d.  i. 
1 :  68  Reimpaare^)  —  aber  nur  einmal  dö:  also  (Köpke  71,  5  f.).  — 
Sodann  Heinrichvongesler,  Evangelium  Nicodemi:  5392  VV. 
mit  10  Fällen,  d.  i.  1 :  270  Rpp.,  ein  also :  dö  49  f.,  also  ganz  am 
Eingang,  während  dö  als  Reimfüllsel  noch  5x  erscheint;  littera- 
rischer Reim  ist  daneben  vriio:  dö  2645  f.  (s.  Helm  s.  XL  VI). 

Die  Wanderung  durch  die  deutsche Litteratur,  die  uns  vom  Elsaß 
bis  nach  Westpreußen,  von  den  Alpen  bis  zum  niedersächsischen 
Tiefland  geführt  hat,  umspannte  nur  die  Zeit  von  etwa  1180 
bis  1350  —  hier  mußte  sie  Halt  machen,  weil  mit  der  wach- 
senden Vermischung  von  ä  und  6,  die  insbesondere  da  und  dö 
betrifft,  neue  und  für  die  Beurteilung  schwierige  Verhältnisse  ein- 
treten. 

Wenn  wir  beim  Eintritt  in  die  Blütezeit,  speziell  bei  Gottfried 
von  Straßburg,  den  ö-Reim  stark  entwickelt  und  in  reicher  Ver- 
wendung antreffen  wie  etwas  selbstverständliches,  so  liegt  es,  da 
in  ihm  doch  keinerlei  jüngere  Formen  zu  Tage  treten  können, 
nahe,  ihm  ein  hohes  Alter  und  eine  lange  Tradition  zuzuschreiben. 
Die  Betrachtung  der  vorausliegenden  Zeit,  der  drei  Jahrhunderte 
von  Otfried  bis  zum  Anbruch  der  mhd.  Blüteperiode  erweist  das 
Gegenteil  und  stellt  neue  Fragen,  die  wir  nicht  ohne  weiteres  be- 
antworten können. 

Unter  den  7426  'Versen'  d.  i.  Reimpaaren  Otfrids  finden 
sich  rund  530  auf  -o,  d.  i.  1  :  14  Rpp.,  das  sind  aber  zu  fast  95  °/o 
Bindungen  von  tieftonigera  -o  beiderseits,  sodaß  für  unsere  Betrach- 
tung streng  genommen  nur  6  (1 :  1238  Rpp.)  und  allenfalls  27  Fälle 
(1  :  275  Rpp.)  übrig  bleiben,  nämlich 

frö:  thö  5  x:  (I  2,  9.   II  8,  9.   III  2,  29.  20,  174.  [unfrö]  V  15,  30). 

frö:  so  Ix  (Vll,28). 


1)  resp.  3004  in  y.  d.  Hagens  falschen  Zählung. 

2)  wie  im  Erec. 


422  Edward  Schröder, 

thö:  -0  8  X  {lirlolgono  14,  56.  ;  eino  II  14, 13.  iredino  II  14,  35^ 
gidougno  III 15,  35.  Judono  III 23, 27.  Y 11, 1.  :Mmo 
III  24,  50.  ;  ferro  IV  18, 1). 

sö:-o  13  X  {:  gewisso  10  x,  s.  Ingenbleck  S.  83.  '.ivasso  11,84. 
;  egiso  V  4,  22.  39). 
Resultate :  /"ro,  das  einzige  Vollwort  auf  -o,  reimt  auf  die  Partikeln 
thö  und  so,  aber  niemals  auf  tieftoniges  -o;  diese  Partikeln  findet 
man  nie  unter  sich  gereimt;  im  Reim  auf  -o  scheinen  sie  derart 
beschränkt,  daß  so  nur  auf  -so  gebunden  wird,  thö  nur  auf  -nb^ 
-mb,  -rb  (-Ib  mag  zufällig  fehlen);  so  erscheinen  alle  Zahlen  über- 
raschend niedrig. 

Bei  den  kleinern  ahd.  Denkmälern  "zu  verweilen,  lohnt  sich 
nicht.  Ich  will  gleich  erwähnen,  daß  in  unserer  Überlieferung  das 
letzte  Beispiel  für  die  ahd.  Reimtechnik  die  Exodus  (spätestens 
1120)  mit  dem  einen  Reim  dö :  erchomenlicho  543  f.  bietet.  Bei 
Ezzo  (1064)  haben  wir  duo:  brunno  15,  10;  0uo:  eino  3, 10.  -.geloiibo 
29,8;  im  Lob  Salomonis  (ed.  Waag)  außer  scöno:  Lyhano  151  f. 
Lyhano :  dö  107 f.  und  vrö :  eingilo  213  f.,  im  Nabuchodonosor 
Äbdenago :  dö  37  f. 

Die  Reimtechnik  der  Wiener  Genesis  (Fundgruben  II)  ist 
noch  durchaus  althochdeutsch,  aber  im  einzelnen  von  Otfrid  gründ- 
lich verschieden.  Vollwörter  reimen  zunächst  untereinander,  aber 
naturgemäß  selten :  unvrö ;  drö  40,  71.  ;  strö  46,  10,  dann  die  Par- 
tikeln ;  dö :  also  42,  4.  :  so  62,  44.  Weiter  reimt  dann  vrö:  ant- 
wurto  34,41.  :  worto  37,41.  :  undurfto  43,13.  ihelido  70,4;  geheiszo 
37, 17,  also  nur  auf  Gren.  Plur. ;  dö  hingegen  außer  :  lieho  32, 4. 
'.brunno  32,35.  :  rehto  39,41.  :  worto  45,45  auch  auf  mute  40,17. 
48,  5.  68, 10.  ;  unmüte  51,  6.  :  liute  74,  20  und  namentlich  9x  auf  Ad- 
verbien mit -Z«o  20, 4.  39,28.38.  48,34.40.  53,18.31.  57,43.  64,32. 
Der  Form  dö  steht  aber  die  der  Heimatsprache  der  Dichtung  ge- 
mäße Form  duo:  zuo  gegenüber  11,27.  19,1.  22,4.  37,9.38,7. 
39,  24.  43,  31.  44,  3.  49,  9. 15.  63, 2.  66, 10,  und  anderseits  reimt 
auch  ^uo  :  -0  sowohl  als  :  -b:  vrö  {unvrö) :  suo  38,41.  57,  39;  Fharao: 
2U0  61,19;  <so:  fröUcho  71,17  u.a.  Gegenüber  dem  häufigen  und 
geschmeidigen  dö-duo,  das  ich  im  ganzen  37  x  im  Reime  gezählt 
habe,  wird  {al)sö  gemieden;  von  den  beiden  Reimen  auf  dö  (s.  o.) 
scheint  der  eine  (42,4)  als  Dreireim  dö:  also:  gerno  aufzufassen. 
Die  Praxis  ist  keineswegs  in  allen  Teilen  der  Dichtung  gleich:  in 
den  ersten  Partieen  fehlen  die  Reime  -o;  -ö  ebensogut  wie  die 
Reime  -ö:  -o;  ich  mag  aber  hier  auf  die  Verfasserfrage  nicht  ein- 
gehen, obwohl  ich  sie  keineswegs  für  gelöst  halte. 

Die  Milstäter  Bearbeitung   hat  Anstoß    genommen   an   den 


Reimstudien  II.  423 

Reimen  vrö  :  geJieiz^o,  :  undurfto,  :  helido  (die  bei  Otfrid  ganz  fehlen) 
und  hier  in  vro:  dö  geändert,  ohne  aber  konsequent  zu  verfahren. 

Ziehen  wir  die  Reime  mit  tieftonigem  -o  ab,  so  bleiben  in  den 
6063  Versen  der  Genesis  nur  4  Fälle,  d.  i.  1 :  758  Rpp.  Mit  diesem 
Eindruck  treten  wir  ins  12.  Jh.  und  in  die  mittelhochdeutsche 
Litteratur  ein,  und  er  findet  hier  seine  Fortsetzung  und  Bestäti- 
gung. 

Die  Gründe  dafür  liegen  klar  zu  Tage:  1)  fro  ist,  wie  schon 
früher  bemerkt  wurde,  ein  Reimwort,  das  erst  durch  die  Lyrik 
zu  häufigem  Brauche  kam  und  dem  Gedächtnis  der  Dichter  dann 
allzeit  bereit  lag,  die  übrigen  Vollwörter  {strö,  drö,  zwo)  kommen 
naturgemäß  noch  weit  seltener  zur  Verwendung,  M  ist  landschaft- 
lich beschränkt  und  findet  erst  später  litterarische  Verbreitung; 
2)  die  Formwörter  db  und  {al)s6  werden  zunächst  wie  bei  Otfrid 
und  in  der  Genesis  im  Reime  von  Dichtern,  die  etwas  auf  sich 
halten,  gemieden;  3)  dö  ist  obendrein  für  die  Bayern  und  Mittel- 
franken als  duo  kein  Reimträger  und  nur  allenfalls  Reimfüllsel 
für  den  o-Reim;  4)  so  bleiben  vorwiegend  die  lateinischen  Wort- 
formen und  Eigennamen  als  Träger  übrig,  die  besonders  bei  den 
Dichtern  der  Übergangszeit  und  bei  den  geistlichen  Dichtern  auch 
weiterhin  (wie  wir  schon  gesehen  haben)  den  o-Reim  fordern  und 
anziehen,  sei  es  daß  sie  untereinander  reimen  oder  mit  dö,  so 
(selten  vrö)  gebunden  werden. 

Indem  ich  Gedichte,  die  weniger  als  250  Verse  haben,  über- 
geh, geb  ich  nun  eine  Übersicht  zunächst  über  die  geistliche 
Dichtung. 

Ohne  jeden  echten  o-Reim  bleiben  das  Anno -Lied  (876  VV.), 
das  mittelfränkische  Legendär  (764  VV.) '),  die  Gedichte 
vom  Recht  (549  VV.)  und  von  der  Hochzeit  (1088  VV.),  das 
Himmlische  Jerusalem  (473  VV.),  die  Vorauer  Sünden- 
klage (858  VV.),  der  ganze  Heinrich  von  Melk  (1788  VV.); 
ferner  die  Gedichte  d^r  Ava  (ed.  Piper)  in  der  Vorauer  Hs. 
(2942  VV.)  ^) ;  im  Johannes  der  Görlitzer  Hs.  begegnet  freilich  429  f. 
ein  frö :  dö,  das  aber  zweifellos  dem  Bearbeiter  gehört,  sodaß  also 
für  die  sämtlichen  3388  Verse  kein  o-Reim  übrig  bliebe ;  du  reimt 
ausschließlich  auf  zu  und  dieses  wieder  auf  Fremdwörter  (:  Jericho 
679  f.  :  meditacio  2381  f.) ;  während  dö  ganz  fehlt,  haben  wir  du :  zu 
Jesus  849  f.  1031  f.  1039  f.  1471  f.  1523  f. 


1)  unreine  Reime  Petrö:  zö  (=  zuo)  207  f.,  gez6{h):  sco  (=  scuoh)  676 f. 

2)  wobei  ich  ratio :  meditatio   im   Jüngst.  Gericht  331  f.   nicht   als   o-Reim 
ansehe. 


A24:  Edward  Schröder, 

Die  Litanei  S  (1468  VV.)  liat  zweimal  frö  im  Reim  auf 
Fremdwörter  (:  virgo  1035.  :  Magdalo  1097),  der  Linz  er  Ente- 
christ (1188  VV.)  ebenso  also  {:  discessio  109,28)  resp.  so  {:  facio 
134,  22)  und  dazu  einmal  Reim  von  Fremdwörtern  unter  sicli  (evan- 
gelio:  agro  24, 13f.);  Arnold  in  der  Siebenzahl  (1044 VV.)  im 
Reim  auf  Fremdwörter  3  x  so  (336, 18.  346,  7.  379,  9)  und  je  1  x  vrö 
(349,11)  und  dö  (349,23)^). 

In  der  Exodus  (3316  VV.)  reimen  Vollwörter  drö:  unvro 
1821  f.,  Formwörter  dd:sö  1517  f.,  ein  Fremdwort  Jetro :  dö  377 f., 
die  Endung  dö :  erchomenlicho  543  f. ;  diesen  drei  Beispielen  mit  dö 
als  Notbehelf  steht  sechsmaliges  diio:  ^uo  gegenüber  245  f.  1569  f. 
1793  f.  2301  f.  2359  f.  2427 f.  —  In  der  etwa  gleichzeitigen  jun- 
gem Judith  (1820  VV.)  werden  drei  Reime  durch  ein  Fremd- 
wort bedingt :  dö :  Jericho  141,  1.  :  mirto  161,  8  f. ;  also  ;  Carmelo 
132,  6;  dazu  tritt  frö:  dö  170,  4  und  anderseits  du:  m  133,  5t.  27  f. 
—  Fünfzig  Jahre  nachher  noch  hat  Werners  Marienleben 
(Berliner  Hs.  ca.  5280  VV.)  auf  Fremdwörter  5  Reime  von  also 
(;  Leucio  149,  34)  resp.  dö  (:  templo  164,  17.  :  Jericho  166,  40. :  concilio 
188, 4.  ;  deo  199,  7)  und  daneben  ein  frö :  dö  155, 16,  so:  frö  205,  32; 
und  \Yenig  später  das  Anegenge^)  (3240  VV.)  zwar  ein  dö:  virago 
16, 18 f.,  ein  dö:  frö  24,  43 f.,  aber  daneben  11 X  den  bayrischen 
Reim  duo:  2uo. 

Auch  die  mitteldeutschen  Dichter  der  Zeit  von  1150  bis 
1175  bieten  kein  wesentlich  anderes  Bild,  obwohl  man  hier  doch 
den  Abfall  des  h  in  hö{h)^  zöQi),  (vlö(li)  erwarten  darf  und  in  der 
Tat  auch  findet.  Der  rheinische  Tundalus  (505  VV.),  für 
den  duo  :  zuo  108  f.  324  f.  die  gegebene  Bindung  ist ,  hat  darüber 
hinaus  nur  zöQi):  angelo  128  f.  :unvrö  395  f.  —  Der  wilde  Mann 
(im  ganzen  1584  VV.)  hat  nur  drei  Reime  mit  vrö  (imvrö):  hö 
Christi.  Lehre  135 f.;  :  Syon  Ver.  307  f.  475  f.;  bei  Werner  vom 
Niederrhein  (690  VV.)  haben  wir  nur  also:  hö  131  f.  —  Werner 
von  Elmendorf  (1200  VV.)  meidet  ebenso  dö  im  Reim  und  be- 
schränkt sich  auf  also:  frö  430  f.,  hö  :  Cicero  713  f. 

Ein  eigenes  Interesse  bietet  für  uns,  was  dem  Scharfblick 
Bruchs  entgangen  ist,  HartmannsCredo  (3800' V  V.).  Es  gewährt 
nur  einen  einzigen  reindeutschen  o-Reim,  der  übrigens  in  der  Hs. 
entstellt  ist,    ohne  daß  man  bisher   daran  Anstoß   genommen  hat, 


1)  Auch  der  Milstäter  Physiologus,  unbedingt  die  elendeste  Reimerei 
der  altdeutschen  Litteratur  (ca.  1220  Verse),  hat  nur  4  Beispiele  von  o-Reim  mit 
so :  Fremdwort. 

2)  aus  dem  wir  oben  s.  407  den  Reim  dö  :  also  3,  35  f.  beseitigt  haben. 


Reimstudien  11.  425 

denn  Y.  2801  f.  ist  natürlicli  zu  lesen  iveder  sus  noch  so  —  du  ne- 
weist  seihe  ivo  (st.  sivo,'  das  im  Fragesatz  jeder  Art  undenkbar 
ist)  ^).  Dazu  treten  dann  9  Reime  mit  Fremdwörtern :  3  x 
binden  solche  untereinander  (387  f.  2101  f.  8627  f.),  A:X  :  also  (596. 
792.  2347.  2688),  2x  :fr6  (1317.  2779).  Es  fehlt  also  voll- 
ständig do  im  Versausgang,  dagegen  steht  duo :  zuo  1880  f.  2750  f. ; 
:  getuo{n)  579  f. :  tuo(ri)  2252  f.  —  das  widerspricht  den  thüringischen 
Dichtern,  stimmt  aber  aufs  beste  zu  Heinrich  von  Veldeke  und 
den  Mittel  franken. 

Granz  besonders  merkwürdig  ist  der  König  Rother:  er  ent- 
hält in  5200  Versen  der  Heidelberger  Hs.  keinen  einzigen  o- 
Reim,  und  auch  das  in  ihm  zu  erwartende  duo :  2uo  erscheint 
nur  ein  einziges  Mal  ganz  gegen  Ende  des  Werkes,  V.  5146  f. 
Allerdings  zeigt  der  Dichter  überhaupt  eine  merkwürdige  Abnei- 
gung gegen  die  Versausgänge  auf  Langvokal :  ich  zähle  nur  2  x 
-a,  3  X  -e,  2  X  -^,  2  x  -ie,  2  x  -uo^  und  dazu  noch  höchstens  13 
Fälle  mit  überschießenden  Konsonanten  (w,  r,  t)  auf  einer  Seite. 
Für  die  Frage  nach  der  Überlieferung  des  Gedichtes  sind  diese 
Beobachtungen  keineswegs  gleichgiltig  :  ich  bin  längst  zu  der  Über- 
zeugung gelangt,  daß  es  zwar  stark  interpoliert  ist,  aber  immer 
durch  den  Autor  selbst. 

Für  den  Vorauer  Alexander  hat  Zwierzina  die  rich- 
tige Bemerkung  gemacht,  daß  im  Versausgang  'eine  gewisse  Ab- 
neigung gegen  die  Verwendung  einsilbiger  Partikeln,  Pronomina, 
Adverbien  bestehe,  die  hingegen  der  Straßburger  Bearbeiter  sicht- 
lich bevorzuge  (Verhandl.  d.  Straßb.  Phil.-Vers.  1901,  S.  133,  s.  jetzt 
die  Dissertation  von  J.  Kuhnt  S.  59).  Für  unseren  Beobachtungs- 
ausschnitt will  das  besagen,  daß  in  den  1533  Versen  nur  2  X 
also  :  {un)frd  503  f.  1003  f.  und  dann  2  x  duo :  0uo  437  f.  953  f. 
vorkommt  ^) :  diesen  Bestand  hat  S  in  dem  entsprechenden  Ab- 
schnitt um  5  X  do :  Fremdwort  {Nicoiao,  Dario,  Alexandro)  762  f. 
1557  f.  1643  f.  1651  f.  1673  f.  (und  2x  ^uo:  Fremdwort  -o  1781  f. 
2011  f.)  vermehrt,  sodaß  das  Verhältnis  bei  ihm  im  ersten  Teil 
9  :  2037  d.  i.  1:113  Rpp.  wird ;  und  dem  entspricht  nun  auch  die 
Fortsetzung  des  Straß  burger  Alexanders ,  in  dem  ich  bei 
5265  Versen  31  reine  o-Reime  d.i.  1:85  Rpp.,  zähle,  d.h.  bei 
diesem  Dichter  begegnen  wir  zuerst  einer  Praxis,  die  sich  der  der 


1)  Dies   wo  'wie'   (as.  hwö,  mnd.  ivo,  ahd.  hwuo,  wuo)   ist  in  mhd.  Quellen 
ziemlich  selten  und  auf  Mitteldeutschland  beschränkt,  z.  B.  Floyris  V.  252. 

2)  Die  inzwischen  aufgefundenen  Tobias -Fragmente  Lamprechts  (274  VV.) 
bieten  nur  den  Reim  also:  hö  211  f. 


426  Edward  Schröder, 

höfischen  Epikern  zu  nähern  scheint,  von  welcher  unsere  Betrach- 
tungen ausgingen.  Die  Sichtung  der  Reime  ergibt  allerdings : 
8  X  Fremdwort :  Fremdwort  {Alexandro :  Dario  u.  ä.),  2  x  dö :  BariOj 
6  X  dö  :  Alexandro,  2  x  so  :  Alexandro,  3  X  frö :  Candaulo ,  sodaß 
nur  10  Fälle  ohne  Fremdwort  übrig  bleiben,  getragen  6  x  durch 
{im)frÖ  (:  also  3316  f.  5283  f. ;  :  dÖ  3204  f.  5391  f.  6281  f.  6583  f.) ;  weiter 
durch  h6{h)  {lalsö  6101  f.  :dö  6465 f.  -AmfrÖ  6853  f.),  flö{li)  (idö  5379 f.). 
dö  :{al)sd  wird  auch  hier  gemieden,  und  anderseits  reimt  diio:  fruo 
6079  f.,  :^uo  3184  f.  3490  f.  4744  f.  5055  f.,  5713  f.,  allerdings  auch 
0uo:  Alexandro   2045  f.,    Dario  2968  f.    3768  f.,   ja  :frd  2167  f. 

Dem  moselfränkischen  Pfaffen  Lambrecht  und  seinem  rhein- 
fränkischen Fortse^tzer  stell  ich  den  Pfaffen  Konrad  von 
Regensburg  gegenüber,  zunächst  mit  dem  Rolandslied,  das 
die  einfachsten  Verhältnisse  aufweist.  In  9094  VV.  haben  wir 
hier  nur  11  reine  ö- Reime,  d.  i.  nur  1 :  413  Rpp.  1  x  reimen  Eigen- 
namen untereinander  AUo :  Ivo  116, 12  f.,  2x  steht  ein  Fremdwort 
im  Reim  deo:  frÖ  187,  2  f.  243,  22  f.  ^);  3x  frÖ:  dÖ  64:,  Ul  90,  23  f. 
122,  22 f.  129,  5 f. ;  2  x  drö :  dÖ  53,  9  f.  150,  li.)  2x  dÖ :  so  132, 17 f. 
242,  27  f. 

In  der  Kaiserchronik  stand  der  gleiche  Dichter  einem 
Quellenmaterial  gegenüber,  das  sich  aus  deutscher  Dichtung  und 
lateinischer  Prosa  zusammensetzte,  und  bei  der  langjährigen  Arbeit 
und  unter  wechselnden  Einflüssen  unterlag  seine  Praxis  deutlichen 
Verschiebungen.  Man  kann  also  unmöglich  die  Gesamtverhält- 
nisse (74  ö-Reime  auf  17240  VV.  d.  i.  1 :  115  Rpp.)  mit  denen  des 
Rolandsliedes  vergleichen,  auch  nicht  nach  Abzug  der  Reime  mit 
lateinischen  Namensformen^  die  mehr  als  die  Hälfte  (38)  der  Fälle 
ergeben^)  und  zu  denen  das  aus  dem  Französischen  übersetzte 
Rolandslied  keinen  Anlaß  gab.  Die  grammat.  Reimbedingungen 
sind  dieselben,  d.h.  es  fehlen  Wörter  mit  A- Abfall:  f'röidö  19  X, 
:{aT)sö    3x;    drö:  unfrö  2x,    sodann   döisöV^x,   aber   in   höchst 

ungleichmäßiger  Verteilung:  —  1732  f.  2192  f. 

9209  f.  9442  f.  9448  f.  9542  f.  10343  f.  10730  f.  11286f.  —  13257f. — 
15988 f.  — 17230 f.;  man  beachte,  daß  nach  2192  f.  auf  über  7000 
Verse  kein  einziges  Beispiel  fällt,  und  das  ist  gerade  auch  eine 
der  Partieen,  in  denen  der  Anteil  Konrads  am  wenigsten  gemischt 


1)  Man  erwartet  so  etwas  öfter  nach  der  Angabe  des  Dichters,  daß  er  den 
französischen  Text  zunächst  ins  Latein  übertragen  habe  —  auch  sonst  hab  ich 
zur  Bestätigung  dieser  Aussage  niemals  einen  Anhalt  gefunden. 

2)  es  würden  dann  1 :  240  Rpp.  herauskommen. 


Reimstudien  IL  427 

erscheint ').  Anderseits  sind  aber  doch  auch  fremde  Bestandteile 
der  großen  Komposition  arm  an  o- Reimen :  so  hat  die  Crescentia 
(V.  11352 — 12808)  nur  einen  einzigen:  unfrö:  drö  12199 f.  und  dazu 
6  unreine  Reime  iio :  6  {friw.  dö  11974  f.;  ^uo:  dö  11827  f.;  :s6 
11396 f.  12024 f.  12665 f.;  :  drÖ  12214  f.). 

Wie  die  Reime  mit  dö,  bes.  auch  dö:  so,  so  sind  in  der  Kaiser- 
chronik auch  die  bayrischen  Reime  dtw:  suo,  fruo,  die  das  Rolands- 
lied noch  zu  meiden  scheint^),  zahlreicher. 

Jedenfalls  nähern  wir  uns  mit  der  Kaiserchronik  und  noch 
mehr  freilich  mit  dem  Straßburger  Alexander  den  Verhältnissen, 
wie  wir  sie  in  der  höfischen  Epik  der  Blütezeit  vorfanden. 

So  treffen  wir  denn  auch  in  den  epischen  Dichtungen  der  70  er 
und  80  er  Jahre  regelmäßig  vorgeschrittene  Verhältniszahlen,  die 
ich  hier  noch  rasch  anführe:  Graf  Rudolf  (ca.  1400  Verse) 
8  Belege  d.i.  1 :  88  Rpp.,  alle  mit  {un)frö:  dö  6x,  ;  so  2  x.  — 
Trierer  Aegidius  (1720  VV.)  7  Fälle  d.i.  1:123  Rpp.,  aus- 
schließlich {un)fr6 :  dö  —  im  merkwürdigen  Gegensatz  zu  dem 
Floyris  (368  VV.)  der  gleichen  Herkunft,  der  nur  diio  im  Reime 
kennt  (11  f.  146  f.  212  f.  273  f.)  und  sonst  keinen  o-Reim  hat.  —  Der 
alte  Reinhart  (690  VV):  4  o-Reime,  d.i.  1  :  86  Rpp.,  nämlich 
{un)frÖ:  hö  797  f.  1795  f.  :sÖ  1665 f.;  oho:  so  155b  f.  —  Die  Frag- 
mente des  Herzog  Ernst  (400  V  V.) :  Frgm.  A  II  60  f.  unfrö :  dö, 
Könneckes  Fragm.  Bl.  2  vrö ;  dö  ^),  also  1 :  100  Rpp.  —  Schließlich 
der  Pilatus  (445f.):  Äo;a/5d  41  f.  :  Payno  2911'-,  ;  Tyro :  also  107 1, 
also  1  :  74  Rpp. 

So  deutlich  nun  auch  die  Zunahme  der  o-Reime  im  ganzen 
ist,  merkwürdig  bleibt  noch  immer  die  unzweifelhafte  Meidung  des 
Reimes  dö :  {aT)sö.  Daß  er  vorhanden  war  und  bequem  lag,  zeigt 
ein  Stümper  wie  der  Pfaffe  Adelbrecht  um  die  Mitte  des  Jahr- 
hunderts, der  ihn  in  267  VV.  der  erhaltenen  Fragmente  seines 
Johannes  Baptista  gleich  zweimal  anwendet :  43  f.  79  f.  Aber  sonst 
haben  wir  ihn  in  der  ganzen  frühmittelhochdeutschen  Litteratur  vor 
Hartmann  von  Aue  zunächst  nur  verschwindend  selten  gefunden, 
nämlich  in  der  Genesis  2  X,  Exodus  1  X,  Rolandslied  2  X,  Kaiser- 


1)  Der  umfassende  persönliche  Anteil  Konrads  an  der  Kaiserchronik  wird 
durch  die  Verschiebungen  im  Reimgebrauch  ebensowenig  erschüttert  wie  durch 
die  ganz  äußerliche  Wortliste  Leitzmanns  Beitr.  43,  28  ff. ,  die  gleich  höchst  un- 
glücklich beginnt  mit  ageleize:  das  fehlt  freilich  im  Rolandslied  und  steht  in  der 
Kaiserchronik  "5  mal  —  aber  4 mal  in  der  Crescentia  und  dann  noch  einmal 
1000  Verse  später! 

2)  aus  dem  Gedächtnis  —  der  betr.  Notizenzettel  ist  mir  abhanden  gekommen. 
3    was  schon  gegen  Mittelfranken  als  Heimat  zu  sprechen  scheint. 


428  Edward  Schröder,  ßeimstudien  IL 

Chronik  12  X.  Man  erinnere  sich,  daß  er  in  umfangreichen  "Werken 
(von  über  5000  Versen)  ganz  fehlte:  im  Rother  nm  1150,  in  Werners 
Marienleben  1172,  im  Straßburger  Alexander  um  dieselbe  Zeit, 
daß  ihn  Veldeke  (wie  überhaupt  das  dö  im  Reime)  gemieden  hat, 
—  daß  ihn  aber  anderseits  ein  kümmerlicher  Reimschmied  auf 
engem  Räume  zweimal  verwendet.  Und  an  dieser  Bindung,  die 
wenig  Tradition  und  gar  keinen  Adel  hat,  nehmen  die  großen 
Künstler  der  Blütezeit  keinen  Anstoß,  ja  Gottfried  von  Straßburg 
erhebt  sie  zu  einem  seiner  Lieblingsreime. 


Jatakastudien. 

Von 

H.  Oldenlberg. 

Vorgelegt  in  der  Sitzung  vom  7.  Februar  1919. 

1.    Zur  Verteilung  von  Prosa  und  Versen  in  den  Jätakas. 

Frühere  Untersuchungen,  insonderheit  über  die  Entwicklung 
der  buddhistischen  kanonischen  Literatur  und  über  die  prosaisch- 
poetische Form  der  Erzählung,  haben  mir  wiederholt  Grelegenheit 
gegeben,  mich  mit  der  Kunstform  und  dem  Stil  der  Jätakas  zu 
beschäftigen  ^).  Indem  ich  hier  auf  diese  Erzählungen  zurückkomme, 
möchte  ich  versuchen,  ihnen  nach  einigen  Richtungen  bestimmtere 
Aufschlüsse,  als  bis  jetzt  erreicht  sind,  über  die  Geschichte  der 
älteren  indischen  Erzählungskunst  abzugewinnen.  Wir  haben  hier 
einen  recht  ausgeprägten  Stil  vor  uns,  den  zu  beschreiben  und 
dessen  so  zu  sagen  kunstgeschichtliches  Verhältnis  zu  dem  in  den 
großen  Epen  herrschenden  Stil  festzustellen  mir  eine  lohnende 
Aufgabe  scheint. 

Ich  beschäftige  mich  zunächst  mit  dem  Verhältnis  von  Prosa 
und  Versen  in  den  Jätakas^). 


1)  Ich  verweise  auf  meine  „Litteratur  des  alten  Indien"  103  ff.  (wo,  wie  ich 
jetzt  glaube,  die  Authentizität  der  vom  Kommentar  gegebenen  Prosaerzählungen 
überschätzt  ist) ;  weiter  NGGW.  1911,  441  ff. ;  1912,  183  ff.  214  ff. ;  „Zur  Geschichte 
der  altindischen  Prosa"  79  ft\ 

2)  Eine  wünschenswerte,  gegenwärtig  aber  aus  naheliegenden  Gründen  mir 
unausführbare  Vorarbeit  würde  hier  sein,  den  Umfang  des  Versbestandes,  wie  er 
in  den  allein  die  kanonischen  Verse  enthaltenden  Handschriften  erscheint  (vgl. 
NGGW.  1911,  447  f.),  genau  festzustellen.  Daß  im  Text,  den  FausböU  veröf- 
fentlicht hat,  viele  jenem  Bestand  nicht  zugehörige  Verse  erscheinen,  ist  zAveifel- 
los.  Beispielsweise  ist  es  vollkommen  klar,  daß  Nr.  547  v.  627.  628  (Bd.  VI,  570)^ 

Kgl.  Oes.  d.  Wiss.  Nachrichten.   Phil.-hist.  Klasse.  1918.  Heft  4.  29 


430  H.  Oldenberg, 

Ein  Ergebnis  früherer  Untersuchungen,  das  ich  erneuter  Er- 
örterung nicht  für  bedürftig  halte  ^),  ist,  daß  in  Indien  der  rein 
metrischen  Form  des  Erzählens  eine  andre  voranging,  die  bei  pro- 
saischer Grrundlage  zu  bald  spärlicherer  bald  reichlicher  Einfügung 
von  Versen  neigte.  Eine  der  vielen  Fragen  nun,  über  die  uns  das 
so  unerschöpflich  bedeutsame  Jätakabuch  Belehrung  gibt,  scheint 
mir  die  nach  dem  Übergang  von  jener  älteren  Erzählungsform  zur 
rein  metrischen  zu  sein.  Das  Jätaka  veranschaulicht  schön  das 
schrittweise  Vordringen  des  metrischen  Elements :  wobei  kaum 
ausdrücklich  bemerkt  zu  werden  braucht,  daß  —  wie  ja  oft  in 
analogen  Fällen  —  zu  dem  hier  aufzustellenden  idealen  Entwick- 
lungsschema die  tatsäcblichen  Altersverhältnisse  der  in  Frage  kom- 
menden Texte  im  Einzelnen  keineswegs  überall  zu  stimmen  brauchen. 

Bekanntlich  sind  die  in  die  Prosa  eingelegten  Verse  älterer 
indischer  Erzählungen  überwiegend  Reden  auftretender  Personen. 
Die  Entwicklung  des  Ganzen  zur  rein  metrischen  Form  aber  voll- 
zieht sich,  indem  sich  neben  diesen  Reden  auch  die  Erzählung  der 
Begebenheiten  immer  mehr  in  Versform  kleidet.  Daher  soll  im 
Folgenden  vorzugsweise  von  den  Jätakaversen  erzählenden  und 
verwandten  Inhalts  die  Rede  sein,  das  Anwachsen  ihrer  Geltung 
durch  eine  Reihe  von  Typen  hindurch  beschrieben  werden. 

Diese  Typen  zu  veranschaulichen  wähle  ich  vorzugsweise  Ja- 
takas  mit  einer  größeren  Anzahl   von  Versen^),    wie  sie   in   den 

von  Fausb.  als  Textverse  gezählt  und  in  der  englischen  Übersetzung  mit  den 
vorangehenden  Versen  als  ihnen  gleichberechtigt  zusammengeschlossen,  nicht  in 
den  Text  gehören,  sondern  vom  Kommentar  als  Parallele  zu  jenem  aus  dem  Ca- 
riyäpit.  (I,  9,  52.  53)  angeführt  sind. 

1)  Ich  daif  aber  wohl  glauben,  daß,  wenn  es  im  Folgenden  gelingen  sollte, 
auf  jenem  Fundament  haltbare  weitere  Bauten  aufzuführen,  dies  eine  neue,  frei- 
lich m.  E.  kaum  mehr  erforderliche  Bestätigung  dafür  bringen  wird,  daß  das 
Fundament  richtig  gelegt  war.  —  Hier  bemerke  ich  noch,  daß  bei  der  Unter- 
suchung über  das  Verhältnis  von  Prosa  und  Versen  selbstverständlich  das  Kunä- 
lajätaka  (Nr.  536),  das  eine  eigenartige  Sonderstellung  einnimmt  (NGGW.  1911, 
448  A.  1),  unberücksichtigt  gelassen  -ist. 

2)  Ich  werde  mehrfach  davon  zu  sprechen  haben,  daß  entgegen  einer  ver- 
breiteten Ansicht  nicht  nur  die  für  Buddha  in  der  Vergangenheit  liegenden  Haupt- 
erzählungen, sondern  auch  die  jedesmal  dazu  gehörigen  Rahmenerzählungen  aus 
seiner  eigenen  Zeit  einen  wesentlichen  Bestandteil  der  einzelnen  Jätakas  bilden. 
Es  bedarf  wohl  nicht  der  Rechtfertigung,  wenn  ich  im  Folgenden  trotzdem  der 
Einfachheit  wegen,  sofern  nicht  ausdrücklich  auf  die  Rahmenerzählung  Bezug 
genommen  wird,  immer  nur  die  Haupterzählung  kurzweg  als  das  und  das  Jätaka 
bezeichne.  —  Weiter  ist  es  nicht  überflüssig  daran  zu  erinnern,  daß  den  viel- 
versigen  Jätakas,  mit  denen  wir  es  überwiegend  zu  tun  haben  werden,  als  große 
Mehrzahl  die  mit  nur  wenigen  Versen  gegenüberstehen :  über  die  Hälfte  aller  Jä- 
takas enthalten  nur  1—3  Verse. 


Jätakastudien.  431 

drei  letzten  Bänden  Fausbölls  enthalten  sind:  da  ist  am  besten 
die  Möglichkeit  gegeben,  daß  sich  die  erzählenden  Verse  gegenüber 
den  Redeversen  in  der  ihnen  eignen  Rolle  anschaulich  abheben. 
Mit  einer  Häufigkeit  nun,  die  über  die  typische  Natur  der  betref- 
fenden Erscheinung  keinen  Zweifel  läßt,  treten  da  Fälle  wie  die 
folgenden  auf. 

Yuvanjayajätaka  (Nr.  460).  Der  Königssohn  Yuvaojaya 
wünscht  Asket  zu  werden.  In  zehn  Versen  Grespräch  zwischen 
ihm  und  seinen  Eltern,  die  seinem  Entschluß  widerstreben  ^) ;  Klagen, 
wie  es  scheint,  seiner  Mutter.  Zum  Schluß  ein  elfter  Vers:  „Beide 
Jünglinge  wurden  zu  Asketen,  Yuvafijaya  und  Yudhitthilaj  Mutter 
und  Vater  verlassend,  des  Todes  Band  zerreißend".  Vom  zweiten 
dieser  beiden  zeigen  die  vorangehenden  Verse,  die  immer  nur  Yu- 
vafijaya nennen,  keine  Spur.  Die  Prosa  muß  berichtet  haben,  wie 
der  uns  vorliegende  Kommentar  in  der  Tat  tut,  daß  noch  ein 
Jüngling  sich  jenem  anschloß.  Man  empfängt,  freilich  nicht  mit 
unbedingter  Sicherheit  (oder  wird  es  durch  v.  10  bewiesen?),  den 
Eindruck,  daß  das  Resultat,  die  xmhhajjä  der  beiden,  nicht  erst  in 
diesem  Vers  berichtet  wird.  Sondern  davon  wird  die  Prosa  er- 
zählt haben;  der  Vers  faßt  nur  noch  einmal  das  Ergebnis  zusam- 
men, feiert  es  gleichsam. 

Mahämorajätaka  (Nr.  491).  Der  Jäger  hat  den  Pfauen- 
könig gefangen.  16  Verse,  Gespräch  beider :  dem  Jäger  wird  Er- 
kenntnis zuteil;  er  gibt  allen  gefangenen  Vögeln  die  Freiheit. 
Dahinter  Schlußvers:  „Der  Jäger  ging  mit  der  Schlinge  im  Walde 
den  herrlichen  Pfauenkönig  zu  fangen.  Als  er  den  herrlichen 
Pfauenkönig  gefangen  hatte,  wurde  er  (selbst)  vom  Leid  erlöst 
wie  ich  erlöst  bin"  ^).  Auch  hier  abschließende,  verherrlichende 
Zusammenfassung. 

Samkhajätaka  (Nr.  442).  Ein  Wohltäter  hat  einem  hei- 
ligen Mann  Schuhe  geschenkt.  Zum  Lohn  nimmt  sich ,  wie  er 
Schiffbruch  leidet,  eine  Göttin  seiner  an.  Reden  in  neun  Versen 
von  ihm,  seinem  Diener,  der  rettenden  Göttin.    Zehnter  Vers  zum 


1)  Wenn  die  Überlieferung  den  vierten  Vers  nur  zur  zweiten  Hälfte  diesem 
Gespräch  zurechnet,  die  erste  Hälfte  aber  als  Erzählung  auffaßt,  ist  das  irrig; 
der  ganze  Vers  ist  Rede  des  Vaters. 

2)  Statt  xmmuncl  scheint  mir  pamuccl  zu  lesen  (anders  M.  und  W.  Geiger, 
Die  zweite  Dekade  der  Rasavähini,  S.  5  f. ;  ich  möchte  doch  an  einen  öfter  wie- 
derkehrenden Fehler  der  Hss.  glauben).  Das  „ich",  offenbar  auf  Buddha  bezüg- 
lich, gehört  zu  den  Anzeichen  dafür,  daß  die  Jätakas  nicht  gleichsam  in  der  Luft 
schwebende  Erzählungen,  sondern,  eben  wie  die  Überlieferung  es  auffaßt,  mit  be- 
stimmten Situationen  des  Lebens  Buddhas  verknüpft  sind,  der  sie  vorträgt. 

29* 


432  H.  Oldenberg, 

Schluß :  Die  Göttin  befriedigt  über  ihn  schuf  ein  Schiff  und  führte 
ihn  sammt  dem  Diener  zum  Ziel  seiner  Reise.  Der  Wortlaut  {sä 
im  Eingang  des  Verses  an  das  vorangehende  Versgespräch  an^ 
schließend)  macht  den  Eindruck,  daß  der  glückliche  Ausgang,  auf 
den  das  Ganze  hinzielt,  hier  zuerst  erzählt  wird,  nicht  etwa  in 
Prosa  erzählt  war.  So  liegt  hier  nicht,  wie  in  den  vorigen  Fällen, 
verherrlichende  Wiederholung  vor,  sondern  der  Vers  führt  die  Er- 
zählung weiter. 

Dütajätaka  (Nr.  478).  In  12  Versen  Gespräch  des  Schülers, 
der  Gold  zur  Honorierung  seines  Lehrers  zu  erlangen  wünscht, 
mit  dem  König,  von  dem  er  dies  Gold  erhofft.  Dahinter  Schluß- 
vers :  ihm  gab  der  König  reichlich  Gold  —  wohl  die  Erzählung 
zum  Abschluß  führend  wie  im  vorangehenden  Fall. 

Sälikedärajätaka  (Nr.  484).  Der  Papagei  holt  Reis  vom 
Feld  des  Brahmanen  für  seine  Eltern  und  Jungen.  Gespräch  des 
Feldhüters  mit  dem  Brahmanen;  dann,  als  der  Papagei  gefangen 
ist,  des  Brahmanen  mit  diesem.  Tugendliche  Belehrung  seitens 
des  Vogels.  Nach  16  Gesprächs versen  Schluß vers :  der  Brahmane 
erfreut  wandte  sich  dem  zu,  Speise  und  Trank  geistlichen  Männern 
zu  geben.  Dieser  Vers  offenbar  erzählend  wie  in  den  beiden  voran- 
gehenden Fällen. 

Mahäsukajätaka  (Nr.  429).  Gespräch  zwischen  dem  Pa- 
pagei, der  dem  verdorrten  Baum  treu  bleibt,  und  dem  Gott  in  der 
Gestalt  eines  Schwans.  Auf  des  Papageien  Bitte  wird  der  Baum 
wiederbelebt.  Nach  9  Gesprächsversen  erzählender  Schlußvers : 
nachdem  der  Gott  diesen  Wunsch  gewährt,  kehrte  er  mit  seiner 
göttlichen  Gemahlin  zum  Himmel  zurück. 

Dasarathajätaka  (Nr.  461).  Räma  hat  dem  Vater  Dasa- 
ratha  die  letzten  Ehren  erweisen  lassen  und  an  seinen  Tod  erha- 
bene Betrachtungen  geknüpft.  Nach  12  Rede-  oder  Predigtversen 
Schlußvers  (vgl.  Lüders  NGGW.  1897,  130 f.):  16000  Jahre  wal- 
tete Räma  der  Herrschaft.  — 

Diese  Materialien  ließen  sich  leicht  vermehren;  beispielsweise 
sei  noch  Nr.  282.  286  erwähnt.  Das  Beigebrachte  aber  wird  hin- 
reichend erweisen,  daß  hier  ein  fester  Typus  vorliegt.  Neben 
vielen  Redeversen  ein  Erzählungsvers  oder  ein  Vers,  der  Erzähltes 
resümiert,  und  dieser  stehend  am  Ende.  Wenn  die  wichtigeren 
Reden  in  ihrer  vergleichsweise  kunstreichen,  pointierten  metrischen 
Geformtheit  sich  aus  dem  nackten  Bericht  über  die  Vorgänge  (ein- 
schließlich der  unerheblicheren  Gespräche)  hervorheben,  so  kann 
an  dieser  Vorzugsstellung  teilnehmen  auch  der  gehobene,  vielleicht 
epigrammatischer  Zuspitzung  sich  nähernde  Ausdruck  für  das  Hin- 


Jatakastudien.  433 

gelangen  der  Vorgänge  zum  Ziel,  dem  sie  zustreben,  für  ihre  "Wich- 
tigkeit und  ihren  Wert.  Da  ergibt  sich  die  Schlußstellung  eines 
solchen  erzählenden  —  in  manchen  Fällen  genauer :  wertenden  oder 
resümierenden  —  Verses  von  selbst.  Das  hohe  Alter  dieses  Typus 
bezeugt  das  Veda.  Man  sehe,  wie  Rv.  I,  179  nach  den  Wechsel- 
reden zwischen  Agastya  und  Lopämudrä  und  dem  Sühnspruch  für 
den  Bruch  des  Grelübdes  schließlich  der  Erzählungsvers  über  Aga- 
styas  Hingelangen  zum  Ziel  folgt.  Oder  wie  in  der  Sunah^epa- 
erzählung  nach  einer  Masse  von  Versen,  die  durchweg  Rede  bez. 
Wechselrede  sind,  zum  Schluß  zwei  Verse  in  einem  Ton7  welcher 
dem  des  eben  erwähnten  Rgverses  ganz  ähnlich  ist  *) ,  das  segens- 
volle Ergebnis  der  Vorgänge  für  Sunahsepa  zusammenfassen. 

Wenn  nun  hier  ein  Vers  paar  erscheint,  so  führt  uns  dies 
weiter  zu  einer  Reihe  von  Fällen  der  Jätakas,  wo  anstatt  des 
einen  Schluß verses  irgendwelche  erweiterte  Formen  der  Schluß- 
verserzählung auftreten.     Ich  hebe  folgende  Fälle  hervor. 

Khantivädijätaka  (Nr.  313):  nach  zwei  Dialogversen 
fassen  am  Schluß  zwei  erzählende  Verse  den  Inhalt  des  Ganzen 
und  das  Ergebnis  zusammen. 

Cetiyajätaka  (Nr.  422):  nach  13  Redeversen  am  Schluß 2) 
zwei  zusammenfassende  Verse :  der  erste  erzählt  den  abschließenden 
Vorgang;  der  zweite  spricht  die  Moral  aus.  Mir  scheint,  daß 
prinzipiell  solche  moralisierende  Verse  mit  denen,  welche  erzäh- 
lend oder  Tatsachen  konstatierend  das  Wesentliche  der  Handlung 
zum  Ausdruck  bringen,  auf  eine  Linie  zu  stellen  sind  ^).  In  beiden 
Fällen  handelt  es  sich  eben  gleichermaßen  darum,  Sinn  und  Essenz 
des  Granzen  dem  Hörer  vorzuführen. 

Dipijätaka  (Nr.  426):  ganz  ähnlich;  nach  6  Dialogversen 
zwei  Schlußverse:  der  erste  erzählt  auch  hier  den  abschließenden 
Vorgang;  er  geht  dann  zur  Moral  über,  die  im  zweiten  Verse 
voller  entwickelt  wird 

Nandiyamigajätaka  (Nr.  385) :  nach  5  Dialogversen  wird 
in  drei  Schluß versen  die  Handlung  rekapituliert*). 

1)  Man  vergleiche  einerseits  uhhau  vämäv  fsilb .  .  .  puposa,  anderseits  adhi- 
yata  .  .  .  riküiayor  uhhayor  rsijj,. 

2)  Der  Kommentar  erzählt  allerdings  noch  weiter.  Ich  glaube,  daß  die  Er- 
zählung vielmehr  mit  diesen  Versen  endet. 

3)  Darum  hätten  zu  der  oben  gegebenen  Reihe  von  Jätakas  mit  erzählendem 
Schlußvers  streng  genommen  auch  solche  mit  moralisierendem  gestellt  werden 
können. 

4)  Und  zwar  hebt  dabei  Buddha  als  Redender  ausdrücklich  seine  Identität 
mit  dem  Gazellenkönig,  dem  Helden  der  Geschichte,  hervor.  Vgl.  oben  S.  431 
Anm.  2. 


434  H.  Oldenberg, 

Cullasukajätaka  (Nr.  430):  nach  7  Dialogversen  ein  Vers, 
Erzählung  wie  das  Hauptziel  der  Handlung  (Belebung  des  ver- 
dorrten Baumes)  erreicht  vdrd.  Dann  wieder  ein  Redevers;  end- 
lich erzählender  Schlußvers :  Rückblick  auf  das  Ergebnis  und  Aus- 
klingen —  Grott  und  Göttin  kehren  nach  vollbrachtem  Greschäft 
zum  Himmel  zurück.  Das  Granze  ist  Variante  zu  Nr.  429  (oben 
S.  432);  der  Schlußvers  ist,  wie  ein  Teil  der  Gresprächsverse,  auf 
beiden  Seiten  identisch.  Es  ist  bezeichnend,  wie  neben  jenem 
Exemplar  mit  dem  einen  Schlußvers  hier  eines  mit  der  eben  be- 
schriebenen Erweiterung  steht. 

Dhammajätaka  (Nr.  457):  wieder  7  Verse  mit  Reden  und 
Entgegnungen.  Dann  Schluß  von  vier  Versen,  die  beiden  ersten 
den  Ausgang  der  Begebenheit  erzählend ;  die  folgenden  moralische 
Nutzanwendung.  Dem  früher  Aufgeführten  gegenüber  ist  der 
Umfang  des  Schlusses  gewachsen. 

Phandanajätaka  (Nr.  475):  6  Gresprächsverse.  Dann  tritt 
ein  neuer  unerwarteter  Redner  auf,  und  der  siebente  Vers  hebt 
an  mit  dem  Bericht,  daß  dieser  jetzt  spricht :  iti  phandanaruJMo 
pi  tävade  ajjhabhasatha,  worauf  im  zweiten  Hemistich  und  dem 
nächsten  Vers  die  betreiFende  Rede  folgt.  Auf  diese  häufige  Tei- 
lung eines  Verses  in  den  Bericht  darüber,  daß  der  und  der  redet, 
und  die  Rede  selbst  komme  ich  noch  zurück.  Die  letzten  fünf 
Verse  enthalten  Rückblick  auf  den  Vorgang  und  Moral ;  daß  hinter 
dem  ersten  davon  der  in  diesem  Verse  angedeutete  abschließende 
Vorgang  noch  ausdrücklicher  in  Prosa  berichtet  wurde  —  so  wie 
es  im  vorliegenden  Kommentar  in  der  Tat  geschieht  — ,  ist  mög- 
lich. Wieder  ist  verglichen  mit  dem  früher  Besprochenen  das 
Schlußstück  gewachsen.  — 

Ist  nun  in  den  bisher  erörterten  Fällen  Sitz  der  Erzählungs- 
strophen der  Schluß  des  Jätaka,  was  nach  der  Häufigkeit  und  nach 
der  inneren  Begreiflichkeit  als  Normalfall  angesehen  werden  muß, 
so  fehlt  es  doch  auch  nicht  an  Fällen,  wo  inmitten  des  Verlaufs 
etwa  eine  besonders  pathetische  Situation  oder  ein  Abschnitt  der 
Handlung  Anlaß  gibt,  erzählende  oder  den  Vorgang  konstatierende, 
resümierende  Verse  einzufügen.     Ich  gebe  einige  Beispiele. 

Mahäukkusa jätaka  (Nr.  486).  Außer  Gesprächs versen 
und  der  am  Schluß  gegebenen  versifizierten  Moral  ein  erzählender 
oder  besser  konstatierender  Vers  (6)  in  der  Mitte.  Der  Meeradler 
hat  mit  eigner  Lebensgefahr  die  jungen  Vögel  vor  dem  Flammen- 
tod geschützt.  Jetzt  kann  er  nicht  mehr;  Ablösung  muß  kommen. 
Bei  diesem  Abschnitt  ein  Vers :    eine   schwere  Tat  hat  der  eige- 


Jätakastudicn.  435 

borene  Vogel  getan,  daß  er  bis  gegen  Mitternacht  die  kleinen  Vögel 
rettete. 

Ähnlich  Rohantamigajätaka  (Nr.  501).  29  Gresprächs- 
verse.  Aber  in  der  Mitte  der  Greschichte  in  einer  besonders  pathe- 
tischen Situation  (die  Hindin  will  den  gefangenen  Bruder  nicht 
verlassen  und  setzt  ihr  eignes  Leben  aufs  Spiel)  ein  Vers  genau 
wie  der  zuletzt  besprochene :  das  furchtsame  Tier  hat  eine  schwere 
Tat  getan  (dasselbe  Wort  suduklaram  wie  in  Nr.  486),  daß  es  sich 
dem  Tod  aussetzte. 

Somanassajätaka  (Nr.  505).  Über  20  Gesprächsverse  bz. 
Moralpredigt  einer  der  handelnden  Personen  in  den  Mund  gelegt. 
Aber  an  einer  besonders  aufgeregten  Stelle  (der  König  will  seinen 
verleumdeten  Sohn  toten  lassen)  Erzählungsverse  bz.  erzählende 
Einführung  der  Reden  (v.  4  —6).  Die  Boten  sprachen  zum  Prinzen : 
der  König  hat  deinen  Tod  befohlen.  Da  jammerte  der  Königs- 
sohn, faltete  die  Hände  und  bat:  führt  mich  zum  König.  Sie 
brachten  ihn  zum  König.  Und  wie  der  Sohn  den  Vater  sah,  re- 
dete er  ihn  aus  der  Ferne  an  usw.  Hier  also  vollständige  Erzäh- 
lung, die  Reden  umgebend,  während  im  Übrigen  die  Verse  nur 
die  Reden  enthalten  und  deren  Umhüllung  der  Prosa  zufällt. 

Mätiposakajätaka  (Nr.  455).  Der  edle  Elefant  ist  ge- 
fangen zur  Stadt  geführt.  Er  will  nichts  fressen,  denn  seine  blinde 
Mutter  ist  hilflos  zurückgeblieben.  Da  läßt  der  König  ihn  frei. 
Und  nun,  auf  dem  Höhepunkt  der  Geschichte,  zwei  erzählende 
Verse  (gegenüber  zehn  Gesprächsversen) :  der  Elefant  von  Banden 
befreit  ging  ins  Gebirge.  Und  im  Teich  schöpfte  er  mit  seinem 
Rüssel  Wasser  und  bespritzte  die  Mutter.  —  Die  Erzählung  geht 
dann  in  Prosa  mit  Redeversen  noch  ein  Stück  weiter. 

Es  kann  etwa  noch  auf  das  Campeyyajätaka  (Nr.  506) 
V.  24ff.,  das  Su vannakakkatakajätaka  (Nr.  389)  v.  2,  das 
Samuggajätaka  (Nr.  436)  v.  4,  das  Hatthipälajätaka  (Nr. 
509)  V.  20  verwiesen  werden.  An  der  letzten  Stelle  zeigt  das 
idam  vatväj  daß  der  Erzählungsvers  unmittelbar  an  die  vorange- 
henden Reden  anschließt,  nicht  etwa  dazwischenstehende  Prosa 
resümiert.  Das  Mätangajätaka  (Nr.  497)  hat  zugleich  erzäh- 
lenden Vers  in  der  Mitte  und  Schluß vers.  Außer  22  Dialog versen 
tritt  zuerst  ein  Erzählungsvers  (v.  10)  so  zu  sagen  als  Aktschluß 
ein:  der  Weise,  den  man  mißhandeln  und  töten  lassen  will,  fliegt 
in  die  Luft  auf  und  entzieht  sich  seinen  Feinden.  Dann  am  Ende 
des  Ganzen,  hier  wohl  mehr  resümierend  als  eigentlich  erzählend : 
für  den  Tod  des  herrlichen  Mätanga  ist  das  ganze  Mejjhareich 
ausgerottet  worden.  — 


436  H«  Oldenberg, 

Bei  einem  nunmehr  sich  anschließenden  Typus  tritt,  wie  in 
den  letztbesprochenen  Fällen,  irgendwo  im  Lauf  der  Greschichte 
Versform  der  Erzählung  ein;  hier  aber  wird  sie  bis  zum  Schluß 
mit  höchstens  geringfügiger  prosaischer  Unterbrechung  festgehalten. 
Man  hat  den  Eindruck,  daß  der  Erzähler,  einmal  in  metrisches 
Fahrwasser  geraten,  darin  festgehalten  wird;  vielleicht  auch,  daß 
er  auf  diese  Weise  eine  Steigerang  hervorbringen,  den  zweiten  Teil 
des  Ganzen  über  den  ersten  erheben  will. 

Ein  Beispiel  gibt  das  Chaddantajätaka  (Nr.  514).  Woher 
der  Haß  der  Königin  gegen  den  sechszähnigen  Elefanten  stammt  ^), 
wie  sie  nach  seinen  Zähnen  begehrt,  die  Jäger  sich  versammeln, 
sie  einem  von  ihnen  den  Auftrag  und  die  nötigen  Instruktionen 
gibt,  wird  in  Prosa,  teilweise  mit  eingelegten  Redeversen  (1 — 17) 
berichtet.  Nun  macht  sich  der  Jäger  zur  verhängnisvollen  Expe- 
dition auf:  und  wie  die  Handlung  in  dies  neue  Stadium  tritt,  er- 
scheinen Erzählangsverse.  Von  da  an  ist  die  Greschichte,  Begeben- 
heiten wie  Reden,  vollständig  in  den  Versen  enthalten^). 

Auch  das  Sämajätaka  (Nr.  540),  von  dem  weiter  unten 
noch  eingehender  gesprochen  werden  soll,  gerät  nach  31  Rede- 
versen, die  umgebende  Prosa  verlangen,  mit  v.  32  (wo  die  Kata- 
strophe eintritt,  Säma  visanfa  samapajjatha)  in  metrisches  Erzählen. 
Nur  ganz  unbedeutende  prosaische  Zwischenbemerkungen  werden 
dann  noch  anzunehmen  sein^). 

Culla-  und  Mahähamsaj  ätaka  (Nr.  533.  534):  zwei 
Exemplare  (I  und  II)  derselben  Erzählung  (vgl.  auch  Nr.  502; 
Jätakamälä  Nr.  XXII),  gegenseitig  die  an  ihnen  zu  machenden 
Beobachtungen  bestätigend.  Im  Eingang  beider  ist  die  Prosazutat 
unentbehrlich:  wie  die  eine  goldne  Grans  gefangen  wird,  die  andre 
anhänglich  sich  bei  ihr  einfindet.  Die  Anspielung  in  II,  57  ff.  be- 
stätigt, daß  ein  in  den  Versen  nicht  enthaltenes  Stück  Erzählung 
hier  vorhanden  war.  Zwischen  den  Gränsen  entspinnt  sich  nun  ein 
Versdialog:  da  kommt  der  Jäger  (I,  13,  teilweise  =  II,  10),  und 
hier  gleitet  aus  den  Gresprächsversen  auch  die  Erzählung  in  metri- 
sche Form  hinüber.  Nunmehr  geben  die  Verse  im  Wesentlichen 
alles  vollständig.     Allerdings  könnten  hier  und  da  bei  den  Reden 


1)  Daß  für  den  Verfasser  der  Verse  auch  dieser  Teü  der  Geschichte  da 
war,  ist  zweifellos,  geht  auch  ausdrücklich  aus  v.  36  hervor. 

2)  Nur  bei  der  Episode  mit  dem  Mönchsgewand  des  Jägers  entsteht  Zweifel; 
ich  komme  darauf  S.  446  Anm.  2  zurück. 

3)  Man  kommt  allerdings  leicht  in  Versuchung,  über  Stellen,  an  die  eine 
solche  Zwischenbemerkung  gehört,  wegzulesen.  So  setzt  v.  38  sä  devatä  (vgl. 
V.  102)  offenbar  voraus,  daß  von  dieser  Gottheit  irgendwie  die  Rede  gewesen  ist. 


Jätakastudien.  '  437 

Angaben,  wer  der  Redende  ist,  erwünscht  sein^).  Hinter  II,  19 
— 20  muß  eine  Erklärung  des  Jägers  auf  die  in  diesen  Versen 
enthaltene  Alternative  (hat  er  die  Gans  auf  eignen  Antrieb  oder 
in  fremdem  Auftrag  gefangen?)  angenommen  werden.  Und  auch 
im  Übrigen  schließt  die  Möglichkeit,  mit  den  Versen  allein  auszu- 
reichen, doch  anderseits  nicht  aus,  daß  kurze  prosaische  Zwischen- 
bemerkungen anzunehmen  wären,  wie  die  Fassung  der  Jätakamälä 
sie  in  der  Tat  gibt.  Daß  aber  wenigstens  der  Hauptsache  nach 
in  beiden  Fassungen  vom  Erscheinen  des  Jägers  an  Verse  an  Stelle 
der  Prosa  getreten  sind,  ist  unverkennbar. 

Noch  manche  weitere  Jätakas  lassen  sich  mit  größerer  oder 
geringerer  Sicherheit  diesem  Typus  des  Hineingeratens  in  metri- 
sche Erzählung  zurechnen.  Über  manche  Fälle  wird  man  schwanken. 
Ich  möchte  hierher  beispielsweise  Nr.  51B  (doch  mit  einer  durch 
Prosa  auszufüllenden  Lücke)  und  Nr.  523  stellen,  auch  Nr.  529. 
531.  538.  545,  sowie  das  längste  aller  Jätakas,  das  von  Vessan- 
tara  (Nr.  547) :  auch  bei  diesen  werden  nur  ganz  unbedeutende 
Prosasätze  erforderlich  scheinen,  sobald  die  Darstellung  einmal  in 
das  metrische  Fahrwasser  sich  hineingefunden  hat.  Auf  dem  Ge- 
biet der  außerbuddhistischen  Literatur  läßt  sich  unter  den  alten 
prosaisch-poetischen  Stücken  des  Mahäbhärata  die  Geschichte  von 
den  Rossen  des  Vämadeva  (III  cp.  192)  mit  den  hier  aufgeführten 
Jätakas  vergleichen. 

Ist  in  diesen  Fällen  eine  gewisse  Regelmäßigkeit  nicht  zu  ver- 
kennen, so  kann  es  nicht  befremden,  wenn  gelegentlich  ein  pro- 
saisch anhebendes  Jätaka  auch  mehr  oder  minder  regellos  bald  in 
metrische  Erzählungsform  gerät,  bald  wiederum  seine  Verse  auf 
weitere  Strecken  Lücken  lassen,  die,  wie  es  jetzt  der  Kommentar 
veranschaulicht,  offenbar  auch  von  Anfang  an  durch  Prosa  aus- 
gefüllt waren :  man  prüfe  etwa  das  umfängliche  Bhüridatta- 
jätaka  (Nr.  543).  — 

Nun  aber,  im  Gegensatz  zu  allen  diesen  Jätakas  mit  Prosa - 
anfang,  findet  sich  auf  der  andern  Seite  auch  eine  Anzahl  von 
Jätakas,  bei  denen  gleich  der  Eingang  metrische  Form  hat.  Zu- 
vörderst solche,  bei  denen  dann  die  Versdarstellung  größere  oder 
geringere  Lücken  läßt,  die  durch  Prosa  ausgefüllt  gewesen  sein 
müssen. 

Ein  Beispiel  gibt  das  Sattigumba jätaka  (Nr.  503)  von 
den  beiden  Papageienbrüdern,  die  durch  schlechte  und  gute  Gesell- 


1)  Über  Setzung  und  Nichtsetzung   derartiger  Angaben   bei  den  Buddhisten 
s.  „Zur  Geschichte  der  altind.  Prosa"  76  A.  1 ;  77. 


438  H.  Oldenberg, 

Schaft  selber  schlecht  und  gut  geworden  sind.  Der  erste  Vers 
„Auf  die  Jagd  ging  der  große  König  der  Paficälas''  usw.  sieht 
entschieden  nach  Anfang  des  Ganzen  aus;  was  der  Kommentar 
vorausschickt,  ist  teils  bequem  entbehrlich,  teils  kann  es  an  spä- 
terer Stelle  gestanden  haben.  Ganz  ohne  Prosazutaten  —  wohl 
von  geringem  Umfang  —  sind  die  Verse  doch  nicht  denkbar.  Es 
wird  erklärt  sein,  wer  Patikolamba  (v.  7)  war;  auch  über  Pup- 
phaka,  den  allein  im  Kommentar  enthaltenen,  aber  doch  wohl  authen- 
tischen Namen  des  guten  Papageien,  wurde  offenbar  Aufklärung 
gegeben.  Vor  v.  12  war  unzweifelhaft  erzählt,  wie  der  König  von 
der  sündigen  Stätte  zu  der  der  Tugend  gelangt.  Auch  ein  Prosa- 
schluß war  vermutlich  vorhanden.  Immerhin  ist  der  hauptsächliche 
Bestand  des  Jätaka  von  Anfang  an  in  den  Versen  gegeben. 

Das  folgende  Jätaka  (ßhallätiyajätaka  Nr.  504)  hat 
ganz  ähnlich  wie  dieses  einen  ersten  Vers,  der  nach  Eingang  des 
Ganzen  aussieht:  „Es  war  ein  König  Bhallätiya  mit  Namen".  Im 
weiteren  Verlauf  geben  die  Verse  —  freilich  weit  überwiegend 
Reden  enthaltend  —  vollständigen  Zusammenhang.  Schließlich 
greifen  unter  drei  durch  gleiche  Anfangsreihe  zusammengehaltenen 
Strophen  die  beiden  letzten  aus  der  Haupterzählung  in  die  Rah- 
menerzählung hinüber:  ein  recht  bemerkenswerter  Sachverhalt, 
der  in  einen  schon  berührten  (S.  431  A.  2) ,  unten  noch  weiter  zu 
beleuchtenden  Zusammenhang  hineingehört.  Ein  Stück  Rahmen- 
erzählung ist  auch  die  dann  noch  folgende  Strophe  (der  dem  Buddha 
zuhörenden  Königin).  Mit  Athetese  in  diese  Vermischung  von 
Haupt-  und  Rahmenerzählung  hineinzugreifen  wäre  offenbar  ver- 
fehlt. Das  Hauptstück  der  Rahmenerzählung  muß  natürlich  in 
Prosa  gegeben  gewesen  sein.  Sehen  wir  —  wie  das  in  diesen  Er- 
örterungen durchgehend  geschieht  (S.  430  Anm.  2)  —  von  ihr  ab, 
so  haben  wir  hier  ein  Jätaka,  das  wie  mehrere  später  aufzufüh- 
rende ganz  in  Versen  verfaßt  ist.  Ich'  habe  es  hierher  gestellt 
nur  weil  in  der  eben  besprochenen  Hinsicht  Prosa  und  Verse  in 
einander  verlaufen^). 

Ahnliche  Anfangsverse  finden  sich  im  Nimijätaka  (Nr.  541 : 
„Ein  Wunder  ist  es,  was  für  verständige  Männer  in  der  Welt  er- 


1)  Zur   ersten   Strophe   dieses  Jätaka  bemerke   ich  im  Vorübergehen,    daß 
FausböU  mit  Unrecht  abteilt: 

rajjam  paJiäya  migavam  acäri  so, 
agamä  girivaram  Gandhawädanam. 
Das  so  gehört  zur  zweiten   Zeile.    F.s  Änderungsvorschlag  girivaram  agamä  ist 
nicht  am  Platz. 


Jätakastudien.  439 

scheinen,  wie  der  König  Nimi  war"  usw.)  und  im  Khandahä- 
lajätaka  (Nr.  542:  „Ein  König,  der  wilde  Taten  vollbrachte, 
war  alleiniger  Herrscher  in  Pupphavati"):  beidemal  verlangen  dann 
die  Verse  nur  unerhebliche  Prosazutat.  Vielleicht  hierher  auch 
das  Mahänäradakassapajätaka  (Nr.  544:  „Es  war  ein 
König  der  Videhas,  ein  Fürst  Angati  mit  Namen"),  von  dem  schwer 
ist  zu  entscheiden,  ob  Prosazutat  anzunehmen  ist:  hinter  v.  190 
möchte  man  eine  solche,  berichtend  etwa. über  das  Verschwinden 
des  Weisen  und  den  Erfolg  seiner  Predigt,  wahrscheinlich  finden  *). 

Zweifel  dieser  Art  kehren  öfter  wieder :  der  Natur  der  Sache 
nach  ist  ja  über  die  Möglichkeit,  daß  die  Verserzählung  an  irgend 
einer  Stelle  —  es  pflegt  sich  für  uns  um  den  Schluß  zu  handeln  — 
durch  eine  vielleicht  wenig  wesentliche  prosaische  Hinzufügung 
ergänzt  war,  sichere  Entscheidung  vielfach  unerreichbar.  So  sehe 
ich  es  an  beim  Akittijätaka  (Nr.  480),  das  übrigens  fast  ganz 
aus  Reden  besteht,^) ;  am  Schluß  kann,  wie  der  Kommentar  es  in 
der  Tat  hat,  erzählt  gewesen  sein,  daß  der  Gott  verschwand  und 
der  Weise  das  Ziel  seiner  Askese  erreichte.  Ahnlich  das  Mahä- 
vänijajätaka  (Nr.  493);  vielleicht  nach  v.  21  Erzählung, 
wie  die  Nägas  die  Kaufleute  außer  ihrem  tugendhaften  Führer 
töteten.  Das  Dasabrähmanajätaka  (Nr.  495):  alles  außer 
der  ersten  Zeile  ist  Gespräch  zwischen  Yudhitthila  und  dem  weisen 
Vidhura,  natürlich  dem  Yudhisthira  und  Vidura  des  Epos ;  auch 
hier  kann  ein  Prosaschlußwort  fehlen.  Das  Mahäkapijätaka 
(Nr.  516),  ganz  ähnlich  anfangend  wie  mehrere  der  eben  erwähnten 
Jätakas:  „In  Benares  war  ein  König,  ein  Mehrer  des  Käsireichs"  ; 
die  Geschichte  von  undankbaren  Brahmanen  und  dem  Affen ;  wieder 
bleibt  fraglich,  ob  prosaisches  Schlußwort  da  war^).  . 

Man  sieht,  wie  wir  Schritt  für  Schritt  bis  zu  Jätakas  gelangt 
sind,  bei  denen  von  Prosa  nur  ein  geringfügiger  Rest,  vielleicht 
nicht  einmal  ein  solcher  geblieben  ist.  Schließlich  sind  einige  an- 
zuführen, die  m.  E.  als  durchaus  metrisch  angesehen  werden  kön- 
nen^).    So  das  Gijjhajätaka  (Nr.  427),   das  mit  dem  Ausgang 


1)  Doch  für  diese  upd  ähnliche  Fälle  vgl.  A.  3. 

2)  Erzählend  nur  die  erste  Zeüe,  die  natürlich  zu  lesen  ist  Ahittim  disvä 
sammantam  (nicht  sammataiii)  SoMo  thütapati  hravi. 

3)  Wenn  unsrer  Empfindung  vielleicht  ein  solches  erwünscht  ist,  kann  die 
darin  doch  fehlgehen.  Es  verdient  Beachtung,  daß  in  der  Jätakamälä  (Nr.  XXIV) 
die  Geschichte  mit  der  Rede  des  Aussätzigen  schließt;  denn  was  dahinter  noch 
folgt,  kommt  nicht  in  Betracht. 

4)  Ich  möchte  hierher  nicht  das  Vakaj  ätaka  (Nr.  300;  in  v.  1  lies  samä- 
däya)  und  das  Bäverujätaka  (Nr.  339)  stellen.    Bei  beiden  scheinen  mir  die 


440  H-  Oldenberg, 

der  Erzählung  und  der  Moral  einen  Abschluß  erreicht,  der  eine 
noch  folgende  Prosazutat  ausschließt.  Das  Kälingabodhijä- 
taka  (Nr.  479;  vgl.  Lüders  NaaW.  1897,  126  A.  2),  bei  dem 
allerdings  ein  Prosasatz  vor  v.  15  nicht  undenkbar  ist.  Das  Ma- 
häpalobhanajätaka  (Nr.  507):  hier  geben  die  Verse  vollstän- 
digen Abschluß^).  — 

Ein  besonderer,  für  sich  stehender  Typus  metrischen  Erzählens 
muß  hier  schließlich  noch  erwähnt  werden:  die  Einführung  der 
Versrede  durch  die  Angabe  in  Versform  „da  sagte  N.  N."  —  diese 
Angabe  oft  ein  erstes  Hemistich  (oder  ersten  Päda)  füllend,  wäh- 
rend die  E,ede  im  zweiten  steht  oder  darin  beginnt.  Z.  B.  die 
schon  erwähnte  Stelle  Nr.  475  v.  7: 

iti  phandanaruWio  pi  tävade  ajjhabhäsatha: 
mayJiam  pi  vacanam  atthi,  Bhäraäväja  sunolii  me. 
Entsprechendes  findet  sich  Nr.  449  v.  4;  Nr.  506  v.  14;  Nr.  522 
V.  13;  Nr.  529  v.  2.  9  und  sonst  häufig.  Ähnliche  Einführung  der 
Rede  zugleich  mit  kurzer  Angabe  der  Situation:  Nr.  537  v.  8.  39. 
Ebenso,  doch  was  an  jenen  Stellen  Einführung  ist,  der  Rede  viel- 
mehr nachgestellt :  Nr.  378  v.  6 ;  Nr.  547  v.  13.  Mit  diesen  Fällen 
ist  es  wohl  verwandt,  wenn  in  Nr.  454  zwischen  zwei  in  nächster 
Beziehung  zu  einander  stehenden  Reden  (v.  1.  3)  der  Vorgang,  in 
dem  diese  Beziehung  sich  ausdrückt,  gleichfalls  in  Versform  be- 
richtet wird:  auch  hier  hat  die  Versrede  eng  damit  zusammen- 
gehöriges Greschehen  an  der  metrischen  Form  teilnähmen  lassen.  — 

So  glaube  ich  die  wesentlichen  Erscheinungsformen  versmäßiger 
Erzählung  in  den  Jätakas  beschrieben  zu  haben.  Man  hat  aus  dem 
Gesagten  gesehen,  in  wie  mannigfachen  Gestalten,  mit  wie  ver- 
schiedener Intensität  in  diesen  Massen  teils  echtbuddhistischer  teils 
von  den  Buddhisten  adaptierter  Geschichten  jene  Tendenz  gewirkt 
hat,  die  von  prosaischem  Erzählen  mit  eingelegten  Versen,  haupt- 
sächlich Rede-  und  Dialogversen,  zu  metrischem  Erzählen  führte. 
Um  hier  in  der  Kürze  auf  die  Vorgeschichte  dieser  Entwicklung 
zurückzugreifen,  so  gab  es  ursprünglich,  scheint  es,  Prosaerzählung 
eventuell  mit  Einlegung  von 'Versen  da  „wo  auch  außerhalb  er- 
zählenden Zusammenhangs  die  Primitiven  gern  zur  poetischen 
Form  greifen :  wo  ein  Gott  angerufen,  ein  Zauberwort  gesprochen, 
feierliches   Gebot,    Segen  oder  Fluch  verhängt   wird,    wo   Gefühl 


kurzen  Versstücke  nicht  als  die  eigentliche  Erzählung,  sondern  als  Rekapitulation 
von  ihr  aufzufassen. 

1)  Man   beachte,    daß,    was  Fausböll   zwischen   den  Hälften   von  v.  7  als 
Prosa  gibt  {tarn  tathävädinirn  räjä  kumärim  etad  ahravi),  vielmehr  Vers  ist. 


Jätakastudien.  441 

sich  Luft  macht,  wo  der  Stimmungsgehalt  einer  Situation,  die  ihr 
innewohnende  Absonderlichkeit  oder  Bedeutsamkeit  hervorgehoben 
wird,    oder   wo  Scharfsinn   in   pointierter  Sprache  ßätsel    aufgibt 
und  löst"  ^).     Bald   aber   bildet  sich  ein  Gefühl  dafür,    daß  es  am 
Platz  ist,  die  Erzählung  nicht  nur,  wenn  sich  das  zufällig  so  fügt, 
mit  Versen  auszustatten.    Ich  vermute,  wie  ich  hier  in  Ergänzung 
meiner    früheren   Erörterungen   bemerke,     daß    dabei   neben    dem 
ästhetischen  Moment  auch  ein  rituell-zauberisches  im  Spiel  gewesen 
ist.     Wird  am  Ende  des  Suparnädhyäya   dessen  Studium   zur  Er- 
langung der  Himmelswelt,  von  Söhnen  usw.  empfohlen,    so  dachte 
man  diese  Erfolge  doch  wohl  speziell  an  den  mantra-Siviigen  Stoff 
geknüpft,    der    allein    in   fester  Form   da   überliefert   ist:    an  die 
Verse,    nicht  aber  an  die  in  keinen   bestimmten  Wortlaut  gefaßte 
Prosa,    die   zur  Ausübung   von  Zauberwirkungen  in  Ermangelung 
jeder  solennen  Formuliertheit  doch  wohl  nicht  im  Stande  war  — 
an  die  Verse,  die  auch  beim  Vortrag  der  Sunah^epageschichte,  je 
nachdem  sie  rcah  oder  gäthäh  waren,  durch  om  oder  tathä  hervor- 
gehoben  wurden,    offenbar  als  etwas  besonders  Heiliges  d.h.  zau- 
berisch Wirksames.     Das  Verlangen   eben   nach   solcher  Wirkens- 
kraft wird  mit  dazu  getrieben  haben,  Geschichten  mit  Versen  aus- 
zustatten:   es   ist  ja  bekannt  —  das  große  Epos  bezeugt  es  fort- 
während — ,  wie  allgemein  die    erzählenden  Dichter   für   das  An- 
hören ihrer  Produktionen  zauberische  Läuterungskraft   und  solche 
Wirkungen,    wie  sie  der  Suparnädhyäya  von    sich   rühmt,    in  An- 
spruch nehmen.    Kam  nun  auch  für  die  buddhistische  Erzählungs- 
kunst derartiges  nicht  direkt  in  Frage,    so   stand  die  doch  selbst- 
verständlich unter  dem  Einfluß    der   anderweitig   herausgebildeten 
Darstellungsform.     Danach  werden  wir  es  begreifen,    daß   für  die 
Jätakas    die    eingelegten  Verse   wesentlich   waren  2),    das    einzelne 
Jätaka  nach  den  Anfaugsworten  des  ersten  Verses  benannt  werden 
konnte,    die  ganze  Sammlung  den  Verszahlen   nach  geordnet  war. 
Was  alsdann  das  so  natürliche  weitere  Vordringen  des  Vers- 
elements anbelangt,    so   lassen,    scheint  mir,    die   obigen  Untersu- 
chungen wohl  etwa  die  Erscheinungen  erkennen,  die  man  auch  im 
voraus    erwarten  würde.     Einige    ziemlich   bestimmt   ausgeprägte, 
auf  begreiflichen  Motiven  beruhende  Typen  stellen  sich  heraus,  als 
solche  durch  häufige  Wiederkehr   charakterisiert.     Um   sie   herum 


1)  Ich  wiederhole  diese  Formulierung  aus   meiner  Schrift   „Zur  Geschichte 
der  altind.  Prosa"  97. 

2)  Die  Einschränkungen,  die  das  erleidet  („Zur  Geschichte  der  altindischen 
Prosa"  82  A.  1),  sind  unerheblich. 


442  H.  Oldenberg, 

liegen  dann  regellosere  Bildungen.  Daß  es  an  denen  nicht  fehlt, 
kann  ja  nicht  befremden ;  vielmehr  wäre  es  seltsam,  wenn  in  einer 
Entwicklung  wie  dieser  nicht  auch  zerstreute  Wirkungen  singu- 
lärer  Ursachen,  dazu  Launen  und  Zufälle,  vielleicht  die  Folgen 
sekundärer  Überarbeitung  und  dgl.  sich  geltend  machten.  So  gleitet 
auf  dieser  Entwicklungsbahn  —  eine  andre  ist  ja  die,  welche 
z.  ß.  durch  die  Jätakamälä  veranschaulicht  wird  —  die  Bewegung 
bis  dicht  an  die  rein  metrische  Form  heran,  so  daß  die  in  allem 
Wesentlichen  herrscht,  von  Prosa  nur  geringe  Reste,  mehr  oder 
minder  selbstverständlichen  Inhalt  erledigend,  übrig  bleiben.  Und 
wie  sollten  nicht  dann  schließlich  auch  solche  R-este  verschwinden, 
die  volle  Einheitlichkeit  der  Form  im  Siege  des  Metrums  über  die 
Prosa  sich  nicht  herstellen? 


2.    Zum  Stil  der  Jatakaverse. 

Nach  diesen  Bemerkungen  über  das  Verhältnis  der  Jataka- 
verse zur  Prosa  versuche  ich  nun  den  in  den  Versen,  insonderheit 
in  den  Erzählungsversen  erscheinenden  Stil  zu  beschreiben  ^).  Als 
Unterlage  wähle  ich  zuvörderst  das  schon  oben  (S.  436)  erwähnte 
Jätaka,  an  dem  Foucher  (Melanges  Levi  231  ff.)  so  erfolgreich 
die  inhaltlichen  Wandlungen  der  Erzählung  vom  Altertum  zur 
Spätzeit  aufgewiesen  hat:  das  Chaddanta  Jätaka  (Nr.  514). 
Dieses  eignet  sich  gut  für  meinen  Zweck,  da  es  zum  verhältnis- 
mäßig großen  Teil  in  Erzählungsversen  verläuft,  welche  viele 
—  freilich,  wie  wir  sehen  werden,  nicht  alle  —  Charakteristika 
des  hier  herrschenden  Stils  recht  deutlich  aufweisen. 

Die , ersten  17  Verse  sind  Gespräche:  die  Königin  drückt  ihr 
Verlangen  nach  den  Zähnen  des  sechszähnigen  Elefanten  aus  und 
instruiert  den  Jäger,  der  sie  ihr  verschaffen  soll.  Ich  übersetze 
vom  18.  Verse  an^). 

18.  „Da  diese  Rede  entgegennehmend  |  ergriff  der  Jäger  Köcher 
und  Bogen.  ||  Er  überschreitet  sieben  hohe  Berge  ]  zum  herrlichen 
Berg  mit  Namen  Suvannapassa. 


1)  Es  wird  eine  lockende  und  wichtige  Aufgabe  sein,  stilgeschichtliche  Un- 
tersuchungen wie  die  hier  unternommenen  auch  auf  jainistische  Texte  aus- 
zudehnen. Ich  fühle  mich  den  hier  entstehenden  Schwierigkeiten,  wie  ich  schon 
bei  früherer  ähnlicher  Gelegenheit  ausgesprochen,  für  jetzt  nicht  gewachsen  und 
behalte  es  der  Zukunft  vor  dieser  Arbeit  näher  zu  treten. 

2)  Und  zwar  ohne  Rücksicht  auf  die  Lesbarkeit  der  deutschen  Sätze  mit 
möglichst  genauer  Wiedergabe  auch  der  Wortverteilung  auf  die  Teile  des  Verses. 
Ich  sondere  diese  Teile  durch  Teilstriche. 


Jätakastudien.  443 

19.  Besteigend  den  Berg,  der  Kinnaras  Wohnung  |  blickte  er 
herab  auf  des  Bergfußes  Wurzel.  ||  Da  sah  er  von  wolkengleicher 
Farbe  |  einen  königlichen  Nyagrodha,  achttausendmal  gewurzelt. 

20.  Da  sah  er  den  sechszähnigen  Elefanten,  |  ganz  weiß,  schwer 
zu  bezwingen  von  andern.  ||  Ihn  schützen  achttausend  Elefanten  | 
bezahnt  wie  mit  Deichseln,  stoßend  gleich  Sturmgewalt. 

21.  Da  sah  er  den  Lotosteich')  nicht  fern,  |  angenehm,  mit 
schönen  Badeplätzen  und  vielem  Wasser,  ||  blütenreich,  von  Bienen- 
scharen umschwärmt,  |  wo  jener  Elefantenkönig  badet. 

22.  Sehend  des  Elefanten  Gehen  und  Stehen,  |  was  sein  Pfad 
beim  Badegang  ist,  ||  ging  zu  einer  Grube  der  unedel  Geartete,  | 
angetrieben  von  der  ihrem  Gelüst  Gehorchenden  (der  Königin). 

23.  Einen  Graben  bereitend  deckte  er  ihn  mit  Brettern,  |  der 
Jäger  sich  selbst  verbergend  und  den  Bogen.  |j  Den  dicht  heran- 
gekommenen Elefanten  mit  mächtigem  Pfeil  |  traf  er,  der  Täter 
böser  Tat. 

24.  Und  der  Elefant  getroffen  stieß  furchtbares  Gebrüll  aus.'  | 
Die  Elefanten  alle  brüllten  in  furchtbarer  Art.  ||  Gras  und  Holz 
zermalmend  |  liefen  sie  nach  den  acht  Himmelsgegenden  rings. 

28.  ^)  Getroffen  vom  mächtigen  Pfeil  der  Elefant  |  von  Bösem 
unberührten  Sinnes  sprach  zum  Jäger:  ||  „Zu  welchem  Zweck, 
Freund,  oder  aus  welchem  Grunde  |  hast  du  mich  geschossen,  oder 
von  wem  kommt  der  Antrieb  ?" 

29.  „Des  Käsikönigs  Gemahlin,  Herr,  |  Subhaddä  im  Königs- 
hause geehrt :  |  sie  hat  dich  gesehen  und  mir  von  dir  gesagt,  |  und 
'die  Zähne  will  ich  haben',  so  hat  sie  zu  mir  gesprochen". 

30.  „Viele  herrliche  Zähnepaare  habe  ich,  |  die  von  meinen 
Vätern  und  Großvätern  (stammen)^).  ||  Das  weiß  jene  zornmütige 
Königstochter.  |  Meinen  Tod  begehrend  hat  die  Törin  Feindschaft 
geübt. 

31.  „Stehe  auf,  Jäger,  nimm  ein  Messer  |  und  schneide  diese 
Zähne  ab,  ehe  ich  sterbe.  ||  Sagen  sollst  du  der  zornmütigen  Kö- 
nigstochter: I  ^Getötet  ist  der  Elefant.    Sieh,  da  sind  seine  Zähne!'" 

32.  Aufstand  der  Jäger,  nahm  ein  Messer  |  und  schnitt  die 
Zähne  des  edelsten  Elefanten  ab,  ||  die  schönen,  schmucken,  unver- 
gleichlichen auf  Erden.  |  Er  nahm  sie  und  ging  schnell  von  dannen. 

1)  Von  dem  hatte  die  Königin  ihm  gesprochen. 

2)  Ich  lasse  Vers  25—27  (vgl.  Milindapanha  p.  221)  fort:  der  Elefant  will 
den  Jäger  töten,  sieht  aber,  daß  er  ein  Asketengewand  (oder  ein  dem  Asketen- 
gewand ähnliches  Kleid?)  trägt.  So  ist  er  unverletzlich.  Verse  über  berechtigtes 
und  unberechtigtes  Tragen  des  Asketenkleides  (aus  dem  Dhammapada). 

3)  Diese  Wendung  unter  dem  Einfluß  von  Vers  7? 


I 


444  H.  Oldenberg, 

33.  Furchtbefallen,  durch  des  Elefanten  Tötung  bekümmert  | 
die  Elefanten,  die  nach  den  acht  Himmelsgegenden  gelaufen  wa- 
ren, II  als  sie  keinen  Mann,  des  Elefanten  Feind,  sahen,  |  kehrten 
sie  dahin  um,  wo  jener  Elefantenkönig  war. 

34.  Dort  klagten  und  weinten  die  Elefanten,  |  streuten  Staub 
auf  ihr  Haupt  ||  und  gingen  alle  nach  Hause,  |  voran  die  Königin, 
die  sehr  herrliche^). 

35.  Nehmend  die  Zähne  des  edelsten  Elefanten,  [  die  schönen, 
schmucken,  unvergleichlichen  auf  Erden,  |  mit  Goldstreifen  rundum 
in  ihrem  Innern,  ||  ging  der  Jäger  nach  der  Käsistadt.  j  Er  brachte 
der  Königstochter  die  Zähne:  |  „Gretötet  ist  der  Elefant.  Sieh,  da 
sind  seine  Zähne  !^ 

36.  Wie  sie  die  Zähne  sah  des  edelsten  Elefanten,  j  ihres 
lieben  Gatten  in  früherer  Geburt,  ||  da  zersprang  ihr  das  Herz.  | 
So  fand  sie  den  Tod,  die  Törin«  2).  — 

Liest  man  diese  Verse,  so  fühlt  man,  wer  die  gewesen  sind, 
die  sich  an  ihnen  rührten  und  erbauten:  die  Stillen,  Sanften,  die 
aus  mönchischer  Abgeschiedenheit  voll  Schrecken  auf  das  Treiben 
der  Welt  mit  ihren  Begierden  und  Grausamkeiten  hinsahen,  schau- 
dernd vor  all  der  Bosheit  und  vor  den  Höllenstrafen,  die  ihr  sicher 
sind.  In  kindlicher  Handgreiflichkeit  stellt  man  Gut  und  BÖse 
gegenüber;  zum  Guten  gehört  vor  allem  unbedingtes  Nachgeben, 
Dulden,  unerschütterlicher  Gleichmut.  An  dieser  Tugendlichkeit 
nimmt  das  Getier  ganz  wie  die  Menschenwelt  teil.    Der  Wunder- 

1)  Die  Elefantenkönigin.  Im  Text  hätte  Fausböll  für  mahesim  sdbha- 
hhaddam  nicht  sabbabJiaddani  mahesim  vermuten  sollen,  mahesi  „Königin"  ist  sehr 
oft  (nicht  überall,  s.  Nr.  281  v.  2;  Nr.  547  v.  11)  uu_  zu  messen,  offenbar  durch 
mahesi  „der  große  Rsi"  beeinflußte  falsche  Schreibung  für  *mahisi.  —  Ebenso 
ist  Fausbölls  katvä  pure  für  purakkhatvä  überflüssig;  das  Metrum  begründet  kein* 
Bedenken. 

2)  Es  folgen  noch  einige  Verse,  in  denen  ßuddha  zu  den  Jüngern  spricht: 
er  war  damals  der  Elefant,  Devadatta  der  Jäger  usw.  Diese  Verse,  unmittelbar 
an  das  Vorangehende  anschließend,  einen  Teil  von  Vers  35  wörtlich  wiederholend, 
unterliegen  nicht  dem  Verdacht  jüngerer  Herkunft.  Sie  stellen  sich  zu  den  Ma- 
terialien, die  der  Abtrennung  der  umrahmenden  Erzählungen  aus  Buddhas  eigner 
Zeit  als  späterer  Zutaten  widersprechen  (vgl.  NGGW.  1912,  186  f.).  Man  be- 
merke besonders  v.  38  yam  addasätha  daharim  Icumärim  häsäyavattham  anagä- 
riyan  carantim:  Bezugnahme  auf  die  daharabhikkhunl,  von  der  die  Umrahmungs- 
erzählung handelt.  Andre  Stellen,  die  die  Beseitigung  des  Rahmens  als  unzulässig 
erweisen,  sind  uns  oben  begegnet  (S.  431.433.438).  Hier  mache  ich  noch  auf  das 
ie  Nr.  423  v.  6  aufmerksam,  das  in  einem  mitten  in  der  Hauptgeschichte  stehenden 
Vers  sich  an  eine  Person  der  Rahmenerzählung  wendet.  Warum  hat  sowohl  die 
deutsche  wie  die  englische  Übersetzung  dies  für  den  Aufbau  des  Ganzen  so  be- 
sonders charakteristische  Wörtchen  unübersetzt  gelassen? 


Jätakastudien.  445 

elefant  ist  in  Wahrheit  kein  Elefant ;  er  ist  buddhistischer  Weiser, 
als  Elefant  verkleidet  .  .  . 

Aber  wir  haben  die  Erzählung  ja  nicht  von  der  moralischen, 
sondern  von  ästhetisch-stilistischer  Seite  zu  betrachten. 

Wer  etwa  von  der  Lektüre  der  Epen  oder  vollends  der  Kunst- 
dichtung herkommt,  dem  fällt  zunächst  die  große  Schlichtheit  der 
Darstellung  in  die  Augen.  Mit  wie  einfachen  Mitteln  wird,  was 
groß  oder  schön  sein  soll,  als  groß  und  schön  geschildert!  Grroße 
Zahlen :  der  Elefant  hat  sechs  Zähne ;  achttausend  Elefanten  folgen 
ihm;  ebensoviele  Wurzeln  hat  der  Baum.  Vergleiche  kurz  und 
einfach:  der  Baum  ist  wolkengleich;  die  Elefanten  können  mit 
Sturmgewalt  stoßen.  Das  alles  hebt  sich  von  der  späteren  Weise 
sehr  deutlich  ab.  Hier  kommt  der  Jäger  heran,  nicht  etwa,  wie 
ein  jüngerer  Poet  vielleicht  gesagt  hätte,  gleich  dem  Todesgott  ^). 
Der  Wunderelefant  ist  ;,ganz  weiß,  schwer  zu  bezwingen  von" 
andern".  Wie  viel  schwungvoller  Asvaghosa  (Süträlamkära,  Übers. 
Huber,  403) :  da  ist  dasselbe  Tier  „gigantesque.  Comme  la  Kau- 
mudini  aux  fleurs  blanches,  comme  le  lait  ou  la  neige,  tel  est  son 
aspect.  n  les  egale  tous  en  blancheur;  il  est  pareil  ä  une  grande 
montagne  blanche  qui  aurait  des  pieds  et  qui  mar  eher  ait.  Ce  grand 
roi  des  elephants  egale  par  sa  couleur  la  lune"  usw.  Der  Lotus- 
teich in  der  Jätakadichtung  ist  „angenehm,  mit  schönen  Bade- 
plätzen und  vielem  Wasser,  blütenreich,  von  Bienenscharen  um- 
schwärmt" ;  von  der  bunten  Blütenpracht  der  Lotusse  und  all  dem 
vielen,  was  sonst  spätere  Dichter  von  diesem  Lotusteich  zu  ver- 
melden gewußt  hätten,  ist  nicht  die  Rede.  Der  Jäger  schießt  den 
Elefanten:  „er  traf  ihn  mit  mächtigem  Pfeil".  Man  halte  gegen 
diese  nackte  Angabe  des  Tatsächlichen  etwa,  wie  es  im  Mahäbhä- 
rata  (XIV,  2206  ff.)  aussieht,  wenn  ein  Elefant  geschossen  wird : 
„Darauf  wehrte  der  Päncjuide  zornig  den  Elefanten  mit  einem 
Netz  von  Pfeilen  ab,  wie  das  Gestade  das  Heim  der  Delphine  ^). 
Der  vorzüglichste  der  Elefanten,  der  schöne,  stand  da,  von  Arjuna 
abgewehrt,  mit  pfeilzerschossenem  Körper  wie  ein  stachliges  Sta- 
chelschwein .  .  .»  Als  er  ihn  (Arjuna  den  Elefanten)  anstürmen 
sah,  entsandte  des  Päkazüchtigers  Sohn^)  machtvoll  einen  feuer- 
gleich anzuschauenden  wäräca-Pfeil  wider  den  Elefanten.    Von  dem 


■ 


1)  Doch  in  der  Tat  tritt  auch  im  Jätaka  533  (v.  13)   der  Jäger   auf  ä^wr«- 
nam  iv'  antdko. 

2)  Wie  das  Meeresgestade  dem  Meer  das  Vordringen  verwehrt.    Diese  Ver- 
gleicbung  findet  sich  übrigens  auch  im  Jätaka  (Nr.  535,  93,  vgl.  544,  45). 

3)  Arjuna  ist  von  Indra,  dem  Töter  des  Päka,  erzeugt. 

Kgl.  Oes.  d.  Wiss.  Nachrichten.  PhU.-hist.  Klasse.   1918.    Heft  4.  30 


446  H-  Oldenberg, 

an  seinen  Gelenken  schwer  getroffen  stürzte  der  Elefant  gewaltig 
zu  Boden,  einem  donnerkeilzerschlagenen  Berg  gleich".  Die  nä- 
heren Umstände  dieser  Elefantentötung  sind  ja  andre  als  im  Jä- 
taka.  Aber  man  wird  nicht  zweifeln,  daß  auch  den  Vorgang  des 
Jätaka  der  epische  Dichter  mit  andrer  Wucht,  andrer  Fülle  der 
Bilder,  der  Farben  dargestellt  hätte,  als  der  Buddhist,  der  von 
der  tragischen  Katastrophe  eben  nur  zu  berichten  weiß,  daß  der 
Jäger  das  Tier  „mit  mächtigem  Pfeil  traf". 

Ebenso  einfach  läßt  der  Dichter  den  Jäger  zum  Elefanten 
sagen:  „die  Königin  hat  dich  gesehen ^^:  daß  sie  ihn  im  Traum  ge- 
sehen hat^),  mag  sich  der  Hörer,  wenn  er  will,  dazu  denken'^). 
Nicht  weniger  einfach  sagt  die  Königin :  „die  Zähne  will  ich  haben", 
und  verhalten  sich  die  Elefanten,  als  sie  genug  geklagt  haben: 
„sie  gingen  alle  nach  Hause".  Aus  dem  Teil,  der  dem  hier  Über- 
setzten vorangeht,  hebe  ich  als  ähnlich  im  Ton  die  Frage  des 
Jägers  an  die  Königin  hervor :  „Vier  Weltgegenden,  vier  Zwischen- 
gegenden, I  oben,  unten :  das  (sind)  die  zehn  Weltgegenden.  ||  In 
welcher  Weltgegend  weilt  der  Elefantenkönig,  |  den  du  im  Traum 
gesehen  hast,  der  sechszähnige?"  Streift  die  Weise,  in  der  hier 
der  Jäger  die  Weltgegenden  aufzählt,  nicht  ans  Kindliche? 

All  dem  entspricht  ganz  der  sprachliche  Charakter  der  Verse. 
Ein  kleiner  Hauptsatz  von  einfachstem  Bau  schließt  sich  an  den 
andern.  Selten  enthalten  sie  viel  mehr  als  Subjekt,  Prädikat, 
Objekt,  so  daß  unter  den  auftretenden  Kasus  die  Nominative  und 
Akkusative  weit  vorherrschen  ^).  Relativsätze  oder  überhaupt  Ne- 
bensätze sind  nicht  häufig ;  Konjunktionen,  die  die  Richtung  der 
Gedankenbewegung  nuancieren  könnten,  fehlen  fast  ganz;  Neben- 
handlungen auszudrücken  treten  immer  wieder  nur  Partizipien  und 
Absolutive  ein.  Zu  einem  Fluß  der  Diktion,  der  in  rascher  Energie 
die  vom  Metrum  gegebenen  Grenzen  überströmte,  kommt  es  nicht ; 
wie  in  der  obigen  Übersetzung  die  Angabe  der  Reihenteilung  in 
den  meist  vierreihigen  Strophen  zu  verfolgen  erlaubt,  pflegen  nicht 


1)  Wie  das  mehrere  Verse  an  früherer  Stelle  des  Jätaka  zeigen. 

2)  Dieser  Ungeschicklichkeit  ähnlich  ist  vielleicht  eine,  die  das  Asketen- 
gewand des  Jägers  zu  betreffen  scheint  (oben  S.  443  A.  2).  Daß  er  ein  solches 
trug,  ist  nirgends  erwähnt;  und  doch  scheint  in  dieser  ganzen  Partie  die  voll- 
ständige Erzählung  in  den  Versen  enthalten.  Oder  täuscht  dieser  Eindruck? 
Möglich  bleibt  auch,  daß  an  früherer  Stelle  des  Jätaka.  die  Prosa  die  nötige  Er- 
klärung gab. 

3)  In  der  Übersetzung  läßt  sich  das  nicht  ganz  wiedergeben,  da  die  geringe 
Fähigkeit  des  Deutschen  zur  Bildung  possessiver  Komposita  hier  Abweichungen 
bedingt. 


Jätakastudien.  447 

nur  zwischen  den  Strophen,  sondern  auch  im  Innern  der  einzelnen 
Strophe  die  Abschnitte  des  Vorstellungslaufs  und  die  der  gram- 
matischen Konstruktion  sich  durchaus  der  Herrschaft  des  Metrums 
und  seiner  Abschnitte  zu  unterwerfen.  Im  Ganzen  ist  das  freilich 
auch  noch  im  Epos  der  Fall,  doch,  scheint  mir,  dort  mit  deutlich 
fühlbarem  Nachlassen  der  Strenge'). 

Hier  möchte  ich  noch  den  eben  aus  diesem  Jätaka  beigebrachten 
Beispielen  naiver  Schlichtheit  einige  weitere  aus  andern  Jätakas 
anreihen.  Sie  zeigen  immer  dasselbe  typische  Aussehen:  dieselbe 
Überdeutlichkeit,  die  unbefangen  auch  Selbstverständliches  auszu- 
sprechen nicht  unterläßt;  dasselbe  geradlinige,  nuancenlose  Kund- 
geben von  Eindrücken  und  Empfiudungen,  die  feiner  durchzu- 
arbeiten, über  das  Nächstliegende  hinaus  mit  reicherem «Enhalt  zu 
erfüllen  man  nicht  die  Fähigkeit  besitzt,  nicht  das  Bedürfnis  fühlt. 

Da  sind  Mahnungen  zur  Tugend.  Der  Grott  hat  die  tugend- 
reiche Fürstin  Sumedhä  besucht  und  verabschiedet  sich  von  ihr: 
„Bewahre  lange,  Sumedhä,  freudig  in  dir  die  Tagend.  Jetzt  gehe 
ich  in  den  Dreihimmel.  Es  war  mir  lieb  dich  zu  sehen^^  (Nr.  489, 
25).  —  Des  Königs  Leben  ist  dem  Menschenfresser  verfallen.  Er 
nimmt  von  seinem  Sohn  Abschied:  „Laß  dich  heute  zur  königlichen 
Würde  salben.  Übe  Recht  unter  den  Deinen  und  den  Fremden. 
Laß  keinen  Übeltäter  in  deinem  Königreich  sein.  Jetzt  gehe  ich 
zum  Menschenfresser!"  (Nr.  513,  9).  —  Ein  Weiser  ist  in  ein  ähn- 
liches Verhängnis  geraten.  Er  verabschiedet  sich  vom  König.  Der 
schlägt  vor,  den  Feind  zu  beseitigen;  so  würde  der  Weise  bleiben 
können.  Das  lehnt  dieser  ab:  „Richte  deinen  Greist  nicht  aufs 
Unrecht.  Auf  Nutzen  und  Recht  sei  bedacht.  Pfui  über  böse, 
unedle  Tat,  die  vollbringend  man  dann  zur  Hölle  eingeht!"  (Nr. 
545,  178). 

Gefühlsäußerungen  von  kindlicher  Greradheit.  Der  König  Sivi 
hat  sich  in  die  schöne  Grattin  des  Ahipäraka  verliebt.  Er  spricht 
seinen  Herzenswunsch  aus:  „Wenn  Sakka  (Gott  Indra)  mir  einen 
Wunsch  gewährte  und  mir  der  Wunsch  zu  Teil  würde,  so  möchte 


1)  Verse  wie  Sävitr.  5,  105  (ich  zitiere  nach  Calands  Ausgabe),  wo  die  Zä- 
sur das  bhartuli  sal-äse,  5,  108,  wo  sie  das  gaccha  panthänam  zerschneidet,  Nala 
4,  31,  wo  zwischen  udälij'tam  und  mayä  das  Zeilenende  steht,  Nala  14,  4,  wo 
das  uväca,  zur  ersten  Zeile  gehörig  auf  die  zweite  hinüberhängt,  werden  sich  im 
Jät.  wohl  nur  ganz  selten  finden.  Es  wird  eine  interessante  Aufgabe  sein,  diese 
Verschiebungen  des  Verhältnisses  von  Satzabschnitten  und  Vers  ab  schnitten  in  der 
indischen  poetischen  Technik  zu  verfolgen.  Im  Kathasaritsägara  z.  JB.  ist  die  Sach- 
lage dem  Altertum  gegenüber  stark  verändert.  Für  die  Psychologie  des  kimst- 
lerischen  Formens  ist  derartiges  nicht  unwichtig.  —  Vgl.  Hopkins,   Gr.  Ep.  198. 

30* 


448  H.  Oldenberg, 

ich  eine  Nacht  oder  zwei  Nächte  Ahipäraka  sein.  Habe  ich  mich 
dann  an  TJmmadanti  erfreut,  möchte  ich  wieder  der  König  Sivi 
sein ')"  (Nr.  527,  14).  —  Der  Weise  ist  von  Gefahr  befreit  -glück- 
lich heimgekehrt.  Alle  freuen  sich  und  bringen  ihm  viel  zu  essen 
und  zu  trinken.  „Viele  Leute  waren  froh,  als  sie  den  zurück- 
gekehrten Weisen  sahen.  Als  der  Weise  angelangt  war,  schwenkte 
man  die  Gewänder"  (Nr.  545,  312;  546,  195).  —  Der  Sohn  bietet 
sich  an  statt  des  Vaters  zu  sterben.  Der  Unhold  sagt  zu  ihm: 
„Ich  sehe,  du  bist  des  Jayaddisa  Sohn,  denn  so  sieht  das  Gesicht 
von  euch  beiden  aus.  Da  hast  du  eine  sehr  schwere  Tat  getan, 
daß  du  den  Tod  suchst  den  Vater  zu  befreien"  (Nr.  513,  22). 

Endlich  eine  Stelle,  die  das  selbstverständliche  Ergebnis  einer 
Handlung  mit  kindlicher  Ausdrücklichkeit  beschreibt.  Der  König 
läßt  sich  vom  Arzt  die  Augen  herausnehmen  um  sie  dem  bettelnden 
Brahmanen  zu  geben.  „Des  Königs  Augen  herausnehmend  bot  er 
sie  dem  Brahmanen  dar.  So  hatte  der  Brahmane  Augen;  blind 
setzte  der  König  sich  nieder"  (Nr.  499,  16). 

Zeigt  sich  nicht  in  alldem  deutlich  die  Außerungsweise  eines 
Zeitalters,  für  das  die  einfachsten  Effekte  ihr  Interesse  noch  nicht 
verloren  haben  —  Effekte,  unbelastet  mit  alldem,  was  die  Folge- 
zeit von  Verfeinerungen  in  sie  hineintragen  wird? 

Mit  den  betrachteten  Eigenschaften  der  Jätakapoesie  steht 
nicht  in  Widerspruch,  daß  sich  an  manchen  Stellen  doch  auch  eine 
gewisse,  im  Grunde  freilich  von  Primitivheit  nicht  sehr  weit  ent- 
fernte Üppigkeit  entwickelt  in  Schilderungen  von  Schönheit,  Reich- 
tum, Machtentfaltung  u.  dgl. :  worin  sich  deutlich  die  Überladen- 
heit  der  späteren  Dichtung  mit  derartigem  ankündigt.  So  wird 
einmal  (Nr.  546,  165  ff.)  die  Reizesfülle  einer  schönen  Erau  mit 
einem  Strom  von  mehr  als  zwei  Dutzend  Beiworten  bedacht,  zum 
Teil  langen  Zusammensetzungen  („saflBorplattenfgleichJschönhüftig, 
schwanengesang[gleich]redend"  usw.) :  ein  Beiwort  neben  dem  an- 
dern in  fortlaufender  Reihe  %  die  nur  hier  und  da  von  Vergleichen 
unterbrochen  wird  (schöngeboren  jungem  Reh  gleich,  winterlicher 
Feuerflamme   gleich")^).     Die  Waldumgebung,    in   der   Vessantara 


1)  Vermutlich  sii/an  ti  für  siyä  ti  zu  lesen. 

2)  Vgl.  auch  die  Beschreibung  der  Scheußlichkeit  des  Jüjaka,  Nr.  547,  474  ff. 
Solche  Beiwortreihen  —  Anfänge  davon  schon  im  Rgveda  —  werden  immer  mehr 
zu  einem  Charakteristikum  des  indischen  poetischen  Stils,  bezeichnend  für  dessen 
Neigung  zu  unorganisierter  Fülle.  Man  sehe  die  Übertreibungen  dieser  Rede- 
weise in  der  Prosa  des  lumälajätaka. 

3)  Auf  den  besondern  Fall  der  großen  Beiwortreihe  von  Nr.  544,  181  ff.,  in 
der  Wort  für  Wort  Komposita  die  Bestandteile  einer  komplizierten  Vergleichung 


Jätakastiidien.  449 

als  Einsiedler  haust,  wird  beschrieben  (Nr.  547,  370  if.) :  endlose 
Namenreihe  der  dort  wachsenden  Bäume,  der  Schlinggewächse, 
der  im  Walde  herumlaufenden  Tiere,  der  Vögel  und  Wassertiere, 
weite  Strecken  hindurch  mehr  Register,  Nummer  für  Nummer,  als 
wirkliche  Schilderung  eines  Ganzen;  aber  doch  heben  sich  aus 
jenen  Aufzählungen  hier  und  da  kleine  Bilder  voll  anmutigen  Lebens 
spärlich  heraus  (v.  395:  „zu  beiden  Seiten  des  Mucalindasees  stehen 
schöne  Blumen ;  mit  blauen  Lotusblüten  ist  der  schmuckreiche  Wald 
bedeckt ;  trägt  man  sie  einen  halben  Monat,  verlieren  sie  doch  nicht 
ihren  Duft"  u.  dgl.  mehr).  Es  ist  bezeichnend,  daß  Schilderungen 
dieser  Art  überwiegend  in  Reden  enthalten  sind  und  diese  mit 
ihrer  Pracht,  ihrem  Reichtum  füllen.  Wo  dagegen  Handlung  in 
Versen  berichtet  wird,  pflegt  das,  wie  die  oben  mitgeteilten  und 
weiter  noch  mitzuteilenden  Proben  veranschaulichen,  knapp  und 
schmucklos  zu  geschehen.  Nur  schüchtern  entwickeln  diese  Teile 
der  Dichtung  sich  über  die  Grenzen  hinaus,  die  ihnen  durch  die 
alten  Gewohnheiten  der  prosaisch-poetischen  Erzählungsform  ge- 
zogen sind '). 

Ich  werde  weiter  unten  einige  Jätakaabschnitte  epischen  Pa- 
rallelen gegenüberstellen  um  so  noch  näher  zu  veranschaulichen, 
wie  die  Figuren  des  Jätaka,  anders  als  die  epischen  mit  ihren 
wenigstens  vergleichsweise  freien  und  mannigfaltig  nuancierten 
Haltungen,  in  unbehilflicher  Geradheit  und  Steifheit  dazustehen 
pflegen,    wie  ihre  Bewegungen  und  Äußerungen  weniger   von  den 


s 

I 


enthalten   (ähnliches  nicht  selten  im  Epos),    weise  ich  hier   nur   hin   ohne   näher 
darauf  einzugehen. 

1)  Ganz  ausnahmslos  ist  das  freilich  nicht.  Eine  bemerkenswerte  Ausnahme 
liefert  der  Ausgang  des  Vessantarajätaka  (547) :  die  Beschreibung  des  Heeres- 
zugs, der  sich  nach  der  Einsiedelei  des  Vess.  hinausbewegt,  und  der  Vorgänge 
dort.  Weiter  weise  ich  auf  Nr.  535  hin.  Soll  man  diesen  Ausnahmen  auch  die 
doch  nur  kurze  Beschreibung  der  Umgebungen  zurechnen,  in  denen  der  Chad- 
danta-Elefant  lebt,  und  des  Elefanten  selbst  (514,  19flf.)?  Dieselbe  Beschrei- 
bung war  vorher  in  einer  Rede  gegeben,  und  die  Absicht  ging  offenbar  dahin 
auszuführen,  daß  Alles  in  Wirklichkeit  so  war,  wie  jene  Rede  es  angezeigt 
hatte.  —  Aus  dem  hier  Gesagten  scheinen  sich  mir  manche  Erscheinungen, 
die  sonst  auffallen  würden,  zu  erklären.  Beispielsweise  daß  man  im  Alam- 
busaj.  (Nr.  523)  von  der  Schönheit  der  Apsaras  eingehender  erst  hört,  als  der 
Asket  Gelegenheit  hat  in  seiner  Rede  diese  zu  schüdern  (v.  14  ff.).  Oder  daß 
im  Vidhurapaijditaj.  (Nr.  545)  die  üppige  Pracht  von  Varupas  Wohnung  und  die 
Schönheit  der  Vimalä  nicht  im  Zusammenhang  der  ersten  Szene  zwischen  diesem 
Gattenpaar  (v.  1  ff.)  beschrieben  wird,  sondern  erst  v.  25ff. :  da  erst  findet  sich 
bequeme  Möglichkeit,  diese  Beschreibung  in  einer  Rede  (des  Punijiaka  an  Kuvera) 
zu  geben. 


450  H.  Oldenberg, 

besonderen  Motiven  der  jedesmaligen  Situation  regiert  und  zu 
deren  charakteristischem  Ausdruck  gestaltet  werden,  als  sie  viel- 
mehr in  jedem  Einzelfall  eben  nur  das  allgemeine  Schema  wieder- 
holen. Hier  möchte  ich  noch,  was  das  gegenseitige  Verhältnis 
dieser  einzelnen  Elemente  des  Ganzen  zu  einander  anlangt,  etwas 
näher  auf  den  schon  bei  Gelegenheit  der  eben  erwähnten  Waldes- 
schilderungen (S.  449)  berührten  Zug  eingehen,  daß  man  —  wofür 
ja  Parallelen  aus  der  Geschichte  der  bildenden  Künste  nah  liegen 
—  jetzt  in  vielen  Beziehungen^)  noch  nicht  darüber  hinausgekom- 
men ist,  jene  Elemente  in  primitiver  Unabgestuftheit  gleichberech- 
tigt neben  einander  aufzureihen,  ohne  Unterscheidung  von  Vorder- 
grund und  Hintergrund,  von  Bedeutsamem  und  Unwesentlichem. 
Wie  Jüjaka  (in  Nr.  547)  dazu  kommt,  Vessantaras  Kinder  haben 
zu  wollen,  und  was  ihm  beim  Suchen  nach  dessen  Wohnsitz  be- 
gegnet, wird,  obwohl  es  nach  unsern  Maßstäben  durchaus  Neben- 
handlung ist,  doch  mit  derselben  eingehenden  Sorgfalt  dem  Hörer 
vorgeführt,  wie  dann  die  entscheidenden  Ereignisse  in  der  Ein- 
siedelei '').  Dasselbe  gilt  im  Bhüridattajätaka  (Nr.  543)  von  den 
verwickelten  Wegen,  auf  denen  der  Held  der  Geschichte  ins  Da- 
sein kommt  ^),  oder  auf  denen  der  schlangenbändigende  Brahmane 
in  den  Besitz  des  zauberkräftigen  Steines  gelangt.  Ein  Vorgang, 
der  so  ganz  und  gar  nicht  zu  den  wirklichen  Faktoren  der  Hand- 
lung gehört  wie  der  Austausch  der  Höflichkeitsformeln  zwischen 
zwei  einander  begegnenden  Personen,  wird,  genau  wie  in  der 
hieratischen  Prosa  der  Buddhisten,  immer  wieder  mit  derselben 
Sorgfalt  verzeichnet,  so  ausführlich,  als  handelte  es  sich  um  die 
Kundgebung  bedeutsamsten,  folgenreichsten  Empfindens.  Immer 
wieder,  wenn  ein  König  angeredet  wird,  die  Frage,  ob  sein  Reich 
in  Blüte  steht  und  gerecht  regiert  wird,  ob  die  Beamten  sich 
tadellos  benehmen,  ob  die  königliche  Gemahlin  freundlich  redend 
und  folgsam,  reich  an  Kindern  und  Schönheit  ist;  wenn  es  sich 
um  einen  Waldein  siedler  handelt,  ob  er  hinreichende  Nahrung  an 
Wurzeln  und  Früchten  findet,  ob  Fliegen  und  Mücken  ihn  nicht 
belästigen,    die   wilden  Waldtiere   ihm   keinen  Schaden  tun.     Ja 


1)  Ohne  solche  Einschränkung  kann  eine  derartige  Behauptung,  wie  man  be- 
greifen wird,  nicht  ausgesprochen  werden.  Schon  die  Verwendung  der  Verse 
neben  und  zwischen  der  Prosa  schließt  ja  unvermeidlich  eine  gewisse  Hervor- 
hebung des  einen  vor  dem  andern  ein. 

2)  Man  betrachte  etwa  die  Reden  der  Weiber  gegen  Jüjakas  Gattin  (Nr.  547, 
V.  267—279),  oder  J.s  Suchen  im  Walde  (das.  v.  304—314). 

3)  Vollends  wenn  man  das  allein  im  Kommentar  Erzählte,  durch  die  Verse 
nicht  Gewährleistete  mitrechnet. 


Jätakastudien.  451 

sogar  wie  Papagei  und  Starenweibchen  sich  begegnen,  fehlen  die 
entsprechenden  Fragen  nicht  (Kr.  546,  27  f. ;  vol.  VI,  p.  418).  Auch 
das  Epos  geht  an  der  Verzeichnung  solcher  Höflichkeitsbezeigungen 
nicht  vorüber.  Aber  gegenüber  der  starren,  unerbittlichen  Aus- 
führlichkeit des  Jätaka  hat  es  doch  merkliche  und  bezeichnende 
Fortschritte  in  freierer  und  zugleich  zurückhaltenderer  Behand- 
lung dieser  Dinge  gemacht  ^). 


1)  Ich  füge  hier  noch  einige  Bemerkungen  die  Komposition  der  Jätakas  be- 
treffend an,  die  nur  rein  vorläufig  an  weitere  Probleme  rühren  mögen. 

Die  Fähigkeit,  eine  lange,  komplizierte  Reihe  von  Vorgängen  festzuhalten,  hat 
schon  jetzt  eine  bemerkenswerte  Höhe  erreicht.  Man  darf  bezweifeln,  daß  in  der 
Brähmanazeit  Ähnliches  unternommen  worden  und  gelungen  wäre,  wie  in  dieser  Hin- 
sicht im  Vidhurapai;i(litaj.  (Nr.  545)  oder  im  Mahäummaggaj.  (546)  geleistet  ist.  Daß 
dabei  Nebenhandlungen  sich  leicht  unverhältnismäßig  vordrängen,  wurde  eben  be- 
merkt ;  ein  gewisser  wenn  auch  oft  lockerer  Zusammenhang  der  Teile  unter  einander 
bleibt  doch  wohl  immer  gewahrt.  Als  Ausnahme  könnte  man  das  Sudhäbhojanaj. 
(535)  anführen,  wo  die  Bekehrung  des  Geizhalses  und  das  Parisurteil  zwischen 
den  vier  Göttinnen  in  der  Tat  nichts  mit  einander  zu  tun  haben.  Aber  wie  die 
Anfangsworte  des  Kommentars  zu  Nr.  535  ergeben,  fing  dies  Jätaka  erst  mit  v.  22 
an.  Der  vorangehende  Teil  bildete  das  Kosiyaj.  (Nr.  470,  vgl.  Dutoit,  Kuhn- 
Festschrift  351) :  womit  jene  beiden  Geschichten  reinlich  aus  einander  ge- 
schnitten sind. 

Anfänge  der  Einschachtelung  einer  Geschichte  —  oder,  auf  bekannte  jüngere 
Gebilde  hindeutend,  ganzer  Geschichtenreihen  —  in  eine  andre  finden  sich  schon 
jetzt,  worin  sich  die  spätere  Technik  freilich  erst  vorbereitet.  So  im  Indriyaj. 
(Nr.  423),  dem  Padakusalamänavaj.  (Nr.  432),  dem  Takkäriyaj.  (Nr.  481),  dem 
Mahäsutasomaj.  (Nr.  537),  wobei  es  für  uns  gleichgiltig  ist,  ob  Watanabe  mit 
Recht  in  seiner  wertvollen  Studie  über  dies  Jätaka  die  betreffenden  Partien  dessen 
ursprünglicher  Gestalt  abspricht  (JPTS.  1909,  257.  264);  schon  in  der  Versschicht 
der  Pälifassung  erweisen  sie  sich  jedenfalls  als  vollberechtigt.  Anders  im  Ma- 
häummaggaj. (546):  wie  wieder  die  Anfangsworte  des  Kommentars  ergeben,  ge- 
hören die  eingelegten  Geschichten  so  wenig  wie  die  ganze  Vorgeschichte  der 
kanonischen  Fassung  an  (richtig  darüber  Dutoit  a.  a.  0.  352;  danach  ist  es  be- 
greiflich, daß  die  Inschrift  von  Bharhut  das  ymmmajhakiyam  als  besonderes  J. 
nennt).  Im  Kuriälajätaka  (536)  sind  die  ausführlichen  Geschichten  von  schlechten 
Frauen  Kommentar,  nicht  Text.  Dem  eigentlichen  Text  gehören  nur  kurze  Hin- 
weise auf  die  betreffenden  Vorfälle  an;  von  eingelegten  Gescliicbten  kann  man  da 
nicht  sprechen.  Ich  verzeichne  bei  dieser  Gelegenheit,  was  in  dem  in  Betracht 
kommenden  Teil  des  Jätaka  (vol.  V  p.  424—444  der  Ausgabe)  Text  ist :  424, 15 — 
425,  25;  432,  31—435,  25;  440,  12-15;  444,  3—6;  25—28. 

„Einsträngigkeit"  der  Erzählung  liegt  keineswegs  immer  vor.  Ich  erinnere 
aus  dem  Bhüridattaj.  an  das  Hinüberspringen  von  den  Erlebnissen  Bhüridattas, 
seiner  Gefangennahme,  zu  den  Vorgängen  in  seiner  Familie  (Nr.  543,  v.  64.  65), 
aus  dem  Vessantaraj.  an  die  Erzählung  aus  dem  häuslichen  Leben  des  Jüjaka 
(Nr.  547,  v.  265  ff.). 

Auch  das  Gesetz,  das  man  für  die  Volksepik  aufgestellt  hat,  daß  höchstens 
zwei  Personen  zugleich  auftreten,  gilt  hier  nicht. 


452  H-  Oldenberg, 

Refrain  und  Verwandtes.  Ein  wichtiges,  meist  sehr 
hervortretendes  stilistisches  Charakteristikum  der  Jätakaverse  zu 
beobachten  gibt  uns  gerade  das  Chaddantajätaka,  von  dem  wir 
ausgingen,  zufälligerweise  wenig  Gelegenheit:  die  oft  durch  lange 
Versreihen  gehende  Wiederholung  des  gleichen  Wortlauts  im  Aus- 
gang oder  Eingang  der  Strophe,  den  Refrain  und  Gegenrefrain. 

Es  wäre  von  Interesse,  die  vedische  Vorgeschichte  der  bud- 
dhistischen Refraintechnik  einmal  im  Zusammenhang  zu  verfolgen. 
Im  Rgveda  spielt  das  samänodarka  bz.  das  samänaprahkrti  keine 
sehr  große  Rolle.  Eine  weit  erheblichere  im  Atharvaveda:  inwie- 
weit das  auf  dem  Streben  nach  magischer  Wirkung  des  immer 
wiederholten  Wortlauts  beruht,  inwieweit  auf  zunehmender  Ge- 
wöhnung das  Lied  als  Ganzes,  beim  einen  Vers  den  andern  be- 
rücksichtigend zu  gestalten,  soll  hier  nicht  untersucht  werden. 
In  den  Dialogversen  der  Sunahsepaerzählung  findet  sich  der 
Refrain  nicht  ^).  Dagegen  spielt  er  und  auch  der  Gegenrefrain 
eine  nicht  unbedeutende  Rolle  im  Suparnädhyäya :  ich  hebe  hervor, 
wie  auf  diese  Weise  dem  Gebot  der  Schonung  gegen  den  Brah- 
manen  {sa  hrähmanas  tarn  sma  mä  han  garutman  17,  1  f.) ,  dem  ent- 
rüsteten Erstaunen  Indras,  daß  ihm  der  Soma  hat  entführt  werden 
können  {yan  ma  indum  haraü  Vainateyah  23,  3  ff.),  Kachdruck  ver- 
liehen wird.  Aus  den  alten  Resten  des  prosaisch-poetischen  Ma- 
häbhärata  erwähne  ich,  von  Unerheblicherem  absehend,  die  nach- 
drückliche Wiederholung  des  Pada  hhUam  prapannam  yo  hi  dadäti 
satrave  in  der  Szene  von  König,  Falk  und  Taube  (III,  13 284 ff.): 
jedesmal  der  dritte  Päda  der  vierreihigen  Strophe,  also  ein  Mittel- 
refrain. 

Man  sieht  aus  alldem,  daß  —  was  ja  auch  ohnedies  in  Anbe- 
tracht der  uralten,  weltweiten  Verbreitung  des  Refrains  selbst- 
verständlich ist^j  —  diese  Vers  Verzierung  im  alten  Indien  keines- 
wegs nur  den  Buddhisten  ^)  angehört.  Aber  allerdings  erscheint 
sie  wohl  kaum  irgendwo   in  der  indischen  Literatur  so  überhäufig 


Weiteres  Eingehen  auf  Fragen  die  Kompositionstechnik  der  Jätakas  be- 
treffend muß  künftigen  Untersuchungen  vorbehalten  werden. 

1)  Das  upehi  putratäm  mit  dem  dann  zweimal  folgenden  iipeyäm  tava  pu- 
tratäm  Ait.  Br.  VII,  17,  5f.  wird  man  kaum  als  solchen  ansehn. 

2)  Man  vergleiche  hierüber  Rieh.  M,  Meyer,  Über  den  Refrain,  Zschr.  f. 
vgl.  Literatur ges eh.  I,  34  ff. 

3)  Noch  weniger  speziell  der  Pälitradition  des  Buddhismus.  An  Beschrän- 
kung der  Erscheinung  auf  diese  wird  ein  Einsichtiger  kaum  denken.  Die  Ver- 
weisung etwa  auf  das  Kusajätaka  in  seiner  nordbuddhistischen  Gestalt  (Mahävastu) 
würde  zur  Widerlegung  genügen. 


Jätakastudien.  453 

wie  eben  hier.  Ihr  Auftreten  in  buddhistischen  Äkhyänaversen  gehört 
offenbar  zusammen  mit  ihrem  allgemeinen  Gebrauch  in  der  buddhi- 
stischen Poesie,  in  der  dogmatischen  und  moralisierenden  so  gut  wie 
in  der  erzählenden  oder  dialogischen.  Und  weiter:  daß  in  dieser 
Poesie  jene  Figur  zu  so  besonderer  Greltung  gelangt  ist,  kann 
kaum  außer  Zusammenhang  mit  der  Eigenart  auch  der  altbuddhi- 
stischen hieratischen  Prosa  stehen.  Diese  Prosa  und  ihren  Zu- 
sammenhang mit  dem  Gesammthabitus  des  buddhistischen  geistlichen 
Lebens  zu  beschreiben  habe  ich  anderwärts  versucht  ^) :  diese  in 
unabänderlich  festen  Bahnen  sich  bewegende  Diktion,  die  beständig 
genau  parallele  Sätze  oder  Satzgruppen  an  einander  reiht,  oft  so, 
daß  mehrere  derartige  Systeme  auf  einander  folgen,  jedes  in  sich 
durch  dieselbe  starre  Einerleiheit  seiner  Glieder  zusammenge- 
schlossen. Wo  der  einzelne  Prosasatz  —  ähnlich  wie  der  einzelne 
buddhistische  Mönch  —  so  ganz  und  gar  nicht  seine  eigene,  frei 
seiner  Natur  gehorchende  Individualität  besitzt,  sondern  genau  wie 
der  Satz  vor  ihm  und  wie  der  Satz  nach  ihm  das  ihnen  allen  ge- 
meinsame, unabänderliche  Schema  zu  verwirklichen  verpflichtet 
wird,  da  ist  es  begreiflich,  daß  auch  die  Poesie  auf  das  stärkste 
dazu  neigt,  eine,  wie  wir  sahen,  ohnehin  vorhandene  Tendenz  stei- 
gernd, in  Versreihen  voll  Wiederholungen  je  nach  dem  Zusammen- 
hang bald  des  Eingangs,  bald  des  Ausgangs,  oft  von  mehr  als 
nur  dem  einen  oder  dem  andern,  sich  zu  ergehen.  Der  Refrain 
wirkt  hier  also  keineswegs  allein  als  lyrisches  oder  musikalisches 
oder  der  Erzählung,  der  Schilderung,  dem  Didaktischen  Akzente 
mitteilendes  Element;  mindestens  ein  Teil  seiner  Geltung  ist  von 
andrer  Natur  und  Herkunft. 

Im  eben  Gesagten  ist  nun  schon  auf  die  weitgehende  Ver- 
schiedenheit der  Formen  hingedeutet,  in  welchen  die  refrainartigen 
Wiederholungen  erscheinen.  Zuweilen  ist  das  wiederholte  Glied 
ganz  kurz :  so  das  vers-  oder  halbverseröffnende  tatW  addasäj  mit 
dem  im  Chaddantajätaka  (v.  19.  20.  21)  beschrieben  wird,  wie  der 
Jäger  alles  das  sieht,  was  ihm  die  Königin  vorher  angegeben  hat. 
Vielfach  umfaßt  die  Wiederholung  einen  Päda  des  Metrums  oder 
auch  ein  Hemistich.  Nicht  selten  aber  sind  ganze  Verse  reihen- 
weise mit  einander  identisch  —  bis  eben  auf  einen  wie  auch  immer 
gestellten  Ausdruck,  auf  dem  die  Verschiedenheit  von  Vers  und 
Vers  beruht.  Ahnlich  der  eben  inbezug  auf  die  Prosa  hervorge- 
hobenen Besonderheit  lösen   sich  inmitten  längerer  Abschnitte  oft 


I 


1)  „Zur  Geschichte  der  altindischen  Prosa"  39  ff.    Dort  S.  32  über  die  Vor- 
stufe des  betreffenden  Stils  in  den  Upanisaden. 


454  H.  Oldenberg, 

mehrere  durch  K-efrains  oder  solche  Identitäten  zusammengehaltene 
Systeme  ab,  wobei  deren  Struktur,  wenn  man  das  eine  System 
mit  dem  andern  vergleicht,  keineswegs  symmetrisch  zu  sein  braucht. 
Zuu  Veranschaulichung  davon,  wie  viele  verschiedene  Figuren  sich 
hier  durch  einander  wirren  können,  analysiere  ich  aus  dem  Ves- 
santarajätaka  v.  108 — 133  die  Klagen  der  Königin  darüber,  daß 
Vessantara  mit  der  Grattin  in  den  Wald  verbannt  werden  soll  (ich 
bezeichne  die  vier  Pädas  des  Verses  mit  a,  h,  c,  d).  v.  108 — 109 
unter  einander  gleich  bis  auf  kleine  Variante  in  h.  v.  110—111  = 
108 — 109,  doch  kleine  Variante  jenen  gegenüber  in  a,  in  welchem 
Päda  diese  Verse  immer  zu  je  zweien  unter  einander  gleich  sind. 
v.  112  ah  neu  und  für  sich  alleinstehend,  cd  den  vorangehenden  Versen 
gleich;  im  Übrigen  dann  die  Verse  bis  117  nur  durch  ungefähre 
Ähnlichkeiten  zusammengehalten.  118 — 120,  121—123  je  drei  Verse, 
von  denen  immer  der  letzte  ein  überschüssiges  Hemistich  hat;  die 
zweite  Triade  auch  durch  das  eröffnende  yässu  in  sich  zusammen- 
gehalten; im  Übrigen  innerhalb  jeder  Triade  verschiedene,  teil- 
weise weitgehende  Entsprechungen  in  wechselnden  Piguren  ^).  124 
—126  in  ah  gleich;  125  und  126  auch  in  d.  127—129  die  Ver- 
gleichung  von  124* — 126*  durch  andre  Vergleichung  ersetzend, 
sonst  die  vorangehenden  drei  Verse  mit  ihren  Grleichheiten  und 
Ungleichheiten  genau  wiederholend.  130-132  wieder  neue  Ver- 
gleichung, diesmal  das  ganze  erste  in  den  drei  Versen  identische 
Hemistich  umfassend;  die  drei  zweiten  Hemistiche  wiederholen  die 
der  vorangehenden  beiden  Verstriaden.  Endlich  133  für  sich 
stehender  Schlußvers.  Man  sieht,  daß,  wenn  der  Gebrauch  von 
Refrains  und  dgl.,  insonderheit  in  solchem  Umfang  wie  hier,  eine 
Tendenz  starker  Stilisierung  der  Rede  in  sich  schließt,  doch  ander- 
seits wieder  diese  Symmetrien  mit  recht  naturwüchsiger  Unsym- 
metrie  gehandhabt  werden :  ein  für  die  Charakteristik  dieser  Künst- 
lichkeiten nicht  unwesentlicher  Zug  ^).    Besondere  Beachtung  scheint 

1)  Im  Vorübergeben  ein  Wort  über  den  Text  von  v.  123  yässu  Indassa 
gottassa  ulukassa  pavassato  sutväna  nadato  bhltä  .  .  .  pavedhati.  Es  handelt  sich 
darum,  daß  die  Fürstin  sogar  ein.en  Eulenschrei  nicht  hören  kann  ohne  zu  er- 
schrecken. Was  soll  da  Indassa  gottassa?  Die  Cambridger  Übersetzung  „she  who 
of  Indra's  royal  race'^  geht  offenbar  fehl.  Nicht  die  Fürstin ,  sondern  die  Eule 
(als  Kausika)  ist  Indras  Geschlechtsgenossin.  Daß  dies  die  Pointe  ist,  hat  schon 
Dutoit  als  möglich  erkannt.  Nur  ist  es  nicht  blos  möglich,  sondern  evident. 
Weiter  aber  ist  evident,  daß  dann  zu  lesen  ist  indasagottassa ;  vgl.  Nr.  535  v.  95. 
In  JPTS.  1909,  20  ist  der  Sachverhalt  offenbar  erkannt. 

2)  Als  bezeichnende  Beispiele  von  Unregelmäßigkeit  hebe  ich  noch  hervor 
Nr.  532,  118  ff.  (Setzung  und  Nichtsetzung  des  Refrains  Tco  eti  siriyä  jalani);  Nr. 
531,  37  ff.  (desgl.  von  gayhä  valco  gacchati  yenakämam). 


Jatakastudien.  455 

mir  die  hier  deutlich  erkennbare  Neigung  zur  Trcabildung  zu  ver- 
dienen. Anderwärts  wiederum  zeigt  sich  die  nicht;  wo  etwa  das 
zwischen  den  zusammengehörigen  Versen  wechselnde  Element  seiner 
Natur  nach  auf  eine  andre  Zahl  führt,  doch  oft  auch  ohne  der- 
artige Nötigung  finden  sich  statt  der  Dreiheiten  andre  Gruppie- 
rungen. Im  vorliegenden  Fall  aber  kann  die  deutliche  Charakte- 
risierung von  V.  118 — 132  als  fünf  Triaden  unmöglich  Zufall  sein  ^). 
Man  wird  an  den  Aufbau  vedischer  Trcalieder  erinnert ;  und  wenn 
dann  auf  die  Trcareihe  ein  einzelner  Schlußvers  folgt,  stimmt  auch 
dies  zu  weitverbreitetem  vedischem  Gebrauch^). 

Man  durchblättere  irgend  ein  versreicheres  Jätaka  wie  z.  B. 
das  von  Vessantara :  man  gewinnt  leicht  eine  Vorstellung  von  der 
außerordentlich  starken  Vorliebe,  mit  der  die  hier  beschriebenen 
Figuren  verwandt  werden.  Die  leiseste  Möglichkeit,  eine  Vor- 
stellung durch  mehrere  Synonyma  oder  ungefähre  Synonyma  aus- 
zudrücken und  ähnliche  Sachlagen  genügen  den  Poeten  als  Anlaß 
zu  ermüdend  inhaltsarmer  Aneinanderreihung  verschiedener  Verse, 
die  im  Übrigen  identisch  sich  nur  durch  die  Setzung  jetzt  des 
einen,  jetzt  des  andern  jener  Ausdrücke  unterscheiden :  so  Nr.  547 
V.  39.  40  zwei  Verse  aus  je  drei  Hemistichen,  in  denen  nur  das 
Schlußwort  oraso  bz.  atrajo  wechselt;  manches  derartige  in  der 
langen  Rede  das.  v.  76  ff.  und  öfter.  Derartige  Stellen  lassen 
empfinden,  wie  ganz  diese  Variationen  zur  Manier  geworden  sind. 
Von  der  Wucht  und  Tiefe  der  Wirkung,  die  dem  Refrain  eigen 
sein  kann,  ist  da  nichts  zu  spüren. 

Wiederholungen  der  beschriebenen  Art  finden  sich  nicht  nur 
im  Innern  derselben  Rede,  sondern  auch  im  Dialog  zwischen  Rede 
und  Gegenrede  (z.  B.  Nr.  443  v.  4.  5 ;  man  berücksichtige  auch 
das  Verhältnis  zu  v.  2.  Weiter  Nr.  455  v.  5.  6;  Nr.  458  v.  11. 
12  und  sonst  häufig).  Ebenso  in  erzählenden  u.  dgl.  Verspartien 
(z.  B.  Nr.  457  v.  10.  11;  Nr.  538  v.  50.  53;  Nr.  539  v.  116 ff.; 
Nr.  545  V.  181  ff.  usw.),  oder  auch  zwischen  Rede  und  Erzählung 
(Nr.  530  V.  8.  10).  Ja  sogar  verschiedene  einversige  Jätakas 
können  durch  derartige  Entsprechung  ihrer  Verse  auf  einander 
bezogen  werden  (Nr.  51.  52;  59.  60). 

Zu  den  Umständen,  welche  die  Anwendung  dieser,. Figur  be- 
günstigten,  gehört,   neben   der  schon  oben  hervorgehobenen  allge- 

1)  Als  andre  Beispiele  in  die  Augen  fallender  Trcabildung  führe  ich  an  Nr. 
504  Y.  5—7;  22—24:  der  zweite  Fall  der  oben  S.  438  besprochene,  wo  der  Trca 
aus  der  Haupterzählung  in  die  Rahmenerzählung  hinüberreicht.  Weiter  Nr.  539, 
Y.  116—118;  119—121. 

2)  Siehe  meine  Prolegomena  134  f. 


456  H.  Oldenberg, 

meinen  Tendenz  der  buddhistisclien  literarischen  Formgebung, 
speziell  wohl  auch  der  prosaisch-poetische  Aufbau  dieser  Erzäh- 
lungen. Indem  Reden,  in  diesen  enthaltene  Beschreibungen  u.  dgl. 
nicht  in  den  Gesammtfluß  der  Erzählung  aufgelöst  wurden,  be- 
günstigte die  Sonderstellung  dieser  Schmuckstücke,  daß  man  sie 
in  sich  zu  besonders  scharf  ausgeprägten  selbständigen  Einheiten 
zusammenschloß:  und  eben  solchen  Zusammenschluß  verwirklichte 
der  Refrain  in  sichtbarster  Weise.  Über  das  alles  aber  scheint 
mir  ein  bedeutsamer  Faktor  in  der  altertümlichen  Unfreiheit  des 
künstlerischen  Empfindens  zu  liegen,  die  sich  hier  verrät.  Wie 
auf  so  vielen  Denkmälern  archaischer  bildender  Kunst  die  Einzel- 
figur noch  nicht  ihre  eigene  Wesenheit  besitzt,  sondern  unver- 
ändert die  Haltung  der  umgebenden  Figuren  wiederholt,  so  ist  es 
auch  hier.  Die  Bewegung,  in  strenge  Form  eingehend,  ist  in  dieser 
Form  versteinert,  und  in  starrer  Einerleiheit  reihen  sich  so  die 
Grebilde  an  einander,  die  mit  freiem,  wechselreichem  Leben  zu 
durchdringen  diese  Kunstübung  noch  nicht  gelernt  hat. 

Gregenüberstellung  von  Jätakas  und  Abschnitten 
der  Epen:  die  Sy  ämaerzählung.  Ich  versuche  die  im  OT)igen 
beschriebenen  stilistischen  Charakteristika  der  Jatakas  weiter  zu 
veranschaulichen  an  den  Kontrasten  zwischen  diesem  Stil  und  dem 
in  der  großen  Hauptmasse  der  beiden  Epen  herrschenden.  Dazu 
wähle  ich  zunächst  eine  Erzählung,  die  sich  auf  beiden  Seiten  in- 
haltlich im  Wesentlichen  identisch  findet:  die  Greschichte  vom  As- 
ketenknaben, den  der  königliche  Jäger  versehentlich  getroffen  hat, 
Jät.  Nr.  540  und  Räm^yana  II,  cp.  63.  64  ed.  Bombay  ^). 

Gleich  die  ersten  Jätakaverse  sind  charakterisch.  Der  ver- 
wundete Asketenknabe  spricht : 

„Wer  hat  mich  mit  dem  Pfeil  getroffen,  den  sorglosen  Wasser- 
holer?  Ein  Ksatriya,  ein  Brahmane,  ein  Vai^ya?  Wer  bist  du, 
der  du  mich  aus  dem  Versteck  getroffen  hast? 

„Mein  Fleisch  ist  nicht  eßbar.  Meine  Haut  ist  nicht  zu  brau- 
chen. Aus  welchem  Grunde  hast  du  denn  gedacht,  daß  du  mich 
treffen  willst? 


1)  Die  Gestalt  der  Geschichte  im  Mahäbhärata  III,  14 054  ff.  und  im  9.  Ka- 
pitel des  Raghuvaqisa  liegt  weiter  ab.  Im  Rämäya];ia  (R.)  tritt  nicht  selten  noch 
Zusammenhang  mit  den  Gäthäs  des  Jätaka  (J.)  deutlich  hervor.  Vgl.  J.  29  ayam 
ekapadi  räjä,  R.  63,  44  iyam  ekapadl  räjan;  J.  39  adüsaJcä  pitäputtä  tayo  ekü- 
sunä  hatä ,  R.  63,  32  vrddhau  ca  mätäpitaräv  aham  caikesunä  hatali ;  J.  76  ff. 
ha  kincim  ahhibhäsasi,  R.  64,  30  na  ca  mäm  dbhihhäsase ;  J.  85  ho  däni  bhunja- 
yissati  vanamülaphaläni  ca,  R.  64,  34  kandamülaphalam  hrtvä  yo  mäm  .  .  .  hho- 
jayisyati.  —  Die  Fassung  des  Mahävastu  II  p.  209  ff.  219  ff.  heranzuziehen  ist 
unnötig. 


Jätakastudien.  457 

„Wer  bist  du  und  wessen  Sohn?  Wie  sollen  wir  dich  kennen? 
Ich  frage  dich,  Freund,  sag  es  mir:  was  willst  du,  daß  du  mich 
aus  dem  Versteck  getroffen  hast?"  — 

Worauf  der  König  in  ganz  ähnlichem  Ton  antwortet  ^). 

Wie  gleichmütig  klingt  das  alles !  Der  jählings  zum  Tode 
Verwundete  schreit  nicht  auf,  macht  keiner  schreckensvollen  Er- 
regtheit Luft,  oder  wenn  vielleicht  seine  seelische  Erhabenheit  die 
ausschließt,  keiner  Betrachtung  über  den  Weltlauf,  über  das  Herr- 
schen der  Gewalt  u.  dgl.  In  ruhigster,  sachlichster  Sprache  er- 
kundigt er  sich,  wer  geschossen  hat,  ob  ein  Ksatriya  oder  welcher 
Kaste  er  angehört.  Ebenso  sachlich  legt  er  die  Zwecklosigkeit 
solches  Schusses  dar.  Er  braucht  genau  die  auch  sonst,  in  sehr 
anders  gearteten  Situationen,  geläufigen  Wendungen  der  Erkundi- 
gung :  ho  vä  tvam  Icassa  vä  piitto,  Mtham  jänemu  tarn  mayam^  puttJio 
me  samma  alcJchähi. 

Wie  ganz  anders  das  Rämäyana  (63,  25 ff.).  Zuerst  ein  Schrei: 
Ha!  ha!  Und  dann  ein  Erguß  pathetischer  Beredsamkeit.  Auch 
hier  sagt  der  Verwundete  wie  im  Jätaka,  daß  er  dabei  war  Wasser 
zu  holen.  Aber  die  Situation  wird  reich  und  anschaulich  ausge- 
malt: zum  einsamen  Fluß  war  ich  in  der  Nacht  gekommen  Wasser 
zu  holen.  Und  weiter:  wem  habe  ich  nur  etwas  zu  Leide  getan? 
Bin  ich  doch  Asket  —  und  eine  Menge  von  Beiworten  beschreibt 
die  Erscheinung  des  Asketen  und  sein  Wesen,  das  Niemandem 
Schaden  bringen  kann:  nyastadandasya  vane  vanyena  jtvatah  . .  ,  ja- 
tähhäradharasyaita  valkaläjinaväsasah.  Mit  einem  gurutalpaga  wird 
der  Täter  verglichen.  Und  schon  hier  drängt  sich  der  Gedanke 
an  die  hilflosen  Eltern  in  den  Vordergrund:    durch  einen  Schuß 


1)  In  dieser  Antwort  ist  das  dalhadhammo  (so  bezeichnet  sich  der  König 
selbst)  zwar  nicht  vom  Kommentar,  der  das  Richtige  hat,  aber  von  beiden  Über- 
setzern mißverstanden  worden  („stout  is  my  heart  nor  given  to  change",  ^,als 
starker  Mann  bin  ich  bekannt").  Im  vorangehenden  wie  im  folgenden  Satz  rühmt 
der  König  seine  Bogenkunst;  offenbar  liegt  also,  wie  auch  Franke,  Päli  u.  Skt. 
97  erkannt  hat,  Entsprechung  von  Skt.  drdhadhanvan-  vor.  Nach  Geiger,  Päli, 
65  (vgl.  auch  Pischel,  Gramm,  der  Prak.-Sprachen  205)  wäre  dafür  *dalhadhanno 
zu  erwarten,  was  wegen  der  Ähnlichkeit  mit  dhamma  leicht  entstellt  werden 
konnte ,  wie  ja  in  der  Überlieferung  des  Päli  nichts  häufiger  ist  als  Verschie- 
bungen der  Wortgestalt  auf  Grund  derartiger  Ähnlichkeiten.  Doch  scheint  mir 
dialektisches  Eintreten  von  mm  infolge  der  labialen  Natur  des  v  immerhin  nicht 
undenkbar.  Ungefähr  vergleichbar  wäre  das  dialektische  Nebeneinanderstehen 
von  atta-  und  appa-  =  ätman-.  Wie  verhält  es  sich  nun  mit  Bhammantarl  (Jät. 
IV  p.  496)  =  Dhanvantarih'^  Daß  der  in  Rede  stehende  fragliche  Lautwandel 
beidemal  gerade  auf  das  geläufige  dhamma-  führt,  bleibt  doch  verdächtig.  —  Der 
Vers  mit  dalhadhammo  kehrt  in  diesem  Jätaka  noch  mehrfach  wieder. 


45S  H-  Oldenberg, 

sind  wir  alle  drei  getroffen  —  welcher  Tor,  dessen  Ich  die  Leiden- 
schaften nicht  bezwungen  hat,  hat  das  getan? 

Ich  berühre  nur  in  der  Kürze  noch  Folgendes :  gegenüber  der 
immer  sich  gleichbleibenden  Schlichtheit  der  Jätakaverse  die  Klagen 
desb  Knaben  im  Rämäyana,  daß  Tapas  und  Gelehrsamkeit  keinen 
Lohn  finden  —  daß  der  Vater  ihn  nicht  liegen  sieht:  doch  wüßte 
der  von  meinem  Unglück,  könnte  er  ja  doch  nicht  helfen,  so  wenig 
wie  der  Baum  dem  Baum,  der  umgebrochen  wird,  helfen  kann. 
Im  Jätaka  die  Botschaft  des  Knaben  an  seine  Eltern:  ^, Meiner 
Mutter  und  meinem  Vater  richte,  wie  ich  es  dir  auftrage,  meine 
Ehrfurcht  aus."  Im  Rämäyana  wie  viel  effektvoller:  „Grehe  hin 
und  erwirke  seine  (des  Vaters)  Gnade,  damit  er  nicht  im  Zorn 
dich  verfluche!"  Und  dann  im  Jätaka  kurz  und  einfach:  „Als 
Säma  so  gesprochen,  der  Jüngling  schön  anzuschauen,  betäubte 
ihn  des  Gifts  Gewalt,  und  ihm  schwanden  die  Sinne."  Dagegen 
im  Rämäyana  wortreiche  Beschreibung,  wie  dem  am  Boden  sich 
Windenden  der  Pfeil  herausgezogen  wird,  wie  er  zitternd  den 
König  anblickt  und  aus  dem  Leben  scheidet. 

Nur  eine  Verspartie  auf  beiden  Seiten,  ein  Hauptstück  des 
Ganzen,  stelle  ich  noch  gegenüber,  ehe  ich  diese  Erzählung  ver- 
lasse: die  Klagen  der  Eltern,  die  der  König  zum  Körper  Syämas 
geführt  hat  (J.  72ff.,  R.  64,  30  ff.).  Im  Jätaka  14  Strophen,  zer- 
fallend in  drei  Gruppen,  jede  in  der  oben  beschriebenen  Weise 
bis  auf  den  Wechsel  eines  Worts  oder  eines  Versteils  Strophe  für 
Strophe  sich  wörtlich  wiederholend,  z.B.:  „Gewiß  bist  du  einge- 
schlafen (dafür  in  den  folgenden  Versen:  gestört,  verwirrt,  erzürnt 
usw.),  Säma  schön  anzuschauen,  daß  du  heut,  wie  die  Zeit  hinge- 
gangen ist,  nicht  zu  uns  redest ^^  ^).  Und  dann :  „Wer  wird  jetzt 
den  Besen  nehmen  und  die  Einsiedelei  kehren?  (dafür  im  Fol- 
genden: Wer  wird  uns  jetzt  mit  kaltem.  Wasser  und  mit  warmem 
waschen?  Wer  wird  uns  jetzt  mit  den  Wurzeln  und  Früchten 
das  Waldes  speisen?).  Unser  Säma  ist  hingegangen,  der  für  uns 
Blinde  sorgte!"  Auch  hier  alles  schlicht  und  kindlich,  die  Ge- 
schäfte des  alltäglichen  Kleinlebens  mit  eingehender  Sorglichkeit 
bedenkend.  Welch'  andern  Flug  nimmt  die  Beredsamkeit  des  Rä- 
mäyana !  Manche  der  eben  aufgeführten  Motive  des  Jätaka  kehren 
auch  hier  wieder  ^),  aber  in  wie  andrer  Form !    So  die  Vorstellung, 

1)  Die  englische  Übersetzung  zieht  die  14  Strophen  in  vier  zusammen,  „as 
they  are  füll  of  repetitions".  Vom  echten  Aussehen  des  Originals,  zu  dem  nun 
einmal  eben  diese  Wiederholungen  gehören,  geht  dadurch  doch  Wesentliches  ver- 
loren. 

2)  Baß  dem  Epos  in  irgend  einer  Fassung  die  altertümlichen  Verse  vorge- 


i 


Jätakastudien.  459 

der  Sohn  könnte  erzürnt  sein:  „Was  bist  du  denn  erzürnt?  Bin 
ich  dir  vielleicht  nicht  lieb ,  mein  Sohn  ?  So  sieh  doch  deine 
Mutter  an,  die  gute!  Warum  umarmst  du  sie  nicht,  mein  Sohn? 
So  sprich  doch  ein  freundliches  Wort!"  Oder  die  Sorge,  wer  sich 
nun  um  das  Mahl  kümmern  wird:  „(Wer  ist  es,)  der  Knollen, 
Wurzeln  und  Früchte  nehmen  und  wie  einen  lieben  Gast  mich 
speisen  wird,  der  ich  zu  allem  Tun  ungeschickt  bin,  lenkerlos  und 
führerlos?"  Man  sieht,  wie  die  einfache  Vorstellung  des  andern 
Textes  hier  bereichert,  nuanciert^  mit  Akzenten  versehen  ist.  Dazu 
kommt  nun  aber  in  K.  weiter  eine  Fülle  mannigfacher  neuer  Fi- 
guren von  Gedanken  und  Ausdruck.  Wessen  Stimme  zu  Herzen 
gehend  werde  ich  beim  Kommen  des  Morgens  hören,  wenn  er  ein 
Lehrbuch  oder  sonstige  Weisheit  vorträgt  ?  Bleib  hier,  geh  nicht,  geh 
nicht,  mein  Sohn,  in  des  Todes  Reich!  Morgen  wirst  du  mit  uns  gehen, 
wenn  du  dich  erholt  hast,  mit  mir  und  mit  deiner  Mutter !  Von 
dir  verlassen  werden  wir  beide  in  Yamas  Reich  hinabsteigen  — 
und  weiter,  was  dann  der  Vater  zum  Totengott  sagen  wird,  und 
zu  welchen  Himmeln  der  Sohn  eingehen  soll,  welche  berühmten 
Könige  dort  wohnen,  welche  Guttäter  dort  den  Lohn  ihrer  Werke 
empfangen.  Jetzt  Frage,  jetzt  Mahnung,  jetzt  phantastisches 
Voraussagen  kommenden  Geschehens,  jetzt  Gebet  —  fortwährend 
bunter  Wechsel  der  einander  drängenden  Motive,  der  Stellungen, 
die  der  Redende  einnimmt.  Hält  man  das  neben  die  eintönige 
Stilisiertheit  des  Jätaka,  sein  unentwegtes  Feststehen  auf  dem- 
selben Punkt  und  Wiederholen  derselben  abgezirkelten  Bewegungen, 
so  wird  man  empfinden,  wie  jene  Rede  in  diesem,  diese  in  jenem 
Text  schlechterdings  undenkbar  sein  würde  ^).  — 

Zur  Bestätigung,  daß  wir  uns  nicht  durch  zufälliges  Aussehen 
willkürlich  gewählter  Probestücke  täuschen  lassen,  stelle  ich  noch 
einen  andern  Jätakaabschnitt  einem  epischen  gegenüber.  Die  Si- 
tuation auf  beiden  Seiten  ist  nicht  dieselbe,  aber  doch,  scheint 
mir,  verwandt  genug,  um  Vergleichung  zuzulassen.  Maddi  kommt 
zur  Waldeinsiedelei  zurück ;  ihre  beiden  Kinder  sind  verschwunden  ; 
sie  bricht  in  Klagen  aus  (Nr.  547,  v.  546  if.).  Damayanti  erwacht 
im  Walde;  ihr  Gatte  ist  verschwunden;  sie  'bricht  in  Klagen  aus 
(Nala  Kap.  11). 

legen  haben,  die  wir  aus  dem  Jätaka  kennen  lernen,  ist  wahrscheinlich;  vgl.  oben 
S.  456  Anm.  1. 

1)  Daß  speziell  der  Refrain,  dessen  Auftreten  und  Nichtauftreten  hier  als 
ein  unterscheidendes  Charakteristikum  zwischen  den  beiderseitigen  Reden  hervor- 
gehoben wurde,  im  Übrigen  dem  Epos  keineswegs  prinzipiell  fremd  ist,  übersehe 
ich  natürlich  nicht.  Aber  wie  gering  ist  dort  seine  Geltung  verglichen  mit  der 
im  Jätaka! 


460  H.  Oldenborg, 

„An  dieser  Stelle'',  sagt  MaddT,  stehen  sonst  die  Kinder  staub- 
bedeckt. Sie  sind  mir  entgegengekommen,  wie  junge  Kälber  der 
Mutter. 

„An  dieser  Stelle  stehen  sonst  die  Kinder  staubbedeckt.  Sie 
sind  mir  entgegengekommen,  wie  Schwäne  über  den  Teich. 

„An  dieser  Stelle  stehen  sonst  die  Kinder  staubbedeckt.  Sie 
sind  mir  entgegengekommen  nicht  weit  von  der  Einsiedelei. '' 

Solche  Wiederholungen,  wenn  auch  größtenteils  nicht  so  weit 
getrieben,  gehen  auch  durch  das  Folgende  durch.  Die  nächsten 
zehn  Strophen  schließen  sämmtlich  mit  der  Zeile:  ,, Heute  sehe  ich 
die  Kinder  nicht,  Jäli  und  Kanhajinä  beide'',  oder  mit  den  Worten : 
„Ich  sehe  die  Kleinen  nicht"  ^)  —  Strophe  für  Strophe  einfache, 
anmutig  zarte  Bilder  aus  dem  Kleinleben  von  Mutter  und  Kindern, 
von  Kindern  und  Matter  ;  immer  nur  wenige  Worte,  öfter  dieselben 
Motive  wiederholend,  jedes  kleine  Bild  unabhängig  neben  dem  andern, 
durch  den  umrahmenden  Schlußsatz  vom  andern  getrennt.  Wie 
Rehe  mit  gespitzten  Ohren  laufen  die  Kinder  sonst  fröhlich  um- 
her; wie  einer  Ziege  ihre  Jungen  kommen  sie  mir  aus  der  Ein- 
siedelei entgegen,  sehen  mich  von  weitem;  hier  liegt  ihr  Spielzeug 
von  gelbem  Bilvaholz;  auf  meinem  Schoß  suchen  sie  umher,  die 
Eine  hängt  sich  an  meine  Brust  .  .  .  Zum  Schluß  drei  Strophen 
voll  von  der  Angst  des  Mutterherzens : 

„Sonst  wie  ein  Festplatz  erscheint  mir  die  Einsiedelei;  heute 
wo  ich  die  Kinder  nicht  sehe,  dreht  sich  mir  die  Einsiedelei  vor 
den  Augen. 

„Wie  so  lautlos  erscheint  mir  die  Einsiedelei!  !N"icht  einmal 
die  Haben  schreien.     Gewiß  sind  meine  Kleinen  tot! 

„Wie  so  lautlos  erscheint  mir  die  Einsiedelei!  Nicht  einmal 
die  Vögel  schreien.     Gewiß  sind  meine  Kleinen  tot!" 

Sehr  anders  das  Epos.  Als  die  verlassene  Damayanti  erwacht 
und  den  Gatten  nicht  sieht,  „laut  schrie  sie  zitternd  zum  Nishadher : 
Großer  König !  Ha ,  mein  Hort !  Ha ,  mein  König !  Ha ,  mein  Ge- 
bieter! Was  verläßt  du  mich?  Ach,  ich  bin  erschlagen!  Ich  bin 
vernichtet!  Die  Furcht  faßt  mich  im  einsamen  Walde!"  Und  so 
strömt  sie  ihren  Jammer  aus :  Wie  konntest  du  deine  treue  Gattin 
verlassen  und  von  ihr  gehen!  Wirst  du  mir  nicht  wahr  machen, 
was  du  vor  den  welthütenden  Göttern  mir  gelobt  hast  ?  Ich  sehe, 
daß  vor  der  Zeit,  die  bestimmt  ist,  kein  Sterblicher  hinscheiden 
kann,  wenn  dein  geliebtes  Weib,  von  dir  verlassen,  auch  nur  einen 


1)  Die  beiden  Refrains  gehen  regellos  durch  einander,  vgl.  das  oben  S.  454 
über  solche  Regellosigkeiten  Bemerkte. 


Jätakastudien.  461 

Augenblick  am  Leben  bleibt.  Genug  deines  Scherzes !  Ich  fürchte 
mich!  Zeige  dich  mir,  König!  Ich  sehe  dich!  Ich  sehe  dich! 
Hinter  den  Büschen  hast  du  dich  verborgen!  Warum  sprichst  du 
nicht  zu  mir '?  Welche  Untat  begehst  du,  der  du  in  diesem  Elend 
mich,  die  Klagende,  nicht  tröstet,  nicht  zu  mir  kommst !  Ich  jam- 
mere ja  nicht  um  mich  selbst,  um  nichts  sonst.  Nur  um  dich, 
mein  Fürst,  jammere  ich:  wie  wird  es  dir  ergehen,  wenn  du  allein 
bist?  Abends  zwischen  den  Baumwurzeln,  wenn  du  durstest, 
hungerst,  ermattet  bist  und  mich  nicht  siehst! 

Über  Damayanti  ist  ja  das  Leid  schon  gewisser  herein- 
gebrochen als  über  Maddi,  die  für  jetzt  nur  erst  schwerste  Sorge 
vor  sich  sieht.  Aber  auch  solche  Sorge  hätte  der  Verfasser  des 
Nalagedichts  gewiß  sehr  anders  als  der  buddhistische  Poet,  den 
Klagen  Damayantis  ähnlich  geschildert.  Vielleicht  mag  man  die 
Schlichtheit  des  buddhistischen  Gedichts  als  echter,  als  tiefer  zu 
Herzen  gehend,  den  Erguß  Damayantis  als  allzu  beredt  empfinden. 
Aber  darüber,  wie  viel  weiter  es  der  Epiker  in  der  freien  Herr- 
schaft über  die  poetische  Form  gebracht  hat,  kann  keine  Frage 
sein :  was  ich  nach  dem  oben  zu  den  beiden  Fassungen  des  Syäma- 
gedichts  Bemerkten  näher  auszuführen  unterlasse. 

Ahnliche  Beobachtungen  kann  man  machen,  vergleicht  man, 
wie  im  Jätaka  und  anderseits  in  den  Epen  etwa  der  bunte  Wald, 
der  Gebirgswald,  die  schöne  Frau  geschildert  wird^,  oder  auch 
wie  verschiedene  philosophische  Weltanschauungen  einander  gegen- 
übertreten (aus  dem  Jät.  vgl.  besonders  Nr.  544):  das  Ergebnis 
ist  immer  das  gleiche. 

Soll  man  nun  die  hier  vorliegenden  Unterschiede  vielmehr  auf 
die  Verschiedenheit  zweier  neben  einander  stehender  poetischer 
Gattungen  —  wie  man  auf  andern  geschichtlichen  Gebieten  das 
Lied  mit  seiner  Neigung  zu  Wiederholungen  und  das  Epos  za 
unterscheiden  hat  —  als  auf  das  zeit-  und  entwicklungsgeschicht- 
liche Verhältnis  zurückführen? 

Mit  Rücksicht  auf  die  speziell  indischen  Verhältnisse  scheint 
hinsichtlich  dieser  Frage  Folgendes  zu  bemerken. 

In  der  Vedenzeit  finden  wir  als  alleinigen  Vorgänger  der  uns 
beschäftigenden   literarischen  Typen   den   der   äunahsepadichtung 


1)  Ein  bezeichnender  Zug :  wo  in  den  Jätakas  von  schönen  Frauen  die  Rede 
ist  —  ein  ja  auch  dort  geläufiges  Thema  — ,  spielen  in  der  poetischen  Maschinerie 
die  Lotus  entfernt  nicht  die  Rolle  wie  in  den  Epen.  Die  literarische  Lebens- 
geschichte des  Lotus  und  einiger  andrer  dieser  den  Indern  so  teuren  poetischen 
Requisiten  zu  verfolgen  wäre,  auch  für  chronologische  Fragen,  von  Interesse. 
Einiges  über  den  Lotus  gibt  jetzt  Macdonell  ERE.  VIII,  142  f. 
Kgl.  Ges.  d.  Wiss.   Nachrichten.   PhU.-hist.  Klasse.    1918.    Heft  4.  31 


462  H.  Oldenberg, 

und  des  Suparnädhyäya  (mit  den  dort  hinzuzudenkenden  Prosa- 
ergänzungen). Dies  ist  eben  der  eigenartige  Grrundzug  dieser  in- 
dischen Entwicklungen,  daß  hier  durchaus  vom  prosaisch-poetischen 
Typus  auszugehen  ist^).  Für  die  Zeit  der  eben  genannten  Texte 
liegt  kein  Grund  zur  Annahme  vor,  daß  es  neben  ihrem  Typus 
noch  einen  von  ihnen  verschiedenen  des  höheren ,  eigentlichen 
„Epos"  gegeben  habe.  Das  Gredicht  von  Sunahsepa  veranschaulicht 
vielmehr  offenbar  den  höchsten,  feierlichsten  Stil  des  Erzählens, 
den  man  damals  kannte.  Jüngere,  weiter  entwickelte,  in  mancher 
Hinsicht  variierte,  minder  feierlich  gehaltene  Exemplare  dieses 
Typus  liegen  dann  in  den  Jätakas  vor.  Und  auch  das  Bhärata 
und  die  Rämadichtung  sind  durch  eben  dies  prosaisch -poetische 
Stadium  hindurchgegangen^);  wir  werden  sie  uns  da,  wie  die  er- 
haltenen Reste  des  Urbhärata  zu  bestätigen  scheinen,  von  ihrem 
größeren  Umfang  abgesehen,  vielen  Jätakas  ähnlich  vorzustellen 
haben.  Für  das  Problem,  wie  sich  dann  das  Herauswachsen  der 
rein  poetischen  Epen  aus  dieser  Vorstufe  vollzogen  hat,  geben 
uns  die  oben  dargelegten  Beobachtungen  über  das  Vordringen  der 
poetischen  Form  in  den  Jätakas  Fingerzeige,  die  man  freilich  nicht 
überschätzen,  denen  man  nicht  allzu  unbedingt  folgen  wird.  Denn 
statt  um  die  massenhaften,  leicht  veränderlichen  Produktionen 
dieser  Erzählungsliteratur  handelt  es  sich  ja  auf  der  andern  Seite 
um  wenige,  umfängliche;  allem  Anschein  nach  schwerer  wandelbare 
literarische  Schöpfungen.  Daß  die  etwa  der  Reihe  nach  durch  die 
Stadien  hätten  hindurchgehen  müssen,  die  sich  an  den  kleinen  Er- 
zählungen beobachten  lassen,  wäre  natürlich  eine  gewagte  Annahme. 
Von  einer  andern  Seite  geben  uns  dann  einen  in  mancher  Hinsicht 
bestimmteren  Anhalt  dafür,  uns  den  Übergang  von  der  älteren 
zur  jüngeren  Erzählweise  vorzustellen,  solche  Beispiele  wie  die 
Geschichte  von  König  Sibi  mit  Falk  und  Taube,  die  im  Epos  so- 
wohl in  der  altertümlichen  prosaisch-poetischen  wie,  an  zwei  Stellen, 
in  der  gewöhnlichen  epischen  Erzählweise  vorliegt,  und  weiter 
vor  allem  die  Suparnageschichte,  von  der  wir  so  glücklich  sind 
das  prosaisch-poetische  Exemplar  zu  besitzen,  welches  —  oder  ein 
ihm  ganz  ähnliches  —  einer  der  Mitarbeiter  am  Mahäbhärata  be- 
nutzt hat,   als  er  die  dort  vorliegende  rein  poetische  Fassung  ge- 


1)  Die  in  vedischen  Texten  für  gewisse  rituelle  Gelegenheiten  erwähnten 
kurzen,  eventuell  mit  Instrumentalbegleitung  gesungenen  Strophen  preisenden  In- 
halts zu  Ehren  von  Königen  liegen  von  den  hier  zur  Betrachtung  stehenden  Ge- 
' bilden  durchaus  ab. 

2)  Vgl.  meine  Abhandlung   „Zur  Geschichte  der  altindischen  Prosa",   S.  68. 


Jätakastudien.  463 

staltete:  auf  die  höchst  lehrreichen  an  diesem  konkreten  JTall  zu 
machenden  Beobachtungen  über  die  Wandlung  der  alten  in  die 
neue  Form  denke  ich  demnächst  zurückzukommen. 

Ich  nehme  also  an,  um  es  noch  einmal  möglichst  bestimmt 
auszudrücken  5  daß  der  Erzählungstypus  des  Jätaka  einst  auch  in 
Werken  geherrscht  hat,  denen  man  schon  für  jene  Zeit  gewiß 
nicht  das  volle  Recht  bestreiten  wird  als  Epen  zu  gelten.  Fort- 
schritte des  künstlerischen  WoUens  und  Könnens  —  vermutlich 
daneben  auch  solche  des  Schriftgebrauchs  —  haben  dann  zu  der 
neuen,  in  den  Epen  herrschend  gewordenen  Form  geführt,  welche 
die  früher  in  einer  gewissen  Selbständigkeit  einzeln  dastehenden 
metrischen  Einlagen  in  den  großen  Fluß  der  nunmehr  ausschließ- 
lich metrischen  Gesammtdarstellung  auflöste  und  entsprechend  die 
durch  jene  Einzelstücke  durchgehenden  Wiederholungen  zurück- 
drängte. Wie  daneben  in  andern  Entwicklungslinien  (Pancatantra, 
Jätakamälä)  der  alte  prosaisch-poetische  Typus  festgehalten  und 
auch  hier  wieder  eigenartig  weiter  entwickelt  wurde,  werde  ich 
hinsichtlich  einer  der  da  entstandenen  Formen,  derjenigen  der  Jä- 
takamälä, alsbald  zu  berühren  haben. 

Was  noch  speziell  das  chronologische  Verhältnis  zwischen  Jä- 
takas  und  Epen  anlangt,  so  ist  natürlich  nicht  vollkommen  gewiß, 
daß  wir  dieses  kurzweg  nach  dem  entwicklungsgeschichtlichen  zu 
beurteilen  haben.  Die  Möglichkeit  läßt  sich  nicht  abweisen,  daß 
die  literarische  Praxis  der  altbuddhistischen  Mönche  noch  auf  pri- 
mitiverer Stufe  verblieb,  als  die  raschere  Beweglichkeit  weltlicher, 
höfischer  Kreise  schon  darüber  hinausgeschritten  war.  Solches 
Bedenken  wird  dadurch  nicht  beseitigt,  daß  ähnliche  Gegenüber- 
stellungen des  älteren  und  jüngeren  Stils,  wie  sie  hier  zwischen 
Jätakas  und  Epos  vorgenommen  wurden,  wesentlich  in  der  gleichen 
Weise  auch  zwischen  der  Hauptmasse  des  Epos  und  einigen  älteren 
in  das  Mahäbhärata  selbst  eingesprengten  Partien  ausführbar  sind. 
Daß  sich  hier  etwa  dasselbe  Bild  fortschreitender  Bewegung  er- 
gibt, wie  zwischen  den  Jätakas  und  der  Hauptmasse  des  Epos, 
würde  über  die  chronologische  Frage  natürlich  nur  dann  entschei- 
den, wenn  eben  das  feststände,  was  nicht  feststeht :  daß  das  inner- 
lich Gleichartige  auf  beiden  Seiten  immer  auch  gleichzeitig  ge- 
wesen sein  muß.  Vollkommene  Sicherheit  wird  sich  hier  schwer- 
lich erreichen  lassen.  Immerhin  sind  doch  wohl  die  Indizien,  die 
der  Jätakapoesie  das  höhere  Alter  zuzuweisen  scheinen,  auf  dem 
hier  betrachteten  Gebiet  des  Stils  wie  übereinstimmend  damit  auf 
manchen  andern  Gebieten   so   breit  gelagert,    daß   man  jener  zu- 

31* 


464  H.  Oldenberg, 

nächstliegenden  Ansicht  des  Zeitverhältnisses  die  weitaus  über- 
wiegende Wahrscheinlichkeit  unbedenklich  zusprechen  wird^). 

Zum  Verhältnis  der  Jätakas  und  der  Jätakamälä. 
Unsre  Beobachtungen  über  den  Stil  der  Jätakas  zu  stützen  scheint 
es  endlich  noch  zweckmäßig,  an  einigen  Stellen  die  spätere,  kunst- 
mäßige Ausgestaltung  ihres  alten  Textes  in  der  Jätakamälä^) 
zu  vergleichen.  Man  beachte,  daß  die  Jm.  nicht  an  sich  selbst  den 
Gegenstand  der  folgenden  Bemerkungen  bilden  soll,  beispielsweise 
nicht  etwa  die  Praxis  ihres  Verfassers  der  Theorie  des  Alaipkära 
gegenübergestellt  werden  wird.  Vielmehr  geht  die  Absicht  allein 
dahin,  durch  ihren  Kontrast  verstärktes  Licht  auf  die  Eigenart 
der  Jätakas  zu  werfen. 

Es  handelt  sich  zunächst  um  die  ßolle,  die  im  Ganzen  der 
Erzählungen  den  Versen  zufällt.  Sodann  um  deren  stilistisches 
Aussehen. 

In  der  Jm.  sind  die  Geschichten  ungefähr  —  was  natürlich 
mit  einiger  Weite  verstanden  werden  muß  —  gleichmäßig  mit 
Versen  durchsetzt.  Hat  das  zu  Grunde  liegende  Jätaka  wenige 
Verse,  wie  das  einversige  40  oder  das  vier  versige  316,  so  fügt 
Jm.  (IV  bz.  VI)  massenhaft  Verse  hinzu.  Anderseits  bei  einem 
ausnahmsweise  ganz  in  Versen  verfaßten  J.  (516)  setzt  Jm.  (XXIV) 
an  vielen  Stellen  Prosa  ein,  um  das  allgemein  geltende  Verhältnis 
auch  hier  aufrecht  zu  erhalten.  In  der  Diktion  der  Verse  und 
der  Prosa  zeigt  die  Jm.  die  gleiche  Künstlichkeit.  Die  Verse 
aber  kann  ein  mit  dem  J.  Vertrauter  nicht  lesen,  ohne  zu  emp- 
finden, daß  da  neben  den  Bearbeitungen  der  alten  J.verse  fort- 
während Verse  und  Versmassen   erscheinen,    die   auch   wenn  man 


1)  Wenn  in  den  vorstehenden  Untersuchungen  unternommen  ist,  dem  Stil 
der  Jätakas  verglichen  mit  dem  jüngeren,  dem  epischen,  seine  Stelle  anzuweisen^ 
entstände  nun  die  Aufgabe,  entsprechende  stilistische  Vergleichungen  mit  dem 
älteren,  vedischen  Erzählungsmaterial  vorzunehmen,  das  natürlich  viel  spärlicher 
zur  Verfügung  steht.  Viel  wird  sich  da  freilich  kaum  ergeben.  Halten  wir  uns 
etwa  an  die  Sunahsepageschichte,  so  scheidet  deren  Prosa  für  unsern  Zweck  im 
Wesentlichen  aus,  da  wir  alte  Prosa  der  Jätakas  (bekannte  Ausnahmen  abge- 
rechnet) ihr  ja  nicht  gegenüberstellen  können.  Und  die  Verse  liegen  inhaltlich 
von  denen  der  Jätakas  so  weit  ab,  daß  von  Vergleichungen  nicht  allzu  viel  die 
Rede  sein  kann.  Trotzdem,  meine  ich,  wird  man  die  —  in  rein  chronologischer 
Hinsicht  ja  ohnehin  über  jeden  Zweifel  feststehende  —  höhere  Altertümlichkeit  des 
Saunahsepam  deutlich  empfinden,  wenn  man  etwa  die  dortige  Behandlung  des 
Themas  vom  Vater,  der  seinen  Sohn  töten  will,  mit  Analogem  aus  den  Jätakas 
vergleicht  (so  Nr.  531.  538.  542,  vol.  V  p.  301  ff.;  VI  p.  11  ff.  133 ff.). 

2)  Ich  bezeichne  diese  als  Jm.  gegenüber  Jätaka  =  J.,  die  Nummern  von 
Jm.  mit  lateinischen,  die  von  J.  mit  arabischen  Ziffern. 


Jätakastudien.  4Q5 

sie  sich  in  den  schlichteren  Stil  von  J.  übertragen  denkt,  dort 
nicht  leicht  stehen  würden.  So  die  den  edlen  Charakter  des 
Helden  schildernden  Verse,  welche  die  Jm.  gern  in  den  Eingang 
ihrer  Geschichten  setzt;  Schilderungen  von  Naturszenerie  oder 
einem  Naturvorgang,  wie  dem  Lotusteich  XXII,  8fF.,  dem  Seesturm 
XIV,  3fF.,  weiter  von  weiblicher  Schönheit  XIII,  4  ff.,  u.  dgl. 
mehr.  Das  J.  hat  die  Grrenzen  für  die  Verwendung  von  Versen 
eben  enger  gezogen.  Im  Eingang  des  Ummadantijätaka  (527,  vgl. 
XIII)  sagte  gewiß  auch  in  alter  Zeit  die  Prosa,  wie  die  Attha- 
vannanä  es  tut,  daß  jene  Frau  schon  war:  das  wird  in  diesem 
Kommentar  kurz  in  allgemeinen  Ausdrücken  konstatiert,  und  für 
das  höhere  Altertum  von  J.  mögen  wir  uns  solche  Konstatierung 
in  Worte  gekleidet  denken,  wie  die  kanonischen  Texte  sie  von 
einer  schönen  Frau  zu  brauchen  pflegen:  sie  war  abhirüpä  dassa- 
niyä  päsädikä  paramäya  vannapolcJcharatäya  samannägatä.  Spricht 
dann  eine  im  J.  auftretende  Person  ihre  Bewunderung  der  SdiÖn- 
heit  aus,  so  kann  deren  Rede  wohl  eine  Beschreibung,  sogar  eine 
ausführliche  Beschreibung  enthalten.  Im  unpersönlichen  Zusam- 
menhang der  Erzählung  aber  wird  derartiges  —  gewisse  Aus- 
nahmen abgerechnet,  vgl.  oben  S.  449  —  vermieden.  Oder  rich- 
tiger, nicht  eigens  vermieden;  es  liegt  von  selbst  fern.  Das  J. 
greift  eben  noch  nicht  wie  die  Jm.  nach  völligem  Belieben  zur 
metrischen  Form  um  sich  über  irgend  ein  Thema,  das  dazu  einlädt, 
in  verherrlichender  Rhetorik  zu  verbreiten.  Sondern  noch  wird 
die  Darstellungstechnik  von  alt  überkommenen,  mit  den  Ursprüngen 
der  prosaisch-poetischen  Form  zusammenhängenden  Begrenzungen 
des  Versgebrauchs  beherrscht.  Und  wenn,  wie  wir  gesehen  haben, 
doch  auch  Tendenzen  einer  Lockerung  und  Überwindung  dieser 
Grrenzen  an  manchen  Stellen  wirksam  sind  ^),  so  richten  sich  die 
ganz  überwiegend  anderswohin  als  auf  jenen  später  in  Jm.  ver- 
wirklichten Zustand :  es  handelt  sich  vielmehr  um  Entwicklung  der 
Prosaerzählung  mit  Verseinlagen  in  der  Richtung  auf  reine  Vers- 
erzählung, als  darum,  Verseinlagen,  die  in  früherer  Weise  und  mit 
der  früheren  Greltung  Verseinlagen  inmitten  von  Prosa  bleiben, 
auf  jedes  beliebige  Thema  auszudehnen.  So  deutlich,  was  ja  nicht 
erst  ausgeführt  zu  werden  braucht,  geschichtlicher  Zusammenhang 
zwischen  der  alten  und  der  modernen  Gestalt  der  Jätakas  auch 
in  der  Stellungnahme  zur  Alternative  von  Poesie  und  Prosa  her- 


1)  Es  ist  nochmals  daran  zu  erinnern,  daß  diese  Tendenzen  sich  nur  bei 
einer  verhältnismäßig  kleinen  Zahl  von  Jätakas  zeigen.  Eine  Besprechung,  die 
eben  auf  diese  Fälle  gerichtet  ist,  läßt  das  leicht  vergessen. 


466  ^  H.  Oldenberg, 

vortritt,  so  entschieden  zeigt  sich  eben  hinsichtlich  solcher  Aus- 
dehnung die  ältere  Technik  als  vor  einem  TJmwandlungsprozeß 
liegend,  der  sich  in  der  jüngeren  als  vollzogen,  als  vielleicht  längst 
vollzogen  erweist.  — 

Die  Verse  der  Jm.  zerfallen  von  Natur  in  drei  Kategorien: 
zuerst  die  nicht  sehr  häufigen,  die  aus  J.  im  Wesentlichen  unver- 
ändert herübergenommen  sind  und  infolgedessen  begreiflicherweise 
von  den  übrigen  sich  merklich  abzuheben  pflegen^);  sodann  aus 
dem  J.  stammende,  aber  umgearbeitete  Verse;  endlich  solche,  die 
vom  J.  unabhängig  sind. 

Uns  interessiert  hier  natürlich  die  zweite  Gruppe.  Ich  stelle 
für  einige  charakteristische  Fälle  die  Übersetzung  von  Vorbild 
und  Nachbild  neben  einander. 

Der  Gratte  der  schönen  Frau  bietet  sie  dem  König  an.  Jm. 
XIII,  29.  „0  Wunschspender,  freilich  (kämada  Mmam:  nicht  wieder- 
geblfkres  Wortspiel)  ist  sie  mir  lieb.  Und  eben  darum  wünsche 
ich  sie  dir  zu  geben.  Denn  wer  Liebes  gibt,  der  Mensch  emp- 
fängt in  jener  Welt  (als  Lohn)  Liebes,  das  hoch  beglückt."  J.  527, 
29:  „Männerbeherrscher,  du  weißt,  sie  ist  mir  lieb.  Nicht  ist  sie 
mir  unlieb,  o  Erdbehüter.  Um  Liebes  gebe  ich  dir  die  Liebe, 
Männerbeherrscher.  Die  Greber  von  Liebem,  König,  empfangen 
Liebes. ^^  Der  jüngere  Dichter  hat  die  altertümliche,  kindliche 
Figur  ;,lieb,  nicht  unlieb"  (derartiges  findet  sich  in  der  kanonischen 
Sprache  des  Buddhismus  häufig)  getilgt.  Auch  die  Beseitigung 
der  unbefangenen  zweimaligen  Setzung  von  „ Männer beherrscher" 
ist  gewiß  kein  Zufall.  Dafür  Hinzufügung  des  Ornaments  in  Jcä- 
mada  Jcämam,    und  bestimmtere  Ausmalung  der  Zukunftshoifnung. 

Der  König  hat  dem  bettelnden  Brahmanen  seine  eignen  Außjen 


1)  Es  kehrt  also  hier,  wie  nicht  anders  zu  erwarten,  dieselbe  Diskrepanz 
wieder,  die  auf  dem  Gebiet  der  buddhistischen  Kunstdichtung  bei  einer  andern 
Gelegenheit  (NGGW.  1912,  208  A.)  von  mir  für  Asvaghosa,  und  vielfältig  für  die 
jüngere  kanonische  Literatur  aufgewiesen  ist.  Es  braucht  kaum  noch  eigens  dar- 
auf hingewiesen  zu  werden,  daß  wenn  die  festgewurzelte  Geltung  der  alten  Jä- 
takaverse,  unbeschadet  redaktioneller  und  gelegentlich  auch  mehr  als  nur  redak- 
tioneller Textverschiedenheiten,  sich  beständig  in  der  Jm.  kundgibt,  das  eben  nur 
ein  Spezialfall  eines  allgemeinen  für  die  nördliche  Literatur  geltenden  Verhält- 
nisses ist.  Zahlreiche  Beispiele  liefert  das  Mahavastu.  Aus  andern  Texten  greife 
ich  zunächst  den  Widerschein  heraus,  den  Verse  der  Mittavindakagescbichten  im 
Norden  gefunden  haben:  J.  369  v.  2  (vgl.  82  v.  1)  vgl.  Avadänasataka  Nr.  36; 
J.  439  v.  5.  9  vgl.  Avadänasataka  ebend.,  Divyävadäna  p.  607  Z.  II f.  "Weiter 
J.  316  V.  4  vgl.  Avadän.  Nr.  37.  Das  sind  wenige  Fälle,  die  ich  eben  zur  Hand 
habe.  Eine  planmäßige  Durcharbeitung  der  nördlichen  Jätakaparallelen  wäre 
höchst  erwünscht. 


Jätakastudien.  457 

gegeben.  Jm.  11,29:  „Darauf  der  König,  als  er  seine  Augen  hin- 
gegeben hatte,  sein  Antlitz  lotuslosem  Lotusteich  ähnlich,  empfand 
Befriedigung,  die  nicht  geteilt  ward  von  den  Bürgern.  Doch  in 
vollem  Besitz  der  Augen  sah  man  den  ßrahmanen".  Gegenüber- 
steht der  schon  oben  S.  448  berührte  Vers  J.  499,  16  (vol.  IV 
p.  408),  in  der  Erzählung  der  Begebenheit  etwas  weiter  zurück- 
reichend: „Auf  des  Sivikönigs  Befehl  (der  Arzt)  Sivaka,  seinem 
Wort  gehorsam,  des  Königs  Augen  herausnehmend  bot  sie  dem 
Brahmanen  dar.  So  hatte  der  Brahmane  Augen;  blind  setzte  der 
König  sich  nieder".  Der  jüngere  Dichter  hat  die  Naivetät  der 
letzten  Worte  beseitigt,  dafür  durch  den  preziösen  Vergleich  vom 
Lotusteich  —  dabei  ein  pomphaft  langes,  deutsch  nicht  wieder- 
gebbares Kompositum  —  und  durch  die  Hervorhebung  der  ent- 
gegengesetzen  Empfindung  von  König  und  Bürgern  den  Vers  in 
seiner  Weise  ausgeschmückt.  Der  Schlichtheit  des  alten  Poeten 
lag  dergleichen  fern. 

Der  verirrte  Wanderer  findet  einen  Baum  mit  Früchten.  Er 
klettert  auf  einem  Ast  des  Baumes  entlang.  Jm.  XXIV,  2  (mit 
einigen  dem  Vers  vorangehenden  Prosaworten):  „und  aus  Begier 
nach  den  Früchten  drang  er  bis  zu  seinem  (des  Astes)  Ende  vor. 
Darauf  fiel  jener  Ast  dieses  erderwachsenen  (Baumes),  durch  das 
Grewichtsübermaß  gebeugt  und  durch  seine  Dünnheit,  wie  vom 
Beil  wurzeldurchhauen,  mit  Getöse  zerbrechend  plötzlich  nieder." 
J.  516,  13 f.:  „Ungesättigt  erstieg  ich  den  Baum:  'Dort  werde  ich 
mich  satt  essen'.  Eine  (Frucht)  hatte  ich  gegessen;  nach  der 
zweiten  verlangte  mich.  Da  zerbrach  der  Ast  wie  mit  einem  Beil 
zerhauen."  In  Jm.  viele  Abstrakta :  „aus  Begier  nach  den  Fruch- 
tend^, wörtl.  „aus  Fruchtbegier",  wogegen  J.  sehr  konkret  „da 
werde  ich  mich  satt  essen";  dann:  „durch  das  Gewichtsübermaß ^S 
„durch  Dünnheit".  Viele  erklärende,  ausmalende  Züge ;  in  J.  nicht 
mehr  als  der  schlichte  Umriß  des  Vorgangs. 

Schließlich  ein  Gleichnis  des  Königs,  der  die  ihm  angebotene 
schöne  Frau  (oben  S.  447)  ablehnt,  die  königliche  Pflicht  des  Recht- 
handelns betont.  Jm.  XIII,  39:  „Wie  des  Stieres  verkehrtem  oder 
geradem  Vorgang  die  nachwandelnden  Kühe  nachfolgen,  so  die 
Untertanen,  ungestoßen  vom  Haken  ^)  des  Zweifels ,  den  sie  von 
sich  geworfen  haben,  dem  Wandel  des  Landbehüters  (Königs)." 
Diesem  einen  Vers  liegen  vier  des  J.  527,  48 — 51  zu  Grunde: 

„Wenn  Kühe  (einen  Fluß)  überschreiten  und  der  Stier  ver- 
kehrt geht,  dann  gehen  sie  alle  verkehrt,  da  ihr  Führer  verkehrten 
Gang  nimmt. 

1)  Es  scheint  an  den  Haken  gedaeht,  mit  dem  der  Elefant  gelenkt  wird. 


463  H.  Oldenberg,  Jätakastudien, 

„Ebenso  unter  den  Menschen  wer  am  höchsten  angesehen  ist: 
wenn  der  ungerecht  wandelt,   um  so  viel   mehr  das  übrige  Volk. 

„Wenn  Kühe  (einen  Fluß)  überschreiten  und  der  Stier  richtig 
geht,  dann  gehen  sie  alle  richtig,  da  ihr  Führer  richtigen  Grang 
nimmt. 

„Ebenso  unter  den  Menschen  wer  am  höchsten  angesehen  ist: 
wenn  der  gerecht  wandelt,  um  so  viel  mehr  das  übrige  Volk." 

Hier  die  Altertümlichkeit  der  endlosen  Wiederholungen  zwi- 
schen den  vier  Versen;  dort  sind  die  weggeschnitten ^) 2).  Dazu 
hier  im  Innern  des  ersten  und  dritten  Verses  die  Wiederholung: 
„wenn  der  Stier  verkehrt  (richtig)  geht",  und  „da  der  Führer 
verkehrten  (richtigen)  G^ang  nimmt".  Auch  das  ist  weggeschnitten. 
So  ist  in  dem  einen  Verse  anstelle  der  vier  Raum  gewonnen, 
den  Seelenzustand  der  Untertanen  zu  schildern,  die  von  Skrupeln 
geplagt  waren,  bis  sie  sahen,  wie  der  Fürst  handelt;  nun  sind  sie 
von  dem  inneren  Stachel  befreit.  Solche  Subtilität  liegt  dem  J. 
fern.  — 

Auch  aus  diesen  Vergleichungen  wieder,  die  ich  nicht  weiter 
ausdehne,  tritt,  scheint  mir,  dieselbe  schlichte  Altertümlichkeit  von 
J.,  die  wir  so  vielfach  beobachteten,  anschaulich  hervor. 


1)  Beseitigung  von  Refrains  und  dgl.  des  J.  läßt  sich  in  Jm.  öfter  beobachten. 
So  bei  den  Reden  der  vier  Tiere  in  J.  316  =  Jm.  VI,  bei  den  Eiden  über  die 
gestohlenen  Lotusfasern  J.  488  =  Jm.  XIX;  statt  des  immer  gleichen  "Wortlauts 
ist  wechselnder  eingeführt. 

2)  Begegnet  es  infolge  dieser  Wiederholungen  des  Schemas  dem  Verfasser 
Ton  J.  nicht,  etwas  zu  sagen,  das  er  eigentlich  nicht  hatte  sagen  wollen?  Daß 
wenn  der  König  sündigt,  die  Untertanen  erst  recht  sündigen,  ist  verständlich. 
Aber  daß  wenn  der  König  gut  handelt,  die  Untertanen  das  erst  recht  tun? 


Der  Argonautenkatalog  in  Hygins  Fabelbiich. 

Von 

Carl  Robert. 

Vorgelegt  in  der  Sitzung  vom  21.  Februar  1919. 

Die  dunkle  und  verwickelte  Textgeschichte  der  fabulae  Hygini 
läßt  sich  wie  ich  glaube  wenigstens  für  die  letzten  vor  dem  Frisin- 
gensis  liegenden  Phasen  durch  eine  genaue  Analyse  der  die  Liste 
der  Argonauten    enthaltenden   14.  Fabel   bis    zu   einem   gewissen 
G-rade  aufhellen.     Daß  hier  im  wesentlichen  ApoUonios  zu  Grrunde 
liegt,    ist  bereits  dem  ersten  Herausgeber   Jacobus  Micyllus  klar 
gewesen.     Wir  dürfen  heute  von  vorne  herein  vermuten  und  werden 
es  unten   bestätigt   finden,    daß    neben    dem  Dichtertext  auch   die 
Schollen  benutzt  worden  sind.     Aber  der  Katalog  ist  reichhaltiger 
als  der  des  alexandrinischen  Epikers.     Hinter  den  Boreaden  werden 
als  Teilnehmer  an  der  Fahrt  eine  Anzahl  Heroen,    darunter  z.B. 
der  Pelopide  Hippalkimos,  Asklepios,  Neleus,  lolaos  und  Philoktet, 
aufgezählt,  die  bei  jenem  fehlen.    Gegen  die  Athetese  dieser  Liste, 
die  Moritz  Schmidt  vorgenommen  hat,  ist  von  Otto  Jessen  in  der 
trefflichen  Berliner    Dissertation    Prolegomena   in  Argonautarum 
catalogum  p.  21  mit  Recht  Einspruch  erhoben  worden.     Wir  haben 
es   hier   mit   einer   von  ApoUonios    unabhängigen  und  darum   be- 
sonders wertvollen  Überlieferung  zu  tun,  von  der  es  dahingestellt 
bleiben  mag,   ob  sie  der  Mythograph  aus  vollständigeren  Schollen 
oder  aus  einer  Nebenquelle  entnommen  hat.  Außerdem  aber  hat  Hygin 
über  die  Abstammung  und  Heimat  einzelner  Argonauten  Angaben, 
die  nicht  nur  dem  ApoUonios   unbekannt,    sondern  neu  und  über- 
raschend, ja   zum  Teil   befremdend    sind.     So   soll   nicht  nur  der 
Opuntier  Eurytion,  sondern  auch  der  Doloper  Eurydamas  ein  Sohn 
des  Iros  und  der  Demonassa  gewesen  sein,  und  doch  werden  beide 
nicht  zusammen,   sondern  an  verschiedenen  Stellen  genannt.     Der 


470  CarlRobert,- 

Steuermann  Tiphys,  nach  übereinstimmender  Sagenüberlieferung 
ein  Boeoter,  erscheint  als  Sohn  des  Phorbas  und  der  Hyrmine, 
wäre  also  ein  Eleer.  Als  Vater  des  SchifFbaumeisters  Argos  wird 
außer  Polybos  auch  Danaos,  an  einer  späteren  Stelle  sogar  nur 
dieser  allein  genannt.  Nun  gehört  es  aber  zum  Wesen  der  alten 
Danaossage,  daß  der  Nachkomme  derlo  nur  Töchter  und  keine  Söhne 
hat,  so  daß  diese  Angabe  an  Ptolemaios  Hephaistion  erinnert. 
Beruht  auch  dergleichen  auf  wertvoller  Nebenüberlieferung  oder 
auf  Textverderbnis?  Denn  daß  das  Capitel  durch  Namenscor- 
ruptelen,  Umstellungen  und  Lücken  stark  entstellt  ist,  hat  man 
schon  längst  erkannt. 

Wir   wollen    mit   dem    schon   früher   festgestellten   beginnen. 
Als  Heimat  des  Eurytion,    der  wie   gesagt  ein  Doloper  ist,    wird 
die  euböische  Stadt  Kerinthos  angegeben  ab  oppido  Gerintho.    Dazu 
bemerkt  Micyllus:    Canthus,    iit  ApolloniusJ    Die  Verse   des  Apol- 
lonios  lauten  I  77  f.  avtäQ  a%  EvßoLYjg  Kdvd^og  ms,  töv  ga  Kdvrjd'og 
7ts^7t£v  'Aßavxiddrig   ^shrnndvov^   ov  fisv   e^aXlsv   vo<3xri^aiv  Kyiqlv^'ov 
vjtötQOTtog.     Mit  Recht  hat  daher  Muncker  vor  diesen  Worten  den 
Ausfall  von  Canthus  Canethi  filius  statuiert.  Gleich  darauf  heißt  es  von 
Oileus,  nachdem  als  seine  Heirat  nach  allgemeiner  mythischer  Tra- 
dition die  opuntische  Stadt  Naryx  angegeben  worden  ist :  alii  aiunt 
ex  Euboea.     Hierzu    bemerkt  Micyllus:    ApoUonümi    non    hunc  sed 
CantJmm  ex  Euhoea  venisse  ait,  videtur  ergo  haec  clausula  tran^osita 
esse  a  librario.     Da   aber  Oileus   bei  Apollonios    unmittelbar   nach 
Eurytion  genannt  wird,    so  ist  es  unwahrscheinlich,    daß  der  My- 
thograph  den  Kanthos   zwischen  beide   eingeschoben  haben  sollte. 
Nicht  also   sind  die  Worte  ex  Euboea,    sondern  ab  oppido  Gerintho 
umzustellen.      Mit    Recht    hat     daher   M.  Schmidt    angenommen, 
daß  die  Erwähnung  des  Kanthos  hinter  Oileus    und   vor  den  fol- 
genden Eurytos-Söhnen  ausgefallen  ist   und  dorthin  vor  alii^iunt 
ex  Euboea   die   verschlagenen  Worte   ah   oppido    Gerintho   gestellt 
Nur  durfte   er  das   alii  uiunt  nicht   stehen   lassen.     Diese  Worte 
sind  von  einem  Interpolator  hinzugefügt  worden,   der  nun   das  ex 
Euboea  auf  Oileus   beziehen   mußte   und   den  Widerspruch  mit   ex 
urbe  JSaryce   überkleistern   wollte.      Hygin    hat   also   geschrieben 
Canthus  Canethi  filio  ab  oppido  Gerintho  ex  Euboea. 

Von  Aethalides,  dem  Herold  der  Argonauten  heißt  es:  hie 
ostendit  nullo  modo  centauros  ferro  se  posse  vulnerare,  sed  truncis  ar- 
borum  in  cuneum  adactis.  Hierzu  sagt  Micyllus:  videntur  haec  cor- 
rupte  legi  et  ad  sequentem  potius  Gaeneum  referri  debere.  Sic  enim 
Apollonius  [I  59  if.],  ex  quo  huc  multa  ad  verbum  etiam  translata 
reperias:    Kaivia    yccQ    JöcV    :i£q   hi    "aUIovCiv   äoidol  KsvtavQoiöiv 


Der  Argouautenkatalog  in  Hygins  Fabelbuch.  471 

dXEö&at.  otB  6(fsag  olog  ccti'  akXcov  i]Xtc6'  äQL6t7]C3v'  ot  d'  e^:taXiv  6q- 
^Tid'SVTSg  ovrs  ^lv  äyKXtvca  JtgoTEQCo  öd^evov  ovts  öai%aL  aXV  äggriKtog 
aTtanTCtog  idvösro  veiod-t  yaCr^g,  d^sivö^svog  örißaQri^L  Tcatatydrjv  iXä- 
Tr;6Lv.  Et  de  eoc/em  in  ccmmentario  fere  eadem  verba  seqimntur,  quae 
hie  de  Neptuno  et  munere  eins  citantiir.  Quamqucüu  ApoUonius  non 
ipsum  Caenca,  sed  filitmi  Coronum  cum  Ärgonaiäis  profectmn  dicit. 
Über  Kaineus  also  schreibt  Hygin  nach  den  oben  ausgehobenen 
Worten:  Caeneus  Elati  fiUus,  Magnesins.  hunc  nonnulli  feminam 
fuisse  dicunt.  cid  petenti  Nejßtumim  propter  conmdjium  optatum  de- 
disse,  ut  in  iuvenilem  speciem  conversus  mdlo  ictu  interßci  posset.  Das 
zu  Grunde  liegende  Apollonios-Scholion  aber  lautet :  I  57  ^£(iv- 
d'svrai  de  b  Kaivsvg  Ttgörsgov  ysyovavat  yvvTJ'  slta  UoöSLÖ&vog  avxfi 
7cXr]6td6avtog  ^staßXr]d-rlvca  eig  avöga'  tovxo  yäg  rjtrjös  xal  ätgaGiav. 
Aber  mit  einer  einfachen  Umstellung  der  Sätze  des  überlieferten 
Hygintextes  ist  es  nicht  getan.  Denn  zwei  auf  dieselbe  Person 
bezügliche  Sätze  können  wohl  in  einem  Scholion,  das  verschiedene 
Quellen  benutzt,  jeder  durch  das  Demonstrativpronomen  eingeleitet 
asyndetisch  neben  einander  stehen,  nicht  aber  bei  Hygin,  der  zwar 
auch  contaminiert,  aber  die  verschiedenen  Versionen  entweder  zu 
einer  einheitlichen  Erzählung  verarbeitet  oder  sie  ausdrücklich  als 
Varianten  bezeichnet.  Daher  wollte  Muncker  den  ganzen  in  die 
Besprechung  des  Aethalides  verschlagenen  Satz  als  eine  auf  Apol- 
lonios  beruhende  Interpolation  tilgen;  kein  glücklicher  Ausweg, 
da  ja  Hygin  selbst,  wie  gesagt,  in  dem  ganzen  Capitel  im  wesent- 
lichen den  ApoUonios  paraphrasiert.  Sollte  er  in  diesem  Falle  nur 
das  Scholion  ausschreiben  und  nicht  auch  die  Verse,  zu  denen  es 
gehört?  Es  muß  also  bei  der  Umstellung  bleiben.  Aber  unmög- 
lich kann  der  Satz  vor:  hanc  nonnidli  feminam  fuisse  dictint  etc. 
gehören,  wohin  ihn  Bunte  und  M.  Schmidt  verweisen;  nicht  nur 
weil  der  Tod  des  Kaineus  nicht  vor  seiner  Verwandlung  erzählt 
werden  darf,  sondern  auch  weil  die  ihm  von  Poseidon  verliehene 
Unverwundbarkeit  die  Voraussetzung  für  seine  Todesart  ist.  An 
ut  in  iuvenilem  speciem  conversus  mdlo  ictu  interfici  posset  kann  nun 
freilich  hie  ostendit  nullo  modo  Centauros  ferro  se  i^osse  vidnerare  nicht 
anschließen,  weil  das  Asyndeton  sowohl  aus  dem  eben  angeführten 
Grrunde  als  wegen  des  Causalnexus  unerträglich  ist.  Aber  es 
genügt  schon  itoque  für  hie  zu  schreiben,  um  diesem  Übelstand  ab- 
zuhelfen. Allerdings  würde  man  auch  ein  neues  Praedicat  für  den 
zweiten  Satzteil  wünschen  und  es  ist  zu  erwägen,  ob  nicht  necatus 
est  hinter  adactis  einzusetzen  ist.  Nun  leuchtet  es  ein,  daß  es 
sich  hier  nicht  um  eine  einfache  Corruptel  und  um  eine  Satzver- 


I 


472  •»  Carl  Robert, 

Stellung  durch  ein  Sclireiberversehen  ^)  handelt.  Vielmehr  ist  der 
Tatbestand  der,  daß,  wie  in  dem  zuerst  besprochenen  Fall,  im 
Archetypus  des  Frisingensis  ein  Satz  ausgefallen,  diesmal  aber  am 
Rand  nachgetragen  war.  Er  ist  dann  an  eine  falsche  Stelle  ein- 
gesetzt worden,  und  da  dort  die  Causalpartikel  keine  Beziehung  mehr 
hatte,  ist  sie  durch  das  Demonstrativpronomen  ersetzt  worden, 
das  Hygin  nach  dem  Vorbild  der  Scholiasten  zur  Anknüpfung  mit 
Vorliebe  verwendete^).  Hier  haben  wir  es  also  mit  einer  will- 
kürlichen Änderung  zu  tun.  Der  Ausfall  scheint  schon  erfolgt 
gewesen  zu  sein,  als  hinter  nullo  ictu  interßci  possef  die  rationa- 
listische Bemerkung  interpoliert  wurde:  quod  est  nunquam  factum 
neque  fieri  potest  ut  qiiisquam  mortalis  non  posset  ferro  necari  mit  ex 
mutiere  in  virum  converti.  Ob  dieser  Interpolator  derselbe  war, 
der  den  Satz  vom  Tod  des  Kaineus  an  falsche  Stelle  eingefügt 
hat,  lassen  wir  dahingestellt. 

Aber  auch  die  im  Frisingensis  dem  verstellten  Satz  unmittelbar 
vorausgehenden  Worte  urhe  Gyrtone  können  sich,  wie  bereits 
Scheffer  gesehen  hat,  nicht  auf  Aethalides  beziehen.  Hygin  konnte 
wohl  schreiben  Thessdlus  ex  Larissa  oder  Thessatus  ex  Gyrtone^  aber 
nun  und  nimmer  Larissaeus  ex  Gyrtone,  wenn  auch  beide  Städte 
einander  benachbart  waren.  Vielmehr  ist  Gryrton  die  Heimat  des 
Kaineus  und  seines  Sohnes  Koronos,  Apollon.  I  57  f.  ^Xvd^e  d' 
ä(pvBiriv  TCQoliTthv  FvQtSiva  KÖQcovog  Kcavsiörjg,  Auf  diese  Worte 
gestützt  nahm  Scheffer  an,  daß  zwischen  Larissaeus  und  urhe  Gyrtone 
der  Name  Koronos  ausgefallen  sein,  und  Bunte  und  M.  Schmidt 
sind  ihm  hierin  gefolgt.  Aber  daß  Hygin  Vater  und  Sohn  un- 
mittelbar hinter  einander  als  Argonauten  aufgezählt  haben  sollte, 
ohne  auf  das  verwandtschaftliche  Verhältnis  ausdrücklich  hinzu- 
weisen,   ist    nicht   sehr  wahrscheinlich^).     Vielmehr  folgt  er  hier 

1)  Hingegen  scheint  ein  ßolches  in  dem  Satz  über  Admet  vorzuliegen,  der 
mit  den  Worten  schließt  monte  Chalcodonio,  unde  oppidum  et  flumen  nomen  traxit. 
Der  Name  des  Berges  ist  dem  Apollonios  entnommen  I  50  vrto  a-aomriv  ögsog 
Xal-noScovCoLO,  aber  eine  Stadt  und  ein  Fluß  dieses  Namens  sind  sonst  nicht  be- 
zeugt und  ihre  Existenz  ist  nicht  gerade  wahrscheinlich.  Nun  sagen  aber  die 
Scholien  ai  ^sqccI  diVOfjLccßd'riaccv  ccno  ^BQriTOi  xov  Kgrid'icogf  tov  'Adinfixov  tov 
nccTQog.  Also  gehört  der  Relativsatz  hinter  Pheretis  filium,  und  wenn  auch  ein 
Flüßchen  Pheres  sonst  nicht  vorkommt,  so  kann  man  doch  eher  an  es  glauben, 
als  an  einen  Chalkodon. 

2)  So  durchgehend  im  zweiten  Buch  der  Astronomica. 

3)  Anders  liegt  der  Fall  weiter  unten,  wo  Hygin  die  Liste  des  Apollonios  aus 
verschiedenen  Nebenquellen,  vielleicht  aus  vollständigeren  Scholien  ergänzt,  und 
zwei  weitere  Söhne  des  Kaineus,  Focus  und  Priasus  (die  Namen  sind  noch  nicht 
geheilt)  nennt.  Beachtenswert  ist,  daß  er  auch  als  deren  Heimat  Magnesia  be- 
zeichnet. 


i 


Der  Argonautenkatalog  in  Hygins  Fabelbuch.  473 

nicht  dem  Apollonios,  sondern  dessen  Scholiasten,  bei  dem  wir 
lesen  tivhg  de  (paöi  Kaivia  0v(i:t?,sv6aL  tolg  ^AQyovavtaig^  ov  Köqcovov. 
Di6  Worte  urhe  Gyrtone  oder  wie  man  nach  dem  festen  Sprach- 
gebrauch Hygins  schreiben  muß ,  (ex)  urhe  Gyrtone  beziehen  sich 
also  auf  Kaineus  und  gehören  hinter  Caeneus  Elati  filius  Mag- 
nesius.  Sie  sind  dort  ausgefallen,  am  Rande  nachgetragen  und 
später  an  falscher  Stelle  eingefügt  worden.  Schwierigkeit  macht 
dann  nur  noch  der  angefügte  Relativsatz  quae  est  in  Thessalia. 
Ihn  in  die  Umstellung  mit  hineinzuziehen  geht  nicht  wohl  an; 
denn  Magnesius  ex  urhe  Gyrtone  quae  est  in  Thessalia  wird  Hygin 
schwerlich  geschrieben  haben. '  Läßt  man  ihn  aber  an  seinem  alten 
Platz,  so  erhält  man  Larissaeus,  quae  est  in  Thessalia,  was  ebenso 
unmöglich  ist.  Vielleicht  liegt  aber  hier  derselbe  Fall  vor,  wie  wir 
ihn  unten  an  einer  anderen  Stelle  bei  den  Dioskuren  finden  werden, 
wo  der  Interpolator  Spartanos  aus  ex  urhe  Sparta  gemacht  hat. 

Nach  einer  anderen  Version  hieß  der  Vater  des  Kaineus  nicht 
Elatos,  sondern,  wie  sein  Enkel,  Koronos,  ApoUodor.  I  9,  16,  8. 
Diese  Angabe  fand  Hygin  in  einer  seiner  Nebenquellen,  nahm 
daher  unter  den  Argonauten  einen  doppelten  Kaineus  an  und 
schrieb' weiter  unten:  Caeneus  alter,  Coroni  filius,  {ex)  Gyrtone. 

Noch  eine  Bemerkung  zu  den  mit  Recht  beanständeten  Worten 
truncis  arhorum  in  cuneum  adactis.  Daß  sich  die  Kentauren  der 
Baumstämme  bedienen,  um  den  gegen  Eisen  gefeiten  Kaineus  zu 
töten,  versteht  man;  aber  was  soll  es  heißen,  daß  sie  diese  Stämme 
zu  einem  Keil  aufschichten?  Scheffer  wollte  in  cumulum  adiectis 
nach  Ovid.  Met.  XII  514  f.  ohrutus  immani  cumulo  sub  pondere  Cae- 
neus aestuat  arboreo,  Muncker  in  eum  coniectis  (oder  congestis)  nach 
Lactant.  arg.  Met.  XII  4.  congestisque  in  eum  arhorum  truncis 
schreiben ;  diesen  Gedanken  griff  Bunte  auf,  indem  er  annahm,  daß 
cuneum  aus  einer  übergeschriebenen  Grlosse  Caeneum  verderbt  sei. 
Aber  Hygin  hat  die  in  den  Schollen  citierte  Pindar stelle  (fr.  167 
Sehr.)  im  Auge:  Ö  dh  x^^Q^^S  i^cctai^L  tvTCslg  fp%B^^  vno  yß-ovoc 
Kaivsvg  6xi&aig  ögd-a  Tcodl  yäv.  Auf  den  unverwundbaren  Kaineus 
kommen  die  Kentauren  mit  ihren  Fichtenstämmen  los,  bis  sie  ihn 
in  die  Erde  hineingetrieben  haben  —  wie  einen  eisernen  Keil.  So 
stellen  auch  die  zahlreichen  Bildwerke  die  Sache  dar,  nur  daß 
sich  dort  die  Kentauren  außer  den  Stämmen  auch  mächtiger  Fels- 
blöcke bedienen.  Ovid  hat  den  Vorgang  mißverstanden,  wenn  er 
Kaineus  unter  den  Stämmen  ersticken  läßt.  Hygin  hat  also  ge- 
schrieben: truncis^  arhorum  (tit)  in  cuneum  adactis. 

Eine  ähnliche  Satzumstellung,  die  ebenfalls  auf  Auslassung, 
Nachtragen  am  Rand  und  Einsetzen   an  falscher  Stelle  zurückzu- 


474  <^'arl  Robert, 

führen  sein  wird,  hat  Berkel  in  dem  Abschnitt  erkannt,  der  von 
den  Plätzen,  die  den  vornehmsten  Helden  in  der  Argo  einnahmen, 
handelt,  der]  jedoch  nicht  dem  Apollonios,  sondern  einem  Autor 
entnommen  ist,  den  sicher  auch  Valerius  Flaccus  ^),  vielleicht  auch 
Philostrat  ^)  benutzt  hat.  Am  Vorderteil  sitzt  der  scharfblickende 
Lynkeus;  das  Commando  über  die  beiden  Ruderreihen  führen  die 
Boreaden,  die  beiden  ersten  Plätze  unter  den  Rudern  nehmen  die 
Aeakiden,  die  letzten  Herakles  und  Idas  ein.  Orpheus  gab  durch 
Gesang  und  Spiel  den  Tact  an:  proreta  navigavit  Lynceus  Äpharei 
films^  qui  multum  videbat,  toecharcln^)  aiitem  fuerunt  Zetes  et  Calais 
Aquilonis  filii,  qui  pennas  et  in  capite  et  in  pedibus  hdbuerunt.  ad 
prorae  {prora  ei  Fr.)  renios  sederimt  Peleus  et  Telamon,  ad  pitultim  ^) 


1)  Argonaut.  I  353  ff.  hinc  laevom  Telamon  pelagus  tenet,  altior  inde  oecupat 
Aleides  aliud  mar e.  403  ff.  nee  Peleus  fretus  soeeris  et  eoniuge  diva  defuit,  ac 
prora  splendet  tua  euspis  ah  alta,  Aeaeide.  460  ff.  breviore petit  iam  caerula  remo 
oecupat  et  longe  sua  transtra  nqvissimus  Idas.  at  frater  magnos  Lyneeus 
servatur  in  usus,  quem  tulit  Arene,  possit  qui  rumpere  terras  et  Styga  trans- 
misso  tacitam  deprendere  visu,  fluctibus  e  mediis  terras  dabit  ille  magistro  et 
dabit  astra  rati,  cumque  aethera  luppiter  umbra  perdiderit,  solus  transibit  nubila 
Lyneeus.  quin  et  Ceropiae  proles  vaeat  Oritliyiae,  temperet  uftremulos 
Zetes  fraterque  eeruehos  (vgl.  Artemid.  II  23,  unten  A.  3j.  nee  vero  Odrysius 
transtris  impenditur  Orpheus  aut  pontum  remo  subigit,  sed  earmine  tonsas 
ire  doeet,  summo  passim  ne  gurgite  pugnent.  S.  0.  Jessen  a.  a.  O.  21;  Maria  Goetz 
de  scholiastis  graecis  poetarum  romanorum  auctoribus  quaest  sei.  (Diss.  Jen.  1918)68. 

2)  Imag.  II  15,  1  ticcl  ^sXysL  rrjv  %'dXattav  'O Qcp  £  v$  adcov,  i)  ds  ccytovEL 
xal  vTtb  tfj  adfi  TiSLtaL  ö  Ilövros,  rä  ^sv  drj  aycoyiiLU  tfig  vs^s  ^LoanovQOi  v.ceX 
^Hgu-üXris  Ala%ld  ai  ts  -accl  Bogscid  a  l  %cd  060v  tfi<s  rjpud'EOv  q)OQ&g  ijvQ'SL. 
3  "ncil  TiQpvg  (liv,  co  nccL,  v.v§EQvä,  Xsysrca  Sl  ovtoöl  TtQöbtos  ävd-QOjncov  äniatov- 
liivr\v  Q'dQQfiGai  xr]v  xE%vr]v,  AvynEvg  8e  6  'Aq}aQEcog  ETtitEtccyiTUL  ty  Ttgöoga, 
dsLvbg  wv  sk  tioXXov  xe  löelv  v.al  ig  noXv  KccxccßXsipaL  xov  ßdd-ovg  xal  Ttg&xog  fiEV 
v7CO'ii£L}i£vcov  SQiidroDV  ul6%'E6%'ai,  nQ&xog  ÖE  VTCocpULVovaav  yfjv  a.GTtdaaad'cii. 
Abgesehen  von  den  selbstverständlichen  Dioskuren  sind  das  dieselben  Argonauten, 
die  Hygin  an  der  fraglichen  Stelle  nennt,  auch  Tiphys,  s.  u.  S.  475. 

3)  So  Muncker  für  das  tutarehi  des  Fris.  Vgl.  Artemid.  I  35  aQXEi  6e  tve- 
QLVEov  [lEv  6  xoLxccQXog.  II  23  -Kccl  xb  nEQug  xbv  xoC%aQ%ov  (ari(icctv£L).  PoU.  I  95 
6  8s  xoL%aQ%og  övoficc^oiiEvog  X6y<p  av  XEyoito  xoC%oiv  icQ^ög.  Luk.  dial.  meretr. 
14,  3  vvv  yag  r^87\  xoC%ov  a.Q%oa  xov  ds^iov. 

4)  Dies  Wort  hat  Hygin  offenbar  aus  seiner  griechischen  Vorlage  beibehalten  ; 
es  bezeichnet  eigentlich  den  Ruderschlag,  erhält  aber  bei  den  Dichtern  auch  die 
Bedeutung  „Schiff",  Eur.  Tr.  1123  vEoig  (iev  ntxvXog  stg  XsXsLiiEvog  und  dazu 
Schol.  avxl  xov  fiia  vavg.  nCxvXog  yccQ  7}  HcoTCi^XccaLCc,  vgl.  Tr.  817  f.  8ig  de  dvoiv 
mxvXoiv  XELXT}  TtEQlJaQdaviugjiCpoLVLcc  kdcxeXvgev  alx^d.  I.  T.  1050  hccI  [ir}v  vsojg 
ys  nCxvXog  Evriqrig  ndgcc.  Durch  ad  pitylum  wird  also,  abgesehen  von  der  un- 
passenden Praeposition,  der  Platz  des  Herakles  und  Idas  in  der  Argo,  der,  wie 
wir  aus  Valer.  Fl.  I  461  (oben  A.  1)  entnehmen,  der  letzte  in  jeder  Reihe  war 
nicht  näher  bezeichnet.    Es  wird  zu  schreiben  sein:  ad  pitu<U  gubernacu>lum. 


Der  Argonaiitenkatalog  in  Hygins  Fabelbuch.  475 

sederimt  Hercules  et  Idas.  ceteri  ordinem  servaverimt.  celeiima  dixit 
Orpheus  Oeagri  filius.  Hier  stört  die  Bemerkung,  daß  die  übrigen 
Argonauten  die  Reihe  beibehalten  hatten;  man  würde  erwarten 
ceteri  reliqua  transtra  occupaverunt^  wenn  dies  nicht  selbstverständlich 
wäre.  Nun  fährt  aber  Hygin  fort:  post  relicto  ab  (eis)^)  Herade 
loco  eins  sedit  Peleiis.  Also  nachdem  der  den  geraubten  H3^1as 
suchende  Herakles  von  den  Argonauten  in  Mysien  zurückgelassen 
worden  war,  nahm  Peleus  seinen  Platz  ein,  d.  h.  er  rückte  von  der 
ersten  Stelle  seiner  Reihe  an  die  noch  wichtigere  letzte.  Danach 
ist  die  Bemerkung,  daß  die  übrigen  Argonauten  ihre  Plätze  be- 
hielten, durchaus  angemessen,  und  der  Satz  ceteri  ordinem  servaverunt 
gehört  also  hinter  Peleus. 

Auch  am  Anfang  dieses  Abschnitt«  ist,  wie  Muncker  gesehen 
hat,  ein  Sätzchen  ausgefallen,  aber  diesmal  nicht  am  Rande  nach- 
getragen worden.  Überliefert  ist:  faber  Argus  Danai  filiuSj  cuius 
post  mortem  rexit  navem  Ancaeiis  Neptuni  füius.  Danach  würde 
Argos  nicht  nur  der  Erbauer  der  Argo,  sondern  auch  ihr  erster 
Steuermann  gewesen  sein,  aber  davon  weiß  weder  Apollonios  etwas 
noch  die  sonstige  Überlieferung.  Hygin  selbst  hat  vorher  in  Über- 
einstimmung mit  der  feststehenden  Anschauung  des  gesammten 
Altertums  Tiphys  als  den  Steuermann  bezeichnet,  Tiphys  Phorhantis 
et  Hyrmines  fdius^)  Boeotiiis,  is  fuit  gubernator  navis  Argo,  und 
etwas  weiter  unten  erzählt,  daß  nach  dessen  Tode  Ankaios  an  seine 
Stelle  trat :  Tiphys  autem  morho  ahstimptus  est  in  Maryandinis  in 
Propontide  apud  Lycum  regem,  pro  ([uo  navem  rexit  Colchos  Ancaeus 
Neptuni  filius:  dasselbe  wiederholt  er  fab.  18:  Tiphys  Phorhantis 
filius  moritur,  tunc  Argonautae  Ancaeo,  Neptuni  filio,  navem  Argo 
guhernandam  dedere.  Die  Quelle  ist  Apollonios  II  850  ff.,  _aus  dem 
auch  Apollodor  I  9,  23,  1  schöpft.  Also  hat  Muncker  mit  Recht 
vor  ciiitts  post  mortem  die  Worte  '  gidternator  fuit  Tiphys  einge- 
schoben^). Auch  in  dem  den  Schluß  des  Capitels  bildenden  Citat 
aus  Ciceros  Phaenomena  sind  drei  Verse  ausgefallen,  ohne  am 
Rand  nachgetragen  zu  sein. 

Von  '  dem  Thestiaden  Iphiklos  heißt  es :  Iphiclus  alter,  Thestii 
filius,  matre  Leucippe,  Althaeae  frater  ex  eadem  matre,  Lacedaemonius. 
Hier  müssen  die  Worte  ex  eadem  matre  befremden,  zumal  kurz 
vorher  matre   Leucippe   steht.     Bei  Apollonios    findet    sich   nichts 


1)  Durch  den  einfachen  Einschub  dieses  Wörtchens  hat  Perizonius  die  Stellt 
geheilt. 

2)  Über  diese  unmögliche  Genealogie  s.  u.  S.  476  f. 

3)  Vgl.  Philostr.  a.  a.  0.  S.  474,  A.  2. 


476  Carl  Robert, 

ähnliches,  wohl  aber  heißt  es  bei  diesem  von  dem  unmittelbar 
vorher  genannten  Oheim  des  Meleager,  Laokoon,  I  191  s.  ^aoxdcoi/ 
OlvYiQis  dd£Xq:£6g'  ov  ^ihv  Irjg  ye^rjtSQog,  äXXd  e  d^7}66a  yvvri  ths. 
Mit  Kecht  hat  daher  M.  Schmidt  die  fraglichen  Worte  auf  Laokoon 
bezogen  und  sie  mit  hinzugefügter  Negation  zwischen  Oenei  filius 
und  Calydonius  gestellt;  auch  sed  hätte  er  noch  hinzufügen  sollen. 
"Wieder  waren  diese  Worte  sed  non  ex .  eadem  matre  im  Archetypos 
ausgefallen,  sind  dann  am  Rande  nachgetragen,  an  falscher  Stelle 
von  einem  Abschreiber  eingesetzt  und  durch  Tilgung  der  bei 
Iphiklos  nicht  passenden  Negation  in  ihr  Gegenteil  verkehrt 
worden.  Dagegen  hat  Schmidt  entschieden  geirrt,  wenn  er  auch 
die  folgende  Charakteristik  des  Iphiklos  hie  fuit  acer^)]  Cursor, 
iaculator  an  eine  frühere  Stelle  unter  den  Arkader  Ankaios  gestellt 
hat ;  denn  eben  von  Iphiklos  sagt  Apollonios  I  199  f.  ev  ^sv  aKovtCj 
£v  Ö£  Kai  iv  öraöCri  dsdarj^evog  ävncpsQsöd^ai^),  welche  Worte  Hygin 
paraphrasiert.  Otto  Jessen,  der  dies  richtig  bemerkt,  hätte  aber 
nicht  so  weit  gehen  dürfen,  auch  die  Notwendigkeit  der  Um- 
stellung der  Worte  ex  eadem  matre  zu  bestreiten. 

Das  sind  die  bisher  erkannten  Fälle.  Es  sind  ihrer  aber  viel 
mehr,  und  welche  Verwüstung  die  Einfügung  der  ausgelassenen 
Worte  an  falscher  Stelle  angerichtet,  welch  unmögliche  Genea- 
logien sie  geschaffen  hat,  welche  Interpolationen  sich  die  Ab- 
schreiber erlaubt  haben,  ist  noch  lange  nicht  im  ganzen  Um- 
fange beobachtet  worden. 

Ich  beginne  mit  einem  Falle,  auf  den  ich  schon  in  den  ein- 
leitenden Worten  hingewiesen  habe:  Von  dem  berühmten  Steuer- 
mann der  Argo  heißt  es:  Tiphys,  Phorhantis  et  Hyrmines  filius, 
Boeotius.  Hyrmine  ist  die  Eponyme  einer  eleischen  Stadt  (IL  B 
616.  Str^b.  Vni  341.  Paus.  I  5,  1  s.)  und  demgemäß  nach  Paus, 
a.  a.  0.  eine  Tochter  des  Epeios,  nach  Schol.  ApoUon.  I  172  des 
Neleus.  Phorbas  ist  allerdings  ein  verbreiteter  Heroenname, 
sein  berühmtester  Träger  aber  ist  gleichfalls  ein  Eleer  oder  ein 
nach  Elis  eingewanderter  Lapithe  (Diod.  IV  69),  Großvater  des 
Kaukon  und  Urgroßvater  des  Lepreus  (Zenodot  bei  Athen.  X  412 
A;  Aelian  v.  bist.  I  24),  Vater  des  Aktor,  den  er  nach  Paus.  a.a.O. 
mit  derselben  Hyrmine  erzeugt,  die  ihm  nach  Hygin  den  Tiphys 
geboren  haben   soll.    Um  so  mehr  befremdet   es,   daß  der  Mytho- 


1)  So  wird  für  Areas  zu  lesen  sein  {acris  Muncker) ;  aber  auch  Lacedaemonius 
ist  verdächtig. 

2)  Das  Vorbild  ist  II.  O.  282  s,    wo   es   von    einem    anderen  Aetoler,    dem 
Thoas,  heißt  iTtiatdfisvog  (isv  &%ovxi,  icd'Xbg  d'  iv  GtadCri. 


Der  Argonautenkatalog  in  Hygins  Fabelbuch.  477 

graph  diesen  nicht  als  Eleer,  sondern  als  Boeotier  bezeichnet  ^). 
Sonst  heißt  der  Vater  des  Tiphys  nach  einstimmiger  Überlieferung 
Hagnios,  so  daß  man  erwarten  dürfte,  diese  Abstammung  von 
Hygin  wenigstens  als  Variante  angeführt  zu  sehen  und  wieder  an 
einen  Ausfall  denken  wird.  Nun  ist  aber  Phorbas  auch  Vater  des 
Augeias  (Apollod.  II  5,  5,  1)  und  von  diesem  heißt  es  Schol. 
Apollon.  I  172  ovtog  yovco  ^Iv  riv  7/Atov,  kTtUkYiaiv  ds  Oögßavtos 
6z  TTjg  NrjXscog  'Tq^lvtjs.  Den  Anfang  dieses  Satzes  liest  man  auch 
bei  Hygin,  und  zwar  auch  mit  Angabe  der  Mutter;  also  nach 
einer  vollständigeren  Fassung  des  Scholions:  Ätigeas  Solis  et  Nau- 
sidames  {Naupiäames  FRIS),  Ämphidamantis  fiUae  filius.  Kein 
Zweifel,  daß  ursprünglich  auch  der  zweite  Teil  folgte  alü  aiunt 
Fhorbantis  et  Hijrmines,  Diese  Worte  sind  ausgefallen,  am  Rand 
nachgetragen  und  an  einer  früheren  Stelle  hinter  Thiphys  einge- 
setzt worden,  wo  sie  das  richtige  Hagniae^)^  vielleicht  auch  den 
sonst  nirgend  überlieferten  Namen  der  Mutter,  verdrängt  haben. 
Auf  ähnliche  Weise  wird  auch  die  ganz  unmögliche  Angabe 
entstanden  sein,  daß  Argos  ein  Sohn  des  Danaos  gewesen  sei, 
zumal  sie  nur  als  Variante  auftritt:  Argus  Folyhi  et  Argiae  filiuSj 
alü  aiunt  JDanai  filium,  hie  fuit  Argivus.  Nun  kann  freilich  aus 
den  schon  oben  dargelegten  Gründen  kein  Argonaut,  wie  über- 
haupt kein  griechischer  Heros  als  Sohn  des  Danaos  bezeichnet 
werden,  wohl  aber  als  sein  Enkel  Danai  (filiae)  filius.  Und  in  der 
Tat  lesen  wir  bald  darauf:  Natiplius  Neptuni  et  Amymones  Danai 
filiae  filius,  Argivus;  das  entspricht  den  Worten  des  Apollonios 
I  133  f.  ra  <5'  £7tL  drj  d'sCoLO  xCsv  zlavaoto  yivEd'lov  NccvTtXios  und 
dem  Scholion  dazu:  vlbg  nodstd&vog  nal  ^J^v^6vrjg' tilg  Javaov, 
Die  Worte  Danai  filiae  filius  waren  ausgefallen  und  am  Rande 
nachgetragen  worden.  Sie  sind  dann  an  zwei  verschiedenen  Stellen 
in  den  Text  eingefügt  worden,  an  der  richtigen  bei  Nauplius  und 
an  einer  falschen,  bei  Argus,  hier  als  Variante  mit  Zufügung 
von  alii  aiunt  und  Weglassung  von  filius,  so  daß  Danaos  nun  einen 
Sohn  erhielt.  Als  Grund  für  diese  doppelte  Einfügung  wird  man 
vermuten  dürfen,  daß  der  Randnachtrag  nach  dem  von  Brinkmann 
erläuterten  Schreiberbrauch  ^)  mit  dem  Stichwort  Argivus,  dem  Wort 


1)  Den  Erklärungsversuch  C.  O.  Müllers  (Orchom.  264)  wird  heute  Niemand 
mehr  vertreten  wollen. 

2)  Daß    dabei    die    sehr    entfernte  Ähnlichkeit   der    Buchstaben   hagni  und 
HYRMIN  mitgewirkt  hat,  ist  möglich,  aber  nicht  gerade  wahrscheinlich. 

3)  Rhein.   Mus.   LVU  1902  S.  481  ff.    S.    auch    Praechter  Herrn.  L  1915  S. 
626  ff.  LI  1916  S.  316  ff.  LH  1917  S.  156  f. 

Kgl.  Ges.  d.  Wiss.    Nachrichten.    Phil.-hist.  Klasse.    1918.    Heft  4.  32 


478  Carl  Robert 

■>».  • 

vor  dem  er  einzufügen  war,  bezeichnet  war.  Da  nun  aber  kurz 
vorher  auch  unter  Argus  das  Ethnikon  Argivus  steht,  wurde  ein 
Abschreiber  zweifelhaft,  wohin  der  Nachtrag  gehörte  und  setzte 
ihn  an  beiden  Stellen  ein,  das  eine  mal  mit  den  durch  den  Zu- 
sammenhang gebotenen  Änderungen.  Aber  auch  die  Abstammung 
von  Arestor,  der  bei  Apollonios  und  überhaupt  nach  allgemeiner 
Überlieferung  Vater  des  Argos  ist,  kann  nicht  gefehlt  haben. 
Mindestens  als  Variante  wird  man  sie  erwarten.  Wahrscheinlicher 
aber  ist  daß  der  Name  wegen  der  gleichen  Anfangsbuchstaben 
ausgefallen  ist  und  daß  Hygin  geschrieben  hatte  Argus  Arestoris  et 
Argiae  Folybi  filiae  filius. 

In  einem  anderen  diesem  sehr  ähnlichen  Fall  war  der  Aus- 
gangspunkt nicht  eine  Lücke,  sondern  eine  schwere  Textverderbnis. 
Vor  den  im  Anfang  besprochenen  an  falsche  Stelle  verschlagenen 
Worten  ab  oppido  CerintJio  stand  im  Frisingensis :  Eiirytion  Iri  et 
JDemonassae  fiUus.  Ixition.  Die  Quelle  ist  Apollonios  I  74  "Iqov 
d'  'EvQvrCcDv.  Die  Mutter  Demonassa  wird  Hygin  einem  vollstän- 
digeren Scholion  entnommen  haben.  Das  Wortungetüm  Ixition 
aber  ist  nichts  anderes  als  das  verstümmelte  Iri  et  Demonassae, 
wobei  vielleicht  mitwirkte,  daß  das  Auge  des  Schreibers  auf  das  kurz 
vorher  (unter  Pirithous)  stehende  Ixionis  filius  abgeirrt  ist.  Neben 
der  vom  Rande  in  den  Text  eingetragenen  Correctur  ist  dann  die 
Corruptel  stehen  geblieben.  Aber  diesmal  war  der  Randcorrectur 
als  Stichwort  nicht  das  folgende,  sondern  das  vorhergehende  Wort, 
der  Name  Eurytion  und  zwar  offenbar  in  der  Abkürzung  Eury 
beigeschrieben.  Dies  Stichwort  bezog  ein  Abschreiber  statt  auf 
Eurytion,  auf  den  kurz  vorher  genannten  Eurydamas,  von  dem 
Hygin  ursprünglich  bemerkt  hatte  Eurydamas  Gtimeni  filius,  qui 
iuxta  lamm  Xyniwn  ^)  Dolopeidem  urbem  inJiahitabat  entsprechend 
den  ApoUoniosversen  I  67  f.  rjds  xal  EvQvdd^ag  Kzi(jLevov  Ttdig '  ay%v 
de  XL^vi]g  Swidöog  Ktiiiivriv  /loXonriida  vcastdaöKsv.  Nachdem  dann 
die  Worte  Iri  et  Demonassae  filius  eingesetzt  waren,  mußte  diese 
richtige  G-enealogie  zur  Variante  herabsinken,  und  so  schrieb  denn 
der  Interpolator  alii  aiunt  Gtimeni  filium  etc.  Ahnlich  ist  es  auch 
zu  beurteilen,  wenn  der  samische  Ankaios  Sohn  der  Thestiostochter 
Althaea  heißt  (Althaea  Thestii  Nie.  Heinsius;  der  Frisingensis  mit 
falscher  Wortabteilung  Atta  CatJiesti),  während  er  bei  Apollonios 
II  866  SS.,  nach  den  Schollen  I  185,  II  866  und  Pausanias  VII  4,  1 
Sohn  der  Phoinixtochter  Astypalaia  ist,  eine  Grenealogie,  die  Hygin 


1)  Bunte   wollte    hier   aus  Apollonios    Ctimenen    einsetzen;    unbedingt   not- 
-vrendig  ist  das  nicht. 


Der  Argoiiautenkatalog  in  Hygins  Fabelbucb.  479 

selbst  an  einer  späteren  Stelle  anführt  und  auch  auf  Klymenos 
oder  wie  er  ihn  auch  dort  nennt  Periiklymenos  ausdehnt ').  Aller- 
dings kennt  die  Ilias  einen  Pleuronier  Ankaios  W  635  (danach 
Quint.  Smyrn.  IV  311  f.)  und  nennt  Asios  als  Mutter  der  Asty- 
palaia  und  Gremahlin  des  Phoinix  eine  Tochter  des  Oineus  Perimede. 
Aber  zwischen  Pleuron  und  Samos  besteht  sonst  keine  Verbindung, 
und  Oineus  wird  bei  dem  samischen  Epiker  wohl  nicht  der  König 
von  Kalydon,  sondern  Kurzform  für  den  Oinopion  von  Chios  ge- 
wesen sein.  Auch  kennt  die  Sage  Althaia  wohl  als  Geliebte  des 
Dionysos  und  des  Ares,  aber  nicht  als  solche  des  Poseidon.  Da 
nun  bei  Hygin  unmittelbar  darauf  unter  Meleager  die  Worte 
Althaeae  Thestii  filiae  folgen,  so  wird  es  sich  wohl  wieder  um  Aus- 
lassung und  Randnachtrag  handeln,  den  ein  Abschreiber  als  Cor- 
rectur  des  ihm  ungewohnten  ÜSTamens  Astypalaea  mißverstand. 

Derselbe  Fall  liegt  bei  Mopsos  vor.  Im  Frisingensis  stand: 
Mopsus  Ampyci  et  ChloricUs  fiUus.  hie  augurio  doctus  ab  Apolline, 
ex  Oechalia  vel,  ut  quidam  ptutant,  Lyparensis.  Die  paraphrasierten 
Apollonios-Verse  lauten  I  65  f. :  ^'Av'9'f  d'  av  M64fog  TituQYi6iog^  ov 
7C£qI  TtdvTcov  Ar]toid7]g  edida^s  dso^QOJtCag  olcovcjv,  wonach  schon  Mi- 
cyllus  das  unsinnige  L^jparensis  in  Tltaresius,  Muncker  in  Tilarensis 
verbessert  hat.  Die  Eltern  entnahm  Hygin  den  Scholien :  ^A^tcvxov 
vLog  6  Möijjog  tov  Tixagovog,  iirirgog  de  XXcoQLÖog.  Aber  daß  nach 
einer  anderen  Tradition  der  Seher  in  Oichalia  —  sei  es  dem  thes- 
salischen  oder  dem  euböischen  (das  messenisch-arkadische  kommt 
nicht  in  Frage)  —  zu  Hause  gewesen  sei,  davon  steht  weder  in 
den  Scholien  noch  sonst  wo  etwas  zu  lesen.  Nun  folgen  aber  im 
Katalog  bald  darauf  zwei  Argonauten,  die  wirklich  aus  Oechalia 
sind,  Klytios  und  Iphitos,  die  Söhne  des  aus  der  Heraklessage  be- 
kannten Eurytos:  Clytius  et  Iphitus,  Euryti  et  Antiopes  Pylonis 
filiae  fdius,  reges  O.echaliae.  hie  concessa  ab  ApolUne  sagittarum  scientia 
cum  aiictore  mimeris  contendisse  dicitur.  Das  entspricht  den  Apol- 
lonios-Versen  I  86  ff.  toj  d'  ccq  stcl  KkvtCog  ts  aal  "Icpitog  riysQe- 
d'ovto,  Ol%aUi]g  i^tlovQOi^),  äm^vsog  EvQvtov  vUg,  Evqvtov,  cj  Ttöge 
TÖlov  'EzYißöXog'  ovd'  aTtövrjto  dcotCvr^g '  uvt(p  yäg  ixav  iQLÖrjvs  doTi}Qi. 


1)  Fab.  157  Neptuni  filii  ....  Periclymmus  (Erictymenm  Fr.,  verb.  v. 
Muncker)  et  Ancaem  ex  Astypalaea  (Äntheus  ex  Ästyphüe  Fr.,  verb.  v.  Scheffer) 
Phoenicis  fiUa. 

2)  Diese  "Worte,  die  Hygin-  durch  reges  Oechaliae  wiedergibt,  verbieten  es 
bei  ihm  regis  Oechaliae  zu  schreiben,  wodurch  sowohl  der  Anschhiß  des  nächsten 
Satzes  hie  concessa  ah  Apolline  etc.  als  der  des  übernächsten  huius  filius  Clytius. 
ah<hoc>  Aretus  (Aeeta  Fr.)  interfectus  est.  (s.  über  die  Lesung  Arch.  Jahrb.  III 
1888  S.  53)  besser  werden  würde. 

32*- 


480  Carl  Robert, 

Die  Mutter  fand  der  My thograph  in  dem  Scholion :  :tatdsg  ^Avtioitrig ; 
er  muß  es  aber  nocli  vollständiger  mit  dem  Namen  des  mütterliclien 
Großvaters  Pylon  gelesen  haben,  der  auf  Hesiods  Kataloge  zu- 
rückgebt (fr.  110,  Schol.  Laur.  Soph.  Trach.  266),  wo  er  aber  zu 
TtaXaiov  verderbt  und  erst  von  Bentley  aus  Hygin  wieder  herge- 
stellt worden  ist.  Nun  scheint  Oechaliae  im  Text  ausgefallen  und 
am  Rand  nachgetragen  worden  zu  sein,  diesmal  mit  längerem 
Stichwort:  hie  concessa  ab  Apolline^)]  das  ist  aber  den  von  Mopsos 
gebrauchten  Worten  Mc  augurio  doctus  ab  Äpolline  ähnlich;  und 
so  fügte  ein  Abschreiber  es  auch  dort  in  der  Form  ex  Oeelialia 
ein.  Nun  mußte  aber  die  wirkliche  Heimat  Titaron  wiederum  zur 
Variante  herabsinken  und  wurde  durch  vel  ut  quidem  putant  ange- 
knüpft. Endlich  haben  wir  schon  oben  (S.  470)  denselben  Fall 
bei  Oileus  constatiert,  zu  dem  die  auf  den  ausgefallenen  Kanthos 
bezüglichen  Worte  ex  Euboea,  durch  alü  ahmt  als  Variante  ange- 
knüpft,   verschlagen  worden  sind. 

Ein  anderer  Fall  entbehrt  nicht  eines  gewissen  Humors.  Im 
Frisingensis  stand  Äncaeiis  Lycurgi  filitis,  alii  nepotem  dicunt,  Te- 
geates.  Nun  ist  es  gewiß  denkbar,  daß  in  einer  arkadischen  Kö- 
nigsliste Ankaios  eine  Generation  tiefer  gerückt  worden  war ;  aber 
in  unserer  sonstigen  Überlieferung  ist  niemals  Lykurgos,  sondern 
stets  Aleos  sein  Großvater^).  So  auch  bei  ApoUonios,  der  ihm 
seinen  beiden  Oheimen  Amphidamas  und  Kepheus  anreiht  und  seine 
Teilnahme  damit  begründet,  daß  sein  Vater  Lykurgos  ihn  an  seiner 
Stelle  mitgeschickt  habe,  weil  er  selbst  zur  Pflege  des  greisen  Aleos 
zu  Hause  bleiben  wollte;  I  161  ff.  'aal  ^ijv  'J^cpidcc^iag  Kricpsvg  z 
Yöav  'AQxadCri^ev,  ot  Tayiriv  xaX  TilfJQOV  'AcpSiddvrsLov  svaiov,  vis  ovo 
'AXsov'  tQkatög  ye  iiev  eönex'  lovdiv  Hynaiog^  xhv  ^ev  ga  TtatijQ 
jivaooQyog  sitenTtsv,  tg)v  c)C[i(pco  yvcotbg  %Qoysv86teQog,  äXX''  o  iiev 
i^örj  yr]QK67covr  AXebv  XCjtst  cc^  nokiv  0(pQcc  xoiiCt,OL,  Ttatda  d'  ibv 
6(pstBQ0L6i  y.a6iyvrixoi0iv  oTcaöösv.  Danach  Hygin  Ampidamas  et 
Cepheus  Alei^)  et  Cleobules  filii  de  Arcadia.  Die  Mutter  Kleobule 
hat  Hygin  wieder  aus  einem  vollständigeren  Scholion;  in  derTele- 


1)  Vielleicht  auch  nur  Mc — ah  ApolUne. 

2)  Vgl.  die  Zusammenstellung  der  Listen  bei  Hiller  von  Gaertringen  IG 
V  2  p.  XXX. 

3)  Egei  Fris.  ;  schon  von  Micyllus  verbessert.  Der  Schreiber  dachte  an 
Aegeus,  den  Vater  des  Theseus.  Der  Fall  gehört  zu  den  im  Arch.  Jahrb.  a.  a.  O. 
erörterten,  wo  ein  entlegener  Heroennamen  durch  einen  bekannteren  ersetzt  wird. 
Auf  ähnliche  Weise  ist  bei  dem  Apollonsohn  Idmon  als  Mutter  die  berühmte 
Kyrene  eingeschmuggelt;  Hygin  hatte  geschrieben  Ästeries  Coroni  fiUae  filius,  s. 
Pherckydes  Schol.  Apollon.  I  139. 


Der  Argonautenkatalog  in  Hygins  Fabelbuch.  481 

phossage  heißt  sie  Neaira,  Apollod.  III  9,  1,2,  Hyg.  fab.  243 
(Megera  FR.,  verbessert  von  M.Schmidt);  bei  Apollod.  III  9,  2,  1 
heißt  die  Gattin  des  Lykurgos  Kleophyle.  Nach  dem  Gesagten 
wird  man  nicht  bezweifeln,  daß  Hygin  Ancaeus  Lycurgi  fäius,  Alei 
nepos  geschrieben  hat.  Die  beiden  letzten  Worte  waren  ausge- 
lassen und  am  Eand  nachgetragen  worden.  Ein  Abschreiber  hielt 
Älei  für  alii  und  setzte  als  Variante  in  den  Text  alü  nepotem  dicunt. 

Nur  auf  solche  Weise  erklärt  sich  auch  die  unglaubliche  Tau- 
tologie in  dem  Satz  über  die  Dioskuren:  Castor  et  Pollux  lovis  ei 
Ledae  Thestü  fdiae  filnis  Lacedaemonü,  alii  Spartanos  dicunt»  Dadurch 
daß  man  die  letzten  Worte  mit  Muncker  als  ein  nimis  putidiim 
glossema  bezeichnet,  ist  ihre  Herkunft  noch  nicht  erklärt.  Bei 
Apollonios  steht  I  146  ff.  }ial  uriv  AltcoXlg  kqccxbqov  IIoXvdevzEa 
Arjdr}  KddtOQcc  t  cjxvTtödcov  agösv  dsdai]^svov  iJtTtcov  UTtaQtrid-sv. 
Also  hat  Hygin  geschrieben  Lacedaemonü  ex  Sparta.  Die  beiden 
letzten  Worte  sind  ausgefallen,  am  Rand  nachgetragen  und  in  der 
Fassung  alii  Spartanos  dicunt  von  einem  Abschreiber  als  Variante 
wieder  in  den  Text  gesetzt  worden. 

Bei  Eurytion  haben  wir  einen  Fall  gefunden,  wo  Corruptel 
und  Correctur  neben  einander  im  Text  stehen.  Dasselbe  beobach- 
ten wir  bei  dem  unmittelbar  vorhergenannten  Argonauten  Eri- 
hoteSj  Teleontis  filius.  Ameleon.  Vgl.  Apollonios  I  73  i]toi  o  ^sv 
Tsleovtog  ivxXsu^g  'EQvßarrjg.  Hier  ist  Ameleon  nichts  weiter,  als 
das  schwer  verderbte  Teleontis. 

An  anderen  Stellen  erscheint  die  Corre6tur  als  Variante. 
Über  das  achaeische  Brüderpaar  stand  im  Frisingensis :  Aster ion  et 
Ampliion  Ypetacli  filii,  alii  aiunt  Hlpasi,  ex  Pellene.  Apollonios  sagt 
I  176  f.  ^AöXBQLog  de  xal  AiKpCov  ^Titegaßiov  vlsg  IIsXh]vrig  acpiKavov 
'Axocudog.  Hyperasii  war  zu  Ypetacli  verderbt,  Hlpasi  ist  die  Cor- 
rectur,  die  aber  diesmal  nicht  an  den  Rand,   sondern  darüber  ge- 

HIP   R    SI 
schrieben  war    YPETACLI.     Ein  Abschreiber  hat  aus  diesen  Buch- 
staben  Hipasi  gemacht   und   dies    mit   alii   aiunt   als  Variante   in 
den  Text  gesetzt. 

Fast  dieselben  Worte  alii  Hippasi  filium  ....  fuisse  dicunt 
kehren  bei  dem  Nauboliden  Iphitos  wieder;  hier  sind  sie  aber 
anderen  Ursprungs.  Die  Stelle  lautet  im  Frisingensis:  Iphitus 
Nauholi  filius,  Fhocensis,  alii  Hippasi  filium  ex  Peloponneso  fuisse 
dicunt.  Also  scheinbar  nicht  nur  ein  anderer  Vater,  sondern  auch 
eine  andere  Heimat.  Bei  Apollonios  steht  I  207  f.  ex  d'  aga  Oca- 
^Yicov  Tcisv  'IfpLtog  'ÖQvvvCöao  Navßolov  ky.ysya^g.  Dazu  bemerken 
ergänzend  die  Scholien  röi/  de  "Icpirov  ysvealoyel  Navßolov  vm!  Hs- 


482  Carl  Robert, 

Qivscxrjg  trjg  'l7t%oiid%ov.  Also  hat  Hygin  geschrieben :  Iphitus  Naii- 
holi  filius  ex  Ferinice  HippomacM  filia  PJiocensis.  Die  beiden  Namen 
sind  im  Archetypus  schwer  verderbt  gewesen,  so  daß  ein  Ab- 
schreiber den  des  Grroßvaters  als  Hippasi,  den  der  Mutter  als  ex  Fe- 
loponneso  verlesen  konnte.  Da  sich  dies  mit  der  phokischen  Heimat 
des  Iphitos  nicht  vertrug,  glaubte  er  es  mit  einer  Variante  zu 
tun  zu  haben,  und  schrieb  alii  Hippasi  filium  ex  Feloponneso  fuisse 
dicunt. 

In  einem  anderen  Fall,  wo  die  Correctur  als  Variante  in  den 
Text  eingedrungen  ist,  hat  dies  auf  die  ganze  Umgebung  verheerend 
gewirkt,  zumal  auch  noch  Lücken  da  waren.  Wir  müssen  daher  die 
ganze  Stelle  im  Zusammenhang  betrachten;  sie  steht  in  dem  Ab- 
schnitt, der  von  den  Argonauten  handelt,  die  sich  erst  während 
der  Hinfahrt  angeschlossen  haben:  item  accesserunt  ex  insiila  Dia 
Fhrixi  et  Chalciopes  Medeae  sororis  filih  Argus,  Melas,  Fhrontides, 
Cylindrus,  ut  alii  aiunf,  vocitatos  Fhronius,  Demoleon,  Autolycus, 
Fhlogius,  quos  Hercules  cum  eduxisset  hahitunis  comites,  dum  Äma- 
zonum  halteum  petit,  reliquit  terrore  perpulsos  a  Dascylo,  qui  reyis 
Mansuaden  ßUa.  Danach  hätten  es  also  für  die  vier  Söhne  des 
Phrixos  zwei  verschiedene  Namenreihen  gegeben,  und  Herakles 
hätte  diese  Phrixossöhne  auf  seinem  Zug  ins  Amazonenland  mit- 
genommen. Sie  wären  aber  aus  Furcht  vor  Daskylos  zurückge- 
blieben, und  zwar  wie  man  nach  dem  überlieferten  Wortlaut  an- 
nehmen müßte,  auf  der  Insel  Dia^),  wo  sie  dann  von  dem  Argo- 
nauten gefunden  werden  und  mit  ihnen  nach  Kolchis  weiterfahren. 
Die  Söhne  des  Phrixos  heißen  bei  Apollonios  II  1030  if.  Argos, 
Melas,  Phrontis  und  Kytisoros,  und  dieselben  Namen  sind  durch 
Apollodor  I  9,  1,  4,  Valerius  Flaccus  V  460  ss.  und  Hygin  fab.  3 
(der  vierte  Namen  dort  ebenso  corrumpiert  wie  im  Argonauten- 
katalog) bezeugt.  Es  kann  daher  nicht  zweifelhaft  sein,  daß  bei 
Hygin  Cytisorus  statt  Cylindrus  und  Fhronüs  statt  Fhrontides  zu 
schreiben  ist.  Die  von  Herakles  auf  seine  Fahrt  ins  Amazonenland 
mitgenommenen  und  zurückgelassenen  Gefährten  sind  bei  Apollonios 
nicht  Söhne  des  Phrixos,  sondern  des  Deimachos  von  Trikka;  es 
sind  ihrer  nicht  vier,  sondern  nur  drei,  mit  Namen  Deileon,  Au- 
tolykos  und  Phlogios  II  955  ff.  svd-a  dh  TgiK^aCoio  äyavov  z/^^t/tta- 
%OLo  vhg,  Jriikscov  ts  xal  AvtöXvxog  ^loyCog  te  ZTJ^og  £^\  'HgaTtXrjog 
äjcoTtXaQx^evtsg,  evaiov  %tX.  Sie  haben  sich  am  Halys  niedergelassen, 
rufen  die  vorüberfahrende  Argo   an   und   werden   von    ihr  aufge- 


1)  Bei  Apollonios  II  1031  heißt   die  Insel  'AgritLccg,   daher  M.  Schmidt  viel- 
leicht mit  Recht  bei  Hygin  Aria  lesen  will,  während  Bunte  Aretiade  schreibt. 


Der  Argonautenkatalog  in  llygins  Fabelbuch.  483 

nommen.  Es  leuchtet  ein ,  daß  Hygin  hier  wieder  den  Apol- 
lonios  ausschreibt,  zumal  auch  die  Reihenfolge  der  Namen  die- 
selbe ist  wie  bei  ihm.  Demoleon  ist  ganz  gewiß  mit'  Muncker  in 
Beileon  zu  verbessern.  Nun  bleibt  aber  Phronius  übrig.  Dies  ist 
aber  sicherlich  nichts  anderes  als  die  wiederum  verderbte  Cor- 
rectur  von  PJirontides,  die  abermals  als  Variante  mit  ut  alü  u'mnt 
vocitatus  in  den  Text  gesetzt  ist.  Diesmal  aber  haben  wir  es  mit 
mehreren  Stadien  der  Verderbnis  zu  tun.  Ein  späterer  hielt 
nämlich  auch  die  Namen  der  drei  Deimachossöhne  für  Varianten 
der  Namen  der  drei  übrigen  Phrixossöhne  und  änderte  vocitatus  in 
vocitatos,  so  daß  nun  die  oben  dargelegte  unmögliche  Geschichte 
herauskam.  Streicht  man  nun  aber  die  interpolierten  Worte  ut 
alü  ....  Phronius,  so  fehlt  zu  den  Deimachos-Söhnen  das  Prae- 
dicat.  Daher  wollte  Bunte  item  accesserimt  Deimachi  filii  ein- 
setzen, was  dem  Sinne  nach  gewiß  richtig  ist.  Jedenfalls  muß 
man  sich  hüten  mit  ScheiFer  und  M.  Schmidt  einen  Gegensatz 
zwischen  dieser  Geschichte  und  der  von  den  Phrixossöhnen  hinein- 
zubringen. Das  Schicksal  der  Deimachos-Söhne  aber  erzählt  Hygin 
nicht  nur  nach  Apollonios,  der  es  nur  änvch' HQccTcXfjog  ajcoTtXayx^tvteg 
andeutet,  sondern  auch  nach  den  Schollen :  ovzol  xataXsLcpd'evteg  vno 
'HQaxXsovg  sjtl  xov  tilg  'A^a^övog  ^(DötrJQU  xsxcoQTjKÖTog  KtX.,  wonach 
man  für  das  unpassende  Amasonum  halieiim  mit  Muncker  Amazonium 
halteum  zu  lesen  haben  wird.  Daß  Schrecken  die  Ursache  war, 
weshalb  sie  zurückblieben,  könnte  Hygin  wieder  aus  einer  vollstän- 
digeren Fassung  des  Scholions  haben,  aber  gänzlich  ausgeschlossen 
ist  es,  daß  es  Daskylos  ist,  der  den  Gefährten  des  Herakles  diesen 
Schrecken  einjagt;  denn  dieser  ist  mit  seinem  Vater  Lykos  dem 
Herakles  in  Freundschaft  verbunden  und^ihm  zum  Dank  verpflichtet. 
Vielmehr  ist  die  Geschichte  der  Söhne  des  Deimachos  mit  terrore 
perculsos,  wofür  man  errore  propidsos  {äTtoTtXayxd-evzeg)  zu  lesen  hat, 
zu  Ende,  und  es  folgt  etwas  neues.  Daskylos  gehört  nämlich 
selbst  zu  denen,  die  sich  den  Argonauten  angeschlossen  haben, 
oder  genauer  gesagt,  er  wird  ihnen  von  seinem  Vater  Lykos  als 
Führer  mitgegeben ;  dieser  sagt  II  802  f.  ^vvfi  ^av  Ttävtsööcv  6^6- 
Gxolov  vi-i^LV  BTceG^ai  /Ida^vlov  otQvvecD,  e^bv  vtsa  und  813  f.  heißt 
es :  ocal  d'  ccvrbg  <3vv  toi(5i  Avxog  xCs,  iivgC  6%d66ag  d&ga  (psQSLV ' 
diia  d'  via  ödyLGiv  ex  jcs^tcs  vesö^cu.  Also  haben  wir  vor  a  Bascylo 
eine  Lücke  anzunehmen,  in  der  etwa  gestanden  haben  mag:  in 
Colchos  aiitem  deducti  sunt.  Die  verderbten  Schlußworte  hat  schon 
Micyllus  in  regis  Mariandyni  filio  emendiert,  aber  erst  Muncker 
hat  erkannt,  daß  in  qui  das  unentbehrliche  Lycl  steckt. 

Der    ausgehobene   Abschnitt    beginnt    mit    den    Worten    item 


484  Carl  Robert, 

accesseriinf.     Also  müßte    schon   vorher  von  einem  oder  mehreren 
Argonauten  die  Rede  gewesen  sein,  die  erst  auf  der  Fahrt  hinzu- 
gekommen sind;    in   der  Tat  ist  das  nach  der  Textgestaltung  des 
Frisingensis  der  Fall.     Da   heißt   es   von  dem  Seher  Mopsos,    daß 
er    nach   der  Ermordung  seines  Vaters    sich    angeschlossen   habe; 
derselbe  Mopsos,   von  dem  es  unmittelbar  vorher  heißt,  daß  er  in 
Afrika   an    einem   Schlangenbiß   gestorben   sei.     Er   schließt   also 
zugleich  die  Liste  derer,  die  auf  dem  Rückwege  umgekommen  sind 
{in  reversione  aiitem  perierunt  etc.)j   und   eröffnet   die  der  auf  der 
Hinfahrt  hinzugekommenen.     Der  Tod  des  Mopsos  in  Africa  wird 
von  Apollonios  IV  1502  ff.  erzählt  und  auch  von  Lykophron  881  ff. 
(vgl.    SchoL),     Seneca    Med.    654  ff.    und    Ammianus    Marcellinus 
XIV  8,  3  bezeugt.     Aber  daß  er  erst  nach  Ermordung  seines  Vaters 
—  unklar  ist  ob  durch  ihn  selbst  oder  einen  andern  —  sich  den 
Argonauten  angeschlossen   habe,    liest  man  nur  hier,   und  das  ist 
um  so  bedenklicher,  als  er  nicht  nur  bei  Apollonios  die  Fahrt  von 
Anfang  an  mitmacht,   sondern   auch  vorher  von  Hygin   unter  den 
Argonauten  ohne  jede  nähere  Bemerkung  an  derselben  Stelle  wie 
bei  Apollonios  verzeichnet  wird.     Mit  Recht  hat  daher  M.  Schmidt 
die  sonderbare  Angabe    athetiert,    aber    damit    ist    ihre  Herkunft 
noch   nicht   erklärt.     Nun  lautet   aber  die  Stelle  im  Frisingensis 
folgendermaßen:  Mopsus  mitem  Amyci  fiUus  ab  serpentis  morsu  in 
Africa  ohüt.   is  autem  in  itinere  accesserat  comes  Ärgonautis,  Äniyco 
patre  occiso.    Wie  man  sieht,  ist  der  Name  des  Vaters  des  Mopsos, 
Ampykos.  hier  zu  Amykos  verderbt,  während  er  an  der  früheren 
Stelle   des  Katalogs    richtig   überliefert   ist.     Ein  denkender  Ab- 
schreiber —  und  das  sind  die  schlimmsten  —  identifizierte  diesen 
Amykos,    mit  dem   bekannten  von  Polydeukes  überwundenen   und 
getöteten  Bebryker  und  zog  daraus  den  unglaublichen  Schluß,  daß 
dessen  Sohn  nach  dem  Tod  seines  Vaters  sich  den  Argonauten  zu- 
gesellt habe.    Streicht  man  aber  die  Worte  is— patre  occiso,  so  hat 
das  item  accesserunt,  mit  dem  die  Phrixossöhne  eingeführt  werden, 
keine  Beziehung  mehr.     Man  wird  an  Stelle  von  item  das  aus  dem 
interpolierten  Satz  entlehnte  in  itinere  (als  Gegensatz  zu  dem  vor- 
hergehenden  in  reversione)   setzen   und  itetn  accessenmt   oder  auch 
bloß  item  dort  einfügen,    wo   es  auch  Bunte  ohne  den  Sachverhalt 
zu  durchschauen  eingesetzt  hat,  vor  die  Erwähnung  der  Söhne  des 
Deimachos  ^). 

1)  Vergleichen  läßt  sich  eine  willkürliche  Änderung  in  fab.  15,  die  in  ihrer 
ursprünglichen  Fassung  in  den  Statin s-Scholien  V29  erhalten  ist.  Im  Archetypus 
des  Frisingensis  war  hier  der  Name  des  Königs  von  Nemea,  bei  dem  Hypsipyle 
als  Sclavin   dient,    zu  Lyco   verderbt,    während  die  Statius-Scholien   das   richtige 


Der  Argonautenkatalog  in  Hygins  Fabelbuch.  485 

Eine  ähnliche,  wenn  auch  nicht  so  krasse  Interpolation,  findet 
sich  noch  an  einer  anderen  Stelle.  Von  den  Hermessöhnen  Eurytos 
und  Echion  heißt  es:  Eurytus  et  Echion,  Mercurii  et  Antianirae 
Meneti  (Änfreatae  Mereti  Fr.,  verb.  von  SchefFer)  filiae  filiiis  ex 
urbe  Alope,  quae  nunc  vocatur  Ephesiis  {Ehesus  Fr.,  verb.  von  SchefFer), 
quidam  aiictores  Thessalos  piäant.  Die  paraphrasierte  Apollonios- 
stelle  lautet  I  51  ff.  ov8'  'AX6%ri  ^t^vov  TtokvXrjLoc  ^Equeluo  vUeg 
SV  dsÖKats  döXovg  'EQvtog  ^iol  'ExCcov.  Dazu  bemerken  die  Scholien 
0£00ahag  TCoUg  r)  Mayvi]6iag.  Der  Interpolator  hat  aus  Plinius 
V  115  die  Identificierung  mit  Ephesos  eingesetzt  und  mußte  nun 
die  thessalische  Herkunft  der  beiden  als  Variante  bezeichnen. 
Hygin  wird  etwa  geschrieben  haben:  ex  urbe  Alope,  Tliessali. 

Sehr  verwickelt  liegt  die  Sache  bei  dem  Thessaler  Asterion. 
Überliefert  ist:  Asterion  Fyremi  filius,  matre  Antigona  Pheretis  filia, 
ex  urbe  Feline.  alii  aiunt  Priscl  filium,  urbe  Firesia,  quae  est  in 
radicibus  Fhyllaei  montis,  qui  est  in  Thessalia.  quo  loco  duo  fliimina, 
Apidanus  et  Enipeus,  separatini  proiecta,  in  unum  conveniunt.  Die 
zu  Grrunde  liegende  Apollonios-Stelle  lautet  I  35  ff.  i]lv^s  ö'  ^Aats- 
QiGdv  avro(j%sd6v,  ov  Qa  Koii7]tYjg  ysivato-  dLV7]6vtog  i(p^  vda0iv  ^A^ti- 
öavoto,  TLsigeöiäg  ogsog  ^vklr^Cov  äy%6Q-i  vaCcjv,  svd-a  ^uhv  ATtidavög 
TS  ^Eyag  xal  ötog  'EviTtsvg  a^(pc3  6vii(pOQeovxca,  ccTtÖTCgod-sv  sig  ^v 
lövTsg.  Die  letzten  drei  Verse  gibt  Hygin  correct  wieder,  aber 
wo  bleibt  der  Vater  Kometes  ?  Man  darf  erwarten,  daß  er  sich  ent- 
weder in  Fyremus  oder  in  Frisciis  versteckt;  aber  wie  den  Namen 
ohne  äußerste  Gewaltsamkeit  wieder  herstellen?  Versuchen  wir 
es  also  auf  einem  anderen  Wege.  Nicht  nur  einen  doppelten  Vater, 
auch  eine  doppelte  Heimat  gibt  Hygin  für  Asterion  an;  neben 
Firesiay  das  dem  ITsLQSöLaC  des  ApoUonios  entspricht,  nennt  er  Feline, 
worin  schon  Muncker  das  achaeische  Pellene  erkannt  hat.  Nun 
gibt  es  tatsächlich  einen  Achaeer  Asterion,  der  mit  seinem  Bruder 
Amphion  an  der  Argofahrt  teilnimmt,  und  den  Hygin  an  einer  spä- 
teren Stelle  nennt.  Wie  wir  oben  (S.  481)  sahen,  ist  dort  der  Name 
seines  Vaters  Hyperasios  zu  YpetacJus  verderbt  gewesen,  das  dann 
durch  übergeschriebene  Buchstaben  verbessert  worden  ist,  die  als  die 
Variante  Hipasus  in  den  Text  gesetzt  worden  sind.  Wiederum  ist 
es  Muncker  gewesen,  der  erkannt  hat,  daß  an  der  früheren  Stelle 
der  Thessaler  Asterion  mit  seinem  achaeischen  Namensvetter,  der 
übrigens  bei  Apollonios  selbst  'Aötegiog  heißt,  während  die  Scholien 
ihn  ^AötegCcov  nennen,  verwechselt  wird.     Nur  darin  irrte  er,  daß 


Lycurgo  haben.     Der  Interpolator,    der  Lykos   aus  fab.  7   als  König   von  Theben 
kannte,  setzte  nun  für  Nemeam,  wie  richtig  in  den  Statius-Scholien  steht,  Tliebas  ein^ 


486  ^a^l  Robert, 

er  den  Vaternamen  Hyperasii  in  Frisci  suchte ;  er  steckt  viel- 
mehr in  Pyremi,  während  Priscus  dem  Ko^yjrrjg  entsprechen  muß. 
Um  eine  einfache  Buchstaben-Corruptel  kann  es  sich  aber  nicht 
handeln,  wohl  aber  um  eine  Übertragung  in  das  Lateinische.  Das 
nächstliegende  wäre  Crinitus  gewesen,  aber  auch  Crispus,  womit 
die  Glossare  ovlog  wiederzugeben  pflegen,  war  nicht  übel.  Aus 
Crispus  ist  dann  durch  leichte  Buchstabenverstellung  Priscus  ge- 
worden. Antigene  die  Tochter  des  Pheres,  die  Hygin  als  Mutter 
des  Asterion  nennt,  wird  weder  von  Apollonios  noch  in  unsem 
Schollen  erwähnt,  stammt  also  wiederum  aus  einem  vollständi- 
geren Scholion.  Nach  dem  Text  des  Frisingensis  wäre  sie  die 
Mutter  des  achaeischen  Asterion  und  Gremahlin  des  Hyperasios; 
da  sie  aber  an  der  späteren  diesem  gewidmeten  Stelle  nicht  ge- 
nannt wird  und  eine  Tochter  des  Pheres  als  Gattin  besser  für 
einen  Thessaler  paßt,  als  für  einen  Achaeer,  wird  sie  wohl  die 
Frau  des  Ko^yjtrjg-CAsi^xis  sein.  Also  hatte  Hygin  geschrieben: 
Ästerion  Crispi  filius,  matre  Anügona  Pheretis  filia,  urhe  Piresia, 
Denn  die  Verwechslung  mit  dem  gleichnamigen  Achaeer  wird  man 
nicht  ihm  selbst,  sondern*  einem  Abschreiber  oder  Leser  zur  Last 
legen,  wenn  es  sich  überhaupt  um  eine  Verwechslung  und  nicht 
um  eine  am  Rand  notierte  Parallele  handelt ;  denn  mit  einer  Rand- 
glosse haben  wir  es  auf  jeden  Fall  zu  tun.  Ein  Leser  notierte 
sich  aus  dem  folgenden :  Ast.  Pyremi  (CorruJ)tel  von  Hyperasii)  filius 
ex  urhe  Pellene.  Ein  Abschreiber  setzte  die  Genealogie  an  erster  Stelle 
in  den  Text,  so  daß  die  richtige  wieder  zur  Variante  wurde  und 
Crispus  sogar  seine  Gemahlin  Antigone  an  Pyremus  abtreten  mußte. 
Noch  an  einer  anderen  Stelle  ist  eine  ähnliche  Randglosse  in 
den  Text  eingedrungen  und  hat  dort  noch  größeren  Schaden  an- 
gerichtet. Im  Frisingensis  stand :  in  reversione  autem  perierunt  Eu- 
rihates  Teleontis  filius,  et  Cantus  Geriontis  filius  interfecti  sunt  in 
Lyhia  a  pastore  Cephalione  Nasamonis  fratre^  filio  Tritonidis  nymphae 
et  AmpMtemidis,  cuius  fuste  pecus  depopulabantur.  Um  mit  Selbst- 
verständlichem zu  beginnen,  so  ist  die  richtige  Orthographie  Libya 
von  Commelinus,  Canthus  und  Amphithemidis  von  Bunte  hergestellt, 
Geriontis  von  M.  Schmidt  in  Gerinthius  Canethi  verbessert  worden; 
daß  hinter  perierunt  zu  interpungieren  und  vorher  hi  einzuschieben 
ist,  hat  Scheifer  gesehen;  was  in  fuste  steckt,  ist  noch  nicht  er- 
mittelt worden  ^).  Die  zu  Grunde  liegenden  Apolloniosverse  lauten 
IV  1485  ff.  Kdvd^s,  0£  d'  ovXo^svat  Aißvri  evi  Kfigsg  elovto,  jccosefc 
(peQßoiiivoiöi  övvi^vtssg*  siitexo  d'  ävriQ  avXCt7]g,  o  ö'  i&v  fjir^Xcov  itigt^ 


1)  furtis  Mimck,,  fuse  Toll,  forte  Heins,,  fuste  citws  Scheff. ;  vielleicht  iniuste. 


Der  Argonautenkatalog  in  Ilygins  Fabelbuch.  487 

t6q)Q^  it(XQ0i6LV  devo^evotg  Tto^Löstag,  ccXs^öuavog  xate^tscpvev  lui  ßalcov 
BTtel  oi)  [i£v  äcpcivQÖreQÖg  y'  sthvxto,  vCcovbg  ^oißoio  AvKaQEioio 
KccqjccvQog  xovQrig  t  aldoCrjg  läTcccxaXXcdog,  r^v  ütots  Mivcog  ig  Aißvriv 
cc7tEvaö(3s  &eov  ßaQV  zv^cc  g)£QOv0av,  d-vyatega  öcpsreQriv '  rj  d'  ccyXabv 
vCea  0oiß<p  XLictsv,  ov  'A^cpCd-s^Lv  rccgäucivrcc  re  xlxXtjöxov^lv. 
A^cpld' s^tg  d'  «(>'  £7C£ira  fiiyrj  Tqlxcov C8i  vv^q)rj'  ?j  d'  äga 
Naöd^cova  xi%sv  icgaregöv  rs  Kdcpav gov ,  ög  rdrc  Kdvd-ov  sjtscpvsv 
ijtl  QTiVEööiv  EotöLv.  Wie  man  sieht,  weiß  Apollonios  nur  vom  Tod 
des  Kanthos,  nicht  auch  von  dem  des  Erybates;  und  doch  ist  es 
bei  der  wörtlichen  Übereinstimmung  ausgeschlossen,  daß  Hygin 
eine  andere  Quelle,  oder  auch  nur  eine  Nebenquelle  benutzt  haben 
sollte.  Denn  wenn  der  Kaphauros  des  Apollonios  bei  ihm  Ceplia- 
lion  heißt,  so  wird  man  nach  den  Erfahrungen,  die  wir  mit  den 
Namenscorruptelen  im  Frisingensis  gemacht  haben,  kein  Bedenken 
tragen,  dafür  Capha(uro  ÄpoT)li(nis)  ne(pote)  herzustellen.  Wie 
kommt  nun  der  Sohn  des  Teleon  Eurihates  wie  hier  steht,  während 
an  den  früheren  Stellen  Erihotes  überliefert  ist,  wie  er  auch  bei 
Valerius  1402  und  III 478  heißt,  obgleich  bei  Apollonios  171.73 
'EQvßavrig  steht,  in  diesen  Zusammenhang?  Wiederum  aus  einer 
Randglosse,  wie  bereits  oben  angedeutet  ist.  Unmittelbar  vorher 
ist  das  Schicksal  des  Butes  erzählt,  der  gleichfalls  Sohn  eines 
Teleon,  freilich  eines  ganz  andern  ist.  Dazu  hat  sich  ein  Leser 
den  Erihotes  Teleontis  ßius  notiert,  ohne  daß  sich  entscheiden  läßt, 
ob  er  beide  für  Brüder^)  hielt.  Später  ist  die  Glosse  an  falscher 
Stelle  in  den  Text  geraten  und  der  Interpolator  hat  für  interfedus 
est  und  depopulabatur  den  Plural  hergestellt. 

Wir  lernen  also,  daß  der  Archetypus  des  Frisingensis  durch 
zahlreiche  Namenscorruptele  und  Lücken  entstellt^)  war.  Die 
Corruptelen  sind  zuweilen  corrigiert  und  diese  Correcturen  für 
Varianten  gehalten ,  die  ausgefallenen  Worte  häufig,  aber  nicht 
immer  am  Rande  nachgetragen  und  an  falscher  Stelle  in  den  Text 
eingefügt  worden.  Ebenso  ist  es  mit  Randglossen  gegangen.  Dabei 
hat  es  auch  an  gewaltsamen  Änderungen  nicht  gefehlt.  Kurz  wir 
dürfen  den  Text  des  Frisingensis  als  stark  interpoliert  bezeichnen. 
Um  die  Stadien  der  Verderbnis  zu  veranschaulichen,  drucke  ich 
auf  S.  488  ff.  den  ersten  Teil  des  Capitels,  bis  zu  den  einer  Neben- 
quelle entnommenen  Argonauten,  in  drei  Columnen  ab,   von  denen 

1)  Vgl.  Schol.  ApoUon.  I  95  stsgos  ds  kxiv  o  TsXiOiv  ovzog  6  Bovtov  TtarriQ 
nuQci  xov  TtQotegov  slgri^Bvov,  tbv  'EQvßcotov  Ttaxbqu. 

2)  Auch  daß  zwischen  Phlias  und  Hercules  die  Söhne  des  Bias  und  der 
Pero  fehlen  (Apollon.  I  118  ff.),  fällt  gewiß  den  Abschreibern  und  nicht  dem  Autor 
zur  Last. 


488 


Carl  Robert, 


die  eine  den  gereinigten*),  die  zweite  den  verstümmelten  und  am 
Eand  corrigierten  Text,  die  letzte  den  des  Frisingensis  mit  allen 
seinen  orthographischen  Unarten  zeigt.  In  einer  weiteren  Columne 
setze  ich  die  Vorlage,  also  ApoUonios  und  seine  Schollen.  Damit 
will  ich  aber  keineswegs  gesagt  haben,  daß  sich  die  Verderbnis 
und  Interpolation  nur  in  zwei  Stadien  abgespielt  hat,  so  daß 
zwischen  dem  unverderbten  und  unverfälschten  Text  und  dem  des 
Frisingensis    nur    eine  Zwischenstufe   läge.      Haben    wir  doch    in 


1)    Einige    selbstverständliche   Verbesserungen   habe   ich    stillschweigend   in 


diesen  eingesetzt. 


APOLLONIUS  C.  SCHOL. 

1 230  f.  'I^  <>  0  V  05 ,  ysLvccto  (i'^triQ  'Al- 
kl^eSt]  KXv^svris  MivvriCdog  inysyavLa, 
cf.  Schol.  I  23  ff.  TtQcbxa  vvv  'Ogcpfios 
fivria  mfi  s&a  f  rov  qa  nov  ccvtr}  KaX- 
XioTcri  ©Q^LY-L  (pati^stai  svvrid'SLßcc  Old- 
ygm  ßyiOTCiiig  TJi^nXriidog  ay%i  ts-asöd'cci-. 
ScHOL.  UiiinlsLag  %(oqCov  v,atcc  IIlsqlccv 
81  d'sXyo^svos  (poQiiiyyi.  I  35 ff.  ijXvd^E 
^'  'AarsQLov  avtoo%E86v,  ov  qcc  Ko- 
in]tr}g  yeivaro  öiv^swog  icp''  vdaaiv  "ÄTti- 
Savoto,  UstQEöiag  oQSog  ^vXXtilov  ciy%6%'i 
vccicov,  sv&a  H8V  'ArCLdccvog  t£  fiEyag  kuI 
dcog  'EvLTtevg  a^cpco  ov^(pOQ£ovraL,  ano- 
TtQodev  stg  sV  lovxsg.  I  40 ff.  Adgiaccv 
d'inl  tOLüi  XiTtcöv  IJoXvcprifio  g  tyicivsv, 
EtXatLdr]g.  43  f.  tot  ccv  ßccQvd'SG^E  ot 
i]dr}  yvicc.  I  45  ff.  ov  dl  fiEv"Iq) i-nXog 
^vXccar]  evl  driQov  ^Xeltixo  ,  iiiJTQmg 
AtoovLdcco.  xccaiyvtjtrjv  yäg  on^iEv  Al'- 
ccov 'AXm^ed7}v  ^vXccKYiLdcc.  ScHoL.  eotl 
Ss  viog  ^vXocyiov  yial  KXvfiEvri^  rjjg 
Mlvvov.  I  49  ovÖE  ^EQULg  "Adfiriro  g 
BVQQTivEaaiv  ävdaaoiv  (lifivEv  vTtb  ov.o- 
Ttirjv  ÖQEog  XaXucodovLOLO.  ScHoL.  at 
^EQal  oivoiidod^riGav  ccnb  ^iqrixog  tov 
Kgrid'Ecog,  tov  'Adfnjtov  rov  Ttatgog 

ÖQOg     VTtSQdvO)    ^EQOiV   tb    XttXY,(o86viOV. 

I  51  ff.  ov8'  'AXoTtTj  [i^fivov  TCoXvXriLOL 
^EQiLBCao  ViEsg  ev  öeScc&te  doXovg,  "E  q  v- 
tog  yiccL  'E%CGi v.  totöi  8'  etil  tgCtatog 
yvcotbg  v,le  viaao^EvoiGLV Al%- aXCdrig. 

KCcl      tbv      [lEV     h%     'AflCpQVOÖOLO     QOfJGLV 

MvQ(iid6vog  'KOVQri  ^&idg  xe-uev  Evtco- 
XEfiEicc '  reo  d'  ccvT    EHysyatriv  MevettiC- 


TEXTUS  INTEGIER. 

lason  Aesonis  filius  et  Alci- 
medes  Clymenes  filiae  et  Thes- 
salorum  dux.  Orpheus  Oeagri 
et  Calliopes  Musae  filius,  Thrax, 
urbe  Pimpleia,  quae  est  in 
Olympo  monte  ad  fluvium  Eni- 
peum,  acris  citharista.  Aste- 
rion Crispi  filius  matre  Anti- 
gona  Pheretis  filia,  urbe  Pi- 
resia,  quae  est  in  radicibus 
Phyllaei  montis,  qui  est  in  Thes- 
salia.  quo  loco  duo  flumina,  Api- 
danus  et  Enipeus,  separatim  pro- 
iecta,  in unum conveniunt.  Poly- 
p  h e  mu s  Elati  filius  matre  Hippe 
Anthippi  filia,  Thessalus  ex  urbe 
Larissa,  pedibus  tardus.  Iphi- 
clus  Phylaci  filius  matre  Cly- 
mene  Minyae  filia,  ex  Thessa- 
lia,  avunculus  lasonis.  Adme- 
tus  Pheretis  filius,  unde  op- 
pidum  et  flumen  nomen  tra- 
xit,  matre  Periclymene  Minyae 
filia  ex  Thessalia,  monte  Chalco- 
donio.  Erytus  et  EchionMer- 
curii  et  Antianirae  Meneti  filiae 
filii  ex  urbe  Alope,  Thessali.  A  e- 
thalides  Mercurii  et  Eupole- 
miae  Myrmidonis  filiae  filius.  hie 


Der  Argonautenkatalog  in  Hygins  Fabelbuch. 


489 


einem  Falle  deren  mindestens  zwei  constatieren  können.  Ebenso 
wenig  bilde  ich  mir  ein  den  ursprünglichen  Text  des  Hygin  her- 
gestellt zu  haben.  Welche  Wandlungen  dieser  durchgemacht  hat, 
zeigen  der  Niebuhrsche  Palimpsest  und  die  von  unserer  Überlie- 
ferung unabhängigen  Excerpte  in  den  Germanicus- ^)  und  Statius- 
Scholien^).  Meine  Textgestaltung  stellt  nur  die  frühste  für  uns 
erreichbare  Stufe  dar. 


1)  Robert  Eratosthen.  cataster.  rel.  p.  211  fF. 

2)  Em.  Bieber  Hygini  fab.  supplementum  (Diss.  Marp.)  1904. 


TEXTUS  LACUNOSUS. 
I  a  s  0  n  Aesonis  filius  et 
Alcimedes  Clymeni  filiae 
et  Thessalorum  dux.  Or- 
pheus Oeagri  et  Calliopes 
Musae  filius,  Thrax,  urbe 
Flevia  quae  est  in  Olympo 
monte,  ad  fluvium  Enipeum 
Martis  cytharista.    Aste- 

Pyremi  filius  rionPriscifilius,matreAn- 
?eline^  tigona  Pheretis  filia,  urbe 
Piresia,  quae  est  in  radici- 
busPhyllaei  montis,  quiest 
in  Thessalia.  quo  loco  duo 
flumina  Apidanus  et  Eni- 
peus,  sepäratim  proiecta  in 
unum  conveniunt.  Poly- 
p  h  e  m  u  s  Elati  filius,  matre 
Hippea  Antippi  filia,  Thes- 
salus  ex  urbe  Larissa,  pedi- 
bustardus.  IphiclusPhy- 
laci  filius  matre  Pericly- 
mene  Minyae  filia  ex  Thes- 
salia, avunculus  lasonis, 
A  d  m  e  t  u  s  Pheretis  filius 
huius  Apolli-  matre  Periclymene  Minois 

nem  pecus    fi^a   ex  Thessalia,    monte 

ferunt.       Calcodonio,  unde  oppidum 

et    flumen    nomen   traxit. 

Eurytus     et     Echion, 


FRISINaENSIS. 
I  a  s  on  Aesonis  filius  et  Al- 
cimedes Clymeni  filiae  et  Thes- 
salorum dux.  Orpheus  Oeagri 
et  Calliopes  Musae  filius,  Thrax, 
urbe  Flevia,  quae  est  in  Olympo 
monte,  ad  fluvium  Enipeum  Mar- 
tis cytharista.  Asterion  Py- 
remi  filius,  matre  Antigona  Phe- 
retis filia,  ex  urbe  Peline.  alii 
aiunt  Prisci  filium  urbe  Piresia, 
quae  est  in  radicibus  Phyllaei  mon- 
tis, qui  est  in  Thessalia,  quo  loco 
duo  flumina  Apidanus  et  Enipeus 
sepäratim  proiecta  in  unum  con- 
veniunt. Pol^^phemus  Elati 
filius  matre  Hippea  Antippi  filia, 
Thessalus  ex  urbe  Larissa,  pe- 
dibus  tardus.  Iphiclus  Phy- 
laci  filius  matre  Periclymene, 
Minyae  filia,  ex  Thessalia,  avun- 
culus lasonis.  Admetus  Phe- 
retis filius  matre  Periclymene 
Minois  filia  ex  Thessalia,  monte 
Calcodonio,  unde  oppidum  et 
flumen  nomen  traxit.  huius  Apol- 
linem  pecus  pavisse  ferunt.  E  u- 
rytus  et  Echion,  Mercurii 
et  Antreaj:ae  Mereti  filiae  filius, 
ex  urbe  Alope,    quae  nunc  vo- 


490 


Carl  Robert, 


dos  'Avtiuvstgrig.  SciiOL.  ^AXoTtri  Gbg- 
cuXias  Ttohg  i)  MayvriGiag.  I  57  ff. 
?;/Lv'9'£    ^'  iccpvBir\v    Ttqolincov    rvQrmva 

KoQcovog    Kaivsidrig.      ScHOL 

rivtg  ÖS  cpaot  Kaivia  Gv^TtXsvaai  totg 

'AQyovavTccL^,    ov    Koqcovov ju-a/iv- 

&£vtcii,  08  6  Kccivevg  tcqotbqov  yeyovsvai 
yvvi],  slra  Uoosid&vog  ccvtfj  itlriGiä- 
accvTog  ^sraßXrid'fivu  stg  avdga  •  xovto 
yaQ  TjxriaB  %(x\  cctQcoGLCcv.  I  59  ff.  Kaivia 
ya.Q  t^ov  7t£Q  hl  "aXbCovglv  aoidol  Ksv- 

ruvQoiaiv  olBcQ'ai ccQQri'HTog 

cxy.a(x.7ttog  iSvasto  vblo&l  yatrig,  d^BLVO- 
fiBvog  6tißaQj)at,  Kcctcctydriv  iXdtrjGbv. 
I  65  f.  ijXvd-B  d''  ccv  M 6  ijj  0  g  TitaQr\6iog, 
ov  TiBQL  TtdvTojv  ÄTitot'drig  EdiSa^s  Q-so- 
TCQOTtiag  otcov&v.  ScilOL.  'J^Ttv-Kov  vibg 
6  Moipog  tov  TitccQOivogj  lAritQog  Sb  XXm- 
Qidog.  1 67 &.  TjÖB  ncclEvQV da ^ag Kr L- 
fiBvov  Ttäig  •  ay%i  ÖBXLfivrig  ^widdog  Kti- 
flBVTlV  JoXoTCTiida  vaiBtäcc6v.Bv .  I  101  ft\ 
©TIC  8 a  S\  .  .  didriXog  vTtb  %Q'6va  dBOfibg 
BQVKBv ,  IJbiq  CQ'oy  BGTtofiBvov.  Contra 
catalog.  Sclioliorum  etApoUodor.  1 9,  16,8 
GriOBvg  AiyBcog.  I  69  f.  xojI  firjv  "A'ktcoq 
vtcc  Mbvolx lov    i^  'OnoBvxog   wqöbv. 

I  7 1  ff.    BL'TtBXO  8'EvQVXiOiV    XB  Y.CU  CcX- 

•KifiBig ^Egvßmxrig,  "^^^S  o  (isv  TBXsovxog, 

0  8'  "Iqov  'AnxoQLÖao  ■  ijxoi  o  fiBv  TBXBOvtog 
ivuXBirjg  ^EQvßmxrig,  "Iqov  8'  Evqvxlcov  ' 
€vv '/.al XQLXogjjBv 'OiXBvg.  1 77 ff.  avxug 
an'  EvßoCrig  KdvQ'og  ms,  xov  qu  Kdvri- 
^og  TtB^iUBv  'Aßavxid8rig  XbXlthievov  ' 
ov  fiBv  b^bXXbv  voanjasiv  KriQivQ'ov  V7t6- 
xQOTtog.  I  86  SS-  xü  8'  ccq  Biti  KXvx Co  g 
XB  Kai  "icp  IX  0  g  TjyBQBd-ovxo,  Oi%aXCr]g 
iniovQOL,  ditrivBog  Evqvxov  vlBg,  Evqvxov, 
^  TtoQB  xo^ov  ''Ey.rißoXog '  ov8'  an6v7]xo 
8(oxLvr\g  •  avxä)  yäg  Bncov  iQt8riv8  8oxf]QL. 
SciiOL.  TtaidBg'AvxLOTtrig.  II 114  ff.  a^rmg 
S^'Agrixog  ^£VE8riiov  Evqvxov  vibv"[cpixov 
a^aXBrj'/KOQvvT]  öxvcfiXih^sv  hdcaag,  o^Ttco 
-ktiqI  %ayiji  7tB7tQco[iBvov  T]  yaQ  b(ibXXbv 
ttvxbg    8'rjmOB6d'aL    vnb    ^tcpB'C  KXvtCoio. 

1  90  ff.  X0L61  8'  B7t'  AlaKiSai  ^BXByiLa&ov  ' 
ov  fisv  afi'  d^tpa,  ov  8^  ofiod'Bv  •  voocpiv 
yccQ  aXBvd^BvoL  %axBvao%'Bv  AlyCvrig, 
ort  ^&v.ov  dSBXcpBbv  s^BvdQi^av  acpQa8i'r). 
TBXafiav  (ibv  sv  Ax^iSi  vaffaaxo  v^ao) ' 


fuit  ex  urbe  Larissa,  quae  est  in 
Thessalia.  Caeneus  Elati  filius 
Magnesius  ex  urbe  Gryrtone. 
hunc  nonnulli  feminam  fuisse  di- 
cunt.  cui  petenti  Neptunum  prop- 
ter  connubium  optatum  dedisse, 
ut  in  iuvenilem  speciem  con- 
versus  nullo  ictu  interfici  pos- 
set.  itaque  ostendit  nullo  modo 
centauros  ferro  se  posse  vulne- 
rare,  sed  truncis  arborum  ut 
in  euneum  adactis  necatus  est. 
Mop  SU s  Ampyci  et  Chloridis 
filius.  hie  augurio  doctus  ab 
Apolline,  Titaresius.  Eury- 
damasCtimeni  filius,  qui  iuxta 
lacuni  Xynium  Dolopeidem  ur- 
bem  inbabitabat.  T  h  e  s  e  u  s 
Aegei  et  Aethrae  Pitthei  filiae 
filius  a  Troezene,  alii  aiunt  ab 
Athenis.  Pirithous  Ixionis 
filius  frater  Centaurorum,  Thes- 
salus  Menoetius  Actoris 
filius Opuntius.  Erybotes  Te- 
leontis  filius.  Earytion  Iri 
et  Demonassae  filius.  Oileus 
Hodoedoci  et  Laonomes  Per- 
seonis  filiae  filius  ex  urbe  Na- 
ryce.  Cantbus  Canethi  filius 
ab  oppido  Cerintbo  ex  Euboea. 
Clytius  et  Iphitus  Euryti 
et  Antiopes  Pylonis  filiae  filii, 
reges  Oecbaliae.  hie  concessa. 
ab  Apolline  sagittarum  scientia 
cum  auctore  muneris  conten- 
disse  dicitur.  huius  filius  Cly- 
tius ;  ab  hoc  Aretus  interfec- 
tus  est.  Peleus  et  Tela- 
mon,  Aeaci  et  Endeidos  Chi- 
ronis  filiae  filii,  ab  Aegina  in- 
sula.  qui  ob  caedem  Phoci 
fratris  relictis   sedibus   suis   di- 


Der  Argonautenkatalog  in  Hygins  Fabelbuch. 


491 


quae  nunc 
vocatur 
Ephesus, 


lex  urbe  Gyr- 
tone. 

itaque  hie 
lostendit  nullo 
modo  Centau- 
ros  ferro  se 
posse  vulne- 
rare,sedtrun- 

cis  arborum 
ut  in  cuneum 
I     adactis. 


Teleontis 

filius. 
Eury:  Iri  et 
Demonassae 

filius. 

Canthus  ab 

oppido  Ce- 

rintho  ex 

Euboea. 

Oechaliae : 

hie  conc.  ab 

Apolline. 


Mercurii  et  Antreatae  Me- 
reti  filiae  filius ,  ex  urbe 
Alope,  Thessali.  Ethali- 
d  e  s  Mercurii  et  Eupolemiae 
Myrmidonis  filiae  filius.  hie 
fuit  ex  urbe  Larissa,  quae 
est  in  Thessalia.  Caeneus 
Elati  filius  Magnesius.  hunc 
nonnulli  foeminam  fuisse 
dicunt.  cui  petenti  Neptu- 
num  propter  connubium 
optatum  dedisse  ut  in  iu- 
venilem speciera  conver- 
sus  nullo  ictu  interfici  pos- 
set.  M  0  p  s  u  s  Ampyci  et 
Chloridis  filius.  hie  au- 
gurio  doctus  ab  Apol- 
line, L3rparensis.  Eury- 
damas  Ctimeni  filius,  qui 
iuxta  lacum  Xynium  Do- 
lopeidem  urbem  inhabi- 
tabat.  T  h  e  s  e  u  s  Aegei 
et  Aethrae  Pytthei  filiae 
filius  a  Troezene,  alii  aiunt 
ab  Athenis.  Pirythous 
Ixionis  filius,  frater  Cen- 
taurorum,  Thessalus.  Me- 
n  0  e  t  i  u  s  Actoris  filius, 
Amponitus.  Eribotes 
Ameleon,  E  u  r  y  t  i  o  n  Ixi- 
tion.  0 Ileus  Leodaci  et 
Agrianomes  Perseonis  fi- 
liae filius  ex  urbe  Naricea. 
Clytius  et  Iphitus 
Euryti  et  Antiopes  Py- 
lonis  filiae  filius,  reges, 
hie  concessa  ab  Apolline 
sagittarum  scientia  cum 
autore  muneris  conten- 
disse  dicitur.  huius  filius 
Clytius  ab  Aeeta  inter- 
fectus   est.     Paeleus  et 


catur  Ehesus.  quidam  autores 
Thessalos  putant.  Ethalides 
Mercurii  et  Eupolemiae  Mirmy- 
donis  filiae  filius.  hie  fuit  La- 
risseus  ex  urbe  Gryrtone,  quae 
est  in  Thessalia.  hie  ostendit 
nullo  modo  Centauros  ferro  se 
posse  vulnerare,  sed  truncis 
arborum  in  cuneum  adactis.  Cae- 
neus Elati  filius,  Magnesius. 
hunc  nonnulli  foeminam  fuisse 
dicunt.  cui  petenti  Neptunum 
propter  connubium  optatum  de- 
disse, ut  in  iuvenilem  speciem 
conversus  nullo  ictu  interfici 
posset.  quod  est  nunquam  factum 
nee  fieri  potest,  ut  quisquam 
mortalis  non  posset  ferro  necari 
aut  ex  muliere  in  virum  con- 
verti.  M  0  p  s  u  s  Ampyci  et 
Chloridis  filius.  hie  augurio 
doctus  ab  Apolline,  ex  Oechalia, 
vel  ut  quidam  putant,  Lypa- 
rensis.  Eurydamas  Iri  et 
Demonassae  filius,  alii  aiunt  Cti- 
meni filium,  qui  iuxta  lacum 
Xynium  Dolopeidem  urbem  in- 
habitabat.  Theseus  Aegei  et 
Aethrae  Pytthei  filiae  filius  a 
Troezene,  alii  aiunt  ab  Athenis. 
Pirythous  Ixionis  filius,  frater 
Centaurorum,  Thes  Salus.  Men  oe- 
tius  Actoris  filius,  Amponitus. 
Eribotes  Teleontis  filius.  Ame- 
leon. Eurytion  Iri  et  Demo- 
nassae filius.  Ixition^ab  oppido 
Cerintho.  Oileus  Leodaci  et 
Agrianomes  Perseonis  filiae  filius, 
ex  urbe  Naricea.  alii  aiunt  ex  Eu- 
boea. Clytius  et  Iphitus  Euryti 
et  Antiopes  Pylonis  filiae  filius, 
reges  Oechaliae.    hie  concessa  ab 


492 


Carl  Robert 


TIriXsvg  8s  ^d'LT]  hi  Sw^ccrcc  vaie  haod'st'g. 
I  95  ff.  Totg  d'  im  KsyiQOTCLrid'Ev  ägriiog 
7]Xv&£  Bovtrig,  ncctg  ayaO-ov  TsXsov- 
tog,  iv[i{iBXCrig  xb  ^ccXr]Qog-  "AX%cov  {iiv 
TCQoeri'ns  natriQ  sog.  1 105  f.  Ticpvg 
d'  "Ayvidörig  Zicpa^a  v.dXXnts  öTj^iov  @S6- 
Ttiiav.  I  324  f.  dsQ^ia  d''  o  (isv  xavqoio 
nodrivsnsg ccfKpsxsr  aiiovg"A  Q  y 0  g'JQSöTO- 
QiSrig  Xcc^vT]  fisXav.  111  f.  6vv  ds  ot  {Ti- 
phy)  "Jgyog  rsv^s  (narem)  'jQseroQidrig 
yi,sivr]g  {3Iinervae)  vno%'ri[ioavv7i6iv. 
I  115  ff.  4*Xiag  8' avr'  iTtlroLGLv'AQdL- 
d'VQsrid'SV  iticcvsv ,  fW  acpvsibg  svccls 
diGivvüOio  'iv-rixi,  TCuxQog  sov,  TtiqyfiGLV 
i(p86XLog  'JöcoTtOLO.   SCHOL.  noXig  UsXo- 

•JtOVVl]60V     7}    'AQCiL&VQSa,     7}    VVV    6vOH'4- 

^0(i8vri  4>XL0vg  ....  ^Aöanbg  Ttoxa^bg  0rj- 
ßä>v,  Bxav  rag  nrjyccg  iv  "'AqciiQ-vqBcc. 
1122  ff.  ov8b ^Ev  ovSb  ßi'riv yiQaxBQocpQOvog 
^H QatiXrjog   7tBvQ-6[i£d''   AiGovCddO   Xi- 

Xaio[iBvov  ad'BQL^ai 

AvQ%riLOv  "Agyog  dfiBLipug  ....  aQ^i'^d-ri ' 
Gvv  yiaC  of'TXag  msv  iöQ'Xbg  drcdav, 
nga^rißrig.  ScHOL.  ovxog  'Hga-AXBog 
BQ&liBvog,  vibg  ds  ©siodd^avxog  xov 
jQvoTtog.  I  133  ff.  xä  d'  BTti  di]  Q-blolo 
%Cbv    /JavaoLO     yEVB%^Xr\,    NavnXiog 

TIoGBiSdcovi  dl  "AovQri  tiqCv  tcox 

'A^v^mvT]  /^avdXg  xbv.bv  EVTri^BiGcc  Nav- 
nXiOv.  I  1§9  ff.  "Id^mv  8'  voxdxLog 
HSxsmccd'Bv,  06601  BvuLOv  "Agyog,  insl 
8sSad)g   xbv  ibv   ^oqov  oicovoL6iv   r'iLB, 

OV   flBV 

0  y  TjBv'Aßavxog  ix'^xv^og,  dXXd  (ilv  avxbg 
yBLvaxo  v-vSaXC^oig  EvaQiQ-^iov  AloXi- 
8rj6LV  Arixotdrig.  ScuOh.  6  8b  "18 (lav,  ag 
L6X0QBL  ^BQB-Kv8rig,  syivBxo  'jtaig'A6XBQCag 
xfig  KoQoavov  -nal  'ATtoXXcavog.  I  146  ff. 
-Aal  /xrjv  AlxGiXlg  hqccxbqov  UoXv  8 bv- 
Ti  E a  A'^St]  Kd  6x o  gd  r'  6mv':i68(ov 
a}Q6£v    8E8ariiiBvov    i'Ttitcov  S-jtdgxriQ-Ev. 

SCHOL.  1^  8e  AriScc  riv 

@£6XL0v  d^vydxriQ.  I  151  ff.  oi'  x  'Acpa- 
QTixidSaL  AvyyiBvg  -nal  v7tBQßLog"l8ag 

'AQ7]V7ld'EV      BßcCV,     (ISydXr]     7tEQld'aQ6£Eg 

aX-Kj]  &iiq)6xBQ0L  •  AvynEvg  8b  yial  6|v- 
rccxog  ev,£v.u6xo  ö^^aaiv,  bI  exeov  ys 
tceXbi  "üXiog^  dvEqa  %elvov  griiStcog  v-al 
VEQ&E  y,ccxci  x^ovbg  avyd^sG&ccL.  SCHoL. 


versas  petierunt  domos,  Peleus 
Phthiain ,  Telamon  Salamina, 
quam  Apollonius  Rhodius  in- 
sulam  Atthida  vocat.  Butes 
Teleontis  et  Zeuxippes  Eridani 
fluminis  filiae  filius.  Phaleros 
Alconis  filius  ab  Athenis.  Ti- 
phys  Hagniae filius.  Boeotius. 
is  fuit  gubernator  navis  Argo. 
Argus  Arestoris  et  Argiae 
Polybi  filiae  filius.  hie  fuit 
Argivus,  pelle  taurina  lanu- 
ginis  nigrae  adopertus.  is  fuit 
fabricator  navis  Argo.  P  k  1  i  a  s 
Liberi  patris  et  Ariadnes  Mi- 
nois  filiae  filius,  ex  urbe  Phli- 
unte,  quae  est  in  Peloponneso. 
alii  aiunt  Thebanum.  Her- 
cules lovis  et  Alcumenae 
Electryonis  filiae  filius,  Theba- 
nus.  Hylas  Theodamantis  et 
Mecionices  nymphae  Orionis  filiae 
filius,  ephebus  ex  Oechalia,  alii 
aiunt  ex  Argis  comitem  Her- 
culis.  Nauplius  Neptuni  et 
Amymones  Danai  filiae  filius 
Argivus.  I  d  m  0  n  Apollinis  et 
Asteries  Coroni  filiae  filius, 
quidam  Abantis  dicunt,  Ar- 
givus. hie  augurio  prudens 
quamvis  praedicentibus  avibus 
mortem  sibi  destinari  intel- 
lexit,  fatali  tamen  militiae 
non  defuit.  Castor  et  Pol- 
lux  lovis  et  Ledae  Thestii 
filiae  filii,  Lacedamonii  ex  Sparta, 
uterque  imberbis.  bis  eodem 
quoque  tempore  stellae  in  ca- 
pitibus  ut  viderentur  accidisse 
scribitur.  Lynceus  et  Idas 
Apharei  et  Arenae  Oebali  filiae 
filii,    Messenii   ex  Peloponneso. 


Der  Argonautenkatalog  in  Hygins  Fabelbuch. 


493 


Telamon,  Aeaci  et  Pae- 
neidos  Ceptionis  filiae  filii, 
ab  Aegyna  insula.  qui  ob 
caedem  Phoci  fratris  re- 
lictis  sedibus  suis  diversas 
petierunt  domos,  Pelaeus 
Phthiam ,  Telamon  Sala- 
minam,  quam  ApoUonius 
Rhodius  Atthida  vocat. 
Butes  Teleontis  et  Zeu- 
xippes  Eridani  fluminis 
filiae  filius.  Phaleros 
Alcontis  filius  ab  Athenis. 
T  i  p  h  y  s  Hagniae  filius, 
Boetius.  is  fuit  gubernator 
navis  Argo.  Argus  Po- 
lybi  et  Argiae  filius,  hie 
fuit  Argivus,  pelle  taurina 
lanugine  adopertus.  is  fuit 
fabricator  navis  Argo. 
P  h  1  i  a  s  u  s  Liberi  patris  et 
Ariadnes  Minois  filiae  filius, 
ex  urbe  Phliunte,  quae  est 
inPeloponneso.  alii  aiunt 
Thebanum.  Hercules  lo- 
vis  et  Alcimenae  Electryo- 
nis  filiae  filius,  Thebanus. 
Hylas  Theodainantis  et 
Menodices  nymphae  Oreo- 
nis  filiae  filius,  ephoebus, 
ex  Oechalia,  alii  aiunt  ex, 
Argis  comitem  Herculis. 
Nauplius  Neptuni  et 
Danai  filiae  Amymones  Argivus.  I  d- 
ArgTvus.  ^^^  Apollinis  et  Cyrenes 
nymphae  filius ,  quidam 
Abantis  dieunt,  Argivus. 
hie  augurio  prudens  quam- 
vis  praedicentibus  avibus 
mortem  sibi  destinari  in- 
tellexit,  fatali  tarnen  mili- 
tiae  non  defuit.    Castor 


Apolline  sagittarum  scientia  cum 
autore  muneris  contendisse  dici- 
tur.  huius  filius  Cly tius  ab  Aeeta 
interfectus  est.  Paeleus  etTe- 
1  a  m  0  n ,  Aeaci  et  Paeneidos  Cep- 
tionis filiae  filii,  ab  Aegyna  insu- 
la, qui  ob  caedem  Phoci  fratris  re- 
lictis  sedibus  suis  diversas  petie- 
runt domos,  Pelaeus  Phthiam,  Te- 
lamon Salamina,  quam  ApoUonius 
Bhodius  Atthida  vocat.  Butes 
Teleontis  et  Zeuxippes  Eridani 
fluminis  filiae  filius.  Phaleros 
Alcontis  filius  ab  Athenis.  Ti- 
phys  Phorbantis  et  Hymanes 
filius,  Boetius.  is  fuit  gubernator 
navis  Argo.  Argus  Polybi  et 
Argiae  filius,  alii  aiunt  Danai 
filium.  hie  fuit  Argivus,  pelle  la- 
nugine adopertus.  is  fuit  fabri- 
cator navis  Argo.  Phliasus 
Liberi  patris  et  Ariadnes  Minois 
filiae  filius,  ex  urbe  Phliunte, 
quae  est  in  Peloponneso.  alii 
aiunt  Thebanum.  Hercules 
lovis  et  Alcimenae  Electryonis 
filiae  filius,  Thebanus.  Hylas 
Theodamantis  et  Menodices  nym- 
phae Oreonis  filiae  filius,  Ephoe- 
bus, ex  Oechalia,  alii  aiunt  ex 
Argis  comitem  Herculis.  Nau- 
plius  Neptuni  et  Amymones 
Danai  filiae  filius,  Argivus.  Id- 
m  0  n  Apollinis  et  Cyrenae  nym- 
phae filius,  quidem  Abantis  di- 
eunt, Argivus.  hie  augurio  pru- 
dens quamvis  praedicentibus  avi- 
bus mortem  sibi  destinari  intel- 
lexit,  fatali  tarnen  militiae  non 
defuit.  Castor  etPollux  lovis 
et  Ledae  Thesti  filiae  filius,  La- 
cedaemonii,    alii   Spartanos    di- 


Kgl.  Ges.  d.  Wiss.    Nachrichten.   Phil.-hist.  Klasse.    1918.    Heft  4. 


33 


494 


Carl  Robert 


^egSHvöris  tr]V  firitSQa  tmv   Ttsgl  "I8av 

^jQTJvriv  cpr\6Lv I  156  ff. 

6VV  de  nsQLTilviisvog  Nr)Xi^Loga)Qto 
vhod'ca,  TtQeaßvtccTog  nocidcov,  oaoL 
TlvXqi  e^sysvovto  NriX^og  &slolo.  Schol. 
NriXsvg  5'  saxEv  natSug  Ix  iisv  XXm- 
Qidog  N86T0QU  nsQvnXviisvov  %rX. 
I  161  ff.  %al  iiBv  'Aii(pidcc(iccg  Ärj- 
q)svg  r'  üüav  'Agyiccdiri^ev^  di  Tsyeriv 
Kccl  tiXfiQOv  'AcpsiSavtSLOV  tvccLOVj  vis 
dva  ^AXsov'  xQitatog  ys  fihv  tönst 
lovaiv  ^Ay-Aatog,  tbv  {liv  qa  natr]Q 
Avv.6oQyog  STtsiiTtev ,  r&v  ä^cpco  yvco- 
rbg  7r-Qoysv£6tSQog.  I  172  f.  ßf^  Ss  yiccl 
AvysiTigi  ov  dr] cpdxig  'HsXloio  E^i^svaL  • 
HXelolgi  d'o  y^  icvdQccGiv  Sfißa6LXsvsv. 
SCHOL.  ovtog  y6v(p  (isv  jjv'^HXLOVf  ini- 
kXtiglv  da  ^^OQßccvtog ,  sv,  tTJg  NriXacog 
'TQfiLvrig.  I  176  f.  ^AötsQiog  dl  nccl 
'AncpCav  'TTtsgaßLOV  vtsg  IlsXXrivrig  cccpi- 
y,avov  'AxccLLÖog.  I  179  ff.  Tatvagov  avt* 
inl  rot6L  Xinmv  E^cpriiiog  lhocvsv^  xov 
QCcno6H8d(üvi'ito8o3V.riä6taxov  aXXav  Ev- 
QoiTtri  Tltvolo  (isyao&svsog  ths  kovqti. 
v,Bivog  ävriQ  xal  Ttovtov  sjrl  yXavv,oto 
^s£6%£v  ol'dfiaTog  ovSs  d'oovg  ßdictsv 
nodag.  I  185  ff.  -acu  S'  äXXco  8vo  Ttcttds 
IJocsLÖdcovog  ihovto'  Tqtoi  o  {ilv  rcto- 
Xisd'QOv  ccyccvov  MiXtjtOLO  voGcpiod'slg 
^Egytvog,  o  d' 'I^ißgccGtrig  sdog  "Hgrig, 
naQ&£VLif]v 'Ayuatog  vnsgßiog.  SCHOL. 
"'Ayv.atog  vtbg  ^AotvTcaXaCag  xfig  ^oCviY.og 
v,aX  TIo6si8&vog,  ^Egyivog  Ös  KXvfisvov 
xov  TlQS6ß(ovog  yial  Bov^vyrig  xfjg  Avv,ov. 

IlaQd'SVLa  8s  fj  2d[iog  dnb  IIccq- 

%svCag  XTJg  Edfiov  yvvciiY.bg  covofidö&ri. 
1  190  ff.  OlvsCSrig  8'  S7t)  xolülv  dtpogfirj- 
^slg  KaXvS&vog  ccX^T^sig  MsXsaygog 
ccv7]Xvd's  AccoKO  G)v  xs,  Aao-KOcovOtvriog 
cc8£X(p£6g '  oh  fisv  Ifig  ys  ^rixsQog.  1 199  ff. 
ticil  (i7]v  ot  fiT^xQcog  avxriv  d8bv  sv  (isv 
aKOvxi,  St  8s  %al  sv  gxccSlt]  8s8arnisvog 
ccvxKfSQSßd'Cii,  @S6xid87\g  "Icp  iY,Xog  scpca- 
fidgxrias  movxi.  SCHOL.  'AXQ'aia.  v-aVlcpi- 
v.Xog  d8sX(pol  Ix  driiSufiSLag  x^g  TlsQiri- 
Qovg.  I  207  f.  s-A  8^  agce  ^cox^cov  -a^sv 
^'I cpixog  'OQvvxi8cco  NccvßoXov  sytys- 
y ccdig.  SCHOL.  xbv  8s"I(pLX0v  ysvsaXoyst 
NavßoXov  Kccl  TLsQivsCv.rig  xf]g  "iTtnoiidxov. 


ex  his  Lynceus  sub  terra  quae- 
que    latentia     vidisse     dicitur. 
Item  Idas  acer,    f erox.    P  e  r  i- 
clymenus    Nelei    et    Chlori- 
dis  Amphionis    et  Niobae  filiae 
filius.     hie    fuit    Pylius.      A  m- 
phidamas  etCepheus,  Alei 
et   Cleobules    filii    de   Arcadia. 
Ancaeus  Lycurgi  filius,    Alei 
nepos,  Tegeates.    A u g  e  a  s  Solls 
et    Nausidames   Amphidamantis 
filiae    filius,    alii    dicunt    Phor- 
bautis   et  Hyrmines  filium.     hie 
fuit  Eleus.   Asterion  et  Am- 
phion  Hyperasii  filii,    ex  Pel- 
lene.    Euphemus  Neptuni  et 
Europes  Tityi  filiae  filius,  Tae- 
narius.      hie    super   aquas  sicco 
pede    cucurrisse    dicitur.      An- 
caeus   alter,     Neptuni    filius, 
matreAstypalaeaPhoenicis  filia, 
ab  Imbraso    insula,    quae  Par- 
thenia  appellata  est,  nunc  autem 
Samos  dicitur.    Erginus  Nep- 
tuni   filius,    a    Mileto,    quidam 
Clymeni   dicunt,     Orcbomenius. 
Meleager   Oenei   et  Althaeae 
Thestii  filiae  filius,  quidam  Mar- 
tis   putant,    Calydonius.     Lao- 
co'on    Porthaonis     filius    Oenei 
frater,  sed  non  ex  eadem  matre, 
Calydonius .      I  p  h  i  c  1  u  s    alter, 
Thestii  filius,    matre   Leucippe, 
Althaeae  frater,  Lacedaemonius. 
hie  fuit  acer,   Cursor,   iaculator. 
Iphitus  Nauboli  filius  ex  Pe- 
rinice  Hippomachi  filia,  Phocen- 
sis.     Zetes   et  Calais  Aqui- 
lonis  venti  et  Orithyiae  Erech- 
thei  filiae  filii.    hi  capita  pedes- 
que    pennatos    habuisse    ferun- 
tur    crinesque     caeruleos,     qui 


Der  Argonautenkatalog  in  Hygins  Fabelbuch. 


495 


et  Pollux  lovis  et  Ledae 
Thestii  filiae  filiius,  Lace- 

ex  Sparta.  claemonii,uterqueimberbis. 
bis  eodem  quoque  tempore 
stellae  in  capitibus  ut  vide- 
rentur  accidisse  scribitur. 
Lynceus  et  Idas  Apha- 
rei  et  Arenae  Bibali  liliae 
filii,  Messenii  ex  Pelopon- 
neso.  ex  bis  Lynceus  sub 
terra  quaeque  latentia  vi- 
disse  dicitur.  Item  Idas 
acer,  ferox.  Periciime- 
nus  Nilei  et  Chloridis 
Ampbinois  et  Niobes  fi- 
liae filius.  hie  fuit  Py- 
lius.  Amphidamus  et 
Cepheus  Egei  et  Cleo- 
bules  filii  de  Arcadia.  An- 

Alei  nepos.  caeus  Lycurgi  filius,  Te- 
geates.    Augeas  Solis  et 

alii  dicunt   Naupidames  Amphidaman- 


IPhorbantiset^ig    filiae 
I    Hyrmmes 
filium. 


filius.      bic  fuit 
Asterion    et 


Hip 


electus. 

Amphion  Yeptacli  filii, 
ex  Pellene.  Eupbemus 
Neptuni  et  Europes  Tityi 
filiae  filius,  Taenarius.  bic 
super  aquas  sicco  pede 
cucurrisse  dicitur.  A  n- 
caeus  alter,  Neptuni  fi- 
lius ,  matre  Astypalaea 
Pboenicis  filia,  ab  Imbraso 
insula,  quae  Parthenia  ap- 
pellata  est,  nunc  autem 
Samos  dicitur.  Erginus 
Neptuni  filius  a  Mileto, 
quidam  Periclimeni  dicunt, 
Orcbomenius.  Meleager 
Althaeae  Oenei  filius,  quidam  Martis 
^^^^^^^•putant,  Calydonius.  Lao- 
c  0  0  n     Portbaonis     filius, 


cunt,  uterque  imberbis.  bis  eodem 
quoque  tempore  stellae  in  capi- 
tibus ut  viderentur  accidisse  scri- 
bitur. Lynceus  etldasApba- 
rei  et  Arenae  Bibali  filiae  filii, 
Messenii  ex  Peloponneso.  ex  bis 
Lynceus  sub  terra  quaeque  la- 
tentia vidisse  dicitur,  neque  uUa 
caligine  inbibebatur,  alii  aiunt 
Lynceum  noctu  nullum  vidisse. 
idem  sub  terra  solitus  cernere 
dictus  est,  ideo  quod  aurifodinas 
norat :  is  cum  descendebat  et  au- 
rum  subito  ostendebat,  ita  rumor 
sublatus,  eum  sub  terra  solitum 
videre.  Item  Idas  acer,  ferox, 
Periclimenus  Nilei  et  Chlo- 
ridis Amphinois  et  Niobes  fiJiae 
filius.  bic  fuit  Pylius.  Amphi- 
damus et  Cepheus  Egei  et 
Cleobules  filii  de  Arcadia.  An- 
caeus  Lycurgi  filius,  aliinepotem 
dicunt.  Tegeates.  Augeas  SoHs 
et    Naupidames   Amphidamantis 

filiae  filius.  bic  fuit  electus.  Aste- 
rion etAmphion  Ypetaclifilii, 
alii  aiunt  Hipasi,  ex  Pellene.  Eu- 
pbemus Neptuni  et  Europes  Ti- 
tyi filiae  filius,  Taenarius.  hie 
super  aquas  sicco  pede  cucurrisse 
dicitur.  An  caeus  alter,  Nep- 
tuni filius,  matre  Alta  Cathesti 
filia,  ab  Imbraso  insula,  quae 
Parthenia  appellata  est,  nunc 
autem  Samos  dicitur.  Erginus 
Neptuni  filius,  a  Mileto,  quidam 
Periclimeni  dicunt,  Orcbomenius. 
Meleager  Oenei  et  Aitheae 
Thestii  filiae  filius,  quidam  Mar- 
tis putant,  Calydonius.  Lao- 
coon  Portbaonis  filius,  Oenei 
f rater,  Calydonius.  Iphiclus 
33* 


496 


Carl  Robert, 


1211  if.  Zr}tr]gccvKdlatg  rs  Boq-^lol 
vhg  t^ovTO,  ovg  not''  'Epf^'O'Tjis  BoQsrj 
ti^Bv  'Slgsid^via  iöxatL^  QQjjv.rig  dvcxsi- 

flSQOV  .  ...  TOD  flEV  87t'  CCHgOTCCTOLÖl,  TloS&V 

SHccTSQd'Sv  SQSnväg  6B10V  ccELQOiiivco  nti- 
Qvyag,  (isya  d-ccvfia  idsü&ai,  XQvcsCaig 
(poXidsoGL  ÖLccvysag,  cc^tpl  ds  vwToig  KQcca- 
Tog  i^  vndtoio  ^).  v.cd  av^ivog  svd'ci  -nal 
ivd^cc    -avccvsoL   doviovto  iistä   tcvoijjgiv 

t&SLQai, II  296  f.  ZtQO- 

tfädag  8s  (iBtayiXsL'ovö'  dvd-QcoTtoi  vri6ovg 
roLO  y'  EKTiTL,  Tcdgog  nXcaräg  HaXsovrBg. 
1  1302  iF.  t]  ts  Gcpiv  aTvysgi]  zCeig  BTcXst' 
önLößco  ;u£(Kytv  vqp'  ^HQa-iiXf]og,  o  fiLv  Sl- 
^£6d'ca  eQvnov  (post  Hylae  raptum  per 
Mysiam  errantem).  äd'Xav  yuQ  UsXiao 
SsdovnoTog  atp  äviovtag  Trivcp  sv  afi- 
tpiQvtrj  7t£(pv£Vf  yiccl  Scfi'^aato  yaiccv  cciicp' 
ccvtoCg,  GxrjXag  ts  Svco  y.ad'vnsgd^sv  stsv- 
|f V,  a>v  stSQr},  d-dfißog  nsgiaioiov  &vdQd6t, 
Xsv66SLv,  y.LvvtaL  Tjxiisvtog  vnb  Ttvoiy 
BoQsao. 


pervio  aere  usi  sunt,  hi  aves 
Harpyias  fugaverunt  a  Phineo 
Agenoris  filio,  eodem  tempore 
quo  lasoni  comites  ad  Colchos 
proficiscebantur ,  quae  inhabi- 
tabant  insulas  Stropbadas  in 
Aegaeo  mari,  quae  Plotae  ap- 
pellantur.  hi  autem,  Zetes  et 
Calais,  ab  Hercule  Teni  occisi 
sunt,  quorum  in  tumulis  super- 
positi  lapides  flatibus  paternis 
moventur.  hi  autem  ex  Thracia 
esse  dicuntur. 


1)  So  hat  Hygin  interpun giert,  indem  er  dfi(pl  ds  vmtoig  Tigdatog  f|  vndtoio 
auf  die  Flügel  bezog.  In  Wahrheit  bezieht  es  sich  auf  die  Nackenhaare,  gehört 
zum  folgenden,  und  yigdatog  steht  zu  avxsvog  parallel. 


Nun  muß  ich  aber  auf  den  Einwurf  gefaßt  sein,  daß  drei  der 
von  mir  dem  Interpolator  zugeschriebenen  und  als  unmöglich  be- 
zeichneten Genealogien  auch  an  späteren  Stellen  des  Fabelbuchs 
wiederkehren ;  Argos  wird  in  demselben  Capitel,  wo  von  dem  Ver- 
hältnis der  einzelnen  Argonauten  zu  ihrem  Schiff  die  Rede  ist, 
als  Sohn  des  Danaos,  Tiphys  in  Fab.  18  als  Sohn  des  Phorbas, 
Mopsos  in  Fab.  173  als  der  des  Amykos  bezeichnet.  Diese  Er- 
scheinung müssen  wir  in  größerem  Zusammenhang  betrachten.  Denn 
zwei  ähnliche  Corruptelen  des  Argonautenkatalogs  finden  sich  schon 
an  früheren  Stellen  der  kleinen  Schrift.  So  heißt,  worauf  schon 
hingewiesen  wurde,  der  Phrixossohn  Kytisoros  auch  bereits  in  Fab.  3 
Cylindrus,  und  dieselbe  Corruptel  kehrt  auch  in  Fab.  21  wieder. 
Lehrreicher  ist  der  zweite  Fall.  Unter  den  Argonauten,  die  Hygin 
aus  einer  Nebenquelle  hinzufügt,  erscheint  ein  Mileus  Uippocoontis 
ßlius  Fylius.  Schon  Muncker  hat  es  erkannt,  daß  damit  Neleus 
gemeint  ist,  dessen  Name  vorher,  wo  er  als  Vater  des  Perikly- 
menos  erwähnt  wird,   zu  Nileus   verderbt   ist.     Dieselbe  befremd- 


Der  Argonautenkatalog  in  Hygins  Fabelbuch. 


497 


sed  non  ex 
eadem  matre 


ex  Perinice 

Hippomachi 

filia. 


tres  Thau- 

mantis  et 

Ozomenes 

filias,  Alo- 

pienAcheloen 

Ocypeten. 

hae  fuisse  di- 

cuntur  capiti- 

bus  gallina- 

ceis,  penna- 

tae,  alasqueet 

brachia  hu- 

mana,  ungui- 

bus  magnis, 

pedibusque 

gallinaceis, 

pectus  album 

foeminaque 

humana. 


Oenei  frater,  Calydonins. 
Iphiclus  alter,  Thestii 
filius,  matre  Leucippe,  Al- 
thaeae  frater,  Lacedaemo- 
nius.  hie  fuit  Areas,  eur- 
sor,  iaculator.  I  p  h  i  t  u  s 
Nauboli  filius,  Phocensis. 
Zetes  et  Calais  Aqui- 
lonis  venti  et  Orithyiae 
Erichthei  filiae  filii.  hi 
capita  pedesque  pennatos 
habuisse  feruntur  crines- 
que  ceruleos,  qui  pervio 
aere  usi  sunt,  hi  aves  Har- 
pyas  fugaverunt  a  Phineo 
Agenoris  filio  eodem  tem- 
pore, quo  lasoni  comites 
ad  Colchos  proficisceban- 
tur.  quae  inhabitabant  in- 
sulas  Strophadas  in  Aegeo 
mari,  quae  Plotae  appel- 
lantur.  hi  autem,  Zethes 
et  Calais,  ab  Hercule  telis 
occisi  sunt,  quorum  in  tu- 
mulis  superpositi  lapides 
flatibus  paternis  mo ventur. 
hi  autem  ex  Thracia  esse 
dieuntur. 


alter,  Thestii  filius,  matre  Leu- 
cippe, Altheae  frater  ex  eadem 
matre,  Lacedaemonius.  hie  fuit 
Areas,  Cursor,  iaculator.  Iphi- 
tus  Nauboli  filius,  Phocensis.  alii 
Hippasi  filium  ex  Peloponneso 
fuisse  dicunt.  Zetes  et  Calais 
Aquilonis  venti  et  Orithyiae 
Erichthei  filiae  filii.  hi  capita  pe- 
desque pennatos  habuisse  fe- 
runtur crinesque  ceruleos,  qui 
pervio  aere  usi  sunt,  hi  aves 
Harpyas  tres  Thaumantis  et 
Ozomenes  filias  Alopien,  Ache- 
Joen,  Ocypeten  fugaverunt  a  Phi- 
neo Agenoris  filio  eodem  tem- 
pore, quo  lasoni  comites  ad  Col- 
chos proficiscebantur.  quae  in- 
habitabant insulas  Strophadas  in 
Aegeo  mari,  quae  Plotae,  appel- 
lantur.  hae  fuisse  dieuntur  capi- 
tibus  gallinaceis,  pennatae,  alas- 
que  et  brachia  humana,  unguibus 
magnis,  pedibusque  gallinaceis, 
pectus  album  foeminaque  humana. 
hi  autem,  Zethes  et  Calais,  ab 
Hercule  telis  occisi  sunt,  quorum 
in  tumulis  superpositi  lapides 
flatibus  paternis  raoventur,  hi 
autem  ex  Thracia  esse  dieuntur. 


liehe  Genealogie  liest  man  auch  in  Fab.  10,  die  ich  zum  größten 
Teil  hersetzen  muß:  Chloris  Nlohes  et  {in  nrbe  Seil  Fß,,  verb.  von 
Salmasius)  et  Amphionis  filia,  quae  ex  Septem  superaterat.  hanc  hahuit 
in  coniugem  Neleus  Hippocoontis  filius.  ex  qua  procreuvit  liberos 
masculos  XII.  Hercules  cum  Fylum  expugnaret,  Keleum  intei'fecit  et 
filios  eius  decem,  unclecimus  autem  Fericlymenus  heneficio  Neptuni  avi 
in  aquilae  effigiem  commutatus,  mortem  effugit.  nam  duodecimus  Nestor 
in  exilio  (II io  FR,  verb.  von  Barth)  erat.  Auch  in  Fab.  31,  wo 
die  Veranlassung  vom  Haß  des  Herakles  auf  Neleus  angegeben 
wird,   heißt  dieser  ein  Sohn   des  Hippokoon:   Neleum  Hippocoontis 


■ 


498  Carl  Robert, 

fiUum  cum  decem  fdüs  occidit,  quoniam  is  eum  purgare  sive  lustrare 
noluit,  Gresetzt  nun,  diese  dreimal  wiederholte  Genealogie  wäre 
richtig  und  Neleus  wäre  wirklich  ein  Sohn  des  Hippokoon  und 
Enkel  des  Oibalos  gewesen,  wie  kommt  es  dann,  daß  er  nicht  als 
Lakedaemonier,  sondern  als  Pylier  bezeichnet  wird?  Höchstens 
könnte  er  nach  Pylos  ausgewandert  sein,  wovon  aber  weder  Hygin 
noch  eine  andere  mythographische  Quelle  etwas  zu  berichten  weiß. 
Aber  die  10.  Fabel  enthält  auch  einen  direkten  Widerspruch  gegen 
diese  Abstammung,  wenn  sie  den  Neliden  Periklymenos  als  Enkel 
des  Poseidon  bezeichnet.  "Wie  sollte  das  möglich  sein,  da  weder 
Hippokoon  noch  die  Niobide  Chloris  von  diesem  Grotte  abstammen  ? 
Wohl  aber  kennt  die  ganze  mythologische  Überlieferung  schon  von 
der  Odyssee  her  den  Neleus  als  Sohn  des  Poseidon  und  der  Tyro, 
und  diese  Grenealogie  befolgt  Hygin  später  selbst,  wo  er  in  der 
Liste  der  Neptuni  filii  Fab.  157  Neleus  et  Pelias  ex  Tyro,  Salmonei 
filia  nennt.  Also  ist  die  Angabe  Hippocoontis  filius  ohne  Zweifel 
falsch,  aber  um  eine  einfache  Namenscorruptel  kann  es  sich  nicht 
handeln.  Die  Aufklärung  bringt  Apollodor,  der  von  Herakles  II  7, 
3,  2  sagt :  ikcjv  ös  ttjv  Ilvlov  66tQcctev6sv  enl  AanedaCiiova^  fisreld^atv 
tovg  'IjCTtoKocovrog  italdag  ^sXcov  dtQyC^sco  ^hv  yäg  avtolg  zat  ölötl 
Nr^Xst  6vvsiidxriöav  xtX.  Dieser  Zug,  daß  die  Hippokoontiden  dem 
Neleus  gegen  Herakles  beizustehen  versuchten,  wird  auch  bei  Hygin 
nicht  gefehlt  haben,  der  etwa  geschrieben  haben  mochte :  Hercules 
cum  Pylmn  expugnaref,  Neleum,  cui  Hippocoontis  filii  auxilio  vener ant, 
interfecit.  Auf  welchem  Wege  dann  die  Verderbnis  oder,  wie  wir 
vielleicht  richtiger  sagen  werden,  das  Mißverständnis  entstanden 
ist,  kann  nach  den  beim  Argonauten  -  Katalog  gemachten  Erfah- 
rungen nicht  zweifelhaft  sein.  Das  kurze  Relativsatz chen  war 
ausgefallen  und  am  Rande  nachgetragen  worden.  Ein  Abschreiber, 
der  den  Randnachtrag  nur  flüchtig  ansah,  bezog  Hippocoontis  fil, 
auf  Neleus  und  fügte  die  Worte  an  falscher  Stelle  ein,  wo  sie  die 
richtige  Genealogie  Neptuni  et  Tyrus  filius  verdrängt  haben,  ein 
Vorgang,  für  den  uns  ebenfalls  der  Argonauten-Katalog  Beispiele 
geliefert  hat.  Der  Fehler  ist  also  in  Fab.  10  entstanden  und 
dann  in  Fab.  14  und  31  hineingetragen  worden.  Daraus  ersehen 
wir,  daß  einmal  das  Fabelbuch  systematisch,  wenn  auch  nicht  kon- 
sequent, so  durchcorrigiert  worden  ist,  daß  die  an  erster  Stelle 
auftretende  Genealogie,  um  Einheit  herzustellen,  in  die  späteren 
Stellen  hineingetragen  worden  ist,  und  so  erklärt  es  sich  auch, 
daß  die  Fehler,  die  in  den  interpolierten  Stellen  des  Argonauten- 
Katalogs  ihre  Wurzel  haben,  weiter  fortgepflanzt  worden  sind. 
Es    wäre    leicht,    noch    eine   ganze   Reihe   analoger  Fälle  anzu- 


Der  Argonautenkatalog  in  Hygins  Fabelbuch.  499 

.führen^),  doch  mag  es  an  einem  genügen.  In  Fab.  79  steht: 
oh  {ad  FR.,  verb.  v.  Muncker)  Helenam  Castor  et  Pollux  fratres 
helligerarunt  et  Aethram  Thesei  matrem  et  Flnsadiem  Pirithoi  soro- 
rem  ceperunt  et  in  Servitut em  sorori  dederunt.  Daß  mit  der 
Schwester  des  Peirithoos,  die  in  der  Ilias  F 144  (daraus  Ov.  Epist. 
XVI 267)  neben  Aethra  als  Dienerin  der  Helena  genannte  Kly- 
mene  gemeint  ist,  liegt  auf  der  Hand^),  aber  ebenso  daß  Fhisadie 
nicht  aus  Clymene  verderbt  sein  kann.  Wenn  wir  uns  aber  er- 
innern, daß  im  Argonauten-Katalog  Teleontis  fdius  zu  Ameleon  und 
Iri  et  Demonassae  filius  zu  Ixition  verstümmelt  ist,  werden  wir 
uns  nicht  bedenken,  in  dem  Namensungetüm  Phisidie  die  Trümmer 
von  pMlia  (d.  i.  filia)  Diae  zu  erkennen.  Hygin  hatte  chiastisch 
geschrieben  Clymenen  filiam  Diae  (oder  vielleicht  lovis  et  Diae),  Peri- 
thoi  sororem,  Nach  dem  Ausfall  des  Eigennamens  suchte  man 
diesen  in  dem  verstümmelten  filiam  Diae,  Dieselbe  Corruptel  ist 
dann  auch  mit  einer  leichten  Variante  in  Fab.  92  hineingetragen 
worden :  Alexander  Veneria  impulsit  Helenam  a  Lacedaemone  ab  hospite 
Menelao  Troiam  ahduxit  eamque  in  coniugio  habuit  cum  ancillis  duabus 
Aethra  et  Thisadie,  quas  Castor  et  Pollux  captivas  ei  assignarant, 
aliquando  reginas. 

Es  ist  nun  aber  nicht  gesagt,  daß  in  den  Fällen,  wo  es  sich 
um  Grenealogie  handelt,  immer  der  falsche  Vatername  den  rich- 
tigen verdrängt  hat.  Es  könnte  auch  sein,  daß  erst  der  Interpolator 
überhaupt  die  Angabe  des  Vaters  hinzugefügt  hat.  Es  muß  nem- 
lich  auffallen,  daß  in  dem  Fabelbuch  die  Abstammung  der  einzelnen 
Heroen  immer  und  immer  wieder  mit  geflissentlicher  Weitläufigkeit 
angegeben  wird,  mag  dies  vorher  auch  noch  so  oft  geschehen  sein. 
Ohne  Zweifel  geschieht  das  in  der  Absicht,  dem  Leser  diese  Daten 
immer  wieder  in  das  Gedächtnis  zu  rufen,  damit  er  sie  sich  mög- 
lichst fest  einpräge,  mit  anderen  Worten  zum  Zweck  des  Unter- 
richts. Dem  gleichen  Zweck  dient  die  Kürze  der  meisten  Capitel, 
bei  denen  man  sich  des  Eindrucks  nicht  erwehren  kannn,  daß  sie 
zum  Auswendiglernen  bestimmt  sind.  Allerdings  soll  nicht  be- 
stritten werden,  daß  die  Schrift  im  Gegensatz  zu  Apollodors 
Bibliothek  von  Anfang  an  in  Capitel  eingeteilt  war,  nicht  nur 
wegen  der  Analogie  der  Astronomica,   bei  denen  diese  Einteilung 


1)  So  hat  der  Interpolator  die  falsche  Lesart  Lycus  (oben  S.  484  A.  1)  aus 
Fab.  15  in  Fab.  74  und  273  eingeschmuggelt,  während  er  Nemea  dort  unangetaset 
ließ.  Auch  der  famose  König  Desmontes  (fab.  186),  der  aus  dem  Euripideischen 
Tragödientitel  MBlavCnnr]  i]  Ssaii&ris  entstanden  ist,  gehört  in  diesen  Zusammen- 
hang. 

2)  Vgl.  V.  Wilamowitz  Homer.  Unters.  221  f.  A.  15. 


500  Carl  Robert,  Der  Argonautenkatalog  in  Hygins  Fabelbuch. 

durch  den  Stoff  geboten  war,  sondern  auch  weil  die  von  dem  Ma- 
gister Dositheos  benutzte  griechische  Übersetzung  diese  Gliederung 
in  Capitel  aufwies.    Aber  noch  der  Redactor  der  Scholia  Strozziana 
des  Germanicus  las  unsere  Fab.  2  und  3  als  eine  fortlaufende  Er- 
zählung ^).     Es   hat    also  einmal   eine  Zerlegung  in  noch  kleinere 
Capitel   stattgefunden ,    d.  h.   das  mythologische  Handbuch   ist  zu 
einem  mythologischen  Schulbuch  umgearbeitet  worden,    und   zwar 
zu  einer  Zeit,  als  der  Text  bereits  sowohl  lückenhaft  als  interpoliert 
war.     Da  aber   eine    solche  Umarbeitung  nur  im  späteren  Alter- 
tum stattgefunden  haben  kann,    muß  der  Archetypus  des  Frisin- 
gensis,  dessen  Zustand  unsere  dritte  Columne  zu  veranschaulichen 
versucht,  in  sehr  frühe  Zeit  zurückreichen. 

1)   Germanicus   ed.  Breysig  p.  142  s ;    vgl.'  Robert  Eratosthenis   catasterism. 
rel.  p.  2  SS. 


Nachtrag. 

"Während   der  Drucklegung   bin  ich  noch   auf  eine  weitere  an  falsche  Stelle 
verschlagene  Argonauten-Mutter  gestoßen.    Hylas  heißt  Tlieodamantis  et  Mecionices 
nymphae  Orionis  filiae  films  (oben  S.  492).     Da  der  Name  der  Mutter  des  schönen 
Knaben  sonst  nirgends  überliefert  ist,   liest  man  zunächst  hierüber  hinweg.     Geht 
man  aber  der  literarischen  Überlieferung  über  diese  verschollene  Heroine  nach,  so 
wird  man  stutzig.    Die  älteste  für  uns  faßbare  Erwähnung  steht  in  einem  von  den 
Pindarscholien  (Pyth.  IV  35)  zitierten  Fragment  der  Hesiodeischen  Eöeen  (143  Rz.) : 
7]  ol'j]  'Tqlt]  TtvmvöcpQcov  Mri-KiovLyiri, 
7]  tE-K8v  E^q)rifiov  yairi6%cp  'EwoaiyaCai 
(islx^slg'  iv  (piXotriti  7toXvxQv6ov  'AcpQodLtrig. 
Auch  für  das  Altertum  scheint  diese  Stelle  die  einzige  Quelle  gewesen  zu  sein.   In 
der  erhaltenen  Literatur  begegnet  sie  uns,  von  Hygin  abgesehen,    erst   wieder  bei 
Tzetzes  in  den  Chiliaden  II  613  ff.  und  in  einer  fast  gleichlautenden  Stelle  der  Lyko- 
phronscholien  887.     In  den  Chiliaden  heißt  es: 

E^cprinog  natg  tfig"SlQi8os  {Jagidog  Th.  Kießling)  -^v  ticcl  tov  UoGEidmvog 
sI't'  ovv  EvQmTtrig  Tltvov  sl'ts  MriKLOVL'urig 
tfjg  &vYaTQbg  'SlQicovog, 
worauf  das  erwähnte  Pindarscholion,    nicht  ohne  ein  grobes  Mißverständnis,  para- 
phrasiert  wird.     Aber  auch  in  den  ausgeschriebenen  Worten  erkennt  man  auf  den 
ersten  Blick  ein  versifiziertes  Scholion,  offenbar  dasselbe,  das  uns  verkürzt  zu  Apol- 
lonios  1 179  vorliegt :  EvQmnri  Tltvov  tov  'EXcigrig  naidog.    Da  es  nun  kaum  glaub- 
lich ist,  daß  man  eine  obskure  Orionstochter  außer  dem  Euphemos  auch  dem  Hylas 
zur  Mutter  gegeben  haben  sollte,    so  wird  Hygin   geschrieben  haben:   Euphemus 
Neptuni  et  Europes  Tityi  filiae  (s,  S.  494),  alii  aiunt  Mecionices  nymphae  Orionis 
filiae  filius.     Die  Variante  ist  wieder  ausgelassen  und  am  Rand  mit  dem  Stichwort 
^filius  nachgetragen  worden,  worauf  sie  vor  das  filius  hinter  Theodamantis,  wo  man 
die  Angabe  der  Mutter  vermißte,  eingesetzt  wurde. 


Ein  manichäisches  Gedicht. 

Von 
Mark  Lidzbarski, 

Vorgelegt  in  der  Sitzung  vom  21.  Februar  1919. 

Unter  den  in  Turfan  gefundenen  manichäischen  Texten  in  per- 
sischer Sprache  verdient  ein  Gedicht  besondere  Beachtung.  Es 
wurde  von  F.  "W.  K.  Müller  in  Handschriften- Reste  in  Esrangelo- 
Schrift  aus  Turfan,  Chinesisch- Turhistan,  II  (Abhandlungen  der  Berl. 
Akademie  1904),  p.  51  veröffentlicht.  C.  Salemann  gab  davon 
eine  berichtigte  Transkription  in  Manichäische  Studien  I  (Zapiski 
der  Petersburger  Akademie,  Serie  VIII,  histor.-phil.  Klasse,  Bd. 
VIII,  n.  10),   p.  4,   und  diese  Transkription  gebe  ich  hier  wieder: 

V3S3  :i^or  ys  n^n  näiiD 

Hr.  Andreas  stellte  mir  eine  neue  Übersetzung  des  Stückes 
zur  Verfügung,  die  ich  hier  mitteile: 


502  Mark  Lidzbarski, 

Ein  dankbarer  Schüler  bin  ich, 

der  aus  Babel  dem  Lande  entsprossen  ich  bin.' 
Entsprossen  bin  ich  aus  dem  Lande  Babel, 

und  an  der  Wahrheit  Pforte  hab  ich  gestanden. 

Ein  verkündender  Schüler  bin  ich, 

der  aus  Babel  dem  Lande  fortgezogen  ich  bin. 
Eortgezogen  bin  ich  aus  dem  Lande  Babel, 

auf  daß  ich  einen  Schrei  schreie   in  der  auf  Erden  gewor- 
denen (Welt) '). 

Euch,  (ihr)  Götter,  will  ich  anflehen, 

ihr  Götter  alle,  erlasset  (mir) 

meine  Sünde  durch  (eure)  Verzeihung. 

In  der  Einleitung  zu  den  3IandäiscJien  Liturgien  (Ergänzungs- 
heft  zum  laufenden  Jahrgange)  suche  ich  zu  zeigen,  daß  die  man- 
däischen  Hymnen  in  ihrer  Form  auf  kurze  Gedichte  von  vier 
Zeilen  zu  drei  Hebungen  zurückgehen.  In  den  erhaltenen  poeti- 
schen Stücken  erscheinen  je  zwei  kurze  Verse  zu  einem  Doppel- 
verse vereinigt,  und  der  zweite  Halbvers  wird  gewöhnlich  mit  ^ 
(pron.  relat.  oder  „auf  daß")  oder  )  „und"  eingeführt.  Ferner 
wird  sehr  oft  der  zweite  Halbvers  mit  umgekehrter  Wortfolge 
als  'erster  Halbvers  des  folgenden  Verses  wiederholt.  Alle  diese 
Eigentümlichkeiten  haben  auch  die  beiden  ersten  Strophen  des  ma- 
nichäischen  Gedichtes,  und  wie  Hr.  Andreas  mir  mitteilt,  sind  diese 
Eigentümlichkeiten  der  persischen  Poesie  ganz  fremd.  Ich  fragte 
mich  daher,  ob  das  Gedicht  nicht  ursprünglich  in  aramäischer 
Sprache  abgefaßt  war.  In  der  mandäischen,  wie  auch  in  der 
älteren  syrischen  Poesie  hat  der  kurze  Vers  drei  Hebungen.  Um 
zu  sehen,  wie  die  manichäischen  Verse  sich  aramäisch  ausnehmen, 
übersetzte  ich  sie  ins  babylonische  Aramäisch.  Ich  habe  für  die 
Übersetzung  die  mandäische  Schreibweise  genommen,  da  das  Man- 
däische  hier  am  ehesten  als  aramäischer  Dialekt  in  Betracht  kommt. 

n^Un^J  KpiK  S'^Sa  pi      KJKniND  KJS  Nl^OINn 

n^pB^j  NpnK  Vasn  |o*t    ni^oinh  njn  Nnnsp 

K:^^N3  N'HKbK  JID^KJ^O 

])ysh)D  s\nNbs  (pD'Kj^o) 
NnnN^n^  ^K^KtoNn  s^biput:? 


1)  Oder  „zuschreie  dem  auf  Erden  gewordenen". 


Ein  manichäisches  Gedicht.  503 

Es  zeigt  sich  nun,  daß  die  Verse  je  drei  Tonwörter  enthalten. 
Nur  beim  zweiten  Verse  der  dritten  Strophe  ist  es  unsicher,  aber 
bei  dieser  ist  es  überhaupt  fraglich,  ob  sie  zum  Gedichte  gehört. 
Im  vorliegenden  persischen  Text  haben  die  Verse  nach  Andreas 
je  acht  Silben,  doch  kann  dies  der  Übersetzer  hineingebracht  haben. 

Die  hervorgehobenen  Momente  sprechen  an  sich  noch  nicht 
bindend  für  das  Aramäische  als  Ursprache.  Die  besonderen  Eigen- 
tümlichkeiten der  mandäischen  und  aramäischen  Poesie  lassen  sich 
ja  auch  in  anderen  Sprachen  nachbilden.  Aber  eines  scheint  mir 
zu  zeigen,  daß  das  Gedicht  ursprünglich  aramäisch  abgefaßt  war. 
Die  erste  Strophe  enthält  ein  Wortspiel:  „der  Wahrheit  Pforte'* 
spielt  auf  h^2S2  „Grottes  Pforte"  an.  Nur  im  Aramäischen  ist 
das  Wortspiel  vorhanden,  im  Persischen  nicht.  Für  den  Aramäer 
war  die  Bedeutung  von  ^^3^3  durchsichtig,  zumal  in  Kreisen,  in 
denen  man  künstlich  viele  Namen  mit  ausgehendem  V  bildete;  dem 
Perser  war  die  Bedeutung  unbekannt.  In  einem  persisch  geschrie- 
benen Gedichte  durfte  auf  die  Bedeutung  von  ^3^3  überhaupt 
nicht  angespielt  oder  es  mußte  eine  Erklärung  von  b^3K3  beige- 
fügt werden. 

Es  sei  mir  verstattet,  ein  Beispiel  aus  der  neueren  deutschen 
Literatur  anzuführen.    Theodor  Fontane  fügte  in  den  Roman  „Vor 
dem  Sturm''   ein  Gedicht   auf  Seydlitz   ein.     Er  spielt  darin  auf 
Calcar  als  Geburtsort  des  Reitergenerals  an  und  sagt: 
Zu  Calcar  war  er  geboren 
Und  Calcar,  das  ist  Sporn. 
Der  Dichter  mußte  annehmen,    daß   die   meisten   deutschen  Leser 
die  Bedeutung  des  lateinischen  calcar  nicht  kennen,    daher  gab  er 
eine  Erklärung   des  Wortes.     Wäre   das  Gedicht   lateinisch  abge- 
faßt,   so  brauchte,   ja   durfte   eine   solche  Erklärung  nicht  stehen. 
Ebenso  verhält  es  sich  mit  dem  manichäischen  Gedichte :  aramäisch 
geschrieben  brauchte  es  nicht  zu  sagen,  was  b'3J«^3  bedeutet,  per- 
sisch geschrieben  mußte  es  eine  Erklärung  geben. 

In  der  Liturgie,  in  der  das  Stück  steht,  werden  vielfach  nur 
die  Anfänge  von  Hymnen  gegeben.  Daß  die  beiden  Strophen  zu- 
sammengehören und  nicht  etwa  die  Anfänge  zweier  Gedichte  sind, 
ist  klar.  Sie  zeigen  völlig  gleichen  Bau,  und  die  zweite  Strophe 
schließt  sich  inhaltlich  an  die  erste  an.  Babel  ist  die  Heimat  des 
Dichters,  von  dort  zieht  er  als  Herold  des  wahren  Glaubens  in 
die  Welt  hinaus.  Durch  die  künstliche  Umstellung  der  Worte  im 
ersten  Halbvers  der  zweiten  Strophe  ist  diese  zum  Gegenstück 
der  ersten  gemacht,  wie  wir  innerhalb  der  Strophe  Vers  und  Ge- 
genvers haben.    Doch  können   die  Strophen   eine  Fortsetzung  ge- 


504  Mark  Lidzbarski, 

habt  haben,  die  hier  weggelassen  ist.  Unsicher  ist  es  auch,  ob 
die  dritte  Strophe  von  vornherein  zum  Gedichte  gehörte  und  ob 
auch  sie  ursprünglich  aramäisch  abgefaßt  war.  Andreas  hält  die 
Strophe  für  eine  Responsion  zum  vorhergehenden  Gedichte.  In 
der  mandäischen  Liturgie  für  die  Tage  der  Woche  in  der  Oxforder 
Sammlung  ^)  folgt  auf  ein  erzählendes  Stück  mit  strengerem  Metrum 
als  Responsion  ein  Stück  in  freierem  Metrum,  gewöhnlich  mit 
einem  Gebete.  Andererseits  sehen  wir  bei  Qolastä  31  und  57, 
daß  in  demselben  Stücke  auf  Verse  ein  Gebet  um  Sündenvergebung 
in  Prosa  folgt. 

Zur  aramäischen  Übersetzung  sei  bemerkt.  Auch  das  Gedicht 
Qolastä  90  beginnt  mit  kJN  Kl^ronND-  —  NJNniNtD  tat  den  Sinn 
„bekennend"  und  „dankend'*.  ;iirnJt!^Jf  bedeutet  nach  Andreas 
nur  „dankbar".  Es  ist  aber  möglich,  daß  ursprünglich  der  Sinn 
„bekennend"  gemeint  ist.  —  Statt  N^nNp  könnte  es  auch  KJNtibDNö 
heißen,  das  aber  schlecht  voranstehen  würde,  nicht  aber  Ntl'jND» 
das  „Stimme,  Ruf"  bedeutet.  Andreas  sagte  mir,  daß  persisch 
ÜMD  „laut  schreien"  nicht  ,, rufen"  bedeute.  Man  darf  daher  den 
Halbvers  nicht  mit  KD^K^  S^Sp  N^pj/T  übersetzen,  woran  man 
nach  Ginzä  rechts,  p.  64,  14 ff.,  worauf  Müller  nach  Brandt  schon 
hingewiesen  hat,  denken  könnte.  ^K^NtOKn  heißt  ,, meine  Sünde" 
und  „mein  Sünden".    Letzteres  würde  für  die  Stelle  besser  passen. 

Die  Anknüpfung  an  das  Schrifttum  der  babylonischen  Täufer 
kann  nur  in  den  Anfängen  des  Manichäismus  stattgefunden  haben. 
Einer  unserer  zuverlässigsten  Gewährsmänner  für  Mäni,  der  Araber 
En-Nadim,  sagt,  daß  Mäni  seine  Jugendjahre  bei  den  babylonischen 
Täufern  verbracht  habe^).  Derselbe  En-Nadim  sagt  bei  der  Auf- 
zählung der  Schriften  Mäni's,  eine  sei  in  persischer,  sechs  in  syri- 
scher (aramäischer)  Sprache  verfaßt  {Fihrist,  p.  336).  Nach  einem 
Zitat  aus  Mänis  Schrift  Säpüragän  bei  Alberüni  (Chronologie, 
p.  207,  17)  sagte  Mäni,  die  Prophetie  sei  durch  ihn,  den  Gesandten 
des  Gottes  der  Wahrheit,  ins  Land  Babel  gekommen.  Daher 
vermute  ich,  daß  das  Gedicht,  oder  wenigstens  die  beiden  ersten 
Strophen  von  Mäni  selber  herrühren.  Ich  stieß  mich  anfangs  am 
Ausdruck  „Schüler".  Mäni,  der  Religionsstifter,  war  der  Meister, 
kein  Jünger.  Aber  Hr.  Andreas  sagte  mir,  daß  JIJNIIV^K  ii^i^  den 
Schüler  als  Lernenden,  nicht  den  Jünger  in  seinem  Verhältnis  zum 
Meister  bezeichne. 


1)  In  den  Mandäischen  Liturgien  als  Teil  II  veröffentlicht. 

2)  Fihrist,  p.  32^,  siehe  dazu  Sitzungsberichte  der  Berliner  Akademie   1916, 
p.  1220. 


Ein  manichäisches  Gedicht.  505 

Das  Interesse  an  der  hier  erörterten  Frage  geht  über  das 
kleine  Gedicht  hinaas.  Ich  habe  auf  die  Angabe  En-Nadims  hin- 
gewiesen, daß  Mäni  die  meisten  seiner  Schriften  aramäisch  ge- 
schrieben habe.  Wir  dürfen  auch  hier  En-Nadim  als  zuverlässigen 
Gewährsmann  ansehen.  Von  den  Schriften  wurden  nun  Bruch- 
stücke in  persischer  Sprache  gefunden.  Man  wird  bei  der  Unter- 
suchung dieser  auch  an  die  aramäische  Grundlage  denken  müssen. 
In  Müllers  „Resten''  und  Übersetzungen  von  Andreas,  die  ich  ein- 
sehen durfte,  stieß  ich  öfter  auf  Stellen,  bei  denen  meiner  Ansicht 
nach  der  Text  erst  nach  Rückübersetzung  ins  Aramäische  ver- 
ständlich wird. 


Zur  Überlieferung  und  Textkritik  der  Kudrun  II. 

Von 

Edward  Schröder. 

Vorgelegt  in  der  Sitzung  vom  21.  Februar  1919. 

Indem  ich  nach  mehr  als  Jahresfrist  mit  der  Veröffentlichung 
meiner  Vorstudien  für  eine  neue  Kudrun- Ausgabe  (vgl.  diese  Nach- 
richten 1917  S.  21  ff.)  fortfahre,  muß  ich  ein  Bekenntnis  ablegen. 
Ich  habe  früher  den  verschiedenen  Ausgaben  des  Gedichtes  von 
Bartsch  (bei  Brockhaus  1865,  4.  Aufl.  1880,  und  bei  Spemann  1885) 
und  den  Vorarbeiten,  die  er  in  der  Germania  Bd.  10  veröffentlicht 
hat,  nicht  die  Aufmerksamkeit  geschenkt  die  sie  verdienen ;  indem 
ich  mich  auf  die  beiden  Ausgaben  von  Martin  und  Symons  be- 
schränkte, war  ich  der  Meinung,  daß  in  sie  aufgegangen  sein 
müßte,  was  etwa  die  Ausgabe  von  Bartsch  gutes  bieten  konnte. 
Ich  gesteh  zugleich,  daß  ich  das  nicht  allzu  hoch  einschätzte:  in 
Erinnerung  an  die  in  der  gleichen  Brockhausschen  Sammlung  er- 
schienene Ausgabe  des  Parzival. 

Ich  habe  mich  gründlich  geirrt !  Bartschs  Ausgaben  der  Kudrun, 
in  erster  Linie  die  alte  Brockhaussche,  von  der  mir  die  2.  Auflage 
(1867)  jetzt  dauernd  zur  Hand  liegt,  haben  für  die  Kritik  reichlich 
soviel  geleistet,  wie  alle  übrigen  Ausgaben  vor  und  nach  ihm  zu- 
sammengenommen. Vor  allem  ist  er  der  einzige  Herausgeber  ge- 
wesen der  die  Kudrunverse  wirklich  gelesen  und  nicht  etwa  bloß 
wie  Martin  und  Symons  skandiert  hat  ^).  In  mehreren  hundert  Fällen 
hat  Bartsch  als  Erster  die  metrischen  Mängel  der  Überlieferung 
erkannt,  und  in  der  guten  Mehrzahl  hat  er  dann  auch  die  richtige 


1)  Von   Bartschs    Nachfolger    in    der    Kürschnerschen    Sammlung,    Piper, 
schweigt  man  lieber. 


Edward  Schröder,  Zur  Überlieferung  u.  Textkritik  der  Kudrun  II.      507 

Verbesserung  gefunden.  Das  wird  in  der  Folge  dieser  Studien 
immer  wieder  zu  Tage  treten,  die  sich  bei  der  Ausarbeitung  öfter 
zu  einer  Verteidigung  Bartschs  gestaltet  haben,  während  ich  bei 
den  Vorarbeiten  glaubte  durchaus  Eigenes  bieten  zu  können. 

Die  Grründe  für  diese  ganz  unzweifelhafte  Überlegenheit  Bartschs 
und  seine  Fruchtbarkeit  in  der  'niedern'  Kritik  sind  zweierlei  Art. 
Einmal  ist  B.  niemals  durch  die  Vorstellung  von  Aufgaben  der 
höhern  Kritik  der  Kudrundichtung  gegenüber  gehemmt  gewesen: 
er  sah  in  dem  Gredichte  stets  eine  Einheit  und  traute  seinem  Ver- 
fasser eine  ausgeglichene  formelhafte  Sprache  und  eine  ziemlich 
glatte  Metrik  zu ;  damit  hat  er  Recht  behalten.  Dann  aber  kannte 
er  das  Nibelungenlied  und  seine  Handschriften,  auch  die  Ambraser 
Hs.  d,  die  von  demselben  Schreiber  herrührt,  gründlich,  und  diese 
Kenntnis  ist  die  erste  Vorbedingung  für  die  kritische  Arbeit  am 
Kudruntext:  das  Nibelungenlied  muß  man  im  Kopfe  haben  und 
mit  der  Arbeitsweise  Hans  Rieds  muß  man  durchaus  vertraut  sein. 

Außer  Bartsch  hat  m.  W.  bisher  nur  einer  unserer  Fach- 
genossen den  Schreiber  der  Ambraser  Hs.  seiner  Aufmerksamkeit 
gewürdigt:  Moriz  Haupt,  von  dem  sich  nachweisen  läßt,  daß  er 
für  die  zweite  Auflage  des  Erec  alle  Texte  die  in  der  Überlieferung 
Rieds  vorliegen,  sorgsam  gelesen  hat. 

II.  Die  stumpfe  Zäsur. 

Für  die  ungeraden  Halbverse  der  Nibelungenstrophe  gilt  die 
Regel :  dreihebig  klingend !  ausnahmsweise  vierhebig  stumpf,  haupt- 
sächlich zu  Gunsten  der  Personennamen,  denen  in  beschränktem 
Umfang  andere  Fälle  sich  anschließen:  alles  in  allem  ca.  650,  d.  i. 
nicht  ganz  7  Prozent.  Ausführlich  behandelt  ist  die  stumpfe  Zäsur, 
unter  Heranziehung  der  Handschriften,  von  Bartsch  in  seinen 
Untersuchungen  über  das  Nibelungenlied  (1865)  S.  163—174;  für 
mich  genügt  Bartschs  Text  der  Vulgata,  gegen  den  ich  in  diesem 
Punkte  nur  unbedeutende  Einwände  zu  erheben  hätte. 

Personennamen  erscheinen  in  der  stumpfen  Zäsur  des 
Nibelungenliedes  (2379  Strophen)  nach  meiner  Zählung  548  x, 
d.  h.  etwa  einmal  auf  je  4  Strophen.  In  der  Kudrun  (1705  Stro- 
phen) zählt  man  275  Fälle,  d.  h.  einen  auf  etwa  6  Strophen,  näm- 
lich Härtmüot  56,    Küdrün  45,   Herivic  41,    Lüdetvic  24,    Ortwin  19, 

Gerünt  17,  Höränt  14,  Hildelürc  13,  Möranc  11,  Irolt  7,  OrtrünTj 
Sigehänt  7,  Sifrlt  5,  Eer{e)gärt  3;  den  Rest  bildet  6  maliges  Wate, 
das  aber,  wie  sich  zeigen  wird,  durchweg  verdächtig  ist.  Das 
verhältnismäßig  häufigere  Vorkommen  im  Nibelungenliede  erklärt 


508  Edward  Schröder, 

sich  leicht:  es  sind  daran  40  Namen  beteiligt  gegenüber  15  resp. 
14  in  der  Kudrun,  wo  die  Zahl  der  handelnden  Personen  über- 
haupt viel  kleiner  ist;  hier  ist  in  der  Zäsur  Hartm^jot  mit  56  Vor- 
kommen, dort  Stfrit  mit  112  der  häufigste  Name,  und  Hartmuot  fügt 
sich  33  x,  Sifrit  nur  13  x  zum  Endreim. 

Dagegen  zeigt  sich  ein  Unterschied  bei  den  Ländernamen: 
zwar  ist  deren  Zahl  und  Vorkommen  in  der  Kudrun  an  sich  größer, 
aber  doch  muß  es  auifallen,  daß  dem  einzigen  Llbid  Mb.  429,  3  ^) 
in  der  Kudrun  12  Fälle  gegenüberstehn,  nämlich  Ähabe  667, 4. 
698,42);  Bäljän  161,2;  Gdradi  (so  zu  lesen!)  126,1.  150,4; 
Wdlels  208,  2 ;  ferner  Irlant  Dat.  183, 1. 1680, 2  (1.  Hüdeburc  üs  Irlant) ; 
OrÜant  Nom.  204,  4;  Tenelant  Dat.  571,  4.  1549,  4.  1612,  4.  Es 
bleibt  immerhin  bemerkenswert,  daß  dem  12  maligen  Vorkommen 
des  Dat.  Mderlant  in  den  Reimen  des  Nibelungenliedes  kein  ein- 
ziger Zäsurfall  gegenübertritt;  daß  der  Nibelungendichter  diese 
Möglichkeit  gemieden  hat,  scheint  mir  zweifellos:  in  der  Kudrun 
haben  wir  bei  dem  etwa  gleichhäufigen  Tenelant  das  Verhältnis  15 :  3. 

Von  den  Eigennamen  abgesehen  hat  das  Nibelungenlied  in 
Bartschs  Text  noch  rund  hundert  Fälle  von  stumpfer  Zäsur  bei  vier 
Hebungen ;  nirgends  zwingt  uns  die  Überlieferung,  in  solchem  Falle 
Dreihebigkeit  zu  dulden,  wie  das  in  unsern  K  u  d  r  u  n  -  Ausgaben 
so  oft  geschieht  und  noch  neuerdings  besonders  für  den  Ausgang 
^  u  von  Panzer,  Hilde- Gudrun  S.  17  ausdrücklich  aufrecht  erhalten 
worden  ist.  Nun  ist  die  Praxis  des  Kudrundichters  freilich,  wie 
wir  bald  sehen  werden,  im  einzelnen  nicht  die  gleiche  wie  im 
Nibl.,  aber  sie  darf  im  ganzen  eher  als  die  strengere  bezeichnet 
werden,  und  daß  sie  in  den  Ausgaben  nicht  so  erscheint,  liegt 
eben  an  der  Unsicherheit  und  Nachgiebigkeit  der  Herausgeber 
gegenüber  der  Überlieferung.  Würden  wir  für  das  Nibl.  allein 
auf  die  Ambraser  Hs.  d  angewiesen  sein,  so  stünde  unser  Text 
dem  Kudruntext  wesentlich  näher. 

Was  uns  hier  gar  nicht  berührt,  ist  die  Frage  nach  der  Ent- 
stehung der  Nibelungenstrophe  und  der  Vorstufe  der  dreihebig 
klingenden  ungeraden  Halbzeilen.  Der  Kudrundichter  schrieb  im 
zweiten  Viertel  des  13.  Jahrhunderts:  er  kannte  nur  das  fest- 
stehende Prinzip  und  die  erlaubten  Ausnahmen.  Aber  auch  für 
den  Wiener  Nibelungendichter,  der  etwa  ein  Menschenalter  älter 
war,    lag  die  Sache   schon  nicht   viel   anders.     Einerlei  ob  er  die 

1)  Wormez  1025,4  nehm  ich  klingend,  zumal  es  ebensogut  Wormze  gelesen 
werden  kann. 

2)  dagegen  lies  706,  2  mit  Bartsch  an  den  von  Älsahte ;  über  diesen  Wechsel 
der  Form  vgl.  die  IV.  Studie. 


Zur  Überlieferung  und  Textkritik  der  Kudrun  II. 


509 


Personennamen  von  der  Form  xx  resp.  xxx  noch  zahlreich  als 
Reste  einer  altern  Praxis  in  der  Zäsur  vorfand,  oder  sich  selbst 
genötigt  iühlte,  sie  so  zu  verwenden,  zunächst  waren  sie  es  für 
ihn,  die  das  Prinzip  der  klingenden  Zäsur  zu  durchbrechen  ge- 
statteten, und  wenn  er  sich  dann  noch  in  bescheidenem  Umfang 
weitere  Freiheiten  erlaubte,  so  wird  es  vornehmlich  im  Anschluß  au 
die  Personennamen  geschehen  sein,  die  ihm  hier  die  Bahn  wiesen: 
was  für  Dänewärt  und  ,Bloeäelin  erlaubt  war,  konnte  doch  unmöcr- 
lieh  für  hervart  undi  Jcünegin  verboten  sein. 

Ich  stelle  nun  den  Bestand  derartiger  Zäsuren  in  beiden 
Dichtungen  einander  gegenüber,  wobei  es  genügen  wird,  einfach 
die  Zäsurwörter  zu  verzeichnen ;  die  Übereinstimmungen  im  Wort- 
bestande, die  beim  Kudrundichter  wenigstens  teilweise  auf  Remi- 
niszenz an  den  Brauch  seines  Vorbildes  zurückgehn,  zeichne  ich 
durch  Sperrdruck  aus. 


Nominalkomposita^). 

Nibl.  Kudrun. 

bürg  et or  1457,3;  hochvart  998,3; 
hdch(ge)zit  172,4.  190,4.  1667,3; 
kintspü  858,  2;  mar  schale  553, 1 ; 
merJcint  109, 4 ;   oehei m  492,  4 ;  schif- 


man  111,  1;   sinewel  649,2;    über- 
muot  203,2;  west&rwint  1134,4. 


magezogen   53,  3;      willeJcometi 
152,1.  236,2. 


bürgetor  582,  2 ;  halpful  935,  3  ;  her- 
vart 68,B\  höch(ge)zit  6GA,3.  565,4. 
689,4.  1412,2.  1484,2.2119,4;  mar- 
sclialch  11, 1.  800,3.  1645,  3.  1647, 1. 
1870,1.    1922,2;     merewip    1535,1. 

1539.1.  1588,1;  ceheim  716,2. 
1628,  1.  2271,  1;  segelseil  381,  1; 
swestersun^)  119,2;  tarnhüt  338,1; 
übermuot  1865,  4 ;  urloup  1705,  4 ; 
fiwerstat  950,  3 ;  widerspei  2272,  4. 

magezoge  1962,1;  vriihove  1857,2; 
tüillelcomen  126,  i.  789,3.  1167,1. 

1183.2.  1739,1.  1810,1. 

Sicherheit  315,  4 ;  wdrheit  191,4.  1043, 4. 
2015,2;  werdeJceit  12,2.  — 

boteschaft  746,1.  1193,4.  1421,1;  her- 
schaft 993,4.  1334,1.  1494,2;  mei- 
sterschaft  423,3;  uentschaft  1552,4; 
mww/sc7ia/'n739, 2.  2160,4.  2191,4.— 

vorhtUch  1665,4.  —  billich  1693,3,   unbillich  636,2;    aller- 

tägelich  1041,3  3).  _ 

1)  htnaht  Nib.  651,  2,  dem  gleich  hinte  653, 1  u.  ö.  gegenübersteht,  mag  hier 
in  der  Anmerkung  einen  Platz  finden;  hinte  auch  Kudr.  1346,  2. 

2)  der  Streit,  ob  swester  sun  zu  lesen  sei  (Bartsch,  Untersuchungen  S.  166), 
mag  hier  auf  sich  beruhen. 

3)  wo  Ettmüllers  Änderung  tegeliche  von  B.  S.  zu  Unrecht  aufgenommen  ist. 
Kgl.  Ges.  d.  Wis».  Nachrichten.    Phil.-hist.  Klasse.    1Q18.    Heft  4.  34 


510  Edward  Schröder, 

Schwere  Ableitung  und  Flexion^). 

vdlant  1394, 1 ;  vient  1704,  4.  — 

[arheit  U,  4  C.  17  U,  IC]  —  arheü   77,4.    217,4.    247,3.    1069,4. 

'  1321,  3.  1652,  4.  1655,  4.  ~ 
Jcünegtn  616,4:.  1327,2.  --  Tcünegin    990,4.     1206,4.      1253,4. 

1681,3.  — 
magedin  1249,4.  — 
guldin  1784, 2 ;   härmin  1826,  1 ;   sidin 

429, 1.  —  %  . 

vaterlin  386,4;  vingerlin  299,4;  vogel- 
lin  1195,4.  — 
leidiu  735,1.  825,2;  deliemiu65,2.  —        armiu  929,4.  1209,1.  1277,2.  1359,3; 

einiu  81, 1.  484,  4.  1237,  3.  1242,  1; 
gröziu  159,3;  iegelichiu  105,4;  sal- 
wiu  1269,3;  schoßniu  211,3.  — 

Fremdwörter. 

ferrans  576,  3 ;    jaspes  1783,  3 ;    palas        haldekm  301, 3 ;  pilgerin  149, 1.  933, 2.  — 
602,3;  Icappelän  1542,3.  1574,4.  — 

Ich  habe  die  Vergleichung  soweit  geführt,  wie  es  einerseits 
die  Übereinstimmung  der  beiden  Dichtwerke  und  anderseits  die 
Zuverlässigkeit  der  Überlieferung  für  die  Kudrun  gestattete.  Von 
hier  ab  empfiehlt  es  sich,  die  Kudrun  für  sich  zu  behandeln  und 
das  Nibl.  nur  zur  Aufhellung  und  zum  Kontrast  heranzuziehen; 
im  übrigen  verweis  ich  dafür  auf  Bartsch,  Untersuchungen 
S.  163-174. 

Unter  den  Fällen,  wo  sich  die  beiden  letzten  Hebungen  der 
vierhebigen  ungeraden  Halbzeile  auf  zwei  Wörter  verteilen,  sind 
zunächst  ein  paar,  die  dem  Kompositum  recht  nahe  kommen:  da0 
er  als  einhegozzen  bränt  3^4,2;  des  möhte  die  värnde  dlet  4B,S 
(wo  Symons  ohne  Not  mit  C.  Hof  mann  umstellt);  weiterhin  des 
vil  riehen  Jcüneges  sün  161,4;  diu  wären  eines  vdter  Jclnt  414,4; 
daz  ich  rnmen  besten  vrlunt  534, 3  und  die  sich  gegenseitig 
stützenden  Fälle:  {si  sprach)  Wate,  lieber  vrlunt  239,4.  531,1. 
1490,  3;  si  sprach  Hrütgespil  m'n'  1^2^,3]  getörste  ich  vor  dem 
vdter  min  407,  4 ;  dan  Ludewic  der  vdter  min  964, 4.  In  allen 
diesen  Fällen  setz  ich  fallende  Betonung  voraus,  denn  ich  habe 
keinen   gesicherten  Fall    von    steigender  Betonung   in    der  Zäsur 

1)  Nicht  hier  eingestellt,  sondern  unbedenklich  als  klingend  gerechnet  hab 
ich  die  Zahlwörter,  tüsent  (1615,  4),  sweinzic  108, 1,  sehzic  1300, 1 ;  und  die  in  der 
Kudrun  besonders  zahlreichen  Adjektiva  auf  -ic  :  gencedic  158,1.  557,4.  626,3. 
1699,2,  ungen(Bdic\Q^7,2;  gewaUicU,4:.  119,4.  163,4.  1663,3;  hochvertic  387,3', 
müezic  1429,  1,  unmüezic  180,  4.  264,  2.  268,  4.  785, 1.  1146,  3.  1347,  1.  1515,  4; 
sweizic  875,  2.  1514,  3 ;  sivertmcezic  940,  3 ;  ubermüetic  238,  3 ;  willic  1578,  2. 


Zur  Überlieferung  und  Textkritik  der  Kudrun  II.  511 

gefunden,  wie  etwa  Nibl.  999,  2  si  leiten  hi  üf  einen  schilt,  2053, 1 
Irinc  der  vil  Jcuene  en  schilt,  2196, 1  vil  gerne  wwre  ich  dir  guot, 
1012,  4  und  wesse  ich  wer  iz  het  getan,  1220,  4  ob  ir  anders  mht  ge- 
tüot,  2005,  2  deich  vor  dem  degen  \e  gesdz.  So  les  ich  denn  Kudr. 
761,2  die  hrähte  er  mit  im  ubermer  und  halte  damit  die  Überlie- 
ferung gegen  B.  M.  übere ;  ich  glaube  aber  auch,  daß  sich  959,  3 
im  enivcer  ez  von  dem  vdter  g  es  Iaht  halten  läßt.  Gegenseitig 
stützen  sich  ferner  stva^  er  iu  genömen  hat  316,4^),  ivie  sl  mit 
dir  geträgen  hat  1586,2^),  swaz  ich  von  im  verl6r(e)n  hau 
1406,  3 ;  vgl.  dazu  Nibl.  422,  4  möht  ich  es  im  geweigert  hän,  2236,  2 
swaz  ich  noch  her  gelebet  hän.  Zu  halten  ist  ferner  mit  Bartschs 
allerdings  notwendiger  Ergänzung  min  vater  ir  (den)  vdter  slicoc 
1016,4  gegen  M.'s  Umstellung.  Mit  Recht  ändern  dagegen  alle  neuem 
Herausgeber  fie^e/m  ^höher  miiof  585,1  in  höchgemüete  (V.  B.M.) 
resp.  muot  der  höhe  (CHofm.  S.);  richtig  stellte  Martin  um  der 
ritter  guot  und  edele  654,  4;  CHofm.  Bi  im  gevriesch  Hagene 
509, 1.  654,  3  bleib  ich  bei  Martins  Küdrün  enphienc  in  (schöne), 
1655,3  stell  ich  um   Waten  bat  er  rite n       mit  in  unde  Fruoten. 

Mit  diesen  65  (49  +  16)  Fällen  glaub  ich  allerdings  das  ge- 
sicherte Vorkommen  der  stumpfen  Zäsur  in  der  Kudrun  (von  den 
Eigennamen  abgesehen)  erschöpft  zu  haben;  ihnen  stehen  in 
Bartschs  Nibelungentext  100  Fälle  gegenüber,  von  denen  ich  aber 
(außer  651,  2  noch)  6,  4.  376,2.  886,1.  1812,3.  2117,4  zu  streichen 
geneigt  bin,  sodaß  nur  95  (69  +  26)  blieben ;  das  wäre  fast  das 
gleiche  Verhältnis :  4  >  Nib.,  3,8  %  Kudrun. 

Nachdem  wir  bisher  die  gleichen  Freiheiten  der  Zäsur,  in 
ähnlicher  Ausnutzung  (resp.  Zurückhaltung)  und  mit  nahestehenden 
Verhältniszahlen  gefunden  haben,  muß  der  für  die  Kudrun  allein 
verbleibende  Rest  doppelt  überraschen:  ich  meine  die  dreihebig 
stumpfen  Halbverse  mit  der  Zäsur  ^  u.  Ich  zähle  bei  Martin,  die 
Fälle  mit  Wate  abgerechnet,  30,  und  M.  nimmt  so  wenig  daran 
Anstoß,  daß  er  diesen  Ausgang  des  ungeraden  Halbverses  einige- 
male  erst  durch  Ergänzung  {inaget  211,  2.  543, 1)  oder  durch  Um- 
stellung {vater  1016,  4)  herbeigeführt  hat.  Auch  Symons  zeigt  nur 
hier  und  da  ein  Widerstreben  (das  er  PBBeitr.  9,  89  überhaupt 
nicht  eingestehn  wollte)  und  hat  dann  im  Anschluß  an  Bartsch 
geändert,  gelegentlich  führt  aber  auch  er  eine  solche  Zäsur  ganz 
neu  ein,   besonders  schlimm  in  dem  Vers  851,4  da  ze  siben  tagen» 


1)  ich  hatte  früher  ändern  wollen  swaz  er  iu  <ie>  gename  und  tvie  sie  mit  dir 
getrüege. 


512  Edward  Schröder, 

Wie  ängstlich  der  Dichter  einem  Worte  wie  tage{n)  in  der  Zäsur 
aus  dem  Wege  geht,  zeigt  die  Wortstellung: 
137,  3  tage  sihen^eJiene 
164, 1  Nach  tagen  vierzeJienen 
216,  4  inner  tagen  sibenen. 
Der  Schreiber  aber  begeht  den  gleichen  Fehler  in  Nibl.  762,  3, 
wo  er  für  inner  tagen  zwelven  schreibt  inner  zwelf  tagen! 

Dahingegen  hat  Bartsch  Grerm.  10,  74  ff.  den  ungeraden  drei- 
hebigen  Halbversen  mit  dem  Ausgang  ^  u  scharfe  Fehde  angesagt 
und  sie  in  seiner  Ausgabe  überall  beseitigt:  in  der  Mehrzahl  der 
Fälle  durch  Umstellung  (innerhalb  des  Halbverses  oder  über  die 
Zäsur  hinweg)  oder  Wortersatz,  einigemal  durch  graphische  resp. 
lautliche  Änderung  des  Wortbildes  (nerjen  für  neren,  bitten  für 
biten) ;  in  andern  Fällen  aber,  indem  er  den  dreihebigen  Vers  vier- 
hebig  las  oder  so  gestaltete  —  dies  jedenfalls  eine  recht  unglück- 
liche Prozedur,  denn  sie  schafft  einen  neuen  Verstypus,  den  ander- 
weit weder  das  Nibelungenlied  noch  die  Kudrun  überliefert  hat 
und  der  mit  seiner  steigenden  Betonung  aus  der  Melodie  unserer 
Strophe  heraustritt.  Es  handelt  sich  um  Halbverse  (mit  B.s  Skan- 
dierung) wie 

397,  4  dämite  diende  ze  hove 
1015,  4  ddz  si  dich  und  dtnen  väter 
1167,  3  ich  bin  ein  böte  {dir)  von  göte 
1281,  3  mit  mir  (JiSr)  ze  hove  tragen 
1482,  3  ich  {en)we%z  niht  ivie  ich  miige. 
Recht  übel  ist  die  Versmelodie  namentlich  im  letzten  Falle: 
müge  (das  übrigens  erst  durch  v.  d.  Hagen  aus  dem  zweiten  Halb- 
vers in  die  Zäsur  gebracht  wurde),   wird  man  getrost  mit  Martin 
in  möhte  ändern  dürfen,  wie  der  Schreiber  auch  im  Nibl.  gelegent- 
lich das  Präs.  mag  für  das  Prät.  möhte  einsetzt  (1261,  8).     1167,  3 
schlag   ich  vor   (ich  bin  ein  böte  von  göte  {gesänt)  oder  besser)    ich 
bin  ein  böte  von  himele;    1015,4  empfiehlt   sich   die  einfache  Um- 
stellung  das  sie  dich  und  den  vdter  dln^   vgl.  vater  min  in  der 
Zäsur  407,4.  964,4;    1281,3  ändere  ich  mit  mir  ze  hove  füeren; 
397,  4  etwa  da  mite  diente  Hörant     ze  hove  {woT)  der  snelle  degen  guote. 
Dagegen   behält   Bartsch  Recht  in   der  Mehrzahl  der  Fälle, 
wo   er   die  anstößige  Zäsur   einfach   durch  Umstellung  innerhalb 
der  Halbzeile  beseitigt;    es  liegt  hier  meist  so,    daß  der  Schreiber 
unwillkürlich  die  prosaische  Wortfolge  eingeführt  hatte.    Ich  lese 
also  mit  Bartsch: 

400,1  sivaz  (so)  im  büte  diu  frouwe 
637,3  ich  hdn  des  jehen  hceren 


Zur  Überlieferung  und  Textkritik  der  Kudrun  II.  513 

815,2  ^en  hoten  ungern uoten 

887, 1  Do  er  (den)  neven  sinen 
1044,  3  ir  sult  mit  siten  guoten  (vgl.  mit  siten  ellentJiaften  580,  2) 
1346,4  e  ez  tage  morgen 

1639.2  gehen  hie  ze  tvibe 

1699.3  drt  stunt  sehen  des  järes. 

Die  Berechtigung  dieses  Verfahrens  an  sich  ist  natürlich 
keinem  Gelehrten  zweifelhaft :  in  einzelnen  Fällen  ist  es  früh 
geübt  (wie  244,  3  daz  si  ze  hove  sotten,  umgestellt  von  Ziemann) 
und  dann  von  keinem  späteren  Herausgeber  beanstandet  worden: 
so  hat  denn  auch  ein  weiterer  Vorschlag  B.s 

1032,4  ivaz  schaden  iuiver  reellen  (für  ivaz  iuicer  recJcen  scMden) 

den  Beifall  von  M.  S.  gefunden,  die  seine  übrigen  Umstellungen 
nicht  mitmachen.  Woher  diese  Inkonsequenz  ?  Offenbar  aus  keinem 
andern  Grunde,  als  daß  die  Zahl  der  Fälle  zu  groß  erscheint,  um 
ein  radikales  Durchgreifen  zu  gestatten.  Dies  Bedenken  müßte 
also  beseitigt  werden;  zuvor  aber  will  ich  meine  Vorschläge  zu 
Ende  führen. 

39,4  körnen  heim  {hin  M.)  ze  ^hove\  1.  heim  ze  hüse,   vgl.  Kudr. 
103,  2  ze  hüse  \  heim,  Nib.  B.  256, 1  henv  ze  h'iUe  ' ;  B.  stellt 
um  dar  ze  hove  Mmen 
82,2  si  tüolten  M  in  hieren'  (nerjen  B,),  1.  ziehen 
93,2  dem  grifen  einen  h'etech\  1.  vetechen  B. 
211,  2  1.  ich  iveiz  eine  (frouwen)  V.  S. 
387,4  daz  uns  hie  ze  'hove\  l.  hüse? 
436,3  ja  scheide  tvir,  wir  ^mugen\  1.  muozen 
440,  4  1.  hie  mite  riten  (dannen)  {(schöne)  B.) 
460,1  Den  boten  hiez  er  ^geben^  {gäben  B.),  1.  teilen 
543, 1  1.  Dö  ivolten  si  die  mage{de)  resp.  meide,  s.  GGX.  1917,  S.  26 
825,3  des  müge  wir  uns  ^erholen\  1.  ergetzen  Z.  V.  B. 
905,  3  und  heizet  die  'bestaten\  l.bevelhenB.  (besser  als  beserken M.) 
1055,3  dar  zuo 'bringen  müge\  1.  müge  bringen  (besser  als  fcnw^rew 
Jcünne  B.). 
Zweimal  erscheint  biten  in  der  Zäsur,  in  dichter  Folge  409,  2. 
410,  2 ;  zufälliger  Weise  begegnen  auch  im  Nibl.  zwei  Fälle :  559,  3 
wes  iuch  der  Ulnic  bitet,   1253,  1  Vil  minnecUche  Uten,   und   da   hier 
die  Überlieferung  gesichert  ist,  hat  Bartsch  die  Zäsur  durch  Ein- 
führung  des  tt   klingend   gestaltet.     In   der  Kudrun   verfährt    er 
ebenso,  aber  hier  taucht  mir  doch  ein  Zweifel  auf :  Hans  Ried  hat 
nämlich    beim   Abschreiben    des    Nibelungenliedes    wiederholt    ein 
flegen  seiner  Vorlage  durch  biten  ersetzt,    so  1081,2.  1112,4,   und 


514  Edward  Schröder 


zum  mindesten  Kudr.  409,  2   (wo   ich  früher  umgestellt  hatte   so 
sult  ir  hiten  Hagenen)  könnte  man  auch  lesen  Hagenen  flegen. 

Zwei  Wörter  des  Typus  ^  u,  nämlich  hote{n)  und  Wate{n), 
erscheinen  in  der  Überlieferung  der  Kudrun  so  oft,  daß  man  ver- 
sucht sein  könnte,  gegen  ihre  grundsätzliche  Ausschaltung  aus  der 
Zäsur  Bedenken  zu  erheben  und  hier  etwa  bereits  Silbendehnung 
durch  Verschärfung  des  Konsonanten  anzunehmen,  die  dann  wohl 
auch  für  vetech  und  hestaten  gelten  dürfte.  Bei  jenen  muß  ich  daher 
etwas  verweilen,  um  zu  zeigen,  wie  das  fehlerhafte  Aufkommen 
solcher  Zäsurbilder  sich  vollzieht. 

734,  1  hat  die  Hs.  Do  sprach  der  pote,  einen  unmöglichen  Halb- 
vers, und  außerdem  ist  vorher  (733)  nur  von  der  Mehrzahl  die 
Bede  gewesen :  so  hat  denn  schon  Z.  genau  nach  771, 1  geändert 
Do  sprach  der  boten  einer,  und  alle  Späteren  sind  ihm  gefolgt. 
Umgekehrt  wird  der  Halbvers  229, 2  hdhet  er  mir  einen  ^boten' 
durch  das  unnötig  erläuternde  boten  überladen,  das  darum  von  V. 
gestrichen  wurde  und  von  M.  nicht  wieder  hätte  aufgenommen 
werden  sollen.  616,  3  hab  ich  oben  Bartsch  zugestimmt,  indem 
ich  hin  als  hinnen  zur  ersten  Halbzeile  zog,  was  also  kaum  eine 
Textänderung  bedeutet ;  bei  815,  3  die  ungemuoten  boten  hab  ich 
Bartschs  Umstellung  ^en  boten  ungemuoten  gebilligt ;  auch  in  diesen 
beiden  Fällen  liegt  die  Entstehung  der  stumpfen  Zäsur  klar  zu 
Tage.  Es  bleibt  nur  noch  übrig  835, 2  wa^  er  von  stnen  boten 
leider  mcere  ervant,  und  hier  wird  man  unbedenklich  die  Umstellung 
von  B.  M.  gut  heißen:  waz  er  leider  mcere       von  smen  boten  ervant. 

Wie  böte  eines  der  allerhäufigsten  Appellativa,  so  ist  Wate 
einer  der  häufigsten  Eigennamen  des  Gedichtes:  mit  210  Vor- 
kommen folgt  er  auf  Hartmuot  (233  x)  und  übertrifft  Hilte  (201  x) 
und  Küdrün  (188  x).  Aber  er  begegnet  niemals  im  Beime,  und 
in  der  Zäsur  bietet  ihn  die  Überlieferung  nur  6  x,  d.  i.  kaum 
2V2  %,  während  etwa  bei  Herivic  die  Zäsur  50  %,  bei  Hartmuot 
die  Zäsur  42  7o,  Zäsur  +  Endreim  58^2  ^/o  der  Belege  liefern.  Von 
vorn  herein  zeigt  das,  daß  das  Wort  in  der  Zäsur  gemieden  wird, 
und  da  überdies  alle  von  der  Überlieferung  gebotenen  Halbverse 
mit  dem  Schluß  Wate{n)  nur  dreihebig  gelesen  werden  können, 
bietet  sich  jedenfalls  keine  Stütze  für  Bartschs  Annahme  un- 
gerader vierhebiger  Halbverse  mit  dem  Ausgang  ^  u.  Gleichwohl 
bringt  es  B.  fertig,  mit  kleinen  Zutätchen  auch  zwei  der  Wate- 
Verse  für  den  von  ihm  erfundenen  Verstypus  zurechtzumachen: 
235,  4  er  (ge)dähte  wie  er  Waten 
1512,  3  {nu)  ivis  wiUeJcömen,  Wate. 
Mein  Urteil  über  diese  Konstruktion  brauch  ich  nicht  "zu  wiederholen. 


Zur  Überlieferung  und  Textkritik  der  Kudrun  II.  615 

Ich  geh  aus  von  dem  verkrüppelten  Halbvers  451,  3  sich  hete 
^der'  Wate ;  dies  der  vor  dem  Personennamen,  der  richtige  Artikel, 
ist  eine  dutzendfach  bezeugte  Unart  Rieds  und  darf  nicht  in  dö  her 
'aufgelöst'  werden  (M.  S.),  wir  haben  also  für  die  notwendige  Er- 
gänzung hinter  dem  Namen  freie  Hand  und  schaffen  mit  B.s  sich 
hete  Wate  {der  alte)  einen  Vers,  der  zahlreiche  Parallelen  hat.  Die 
gleiche  Ergänzung  heiß  ich  gut  574,  2  den  enphalch  er  Waten  (dem 
alten)]  Wate  der  alte  steht  30 x  in  der  Zäsur!  Die  in  ähnlicher 
Knappheit  nicht  wiederkehrende  Grrußform  willekomen,  Wate! 
1512,  3  ändere  ich  in  Wate,  {nü  wis)  tvillekomen,  was  ins  intimere 
übersetzt  die  Parallele  bietet  zu  her  Wate,  {nii)  sit  tvillekomen^) 
236, 2.  Da  allein  der  Nom.  Hörant  12  x  in  der  Zäsur  steht, 
empfiehlt  sich  300,  4  die  Umstellung  Wate  unde  Hörant.  Die  Um- 
stellung von  945,  1  Bö  sprach  Wate  mit  listen  (B.)  wird  durch  das 
20  malige  (!)  Dö  sprach  Wate  der  alte  (s.  Studie  III)  gegen  metrische 
Bedenken  gestützt;  zugleich  aber  beweist  dies  konstante 
Dö  sprach  Weite  der  alte  [gegenüber  ebenso  festem  Dö 
sprach  diu  alte  (übele)  CrerZ^w^  u.  s.  w.],  neben  dem  sich  kein 
einziges  Dö  sprach  der  alte  Wate  findet,  daß  der  Dich- 
ter in  der  Tat  gegen  Wate  in  der  Zäsur  höchst 
empfindlich  war.  Und  schließlich  erkenn  ich  in  235,4  der 
Überlieferung  wieder  nur  die  ganz  besonders  im  letzten  Vers 
überaus  häufige  Einführung  der  prosaischen  Wortfolge  und  ändere 
er  dähte  tvie  er  solle     Waten  sinen  alten  friunt  emphdhen. 

So  hab  ich  mit  durchweg  leichten  Eingriffen  auch  die  sämt- 
lichen Fälle  von  Wate  aus  der  Zäsur  fortgeschafft.  Daß  ich  dazu 
wie  überhaupt  zu  meinem  ganzen  Verfahren  berechtigt  war  und 
es  durchführen  mußte  selbst  auf  die  natürlich  unbestreitbare  Mög- 
lichkeit hin,  daß  dem  Dichter  trotz  prinzipieller  Abneigung  gegen 
diesen  Zäsurtypus  der  eine  und  andere  Fall  durchgeschlüpft  sein 
könnte,  wird  man  kaum  bestreiten.  Den  Bedenken  aber,  welche 
etwa  noch  bleiben,  möcht  ich  mit  der  schließenden  Ausführung 
begegnen. 

Schon  mehrfach  hab  ich  im  vorausgehenden  zur  Stütze  von 
Änderungen  am  Texte  der  Ambraser  Hs.  auf  gleiche  oder  ähnliche 
Entstellungen  hingewiesen,  die  sich  Hans  Ried  gegenüber  dem 
Nibelungenliede  zu  Schulden  kommen  läßt,  wo  wir  in  der  Lage 
sind,  sie  ihm  unfehlbar  nachzuweisen.  Ich  zähle  in  den  Lesarten 
von  d  bei  Bartsch  annähernd  hundert  Fälle,  in  denen  die  Zäsur 
geändert,  gestört  oder  völlig  verwischt  ist,  und  alle  Arten  solcher 

1)  das  von  Bartsch  eingefügte  nu  ist  metrisch  notwendig;  darüber  später. 


516     Edward  Schröder,  Zur  Überlieferung  u.  Textkritik  der  Kudrun  IL 

Textverderbnis,  die  wir  dort  antreffen,  begegnen  in  der  Kudrun 
wieder;  selbstverständlich  hat  man  auch  hier  die  gröblichen  früh- 
zeitig erkannt  und  gewiß  die  Mehrheit  längst  beseitigt  oder  doch 
zu  beseitigen  versucht.  In  der  kleinern  Zahl  der  Fälle  handelt  es 
sich  —  im  Nibelungenliede,  bei  dem  ich  hier  bleiben  will  —  um 
eine  Umstellung,  welche  auch  den  zweiten  Halbvers  berührt  und 
dann  vielfach  die  Zäsur  unkenntlich  gemacht  hat  (vgl.  134,  2.  529, 1. 
759,4.  896,2.  1024,2.  1151,2.  1168,2.  1459,2.  1510,3.  1679,1. 
1690, 3/4.  1693, 1.  1867,  3.  2049, 4).  In  einer  andern  Gruppe  ist 
das  Zäsurwort  (oder  zwei  Wörter)  ausgefallen  (so  204,  2.  226,  4. 
452,3.  524.1.  870,1.  1561,4.  1563,3.  1891,4.  1916,1).  Entstand 
schon  hierdurch  gelegentlich  eine  meist  ohne  weiteres  als  fehler- 
haft erkennbare  stumpfe  Zäsur,  so  ist  dies  noch  häufiger  der  Fall, 
wo  Wortumstellung  oder  Wortersatz  eintritt,  etwa  liiez  er  holde] 
er  holde  hieß  98,  2,  niht  anders]  anders  nicht  1223,  1,  heinliche]  haym- 
lichait  1255, 2,  geiviz^en]  ivissenlich  1459, 1,  unforhten]  unforchtsam 
1 785, 4.  Besonders  aber  interessieren  uns  die  Fälle,  wo  durch 
Verlustj  Austausch  oder  Umstellung  ein  zweisilbig  stumpfer  Zäsur- 
ausgang des  dreihebigen  Halbverses  entsteht:  habe  von  rehte]  von 
reche  hahe  109,  3,  dö  sprach  der  böte  (sciere)  226,  4,  valde]  wale  263,  4, 
inner  tagen  zwelven]  inner  zwelf  tagen  762, 3,  soehe]  sehen  795, 3, 
gehlutet]  gepüret  1056,  3,  viegen]  piten  1081,  2,  poiige]  poge  1634,  2. 
1662,  4,  Mnne]  Jcunig  1915, 1  u.s.w. 

Wenn  die  Zahl  solcher  Entstellungen  in  der  Kudrun  größer 
ist  als  im  Nibelungenliede,  so  hängt  das  hauptsächlich  mit  der 
zunehmenden  Lässigkeit  des  Schreibers  zusammen:  es  ist  kein  Zu- 
fall, daß  in  den  oben  aufgeführten  Beispielreihen  die  bei  weitem 
größere  Mehrzahl  auf  die  zweite  Hälfte  des  Nibl.  fällt,  und  in 
der  Kudrun,  die  sich  in  der  Hs.  anschließt,  tritt  die  Abstumpfung 
Rieds  noch  deutlicher  zu  Tage.  Allerdings  ist  auch  die  Unüber- 
sichtlichkeit der  Strophe  in  Eieds  dreispaltiger  Vorlage  daran  mit- 
schuldig, und  diese  steigerte  sich  noch  bei  der  Kudrun  mit  ihrer 
überlangen  Schlußzeile;  die  reimpaarigen  Texte  der  Klage,  die 
zwischen  beiden  steht,  und  besonders  des  Biterolf,  der  auf  die 
Kudrun  folgt,   sind  bei  ihm  unvergleichlich  besser  überliefert. 


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182  G'öttingen.     Philologisch- 

G8122  ^^istorische  Klasse 
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