Nachrichten
von der
Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften
zu Göttingen.
Philologisch -historische Klasse
aus dem Jahre 1918.
Berlin,
Weidmannsche Buchhandlung.
1918.
SFP 2 19/0
^/fs/ry or if^^'S
in
Druck der Dieterichschen Univ. -Buchdruckerei (W. Fr. Kaestner) in Göttingen.
Register
über
die Nachrichten von der Königl. Gesellschaft derWissenschaften
zu Göttingen.
Philologiscli" historische Klasse
aus dem Jahre 1918.
Seite
Bechtel, F., Zur Kenntnis der griechischen Dialekte . . . . 397
Bonwetsch, N., Zur handschriftlichen Überlieferung des Danielkom-
mentars Hippolyts 313
— Briefe des Historikers Heinrich Leo an Frau von Quast . 347
Hermann, E., Silbischer und unsilbischer Laut gleicher Artikula-
tion in einer Silbe und die Aussprache der indogermanischen
Halbvokale u und i 100
— Sachliches und Sprachliches zur indogermanischen Großfamilie 204
— Die böotische Betonung 273
— Etymologisches 281
.Tacobsohn, H., Die ältesten Berührungen der Russen mit den
nordostfinnischen Völkern und der Name der Bussen . . . 300
Littmann, E., Ge'ez- Skidien. III 318
Lid-zbarski, M., Ein manichäisches Gedicht 501
Oldenberg, H., Die vedischen Worte für „schön" und „Schön-
heit" und das vedische Schönheitsgefühl 35
— Jätakastudien 429
Bahlfs, A., Über einige alttestamentliche Handschriften des Abes-
sinierklosters S. Stefano zu Eom . 161
Reitzenstein, R., Livius und Horaz über die Entwicklung des
römischen Schauspiels 233
— Die Scholien zu Horaz Od. I. 14 393
Robert, C, Der Argonautenkatalog in Hygins Fabelbuch . . . 469
Schramm, E., MovdyxcDV und onager 259
Seite
Schröder, E., Beiträge zur Textkritik Herborts von Fritzlar . . 35
— Die Heimat des Linzer Entechrist 340
— Reimstudien. I 378
— Reimstudien. II 407
— Zur Überlieferung- und Textkritik der Kudruu. iil. IV . . 506
Set he, K., Ein ägyptischer Vertrag über den Abschluß einer Ehe
auf Zeit in demotischer Schrift 288
Zachariae, Th., Über die Breve Noticia dos erros que tem os
Gentios do Concäo da India • 1
über die Breve Noticia dos erros que teiii os Gentios
do Coneao da India,
Von
Theodor Zachariae.
Vorgelegt in der Sitzung vom 26. Oktober 1917 von H. Oldenberg.
Unter den portugiesischen Abhandlungen über den Hinduismus,
die Caland und Fokker in holländischer Übersetzung veröffentlicht
haben (Drie oude Portugeesche Verhandelingen, Amsterdam 1915),
ist namentlich die dritte: Over der Oost-Indiane n Goden
en Grodheden geeignet, unser volles Interesse in Anspruch zu
nehmen. Es ist eine reizvolle Aufgabe, die mannigfachen Schick-
sale der Abhandlung zu verfolgen und ihren ursprünglichen Um-
fang sowie den Namen und die Zeit ihres Verfassers festzustellen.
Was ich früher hierüber zu sagen vermochte, habe ich in meiner
Anzeige der Drie oude Verhandelingen (GGrA. 1916, 592 ff.) nie-
dergelegt. Seit dieser Zeit ist neues, handschriftliches Material in
meine Hände gelangt. Auf Grund dieses Materials möchte ich die
Untersuchung noch einmal aufnehmen und meine früheren Angaben
berichtigen, ergänzen and erweitern. Wenn ich z. B. die Vermu-
tung aussprach (a a. 0., S. 602), daß die von Caland herausgegebne
Abhandlung nur ein Teil der portugiesischen Abhandlung sei, so
kann ich jetzt mit Bestimmtheit behaupten , daß sich das portu-
giesische Original nicht nur mit den indischen Gottheiten, sondern
auch mit anderem, namentlich mit den Sitten und Bräuchen der
Inder befaßte, daß dieses Original ungefähr noclf einmal so grpß
war wie die Abhandlung, die Caland in hollandischem Gewände
zum Druck befördert hat.
Die anonyme, von Einigen dem berühmten Jesuitenmissionar
Joäo de Brito zugeschriebene Abhandlung Breve Noticia dos
Kgl. Ges. d. Wiss. Nachrichten. Phil.-hist. Klasse. 1918. Heft 1. 1
2 TheodorZachariae,
errosque tem os Grentios do Concäo da India ist, wie es
scheint, verloren gegangen. Möglich ist es allerdings, daß noch
eine Handschrift auf einer Bibliothek, etwa in Rom oder Lissabon,
aufbewahrt wird. Jacquet, dessen Arbeiten^) wir sofort kennen
lernen werden, behauptet sogar, daß die Abhandlung im Druck
erschienen sei. Er schreibt in der Inde Francaise II 50, n. 1 :
L'ouvrage du P. J. de Britto a d'ailleurs ^t^ int^gralement publik
ä Lisbonne il y a quelques annees. Diese Behauptung dürfte aber
auf einem Irrtum , auf einer Verwechslung beruhn. Das Diccio-
nario bibliographico Portuguez führt einen solchen Druck nicht
auf; ebensowenig J. C. de Figaniere in seiner Bibliographia histo-
rica Portugueza (Lisboa 1850). Dieser Gelehrte nennt die beiden
Abhandlungen, die Caland und Fokker an erster und zweiter Stelle
veröffentlicht haben (die Relacäo das Escripturas dos gentios da
India oriental und die Noticia summaria do Gentilismo da Asia)
unter Nr. 988 und 964 : sollte er den Druck der Noticia dos erros
übersehn haben , wenn ein solcher wirklich vorhanden wäre ? So
gut wie sicher ist, daß Jacquet den Druck, von dem er spricht,
niemals gesehn hat. Sonst versteht man nicht, warum er sich nie
auf die Noticia beruft, wozu er genug Anlaß gehabt hätte; man
versteht nicht, weshalb er die Zitate aus Brito, die ihm begeg-
neten, nicht auf ihre Quelle zurückführt.
Vorläufig sind wir, wenn wir uns ein Bild von der Noticia
dos erros machen wollen, angewiesen auf die Zitate daraus und
auf dieÜbersetzungen und Umarbeitungen, die dem Werke
zuteil geworden sind.
Zitate aus der Noticia, gewöhnlich unter dem Namen des P.
de Brito, finden wir in den Schriften des Karmeliten Paulinus a
S. Bartholomaeo und in dem Traite de la Religion des Ma-
labars gentils. Paulinus, dem ein vollständiges MS. der Breve
Noticia vorgelegen hat, zitiert den Brito ziemlich oft^). In der
Regel nennt er ihn nur beim Namen; seltner gibt er Zitate im
Wortlaut. Zu den Zitaten, die ich bereits in den GGA. 1916,
1) Über die Arbeiten Jacquets auf dem uns blcr beschäftigenden Gebiete
Tgl. F. Neve, Memoire sur la vie d'Eugöne Jacquet p. 41: — 49 (Memoires couron-
ne's et memoires des savants ^trangers publ. par l'Academie Royale. Tome 27.
Bruxelles 1856).
1) Barone führt in seinem Buche: Vita, precursori ed opere del P. Paolino
da S. Bartolommeo (Napoli 1888) unter den Vorläufern des Paulinus auch den
Giovanni de Brito auf (p. 90) ; ohne ersichtlichen Grund. Denn mit keinem Worte
gedenkt er der Tatsache, daß Paulinus den Brito wiederholt zitiert und ein be-
stimmtes, ihm zugeschriebnes Werk, die Breve Noticia, namhaft macht.
über die Breve Noticia dos erros que tem os Gentios do Concäo da India. 3
595 f. 599 f. angeführt habe, kommt noch eine Stelle, die Paulinus
in seiner India orientalis christiana, Romae 1794, p. 231 aus dem
6. Kapitel der Noticia mitteilt: Todas as terras säo da Coroa,
näo ha vassallo, que tehna (tenha) nemhuma quinta, nemhuma her-
dade, nemhum campo de semeadura, que possa deixar a seas filhos ^).
Ihrem Umfang nach bedeutender sind die Zitate, die in dem Trait^
de la Religion des Malabars begegnen. Einige davon werde ich
weiter unten anführen. Leider sind sie vielfach in ziemlich ver-
derbter Gestalt überliefert, wenigstens in den Münchner Hss. des
Werkes, den einzigen Hss., die ich habe einsehn können.
Die Religion des Malabars, wie ich das Werk kurz bezeichnen
will, besteht aus einer Vorrede und drei Teilen mit 32-h38-j-31 Ka-
piteln. Handschriften befinden sich in München (beschrieben im Cat.
codicum manu scriptorum Bibl. Reg. Monacensis VII p. 14. 338) und
in Paris (Cat. des manuscrits de la Bibl. de 1' Arsenal II p. 454 no. 2242.
Cat. des mss. de la bibl. Sainte-Genevieve T p. 272 no. 528. Omont,
Cat. general des manuscrits fran<jais, ancien suppl. fran9ais I p. 305
no. 9092; siehe auch weiter unten). Auszüge aus dem Werke hat E.
Jacquet gegeben^). Zuerst im Nouveau Journal Asiatique VIII (1831)
535 ff., IX 562 ff., X 291 ff. 454 ff. 478 ff., sodann in der Inde Fran-
9aise^} II, Paris 1835, p. 1 — 119. Die in der Inde Fran9aise veröf-
fentlichten sehr umfangreichen Auszüge sind auch als Sonderdruck er-
schienen u. d. T. Reche rches sur la religion des Malabars,
ouvrage extrait d'un manuscrit inedit de la Bibliotheque Royale, et
public par E. Jacquet. Paris, Arthus Bertrand, o. J. Exemplare dieses
Sonderdrucks befinden sich in Göttingen und München. In zahlreichen
Anmerkungen hat sich Jacquet bemüht, den Text der Religion des Ma-
labars, soweit er ihn. mitteilt, zu erläutern. Das Richtige zu treffen, ist
1) In Manuccis Storia do Mogor (Berliner Hs., Phillipps 1945, Bd. III
"S. 117) entspricht: Toutes les terres apartiennent a la couronne, il n'y a aucun
particulier qui aye en propre cham ou heritage ou aucune possetion quelconque,
qu'il puisse laisser a ses enfans (vgl. Manucci übers, von Irvine III 46) ; in De
la Flottes Essais historiques p. 251: Toutes les terres appartiennent au Prince,
et aucun vassal ne possede en propre un domaine, ou un champ qu'il puisse lais-
ser ä ses enfans. Diese Stelle ist es auch, die Paulinus im Sinne hat, wenn er
in seiner Reise nach Ostindien (Berlin 1798 S. 54) den Pater Johannes de Brito
zitiert, 'dessen noch zur Zeit ungedruckte Nachrichten' er in Händen habe. Vgl.
auch S. 164 ('Alle Ländereien ohne Ausnahme gehören dem Könige'). 169. 308 if
2) Einen kurzen Auszug aus der Religion des Malabars, nach der Münchn i-
Handschrift Gall. 666, gab Stanley in seiner Übersetzung des Duarte Barbuo.i,
London 1866, p. 231 (= Inde Francaise II p. 72).
3) Den vollständigen Titel dieses wichtigen , wohl nur auf größeren Biblio-
theken vorhandenen Werkes gibt W. Siegling bei Baines, Ethnography p. 204.
Vgl. auch Jotffnal Asiatique XI (1827) 126 ff. Auf die Auszüge aus der Religion
des Malabars in der Inde Francaise hat mich Prof. L. Scherman hingewiesen. Ich
bin ihm für diesen Hinweis den größten Dank schuldis^
1*
4 Theodor Zachariae,
ihm nicht immer geglückt. Das gilt namentlich von seinen Versuchen,
die Eigennamen, die meist in der Tamilform gegeben werden , auf die
Sanskritfoimen zuiückzuführen. Hier ein Beispiel. In der Eeligion de»
Malabars II 1 0 (Inde Fr. II 7 7 f.) wird die Bhasmäsura-Legende
mitgeteilt. Statt Bhasmäsura fand Jacquet die handschriftliche Lesart
Pastmasouren vor, die er für offenbar falsch hält. In einem Original-
text ist ihm die Legende nicht begegnet; er hat sie nur in der Relation
des Erreurs (s. unten) und in den Essais historiques eur l'Inde gefunden,,
wo der Name des 'Kiesen' in den Formen Pai-mesouren und Parame-
thom'en erscheint. Daher setzt Jacquet Paramesouren in den Text, d. h.
die Tamilform von Skr. Paramesvara, das aber, wie Jacquet selbst
zum Ueberfluß bemerkt , ein gewöhnlicher Name des Siva ist. Sollte
der Held einer Legende, in der auch Siva eine Rolle spielt, den Namen
Pai'amesvara führen? Das ist sehr unwahrscheinlich. Ich zeige jetzt,
daß die Legencle und ihr Held, Bhasmäsura, zu der Zeit als Jacquet
schrieb nicht so unbekannt waren, wie man aus seinen AVorten schließen
müßte. Man vergleiche die Ceremonies et coutumes religieuses des peuples
idolatres (Amsterdam 1723) I 2 p. 90 (Paimejuran) ; [Ziegenbalgs] Be-
sclireilbung der Eeligion und heiligen Gebräuche der malabarischen Hin-
dous (1791) S. 157, wo der Name des 'Riesen' nicht genannt wird;
Polier, JVIythologie des Iiidous (1809) I 221 ff. (Basraagut; wohl nur
Druckfehler?); Wilks, llistorical Sketches bei. Rhode, lieber religiöse
Bildung der Hindus II L24 (Busm-Asur; vgl. Indian Antiquary II 50);
. die Cpllec9ao. de noticias para a historia e geografia das na^öes ultra-
marinas I 1 (Liaboa 1812) p. 10 (morte de hum gigante chamado Bas-
masur) und Dubois, Moeurs, institutions et ceremonies (= Hindu man»
ners transl. by Beauchamp, Oxford 1897, p. 523: Bhasmäsura).
. Die Kelxgion des Malabars gehört dem 1. Viertel des 18. Jhs. an
(s. Inde Pran9aise II 32 n. ; Catalogus codd. mss, Bibl. Reg. Monacensis
^n 14. 338). Die von Jacquet zwar aufgeworfne, aber nicht gelöste
Frage nach dem Namen des "Verfassers läßt sich vielleicht beantworten.
In Omonts Catalogue general, nouv. acquisitions fran^aises 1 (1899)
werden unter den Nrr. 454 — 55 zwei Hss. mit dem Titel Traitte (oder
Relation) de la religion d^s Malabars (de la coste Ooromandelle) auf-
geführt und einem M. Tessier, prestre missionnaire , zugeschrieben.
Stimmen diese Hss., woran doch kaum zu zweifeln ist, inhaltlich mit
den von Jacquet exzerpierten Hss. überein, so wäre Tessier als der Ver-
fasser der Religion des Malabars anzusehn, und dieser Tessier könnte
identisch sein mit dem von Norbert erwähnten Jacques du Querelai
Tessier, Procm'eur gen6ral des Missions ^trangeres de Paris, 'qui faisoit
ea residence or^dinaire a Pondicheri^ (Memoires historiques I 344. 393.
II 26; vgl. Irvine zu Manucci IV 79). In der Münchner Handschrift
Gall. 262 (Schlußbemerkung) heißt der Verfasser 'une personne des mis-
sions etrangeres', und von der anderen Münchner Hs. wird gesagt: ce
manuscrit vient ^videmmtnt de la iiiaison des Missions Etraugercs. Siehe
auch Jacquet, N. Journal Asiatique X (1832) 472.
,. .. Wm.mejßämi tuas-zu den Übersetzungen und Umarbeitungen
Jer Bre:ve Noticia^dos eirros.
^' Die lilt €Ste "Ober setznng du r f te die s6id^. die N i c ^c o 1 a o M^ r
über die Breve Noticia dos erros que tem os Geutios do Concäo da India. 5
n u c c i seiner Storia do Mogor^) eingefügt hat. Sie steht in
der englischen, von William Irvine angefertigten Übersetzung
dieses Werkes im 3. Bande S. 1 — 76. Die dieser Übersetzung zu-
grunde liegende Handschrift ist die jetzt in Berlin aufbewahrte
Handschrift ^) Phillipps 1945. Hier, im 3. Teile der Hs., hebt sich
das uns beschäftigende Stück schon rein äußerlich als etwas Be-
sonderes heraus: Manucci bedient sich darin der französischen,
dagegen in dem unmittelbar vorhergehenden sowie in dem folgenden
Abschnitt (Dos Ellefantes) der portugiesischen Sprache*).
Auch sind vor dem übersetzten Traktat drei, dahinter vier
Blätter leer gelassen. Ahnlich liegen die Verhältnisse, nach den
Angaben Irvines in der Einleitung zu Manucci S. XLIII vgl. LXX f.,
in der Venediger Hs. der Storia. Auch hier ist die Übersetzung
der Breve Noticia in französischer Sprache überliefert ^). Der Ver-
dacht liegt nahe, daß Manucci nicht das portugiesische Original,
sondern eine französische Übersetzung dieses Originals benutzt hat.
Wie dem auch sei: er hat die Übersetzung der Breve Noticia iür
sein eignes Werk ausgegeben; bemerkt er doch in der Inhalts-
angabe des 3. Teiles der Storia : Cinquiesmement je donnerai une
Courte Relation de la Religion des G-entils (vgl. Ma-
nucci übers, von Irvine II 330).
Manuecis Übersetzung wird mit einem 'Avertissement' ein-
geleitet. Ob er dieses Avertissement selbst verfaßt oder dem por-
tugiesischen Original entlehnt hat, läßt sich kaum feststellen. Das-
selbe dürfte von dem Schlußwort (Irvine III 75 f.) gelten. Die
eigentliche Abhandlung hebt an mit der Überschrift Brieve Re-
lation de ce que«les Grentils croyent de Dieu, et des sentimens.
1) Storia do Mogor or Mogul India (1653—1708) by Niccolao Manucci, Ve-
netian. Translated l)y William Irvine. 4 vols. London 19ü7 — 1908.
2) Wie die Hs. aus Frankreich über Holland und England nach Berlin ge-
langt ist, beschreibt Irvine in der Einleitung zu seiner Übersetzung. Siehe auch
Irvine, Note ou N. Manucci and bis 'Storia do Mogor', im Journal of the R.
Asiatic Society 1903, 723 ft',
3) Je nach der Nationalität seiner Schreiber bedient sich Manucci in der
Berliner IIs. der französischen und portugiesischen, in dem Venediger Codex (Ir-
vine, Introduction p. XXXIII ff.) auch der italienischen Sprache. In einem Schreiben
an den Senat von Venedig bemerkt er über den Venediger Codex: Nor must it
be thought Strange if various languages appear in the work now sent, for accor-
ding to the amanuensis whom I chanced upon, did I compose the work sometimes
in French, sometimes in ltalian,-and occasionally iu Portuguese (Irvine p. XXXV;
vgl. XXXIII. XXXVII. XLIII. LXX f.).
4) Nach Irvine S. XLIII ist auch die Hand des Schreibers im Venediger
Codex dieselbe wie in der Berliner Handschrift Bd. III S. 90—135.
6 Theodor Zachariae,
qn'ils ^ont de son essence; das Ganze besteht aus neun Kapiteln
mit mehreren Unterabteilungen, während das Original, wie wir
bestimmt wissen, aus sieben Kapiteln bestand').
Nach seiner eigenen Angabe hat Manucci im J. 1700 (oder
frühestens 1699; s. Irvine S. LXXIV) die französische Übersetzung
der Breve Noticia seinem Schreiber in die Feder diktiert^). Eine
andre französische Übersetzung ist ungefähr zur selben Zeit ent-
standen, jedenfalls vor 1709, denn in diesem Jahre erschien sie
zum ersten Male im Druck. Als ihr Verfasser gilt der französi-
sche Arzt Dellon, der, in der 2. Hälfte des 17. Jhs., mehrere
Jahre in Indien zubrachte. Seine Reisebeschreibung erschien zu-
erst in Paris 1685. Außerdem schrieb er, angeblich wenigstens^
eine Relation de l'Inquisition de Goa (zuerst : Leiden 1687). Dellon
soll nämlich von der Inquisition in Goa ins Gefängnis geworfen
und im J. 1676 nach Lissabon gebracht worden sein. Dort gelang
es ihm, sich zu befreien und nach Frankreich zurückzukehren. Auf
dem Schiff, das ihn nach Lissabon trug, befand sich auch ein por-
tugiesischer Jesuitenmissionar, ein 'Religieux tres-spavant et tres-
pieux', der ein von ihm selbst verfaßtes Manuskript über die Re-
ligion der indischen Heiden bei sich hatte, das er in Portugal zum
Druck befördern wollte. Unterwegs aber ereilte ihn der Tod. Vor
seinem Tode übergab er Dellon das Manuskript, das dieser dann
ins Französische übersetzte. Soweit der Bericht^). Was daran
wahr ist, wissen wir nicht. Vielleicht ist der Bericht nur eine
Erdichtung. Wird doch auch Dellons Relation de l'Inquisition de
Goa für eine Erdichtung, eine Fälschung gehalten. Aber die Tat-
sache besteht, daß die Breve Noticia am Ende des 17. oder im
Anfang des 18. Jhs. nach Europa gebracht, rtnd daß die erste
Hälfte der Abhandlung alsbald in französischer Übersetzung ge-
druckt wurde*). Der erste Druck befindet sich in dem seltnen
1) Über Manuccis Übersetzung und ihr Verhältnis zum Original handle ich
weiter unten in einem besondern Abschnitt.
2) Daß Manucci diktiert hat, ergibt sich aus zwei Stellen im Berliner
MS., wo er sich versprach und sofort wieder verbesserte, was sein Schreiber wört-
lich nachgeschrieben hat. Die erste Stelle lautet: I^e ressentiment qu'eut Bruma
jedisRutrim, dese voir ainsi decouvert par Bruma; die zweite: La, disent
ils, demeure Rutrim avec ses femmes, la est aussi son Taureau avec ses femmes
jeveux dire son taureau qui est la raonture dont il se sert (vgl. Manucci
übers, von Irvine II, 11. 24).
3) Vgl. meine ausführliche, oben «. T. wiederholte Mitteilung in den G.G.A.
1916, 594 und das Journal des Scavans XLV, ^33 f.
4) Es wäre möglich, daß diese Übersetzung, so gut wie die des Manucci,
bereits auf indischem Boden verfaßt und in dieser Gestalt nach Europa gebracht
wurde.
über die Breve Noticia dos erros que tem os Gentios do ConcSo da India. 7
Buche: Voyages de M' Dellon; avec sa Relation de l'Inquisition
de Goa, augmentee de diverses pieces curieuses; et l'Histoire
des Dieux qu'adorent les Gentils des Indes. 3 Tomes.
Cologne (fingierter Druckort) 1709. Eine sehr ausführliche An-
zeige des Buches erschien im Journal des S^avans 45 (Amsterdam
1709), S. 530—543. Die Histoire des Dieux wurde wieder abge-
druckt in den Ceremonies et coutumes religieuses des peuples ido-
lätres I 2 S. 83—100 (Amsterdam 1723). Nach der holländischen
Übersetzung der Ceremonies et coutumes wurde die Abhandlung
herausgegeben und mit Anmerkungen versehen von W. Caland in
den Drie oude Portugeesche Verhandelingen over het Hindoeisme,
Amsterdam 1915, S. 149—206.
Die Histoire des Dieux umfaßt 19 Kapitel. Die ersten 17
Kapitel entsprechen den ersten 6 Kapiteln in Manuccis Übersetzung
(Manucci III S. 1—37). Dagegen haben Kap. 18—19, übrigens auch
das, was am Schluß des 17. Kapitels über die Seelenwanderung
gesagt wird, bei Manucci keine Entsprechung. Der auch für Kap.
19 geltende Titel des 18. Kapitels lautet: Qui fait voir, que la
plüpart des points de la doctrine des Gentils, ont du rapport a ce
qu'enseigne le Christianisme. Daß beide Kapitel auf das portugie-
sische Original zurückgehn, ist nicht zu bezweifeln. Hier treten
zwei Zeugnisse des Paulinus beweisend ein. Wenn in Kap. 19
(S. 201 Caland) ein Greis namens Tirruvalluven als der Held
der Flutsage ^) auftritt, so bemerkt Paulinus, Systema Brahma-
nicum p. 80: R. P. Brito ex traditione Brahmanum Madur^ensium
regem illum, quem Vishnu a diluvio liberavit, dicit fuisse Tiruva-
luven, qui unacum saa filia periculum evasit. Ebenso kennt Pau-
linus die Worte, die in Kap. 19 auf die Darstellung der Flutsage
unmittelbar folgen (On trouve encore dans ces memes Livres une
peinture, et une idee grossiere des combats de David et de Sam-
son ), da er im Systema Br. p. 145 schreibt: Alii^) eum
(Rämam) Samsonem esse arbitrantur ut R. P. Johannes Brito.
Da Dellons Übersetzung (die ich, weil der Name des Ver-
fassers nicht feststeht, immer als 'französische Übersetzung'
zitieren werde) jetzt in Calands Ausgabe der holländischen Über-
1) Tiruvalluven als Held der Flutsage ist mir bis jetzt nur noch in einer
Lebensbeschreibung des gleichnamigen Dichters (Tiruvalluvar) bei Graul, Biblio-
theca Tamulica II 190 begegnet. Bevor Tiruvalluvar von der Frau eines Vellälan
an Kindesstatt angenommen wurde, schwamm er, als Brahma, der Zukunft kundig,
in einem ausgehöhlten Kürbis auf der 'großen Flut' daher und wurde von Siva
beauftragt, die verwüstete Welt wiederherzustellen.
2) Zu den *Alii' gehört der Pater Bouchet (Lettres edifiantes XI 33 f.).
g Theodor Zachariae,
Setzung bequem zugänglich ist, so habe ich an dieser Stelle wenig
mehr darüber zu sagen. Bemerken will ich nur, daß die französi-
sche Übersetzung ausführlicher oder wortreicher ist, als das Ori-
ginal, soweit man nach den Bruchstücken, die davon erhalten ge-
blieben sind, urteilen kann. Die Übersetzung ist z. T. mehr Pa-
raphrase als Übersetzung. Manucci dagegen scheint sich durchweg
enger ans Original angeschlossen zu haben.
Eine dritte Übersetzung, richtiger vielleicht Umarbeitung, der
Breve noticia dos erros ist die Relation des erreurs qui se
trouvent dans la religion des Malabars gentils de la cöte de Co-
romandel (so der Titel nach Jacquet, N. Journal Asiatique X, 472).
Jacquet, dem wir Mitteilungen über diese Abhandlung verdanken
(a. a. 0. und im 2. Bande der Inde Francaise) , hat 3 Hss. der Bi-
bliotheque Royale (jetzt Bibliotheque Nationale) in Paris benutzt.
Ich selbst kenne nur 2, jetzt für mich leider unerreichbare Hss.
der Nationalbibliothek, verzeichnet in Omonts Catalogue general,
nouv. acquisitions francaises I (1899) p. 69 no. 451 und p. 288
no. 1823. Eine dritte Hs., die Jacquet nicht gekannt hat, finde
ich angeführt bei Backer-Sommervogel, Bibliotheque des ecrivains
de la Compagnie de Jesus V 1780 und beschrieben im Katalog der
Bibliothek zu Saint-Calais unter No. 9 (Cat. genöral des manuscrits
des bibliotheques publiques de France, Departements, t. XX p. 283).
So kurz diese Beschreibung auch ist, sie ist doch ausführlicher als
die der Pariser Hss. bei Omont. Da sie von dem (angeblichen)
Verfasser sowie von den früheren Besitzern der Hs. berichtet, so
soll sie hier fast vollständig mitgeteilt werden.
'Relation des erreurs qui se trouvent dans la religion des gentils
Malabars de la coste Coromandelle, dans l'Inde, augmentee de plusieurs
remarques touchant les meteors et les pianettes . . . par le R. P. Ro-
bert Nobily, de la Compagnie de Jesus, missionnaire aux Indes
Orientalles'.
'Cette relation est divisee en sept chapitres . . .' La seconde partie
a une pagination speciale; eile est relative ä 'la gentilite du Bengala'.
— Cet ouvrage du celebre missionnaire n'est pas Signale ^) dans la Bi-
bliotheque des ecrivains de la Compagnie de Jesus t. II (1872).
On lit, au fol. A: 'Ce präsent livre appartient a moy Jean Louis
Morinet, le jeune, maitre pemiquier a Vendome. 1741'. — On lit, en
outre, a l'interieur de la couverture de la fin : 'Michel Morinet, aubergiste
ä Montoire'.
1) Dies ist jedoch geschehn, mit einem Verweis auf den Katalog der Biblio-
thek zu Saint-Calais, in der Neubearbeitung der Backerschen Bibliotheque von
Carlos Sömmervogel (V 1780; wo man den sinnstörenden Druckfehler metiers
statt mete'ors berichtigen möge).
über die Breve Noticia dos erros que tem os Geiitios do Concao da India- 9
Wir erfahren aus dieser Beschreibung, daß die Hs. zwei Ab-
handlungen enthält: die Relation des erreurs und eine Abhandlung
über das Heidentum von Bengalen. Als Verfasser dieser Abhand-
lungen (oder nur der ersten?) wird Robert Nobily genannt
— jener berühmte Jesuitenmissionar, dem man -auch den Ezour-
vedam zugeschrieben hat ^). Indessen eine Schrift über das ben-
galische Heidentum kann er nicht verfaßt haben, da er niemals in
Bengalen war. Aber auch als den Autor der Relation des erreurs
kann man ihn nicht betrachten, wie ich meine schon deshalb nicht,
weil im 7. Kapitel dieser Schrift von Roberto de' Nobili in der
dritten Person gesprochen wird (N. Journal Asiatique X, 474 ff.).
Da ich handschriftliches Material nicht benutzen kann, da
meine Versuche, etwas Näheres über die Pariser Hss. zu erfahren,
fehlgeschlagen sind, so kann ich nur mit Hilfe der überlieferten
Bruchstücke und der Mitteilungen, die Jacquet gemacht hat, zeigen,
daß die Relation des erreurs als eine Übersetzung oder Umarbei-
tung der Breve noticia dos erros angesehn werden muß — eine
Tatsache, worauf uns übrigens schon die Ähnlichkeit der Titel
hinweist. Zunächst wird ein längeres Zitat gegeben^) in den Er-
läuterungen zum Ezourvedam, Yverdon 1778, II 209 iF. (Die Sit-
tenlehre der Braminen übers, von Ith, Bern und Leipzig 1794, II
1^5 ff.). Vv'^enn es da von dem Berge Meru heißt, daß er auf acht
Elefanten ruhe, diese auf einer Schildkröte, und diese wieder auf
einer Schlange (Sesa oder Adisesa) ; wenn es ferner heißt, daß die
Inder auf die Frage, worauf sich diese Schlange stützt, die Ant-
wort schuldig bleiben ; und daß durch die Bewegungen der Schlange
die Erdbeben hervorgerufen werden — so kehrt das alles, und
zwar z.T. wörtlich wieder bei Manucci III 31 f. und im 14. Kapitel
der französischen Übersetzung (vgl. Caland S. 188 f.) Die Quelle
aber ist letzten Endes die portugiesische Noticia dos erros. Das
läßt sich beweisen. Paulin us nämlich, Musei Borgiani Velitris Co-
dices manuscripti (1793) p. 231 teilt mit, daß 'R. P. Johannes a
Brito in cod. Lusitano mss. Dos erros dos gentios do Con-
cao da India cap. 4.' den Meruberg Magä Meru ranmadam
1) Vgl. Inde Frangaise II, 117. Backer-Sommervogel , Bibliotheque II 566.
Jules Vinson, Revue de Linguistiqae 35 (1902), 281 ff.
2) Aus einem MS. der Bibliotheque du ßoi de France *Sur les erreiiis des
Indiens de la cote de Malabar'. Diese Bezeichnung des Titels ist entschieden
fulsch. ('Die Malabaren' und 'die Malabarküste' sind vei »vechselt worden. Vgl.
Hobson-Jobson u. d. W. Malabar.) Richtig dagegen ist aie Angabe, daß das Zitat
.'Ti vierten Kapitel des Manuskriptes steht. Ich war im Irrtum, wenn ich in
den GGA. 1916, 601 die Richtigkeit bezweifelte.
10 Tlreodor Zachariae,
genannt habe. Dies ist aber genau die Form, die in der französi-
schen Übersetzung Kap. 14 (vgl. Kap. 4) gebraucht wird ^).
Einen mehr oder weniger wörtlichen Auszug^) aus dem 7.
Kapitel der Relation des erreurs hat Jacquet gegeben im N. Jour-
nal Asiatique X 473 — 78 (wiederholt in der Inde Fran^aise II
115 ff.). Daß dieses Stück im wesentlichen aus der Breve noticia
geschöpft ist, erscheint zweifellos, wenn wir zwei größere Bruch-
stücke dieser Schrift, die zufällig in der Religion des Malabars
erhalten sind, zur Vergleichung heranziehn. Eines dieser Bruch-
stttcke werde ich weiter unten mitteilen. Außerdem hat Jacquet
öfters Stellen aus der Relation des erreurs, einige Male ohne sie
ausdrücklich zu nennen, in den Noten zur Religion des Malabars,
im 2. Bande der Inde Francaise, zitiert (vgl. S. 17. 77 f. 68. 65).
Fast alle diese Zitate lassen sich auch bei Manucci oder in der
französischen Übersetzung der Breve noticia nachweisen. Es gibt
allerdings Ausnahmen. Wenn z. B. nach Jacquet, Inde Fr. II 95
n. 2 in der Relation des erreurs gesagt wird, 'que les Tamouls
considerent comme une relique de Hanoumän^) la celebre dent
de Bouddha qui fut solemnellement brulee a Ceylan par le celebre
Constantin de Bragance' — , so kann ich nicht bestimmt behaupten,
daß diese Angabe auf die Breve noticia zurückgeht.
Dennoch können über die außerordentlich nahen Beziehungen
zwischen Noticia und Relation keine Zweifel bestehn. Was schließ-
lich den Ausschlag gibt, ist die Zahl und der Inhalt der Kapitel
in der Relation des erreurs. Wir werden später sehn, daß diese
Kapiteleinteilung auch die der Noticia dos erros ist. Daß die Zahl
der Kapitel in der Relation sieben beträgt, haben wir oben aus
dem Katalog der Bibliothek zu Saint- Calais erfahren. Die Kapitel-
überschriften hat Jacquet in der Inde Francaise II 4 mitgeteilt.
Sie lauten :
I. Erreurs des Malabars au sujet de la divinite ;
n. Erreurs des Malabars au sujet du paradis et de l'enfer;
1) Vgt. Manucci III 10. 31. De la Flotte, Essais Historiques p. 238. Le
Gentil, Voyage dans les mers de l'Inde I 189 {Margameruparrmadam\ Quelle:
die Ceremonies et coutumes).
2) Es ist zu bedauern, daß sich Jacquet Änderungen erlaubt hat; 'j'ai en-
tierement renouvcle le style', bemerkt er. Er hat nämlich an der Sprache des
Verfassers Anstoß genommen ; er meint, dieser habe über dem Studium des Tamil
und des Telinga seine Muttersprache vergessen. Aber läßt sich das mangelhafte
Französisch des Verfassers nicht einfach aus der Annahme erklären, daß er ein
portugiesisches Werk, die Breve noticia, benutzte und oft wörtlich übersetzte ?
3) Vgl. Manucci III 238. IV 450. Baldaeus , Abgötterey der ostindischen
Hey den S. 453 fg. Purchas, Pilgrimage (1626) p. 561.
über die Breve Noticia dos erros que tem os Gentios do Concäo da India. H
III. Errenrs des Malabars au sujet de Täme;
IV. Errenrs des Malabars au sujet du monde;
V. Erreurs des Malabars au sujet de rhomme;
VI. Gouvernement, coutumes, rites nuptiaux et fun^raires des
Malabars ;
VII. Opinion que les Malabars ont des Europ^ens ou Piranguis ^).
An vierter Stelle ist die Bearbeitung der Breve noticia zu
nennen, die uns geboten wird in dem Buche' von D e laFlotte^):
Essais historiques sur l'Inde, pröced^s d'un Journal de voy-
ages et d'une description geographique de la cote de Coromandel,
Paris 1769, und zwar in dem Abschnitt De la religion des Indiens
S. 163—326. Wie De la Elotte auf S. 167 angibt, hat er eine
Handschrift^) ausgezogen, die im J. 1767 aus Pondichery (an die
Kgl. Bibliothek in Paris?) durch die Vermittlung des Herrn
Porcher''), ehemaligen Grouverneurs von Karikal, gesandt worden
war. Daß diese Hs. eine Hs. der Relation des erreurs ist, ist sehr
wohl möglich, ja durchaus wahrscheinlich ^). Doch läßt sich nichts
Bestimmtes ausmachen. Nur so viel scheint sicher : De la Flotte
hat allerdings seine Vorlage oft fast wörtlich ausgeschrieben, oft
hat er sie aber auch gekürzt, andrerseits hat er auch Zusätze ge-
macht. Daß ihm Fehler untergelaufen sind, darf nicht Wunder
nehmen. Ich bespreche einige Einzelheiten.
De la Flotte kennt keine Einteilung in Kapitel. Doch sind die
einzelnen Abschnitte mit TJeberschriften versehn, und diese Ueberschriften
1) Willkürliche Änderung Jacquets; die handschriftliche Lesart ist: Pa-
ranguis (N. Journ. Asiatique X, 473 n). Dieselbe Schreibung in einem Zitate
aus dem 7. Kapitel der Breve noticia in der Religion des Malabars II 12. Siehe
auch Sonnerat I 58. Müllbauer, Geschichte S. 172.
2) Der Verfasser fuhr 1757 nach Indien, nahm an den Kämpfen der Fran-
zosen (unter Lally) mit den Engländern Teil, geriet in englische Gefangenschaft
und wurde nach London gebracht. Hier erhielt er seine Freiheit wieder und
kehrte 1761 nach Frankreich zurück.
3) Die Hs. (jetzt in der Nationalbibliothek?) enthält Bilder der indischen
Gottheiten. Eins von diesen Bildern ist wohl das Bild des Braraa in den Essais
historiques p. 171.
4) A. P. Porcher des Oulches, conseiller du Grand Conseil de Pondichery
et commandant de Karikal (s. Vinson, Revue de Linguistique 35, 296) ; Schwieger-
vater des besser bekannten Herrn von Maudave (Modave). Aus den Händen Mo-
daves erhielt Voltaire (1760) den berühmten — oder berüchtigten — Ezourvedam.
5) Daß nahe Beziehungen zwischen der Relation des erreurs und den Essais
historiques De la Flottes bestehn, ja daß dieses Werk wahrscheinlich von jenem
abhängig ist, ist von Jacquet nicht erkannt worden. Und doch war er nahe an
der richtigen Erkenntnis: s. Inde Frangaise II, 77, n. 0.
22 TheodorZacliariae,
stimmen im allgemeinen mit den Kapitelüberscliriften in den Parallel-
texten, bei Manucci u. s. w., überein. Auch die Anordnung des Stoffes
ist dieselbe wie in den Paralleltexten ; mit einer Ausnahme : von dem
Inhalt des 7. — 9. Kapitels bei Manucci 'De la Politesse, Gouvernement
et Coutumes que les Gentils observent entre eux' bringt De la Flotte
zunächst, wohl in Uebereinstimmung mit der Relation des erreurs, den
Abschnitt 'Du Gouvernement des Indiens' p. 251 und dann ei'st handelt
er von der 'Politesse des Indiens' p. 265.' Bei Manucci dagegen steht
der Abschnitt über die Politesse an erster Stelle; ebenso in der Breve
noticia, wie wir einer JMitteilung des Paulinus in seiner India orientalis
christiana p. 160. 231 entnehmen können.
Von kleineren Abschnitten bei De la Flotte, die sich bei Manucci
nicht finden, und die er wohl alle seiner handschriftlichen Vorlage ent-
nommen hat, mögen genannt werden: lieber den Sälagräma-Stein S. 198.
ßudräksa 201. Untergeordnete Gottheiten 207. Musik 210. Tempel 212
(mit Ansicht). Medizin 244. Anatomie 245. Betel 268. Indische Büßer
312. Auf S. 317—21 bringt De la Flotte die Uebersetzung von 22
Versen des Kural ^) nach einer Hs., die der oben erwähnte Oberst De
Mondave (so !) aus Indien mitgebracht hatte und die sich jetzt in der
Nationalbibliothek befindet.
Weitere Unterschiede zwischen De la Flotte und den
Paralleltexten. — Sehr auffällig ist die Kasteneinteilung S. 168.
246 ff. Der Autor unterscheidet 4' Kasten, die Brahmanen, die ßajas,
die Choutres und die Sandalen (Candälas). Die Brahmanen sind aus
dem Haupte, die Kajas aus den Schultern, die Choutres aus den Füßen,
die 4. Kaste ist aus einem abgeschnittnen üliede des Brahma entstanden
(nach S. 168 die Choutres aus den Schenkeln, die 'niedrigen Kasten'
aus den Füßen !). Die Kaufleute treten als eine Art Unterabteilung der
Brahma nenkaste, nicht als besondre Kaste auf (les Banians pretendent
avoir le meme avantage que ]es Brames S. 246). Dagegen hat man
nach der französischen Uebersetzung der Breve noticia Kap, 3. 17 (vgl.
Manucci III 7 f. ; 35) 5 Kasten zu unterscheiden : die Brahmanen, Rajas,
Oomatis (Kaufleute) , Xutres und die Niger oder Xandalam, welch
letztere wieder in 4 Zweige zerfallen^). Auch im 7. Kapitel der Re-
lation des erreurs (N. Journ. Asiatique X 475) werden unterschieden:
Brahames, Radjas, Oomittis, Chouttas, gens de basse extraction; und R.
1) Vgl. Jacquet, Inda l'rangaise II, 49, n. 4. Die Kunde vom Kural ge-
langte schon früh nach Europa. Bereits Diogo do Couto (V, G, 4) verbreitet sich
über den Inhalt von Tiruvalluvars Dichtung und gibt die Zahl der Verse ganz
richtig mit 1330 an. Fast wörtlich dasselbe liest man bei Giuseppe di Santa
Maria, Prima speditione all' Indie orientali (Roma 1666) II 17 p. 157. Siehe sonst
auch die Hallischen Missionsberichte I 885 ff.
2) GGA. 1916, 612 ff. Irviae zu Manucci III 35. Thurston, Gastes and
Tribes VI 43 : The Panchamas are, in the Madras Census Kcport, 1871, summed
up as being 'that great division of the people, spoken of by themselves as the
fifth caste, and described by Buchanan and other writers as the Pancham
Bandam'. According to buchanan, the Pancham Bandum 'consist of four tribes,
the Parriar, tl.e Baluan, the Shekliar, and the Toti'.
über die Brevc Noticia dos crros que tem os Gentios do Concäo da India. ]3-
de' Nobili nennt in seiner Verteidigungsschrift die drei höheren Kasten;
Brahmanen , Eajahs, Comatis ^).
Auffällig ist ferner, daß nach De la Flotte S. 189 Koutren dem
Vinaguien (Ganesa) das Haupt abschlägt. Nach der französischen Ueber-
setzung Kap. 8 (Caland S. 168) tötet Virabhadra den Vinäyaka ;
ebenso nach der Relation des erreurs (s. Jacquet, Inde Fran9aise II 17
n. 1). — Sonderbar liest sich der Satz S. 226: *Un cygne lui [dem
Brahma] sert de monture, et quelquefois un cheval pour ses voyages'.
Die Paralleltexte wissen nichts davon, daß Brahma bisweilen auch das
Pferd als Reittier gebraucht. — S. 227 wird der Fluß Vaycarani (Vai-
tarani) une riviere de fer genannt. Fer mag Dinickfehler für feu sein,
"üebrigens ist der eiserne Fluß übergegangen in den Ezourvedam II
160 Anm. — Nach den Paralleltexten hat der Verfasser der Breve no-
ticia keine näheren Angaben über die Fischinkarnation machen
können (Manucci III 10; Fr. Uebers. Kap. 4 : On ne s^ait pas quel fut
le motif de cette metamorphose). Dagegen bemerkt De la Flotte S. 172
f. über den Nara-Avadaram (so !) : La premiere incarnation de Vichenou
fut en poisson , pour servir de gouvernail a l'arche du de-
in ge. Er fügt noch hinzu: 11 paroit constant que toutes les nations
conservent l'epoque d'un dringe. Les Brames disent que Vichenou fut
engendre une seconde fois sur les eaux qui couvroient la surface de la
terre, dans la feuille d'un arbre, nomme Arrechel^), dont tous les
Gentils se servent dans les ceremonies de leurs mariages. Ce Dieu ainsi
regenere prend le nom de Parapatera-Sahy^). Auch von diesem
Zusatz findet sich in den Pai'alleltexten keine Spur.
Als bemerkenswert will ich noch den Gebrauch des "Wortes va-
rangue (ou galerie formte par un petit auvent que soutiennent des co-
lonnes de bois fort minces) S. 27öf. hervorheben. Die gewöhnlich(Bn
französischen Wörterbücher kennen das Wort nur in der Bedeutung
'Bauchstück eines Schiffs'. Bei Sachs- Villatte finde ich als Beleg für
die Bedeutung Veranda*) die Stelle: George Sand, Indiana 24; im
Hobson-Jobson s. v. Veranda eine Stelle aus Sonnerats Reisebeschreibung,
mit der Bemerkung: 'There is a French nautical term, varangue^ *the
ribs or floor-timbers of a ship', which seems to have led the
writer astray here'. Man beachte aber, daß varandam im Diction-
1) Müllbauer, Geschiebte der katholischen Missionen S. 192. Die Kömati»
werden in Südindien von den Brahmanen als Vaisyas angesehn (Thurston, Gastes
and Tribes VII 271 ; anders Sonnerat, Voyage I 51) und niclit selten als 3. Kaste
bezeichnet (Lettres ediliantcs XIV 23). Nacli einem Zitat aus dem 'Paganisme
Indien' im Ezourvedam 11 82 n. machen die Comattis den angesehnsten Teil der
3, Kaste aus.
2) Tamil arasu, Skr. inppala, Ficus religiosa. Vgl. Fra Paolino, Heise nach
Ostindien S. 98.
3) Wohl = Skr. vatapattrasäyl. Vgl. Vatapatrachai bei Sonnerat I 294,
Vätapairahn bei Jouveau-Dubreuil, Archeologie du Sud de l'Inde 11 69.
4) Zur Etymologie des noch immer nicht sicher erklärten Wortes verandor
vgl. Hobson-Jobson u. d. W. ; Hugo Schuchardt in der Zs. für romanische Philo-
logie XIII 491 Anm.
-^^ Theodor Zach ariae,
naire Tamoul-FraiKjais erklärt wird mit 'varande, (ouplus ordinai-
^rement) varangue, corridor, portique', etc.
So viel über die Bearbeitungen und Übersetzungen , die der
ßreve noticia zuteil geworden sind. Wir sind jetzt vorbereitet
zur Beantwortung der Frage nach dem Aufenthaltsort, dem Namen
und der Zeit des Verfassers, sowie nach der Einteilung, dem Um-
fang und dem Inhalt seiner Abhandlung.
Wo der Verfasser residierte, wo seine Missionsstation lag,
ergibt sich aus dem Titel der Abhandlung: Breve noticia dos
erros que tem os Grentios do Concäo da India. Er schildert die
Religion, die Regierung, die Sitten und Grebräuche {governo e costu-
mes) der Bewohner von Concäo. Was ist unter Concäo zu ver-
stehn? Es liegt nahe, an das Konkan, den wohlbekannten Land-
strich an der Westküste Indiens, zu denken. Allein die Annahme,
daß sich der Verfasser in dieser G-egend aufhielt, verbietet sich
durchaus, schon deshalb, weil dort, wo er lebte und schrieb, sicher-
lich kein KonkanT, sondern, wenigstens vorzugsweise, Tamil ge-
sprochen wurde. Dafür treten u. a. beweisend ein : mjvaralicai ^)
die unreife Frucht der Bryonia laciniosa ; das Sätzchen Arruma-
gamtumei 'möge uns der Sechsgesichtige helfen' (GrGrA. 1916, 606);
Nalle-Pamhou (Tamil nalla-pämhu 'die gute Schlange') = Sesa ; die
Götternamen FuUeyar (Fillaiyär, Ganesa) und Velayadam (= Su-
brahmanya; GGA. 1916, 615); der Plural Baxader; die Feminina
Bramnate (ebenda S. 611 f.) und Andichi 'Frau eines Andi^ (De la
Flotte 192) ; das Wort turumhii 'Strohhalm' (Manucci III 70). Der
Aufenthaltsort des Verfassers muß im Süden Indiens, in einer Ge-
gend, die von einer Tamil sprechenden Bevölkerung bewohnt war,
gesucht werden. Ich meine, diese Gegend ist der Korigudesa (Kon-
gamandalam) , d. h. der Landstrich Südindiens, der allgemein mit
den heutigen Distrikten Coimbatore und Salem (genauer: mit den
südwestlichen Täluks von Salem) identifiziert wird^). Der Koh-
gudeäa liegt oder lag südlich von Maisüc. Daß aber die Portu-
giesen das genannte Gebiet mit dem Namen Concäo bezeichnet
haben, dafür haben wir das Zeugnis des Paulinus ^) in seiner India
1) S. die Belege bei Caland, Drie oude Portugeesehe Verhandelingen S. 212 f.
2) Imperial Gazetteer of India, neue Ausgabe, X 358. Coimbatore heißt
fioch heute Kongunäd. Das Dict. Tamoul-Frangais sagt: Kongu, pays qui fait
partie du Malealam ou du pays malabare et meme du Coimbatour et du
Maissour. Die Könige des Landes werden aufgezählt in der Tamilchronik
Kongudesaräjäkkal (ein Plural: 'die Könige des Kongulandes'. Lassen I. A. II*
1035 hat fälschlich Kongudesaräjakula dafür eingesetzt).
3) Auch die Landschaft Concäo, die Paulinus in seiner Reisebeschreibung
über die Breve Noticia dos erros que tem os Gentios do Concao da India. J[5
Orientalis christiana (Romae 1794). In der Erklärung der dem
Buche beigegebenen Karte sagt er S. 235 f. : In mediterraneis sub
gradu 13. usque ad 11. est regnum Concam, quod Lusitani
scribunt Concao, et Arabes apud Renaadotium ^) Kenkem, und
S. 237 bemerkt er : In Pdlacaticsheri incipit Missio Christiana regni
Concam, et inde versus ortum excurrendo numerat paroecias
Caramuttampatti, Dharäburam, Mettupäleam, Pudupäri, Cälcaveri,
Calangäni, Dharmapuri ^). Ob die Angaben des Paulinus ganz
richtig sind, namentlich, ob sie für die Zeit gelten, in der der Ver-
fasser der Breve noticia lebte, muß dahingestellt bleiben. Übrigens
werden dieselben acht paroeciae oder ecclesiae, die nach S. 237 zur
Mission des Reiches Concam gehören, von Paulinus S. 159 zur Mis-
sion von Concam und Maisür^) gerechnet.
Das Concao wurde schon früh in den Wirkungskreis der Je-
suiten gezogen. Nach Salem unternahm Roberto de' Nobili der
(deutsch von Forster, Berlin 1798) wiederholt erwähnt, ist ohne Zweifel mit dem
Kongudesa identisch. Forster irrt sich, wenn er in dem geographischen Index,
den er seiner Übersetzung beigefügt hat, S. 470 Concao als 'ein Reich in der
Nachbarschaft von Bombay' bezeichnet.
1) Gemeint ist S. 157 der Anciennes relations des Indes et de la Chine,
Paris 1718.
2) Calangäni kann ich nicht identifizieren. Über die andern Orte will ich
bemerken: Cälcaveri im Salem District ist noch heute Missionsstation (Manual of
the Salem District I 163). Caramuttampatti wird von Müllbauer S. 226 als Mis-
sionsstation genannt. In Dharäburam im Coimbatore District bestand bereits
1608 eine Kapelle der Jesuiten (Sewell, Lists I 219. Imperial Gazetteer X 361).
In Dharmapuri (Salem District) residierten die Missionare Susiapere Swämiar und
Antoniar, die im J. 1675 von Joäo de Brito besucht wurden (Salem District Ma-
nual I 165). Mettupäleam (Mettupälaiyam) liegt in Coimbatore am Fusse der
Nilagiris (Sewell I 217; ein andrer Ort desselben Namens ib. 219). Pdlacäticsh^ri
(Pälakkäduseri), an dem Paß zwischen Malabar und Coimbatore im heutigen Ma-
labar District, ist nach Fra Paolino, Reise S. 177 vgl. 141 die letzte im Westen
befindliche Stadt des Königreichs Concam. Zu Pudupäri vgl. Budhapadi oder
Budapari (in Maisür) bei Fra Paolino S. 35 , Pudäppadi in den Hallischen Mis-
sionsberichten III 807.
3) In der Nähe von Maisür lebte der Verfasser der Breve noticia
sicherlich; zeigt er sich doch vertraut mit einem eigentümlichen, zu seiner Zeit
in Maisür herrschenden Brauche. De la Flotte S. 257 f. berichtet darüber: *Un
genre de cruaute inouie qui existe dans les Etats du M a i s s o u r, c'est que, lors-
qu'il nait un enfant au Roi, on envoie, par le conseil des Brames, mettre le feu
ä plusieurs villages pour tirer Thoroscope de cet enfant, et comme les maisons
sont presque toutes couvertes de chaume, elles s'embräsent avec tant de vivacite,
que la plüpart des habitaus perdent souvent la vie avec leurs biens'. Dasselbe
berichten Manucci III 52 (wo aber das Reich Maisür nicht genannt wird) und
Jacquet, Inde Frani^aise II, 35 n. 2 nach den 'anciens voyageurs'. Was für Rei-
sende meint er? Sollte er nicht aus der Relation des erreurs geschöpft haben?
Iß The'odor Zachariae,
Begründer der Madura-Mission, seine erste Missionsreise außerhalb
Madaras (1623). Der erste Ort, wo er verweilte, war Öendaman-
galam^). Es ist nicht unmöglich, daß der Verfasser der Breve
noticia zu den Missionaren gehörte, die Nobili, nach dem Zeugnis
des Paulinus, ins Concäo schickte : Prosperum suorum laborum suc-
cessum perspiciens advocat alios socios, quos mittit in regnum Con-
cam, seu ut Lusitani scribunt Concao, quod tunc regi Ma-
dhurensi subjectum erat (India er. christiana p. 155).
Wie aber lautet der Name des Verfassers der Breve noticia?
Dellon, der den Verfasser persönlich gekannt zu haben behauptet,
hat den Namen leider nicht genannt. Und auch wenn uns ein
vollständiges Manuskript der Breve noticia zugebote stünde, so
würden wir hier den Namen des Verfassers schwerlich angegeben
finden: die Breve noticia ist ein anonymes Werk, genau so wie
die beiden Abhandlungen, die Caland und Fokker in den 'Drie
oude Portugeesche Verhandelingen' an erster und zweiter Stelle
veröffentlicht haben.
Nun aber besteht eine bestimmte Überlieferang, wonach der
berühmte Jesuitenmissionar Joäo deBrito^) der Verfasser der
Breve noticia gewesen ist. Auf diese wenig bekannte, z. B. von
Backer-So mmervogel gar nicht erwähnte Tatsache hat zuerst Ca-
land ^) hingewiesen. Paulinus zitiert in verschiedenen seiner Werke,
besonders häufig im Systema Brahmanicum, die Breve noticia unter
dem Namen des Brito. Dasselbe tut, erheblich früher, der Ver-
fasser der Religion des Malabars. Dazu kommt ein Zeugnis in
Norberts M^moires historiques (Besancon 1747), ein Zeugnis, das
ich nicht übergehen möchte. In einem Briefe vom 7. September
1740 bei Norbert II 408 ff. ist von der Seligsprechung*) des Brito
die Rede. Über dieselbe Angelegenheit finden wir in einem an-
deren Briefe (vom 16. Sept. ; bei Norbert IL 412 ff.) die folgende
Bemerkung :
Apr^s avoir acheve ma lettre, j'ai re9u de M. l'Eveque ^) de Me-
1) Müllbauer S. 196 ff. Manual of the Salem District I, 47. 164. 165.
2) Brito, geboren 1647 in Lissabon, wirkte von 1673 bis 1693 in Indien.
Am 4. Februar 1693 erlitt er den Märtyrertod. Der Name wird oft Britto ge-
schrieben; aber Brito schreiben portugiesische Autoritäten wie Barbosa Machada
(Bibliotheca Lusitana II 613) und Francisco de S. Maria (Anno historico I 212).
3) De auteur der derde oude Portugeesche verhandeling over het Hindoeisme.
(Toevoegsel aan de verhandeling Drie oude Portugeesche verhandelingen
over het Hindoeisme.) Amsterdam, November 1915.
4) Diese erfolgte, nach Backer-Sommervogel 11 191, am 18. Mai 1852.
o) Kaum dreißig Jahre nach Britos Tod yrurde vom Bischof zu Meliapor
über die Breve Noticia dos erros que tem os Gentios do Concäo da India. 17
liapure une lettre Pastorale, avec ordre expres de la lire k la grande
Messe et de Tafficher ä la porte de nos Eglises; ce que nous avons
execute avec la derniere exactitude. Cette Pastorale contenoit un Man-
dement de la S. CoDgregation des Kits sur deux questions: Savoir si
quelques-uns de nos Chr^tiens avoient connoissance d'un livre intitul6
La vie de T Idole Brach mane, traduit du Malabare en Portugais
par leE. P. Jean deBritto Missionnaire de la Societe de Jesus
dans le Boyaume de Tanjaours. En second lieu, si quelqu'un possedoit
ou avoit vu l'image de ce Pere avec des habits de Gentils.
Im Folgenden ist leider nur von dem Bildnis des Brito die
Rede. Das Buch aber, worauf sich die erste Frage der Riten-
kongregation bezieht, das Buch, das der P. Jean de Brito von der
Gesellschaft Jesu aus dem Malabarischen d. h. aus dem Tamil ins
Portugiesische übersetzt haben soll, ist kein anderes als die No-
ticia dos erros, zitiert u. d. T. La vie de l'Idole Brachmane. Einer
der ersten Abschnitte der Noticia führt nämlich die Bezeichnung :
Da vida deBroumha (Religion des. Malabars II 8. 10 ; vgl.
N. Journ. Asiatique X 470. Manucci III 7).
Es i'ragt sich aber sehr, ob die Überlieferung, wonach Brito
die Breve noticia verfaßt hat, glaubwürdig ist. Selbst die Autori-
täten, die das Werk unter dem Namen des Brito' zitieren, sind
ihrer Sache nicht sicher. Der Verfasser der Religion des Malabars
sagt an zwei Stellen (II 1. 8) ausdrücklich, daß man die Noticia
dem Brito nur zuschreibt. Dasselbe tut Paulinus in der Gram-
matica Samscrdamica p. 3, wo 'Anonymus quidam e S. J. Mis-
sionarius' als der Verfasser der Noticia bezeichnet und der Name
Brito nur in der Anmerkung z. d. St. genannt wird; und in der
India orientalis christiana p. 231 n. leitet Paulinus ein Zitat aus
dem 6. Kapitel der Noticia mit den Worten ein : 'Si P. Joanni de
Britto, seu auctori libri manuscripti: Breve noticia dos
erros , credimus, regum Bisnagari, Maissur, et Concam
auctoritas et regimen absolut um, asper um, et tyrannicum erat'.
Es scheint in der Tat, als hätte man dem Brito die Noticia
nur zugeschrieben, weil er ein berühmter Mann war: genau so,
wie man den noch berühmteren Jesuitenmissionar R. de' Nobili
zum Verfasser der Relation des erreurs gestempelt hat (s. oben
S. 9). Auch lassen i^ich Gründe anführen, wonach sich Britos
Verfasserschaft als wenig wahrscheinlich, ja als fast unmöglich
herausstellt. Sicherlich besaß Brito die Begabung und die Kennt-
nisse, die ihn zur Abfassung einer Schrift über die Religion und
auf Anordnung der Kongregation der Riten in Rom der Informationsprozeß be-
züglich der Beatifikation eingeleitet. (Müllbauer S. 235.)
Kgl. Ges. d. Wiss. Nachrichten. l»hil.-hist. Klasse. 1918. Hek 1. 2
18 Theodor Zachariae,
die Sitten der indischen Heiden befähigten. Liest man aber die
Biographien des Brito oder auch nur das, was Müllbauer S. 231 ff.
über ihn berichtet, so kommt man zu der Überzeugung, daß Brito
während seiner angestrengten Missionstätigkeit die für literarische
Arbeiten nötige Ruhe und Muße nicht gefunden haben kann. Dem,
was J. H. Nelson ^) über diesen Punkt bemerkt hat, wird man nur
beistimmen können.
Ferner dürfen wir nicht vergessen, was Dellon über das von
ihm übersetzte MS. der Breve noticia berichtet. Er will es von
dem Verfasser, einem Missionar, im J. 1676 auf der Fahrt von
Groa nach Lissabon erhalten haben. Ist dieser Bericht glaubwürdig
— was allerdings zweifelhaft ist — , so kann Brito unmöglich der
Verfasser sein. Brito kam erst 1673 nach Indien und brachte zu-
nächst einige Zeit in Goa zu, um seine theologischen Studien zu
vollenden (Müllbauer S. 231). Vor dem Jahre 1676 war er kei-
nesfalls imstande, eine Schrift über 'die Irrtümer der Heiden des
Concäo' zu verfassen. Außerdem soll der Verfasser dieser Schrift,
nach Dellons Bericht, im J. 1676 auf der Fahrt nach Europa ge-
storben sein. Aber Brito trat erst 1688 eine Reise nach Europa
an; er starb auch nicht auf der Überfahrt, sondern erst 1693 in
Indien.
Endlich ist eine bestimmte Zeitangabe, die uns im 16. Kapitel
der französischen Übersetzung entgegentritt, zu beachten. Danach
soll das Kaliyuga vor 48448 Jahren begonnen haben. Diese An-
gabe ist allerdings höchst sonderbar ^). Auch weichen die Parallel-
texte ab ; bei Manucci (vgl. III 33) lautet die Zahl quatre cents
mille quatre cents quarante huict, bei De la Flotte 242 : quarante
mille quatre cens quarante-huit. Indessen stimmen die Zehner
und Einer in allen drei Angaben überein. Es ist daher wahr-
scheinlich, daß sichs um das Jahr 48 irgend eines Jahrhunderts
1) The Madura country, Madras 1868, part IIL, p. 223 : Though sufficiently
qualified by his talents and by bis education to be an author, De Britto did not
Imitate the example of Robert de Nobilibus; and if he was the author of any
works, they have perished and nothing is known of them. It seems probable
however that his purely missionary labors occupied his whole
time and attention and left him no leisure for composition . . . .
Whilst Robert has left behind him voluminous and able contributions to polemical
literature, John has left nothing but a series of letters, adniirable as memorials
of the life and labors of a truly pious man but of no great literary value. —
Zu bemerken ist hierzu, daß Nelson von der Noticia dos erros, die dem Brito
zugeschrieben wird, offenbar keine Kenntnis besaß.
2) Eine andre sonderbare Angabe über die Dauer des Kaliyuga findet man
in einem Briefe des P. De la Lane v. J, 1709 (Lettres ^difiantes XI 232).
über die Breve Noticia dos erros que tem os Gentios do Concäo da India. 19
des Kaliyuga, d. h. um das Jahr 47 eines christlichen Jahrhunderts
handelt. Da aber nur das 17. Jh. der christlichen Ära in Frage
kommen kann, so gewinnen wir das Jahr 1647 als das Jahr, wo
die Breve noticia geschrieben wurde ^). Der Annahme, daß diese
Schrift wirklich so alt ist, steht, soviel ich zu sehen vermag, nichts
•entgegen. Ist aber 1647 das Abfassungsjahr, so kann Brito un-
möglich der Verfasser sein, denn er erblickte erst i. J. 1647 das
Licht der Welt.
In diesem Zusammenhang will ich noch auf ein anderes Datum
aufmerksam machen. Wenn die unten-) aus der Relation des
erreurs angeführte Stelle wörtlich aus dem portugiesischen Original
übersetzt ist — woran ich nicht im geringsten zweifle — , so muß
der Verfasser der Noticia elf Jahre in der Madura- Mission tätig
gewesen sein, als er seine Abhandlung niederschrieb.
Ich glaube gezeigt zu haben, daß die Überlieferung, wonach
Joäo de Brito der Verfasser der Noticia war, auf sehr schwachen
J^üßen ruht. Dennoch wäre es möglich, daß dieser Überlieferung
etwas Wahres zugrunde liegt ^). Vielleicht war nicht der berühmte
Joäo de Brito der Verfasser, sondern irgend ein andrer, weniger
bekannter Brito. Es hat verschiedene Jesuitenmissionare mit dem
Namen Brito gegeben, die in Indien wirkten. Da ist vor allen
der P. Emmanuel de Brito zu nennen, der i. J. 1657 nach Indien
^ing und daselbst am 23. Dez. 1671 starb*). Seine Residenz war
Congupatti (Kongupatti). Ich kann diesen Ort nicht identifizieren.
Doch geht aus dem Namen selbst sowie aus den Angaben Müll-
bauers hervor, daß der Ort im Kongudeäa d. h. im Concäo zu
suchen ist, in der G-egend also, wo der Verfasser der Noticia
gewohnt haben muß. Ich nenne noch den Erzbischof Stephan
Britto^) und den P. Johannes de Brito 'den Jüngeren' (Müllbauer
:S. 237).
1) Die obigen Ausfiihrungen gründen sich auf eine Mitteilung, die ich Herrn
Prof. Jacobi, einer Autorität auf dem Gebiete der indischen Chronologie, verdanke.
2) Voilä ce que m'ont permis de reconnaitre de frequens rapports avec les
Malabars, pendant les onze annees que j'ai assiste ä la mission du Madure
(Nouveau Journal Asiatique X 474.)
3) Auf diese Möglichkeit hat mich Herr Prof. Caland in einer briefliclu n
Mitteilung hingewiesen.
4) A. Franco , Annus gloriosus Societatis Jesu in Lusitania, Viennae 1720,
-p. 750, Müllbauer S. 222. Caland verweist mich auf das mir nicht zugängliche
Buch von Auguste Jean: Le Madure, l'ancienne et la nouvelle mission, Bruxelles
1894, p. 74.
5) Müllbauer S. 297 ff. Aus einer Schrift des (oder eines?) Stephanus de
Brito wird eine Stelle zitiert von Samuel Purchas, Pilgrimage (London 1626) p. 554.
2*
20 Theodor Zach ariae,
Ich gebe jetzt eine Übersicht über die in der Noticia behan-
delten Stoffe^). Vorausgeschickt sei, daß die Kapiteleinteilung
des portugiesischen Originals, wie aus Anführungen bei Paulinus
u. s. w. hervorgeht, nur in der Relation des erreurs unversehrt
erhalten ist. Beide Texte, die Noticia und die Relation, umfassen
sieben Kapitel. Dagegen weichen Manucci und die französische
Übersetzung in der Zählung der Kapitel mehr oder weniger
vom Original ab, und De la Flotte zählt die Kapitel überhaupt
nicht. Doch sind die Überschriften der Kapitel und vermut-
lich auch die der Unterabteilungen (Paragraphen) in den drei zuletzt
genannten Paralleltexten aus dem portugiesischen Original, größten-
teils wörtlich, übernommen worden. Ich werde dies an einigen
Beispielen zeigen. Eine genaue Aufzählung aller Überschriften
würde zu viel Raum beanspruchen.
Das erste Kapitel handelt von G-ott und seinem Wesen; vo»
den drei großen Gröttern der 'falschen Trinität' (Brahma, Visnu^.
Rudra). Bei Manucci entspricht Kap. I (Bd. III S. 3 — 22 in Irvines
Übersetzung); in der fianzösiscben Übersetzung: Kap. I — X; bei
De la Flutte: S. 163—198.
Kap. II: Was die Heiden vom Paradies und von der Hölle
sagen; = Manucci Kap. II, frz. Übersetzung Kap. XI— XII, De
la Flotte S. 221—233.
Kap. III: Von der Seele; = Manucci Kap. III, frz. Über-^
Setzung Kap. XIII, De la Flotte S. 233—234.
Kap. IV: Was die Heiden von dieser Welt sagen; von den
Planeten; von den Zeitaltern. Manucci Kap. IV — V, frz. Über-
setzung Kap. XIV- XVI, De la Flotte S. 234—244.
Kap. V: Vom Menschen (Kasteneinteilung) ''^). Manucci Kap. VI;,
frz. Übersetzung Kap. XVII (Ce que les Indiens croyent de l'homme.
Über Kap. XVIII— XIX der frz. Übersetzung vgl. oben S. 7);
De la Flotte S. 246-250. Manucci gibt in seinem IX. Kapitel
(Bd. III S. 68), worin er die Hochzeitsbräuche behandelt, einen
Verweis auf das V. Kapitel. Diesen Verweis scheint er wörtlich
dem portugiesischen Original entnommen zu haben ; denn die Stelle,
1) Zu einer genaueren In! aUsaugabe felilt es mir an Kaum. Übrigens sind
die französische Übersetzung der Notiria (in Calands Ausgabe der holländischen
Übersetzung) sowie Manuccis Übersetzung (in Irvines englischer Übersetzung) leicht
erreichbar.
2) Aus diesem Abschnitt wird ein längeres Zitat in der Religion des Malabars-
II, 1 gegeben, und zwar soll es aus dem vierten Kapitel des Originals staminen,.
Ich weiß zur Zeit keine sichre Erkläining für diese Angabe zu liefern.
über die Breve Noticia dos erros que tem os Gentios do Concäo da India 21
worauf sich der Verweis bezieht, steht bei ihm selbst nicht im V.,
sondern im VI. Kapitel.
"Wir kommen jetzt zu den Abschnitten des Originals, die nur
in den Übersetzungen Manuccis und De la Flottes einigermaßen
vollständig erhalten sind.
Das VI. Kapitel führt nach Paulinus, India or. christiana p. 160
im Original den Titel: *Da Politica, Groverno, e costumes
destes Grentios etc.'; bei Manucci: 'De la Politesse, Gouverne-
ment et Coutumes que les Grentils observent entre eux'. Der Titel
von Kap. VI § 2 lautet nach Paulinus 1. c. p. 231 n.: *Do modo do
governo que guardäo entre sy' = 'De la maniere de Gouverne-
ment qu'ils ont parmi eux' bei Manucci.
Dem VI. Kapitel des Originals entspricht Kap. VII — IX
S. 37-73 bei Manucci, und S. 251-312 bei De la Flotte. Daß
De la Flotte (oder bereits seine Vorlage?) eine Umstellung der
Paragraphen dieses Kapitels vorgenommen hat, ist oben S. 12
bemerkt worden. Größere Zitate aus Kap. VI finden sich in der
Religion des Malabars II 1. 8. 19.
Das VI. Kapitel ist nicht nur das umfangreichste, sondern
unstreitig auch das wichtigste und interessanteste Kapitel der
portugiesischen Abhandlung. Der Autor handelt hier von den
Grußformen, von Kleidung und Wohnung, von der Art wie man
ißt, von erlaubten und verbotnen Speisen, von der Regierung, von
der Art wie man die Steuern eintreibt, vom Kriege (leur maniere
de faire la guerre, De la Flotte p. 258). Besonders ausführlich
behandelt er die Hochzeitsbräuche: nach einigen allgemeinen Be-
merkungen bespricht er der Reihe nach die Bräuche der Brah-
manen, Räjas, Kaufleute, Südras und Parias. Zuletzt folgt eine
Darstellung der Toten- und Bestattungsgebräuche.
Ich kann es mir nicht versagen, aus dem Abschnitt über die Hoch-
zeitsbräuche Einiges hervorzuheben. Wenn ein Brahmane, der
zu heiraten wünscht, seinen zukünftigen Schwiegervater um die Hand
seiner Tochter gebeten hat, so verläßt er das Haus der Braut und betritt
ein anderes Haus, wo ihn die Verwandten der Braut erwarten. Nachdem
er sich eine Zeit lang mit ihnen unterhalten hat, gibt er vor, zornig zu
sein, steht plötzlich auf, zieht ein Paar alte Schuhe an, nimmt einen
Stab in die Hand, steckt ein Buch unter seinen Arm und sagt, daß er
eine Pilgerfahrt antreten wolle. Er geht wirklich weg, wird aber
alsbald von den Verwandten der Braut zurückgeholt mit dem Versprechen,
ihn ohne Verzug zu verheiraten (Manucci III 56 vgl. IV 441). Diese
von dem Portugiesen gut geschilderte, auch unter den Bräuchen der
Räjas (s. Manucci III 62) erwähnte Zeremonie heißt paradesapravesa oder
(gewöhnlich) Kasiyatra und wird namentlich von den Vaidiki Brahmanen
in Südindien geübt; s. Thurston, Ethnogi-aphic Notes in Southern India
I Theodor Zachariae,
p. 1, Gastes and Tribes of Southern India I 279. 357. 369. Sie kommt
aber auch vor bei den Pallans und Kamsälas (Ethnographie Notes 26 f.y
Gastes and Tribes Y 479. III 146), bei den Devängas, Kavarais, Kömatis
und bei den Räzus oder Räjus (Gastes and Tribes II 163. III 264. 332.
VI 253). Aus dem weiteren Verlauf der brahmanischon Hochzeitsfeier-
lichkeiten führe ich an : Les parents le (le mari^) relevent par la main et
le fönt assoir conjointement avec la mariee sur un balancier fait de
planches qui est attache avec des cordes a une solive, puis les uns les
fönt balancer et les autres chantent leur louanges (soManucci;.
8. Manucci 11156 vgl. 58; ausführlicher De la Flotte 290). Vgl. dazu
Thurston, Gastes and Tribes VII 258 : During the marriage ceremonies
of Brähmans and some non - Brähman castes , the bride and bridegroom
are seated in a swing within the marriage booth, and songs called
uyyäla patalu (swing songs) are sung by women to the accompaniment
of music; I 280 (Brahmanen) ; III 332 (Kömatis); VI 255 (Räzus) i). —
Von der Witwenverbrennung handelt der Portugiese an zwei
Stellen; s. Manucci III, 60. 65 f. — In dem Abschnitt über die Bräuche
der Räjas ist das Fischorakel bemerkenswert. 'Ils (les nouveaux mariez)
jettent dans un grand vaisseau qui est la tout prest et plein d'eau un
poisson imaginaire fait d'une drogue qui est comme de la farine,
et qu'un des parents des nouveaux mariez tient par une corde le faisant
aller d'un cot^ et dautre autour de leau; alors le marie pour montrer
son adresse tire une petite fleche avec un are sur le poisson; et si il le
touche, tout le monde chante ses louanges et dit qu'il est fort adroit
au maniment des armes , fort vaillant et fort fortune ; et si il manque
ils le disent malheureux et maladroit'. So Manucci III 64 (Berliner Hs.).
Daß es sich bei der Zeremonie um ein Orakel handelt, tritt in dem
Paralleltext De la Flotte S. 300 f. besser hervor. übrigens läßt dieser
Autor die Braut, nicht den Bräutigam, nach dem künstlichen Fisch
schießen. Dieselbe Abweichung in einer Mitteilung Jacquets (Inde Fran-
Qaise II 12, wo die Braut drei Pfeile abschießt). Hat er aus der Re-
lation des erreurs geschöpft ? — Ausgehend von einer Stelle im Baudhä-
yanagrhyasütra ''') habe ich diese Zeremonie, und verwandte Zeremonien ^),
1) Der Brauch wird niclit erwähnt von Frazer* in dem Exkurs 'Swinging as
a magical rite', Golden Bough^ II 449—56. Eine Puppe ist an die Stelle der
Brautleute getreten in dem Brauche, den Crooke, Folk-Lore XI (1900) p. 23
schildert: When in Madras the Reddi brings home bis bride, a swing is hung
from the house-beam, a wooden doli is hung in it, and swung by husband and
wife, while the women sing songs, obviously a charm to make tbeir union
fertile.
2) I 13. Vgl. dazu Faweett im Madras Government Museum Bulletin III
(1900) p. 65 und Thurston, Castes and Tribes V, 202, wo, anders als bei Baudhä-
yana, ein Brahmacärin eine Frage an den Bräutigam richtet.
3) Zu der in der WZKM. 18, 300 aus Baldaeus, Abgötterey S. 606 ange-
führten Stelle stimmt Faria y Sousa, Asia Portuguesa 114,6,2: [Los Nobios]
vienen a un caldero de agua que estä prevenido con pecesvivos; ycdun
pano que toman los dös , cada uno per su punta , van pescando como con red.
Cogidos los peces, tomanlos reverentemente con la mauo derecha, y ponenlos sobre
las cabe^as. Green que si cogieren muchos, tendran muchos hijos, y al contrario.
über die Breve Noticia dos erros que tem os Gentios do Concäo da India. 23
ausführlich besprochen in der Wiener Zs. f. d. Kunde des Morgenlandes
18, 299 ff. 22, 431 ff. Siehe noch Thurston, Gastes H 306. IV 87. V 203.
VI 240. — In dem Abschnitt über die Bräuche der 'marchands ou bouti-
quiers' d. h. der Kömatis (Manucci III 67 ff. ; bei De la Flotte ausgelassen)
ist die Angabe von Interesse, dal5 die Kaufleute nicht heiraten können,
ohne den Schuhmacher des Ortes vorher zu benachrichtigen, also ojine
ihn um Erlaubnis zu bitten. Als Grund wird angeführt, daß, der Sage
nach, die Kaste der Komatis aus der Verbindung eines Brahmanen mit
der Frau eines Schustere hervorgegangen ist. Zu der Sitte und ihrer
Begründung vgl. Baines, Ethnogi-aphy p. 36. Thurston, Ethnographie
Notes 88 ff. , Gastes and Tribes III 325 ff. — In dem Abschnitt über
die Öüdra - Hochzeiten beschränkt sich unser Autor auf wenige Bemer-
kungen über die Bräuche, die in der Kaste der D i e b e (d. h. der Kallana
nach Irvine zu Manucci III 69) üblich sind. Bei diesen, sowie bei
einigen andren niedrigen Kasten, herrscht eine 'barbarische' Sitte : Wenn
ein Mann seiner Frau überdrüssig ist, so übergibt er ihr einen Stroh-
halm, 'den man Turumbo (Tamil turumbu) nennt', und die Ehe gilt als
geschieden. Auch kann sich eine Frau ihres Mannes entledigen, indem sie
ihn nötigt, ihr den Strohhalm zu geben (Manucci III 70 ; De la Flotte 306).
In Übereinstimmung damit schreibt^) Thurston, Gastes III, 79 nach dem
Census Report v. J. 1891 : As a token of divorce a Kallan gives bis
wife a piece of straw in the presence of bis caste people. In Tamil
the expression 'to give a straw' means to divorce, and 'to take a straw'
means to accept divorce.
Das VII. Kapitel führt im Original den Titel: Do conceito
que estes Gentios tem dos Europöos; bei Manucci: De lo-
pinion qu'ont les Gentils des Europiens et des Maure s^); in der
Relation des erreurs : De Topinion que les Malabars ont des Euro-
peens ou Paranguis; bei De la Flotte 321: Prejug^s des Indiens
contre les Europeens. Von dem Inhalt dieses Kapitels können wir
uns 'ein ziemlich genaues Bild machen, da wir außer der Wieder-
gabe bei Manucci und De la Flotte ein großes Stück des VII. Ka-
pitels der Relation des erreurs in Jacquets Veröffentlichungen
(s. oben) und zwei größere Bruchstücke des Originals (zitiert in
der Religion des Malabars II 12) zur Verfügung haben. Aus einer
1) S. auch Jacquet, Inde Frangaise II 8 n. : Les Tamouls norament la repu-
diation touroumhou, litteralement paille, parce que le mari la signifie en rompant
un fetu de paille dont un beut est entre ses doigts et l'autre entre ceux de son
epouse. — Zum Brechen des Strohhalms vgl. Baldaeus S. 608».
2) Manucci beginut das Kapitel mit dem Satze: *Les Gentils apellent tous
les Europiens et les Maures, qui sont aux Indes, faranguis'. Daran hat
Irvine (zu Manucci III 73) Anstoß genommen, indem er schreibt: 'This inclusion
of Mahomedans among Farangis is an 'exceedingly disputable Statement'. Ich be-
merke dazu, daß Manuccis Behauptung — die Ausdehnung des Namens Faranguis
auf die Muhammedaner — sicherlich nicht in seiner Vorlage, dem portugiesischen
Original, gestanden hat. Die andern Ausflüsse des Grundwerks, die Relation des
erreurs (N. Journ. Asiatique X 473) und de la Flotte, Avissen nichts davon.
24 Theodor Zach ariae,
Vergleich ung der genannten Texte ergibt sich, daß Manucci und
De la Flotte wohl den Anfang des Kapitels annähernd genau
wiedergegeben ^) , von dem übrigen Inhalt aber ein großes Stück
ganz ausgelassen haben. Es kann kein Zweifel darüber bestehen,
daß sich der portugiesische Autor in seinem letzten Kapitel nicht
nur 'über die Meinung, die die Heiden von den Europäern haben',
sondern auch über die Madura- Mission , der er selbst angehörte,
namentlich über ihren berühmten Gründer Roberto de' Nobili aus-
gesprochen hat^ Dies letztere Stück ist nur in der Relation des
Erreurs erhalten geblieben: und daß es echt ist, daß es auf das
portugiesische Original zurückgeht, dafür treten die genannten
Bruchstücke des Originals beweisend ein. Beide Bruchstücke, na-
mentlich das zweite, finden ihre genaue, z. T. wörtliche Entspre-
chung in der Relation des Erreurs ^). Zur Erhärtung des Gresagten
stelle ich das zweite Bruchstück ^) und die entsprechende Stelle in
der Relation des Erreurs (N. Journal Asiatique X 476 f.) einander
gegenüber.
Breve noticia dos erros. Relation des erreurs.
0 modo que o Grande Padre Le P. Nobili et les autres mis-
Roberto Nobili da nossa Companha sionnaires de son ordre n'avaient
6 OS inais padres seus companheiros rien neglige de ce qui pouvait leur
guardaräo [por semelhar] os Bra- donner quelque ressemblance avec
hammes Sanyasis *) destas terras les Brahames sannyasis ; ils allaient
[estäva] vestendo-se de hums pannos vetus d'une toile teinte en jaune
tintos de cave ^) , que e como al- fonce, la barbe et les cheveiix ras^s,
1) Manucci gibt sonst noch zu einer früher gemachten Bemerkung (que les
Gentils re connoissent point de plus grande felicite au monde que la compagnie
de la femme; vgl. Manucci III 33?) einen Nachtrag, in dem er die bekannten
4 Klassen der Frauen {Padmani, Chaterni, Ästeni, Sengueni) aufzählt. De la
Flotte hat nichts liievon. Statt dessen betont er, daß nichts der Ausbreitung des
Christentums in Indien mehr gescliadet habe, als die Unmäßigkeit der ersten Er-
oberer ; und um zu zeigen, was für einen Abscheu die Inder vor der Trunkenheit
haben, erzählt er eine Geschichte, die sich in Outremalour (Uttiranmerür ; Sewell,
Lists 1 192) abgespielt haben soll.
2) Die Übereinstimmung würde gewiß noch größer sein, wenn Jacquet einen
wörtlichen Abdruck seiner besten Hs. gegeben hätte. Über sein Verfahren bemerkt
er selbst: Je n'ai conserve de l'ouvrage que les faits et l'ordre dans lequel ils
sont exposes; j'ai entierenient renouvele le style.
3) Bei der Herstellung des Textes hatte ich mich des Beistandes eines Ro-
manisten, des Herrn Prof. Alfons Hilka, zu erfreuen. Für seine Mühwaltung
spreche ich ihm auch an dieser Stelle meinen Dank aus.
4) Nobüi nannte sich Brahamme Sanyasi Romano. Siehe N. Journal Asia-
tique X, 475. Jacquet, Inde Frangaise H 62 n. 6.
5) Rüter Oker; Tamil kävi (vgl. Dubois, Hindu manners p. 531. 547). Jaune
fonce im französischen Text ist willkürliche Änderung Jacquets; seine Hs. hat:
über die Breve Noticia dos erros que tem os Gentios do Concäo da India. 25
magre, andando con cabecj-a et barba les oreilles percees et traversees,
rapada, furadas oreillas et trazendo comme Celles des penitens Indiens,
nestas hums päozinhos de amargo- par de petits morceaux de bois de
zeira ') ou de outro arbousto, a que margousier tres-legers (car il n'est
chamäo päo leve'*^) (porque e contra pas permis au Brahame sannyasi de
a profissäo dos religiosos a que se parer de pendans d^oreilles d'or,
chamäo Sanyasis a trazer [arjrecadas d'argent ou d'autre m^tal). Us por-
de ouro ou prata ou qualquer outra taient de la main gauche un petit
jöia dos ditos metaes), trazendo na vase de cuivre, et de Tautre un bäton
mäo esquerda ^j hum vaso de cobre de leur hautem-, divis^ par sept
como panella, e na direita hum noeuds bion formes, et dont l'extre-
bordäo da sua mesma altura*) con mite supdrieure etait garnie d'une
sette nös naturaes ^), e neste atado ^) banderole de meme couleur que les
häo [hum pannoj pequeno da mesma pieces de vetenient.
cor do vestido a modo de bande-
rinha. '
Anhang: Manuccis Übersetzimg der Breve noticia.
Von den Übersetzungen oder Bearbeitungen, die der Breve
noticia dos erros zuteil geworden und bis jetzt näher bekannt ge-
worden sind, ist Manuccis Übersetzung unstreitig die wichtigste.
Erstreckt sich doch die sonst schätzenswerte französische Über-
setzung in Dellons Inquisition de Goa nur über die erste Hälfte
der Noticia, und De la Flottes Übersetzung geht nicht unmittelbar
couleur de caß (wirklich so?). Zum Verständnis von cafe verweist Jacquet auf
Dubois, Moeurs et Institutions des pays de l'Inde II 261.
1) Amargozeira , der Nimba-ßaum; vom portugiesischen amargoso 'bitter'.
Tgl. amergousin, De la Flotte 298. Siehe auch Fra Paolino, Reise S. 415 und
Hobson-Jobson s. v. Margosa.
2) Fäo leve (v. 1. pano leue) 'leichtes Holz'. Was für eine Holzart gemeint
ist, kann ich nicht sagen. Geht ^tres-legers^ der französischen (von Jacquet zurecht-
gestutzten?) Übersetzung auf den pao leve des portugiesischen Textes zurück?
3) In der Tat trägt Nobili das Gefäß in der linken Hand auf dem Bildnis
in Irvines Manucci III 104. Der Samnyäsi bei Sonnerat I 256 (Tafel 08) trägt
«s in der rechten.
4) The staif must be exactly his own height. — Dubois, Hindu raanners p. 534.
5) Paulinus, Systema lirahmanicum p. 57: Ad manum dexteram Guru tradit
discipulo scipionem vel clavam, quae Vil. nodos naturales habere debet.
Siehe auch Dubois 531. 534. Man beachte bien formes im französischen Texte
als Übersetzung des potugiesischeu naturaes.
6) atudo {a tiido) die IIss. ; atado ist Hilkas Konjektur, Sie wird bestätigt
durch Faria y Sousa, Asia Portuguesa II, 4, 6, 8: Entregale (nämlich: der Guru
dem Novizen) una vara, con otro pedaco de pano de la misma suerte, atado en
la punta; y un sombrero de paja. — Man sehe das Fähnchen am Stabe des
Samnyäsi bei Sonnerat I 256 (Tafel 68).
26 Theodor Zachariae,
auf das portugiesische Original zurück. Überdies hat er seine
Vorlage an vielen Stellen gekürzt. Unter diesen Umständen dürfte
eine kritische Betrachtung von Manuccis Übersetzung wohl am
Platze sein. Auf den ersten Blick scheint es ja allerdings schwierig
zu sein, an Manuccis Arbeit^) Kritik zu üben, da das portugie-
sische Original nicht zugänglich , vielleicht sogar für immer ver-
loren ist. Dennoch erweist sich eine Kritik als ausführbar. Es
sind inmierhin einige Bruchstücke des Originals erhalten geblieben,
und vor allem lassen sich Manuccis Angaben meistens mit Hilfe
der genannten Paralleltexte kontrollieren.
Bei den folgenden kritischen Bemerkungen lege ich die Les-
arten der Berliner Handschrift zugrunde, und nicht Irvines Über-
setzung, da diese nicht immer zuverlässig ist. Fälle, wo ich Fehler
Manuccis nur vermute, lasse ich fast ausnahmslos beiseite. Fehler,
die bereits in seiner Vorlage gestanden haben könnten, darf man
ihm nicht zur Last legen.
Rudra, sagt der Portugiese (s. das Original in den GGrA. 1916,
600) erlangte von seiner Mutter Paräsakti die Macht, alles zu zer-
stören und zu vernichten , was seine Brüder , Brahma und Visnu,
erschaffen und erhalten haben würden (criassem e conservassem).
In der französischen Übersetzung richtig: auroient cre^ et conservö
(vgl. De la Flotte p. 201: Routr^n a la puissance de detiaiire et
d'an^antir ce que Brama a cree, et ce que Vichenou conserve);
falsch aber bei Manucci: tout ce que ses freres feroient et cree-
roient. Irvine macht daraus : all tbat his brother (Singular !) should
do or create; siehe Manucci III 6.
Nach der französischen Übersetzung (am Schluß des 4. Kapitels)
und nach De la Flotte 175 wird dem Visnu unter der Figur eines
Ebers Verehrung dargebracht. Manucci III 1 1 sagt das Gegenteil.
Nicht minder auffällig ist Folgendes. In der Erzählung von der
Zwerginkarnation (Manucci III, 1 2 f.) ist König Mahäbali bereit,
der Bitte Vispus um drei Fuß Land zu willfahren und zur Be-
kräftigung seines Geschenkes das Schenkungswasser über Visnus
rechte Hand zu gießen. Das sucht der Morgenstern (Sukra), der
Ratgeber Mahäbalis, zu hintertreiben: er dringt mit Hilfe der
Zauberkunst in den Ellbogen des Königs ein, um ihn am Gießen
zu verhindern. Dieser läßt den Ellbogen mit einem Stilett Öffnen;
1) Es ist möglich, daß die Übersetzung gar nicht von Manucci, sondern von
einem Anonymus herrührt. Da er sie aber für sein Eigentum ausgegeben hat, so
wird er die Verantwortung dafür tragen und sich eine Kritik gefallen lassen
müssen.
über die Breve Noticia dos erros que tem os Gentios do Concäo da India. 27
der Morgenstern wird bei dieser Operation eines Auges beraubt.
— Wie Manucci zu dieser Darstellung gekommen ist, ist nicht
abzusehen: hat er willkürlich geändert? Die frz. Übersetzung
Kap. 5 und De la Flotte p. 177 weichen durchaus ab. In diesen
Texten schlüpft der Morgenstern in die Kehle des Königs und
verschließt sie, 'afin que l'eau qu'il avoit d^ja dans la bouche n'en
put pas sortir' ^).
In den Geschichten, die von Kr§na erzählt werden, kommt bei
Manucci der Satz vor: apres s'estre mari^ avec deux femmes, il
(Chrisne) alla courir les bordeis avec seize mille Bergers (he
took to frequenting houses of ill fame along with sixteen thousand
cowherds; Irvine, Manucci III 16). ßergers, von Irvine nicht
beanstandet, muß ein Fehler für bergeres sein. Dies geht aus den
Paralleltexten (z.B. aus De la Flotte 184) hervor; überdies werden
die 16000 Frauen oder Konkubinen des Krsna im Harivaipsa und
in anderen Quellen erwähnt (Baldaeus 535. Ziegenbalg, Grenealogie
S. 99. Sonnerat I 169).
In der Sage vom Ursprung des Vinäyaka (Ganesa) bei Manucci
III 18 heißt es , daß Virabhadra den König Daksa Prajäpati und
viele Andere getötet habe, und daß Einige von den Überlebenden
dem Vinäyaka den Kopf abschnitten (il y en eust de ceux qui
etoient restez qui couperent la teste de Vinaigem). Dies ist ent-
schieden falsch, d. h. nicht aus dem portugiesischen Original stam-
mend. Virabhadra ist es, der dem Vinäyaka das Haupt abschlug;
siehe oben S. 13.
Als falsch wird es auch bezeichnet werden müssen, wenn Ma-
nucci III, 31 behauptet, der Meruberg werde von einem (einzigen)
Elefanten getragen; siehe GGA. 1916, 601.
1) Nach dem Bericht des Baldaeus (den schon Caland angezogen hat: Drie
oude Port. Verhandelingen S. 159) verstopfte der Planet Venus den Hals des
Wasserkruges, sodaß kein Wasser daraus laufen konnte (Baldaeus 488). Ganz
nahe steht die Religion des Malabars in der Inde Frangaise II, 21, ein Text, den
ich, weil er nicht leicht erreichbar ist, genauer mitteilen will. Bali schickte sich
an, dem Zwerg (Vis^u) Wasser auf die rechte Hand zu gießen: mais aussitöt le
gourou [Choukouren] s'introduisit dans le pot et en boucha l'ouverture avec sa
tete, pour empecher l'eau de couler. Le nain, ä qui cette ruse n'avait pa»
echapp^, poussa une paille dans Pouverture du vase pour le deboucher, et creva
un oeil au gourou. Weiter abstehend die Darstellung des al-Berüni (India Kap. 46 ,
Sachaus Übers. I 397): Venus brought in the jug, but had corked the
spout, so that no water should flow out of it, whilst sbe closed the hole in the
cork with the kusa-grass of her ringlinger. But Venus had only one eye; she
missed the hole, and now the water flowed out. — Andere, ältere Darstellungen
des Vorgangs sind mir nicht bekannt.
28 ' Theodor Zachariae,
Manucci III 33 sagt, daß die drei ersten Weltalter wahrhaft
goldne Zeitalter gewesen seien, u. a. wegen ihrer (langen) Dauer.
Aus den Paralleltexten ergibt sich aber, daß der portugiesische
Autor vielmehr 'la prodigieuse dur^e de lavied.es hommes
d'alors' betont hat. Wird doch auch nachher, auch von Manucci
selbst, beim Kaliyuga die Kürze des menschlichen Lebens
hervorgehoben.
Von der fünften Kaste (s. oben S. 12) sagt Manucci: ils la-
pellent dans leur langue, Chandalon ou negr e s. Irvine gibt (III 35)
negres mit blacks wieder. Ich glaube aber nicht, daß man ein
Recht hat, die Mitglieder der 5. Kaste vorzugsweise als 'Schwarze'
zu bezeichnen. Es sei nur verwiesen auf die Ausführungen in der
Relation des Erreurs N. Journ. Asiatique X 475, wonach die Ma-
labaren 'alle mehr oder weniger schwarz' sind. Dem sei wie ihm
wolle : Manuccis negres ist entschieden falsch. Die frz. Übersetzung
hat Niger, und das ist sicherlich auch die Lesart des Originals.
Tatsächlich kommt Niger vor in einem Fragmente des Originals,
das in der Religion des Malabars II, l angeführt wird. Dazu
tritt das Zeugnis des Fra Paolino, der in seiner Reisebeschreibung
S. 310 vgl. 288. 291 die geringeren Kasten Ciandala (Ciandaler)
oder Nisha (Nisher) nennt. Aber was ist und was bedeutet Niger?
Ich sehe Niger als einen Plural^) an, als einen Plural wie z. B.
Nastigiur (so zu lesen ; s. Manucci III, 44. IV 441 und vgl. Nax-
tagher, Lettres edifiantes XI 252); Raxader in der frz. Übersetzung
Kap. 19 (= Tamil hriksadar; s. Caland in den Drie oude Port.
Verhandelingen S. 201 und vgl. Fuwhaders bei Sonne rat I 189. 198);
bhüder bei Paulinus, Syst. Br. p. 298 ; Clwutrer, Bhaf/avadcr, Xatrier
u. s. w. im ßhagavadam p. 17. 19. 29. 58. Ich halte ferner Niger
für ein aus dem Sanskrit entlehntes Tamilwort; Niger ist = Skr.
nicäh , die Geringen, Niedrigen, Gremeinen, ^les gens de la plus
basse extraction', N. Journal Asiatique X475.
III 44 bezeichnet Manucci die Laksmi als die Mutter des
Visnu (von Irvine nicht beanstandet !). Diese falsche Angabe kann
Manucci nicht dem Original — das zufällig in der Religion des
Malabars II 19 überliefert ist — entnommen haben , denn hier
steht richtig: mulher. Um übrigens zu zeigen, wie schlecht Ma-
nucci unterrichtet war, bemerke ich, daß er III 350 sagt, Visnu
habe die Savati (Sävitri) o d e r Parvati (!) geheiratet. Auch III 338.
349 wird Sävitri als Visnus Frau bezeichnet.
1) Die frz. Übersetzung Kap, 17 gebraucht Niger auch als Singular und
büdet einen Plural Nigers.
über die Brcve Noticia dos erros que tern os Gentios do Concäo da India. 29
Ich gebe schließlich noch ein größeres Brachstiick des Originals
(aus der Religion des Malabars II 19) und stelle Manuccis Über-
setzung gegenüber (s. Manucci III 44 und vgl. De la Flotte 283 f.)»
Die von mir durch Sperrdruck hervorgehobene Stelle ist von Ma-
nucci entschieden mißvercitandon und falsch wiedergegeben worden.
Freilich wäre es möglich, daß in der Handschrift, die er benutzte,
die ursprüngliche Lesart nicht mehr rein erhalten war.
Breve noticia dos erros. Manucci (Berliner Hs.).
Para alcan^ar indulgentia plenaria Pour obtcnir indulgence pleiniere
de todos seus peccados, dizem ser de tous leur pechez, ils disent qu'il
necessaria huma bebida que Consta est necessaire d'avoir un breuvage
de leite, manteiga, tairo ^), orina et compose de lait, de beure, dvrine,
bosta de vacca, et com esta mesinha et de fiente de vache, et qu'avec
dizem se väo näo so os peccados, cette medecine non seulement tous
mas tambem todas infamias que les pechez s'en vont, mais aussi
vieräo^) a os Brahammes, os toutes les infamies, car alors les
quaes sös podem alcan9ar este ju- Bramenis iuterviennent , parce
bileo ; et säo obrigados a primeira que il n'y a qu'eux seuls, qui puis-
vez ^) quando se cazäo , quando a sent obtenir ce jubile, ce qu'ils sont
mulher tem o primeiro mes, et tarn- obligez de faire la premiere foi&
bem quando qualquer outro tem dia qu'ont se marie, quand les femmes
aziago^). Os homes que säo mais ont leur premier mois, aussi quand
spirituaes et que tem desprezado il arrive quelque jour malheureux.
todo o mondo, mandäo bostas a Les hommes les plus spirituels et
casa ^) antes de comer, et ali mesmo qui meprisent le monde, fönt frotter
1) Die Hss. schwanken zwischen cairo und tairo. Für richtig halte i<b
tairo, und sehe darin die indoportugiesische Form des Tamilwortes iatjir (the
common term in S. India for curdied milk. It is the Skt. dadhi , Hind. ddhi of
Upper India : Hobson-Jobson s.. v. tyre). Vgl. Tayrsamoutram, mer caillee Baga-
vadam p. 125; Tair ou lait caille Sonnerat I 171 n.; andre Stellen im Hobson-
Jobson 1. c. — . Manucci hat tairo ganz ausgelassen. Doch gibt er III, 346 die
Bestandteile des i^ancagavya {Jcslram dadhi iatJiä cäjyain mütram gomayam eva
ca) richtig an: düng, urine, milk, buttermilk, butter. De la Flotte nennt nur
3 Bestandteile. Die dem oben aus dem Original zitierten Bruchstück entsprechende
Stelle lautet bei ihm : Pour effacer les peche's les plus gravcs , il suffit encore
d'avalcr un breuvage compose de lait, de beurre et d'un peu de bouze de
vache. Les Brames sont Obligos d'user une fois de cette boisson, quand ils se
marient, ou quand leurs femmes ont leurs premiers mois.
2) 'die den Brahmanen zustoßen (werden)'. Manucci scheint das Dativ-
zeichen a vor OS Brahammes übersehen zu haben. [Hilka.]
3) Irvines Übersetzung der Stelle: 'It (the jubilee) is obligatory when marrying^
for the tirst time' ist ungenau.
4) Die Hss. : outra endia {India) aziado. Die Herstellung des Textes nach
einem Vorschlage Hilkas. Manucci las vielleicht entra 'tritt ein' statt outra.
5) Hier ist wohl das Verbum esfregar 'reiben' ausgefallen. [Hilka.]
30 Theodor Zachar iae,
sem outro prato nem sal se ^) man- la maiaon avec de la fiente de vache
däo laiiijar o que ande [sie] comer, avant que de manger, et la meme
e comem. sans autre ceremonie fönt servir leur
repas et mangent.
Ich wende mich zu Irvines Übersetzung von Manucci
im — 76. Die Berliner Hs., worauf sich die Übersetzung gründet,
ist sehr gut geschrieben und fast fehlerfrei. Dennoch ist es Irvine
nicht gelungen, eine ganz einwandfreie Übersetzung herzustellen.
Das hat z. T. offenbar darin seinen Grund, daß die Kopie der Hs.,
die sich Irvine hat anfertigen lassen, nicht immer genügte.
Die indischen Wörter und Namen erscheinen bei Irvine öfters
nicht in der Grestalt, wie sie die Hs. bietet; auch ist die Zurück-
führung auf die entsprechenden Sanskritwörter nicht immer ge-
lungen. Manucci III 8 nennt, sonderbar genug und sicher nicht
in Übereinstimmung mit dem Original, die dritte Kaste Ca tharis
ou Marchands boutiquiers. Irvine setzt Catharis = Khatris, Ksha-
triyas. Das erste Äquivalent mag richtig sein (vgl. Baines, Eth-
nography p. 34) ; das zweite ist falsch. III 30 Saladaland ist nicht
= Sutala, sondern Talätala; Backchadaland nicht = Grabhastimat,
sondern Easätala; Chuduland nicht = Nitala, sondern Sutala.
Falsch ist die Gleichung Parubravastu = Parama-vastu III 24.
Die Worte -'the reason of which I will here state' 1118,5
V. u. sind irreleitend. Nicht hier, sondern erst nachher {cy
apres hat die Hs. !) wird der Grund angegeben, weshalb Brahma
keine Tempel hat; s. III 11. Woher Irvines 'king of penitent
monks, called Mongis' (III14 vgl. IV 563) stammt, ist mir un-
klar. In der Hs. steht: *une sorte de moines penitens qu'ils apel-
lent Mongis\ Ob Irvines Q-leichsetzung von Mongis mit mimi richtig
ist, weiß ich nicht. Die Paralleltexte (frz. Übers. Kap. 6 und De
la Flotte 179) lassen uns hier ganz im Stich. III 24 wird von
Rudra gesagt: 'he has numerous mistresses'. In der Hs. steht
aber *ils (nämlich die Bewohner des Kailäsa) ont une grande
quantitö de maistresses'. Übrigens liegt der Verdacht nahe, daß
Manucci hier falsch übersetzt hat (vgl. Kap. 11 der frz. Über-
setzung). Nach S. 29 sollen von den 14 Welten 7 über und 6
unter dieser Erde liegen. In der Hs. heißt es aber: 'sept au
dessous de la terre et six au dessus'. Ebenso falsch und gegen
die Hs. ist die Angabe S. 30, daß sich unter der irdischen Welt
(dem hhüJoha) die Luftwelt (der hhuvarlolca) befinde. S. 30, 4 v. u.
heißt es vom Janaloka, der Welt der Eiesen : 'in which place there
1) So nach Hüka; die Handschriften: nem falsa mandäo.
über die Breve Noticia dos erros que tem os Gcntios do Concäo da India. 31
are many such, of all degrees'. Das ist keine richtige Wieder-
gabe der handschriftlichen Lesung: 'dans lequel lieu il y en a
beaucoup de toutes sortes d' E s t a t s'. Vgl. die frz. Übers. Kap. 14 :
*lä on trouve des personnes de toutes Tribus, et de tous etats'.
Nach S. 31 soll das Gewicht des goldnen Meruberges 24 Karat
betragen. In der Hs. steht aber deux cents quatre vingt, in Über-
einstimmung mit S. 10, wo dieselbe Zahl gegeben wird. Im por-
tugiesischen Original stand wahrscheinlich eine viel höhere Zahl :
12080; wenn der Relation des Erreurs zu trauen ist (s. GGrA. 1916,
601). In dem Abschnitt über die Grußformen S. 38 heißt es, daß
sich ein Brahmane, wenn er eine Person besucht, ohne irgend-
welchen G-ruß hinsetzt und während der Unterhaltung Titel wie
^Herrlichkeit', 'Exzellenz' u. s. w. gebraucht. So die Hs. (auch De
la Flotte 267 : il traite la personne qu'il visite , de seigneurie,
d'excellence, etc.). Aber Irvine übersetzt : the host accords him
(dem Brahmanen) the titles of lordship or excellency. Auch S. 58
The next day they rub oil on the head of the bride ist gegen
die Hs. , wo la teste du marie steht. S. 72, 18 they bathe the
body: die Hs. liest levent le corps, nicht lavent. S. 72, 3 v. u.
the deeeased: in der Hs. steht la mort (ebenso bei De la Flotte
310).
Diese Beispiele mögen genügen, um zu zeigen, daß Irvine nicht
immer richtig übersetzt hat. Wie schon bemerkt, erklärt sich das
Meiste von dem, was ich habe aussetzen müssen, wohl aus der
Mangelhaftigkeit der Kopie der Berliner Hs., die Irvine ins Eng-
lische übertrug. Dies gilt namentlich auch von den folgenden
beiden Fällen, die ich etwas ausführlicher besprechen möchte.
Was auf S. 18 zu lesen steht: 'He (Rudra) in bis rage drew
forth^) a horse-whip and struck it on the ground with all bis
strength, and by force of bis blow there was born instantly a
giant' (nämlich Virabhadra), ist durchaus gegen die sonstige Über-
lieferung. Nach dem Bhägavatapuräna bei Muir 0. S. T^. IV 382
ist der Gegenstand, den der erzürnte Siva auf die Erde wirft,
«ine Haarlocke (vgl. Bagavadam S. 103 f. ; Taylor, Cat. Raisonne
III 101). Dieselbe oder eine ganz ähnliche Überlieferung in der
Religion des Malabars I 17 (Inde Francaise II 16) , bei Faria y
Sousa, Asia Portuguesa II 4, 1, 15 (De lacabellera de Ixora
derramada por el suelo nacio Virapatrem) uud bei Polier (WZKM.
-23, 226). Es gibt allerdings auch noch andre Berichte über den
1) Die Handschrift hat: se tira. Dieses se kommt in Irvines Übersetzung
nicht zu seinem Recht.
32 Theodor Zachariae,
Ursprung des Virabhadra *). Daß aber der Verfasser der Breve
noticia der eben angegebenen Überlieferung gefolgt ist, erhellt aus
der französischen Übersetzung Kap. 8: s'arrachant une poignee
de cheveux. Manucci wird also seinem Schreiber schwerlich
fouet de chevaux in die Feder diktiert haben, was man doch
nach Irvincs Übersetzung annehmen müßte. In der Tat lautet
auch die Lesung der Hs. ganz anders, nämlich: couet^) de che-
veux, 'Haarschopf. Die Schuld an Irvines Übersetzungsfehler
trägt ohne Zweifel der Abschreiber der Handschrift. Es ist we-
nigstens sehr unwahrscheinlich, daß Irvine die richtige Lesart vor
sich gehabt, sie zu fouet de chevaux umgeändert und danach über-
setzt hat. Denn der Ausdruck couet de cheveux kehrt noch dreimal
in der Hs. wieder (S. 108. 112. 113) und wird von Irvine richtig
mit 'lock of hair' oder 'tail of hair' übersetzt (s. Manucci III 3L
39. 40).
In dem Abschnitt über die Hochzeitsbräuche der Brahmanen
S. 56 erscheint ein Wort scuderis in dem Satze 'He (the brother
of the bride) seats her on a scuderis\ Die Erklärung dieses sonder-
baren Wortes hat Irvine und seinen Mitarbeitern viel Kopfzer-
brechen, und zwar, wie wir sehen werden, unnötiges Kopfzer-
brechen verursacht. Irvine will das Wort vom lateinischen sudarium
ableiten. Er fügt hinzu : I have seen sudaris used in Scotch ^) for
a handkerchief; but, quoting Padfield. 'Hindu at home', p. 123,
Mr. Frazer points out that 'the bride is brought out seated in a
kind of wicker basket', not on a handkerchief. Das Zitat aus
Padfield beweist nicht das Greringste für die Bedeutung des Wortes
scuderis. Ferguson (s. Manucci IV 441) meint, scuderis sei identisch
mit dem einheimischen Wort gudrl a quilt (s. Hobson-Jobson s. v.
1) Virabhadra springt bewaifnet aus Sivas drittem Auge hervor: Germann
zu Ziegenbalg, Genealogie S. 168; Arunäcalapuräna bei Taylor, Cat. Raisonne
]II, 140. Oder er entsteht aus dem Schweiß, der dem erzürnten ^iva auf der
Stirn ausbricht: Ziegenbalg S. 166 (aus dem Skandapuräi:ia) ; Rogerius, Open-
Deure II 2 p. 91 ed. Caland; Sonnerat, Voyage I 183 f.; Jouveau-Dubreuil, Archeo-
logie du Sud de l'Inde II 50 (legende tamoule). Oder er geht aus Öivas Mund
hervor : Väyupuräpa I 30, 122,
2) Cotiet in der Bedeutung 'Haarschopf' fehlt in den Wörterbüchern. Das
Wort ist die Diminutivform von altfrz. coue (nfrz. queue; lat. cauda). Zur Be-
deutung vgl. it. coda Zopf, frz. queue Haarzopf (der Männer), span. coleta Haar-
zopf, und namentlich, worauf mich Prof. Hilka hinweist, couette im Supplement zu
Sachs- V illatte : ^couettes de cheveux, Haarlockchen an den Schläfen und hinten
am Halse'.
3) Vgl. Donaldson, Supplement to Jamieson's Scotch Dictionary, p. 231.
über die Breve Noticia dos erros que tem os Gentios do Concäo da India. 33
goodry) ^). Irvine verweist dazu auf Manucci III 70 , wo es heißt,
daß die Braut auf eine Matte gesetzt wird (was auch sonst vor-
kommt; vgl. z.B. Fra Paolino, Eeise 280. Thurston, Gastes V 482).
Auch mit diesem Zitat wird nichts bewiesen. Überdies ist auf
S. 70 von den Hochzeits brauchen der 'Diebe'; S. 56, wo scuderis
steht, von den brahmanischen Hochzeiten die Rede.
Das Wort scuderis zerfließt vor unseren Augen in nichts, wenn
wir den Paralleltext De la Flotte S. 290 f. herbeiziehn, der Irvine
und seinen Mitarbeitern leider unbekannt geblieben ist. Hier lesen
wir: Un des plus proches parens de la fille la prend entre ses
bras et la porte sur un monceau de riz. Es ist also klar, daß
wir scuderis in scii de ris zerlegen müssen. In der Berliner Hs.
endlich ist ganz deutlich sac ^) de ris geschrieben. Dies ist also die
richtige Lesart, wenigstens für Manucci. Ob sie auch der Lesart
des Originals genau entspricht, ob nicht vielmehr De la Flotte mit
seinem monceau de riz das Original genauer wiedergegeben hat,
ist nicht leicht zu sagen. Denn in den Berichten über die Hoch-
zeitsbräuche lesen wir zwar nicht selten von Reis häufen, worauf
die Braut (oder das Brautpaar) sitzt oder steht; es ist aber auch
die Rede von Reispäckchen, oder von Körben, die mit Reis gefüllt
sind ^j.
Die Erläuterungen, mit denen Irvine, von verschiedenen
Gelehrten unterstützt, seine Übersetzung ausgestattet hat, sind
ungenügend. Vieles, was hätte erklärt werden sollen, wird nicht
erklärt ; und die Erklärungen , die gegeben werden , sind nicht
selten verfehlt. Schwerlich richtig sind die von Frazer und Bamett
beigesteuerten Erklärungen von Larres S. 20 (= Laris bei De
la Flotte 192). Professor Hultzsch verweist mich auf das Diction-
naire Tamoul-Francais s. v. llädar, wo dieses Wort (ein Plural) zu
Skr. Lata gestellt und mit 'peuples — , yoghis de Guzerate' erklärt
1) Derselbe Ferguson erklärt das bei Manucci III 339 vorliegende Wort
ramade (a sort of four-cornered tent) für ein T a m il w o r t ; s. Manucci IV 454.
Es ist aber viel wahrscheinlicher, daß ramade, wie auch Irvine bemerkt, ein por-
tugiesisches Wort ist (ramada). Übersehen hat Irvine: Baldaeus 408, wo iJa-
made und Pandaal (oder 'Himmel-läube') als Synonyma erscheinen.
2) Über dem Worte sac scheint sich eine Rasur zu befinden.
3) Indian Antiquary 24,228 (The Chitpävan bride and bridegroom stand on
rice heaps). Thurston, Ethnographie Notes p. 29. 70. 78; Gastes and Tribes
I 283. 284. 357. II 138. Jolly, Über einige indische Hochzeitsgebräuche (Album
Kern, Leiden 1903) S. 180. Siehe auch Crooke, Populär Religion and Folk-Lore
of Northern India II 26 f.
Kgl. Oes. d. Wiss. Nachrichten. Phil.-hist. Klasse. 1918. Heft 1. 3
34 Theodor Zach ariae, Über die Breve Noticia usw. '
wird^). Der Name der Sekte (? die Handschrift hat sexte) Vanan-
gamory S. 38 (vgl. De la Flotte 267 n.) ist nur in seinem ersten
Bestandteile von Frazer richtig erklärt worden. Der zweite Teil
des Wortes ist nicht = Tamil mori 'Wort', sondern mudl 'Haupt'.
Das Dictionnaire Tamoul - Fran^ais erklärt Vanangä - miidiyati mit:
'Douryodhanen qui ne plia jamais la tete pour saluer personne,
QU pour sesoumettre; celui qui ne salue, ne respecte per-
sonne'. Die Identifikation der Nastiguer (so, nicht Nostiguer,
ist mit der Handschrift zu lesen) S. 44 mit den Jainas hätte
nicht als zweifelhaft hingestellt werden sollen. Werden doch zwei
Eigentümlichkeiten dieser Nastiguer (= nästikäh) hervorgehoben,
die für die Jainas charakteristisch sind. Einmal wird gesagt, daß
sich die Nastiguer den Bart nicht rasieren lassen, sondern die
Haare mit einer kleinen Zange ausreißen. Man denkt sofort an die
iSvetämbara Jainas, die das Haupthaar durch Ausraufen entfernen
{liiTlcitamürdhajäh WZKM. 16, 37). Ferner heißt es , daß man die
Nastiguer nicht essen sehen darf; sie selbst dürfen, wenn sie essen,
keine menschliche Stimme hören; daher lassen sie während des
Essens ein kupfernes Gefäß vor ihrer Tür anschlagen. Das ist
also ungefähr das, was ßühler von den Digambaras berichtet: At
their meals they sit perfectly naked, and a pupil rings a bell
to keep off all strangers (Indian Antiquary VII 28; vgl.
dazu W. Crooke, Populär Religion 1293). Der Name, den die
Einheimischen der Witwe geben, bedeutet nach Manucci wörtlich
*la femme qui a coup4 le Taly'. Frazer bei Irvine zu Manucci
III 71 bemerkt dazu: 'There is no special word'. Das Tamilwort
für Witwe, das Manucci (oder vielmehr der Verfasser der Breve
Äoticia dos erros) im Auge hat, lautet, wie mir Herr Prof. Hultzsch
mitteilt, täli-y-arutt-aval.
1) Über die Sekte der Larres (Larer, Lader) vergleiche man die Hallischea
Miseionsberichte I 378. III 309. 805 und die Inde Frangaise II 68 n. 5 (Quelle :
die Relation des Erreurs?) sowie den erläuternden Text zu Lieferung 19, Tafel 6.
Die vedischen Worte für „schön" und „Schönheit"
und das vedische Schönheitsgefühl.
Von
H. Oldonberg.
Vorgelegt in der Sitzung vom 8. Februar 1918.
Für die Erkenntnis davon, wo das vedische Indien Schönheit
gesehen hat und wie es sie gesehen hat, ist es zuvörderst wichtig
die bezüglichen sprachlichen Ausdrücke zu betrachten, wobei es sich
empfiehlt, mehrere nur benachbarte, auch einige nur scheinbar
hierher gehörige mit zu berücksichtigen. Auf jene eben bezeich-
neten Hauptfragen selbst dann wenigstens kurz einzugehen möchte
ich mir nicht versagen.
1. An die Spitze stelle ich das hier offenbar in erster Linie
in Betracht kommende Wort: srt mit dem zugehörigen und, wie
sich von selbst versteht, sehr deutlich auch als zugehörig empfun-
denen sreyas, srestha ^). Bekanntlich sind diese Worte so gut
awestisch wie vedisch. Wenn Rv. VI, 41, 4 vdsyän — sreyän neben
einander steht und es in den jüngeren Veden heißt yäthä nah
sreyasah Jcdrad, yäthä no väsyasah Tcdrat (Ts. I, 8, 6, 2 und Parallel-
1) Vgl. snye sreyämsalt Rv. V, 60, 4 ; srestlialt, . . . sriyd II, 33, 3. S. auch
Ait. Br. V, 22, 5 ; Sat. Br. III, 4, 2, 2 ; XI, 1, 6, 23 ; XII, 4, 1, 11 und sonst sehr häufig.
Hier führe ich auch den bekannten Vers aus der Suöahsepaerzählung an: nänä
sräntäya snr asti . . . päpo nr^advaro janalb (Ait. Br. VII, 15, 1): in den geläufigen
Gegensatz von §reyän und päpiyän ist statt des ersteren snlli eingetreten. Die-
selbe Zusammengehörigkeit von Nomen und Steigerungsgraden kommt im Awesta
zum Ausdruck, s. Bartholomae WB. unter sräy-. Ich bemerke noch, daß ich
in der folgenden Untersuchung über sri nicht im Einzelnen Stellung nehme zu
den Auflassungen von Pischel, Ved. Stud. I, 53 f. Sie beruhen auf seiner An-
schließung von sri an Wgl. sri- ; daß die irrig ist, wird, hofi'e ich, durch die Ge-
samtheit der folgenden Erörterungen bewiesen.
3*
36 H. Oldenberg,
stellen), so zeigt die übereinstimmende, im Awesta mehrfach be-
legte Verbindung von sraesta mit vahista^ srayan mit vanhan^ daza
der Eigenname Sriräva'»hu, daß hier indoiranische Denk- und Rede-
weise vorliegt.
Wie später sn die Vorstellung zugleich der Schönheit und
der Wohlfahrt in sich schließt, so berühren sich diese beiden
Nuancen auch im vedischen Gebrauch des Worts. Es ist wichtig
ihr Verhältnis klar zu stellen. Der Forscher, der sich wohl zuletzt
darüber geäußert hat, Geldner (Glossar), setzt als Grundbedeu-
tung an „Auszeichnung, Vorrang" und gelangt von da zu den Be-
deutungen a) „Schönheit, Pracht", pl. „Putzsachen, Zieraten,
Herrlichkeiten", b) „hoher Rang, Ehre, Herrlichkeit, Glück, Reich-
tum, pl. Glücksgüter, Reichtümer". Ich habe meine Bedenken
gegen den Versuch , die mit einem Wort wie diesem verbundene
Vorstellung in ihrem konkreten Leben und mit der ihr eignen
Färbung durch eine solche Häufung deutscher Worte, wie sie in
der lexikographischen Praxis ja nun einmal üblich ist, zum Aus-
druck zu bringen. Die Nuancen, die es wiederzugeben gilt, lassen
sich, wie ich meine, oft mit andern Mitteln genauer erreichen, als
durch derartige über allzu unbestimmte Weiten sich verstreuende
Wortmassen : ich denke vielmehr an eine in die Form einer bloßen
Wortübersetzung nicht faßbare Beschreibung des Vorstellungs-
bildes. Bei andern der zu untersuchenden Worte werde ich Ge-
legenheit haben hierauf zurückzukommen. Spezielle Zweifel aber
erweckt mir das eben wiedergegebene Bedeutungsarrangement. Zu
ihrer Begründung gehe ich von der Vergleichung des Awesta aus.
Werden da verschiedenste Wesen als srtra beschrieben, so erscheint
m. E. als ungezwungener Bedeutungsansatz, wie es auchBartho-^
lomae (WB.) ansieht, einfach „schön". Wenn das Mädchen, in
d essen Gestalt Ardvl Sürä Anähitä erscheint (Yt. 5, 64), das Pferd,
n dessen Gestalt TiStrya erscheint (Yt. 8, 18), srira ist, wenn die
Arme der Göttin srua und weiß heißen (Yt. 5, 7) , und an vielen
gleichartigen Stellen, deutet nichts dahin, daß etwas andres als
jene Bedeutung anzunehmen ist: wobei es sich, wie Bartho-
lomae zeigt, überwiegend um Schönheit von Sichtbarem, daneben
dann von Hörbarem handelt. Im Einklang damit nun tritt, wifr
ich glaube, auch in den rgvedisclien Belegen so vielfach und viel-
seitig das Moment der Schönheit hervor und anderseits fehlt es so
entschieden an speziellen Indizien der einen Vergleich mit Andern
einschließenden Vorstellung von Auszeichnung und Vorrang^), daß
1) Bei sre?tha sre§thatama haftet das Moment des Vorrangs offenbar am.
Superlativ, nicht am Wortstamm.
Die vedischen Worte für „schön" u. „Schönheit" u. d. vedische Schönheitsgefühl. 37
ich allein in der ersteren die wahrscheinliche Hauptbedeutung des
indoiranischen und rgvedischen srt erkennen kann: wobei sich von
selbst versteht, daß, wenn wir von „Schönheit" sprechen, zunächst
vorbehalten bleibt, wie weit sich die Vorstellung der Alten, der
wir kurzweg jenes Wort anheften , mit unsrer Schönheits Vorstel-
lung deckt.
Ich mustere nun zur Begründung und näheren Präzisierung
des Gresagten die Belege des Rv. durch und hebe zuvörderst die
stattliche Reihe von Stellen hervor, an denen Ableitungen von drs-
die Beziehung der sri auf erfreulichen Anblick erweisen. So
VII, 15, 5 spärhä ycisya sriyo drse ; X, 45, 8 drsänö ruhmd itrviyä
vy adyaut und gleichfalls mit Erwähnung des riihnd IV, 10, 5 tdva
svädisthägne sdmdrstih . . . sriye riihnö nd rocata upäJce (wozu man
noch vergleiche I, 188, 6 surukme hi supesasädhi sriyd virdjatah) ;
II, 1, 12 tdva spärhe vdrna d samdrsi sriyah ; IV, 1, 6 nsyd sresthä
suhhdgasya samdrk; 1, 122, 2 süryasya sriyd siidrsl hiranyaih; IV, 23, 6
sriye sudrso vdpur asya sdrgäh ; V, 3, 4 tdva sriyd sudrso deva devah ;
V, 44, 2 sriye sudrsih; IV, 36,7 srestham vah peso (zu diesem Wort
vgl. das eben angeführte T, 188, 6 ; auch V, 57, 6 vUvä vah srir ddhi
tanusu pipise ; X, 1 10, 6 ddhi sriyam siikrapisam dddhäne) ddhi dhäyi
darsatdm ; VI, 63, 6 yuvdm snbhir darsatdbhir äbhih suhhe pustim
uhathuh sürydyäh; X, 91, 2 sd darsatasrir dtithir grhe-grhe. Das
Obige zeigt, wie mit dem Leitmotiv drs- sich andre verwandte
verbinden, die alle, wie ruJcmd^ pis-, pesah, auf Schönheit der Er-
scheinung deuten. Ich füge weiter zunächst einige Stellen hinzu,
in denen jedesmal die Vorstellung von Licht oder Grlanz auftritt.
1, 87, 6 sriydse Mm hhänühhih sdm mimilcsire ; VII, 77, 5 asme sresfhebhir
hhämlbhir vi bhähi; X, 91, 5 tdva sriyo varsyäsyeva vidyiitas citrds
ciJätra usdsäm nd ketdvah; I, 113, 1 iddm srestham jyötisäm jyotir
ägäc citrdh praketö ajatiista vibhvä; I, 92, 6 sriye chdndo nd smayate
vibhäti; V, 61, 12 yesära sriyddhi rödasi vibhrdjante ; IV, 5, 15 asyd
sriye . . . dmJcam ddma a ruroca. Weiter mit der schon im Obigen
mehrfach begegnenden Hindeutung auf Sichreinigen, Sichschmücken
u.dgl.: V, 3, 3 tdva sriye mar üto marjayanta; VIII, 7, 25 subhrd
vy änjata sriye (das Schlagwort subh- wie oben VI, 63, 6, unten
VII, 72, 1) ; X, 77, 2 sriye mdryäso (die erscheinen auch V, 59, 3,
s. unten) anjtnr aljnvata; IV, 22, 2 sriye pdrusnim u§dmäna ürnäm^).
Sodann folgende verschiedenartige, durchweg dem Vorangehenden
1) Auch daß Indra den Vajra in die Hände nimmt, geschieht sriye I, 81, 4:
die Phantasie ist natürlich geneigt, den Gott als durch alles, was zu seinem Auf-
zuge gehört, geschmückt anzusehen.
38 H. Oldenbcrg,
und unter einander sich ungezwungen anschließende Stellen : 1, 179, 1
minäti sriyam jarima tammäm, wo die ganze Situation des Gresprächs
von Agastya und Lopamudrä auf „Schönheit" deutet; mit tanü
auch VII, 72, 1 spärhdyä sriyä tanvä suhhänä (snhh- wie mehrfach
oben) und I, 88, 3 sriye Mm vo ddhi tanusu vdsih (s. auch sogleich
X, 85, 30) ; VIII, 20, 12 änlkesv ddhi sriyah (cimka auch oben IV,
B, 16); V, 59, 3 gäväm iva sriydse srngam uttamdm . . . mdryä iva
sriydse cetathä narah. Umgekehrt mit asnrd: VI, 28, 6 asrirdm cit
krnuthä suprdtikam (diese Stelle mit prdtika halte man neben die
erwähnten mit dnilca) ; im Zusammenhang mit dem befleckten Braut-
hemd ^) X, 85, 30 asrirä tanür (dies Subst.^ wie mehrfach oben) hha-
Nach allen diesen Stellen scheint mir klar, daß der Besitz
der Sri für die rgvedische Vorstellung in erster Linie nicht sowohl
ein Hervorragen, Ausgezeichnetsein, als vielmehr wohlgefällige
Erscheinung bedeutet. JDer asnrd, der von seinem Mißgeschick
befreit wird (VI, 28, 6), wird dadurch nicht etwa unter den andern
hervorragend, sondern er wird suprdtlka. In mannigfachsten Formen
spezialisiert, mit den verschiedensten andern Schlagworten sich
verbindend, bald auf das der Person an sich innewohnende gute
Aussehen hinweisend bald auf Greschmücktheit : so zeigt sich die
Bedeutung „Schönheit" bz. „schön" als die beherrschende und in
ihrer Übereinstimmung mit dem Awesta als die indoiranische Haupt-
bedeutung des Worts ^).
1) Nicht unähnlich der Verbindung, in der sn Brb. Ar. Up. VI, 4, 6 erwähnt
wird.
2) Über die dritte Stelle mit nsrlrä VIII, 2, 20 asnrd iva jdmätä ; vgl. P i s c h el ,
Ved. Stud. II, 77^ff., wage ich kein sicheres Urteil. Ich vermute, daß es sich um
einen Schwiegersohn handelt, der wegen seiner häßlichen Erscheinung (oder seiner
wenig glänzenden Lebenslage ? s. die weiteren Ausführungen über sri) im Hause des
Schwiegervaters unbeliebt ist und sich von dort fern hält. Der Bedeutungsansatz
„unnobel" scheint mir unbegründet.
3) Dazu stimmt auch die Auswahl der Götter, denen derRv. sri beizulegen
pflegt. Im allgemeinen sind die Götter überhaupt als solche den Sterblichen an
sri überlegen: wenigstens VI, 48, 19 wird das ausgesprochen. Unter ihnen aber
finden offenbar Unterschiede statt. Agni mit seiner leuchtenden Erscheinung tritt
als Besitzer von sri besonders hervor. Ferner die Maruts mit ihrem prächtigen
Aufzuge und die Asvin in ihrer Jugendschönheit, durch die sie die Sonnentochter
gewinnen, weiter Ugas. Es scheint bezeichnend, daß Indra zwar mehrfach sri
beigelegt wird, diese aber doch, wenn ich mich nicht täusche, im Verhältnis zur
Ausdehnung der an ihn gerichteten Lobpreisungen mehr zurücktritt. Auch für
Varupa ist offenbar die sri nicht charakteristisch. Wenn es sich um hohe, andern
überlegene Stellung im Weltdasein handelte, wäre das schwer verständlich. Daß
Püsans sri gelegentlich von des Sängers Höflichkeit betont wird, mag damit zu-
sammenhängen, daß es bei ihm besonders nah lag sie zu vermissen. Dem Soma
Die vedischen Worte für „schön" u. ^Schönheit" u. d. vedische Schönheitsgefühl. 39
Zur weiteren Charakteristik der Vorstellung weise ich zunächst
auf die Häufigkeit des Plurals hin; gern ist von den visväh sriyah
jemandes die Rede. Daß bei solchem Plural konkret an „Putz-
sachen, Zieraten" gedacht sei (Geldner, Griossar), glaube ich kaum ;
ich finde dafür keinen Anhalt, der z. B. in den Stellen über den
Prunkaufzug der Maruts schwerlich fehlen würde. Vielmehr ver-
stehe ich die visväh sriyah nach Art von visvani paümsyä, amrtäni
visvä, Ji'ävyäni visvä: es ist die Gesamtheit der Schönheitspotenzen
gemeint, die dem schönheitbegabten Wesen anhaften. Bezeichnend
ist V, 57, 6 : rstdyo vo mariito cmsayor adhi sdha öjo hähiör vo hälam
hitdm, nrmnä sirmsv äyudhä rdthesu vo visvä vah srir ädld taniim
pipise: also ähnlich wie auf dem Streitwagen die Waffen, befinden
sich die Schönheitskräfte einem Schmuck gleich auf den göttlichen
Leibern. Das hier erscheinende ädhi kehrt in diesem Zusammen-
hang häufig wieder : ämJcesv ädhi sriyah , visvä ädhi sriyo \Uiita,
soptö ädhi sriyo dhire usw.; es scheint danach, daß die sriyah als
auf dem Körper ruhend vorgestellt wurden ^). Auch ädhi ni dadhuh
findet sich I, 72, 10, vgl. 43, 7. Es ist ja bekannt, wie die alter-
tümliche vedische Vorstellungsweise die Eigenschaften der Wesen
oder Dinge zu Substanzen verkörpert , denen ein gewisses luftig
konkretes, mystisches Eürsichsein zukommt. Das Satapatha Bräh-
maria XI, 4, 3, 1 erzählt, wie die srl des Prajäpati , durch dessen
Tapas vertrieben, aus ihm herauskam (iidalcrämat , hier also ihm
innewohnend gedacht). Sie stand leuchtend, glänzend, wogend da
als ein göttliches Weib.
Doch von diesen Bemerkungen über die Daseinsform der srt
müssen wir noch weiter auf den rgvedischen Gebrauch des Worts
zurückkommen. Bisher nicht erwähnte Verbindungen, in denen es
erscheint, schließen sich leicht an die beschriebenen an. Neben
der weitaus vorherrschenden Verwendung für Schönheit des Sicht-
baren kann es sich auch um Hörbares handeln : X, 95, 6 sriye gdvo
nä dhcnävo ^navanta. Weiter werden geistige Wesenheiten wie
dälsa X, 31, 2, Handlungen oder Wirkungen wie saxä I, 164, 26,
sdvfman VI, 71, 2 = X, 36, 12, dvas VIII, 9, 13 als sreyas oder
sristla bezeichnet. Im Hinblick auf die weitere Entwicklung der
.stZ- Vorstellung verdienen besondere Beachtung die Stellen, an
denen Dinge wie rayi, värya, drävina, hhöjana (V, 82, 1) als srestha
(auch rmji als susri IX, 43, 4) bezeichnet werden. Auch hier reichen
wir leicht mit der ungefähren Bedeutung „schön" : wie man auf
schreiben einige Stellen sri zu; bei ihm greifen die durch das Schlagwort snnäti
bezeichneten speziellen Fragen ein, von denen unten zu sprechen ist.
1) So wird auch gern von Sichbekleiden mit sri gesprochen (II, 10, I;
111,38,4; IX, 94, 4).
40 H. Oldenberg,
dem Wort Iphigeniens, daß die Götter dem Vater „die schönen
Schätze^ erhalten haben, natürlich keinen Bedeutungsansatz etwa
„schön" = „reichlich" aufbauen wird. Bezeichnend ist VII, 15, 5
spärhä yäsya sriyo äfse rayir vlrdvato yathä: man sieht, wie hier
die schöne Erscheinung Agnis mit der Schönheit von Reichtum
verglichen wird^). Nun bleiben, an solche Stellen doch wohl an-
zuschließen, Äußerungen folgender Art übrig : I, 43, 7 asme soma
sriyam ddhi ni dheJä satdsya 7irnäm, mähi srävas tuvinrmndm; 1, 188, 8
tä (die Gröttinnen Bhärati usw.) nas codayata sriye] V, 79, 4 dich
Usas preisen maghair magJioni susriyah ; VIII, 8, 17 Tcrtdm nah susriyo
narä ; VI, 26, 8 Prdtardanih Jcsatrasrtr astu srestho gJiane vrtränäm
sandye dhdnänäm ; Käth. XXXVIII, 2 tesäm (der Ahnen) srir mdyi
Jcalpaiäm. Offenbar handelt es sich da nicht um körperliche Schön-
heit. Wenn wir die Weiterentwicklung der Bedeutung von sri im
folgenden Zeitalter (s. unten) berücksichtigen , die sich m. E. hier
anspinnt, werden wir wahrscheinlich finden, daß glänzende Lebens-
stellung gemeint ist. Ist aber nicht deutlich, daß von der Haupt-
bedeutung ein leichter Weg — wenn man überhaupt von einem
solchen sprechen will — hierher führt? Die „Schönheit", die dem
vedischen Sänger vorschwebt , hat offenbar einen starken Anflug
von Grlanz, Prunk, Greschmücktheit ; das gebt aus den oben beige-
brachten Stellen hervor. Statt „schön" könnte man auch versucht
sein „ansehnlich" zu sagen. Zu den Wesenheiten, die „schön" zu
heißen pflegen, gehört Besitz, Reichtum. Ist es da nicht natürlich,
daß das glänzende, prunkreiche Dasein dessen, der im Leben obenan
steht, ebenfalls als sri erscheint^)? —
Ehe wir den Rgveda verlassen, muß noch der besonderen,
schwierigen Probleme gedacht werden, welche die Beziehung der
sri auf den Soma bietet. Sie hängen eng mit etymologischen
Fragen zusammen.
Wo von der Versetzung des Soma mit Milch u. dgl. die Rede
ist, wird bekanntlich oft das Verb sri- gebraucht (snnanti, srinitaj
srtndn, srmändh] richtiger der Überlieferung entgegen, mit der ge-
wohnten Änderung *srin^ zu schreiben; dann sntd^). Der Beisatz
1) So wird rayi, drävina u. dgl. gern als citrd bezeichnet, rayi ist auch
candrä, dyumänt\ die pu^ti ist sudfsi IV, 16, 15, u. dgl. mehr.
2) Gehört hierher auch die schwierige Stelle isur nä sriyd isudheh X, 95, 3,
wo, wie es scheint, das nächtliche Aufspringen des Purüravas mit dem Zumvor-
scheinkommen eines Pfeiles aus dem Köcher verglichen wird? Wenn das sriye
geschieht: ist da an den Glanz gedacht, zu dessen Erringung der Pfeil dienen
soll, oder an das schöne Aussehen des pfeilbewehrten Helden?
3) Hierher gehört auch srayana Käty. Sr. IX, 6, 9. 10.
Die vedischen Worte für „schön" u. „Schönheit" u. d. vedische Schönheitsgefühl. 41
selbst heißt oft äsir; hierzu P. p. p. äsirta VIII, 2, 9. Wie verhält
sich das alles zu sri?
Wir gehen von näherer Betrachtung des Verbs srinäti aus.
Vielfach wird diesem die Bedeutung „mischen" zugeschrieben, so
daß göbhih snnlta matsardm heißt: „mit Kuh(milch) mischt den be-
rauschenden". Mir scheint das unzutreffend. Das Pancavimsa Br.
berichtet wiederholt, wie es irgend einem Wesen schlecht ergeht
[sa dugdho riricäno ''manyata ; sa vyahhramkda): dieses „sieht" darauf
irgend ein Säman, irgend welche Sämans: tenätmänam samasrinät
prajayä pasubhir indriyenn ; tair ätmänam samasrinät (IX, 6, 7 ; XIV,
3, 22) ; das geschieht bhesajäyaiva säntyai (XVI, 12, 5). Da paßt
„mischen" nur recht gezwungen. Vollends XVIII, 11, 1 : Indra
vyabhramsata und tena (nämlich durch das sräyantlya) ätmänam
samasrinät ; dem entsprechend der Mensch pmnir evätmänam sarnsri-
näti. Und VIII, 2, 10 Prajäpatis retas ist zur Erde niedergefallen:
tad asrmad idam me mä dusad iti — an welchen Stellen offenbar
von „mischen" keine Rede sein kann, vielmehr etwas Ahnliches
wie „stärken" gemeint sein muß; über den genaueren Inhalt der
Vorstellung später. Ahnlich Taitt. Br. 1,2,6,7: von zwei Per-
sonen, die in einem Ritus auftreten, yad evaisäm suJcrtam ya räddhihy
tad anyataro ^bhisrinäti ; yad evalsärn dusJcrfam yäräddhlh, tad anya-
taro 'pahauti. Böhtlingk (Wörter b.) gibt hier für abhisnnäti
die Bedeutung „herbeiführen, verschaffen": offenbar mit Unrecht;
wie würde sich das mit dem, was wir sonst von sri- wissen, ver-
einigen? Gremeint muß etwa sein — wieder unter Vorbehalt der
genaueren Nuance — „kräftigen". Nach alldem scheint mir klar,
daß somam srmanti keineswegs heißt: „sie mischen den Soma (mit
Milch)", sondern ungefähr: ^.sie kräftigen den Soma", was aller-
dings eben durch die Milchbeimischung geschiebt V).
Mit dem Verb srä- „kochen", mit dem man dies sri- zusammen-
gebracht hat , hat es m. E. nichts zu tun ^). Die Bedeutungen
liegen weit auseinander; das den Ritualtexten geläufige Praesens
jenes Verbs ist srapayati, dessen Verschiedenheit von srinoti in
1) Nicht ühel wird Panc. Br. VIII, 2, 10 asnt),ät mit sad dkarot gleichgesetzt.
Ähnlich ist auch die mehr oder minder ausgesprochene Gleichsetzung von srinäti
mit samardhayati Sat. ßr. IV, 1,4,8; 2, 1, 11, vgl. 4, 2, 13. Doch verlieren die
Stellen dadurch an Wert, daß samardhayati überhaupt in den Brähmanaerklä-
rungen besonders beliebt ist.
2) Wenigstens nicht in den historischen Zeiten, mit denen wir uns hier be-
schäftigen. Wie in der Urzeit „die beiden Basen *kerä- und *keräi^ (B rüg mann
IF. XVII, 364; Reich elt, KZ. XXXIX, 21) sich zu einander verhalten haben,
bleibt hier außer Betracht.
42 H. Oldenberg,
dem Spruch havyam prlnihi havyam ^rmihi havyam srapaya (Käth,
XL, 12) hervortritt. Zu diesem srapayati gehört Ppp. srta (z. B. Gobh.
I, 7, 7 f. Jcusalasrtam iva sthällpälcam srapayet . . . srtam ahhigliärya
usw. ; Asv. G. I, 10, 8. 12 nanä srapayet . . . srtäni havTrpsy abhi-
ghärya usw.) ; dagegen zu srmäti gehört snta (man halte Rv. VIII,
82, 5 göhhih sntäh, IX, 109, 15 gohhih sritdsya usw. sowie das Kom-
pos. gösrlta neben IX, 109, 17 göbhih snnändh ; IX, 107, 2 snndnto
göbJäh usw.)- Natürlich wird man sich nicht irre machen lassen,
wenn Käth. XXVII, 4 zur Vorschrift payasä maiträvarunam srlnäti
die nähere Bestimmung gefügt wird srtena srmäti (vgl. Sähkh. Ör.
XIII, 6, 3): da stehen die beiden ähnlichen Worte, wie auf der
Hand liegt, rein zufällig neben einander. Genauere Prüfung aber
verlangen Stellen wie vor allem Ts. VI, 5, 9, 1. 2. Inbezug auf
den häriyojana fordert Agni: nd mdyy ämdm hosyasUi. Man weiß
sich zu helfen : tarn dhändbhir asrlnät^ tdm srtdm bhütdm ajuhot. Der
Anschein nun aber, daß da asrmät und srtdm zur selben Wurzel
gehören, ist trügerisch, srtd heißt hier wie überall ,, gekocht", wie
zum Überfluß der Gegensatz von ämd beweist. Das feststehende
Ritual des liäriyojana aber zeigt, daß von einem wirklichen Kochen
dieses Soma nicht die Rede ist; asrmät bedeutet offenbar wie sonst
die Stärkung der Opfergabe (durch einen Beisatz) ^), und die Stelle
läuft darauf hinaus, daß der Soma, den man (in mystischem Sinn)
als srta aufzufassen wünscht, zu dieser Eigenschaft dadurch gelangt,
daß man ihn asrmät : ein Wortspiel, wie dergleichen in den Bräh-
manas ja überhäufig ist^). Man wird dieselbe Auffassung in der
Beschreibung des pätnivata Käth. XXVIII, 8 wiedererkennen^);
ebenso wird man das hier aufgewiesene Wortspiel in der langen
Spruchreihe bei Apastamba Sraut. XII, 19, 5 wiederfinden: srtau
stiiali präimpänau me srmltam ; srto 'si vyänam me srlnihi etc. : welche
beliebte Vermischung der beiden Vorstellungen es begreiflich macht,
daß der Fassung bei Apastamba loc. cit. srtas tvmn srto ^ham in
Käthaka XXXV, 11 gegenübersteht sritas tvam srito 1mm ^).
1) Vgl. Sat. Br. IV, 4, 3, 7 im gleichen Zusammenhang : atha dJiänä ävapati.
Das besagt dasselbe wie wenn es bei Apastamba XIII, 17,2 hai^t balivlbhir dhänä-
hhih sritvä. Vgl. zur Sache Caland- Henry 384. Die Stelle von Ts. hat Keith
richtig wiedergegeben.
2) Vgl. auch Käth. XXIII, 9 p. 163, 14; ^aitr. S. IV, 7, 4 p. 98, 12. — Ent-
sprechend ist zu beurteilen Sat. Br. III, 8, 3, 20 agnis tvä srlnätv ily agnir hy
etac chrapayati : ein ähnliches Wortspiel wie das. I, 6, 4, 7. 8 anderseits mit sftena
und asrayan vorliegt (s. auch Tb. III, 7, 6, 12; Ait. Ar. 11, 1, 4 ; Rv. Khila zu V, 87,
Vers 10).
3) Wenn dort, wie ich glaube, Caland richtig konjiziert (s, die Ausgabe).
4) Träfe es, entgegen aller Evidenz, doch zu, daß srlnäti und srta zusammen-
Die vedischen Worte für „schön" u. „Schönheit" u. d. vedische Schönheitsgefühl. 43
Nach diesen Feststellungen über das Verb srinäti ^) und in-
sonderheit seiner Ablösung von srä- „kochen" muß nun seine Be-
ziehung zu dem das Hauptobjekt unserer Untersuchung bildenden
Subst. sri geprüft werden. Hier scheint mir eine solche Nähe der
beiderseitigen Vorstellungen und überhaupt so mannigfache Bezie-
hung sich aufzudrängen, daß ich es schwer finde — wofür ich auch
schlechterdings kein Motiv entdecken kann — nur zufällige Klang-
ähnlichkeit anzunehmen. Rv. VIII, 72, 13 heißt es ä sute sincata
sriyam rödasyor ahhisriyam: da wird der Beisatz des Soma direkt
Sri genannt^). Wie hier das Nomen ahhisri, das doch fraglos mit
dem so oft von der Milchversetzung des Soma gebrauchten Verb
abhi-sri- zusammengehört, neben sri steht, wird man auch adhva-
ränäm ahhisriyam VIII, 44, 7, adhvardnäm ahhisriyah X, 66, 8 nicht
von adhvarasri trennen; enthält der gangbaren Annahme ent-
sprechend dies das Subst. ,s;l^}, so stellt sich hier wieder eine
Verbindung zwischen diesem und dem Verb sn dar. Weiter ver-
weise ich auf IV, 41,8 sriye^) nd gäva upa somam asthur iiidram
giro värunam me manlsah: da wird die sri, welche die Kühe =
gehören können, brauchte immer noch nicht zu folgen, daß ein (in der Tat trotz
dem Dhätup. nicht vorhandenes) srinäti „er kocht" (so PW. 1. sri-) anzusetzen
ist. Sondern es wäre zu fragen, ob nicht das gewöhnliche, vielmehr allein existie-
rende srinäti mit srä- eben nur in einer gleichlautenden Ableitung zusammentriflft
(ähnlich, doch nicht ganz so, Simon Ind. verbor. zum Kätb. p. 199 Anm.). Wie
freilich der bei alldem vorausgesetzte Sprung von srinäti zu srta grammatisch zu
rechtfertigen wäre, bliebe mir dunkel. *
1) Ich glaube recht getan zu haben , mich dabei allein auf die altindischen
Materialien zu stützen und durch Gleichsetzungen, die versucht worden sind, wie
von srlnäsi mit lat. cUnäs (Bartholomao Studien II, 140) mich nicht beeinflussen
zu lassen.
2) Vgl. auch die Zusammensetzungen Jcsirasri usw. *
3) Determinatives Kompositum. Doch könnte auch wurzelhaftes Nomen
agentis als Schlmßglied vorliegen (Typus haviräd, Wackernagel Gramm. II p. 174 f.).
Dieselben Möglichkeiten bei yajnasri, janasri, devasri. Dagegen possessives Kom-
positum ist, neben dem schon durch den Akzent als solches charakterisierten
märyasri, offenbar darsatasri (vgl. yuvdm srlbhir darsatäbhiJi VI, 63, 6), saktusri,
kßnasri, ghrtasri, ksatrasri (vgl. Av. VI, 54, 1; Sat. Br. II, 1, 3, 7; Ait. Br. I,
30,30), harisri, vermutlich auch agnisri, ganasri. Freilich kann bei mehreren
dieser Komposita (wie saTctus'ri etc.) auch an wurzelhaftes Nomen agentis mit
neutralem oder passivischem Sinn als Schlußglied (vgl. Wack. a. a. 0. 175) gedacht
werden. — Unverkennbar scheint mir, beiläufig bemerkt, auch das Enthaltensein
von sri in den Neutris bahilisri, antahsri §at. Br. XI, 4, 2, 10 f. (anders PW. und
Eggeling). — Man vergleiche zu einigen dieser Zusammensetzungen Wackernagel
a.a. 0. 297. 301, Keuter KZ. XXXI, 205. 212.
4) Zugleich an einen Infinitiv des Verbs sri- hier zu denken (Geldner Gloss.)
finde ich keinen Grund; der geläufige Dat. sriye scheint mir auszureichen.
44 H. Oldenberg,
Milchbeisätze dem Soma bringen, mit der sri verglichen, die die
Preislieder den Gröttern mitteilen ; nicht der mindeste Anlaß , da
die Verwendungen des Worts von einander und vom Verb sn-
loszureißen. "Wenn es darum Ts. I, 3, 10, 1 heißt srtr asy, agnis
tvä snnätu, wird der an sich ja mögliche Gedanke an bloßes Wort-
spiel doch als unmotiviert abzuweisen sein.
Gehören also, wie ich das für kaum zweifelhaft halte, das
Nomen und das Verb zusammen, so scheint sich mir für die Be-
deutungsentwicklung Folgendes zu ergeben, sri „Schönheit" ist
keineswegs zu beurteilen als „das Bedeutungselement des Harmo-
nischen der Vereinigung hervorkehrend" (Brugmann IF. XVII,
365), denn das Verb sn-, auf das hin dieser Ansatz gemacht ist,
bedeutet kein Vereinigen, sondern wie oben vorläufig und an-
näherungsweise festgestellt wurde, etwa ein Kräftigen. Jetzt
werden wir dies nun auf Grund des über das Substantiv Er-
mittelten bestimmter dahin formulieren können, daß in rgvedischer
Zeit vielmehr ein Mitteilen von Schönheit — d. h. Ansehnlichkeit,
Pracht, Geschmücktheit — gemeint gewesen sein wird^). Ver-
mutlich hat sich dann* auch beim Verb , entsprechend wie beim
Substantiv, die Vorstellung des Erhebens zu glücklicher, reicher
Fülle immer mehr vorangeschoben.
Ehe wir diese Weiterentwicklung des Substantivs betrachten,
muß noch nach dem Verhältnis der eben besprochenen Worte zu
äsir, äsirta gefragt werden. Die enge sachliche Nachbarschaft, die
im Ritual zwischen asir und srlnäti besteht, braucht nicht erst
hervorgehoben zu werden. Aber die bisherigen Erörterungen
scheinen mir als das Wahrscheinliche herauszustellen — was
offenbar auch rein sprachlich nur durch gewagteste Hypothesen
vermieden werden kann — , daß etymologischer Zusammenhang
nicht besteht^). Auf der einen Seite handelt es sich um die Vor-
stellung des Schönmachens. Auf der andern doch wohl um die
des Mischens, Vereinigens ; man hat ja keinen Grund die gang-
bare Zusammenstellung von äsir mit awest. sar- und gr. xsqccvwiil
1) In diesem Sinn wird denn auch snndn . . . divam I, 63, 1 und wohl das
allerdings sehr dunkle äsnnitädisam X, 61,3 zu verstehen sein, sräi/antalb VIII,
99,3 scheint mir dagegen zu Wzl. srä- zu gehören; s. meine Note zu der St.
2) Willkommene Bestätigung gibt mir Wackernagel, dessen Ansicht ich
erbat und der mir schreibt: „Vom morphologischen Standpunkt wäre es am be-
quemsten mindestens drei Wurzeln scheiden zu können: 1) sr- mit der Erwei-
terungsform srä- „kochen", 2) sir- „mischen, vereinigen" [wozu doch wohl auch
yugasaram in Käth. und Ms.], 3) sri- (Bedtg.?)." Die Bedeutung von sri- hoffe
ich meinerseits durch die obigen Ausführungen herausgestellt zu haben.
Die vedischen Worte für „schön" u. „Schönheit" u. d. vedische Schönheitsgefiihl. 45
aufzugeben. Daß dann das Zusammentreffen der Gebrauchssphäre
und der ähnliche Klang die Worte für das Gefühl der Redenden
einander angenähert hat, ist denkbar; insonderheit mag darauf,
daß anstelle eines zu äsir gehörigen *srnäti vielmehr die Wendung
mit srinäti gewählt wurde, das Bestreben hingewirkt haben, Zu-
sammengeraten mit srnäti „er zerbricht" zu vermeiden ^). Ob ander-
seits zwischen äsir und srä- im letzten Grunde Zusammenhang
besteht, ist hier nicht zu untersuchen. —
Wir werfen jetzt einen Blick auf den Gebrauch von sri in
der jüngeren vedischen Zeit. Die Vorstellung der sri als Schön-
heit geht offenbar nicht verloren; man sieht sie ja noch in viel
späterer Zeit fortleben. In den Brähmanas und verwandten Texten
aber dominiert durchaus die Bedeutung des Worts, die wir im
Rgveda neben „Schönheit" treten gesehen haben (oben S. 40): glän-
zende Lebensstellung. Von den Asuras, die ein rituelles Versehen
begangen haben, 'wird gesagt: „Ihre sn ist zurückgegangen; sie
waren im Glücke (bhadra), aber sie werden unterliegen" (Tb. I, 1,
4,4). Ein bestimmtes Opfer wird für den vorgeschrieben, der
„fähig zur srt ist und doch auf gleicher Stufe mit den Seinigen
verbleibt" (Ts. II, 2, 8, 6). sn wird mit bhüman gleichgesetzt; wer
auf Erden hhüyistham vmdate, ist srestha ; für den, der sri erreicht,
wird die vmä gespielt (Sat. Br. III, 1, 1, 12; XI, 1, 6, 23; XIII, 1,
5, 1). Gern verbindet sich sri mit hhätl (Av. XII, 1, 63, vgl. IX,
5, 31), rästra, Isatra, annädya u. a. mehr, besonders mit yasas. Mit
Pathos ist davon die Rede, daß auch die mächtigsten Könige
sterben müssen „ihre große sri verlassend" (Maitr. Up. I, 4). In
der Rituallehre stellte sich als ein so zu sagen technischer Begriff
der des gatasn („der die h-i erreicht hat") fest: den drei Kasten
entsprechend der gelehrte Brahmane, der Dorf Vorsteher und der
räjanya (Weber, Ind. Stud. X, 20). Offenbar trat bei dem hier
besprochenen Gebrauch von sn zunächst die Rücksicht auf die
glänzende Erscheinung des glücklichen, gehobenen Daseins
hervor ^) ; dieses Vorstellungselement mag sich dann abgeschwächt
haben und geschwunden sein^): durch welche Annahme strenge
Kontinuität der Bedeutungsentwicklung erreicht wird.
1) Anders, nicht überzeugend, über das Verhältnis von ^srnäti zu srinäti
J. Schmidt, Festgr. an iloth 186, worauf mich Wackeruagel hinweist.
2) Man sehe, wie es Ait. Br. VII, 34, 9 f. von großen, glücklichen Königen
heißt: äditya iva ha sma sriyäm pratisthitäs tapanti. Die Stelle ist charakte-
ristisch für dies Hervortreten des Motivs glänzender Erscheinung bei dem in
Kede stehenden Gebrauch von sri.
3) Dieser Schwund ist wohl noch stärker als bei sri bei sreyas^ srestha ein-
46 H. Oldenberg,
3. Die bemerkenswerteste Tatsache aber in diesem Zeitalter
ist die sich vollziehende Vereinigung der Vorstellungen und Aus-
drücke von srl und lak§mt.
Die Grundtatsachen über das letztere Wort sind im Ganzen
durchsichtig und richtig erkannt. Indem ich hier an sie erinnere,
versuche ich in einigen Beziehungen einen schärferen Ausdruck für
sie zu finden.
Die Verwandtschaft von laksmt mit Idksman „Zeichen, Merk-
mal" liegt auf der Hand. Wenn später Kälidäsa spielend sagte
malinam api himämsor lak§ma laJcsmvn tanoti^ so hat schon in sehr
viel früherer Zeit das Satapatha Brähmana (VIII, 4, 4, 11, vgl. 5,
4, 3) auf den Zusammenhang beider Worte hingedeutet : yasya dak-
§inato laksma hhavati tarn punyalaksmlka ity äcaksate. laksman ist
das äußere Merkmal glücklicher oder unglücklicher Disposition;
laksmi ist diese Disposition selbst, die durch ein laksman angezeigt
wird oder angezeigt werden kann^). Über die Daseins weise einer
solchen laksmi unterrichtet uns die vedische Hauptstelle Av. VII, 11 5.
Einhundert und eine laksmi werden dem Menschen angeboren. Ge-
flügelt können sie ihm anfliegen, sich auf ihm festsetzen wie eine
Flechte auf einem Baum. Zauber (beschrieben Kauä. S. XVIII,
16 ^,) macht die böse laksmi verschwinden ; Gott Savitar entfernt
sie; mit Nägeln kann man sie dem Feind anheften. Die guten
laksmis aber sollen verweilen. Diese Doppelseitigkeit der laksyni-
Vorstellung, die stehend in den Bei werten hhadra, siva, besonders
punya, und anderseits i^äjja zum Ausdruck kommt, tritt dann weiter-
hin zurück, und es bleibt ausschließlich oder fast ausschließlich
der günstige Sinn des Worts. Damit nun ist dieses der Vorstel-
lung der srl, wie wir sie sich entwickeln gesehen haben, ganz nah
gerückt. Beiderseits handelt es sich um dasselbe Ideal von Wohl-
befinden und Daseinsglanz. Wie sich das in einer Vielheit von
laksmis hypostasiert, gibt es viele sriyaJi (oben S. 39). Die Nuance,
getreten. Wenn ein allbekannter Vers der Katha Up. (II, 1) das sreyas dem preyas
gegenüberstellt und jenes als das höchste Ideal der asketischen Weltanschauung
versteht, ist Beziehung auf Glanz schlechterdings nicht mehr vorhanden und
in unsrer Ausdrucksweise — nicht mehr vom Schönen sondern vom Guten die
Rede.
1) Daß Jakßmi geradezu im Sinne von laksman stehen kann, bezweifle ich.
•Das Pet. Wb. nimmt das für den ältesten Beleg des Worts an, den einzigen rg-
vedischen (aus junger Gegend des Rv.) bJiadrai^ätn Idksmir nihiiädhi väci X, 71, 2:
zu welcher Auffassung ich keinen Anlaß finde. Man könnte etwa noch an Av. I,
18, 1, Ts. II, 1, 5, 2, Tb. II, 1, 2, 2 denken ; daß aus diesen Stellen ein wirkliches
Zusammenfließen der beiden einander immerhin nahstehenden Vorstellungen folge,
glaube ich doch nicht.
Die vedischen Worte für „schön" u. „Schönheit" u. d. vedische Schönheitsgefühl. 47
daß srl jenes Glück an sich, laksmi ursprünglich die Disposition
dazu bedeutet, konnte sich natürlich leicht verwischen, sns ca
laksniis ca stehen neben einander an der Spitze einer Reihe segen-
bedeutender Begriffe Taitt. Ar. (Andhrarezension) X, 64 (vgl. 63),
und Vs. XXXI, 22 erscheinen hri und Laksmi zusammen als zwei
göttliche Weiber. Hinausgehend über solche Verbindung tritt
dann vollkommene Identifikation ein. Ein vergleichsweise altes
Denkmal dieser ist das für die Greschichte der hier behandelten
Vorstellungen wichtige Srlsükta, das am Ende von Rv. V ange-
fügte Khila ^). Manche Züge der Ausdrucksweise, dazu die Häufig-
keit der Messung u ^ in den Silben 5 — 8 der Slokazeile ver-
bieten es, das Sükta allzu hoch hinaufzurücken. Aber anderseits
wird es bekanntlich von der Brhaddevatä erwähnt, und in jenen
Silben tritt nicht ganz selten noch die alte Messung u — ui.^ auf
(z. B. sriyam devirn upa hvaye, sriyam väsaya me grJie)] höheres Alter
als der altbuddhistischen kanonischen Poesie ist danach wohl wahr-
scheinlich. In diesem Sükta nun besteht zwischen Snr devi,
Mutter Öri und anderseits Laksmi offenbar kein Unterschied mehr ;
so werden sie beide ärdrä (v. 4. 13. 14), beide padmamälini (v. 11.
14) genannt^). Wenn wir im Satapatha Brähmana (s. oben S. 39)
den Beginn einer vorläufig noch vagen göttlichen Personifikation
der 6ri beobachten konnten, ist jetzt die Göttin der späteren Zeit
im wesentlichen fertig; auch die Lotosblume spielt in ihrem Bilde
schon die spätere Rolle: die Göttin wird als padme sthitä, padma-
varnäj padmamälini beschrieben. Nur der Ehebund mit dem in
seiner späteren Wesenheit jetzt doch wohl nicht vorhandenen Visnu
ist noch nicht geschlossen. Wenn die europäische Wissenschaft —
in unbestimmtem Gedanken an Griechenland ? — von einer Göttin
des Glückes und der Schönheit zu sprechen pflegt, so scheint
mir fraglich, ob das hier zutrifft. Genauer ist wohl, daß die
Oöttin schön, insonderheit schön geschmückt ist, und daß sie über
"Glück und Wohlstand herrscht. Sie ist suvarnarajatasraj, yasasä
jvalanti usw.; ihr lotushaftes und lotusreiches Wesen wurde schon
berührt. Was man aber von ihr erbittet, sind Rinder, Pferde,
Gold; da sollen Elefanten brüllen; kirti und vrddhi soll sie ver-
1) Vgl. Scheftelowitz, Apokryphen des Rgveda p. 72 ff. ; Macdonell
zu Brhaddevatä V, 91. — Daß gelegentlich doch noch in viel späterer Zeit Sri und
Laksmi unterschieden werden, ist nicht verwunderlich. Vgl. Hopkins, Epic
Mytii. 224; Jätaka 521 v. 6.
2) Die entgegengesetzten feindlichen Mächte heißen nicht mehr „böse lak§mi^
sondern alalc^mi. So auch Gobh. IV, 6, 3 ; Äpast. Mantrap. I, 1, 5. Die lahm^
ist also jetzt etwas an sich gutes.
48 H. Oldenberg,
leihen, Hünger, Durst, alle dbhüü und asamrddJü abwehren. Durch
die späteren Zeiten verfolge ich das Bild der Göttin Sri hier nicht
eingehender. Ich begnüge mich kurz auf eine epische und eine
altbuddhistische Schilderung ihres Wesens zu verweisen, welche
von weit auseinanderliegenden Standpunkten die Göttin recht ver-
schieden einschätzend doch in der Bestätigung des eben Gesagten
zusammentreffen^). Im Epos (MBh. XII, 8343 ff.) ^ tritt ärl-Padmä
in strahlender Schönheit und glänzendem Schmuck auf. Alle, sagt
sie, erstreben meine Wesenheit. Ich bin Gedeihen, Festigkeit, Ge-
lingen. Bei siegreichen Königen wohne ich, bei den Gerechten
und Wahrhaften. Früher weilte ich bei den Asuras, solange die
alle Tugenden übten; da sie sich aber der Sünde zuwenden, ver-
lasse ich sie und gehe zu Indra über. Die Buddhisten auf der
andern Seite erzählen im Jätaka 535^), wie zwischen den Götter-
frauen Asä Saddhä Siri Hiri eine Art Parisurteil stattfindet. Siri,
schön wie der Morgenstern, spricht: „Wem ich Freude wünsche,
der genießt jegliche Lust". Aber ihr wird entgegengehalten, daß
ohne sie auch der Kundige und Weise es zu nichts bringt; der
Träge, Niedriggeborene, Häßliche (arüpima) aber hat von ihr be-
schirmt Erfolg. So ist sie unwahr und ermangelt der rechten
Unterscheidung. Der Preis wird ihr versagt. Ihn erhält Hiri.
Von einer Göttin der Schönheit ist in diesem Bilde der schönen
Göttin kaum etwas zu spüren^).
8. Ein weiteres hier zu betrachtendes Wort ist b ha drei. Es'
bietet kaum erhebliche Schwierigkeiten. Für die älteste Zeit ist
bhadrd offenbar das, was vermöge seiner Wesenheit, seiner Kräfte
und Eigenschaften für den Inhaber, den Nahestehenden, den Inter-
essierten wertvoll ist, Glück und Freude bedeutet. Wählt man
1) Daneben wäre unter dem vergleichsweise Älteren besonders noch das
Kapitel Vis^u Dharm. XCIX heryorzuheben.
2) Schon der Dighanikäya (I p. 11) weiß übrigens vom Sirivhäyana. Die
später so überaus häufige Darstellung der Sri mit den wassergießenden Elefanten
(vgl. Vis9u Pur. I, 9, 102) findet sich schon auf einem Tore von Sänci.
3) Doch überblicke ich die späteren Materialien nicht in der Vollständig-
keit, die gänzliche Sicherheit geben könnte. Daß das Appellativum srl auch
in der späteren Sprache neben dem Glanz des Glückes immer noch den Glanz
und die Schönheit der äußeren Erscheinung umfaßt, wurde schon bemerkt; im
Naisadhiya (III, 36) wird geradezu im Dual sriyau gesagt, d. h. nach dem Komm.
MntisatnpaUi, womit die Getrenntheit der allmählich auseinander gefallenen zwei
Arten der srl in aller Form konstatiert wird. Ausgeschlossen ist es danach nichts
daß auch die Göttin in vollerem Sinn, als es die bis jetzt von mir durchgesehenen
Materialien ergeben, Anspruch auf den Charakter einer Göttin der Schönheit be-
sitzen könnte.
Die vedischen Worte für „schön" u. „Schönheit" u. d. yedische Schönheitsgefühl. 49
die etwas umständliche, doch wesentlich zutreffende Übersetzung
„glückbringend", so darf man dabei nicht, dem deutschen Wortsinn
entsprechend, an einen Mechanismus denken, durch den ein irgendwo
außerhalb liegendes „Glück" herangeholt würde. Sondern was
hhadrd ist, spendet Glück von sich selbst aus, oder etwa — offenbar
ein Nebenfall — es steht (wie im Fall des glücklichen Omens) in
mystisch -zauberhafter Korrespondenz mit der glückspendenden
Macht, ist in gewissem Sinn mit ihr identisch. Daß eine Bedeu-
tung „glänzend, strahlend" zu Grunde liege, ist willkürliche An-
nahme Graßmanns (vgl. ßergaigne, Rel. vM. III, 317). Das
Wort war indoiranisch, wie das awestische Ä^(6adra lehrt; ich ver-
mute, daß es schon in der Vorzeit häufig war, wie es im Rgveda
als beliebtes Schlagwort häufig, bisweilen im selben Vers mehrfach
wiederholt ist; im Awesta wird es, bis auf jenen E,est, deshalb
ausgestorben sein, weil die zarathustrische Weltanschauung spe-
ziellere Werte als den des hhadrd hervorzuheben gewohnt war.
Zur Veranschaulichung der Vorstellung von hhadrd gebe ich
von der übergroßen Masse der Materialien eine Auswahl.
hhadrd sind die Götter im allgemeinen oder der einzelne Gott,
von dem der Betende Glück erwartet, I, 123,11; VIII, 19, 19;
X, 3, 3; 72,5. Des Gottes Körper oder Erscheinung IV, 11, 1;
X, 69, 1. Seine Hand, die dem Beter rädhas darbietet IV, 21, 9,
vgl. hhadrahasta I, 109, 4. Seine saläi^ sein sdvas I, 83, 3 ; 94, 15.
Seine Gnade I, 114, 9; III, 1, 21; 30, 7. Sein Schutz V, 1, 10; X,
142, 1. 'Seine räti I, 168, 7 und oft. Die an ihn gerichtete An-
rufung, das ihm gebrachte Opfer VIII, 19, 19; X, 53, 3; 64, 11.
hhadrd ist oder soll sein die innewohnende geistige Kraft {mdnas^
hrdtu u. dgl.) I, 67, 2; 123, 13; X, 25, 1. Die Mutter, die das Kind
gesund, stark, glücklich gebiert X, 134, 1 ff. ; die schöne, beglückende
Frau oder Geliebte 1,95,6; V, 80, 6; X, 27, 12 (vgl. hhadrajäni
V, 61, 4). hhadrd ist ferner, was der Mensch (oder event. der Gott)
als wertvolles Gut besitzt IV, 58, 10 , das Haus VI, 28, 6 (vgl.
Sähkh. G. 111, 5, 3), das Feld V, 62, 7, die Rosse I, 115, 3, das
Kleid I, 134, 4; III, 39, 2; IX, 97, 2. Der gute Ruf oder Ruhm
VI, 1, 12. Die günstige laJcsmi X, 71, 2 (vgl. oben S. 46). Der er-
freuliche oder glückbringende Anblick wie des Agni, der Sonne,
der Morgenröte IV, 6, 6; VI, 1, 4; 64,2; VIII, 102, 15; X, 69, 1
(vgl. auch hhadrasoci). Der günstige, ominöse Laut oder das gün-
stige Omen überhaupt I, 89, 8 ; II, 42, 2. 3 ; 43, 2. 3 (s. auch das
Khila hinter II, 43, und vgl. bhadravdc, hhadravädin). Der günstige
Tag V, 49, 3, vgl. Av. VI, 128. Dies ist das hhadrdm am anusäsana,
daß man dadurch den Weg findet, den man sonst nicht keniien
Kgl. Ges. d. Wiss. Nachrichten. Phil.-hist. Klasse. 1918. Heft 1. 4
50 H- Oldenberg,
würde X, 32, 7. Schließlich ist hhadrdm ganz im allgemeinen das
Glück, das man sich wünscht VII, 96, 3; VIII, 47, 12 (vgl. Av.
VII, 8, 1; 18, 2- Ms. IV, 14, 14, p. 239, 16): visvam täd hhadrdm ydd
ävanti deväh II, 23, 19.
An diese positiven Feststellungen knüpfe ich zwei negative.
Zunächst: das Moment der Schönheit, des schönen Anblicks
ist in der Vorstellung von hhadrd keineswegs wesentlich enthalten.
Wird ein Weib bhadrä genannt, heißt das nicht eigentlich, daß
sie schön ist. Sondern sie ist ein wertvoller, erfreulicher Besitz
wie irgend ein andrer; daß die Marut hhadrajäni sind, steht auf
einer Linie damit, daß die Aävin bhadrahasta sind, oder daß das
uns fördernde göttliche sdvas hhadrd ist. Die Stellen, wo Schön-
heit, speziell Frauenschönheit im Spiel ist, treten — : anders im
Fall von sri — im Ganzen der Belegmassen nicht derartig hervor,
daß auf besondere Beziehung von hhadrd auf eine solche Vorstel-
lung geschlossen werden könnte.
Ferner bemerke ich, daß ich in der ältesten Zeit hhadrd nur
von Wesenheiten gebraucht finden kann, deren Besitz, Nähe, Gunst
usw. für die genannten oder nicht genannten in Frage kommenden,
sie besitzenden usw. Subjekte beglückend oder erfreuend ist, nicht
aber von diesen Subjekten als glücklichen selbst. Der Sänger ver-
langt nach zahlreichen Dingen oder Einflüssen, die alle hhadrd
sein müssen. Aber er spricht nicht den Wunsch aus: mögen wir
hhadräh sein^). Wenn der Gott hhadrd heißt, bedeutet das nicht,
daß er sich göttlicher Seligkeit erfreut, sondern daß er für seinen
Verehrer glückbringend ist; hhadrd no agnir ähuto hhadrd rätih
suhhaga hhadrd adhvardh VIII, 19, 19 — eine Stelle wie diese läßt
das klar erkennen^). Wenn Geldner (Glossar) über VI, 28, 6
(an die Kühe) hhadrdm grhdm Icrmäha hhadraväcah anders urteilt
und dort die Bedeutung „gesegnet, glücklich" annimmt, so glaube
ich oben (S. 49) die Stelle in einen Zusammenhang eingeordnet zu
haben, der zeigt, daß es sich in der Tat um den für den Besitzer
1) In der Verwünschung derer ye . . . hhadrdm düsäyanli svadhdbhilj, VII,
104,9, ist hhadrd natürlich nicht der Glückliche, sondern der brave Mensch, der
Outes um sich verbreitet, im Gegensatz zum bösen Zauberer.
2) So wird zu einem Gott gesagt hhadro me 'si, und das Brähmai;ia fügt
erklärend hinzu hhadro hy asyaißa hhavati. Sat. Br. III, 3, 4, 14. — Aus dem Rv.
könnte als vereinzelte Ausnahme von dem hier Festgestellten X, 72, 5 in Betracht
kommen tarn (scU. dditim) devd dnv ajäyanta hhadrd amrtahandhaoa^. Daß das
mit den devä hhadräs santo von Tb. (s. weiterhin) auf eine Linie zu stellen ist,
ist an sich nicht ausgeschlossen, freilich in Anbetracht des sonstigen rgvedischen
Gebrauchs durchaus zweifelhaft.
Die vedischen Worte für „schön" u. „Schönheit" u. d. vedische Schönheitsgefühl. 51
l)eglückenden Besitz eines schönen, erfreulichen Hauses handelt.
In der jüngeren Vedazeit indessen ist das offenbar anders ge-
worden. So an einer Stelle der Maitr. Samh. (I, 6, 9, p. 100, 6),
die Geldner neben die eben besprochene rgvedische stellt: annena
vaisijo bhadro hhavati. Weiter Ts. VI, 5, 1 , 4 tasmäcl eJcam yantam
bahavo ^nu yanti, tasmäd eJco bahUnäm bhadro bhavati] Tb. I, 1, 2, 2
devä vai bhadräs santo ^ghim ädhitsanta ... § 3 yak purä bhadrah
san päptyänt syät usw. ; I, 1, 4, 4 (vgl. oben S. 45) prattcy esäm srir
agät; bhadrä bhütvä paräbhavisyantUi^). Der Übergang, der hier
von der Vorstellung des Griückbringenden zu der des Glückge-
nießenden sich vollzogen hat, kann nicht befremden.
Ehe ich bhadrd verlasse, einige Bemerkungen über die das
Element bhand- enthaltenden Worte. Deren an sich zweifellose
Zusammengehörigkeit mit bhadrä^) wird durch das Aussehen der
Belegstellen vollauf bestätigt. Nacht und Morgenröte sind bJdnda-
mäne I, 142, 7; III, 4, 6^): vgl. dazu I, 95, 6 (von denselben Göt-
tinnen) tibhe bhadre josayete nä mene *). Agni bhandate, ist bhändistha
III, 8, 4 ^) ; V, 1, 10, wie er bhadrd ist ; V, 1, 10 wird dicht neben
seiner Benennung als bhändistha sein särma bhadräm ausdrücklich
hervorgehoben. Den Indra erreicht niemand sdvasä nd bhanddnä
VIII, 24, 17 : vgl. bhadrena sdvasä I, 94, 15. Danach scheint mir
zweifellos, daß bhandate nicht bedeutet „jauchzenden Zuruf emp-
fangen" (BR., ähnlich Geldner Gloss.) oder „glänzen" (Gr.), son-
dern „sich als bhadrd betätigen ^^ Vermutlich ist die Ansetzung
1) In diesen Sätzen ist der Gegensatz von bhadra und päpa, sodann die
Verbindung von bhadra und srl hervorzuheben. Jener Gegensatz tritt schon im
Rv. 1,190, 5 auf, blickt dort auch X, 164, 1.5 durch. Was srl anlangt, so ist
hier zu erwähnen, daß in der jüngeren Vedasprache mehrfach mit dem Kompa-
rativ sreyas als sinneszugehöriger Positiv bhadra zusamineagöSchob3a ist: so i.i
den häufig angeführten Sprüchen bliadräd abhi sreyalj. prehi, bhadrän najjt, sreydjTk
sam anaista deväh, bhadram ca me sreyas ca nie ; ähnlich auch mehrfach in der
5io&/ia-Sammlung des Sämaveda. Man beachte noch die Zusammengehörigkeit, in
der die Göttinnen §ri und Bhadrakäli erscheinen Sänkh. G.ll, 14, 14; Manu 111,89
(Bhadr. dialektische Form für bhadraTcärl? Vgl. Jät. V p. 60). Bei der oben
S. 45 besprochenen Entmcklung der M-Vorstellung ist das alles begreiflich.
2) Auch Yäska ist sich ihrer bewußt gewesen {bhadre bhandanvje Nir. XI, 19) .
3) Man beachte die Vorliebe für bTiand- in den ersten Hymnen von II I.
4) Danach wird man es ablehnen (trotz bhadravati Tb. III, 4, 1, 15, was BH.
mit fraglichem Recht als „Freudenmädchen" verstehen), die yösä bhadrd, der die
Morgenröte V, 80, 6 verglichen wird, mit Pischel, Ved. Stud. 1,309 als Hetäre
zu deuten.
5) Hier bhandate . . . kavili, womit zu vergleichen ist bhändistha ime kamyajjk
Rv. Khila I, 8, 2 (Scheftelowitz p. 63), bezüglich, scheint es, auf die priesterlichen
Sänger, die als Besitzer glückverbreitender Kunst dies Beiwort verdienten.
4*
^2 H. Oldenberg,
von ^ Zuruf empfangen" durch hhdnäamänah sitmdnmahhih III, 2, 12
veranlaßt. Dies scheint mir zu bedeuten : „sich als bhddrd beweis
send infolge der (Anrufungen der) sumdnman^^)\ zum Gebrauch
des Instr. vgl. Delbrück Ai. Syntax § 87. hhanddnä bedeutet ent-
sprechend das Sichbetätigen als hhadrd. Dazu das Denominativum
■Üandanäy-. Da dies von den Feinden gebraucht wird {jaM sdtrühr
abhij d bhandanäyatdh IX, 85, 2), kann es nicht soviel heißen wie
^hhadrd sein". Der Grott, scheint mir, soll die Feinde scklagen,
die gögen uns sich um die hhanddnä (der Mächte, welche ihnen
hhadrd sind) beeifem, diese hhanddnä gegen uns in Wirksamkeit
setzen 2). Zu hhandddisü endlich vgl. ZDMG. LXII, 474.
4. Um seiner späteren Geltung willen ist hier weiter cäm
zu betrachten.
Die rgvedischen Belege ergeben mit Sicherheit die ungefähre
Bedeutung, doch kaum die genaue N'uance. Dadurch, daß da»
Wort in den Brähmarias stark zurücktritt, entgeht uns wesent-
licher Anhalt. Es ist l<lar, daß es sich um ein lobendes Beiwort
wie ungefähr „angenehm" handelt, cäm ist besonders der Soma
oder sein mdda, Opfer und Gebet, überhaupt was dem Gott dar-
geboten wird; weiter der Name der Götter. In Vergleichen heißt
es : c. wie der rayi (I, 58, 6), wie dtyäh suhhvdh (V, 59, 3), tksenyasa
ähyo na cäravah (IX, 77, 3; d. h. wie Kühe? Vgl. meine Note zu
der St.). „Angenehm" paßt zur Ableitung von Wzl. M- (Bar-
tholomae Air. WB. 462)^). So steht es mehrfach neben priyd
(IX, 34, 5 ; X, 5B, 1 ; vgl. die bald anzuführende Stelle des Ait. Br.
und Av. II, 36, 4, wo cäru neben priyd, pistd, sdmpriya steht). Aber
' dem Wort wohnt, scheint es, nicht der subjektive Charakter bei,,
der in der Regel eine Angabe darüber erwarten ließe, wem die
" betreffende Wesenheit angenehm ist ; vielmehr verhält es sich im
Ganzen wohl etwa wie wenn wir „lieblich" sagen, ohne ausdrück-
lich ein Subjekt des Liebens namhaft zu machen. In dieser Hin-
sicht unterscheidet sich cäru m. E. von priyd. Die Angaben Graß-
manns allerdings würden zu einer andern AuiFassung führen, aber
ich glaube, daß da Mißverständnisse im Spiel sind. So gibt Gr.
für cäru unter der Bedeutung „jemandem [D. L.] lieb, angenehm,
wert" beispielsweise die Belege matir agndye VI, 8, 1, indriydm
1) Vgl. auch indra ukthehhir hhandistJiah Sänkh. Sr. VII, 10, 13. Dem bhdn-
damänajf, sumünmabhi^ steht uab d hhändisthasya sumatim cikiddhi V. 1, 10.
2) ahhy ä verbinde ich wegen der Wortstellung mit bhandanäyatdh, nicht
mit jahi. — Hillebrandt, Lieder des Rv. 34, übersetzt „heranlärmen".
3) Vgl. lat. carus. Doch ist die Etymologie ja bestritten; vgl. Güntert
IF. XXXVII, 85.
Die vedischen Worte für „schön" u. „Schönheit" u. d. vedische Schönheitsgefühl. 53
jdne§u I, 55, 4. Die erste Stelle nun lautet laisvänaräya matir nä-
vyasi sücih söma iva pavate cärur agnäye; die zweite cäru jdne^u
prabrtwanä indriydm. Es scheint klar, daß da nicht zu verbinden
ist „angenehm dem Agni", sondern „läutert sich dem Agni"; nicht
^angenehm den Leuten" (wörfcl. „unter den L."), sondern ^unter
den Leuten__v erkündend". Leicht mißverstehen könnte man den
Spruch bei Apastamba Sr. XXIV, 12, 6: cäriim adya devehhyo väcam
udyäsa7n cärum brahmabhyas cärwn maniisyehhyas cärum naräsamsäyä-
numatäm pitrbluh : auch hier aber hängen^die Dative in der Tat nicht
von cärum ab, sondern vom Verb, vgl. Säiikh. Sr. I, 5, 9 madhuma-
Um adya devehhyo väcam vadisyämi cärum manusyehhyah. Von In-
teresse ist Ait. Br. IV, 17, 3 f. sarvasya vai gävah premanam sarvasya
cärutäm gatäh, sarvasya premänam sarvasya cäruiäm gacchati ya evam
veda. Hier ist in der Tat das Subjekt, welches das Objekt als
cäru empfindet, namhaft gemacht^): vielleicht weil der Satz durch
das vorangehende preman in diese Bahn gelenkt war. Der Unter-
schied zwischen cäru und hJiadrä ist natürlicB nicht scharf^); un-
gefähr ist er wohl damit ausgedrückt, daß das letztere das Glück-
bringende, das erste mehr das Angenehme, Wohlgefallen Erre-
gende ist. Wenn das Opfer oder seine Elemente sowohl cäru wie
bhadrä heißen , ist bei cäru deren den Göttern angenehme , bei
bhadrd ihre für die Menschen segensreiche Natur gemeint •). Beim
Soma tritt hervor, daß er cäru ist; das göttliche säfman, der
menschliche Jcrätu sind bhadrä. cäru kann natürlich, so gut wie in
vielen andern Beziehungen, auch da stehen, wo es sich um Schön-
heit der Erscheinung handelt; so I, 72, 10 (sriyarn cärum)] IV, 6,6;
IX, 77, 3; 102, 6; vgl. auch II, 8, 2. Aber so wenig wie bei bhadrä
ist das ein wesentlicher oder auch nur hervortretender Zug. Später
wird das bekanntlich anders, wo cäru oder vielmehr dessen Zu-
sammensetzungen insonderheit inbezug auf Frauen, die schönäugigen,
schönlächelnden usw., große Beliebtheit gewinnen.
5. Bisher ist uns ein Adjektiv geeignet z. B. ein Weib als
„schön" zu charakterisieren noch nicht begegnet. Das Wort,
welches dies leistet , ist halyäna. Indra hat eine halyäntr jäyä
1) Welche Möglichkeit auch für den Rv. durch das Gesagte nicht ausge-
schlossen werden soll ; wie II, 2, 8 ätithis cärur äyäve.
2) Selhstvcrständlich kann dieselbe Wesenheit zugleich eins und das andre
sein, IV, 6, 6.
3) Man vergleiche, um nur weniges anzuführen, für cäru I, 137, 2; III, 52, 5 ;
IV, 49, 2 ; VII, 98, 2 , und berücksichtige die eben besprochene Verbindung mit
priyä usw., auch mit matsarä IX, 30, G; 72, 7 = 86,21. Für bhadrä: IX, 96, 1;
X, 62, 1 usw.
54: H. Oldenberg,
III, 53, 6. Die Ghrtagüsse nahen Agni wie yösäh halyänyah IV, 58, 8.
Soma freut sich an den Wassern Jcalyänihhir yuvatlhhir nd mdrydk
X, 30, 5. Aber auch ein männliches Wesen, Agni wird als Jcalyäna
angeredet I, 31, 9. Dies sind alle rgvedischen Belege ^) ; man sieht,
daß sie sich durchweg auf persönliche Schönheit menschlicher oder
göttlicher Wesen beziehen. Dasselbe trifft auf den Atharvaveda
zu, nur kommt dort (V, 17, 18) die schöne dhenü hinzu ^). Betrachtet
mau die angeführten Stellen, dazu die Erwähnung der Jcanyh ka-
lyänt und dMlyäni Av. "XX, 128, 8. 9, striyau kalyänim cätikalyänim
ca Sat. Br. XI, 6, 1, 7 , den schönen {kalyäna) Mann PB. XIII, 6, 9,
dann Sänkh. Sr. XII, 21, 2, 3. 4 und die janapadakalyäni der Bud-
dhisten, so wird man nicht bezweifeln, daß dies der normale Ausdruck
für schöne persönliche Erscheinung war. In der jüngeren Veda-
sprache ist die Gebrauchssphäre weiter; k. erscheint als Beiwort
u. a. von väc, von loka ; angenehme Funktionen und Eindrücke der
verschiedenen Geisteskräfte und Sinnesorgane heißen kalyäna (Sat.
Br. XIV, 4, 1, 3 ff.); wer eine schöne d. h. gute, jenseitigen Lohn
verdienende Tat vollbracht hat, sagt kalyänam akaravam (das. XIV,
7, 2, 27) *). Die Verteilung der Belege läßt vermuten, daß das gegen-
über der Beziehung auf Persönliches sekundär ist. Insonderheit
über die in der letztangeführten Stelle vorliegende ethische Ver-
wendung des Worts wird man zuversichtlich so urteilen^).
1) Drei der vier Stellen stehen in Anhangshymnen bz. im X. Buch. Zusammen
mit dem l und n scheint dies das Wort als minder alt zu erweisen. Doch ist
schwer zu glauhen, daß ein gleichwertiges Wort nicht auch in ältester Zeit vor-
handen gewesen sei. Wurde damals noch ^karydvjta (von dem kalyäi^a sein n be-
zogen hätte? vgl. Wackernagel Gramm. I, 193) oder vielleicht srira gesagt
(man bemerke den Gegensatz von asUlam und kalyänam Käth. XII, 10, p. 173, 7 ;
vgl. auch PB. II, 17,4 mit V, 9,14)? Daß Belege fehlen, kann doch wohl nur
Zufall sein.
2) Vgl. kalyäni von einer schönen Kuh Ts. VII, 1, 5, 7 ; 6, 6.
3) Hier noch aus dem Sat. Br. einige Zeugnisse für die sehr begreiflichen
Berührungen von kalyäm mit nahstehenden Ausdrücken. III, 5, 4, 17 ; IV, 6, 9, 19
erscheint k^ ais ungefähres Synonymum von hhadra. 111,4,4,27 steht sreyämsam
lokam jayati wie IV, 5, 8, 11 kälyäi^xim Idkam ajai§U. Auch mit sädhu vermischt
sich der Gebrauch von kalyäna^ XI, 1, 5, 7 und an der eben angeführten Stelle
XIV, 7, 2, 27.
4) Leu mann KZ. XXXIl, 309 hat vermutet, daß fcaZ2/ä9^ ein dem bekannten
-ä«t-Typus zugehöriges Femininum, das Masc. Neutr. kalyäna erst daraus gebüdet
ist. Das Überwiegen femininischer Belege in älterer Zeit wäre ein überzeugen-
deres Argument dafür, wenn in den betreffenden Textschichten sich für das Masc.
etwa kalya fände. Da das nicht der Fall ist, möchte ich in jenem Überwiegen
des Fem. eben nur sehen, daß man Frauenschönheit mehr als Männerschönheit
beachtete.
Die vedischen Worte für „schön" u. „Schönheit" u. d. vedische Schönheitsgefühl. 55
6. Daß der Wzl. siihh- und ihren Ableitungen die Vorstel-
lung des Sichschön machens, von Putz und Prunk beiwohnt,
ist klar und bekannt^). Belege wie die folgenden sind häufig:
Jiiranyena maninä mmb}iamänähI,SS,8; gomätaro yäc chuhhdyante
afijibJiis tanü§u stihhrä äadhire virükmatah I, 85, 3 ; sahlie riihndm
nd darsatdm nikhätam I, 117, 5 usw. Es braucht sich nicht durch-
aus um die Verwendung von Schmuck zu handeln. Auch von den
Enten , die sich putzen , heißt es tanväh sumhhata sväh X, 95, 9.
Schließlich kann der Dichter auch von der einfach schönen oder
ansehnlichen Erscheinung als etwas Geschmücktem sprechen, wo
dann die dem subh- beiwohnende Vorstellung doch im Grunde die-
selbe bleibt : so bei gösv dsve^u subhrisu I, 29, 1 (vgl. V, 34, 8), wo
übrigens die Vorstellung von Putz, den die Tiere an sich tragen,
nicht ausgeschlossen ist; spärhdyä sriyä tanvä subhänä VII, 72, 1.
Die Vorstellungen von sri und sübh, die hier zusammentreffen (vgl.
oben S. 37), sind doch deutlich nuanciert. Die Sonne, Agni be-
sitzen vor allem sri. Die fehlt den Marut keineswegs, aber sie,
die reich geschmückt in ihrem Prachtaufzug einherziehen {ydc
chübJiarn yäthdnä narah), sind doch vor allem Besitzer der sübhah ^).
Bezeichnend scheint, daß den für das Opfer zubereiteten Soma die
Milchgüsse srmanti, die Lieder dagegen stmibhanti: die sri ver-
schmilzt mit dem Wesen selbst; sübh hängt diesem mehr äußer-
lich an^).
7. Die Bedeutung „Schönheit*' wird in Ansprach genommen
für vdpus; vdpu^e, subhe, snye sollen synonym sein: so Geldner
(Ved. Stud. III, 95 Anm. ; Glossar) , der neben „Pracht , Farbe,
Schönheit" u. dgl. dann dem Substantiv die Bedeutungen ^.Indieaugen-
fallen. Staunenerregen, Bewunderung" und „Schauspiel, Wunder"
gibt. Auch hier kann ich in solch bunter Häufung verschiedener
Bedeutungen*) nicht die zutreffende Lösung des Problems sehen.
Vielmehr liegt uns meines Erachtens der Versuch ob , von der
1) Die, wie es scheint, speziell dem Präkrt angehörige Bedeutung sobhä =
mäyä (Lüders SB. Berl. Akad. 1916, 734 f.) kommt hier natürlich nicht in
Betracht.
2) Indessen, was auflFallen kann, nicht sie sondern die Asvin sind es, die
stehend subhäs pdti genannt werden.
3) Was natürlich bei der Mannigfaltigkeit vedischer Gedankenfiguren doch
auch die Vorstellung von der wie ein Kleid angelegten sri (S. 89 A. 1) nicht aus-
schließt. Ein Vergleich etwa der Belege der Dative sriye und subhe läßt neben
der Berührung den hier angedeuteten Unterschied durchaus empfinden.
4) Wie deren Daseinsberechtigung zu erweisen ist, sehe ich in der Tat nicht.
Worauf beruht z. B. die Ansetzung von „Farbe" ? Eine Stelle wie I, 62, 8 {krsnebhih
, . . rmaäbhir väpurbhilt) reicht dazu nicht aus.
5ß H. Oldenberg,
zunächst festzuhaltenden Wahrscheinlichkeit ausgehend, daß die
init dem Wort verknüpfte Vorstellung einheitlich, überall^ giltig
gewesen sein wird, diese aufzuzeichnen.
Nun wird väpus und die mit ihm zusammengehörige Wort-
grappe, wie dem Vedaleser geläufig ist, in der Tat sehr häufig
von glänzenden, schönen Erscheinungen gebraucht : dem Licht Agnis,
d^m Wagen der Asvin usw. Ich sehe aber nicht, wie man mit
einem allein hierauf basierten Bedeutungsansatz dem Vers VI, 66, 1
gerecht werden kann vdpur ml tdc ciJcihise cid astu: es wird dann
davon gesprochen, daß die irdischen Kühe und die so anders ge-
artete Prsni den gemeinsamen Namen dhenü führen. „Das muß
doch auch dem Kundigen ein Wunder sein", übersetzt v. Bradke
(Festgr. f. Roth 121), und ich wüßte nicht, wie man wesentlich
anders sich ausdrücken will; vdpiis muß hier eben etwas sein, das
in der ßegel allein für den Unkundigen, nur in besonderen Fällen
auch für den Kundigen dasein kann. Damit halte man weiter
V, 47, 5 zusammen: iddm vdjmr nivdcanam janäsas cdranti ydn nadyds
tasthiir dpnh usw. : auch hier ist nicht von Schönem, Prachtvollem,
sondern von rätselhaft Scheinendem, Staunen Erweckendem die
Rede. Nicht anders steht es mit vdpuso vdpustaram X, 32, 3. Auch
bei III, 1, 4 deväso aguim jdnman vapusyan liegt es nah, an das
Staunen über die wanderbare Erscheinung des neugebornen Gottes
zu denken. Findet sich nun von hier aus nicht leicht der Weg
zu jenen Stellen, an denen lichte, glänzende Erscheinungen vdpus
heißen? Mir scheint, daß überall die Vorstellung des Erstaun-
lichen hinreicht^), welche die einander so eng verwandten Mög-
lichkeiten von Bewunderung, Verwunderung, Wunder in gleicher
Weise umfaßt. Daß cltrd^ vor allem darsatd u. dgl. gern neben
vdpus tritt, daß vapusyo vibhävä stehende Verbindung ist, begreift
sich von dieser Annahme aus ebenso leicht, wie bei einer Be-
deutung „Pracht, Schönheit'^; dasselbe gilt von der Neigung von
vdpus sich mit dem Verb chand- zu verbinden (fad in nie cJtantsat
vdpuso vdpustaram X, 32, 3, sd tue vdpus chadayad asvinor yo rdthdh
VI, 49, 5): welche Ausdrucksweise kann natürlicher sein als „das
und das scheint mir staunenswürdig" ? Damit sind wir nun etwa
1) Damit meine ich: überall im j^v. und der nahestehenden Literatur. Die
prinzipiell auch innerhalb dieser Grenzen anzuerkennende Möglichkeit, daß Ver-
schiebungen, Spaltungen der Bedeutung stattgefunden haben (die Beweislast fällt
dem zu, der solches behauptet), tritt natürlich sehr viel stärker in den Vorder-
grund, wenn wir die Folgezeiten mit in Betracht ziehen.
2) Auf die für den vorliegenden Zweck unwesentliche Unterscheidung adjek-
tivischen und substantivischen Gebrauchs gehe ich nicht ein.
Die vedischen Worte f iir „schön" u. „Schönheit" u. d. vedische Schönheitsgefühl. 57
auf den Standpunkt des Pet. WB. zurückgelangt, das auf das ho-
merische ^av^a Ideöd-ac hinweist: überflüssig dürfte diese Ausein-
andersetzung mit jener eine allzu unbestimmte, schillernde Phy-
siognomie ergebenden lexikographischen Technik doch nicht ge-
wesen sein , speziell, auch um im Hinblick auf die uns beschäfti-
gende Frage nach den Ausdrücken für „Schönheit" und Verwandtes
der Wortgruppe ihre Stelle anzuweisen.
8, Schwer zu bestimmen ist die genaue Bedeutung von valgü.
Vom Verb vuhj-^ das springende oder wogende Bewegung beaeichnet
(Pferde, Affen, frohe Menschen, dann Wasserwogen, der wogende
Busen), entfernt sich der Gebrauch des Adj. auffallend. Die Zu-
sammengehörigkeit wird man kaum bezweifeln, aber eine besonders
entschiedene selbständige Entwicklung des Adj. annehmen müssen.
Dessen rgvedische Belege beziehen sich teils auf die Asvin, teils
— wie auch recht häufig später (auch im Päli) — auf Reden. Die
ersteren Stellen ließen sich allenfalls mit der Bedeutung des Verbs
in Einklang bringen. Soll man dies bei den letzteren durch Heran-
ziehung davon erreichen, daß die Gröttin Väc salilä ist (Säiikh. Gr.
I, 24, 10) ? Schwerlich ; die Belege weisen mehr auf den freund-
lichen, einschmeichelnden Charakter der Rede, als auf deren Wogen
hin (vgl. auch vaJgüyäti IV, 50, .7), und in dieselbe Richtung zeigt
die jüngere Vedaliteratur , z.B. Av. II, 36, 1 vom Weibe: jfistn
varesn sämanesu valgiih; TAr. IV, 11, 3 scheint v. etwa synonym
mit samyüdhäyäh. Kurzweg „schön" ist wohl nicht zu übersetzen.
Ich vermute, daß das Wort nicht sowohl wohlgefälligen Eindruck
an sich hervorhebt, als vielmehr die geschickte, glückliche Bewe-
gung, die solchen Eindruck weckt. Das paßt auf die Aävin und
deren freundliches Nahen nach der Nacht. Nur wenn Av. XII,
3,32 vom Barhis gesagt wird pnydm hrdds cdksuso valgv asUf,
müßte Abblassen der Wortbedeutung oder phantasievolle Aus-
schmückung der Vorstellung angenommen werden.
9. Schießlich führe ich noch eine Reihe mehr oder weniger
den hier behandelten Bedeutungen nahestehender Worte auf, bei
denen bloße Erwähnung oder eine kurze Bemerkung genügen wird.
Die Grenzen für das hier zu Berücksichtigende scharf zu ziehen
ist natürlich unmöglich.
Auch citrd scheint mir mit Unrecht in der oben erwähnten
Weise mit einer Menge von Bedeutungen ausgestattet zu werden,
wie „farbenprächtig, bunt, schillernd, schimmernd, prangend, blitzend,
blinkend; überh. prächtig, sehenswürdig, wunderbar", dann „deut-
lich, vernehmbar", ..bunt, mannigfaltig, verschiedenartig", wozu
58 H. Oldenberg
noch substantivisch ;, Ausgezeichnetes, Sehenswürdigkeit, Natur-
wunder, Naturschönheit" gefügt wird (Gr eidner, G-lossar). Die
häufigen Stellen, an denen citrä sich mit dem Verb cit- verbindet
(citrdm cihite u. dgl. ; s. I, 113, 4 ; II, 34, 10 ; lY, 14, 3 ; 23, 2 ; VI, 6, 7
usw.), veranschaulichen, wie lebendig der etymologische Zusammen-
hang für das Bewußtsein der Vedazeit war. Die so sich ergebende
Bedeutung „was (vor anderm) wahrgenommen wird" ^), scheint mir
überall durchaus zu passen^). Wahrgenommen wird natürlich
werden vorzugsweise das Helle, Farbenprächtige, Bunte, auch das
Schimmernde, das Blitzende; darum bedeutet citrd doch weder
^bunt" noch „schimmernd" noch „blitzend"; wie sollte auch ein
und dasselbe Wort für denselben Elreis von Redenden^) so Ver-
schiedenes bedeuten^)? Der Vorstellung des Schönen, wie diese
in der Vedazeit gestaltet gewesen ist, steht citrä offenbar nah
genug, daß die Erwähnung des Worts hier gerechtfertigt ist; um
mehr als eine gewisse Nachbarschaft handelt es sich nicht.
Hier erwähne ich weiter dar s ata (darsatas ri, vgl. oben
S. 43 A. 3), sudrs, susamdrs ^ siidfsilca (sudfsikarüpay
sudrsihasamdrs; Gegensatz durdfsiJcd), auch susamJcäsd.
Diese Worte geben Grelegenheit, an das s u- als einen allerältesten
Ausdruck der Wertschätzung zu erinnern, in dem praktische, ästhe-
tische, moralische Bewertung noch uiigeschieden vereint ist : wofür
Belege überflüssig scheinen. Die meisten der angeführten Zusam-
mensetzungen (nicht darsatd) treten nur in gelegentlichem Gre-
brauch auf.
rüpä „die Gestalt" kann wie später (z.B. Sat. Br. IX, 4, 1,4?
XIII, Ij 9, 6) so wahrscheinlich schon im Rv. auch „schöne Gestalt,
Schönheit" bedeuten. Die Belege sind nicht unbedingt sicher ; mit
1) Wobei auch innere, geistige Wahrnehmung in Betracht kommt. Über-
wiegend aber begreiflicherweise Gesichtswahrnehmung.
2) Auch für das substantivierte Neutrum, citräni (vgl. BR. citra 4; Geldner^
Ved. Stud. 111,142; Caland Ai. Toten- und Bestattungsgebräuche 32) sind be-
sonders in die Augen fallende Objekte.
3) Denn auch hier untersuche ich nicht, was in späteren Zeitaltern ge-
worden ist.
4) Wo dann bei der Verteilung der Stellen auf die Bedeutungen subjektives
Ermessen eine Rolle spielt, die mir doch bedenklich scheint. Warum soll beispiels-
weise bei citrdm isam I, 63, 8 die Bedeutung „bunt, mannigfaltig" vorliegen , da-
gegen bei citräm bhcjanam VII, 74, 2 die Bedeutung „prächtig" u. dgl. (Geldner) ?
Steht etwas dem entgegen , die eine Steile aufzufassen wie die andre ? Oder
woher wissen wir, daß in Tb. III, 8, 1, 1 citrä naksatram hhavati, citrdm vä etat
"kdrma yäd asvamedhä^ bei citräm an Mannigfaltigkeit und nicht an die in die Augen
fallende Gewichtigkeit und Pracht gedacht ist?
Die vedischen Worte für „schön" u. „Schönheit" u, d. vedische Schönheitsgefühl. 59
bloßer Bedeutung „Gestalt" auszukommen ist schließlich möglich.
Doch liegt im Hinblick auf die jüngere Vedazeit und auf den be-
sonders glaublichen Bedeutungsübergang kein Anlaß vor sich gegen
die andre Bedeutung zu sträuben; ich möchte sie etwa I, 71, 10;
IX, 65, 18 wahrscheinlich finden'). Daneben werden dann gele-
gentlich Ausdrücke für „Schönheit" und „schön" durch Hinzufü-
gnng eines Adjektivs zu rüpd oder eines Vordergliedes der Zu-
sammensetzung gebildet : so sre^thai rüpaih X, 112, 3; stirüpd
VIII, 4, 9 (vgl. I, 4, 1 ; Gregensatz virüpa) und das schon erwähnte
sudrsikarüpalY^h^lh^ dann anavadyärüpa ^,^%,^^ wozu
ich — ohne Vollständigkeit zu erstreben — aus der Brähmaija-
literatur rüpasamrddha füge; dies freilich wohl vielmehr voll-
kommene Korrektheit der Erscheinung bezeichnend als Schönheit;
rüpasamrddha ist der Wohlgekleidete Sat. Br. XIII, 4, 1, 15.
Hatten wir es hier mit Ausdrücken zu tun, die den Gesichts-
sinn betreffen, so wird svädti „süß", svädmän und svddman
,, Süßigkeit" natürlich in erster Linie von der Geschmacksempfin-
dung gebraucht. Aber — wohl mit steigender Häufigkeit in den
jüngeren Partien des Rv. — süß heißt auch der Freund und die
Freundschaft, das Zusammensitzen {samsäd) der pitdrah] es gibt
süßes Denken und vor allem süße Rede; süß ist die Gabe (räti,
VIII, 68, 14). Es ist begreiflich, daß bei solchen Wendungen jemand,
dem das Betreffende süß ist, gern genannt wird oder leicht dazu-
gedacht werden kann. An svädti sind die mddhti enthaltenden
Ausdrücke anzuschließen.
ranvd — unter den Bedeutungen, die man dem Wort gibt,
findet sich auch „schön" — wird, wie auf der Hand liegt, durch
seine Etymologie definiert als das, was von Wohlsein, Befriedi-
gung erfüllt oder damit verbunden ist^): wobei sowohl an das
1) Hier macheich auf das rüpatamadL^B §at. Br. aufmerksam. Mir scheint
das zu bedeuten „das ausgesprochenste rüpa^, nicht „farbigst" (BR.).
2) Bei dieser Gelegenheit bemerke ich über das mit ranvä so eng zusam-
mengehörige rdna, daß ich gegen die herkömmliche, befremdend aussehende Doppel-
ansetzung der Bedeutung 1. „Ergötzen", 2. „Kampf" (das Bindeglied soll die Vor-
stellung der Kampfeslust abgeben) Bedenken habe. Ich glaube, die zweite Bedeu-
tung ist für den Veda zu streichen, obwohl sie, wie mir scheint, auf Grund miß-
verständlicher Auffassung des Veda, bekanntlich in der späteren Sprache lebendig
gewesen ist. Die dafür in Anspruch genommenen Belege scheinen mir doch nicht
ganz auszusehen wie die von yüdh. Ich veranschauliche meine Auffassung von
rdna an dem für die Bedeutung „Kampf" angeführten Beleg ^(über Agni) dhanam-
jayö räne-rafie (1,74,3; VI, 16, 15; vgl. Av. V, 2, 4). Die Deutung knüpfe ich
daran an, daß es, in Konformität mit diesem Wortlaut, ein dhanajit und ebenso
ein ranyajit gibt. ra^yajU ist nun der gojit, asvajit, zu dem man sagt prajdvad
60 H. Oldenberg, .
Subjekt, das diese Stimmung empfindet, gedacht sein kann, wie
daran, was sie erregt. Die am Soma sich freuenden Götter werden
mit ndro ranväh verglichen (VII, 59, 7); ramä sind die mit Agni
vereinten ndro nrsddane (V, 7, 2) ; anderseits ist ranvd das okah ^)
(IV, 16, 15; vgl. h§etra7n mi ranvdm ücuse X, 33, 6), di\Q pusti (I, 65, 5;
II, 4, 4; vgl. IV, 16, 15) u. dgl. mehr.
Keine vollkommen scharf gezeichnete Physiognomie — wie ja
nicht befremdet — zeigt vämd. Klar ist der Zusammenhang mit
van-f und zwar unter den so weit auseinander gehenden Gebrauchs-
typen dieses Verbs (oder dieser Verba ?) doch wohl mit Äußerungen
rätnam d hhara (auch rdtna zu ran- gehörig, wie ja längst vermutet ist ?), IX,
59,1. Und ränya sind solche Dinge, wie für Indra der Soma IX, 96, 9 (vgl.
Pischel, Ved. Stud. 1,66). Es scheint mir nicht hinreichend begründet, daß
man auch für ränya eine Bedeutung „Kampf" in Anspruch genommen hat (BR.).
Die einzige Stelle, die ernstlich bedenklich machen könnte, ist X, 112, 5 ydsya
säsvat papivdn indra sätrün anänukrtyd ränyä cahärtha (vgl. Gaedicke, Akku-
sativ 269). Der Vers ergibt doch offenbar kein sicheres Resultat. Er kann sehr
wohl bedeuten, daß Indra an den Feinden unnachahmliche, (ihm, uns) Wohlge-
fallen schaffende Taten getan hat (vgl. krte cid dtra marüto rananta VII, 57, 5).
ranyajit wird dementsprechend der sein, welcher Wohlsein erzeugende Güter er-
siegt. Ist danacli nicht der rdria zu beurteilen, der mit Agni dem dhanamjayä
verknüpft ist? Bedeutet also dhanamjayö räne-rane rncht, daß bei einem über
dem andern Wohlsein (räna), das den Frommen (und den Göttern selbst?) zuteil
wird, immer Agni, den man ranyajit nennen könnte, sich als Gewinner des be-
treifenden Gutes und Glücks erwiesen hat? 111,34,4, Vill, 96, 16 veranschaulicht,
wie der Sieg des Gottes den Welten räna (Wohlsein) bringt; vgl. auch X, 11.5,4
das Nebeneinander von ranvdsaJi (für welches Wort man doch m. W. kriegerische
Bedeutung nicht in Anspruch genommen hat) und yüyudhayaTj,. Neben alldem
kann man übrigens dann noch die (mir allerdings nicht wahrscheinliche) Möglich-
keit geltend machen, daß \I, 16, 15 räne-rane überhaupt nicht mit dasyuhdntamam
zusammengehört, sondern mit säm tdhe. — Ein Beleg Geldners (Glossar) für
den kriegerischen Sinn von räna ist VI, 31,5 (an Indra): mdhate ränäya rätham
ä tistlia. Wird dies mahate ränäya anderes bedeuten als brhate ränäya Av. II>
4, 1 , wo das Amulet seinem Träger zu Wohlsein verhilft ? Oder als das brhate
räti^äya Rv. Ill, 34, 4, mähe ränäya X, 9, 1 usw.? Warum also nicht VI, 31, 5 dahin
verstehen , daß Indra den Wagen besteigen soll , um zu großem Wohlsein zu ge-
langen ? — Den Purüravas stärken die Götter mähe ränäya dasyuhälyäya X, 95, 7
(auch hier r. nach Geldner „Kampf"); was daran erinnert, wie an der eben be-
sprochenen Stelle VI, 16, 15 neben dhanamjayäm räne-rane steht dasyuhdntamam .
Soll hier mähe ränäya etwas andres sein als X, 9, 1 ? Warum nicht „zu (Gewinn
von) großem Wohlsein"? •— Die früher (Ved. Stud. 11,39) von Geldner, offen-
.bar mit Rücksicht anf die klassische Sprache, angenommene Bedeutung „laut
werden" für vedisches ran- hat er im Glossar fallen gelassen, m. E. mit Recht.
Auf die Vermutungen* über vorgeschichtlichen Zusammenhang mit ram- (worüber
zuletzt Brugmann Grundriß^ 11^3 s. 314) ist hier nicht der Ort einzugehen.
1) Oder dieses wird, genauer gesagt, der Vorstellung des ranvd sehr nah
gerückt.
Die vedisclien Worte für „schön" u. „Schönheit" u. d. vedische Schönheitsgefühl. 61
wie väsüni ... iä vanäwahe 1, 15, 8 (vgl. VII, 94, 9) ; ähnlich sprechen
ja die BrähmaiCias mit Vorliebe vom vämam vnsu (Ts. I, 5, 1 , 1 ; 2, 3 ;
Tb. 1,1,2, 3; Käth. XXV, 6, vgl. XXXIX, 1); vomsimähi vämdm
heißt es VI, 19, 10. Als vamd wird dem entsprechend, scheint mir,
in erster Linie das bezeichnet, an dessen Erlangung man sich freut
oder freuen möchte. Dazu paßt, daß das Wort gern als substan-
tiviertes Neutrum erscheint. Gegenüber dem in seiner Bedeutung
ja nicht fern stehenden hhndrd betont vämd wohl mehr, daß es sich
um das Ziel eines darauf gerichteten (gerichtet gewesenen) Streben»
handelt; visvä vänidni dhwmhi ist eine mehrfach wiederholte Wen-
dung. Der h'dtii ist bhadtd ; daß er vämd hieße, läge kaum nah
Des Gottes hdsiä sind hliadrd IV, 21, 9; Usas ist bhadtd, aber sie
leachtet uns auf sahd vämcna (I, 48, 1) und ist dntivämä VII, 77, 4.
Nun wird freilich vämd vereinzelt auch von persönlichen Wesen
gebraucht wie I, 164, 1; X, 122, 1, oder von einer Wesenheit wie
dem siiMa (Opferformel bei Caland-Henry 221). Wenn PB. XIII,
3, 19 väina als Beiwort eines zu lobenden {yam . . . prasamsanti)
Rindes, ßosses, Mannes erklärt wird, trifft diese Angabe, zu der
die Besprechung des vanna den Anlaß gibt, den rgvedischen Haupt-
sinn des Worts doch nur ungefähr. Die spezielle Beziehung auf
Körperschönheit (wie in vämahhrü, vämanelrä) ist jung.
10. Wir haben die vedischen Worte für Schönheit und ver-
wandte Vorstellungen durchmustert. Es liegt nah noch einen Blick
darauf zu werfen, wie der Dichter des IJgveda die ihm vorschwe-
benden Erscheinungen von Schönheit beschreibt — vielmehr Frag-
mente von Beschreibungen gibt, denn für ihn handelt es sich ja
darum den Gott zu preisen — : wobei natürlich reichere Ausdrucks-
mittel verwandt werden, als jene die Schönheit direkt benennenden
Worte.
Ein junger vedischer Autor sagt einmal: „Wer tanzt, wer
singt, an dem hängen die Weiber am meisten". Kein Zweifel, daß
in solch profaner Lyrik, die selbstverständlich auch in der Zeit
des Bgveda in Blüte stand, vieles anders ausgesehen hat, als in
den Opferhymnen. Wir kennen leider nur diese, und von ihnen
allein können wir sprechen.
Schönheit sah der vedische Poet zunächst in der menschlichen
Erscheinung und — dies für die geistlichen Sänger der Hauptiall
— in der Erscheinung der menschenähnlichen Götter. Er sah sie
weiter in der Natur: was denn wieder vielfältigst auf die Götter-
welt führt, insofern die Natur sich in göttlicher Verkörperung
darstellt. Er sah sie endlich in den Werken menschlicher Kunst-
fertigkeit, vor allem in seinem eignen Werk, dem Gedicht.
62 H. Oldenberg,
Wir beginnen mit den Göttern.
Dem vedischen Grott kommt Schönheit keineswegs als selbst-
verständlicher Besitz zu. Wie unter Menschen, so gibt es auch
in der Grötterschar nicht nur junge und alte, sondern auch schöne
und minder schöne *). Beim großen Dreinschläger Indra tritt neben
seiner Riesenstärke Schönheit wenig hervor. Der erhabenste aller
Vedagötter, Varuna, wurde, wenigstens nach der Angabe jüngerer
Texte, bei einem bestimmten Opfer durch einen verkrüppelten,
kahlköpfigen, gelbäugigen Menschen dargestellt: „das ist die Gestalt
des Varuna". Hat die Scheu vor dem gefährlichen Gott seiner
Erscheinung eine Furchtbarkeit mitgeteilt, die als abstoßendste
Häßlichkeit erschien?
Zur Veranschaulichung nun davon, wie Götterschönheit sich
im Veda darstellt, greife ich zwei Beispiele heraus. Auf der einen
Seite eine durchsichtigste, schon sprachlich durch den Namen an-
gezeigte Vergöttlichung einer Naturerscheinung, auf der andern
«in Götterpaar, dessen Naturbedeutung für das Verständnis der
Verehrer verdunkelt war. Jene weiblich, dies Paar jünglingshaft
männlich: TJsas (die Morgenröte) und die beiden Asvin.
Bei Betrachtung der Usas erinnern wir uns zuvörderst daran,
daß hier die Naturerscheinung und das menschenähnliche Bild be-
ständig durcheinander fließen. Der Lichtglanz des Morgenhimmels
gerinnt zu weiblicher Gestalt; diese Gestalt verschwimmt wieder
in der Lichterscheinung: solches Hin und Her ist eben das Cha-
rakteristische. Was das Auge am Morgenhimmel sieht, ist bald
die Göttin, bald ist es ein Teil von ihr, etwa ihr Busen; oder es
ist ihr Gewand, ihr Schmuck, ihr Getier, ihre Hervorbringung,
ihre Gabe. Unaufhörlich wechselt eine Auffassung mit der andern,
spielt auch zwischen direkter Gleichsetzung und bloßer Vergleichung
ein beständiges Sichlockern und Sichbefestigen der Bilder hin und
her^). Durch alles aber zieht sich der unverwandte Hinblick auf
üsas' Schönheit. Sie ist das schönste (.sVes^Aa) Licht der Lichter.
Leuchte uns mit deinen schönsten Strahlen, ruft man sie an.
Zur Schönheit (sri) haben sich die leuchtenden Morgenröten er-
hoben. Der Schein der Himmelstochter Usas ist erschienen, daß
1) Man wird an dieser sich aufdrängenden Beobachtung nicht durch eine
solche gelegentliche Äußerung wie VI, 48, 19 (oben S. 38 A. 3) irre werden.
2) Wie es da auch nur ein reines Wortspiel zu sein braucht, das die Brücke
zwischen Bild und AVirklichkeit schlägt , zeigt I, 92, 3 ärcanti ndrir apäso nä
mdihhil^, wo der Doppelsinn von arc-, „leuchten" und „singen" dazu führt, daß
die leuchtenden Morgenröten mit fleißigen, bei der Arbeit singenden Frauen ver-
glichen werden.
Die vedischen Worte für „schön" u. „Schönheit'' u. d. vedische Schönheitsgefiihl. 63
Schönheit gesehen werde. So lassen die Dichter der Usas-
hymnen es sich fortwährend angelegen sein, Vorstellungen gefäl-
liger Anmut, Erinnerungen an bunt erfreuliche Eindrücke — hier
und da streifen sie vielleicht an das Sinnliche — heraufzube-
schwören.
Es ist eine wahrhaft staunenswerte Fülle sinniger Gedanken-
spiele und tiefgründiger Gedanken, die jenen Alten der Anblick
des Morgenhimmels geweckt hat und in deren Mitte wie in einer
Umrahmung die Erscheinung der schönen G-öttiü steht — vielmehr
nicht steht, sondern in wechselnden Gestalten schwankt. Da ist
die Rede vom Schwesternpaar Nacht und Morgenröte, die gemein-
sam ihren unendlichen Weg ziehen, die schwarze der hellen das
Feld räumend — von den Vergangenheitsfernen der ersten Morgen-
röte, die des ersten Tages Namen kennt — von den Morgenröten
der Zukunft, den vielen, die noch nicht aufgeleuchtet haben —
vom Zügel des Rta, der Weltordnung, der die unwandelbar ge-
wisse Wiederkehr der Morgenröten lenkt — vom Aufflammen des
morgendlichen Feuers, dem Auffliegen der Vögel, dem Sicherheben
der Menschen vom Schlafe, wenn die G-öttin Usas kommt und ihr
nachgehend, wie ein Jüngling dem Mädchen, der Sonnengott. Und
nun die Bilder ihrer eignen Erscheinung und ihres Tuns. Einen
Teil der Züge liefern die Motive von Licht und Himmelsweiten.
Es wurde schon erwähnt, daß sie das schönste Licht der Lichter
genannt wird. Bis zu des Himmels Ende hat sie sich ausgebreitet
und bis zur Erde. Ihre hellen, unsterblichen Strahlen verteilen
sich über die Räume. Sie steht da, das Wahrzeichen der Unsterb-
lichkeit. In Licht ist die Himmelstochter gekleidet. Rötliche Kühe
fahren ihren Wagen. Andre Züge dieser Bilder stammen aus dem
menschlichen Dasein, dem Alltagsleben. Wie ein Mädchen mit
ihrem Körper prangend, lächelnd zeigt die Junge ihren Busen.
Wohl anzuschauen wie ein Weib von der Mutter geschmückt zeigt
sie ihren Körper. Wie ein Mädchen, das keine Brüder hat, geht
sie den Männern entgegen. Sie salbt sich mit Salben, wie Frauen,
die zu einem Fest gehen. Aufgerichtet steht sie da gleich einer
Badenden, daß wir sie schauen mögen. Helles Gewand tragend
ist sie licht erglänzt. Dazwischen Vergleiche aus andern Sphären
der täglichen Existenz : wie eine Stute — daran, daß göttliche Er-
habenheit solchen Vergleich ausschlösse, ist natürlich nicht zu
denken — ; dann ein Bild, döm man die Herkunft aus der Priester-
phantasie ansieht: wie die Opferpfosten, die bei den Opfern auf-
gerichtet sind (um die Tiere daran zu binden). Näher ausgeführt
werden alle diese Bilder nicht ; ebenso wenig findet sich zusammen-
ß4 H. Oldenberg,
hängende Schilderung von Vorgängen, in denen sich die Erschei-
nung der Göttin abzeichnen könnte. Sondern ordnungslos verstreut
hier dieser, dort jener Zug, viel Farbe and Licht, wenig feste
Linien, alles vermischt mit dem Preise von Usas göttlichen Wohl-
taten und mit Bitten. Fortwährende Vergleiche müssen die noch
unentwickelte Fähigkeit , die Erscheinungen direkt zu zeichnen,
ergänzen. Bemerkenswert ist, daß vom Antlitz der Göttin, wenn
ich nicht irre, nirgends die Rede ist, man müßte denn die Erwäh-
nung ihres Lächelns hierher ziehen: wie überhaupt Leben und
Schönheit des menschlichen Gesichts den Dichtern des Rgveda
noch wenig aufgegangen ist^). Für unsere Empfindung liegt eine
gewisse Dissonanz darin, daß deren Phantasie, welche die un-
endlichen Weiten der Himmelsräume, der Vergangenheit und Zu-
kunft so kühn durchstreift, dann, wenn sie der Göttin Gestalt
menschengleich zu bilden versucht, sich nicht über die schlichteste
Wirklichkeit des umgebenden Kleinlebens zu erheben weiß. Was
sie da schafft, ist die Gestalt einer anmutigen Dorfschönen von
zweifelhaften Sitten. Der ambrosische Zug fehlt. —
Bei den beiden Asvin lag, wie schon bemerkt, für die ve-
dischen Dichter eine andre Situation vor, da hier die Naturgrund-
lage — meiner Überzeugung nach Morgenstern und Abendstem —
in Vergessenheit geraten war. Man sah Usas ; die Asvin sah man
nicht. Schönheit {sri) schreibt der Rgveda diesem Götterpaar wohl
noch häufiger und nachdrücklicher zu, als der Morgenröte. „Mit
Schönheit seid ihr vereint", wird zu ihnen gesagt; man gedenkt
ihrer „ansehnlichen Schönheiten" {srzhJdr darsatdbhih) ', „zur Schön-
heit hat die Tochter der Sonne euren Wagen bestiegen" ; „eure
Schönheit hat das junge Weib erwählt, der Sonne Tochter". Und
mehrere der andern oben besprochenen, der Vorstellung der Schön-
heit nah stehenden Ausdrücke werden mit Vorliebe eben inbezug
auf die A^vin gebraucht^). Man nennt sie jung, sehr glänzend;
sie tragen Goldschmuck, den Lotuskranz. Von der Lebendigkeit,
1) Man. selie, um nur einiges herauszugreifen, 11, 32, 6. 7 ; X, 86, 8 : was da
an Frauen — daß es göttliche sind, macht keinen Unterschied — gerühmt wird,
sind die schönen Arme und Finger (subähüi, — welch andres Bild gibt Xsvyi&Xsvog
— svangurilt), die starken Zöpfe, der breite jaghana (dessen gewaltige Dimension
bei einer Göttin Käth. VIII, 17 hervorhebt). Auf die Haartracht legt auch Vs. XI, 56
besonderes Gewicht. Die Schönheiten, welche Rv. X, 86, 6 die Göttin an sich preist
(nä mdt stri subhasättarä usw.), hängen natürlich mit dem besondern Zweck zu-
sammen, den sie dort verfolgt.
2) Sie sind die suhhäs päti, oben S. 55 ; valgu, oben S. 57 ; häufig begegnet
in Zusammenhängen, die sie betreffen, das Wort väpus (S. 55 f.).
Die vedischen Worte für „schön" u. „Schönheit" u. d. vedische Schönheitsgefühl. 65
die an manchen Stellen der Usashymnen erreicht wird, fehlt meiner
Empfindung nach ihrem Bilde doch etwas. Die vedischen Dichter
scheinen in diesem Fall durch die Verschiebungen, welche die
Grötter. von der Naturerscheinung entfernt haben, gehemmt zu sein :
die Kraft auch Nichtgesehenem volle, anschauliche Wirklichkeit zu
verleihen, haben sie eben nur selten bewährt. Bei den A^vin
griffen sie gern, wie um den Mangel gutzumachen, noch weit über
ihr gewohntes Maß hinaus zu Vergleichungen, zuweilen in langen
Reihen — Vergleichungen, die keine feste Linienführung eines
selbständig dastehenden Bildes beleuchteten und belebten, sondern
sich ihrerseits allein in den Vordergrund drängend, bunt mit ihren
Motiven wechselnd durch Häufungen gesuchter Einfälle die Phan-
tasie eben nur hin und her warfen: wie zwei Brahmanen tragen
die A^vin ihren Spruch vor ; wie zwei Weiber sind sie , die sich
putzen; wie zwei Schiffe mögen sie uns zum Ziel bringen, und so
fort^), wo dann die Masse der Bilder das Bild ibrer Erscheinung
und ihres Tuns durchaus verbirgt. Es ist bezeichnend, daß diese
Lieder ziemlich ebenso viel wie vom Aussehen der Asvin selbst von
dem ihres Wagens sprechen, des glänzenden, goldenen, schönge-
schmückten, der mit seinen Radschienen leuchtet, dessen Geleise
von Butter triefen. Den Dichtern, die den Herren prächtiger
Wagen dienten oder selbst Wagenbesitzer waren, hat dies Phan-
tasiebild des göttlichen Wagens vielleicht in größerer Bestimmtheit
vorgeschwebt, als die ungewisse, lichtumwobene und doch keinem
der sichtbaren Lichtgebilde verwandt scheinende Grestalt der himm-
lischen Jünglinge selbst. —
Wenden wir uns von diesen rgvedischen Bildern der GÖtter-
schönheit zu denen der Naturdinge und Naturereignisse, so ist,
wie schon bemerkt, die Grenze verschwimmend. Es ist ja nur
ein relativer Unterschied, ob dem Dichter mehr jene übermensch-
lichen, doch von der Natur meist untrennbaren Gestalten sich her-
vorheben oder das Naturbild, das seinerseits überall von jenen
Gestalten belebt ist, in ihnen sein Wesen und seinen Sinn zu-
sammenfaßt.
Eine bedeutendste, für das Dasein des vedischen Inders durch-
aus entscheidende Naturmacht sind die Flüsse, unter denen, „den
dahineilenden, an Gewalt voran die Sindhu (Indus) steht''. Wie
schildert der Dichter den mächtigen Strom? „Am Himmel hat
ihr Rauschen seinen Stand, droben über der Erde. Endloses Un-
1) Ich weise vornehmlich auf 11,39; VIII, 35, 7— 9 und das meist dunkle
Lied X, 106 hin.
Kgl. Ges. d. Wiss. Nachrichten. Phil.-hist. Klasse. 1Q18. Heft 1. 5
66 Ö. Oldenberg,
gestüm erregt sie mit ihrem Licht. Wie aus der Wolke donnern
die Regengüsse hervor, wenn die Sindhu einhergeht gleich brül-
lendem Stier . . . Vorwärts strömend, bunt, hell in ihrer Größe
verbreitet sie durch die Weiten ihre Lüfte, die untrügliche Sindhu,
der Tätigen tätigste, gleich einer Stute prächtig, wie eine Wunder-
gestalt anzuschauen . . . Ihren leichten Wagen hat die Sindhu
angespannt, den roßgezogenen. Mit ihm hat sie den Siegespreis
gewonnen in diesem Wettlauf. Grroß seine Größe wird gerühmt,
der untrüglich ist, selbstglänzend, segenströmend" (X, 75, 3. 7. 9).
Man sieht, wie Himmel und Erde dienen müssen, die Sindhu zu
verherrlichen, Licht und Lüfte, Wolke und Regenströme, Wagen,
Roß, brüllender Stier. Auch hier eine Flut von Bildern, die sich
in des Dichters Phantasie drängen ; jedes wirft er mit einem Wort
hin, bei keinem verweilt er; alle zusammen geben einen Gesamt-
eindruck, in dem grenzenlose Weiten, Glanz, Getöse, stürmende
Bewegung, Sieg durch einander blitzen und wogen. Ein andrer Poet
spricht vom Gewitter (V, 83): Löwengebrüll erhebt sich aus der Ferne,
wenn Gott Parjanya das Regengewölk schafft. Die Winde stürmen
hervor. Die Blitze fliegen. Die Kräuter schießen empor. Die Sonne
trieft von Feuchtigkeit. Die Erde beugt sich nieder unter des Gottes
Gebot. Oder der Sonnenaufgang (I, 50) : die Sterne schleichen weg
wie Diebe, die Sonnenstrahlen werden sichtbar unter den Menschen,
glänzend wie Feuerflammen. Aber neben dem Wunder anblick der
Sonne läßt der Gott den Menschen auch den der Finsternis schauen
(VII, 88, 2) — das ruhevolle Bild der Nacht (X, 127). An vielen
Orten hat die Göttin Nacht aufgeblickt mit ihren Augen; alle
Schönheiten (sriyaJi) hat sie sich angelegt. Sie hat die Weite er-
füllt, die Tiefen und die Höhen. Die Dörfer sind zur Ruhe ge-
gangen, zur Ruhe was läuft, zur Ruhe was fliegt, zur Ruhe selbst
die gierigen Adler ^). Nun der Mond- und Sternenschein (I, 24, 10):
jenes Bärengestirn dort oben — bei Nacht sieht man es ; bei
Tage ist es fortgegangen, man weiß nicht wohin. Durch die
Nacht blickend geht der Mond. Endlich der Wald, wo die Wald-
frau haust (X, 146) — ob sie sich nicht in der Einsamkeit fürchtet ?
Tierstimmen erklingen; dem Ruf des Stierbrüllers antwortet der
Zwitscherer. Da meint der Wanderer , daß er Rinder weiden
sieht, oder daß er ein Haus sieht. Abends hört man ein Knarren
wie von einem Lastwagen: das ist die Waldfrau . . .
Alle einzelnen Erscheinungen der Natur aber fassen sich zu-
sammen im Bilde eines mächtigen, kunstvoll gefügten Ganzen.
1) Neben das rgvedische Lied halte man Av. XIX, 49. Auch dort ist von
der sri oder den sriyalk der Nacht die Rede, indem sie sanibhrtcisrib, genannt wird.
Die vedischen Worte für „schön" u. „Schönheit" u. d. vedische Schönheitsgefühl. 67
Weise in seiner Größe ist des Gottes Wesen, der die beiden Welten
(Himmel und Erde) aus einander gestützt hat, der das erhabene
Himmelsgewölbe emporgetrieben, Sternenwelt und Erde ausge-
breitet hat (VIT, 86, 1) — jener gute Werkmeister, der die wohl-
gegründeten Luftwelten im balkenlosen Raum weise zusammen-
fügte (IV, 56, 3) — der Vater, der Himmel und Erde in Gestalt
gekleidet hat, so daß sie die Wesen behütend dastehen gleich zwei
stolzen Frauen, wunderbar anzuschauen (I, 160, 2).
Die priesterliche Künstelei, mit der die vedische Atmosphäre
in der Tat reich und überreich gesättigt ist, hat, das sieht man aus
alldem, dem unbefangenen Gefühl der Nähe gegenüber der Natur
samt ihren großen Mächten und Herren doch keinen Eintrag getan.
Man rechnet auf deren Freundschaft, den altbewährten Verkehr
mit ihnen in Geben und Nehmen. Sie verschmähen es nicht, daß
man ihnen schmeichelt. So spricht man ihnen vor allem von ihrer
Größe, und man unterläßt nicht leicht, die eifrig ins Maßlose zu
steigern. Doch wo nur immer die Naturerscheinung dazu einlädt,
klingt aus solchem Preise zugleich* auch die bewundernde Freude
an ihrer Schönheit hervor. So bunt die Fülle der wechselnden,
oft wirren Bilder ist, mit denen man die Schilderung dieser Schön-
heit umkleidet, sie selbst sieht man doch im Grunde in ihren ein-
fachen, großen Zügen. Die Schönheit nicht des Kleinen, sondern
vor allem der Kraft und Größe, vorwärts eilender Bewegung wie
der des Stromes — die Schönheit des Lichts, des mild anmutigen
der Morgenröte wie der siegreichen Strahlengewalt von Sonne und
Feuer. Doch auch im lichtbeströmten Dunkel und Frieden der
Nacht entdeckt man „alle Schönheiten'^ : wir bemerkten, daß dies
Wort da ausdrücklich ausgesprochen wird. Wie anders, wie viel
schlichter betrachtet und verherrlicht der vedische Dichter all das,
als die Poesie der klassischen Zeit mit ihrer weichen, so oft weich-
lichen Schwelgerei in der Natur, wo man unermüdlich, kein Ende
findend alle verstecktesten Züge des Naturbildes sammelt, auf sie
anspielt , überkünstliche Labyrinthe aus ihnen erbaut , um darin
die eigne Empfindsamkeit und üppiges Genießen berechnend zu
spiegeln! —
Nun noch einige Worte darüber, wie der vedische Dichter von
der durch menschliche Kunst hervorgebrachten Schönheit spricht.
Äußerungen über die greifbaren Objekte, welche die Kunst —
vielmehr das Kunstgewerbe — geschaffen hat, können hier kaum
herangezogen werden ; die Texte sind allzu unergiebig, und Funde
kommen nicht zu Hilfe. Höchstens darauf wäre hinzuweisen, daß
schon der Veda die Neigung zu reichem Schmuck, die bekanntlich
5*
68 H. Oldenberg,
auch Megasthenes an den Indern bemerkte, deutlich erkennen
läßt ') : ganz im Einklang mit allem, was sich uns bisher über das
vedische Schönheitsideal ergeben hat. Reichlicher jQnden sich Äuße-
rungen nur über das Kunstprodukt, das dem vedischen Poeten am
nächsten lag: über sein eignes religiöses Lied. Freilich auch hier-
von wird doch kürzer, abgerissener gesprochen, als etwa von den
Eindrücken der Morgenröte, des Gewitters: begreiflich, daß man
zum Grott von den Herrlichkeiten seines göttlichen Seins und Tuns
eingehender redete , während man ihm gegenüber der Schönheit
des menschlichen Dichtwerks nur mit kurzen Beiworten zu ge-
denken gewohnt war.
Zwei Auifassungen des vedischen Dichters von der Entstehung
seines Gredichts vermischen sich mit einander. Bald erscheint ihm
dieses als göttliches Geschenk — gottgegeben wird es genannt;
der Gott hat es ihm in den Mund gelegt; der göttliche Rausch-
trank, der Erzeuger der Gedanken, hat ihm die Rede erregt (IX,
96, 5; VI, 47, 3). Bald anderseits fühlt er sich selbst als den Er-
zeuger oder als den Verfertiger des Gedichts, das er umsichtig
und kunstreich „wie treffli-che, gutgearbeitete Kleider, wie einen
Wagen ein kluger, geschickter Werkmeister gezimmert hat" (V,
29, 15) ^). Es genügt diese Anschauungen hier kurz zu berühren.
In jedem Fall nun gehört zur Wirksamkeit des Gedichts außer
seinen zauberischen Eigenschaften selbstverständlich auch, daß es,
um dem Gott „das Herz zu berühren", dessen Wohlgefallen weckt,
daß es also, wie wir uns ausdrücken würden, „schön" ist.
In den Äußerungen des Rv. , die es in dieser Richtung cha-
rakterisieren, tritt das Wort, das Körperschönheit am unzweideu-
tigsten bezeichnet, halyäna (oben S. 53 f.) noch nicht auf. Beruht
dessen Verwendung für das hier in Frage kommende Gebiet auf
späterer Ausdehnung seines Gebrauchs ? In nachrgvedischen Texten
steht es mehrfach von Redegebilden. Dagegen sagt der Rv. IV,
41, 8 Sri den girah^ manisäh nsich,^hJiadrd laJcsmth — dies freilich
genau genommen nicht eigentlich auf Schönheit zielend (oben S. 46)
--- ist in der väc niedergelegt (X, 71, 2). Besonders häufig sind die
Äußerungen, die die Schönheit des Gebets, des Dichtwerks, als
Helligkeit, in die Augen fallende Sichtbarkeit u. dgl. feiern, ßrhaspati
1) Näheres s. bei Zimmer, Altindisches Leben 261 fF.
2) Daß, wenn ich nicht irre, der Töpfer, der Schmied nicht in gleicher Weise
zur Vergleichung mit dem Dichter herangezogen wird, s/heint mir doch nur Zufall
zu sein
Die vedischen Worte für „schön" n. „Schönheit" u. d. vedische Schönheitsgefühl. 69
legt dem Sänger dyumdtlm väcam in den Mund X, 98, 2. 3 ^) : be-
greiflich, daß bei solcher Eigenschaft der Rede an ihre Gott-
gegebenheit gedacht wird. Die väcah des Sängers sind jyotiragräh
VII, 101, 1 ; vgl. vipdm jyötlmsi III, 10, 5. Auch citrci, süci, suJcrd
(stikrävarna^)) wird ähnlich gebraucht. Weiter wird, wie zu er-
warten, der Vorzug des schönen Gredichts oder Gebets als Süßig-
keit • aufgefaßt ; so wird svädü, svädtyas, .svädistlia, svädmdn ge-
braucht. Bei den häufigen mit mädhu (mddhumant usw.) gebildeten
Ausdrücken wird die Vorstellung der Süßigkeit, die das Wort in
sich trägt ^), verstärkt durch die der Süßigkeit, in deren Besitz es
den Menschen setzt (so bei dhiyam mddhor ghrfdsya pipyüsim VIII,
6, 43 u. dgl.). Auch unter den verbalen auf die Herstellung des
Preisliedes durch Menschenkraft bezüglichen . Ausdrücken finden
sich neben solchen, die das Motiv der Handwerksmäßigkeit ent-
halten („zimmern", ;, weben"), nicht wenige, die das schöne Aussehen
des Kunstwerks berühren. Man mag schwanken, ob man dahin
das „Reinigen" {pü-, auch wrj-) des Gedichts rechnen soll. Be-
stimmter tritt das beim „Salben" hervor {girah sdm anje 1, 64, 1
u. dgl.; das Gedicht ist selbst aJctü VI, 69, 3; vgl. NGGW. 1915,
212 A. 3). Weiter ist von „Schönmachen" (subh')j von ;, Verzieren"
(pis-j vgl. sücipesasam dhiyam I, 144, 1) die Rede. Beständig findet
man auch in diesen Zusammenhängen, wie ja eben zu erwarten,
dieselben Richtungen der Schönheitsvorstellung auf das Glänzende,
das Süße, das Geschmückte wieder, denen wir auch sonst fort-
während begegnen. Der Hymnus an die Väc X, 125, auf den man
bei Untersuchung dieses Vorstellungskreises in erster Linie hin-
sehen möchte, feiert allein die Macht der Rede, nicht ihre Fähig-
keit, Schönheit in sich aufzunehmen und zu verbreiten. Aber wenn
der wundervolle Vers X, 71, 4 dem Blinden und Tauben, der die
Väc nicht zu sehen, nicht zu hören weiß, den Begnadeten ent-
gegenstellt, dem die Göttin ihren Leib hingibt, wie dem Gemahl
die schöngewandige Gattin: klingt daraus nicht lebensvolles be-
glücktestes Verständnis auch für die Schönheitsmächte heraus, die
in der Sphäre der väc walten?
1) Ist hier, wie die gangbare Annahme ist, mit „hell" gemeint „laut"? Ich
glaube , daß eher an Herrlichkeit im Allgemeinen gedacht ist , wozu allerdings
kräftiger Klang mit gehören wird. Mehr Belege s. bei BR. dyumat 1^ ; vgl. auch
dyumnävant, dyumnin, dyumndhüti. Weiter sei an den Terminus puroruc u. dgl.
erinnert. Von Sämannamen spreche ich hier nicht.
2) Über dies Wort, mir nicht überzeugend, Hillebrandt, Ritual-Litt. 13.
3) Hierbei erinnere ich an die Rolle des mädhu bei Naräsamsa, dem Genius
der Lobpreisung, NGGW. 1915, 212 A. 3.
70 H. Oldenberg,
11. Wollte man die Sammlung altvedischer Äußerungen, die
hier vorgelegt wurde, für die Eolgezeit fortsetzen, würde man in
den Brähmanas nur dürftigste Ausbeute finden: die Opfer- und
Zauberkünstler, die dort das Wort führen, reden von Schönheit
wenig. Um so reichere Ernte würde, noch vor den Zeiten der
großen Epen, die buddhistische Literatur bieten. Wie hat hier
die gesteigerte Kultur, das Hindurchgehen des Innenlebens durch
so manche Kämpfe und Krisen den Blick und die Ausdrucksfähig-
keit der Rede für Schönheit gestärkt und verfeinert I Diese Mönche
dem Welttreiben entflohen, viele von ihnen ihre Tage und Jahre
ganz in der Stille der Natur zubringend und deren Leben mit der
Kraft indischer Phantasie erspürend, wie hat sich ihnen die Schön-
heit der blütenreichen Waldeinsamkeit aufgetan, des Gebirges mit
seinen Strömen und seinem Wild, des Morgensterns, wenn das
Morgenrot naht, der Sonne am wolkenlosen Herbsthimmel nach
vergangener Regenzeit, der lotusblauen, sternumkränzten Nacht!
Und ebenso hat der Erauenschönheit das Anderswerden der Lebens-
formen gesteigerte, oft gefährliche Macht verliehen. Mögen die
geistlichen Texte von der in noch so feindlichem Ton sprechen,
sie bezeugen darum nicht minder die stilvolle Feinheit, in der jene
sich darstellte und von Kennern gewürdigt ward: die Eeize des
geschmückten, bekränzten, sandelduftenden Weibes und die Voll-
kommenheiten ihrer Glieder. Bald verzeichnet die trockene, hie-
ratische Prosa der Predigttexte die Eindrücke der Schönheit, in
ihrer Weise Reihen von Synonymen ansammelnd, welche alle Wohl-
gefallen ausdrücken. Bald erscheint die Bilderfülle reicher Poesie.
Und Anfänge psychologischer Analyse stellen den Ort fest, an
dem jenes Wohlgefallen sich in den Kreis der mit einander gesetz-
mäßig verketteten seelischen Vorgänge einordnet.
Doch die anziehende Aufgabe, von diesen Dingen zu sprechen,
muß ich der Zukunft vorbehalten. Für jetzt blicke ich nur noch
kurz auf die aus dem Veda beigebrachten Beobachtungen zurück
und versuche die Summe zu ziehen.
Es fand sich eine Fülle von Ausdrücken für Vorstellungen,
die unserm „ schön ^^ mehr oder weniger ähnlich sind — hier Worte
von allgemeinerer oder vielmehr unbestimmterer Bedeutung, dort
fester nuancierte. Da ist der uralte, allgemeinste Ausdruck der
Wertschätzung, die Vorsetzsilbe su-, die gleichermaßen auf Gutes,
Schönes , Angenehmes , Nützliches geht. Von altersher entschie-
dener, wie es scheint, auf Schönheit eingestellt ist das Wort sri —
auf die Schönheits Vorstellung jener Zeiten, in der die Faktoren
des Ansehnlichen, von Glanz, Pracht, Geschmücktheit dominieren.
Die vedischen Worte für „schön" u. „Schönheit" u. d. vedische Schönheitsgefühl. 71
Immer mehr aber bildet dieses Wort im Laufe der Zeit seinen
Gebrauch, in ästhetischer Uichtung ihn nicht verfeinernd, vielmehr
über die Vorstellung des in die Augen fallenden Grlanzes von
Lebensstellung und Lebenshaltung zum Ausdruck für Ideale aus,
die Reichtum, Erfolg, Wohlergehen bedeuten. Andre Worte, mit
denen wir uns beschäftigten, weisen auf das Angenehme, Erfreu-
liche, auch auf das Geputzte hin. ^in manchen Fällen wird das
lebhafte und wohltuende Berührtsein eines Sinnes hervorgehoben :
besonders des Gesichts-, dann des Geschmackssinnes, wo dann die
Tendenz zu Übertragungen gern die ursprüngliche Begrenzung
nach weiten, unbestimmten Gebrauchssphären hin überschreitet.
Spezielle, durch ausgeprägten Aufbau des Worts scharf charakte-
risierte Ausdrücke wie „wohlgestaltet" treten in spärlicher Ver-
wendung auf.
Hat im vedischen Indien jener Prozeß der Veredlung gewirkt,
der über das Angenehme, Glänzende, Süße zu dem im vollen
Sinne „Schönen" hinaufführt? Unsern Versuchen des Nachfühlens
kann diese Frage nur unsicher beantwortbar sein. Manches von
dem, was hier betrachtet wurde, erweckt den Eindruck, daß sie
bejaht werden darf. Freilich erst in nachvedischer Zeit verstärken
sich die Spuren, die darauf deuten. Und verkennen läßt sich nicht,
daß es der vedischen und, kann man hinzufügen, auch der spätem
Sprache durchaus an einem Wort von der zentralen Stellung, dem
vollen und tiefen Klang des xaXöv gefehlt hat. Uifter die großen
Weltmächte wie Gut und Böse, Wahr und Unwahr hat Indien
das Schöne auch in der Folgezeit nie eingereiht. Was damit zu-
sammenhängt: die feinen und tiefen Probleme des Verhältnisses
von Schön und Gut wurden hier nicht aufgeworfen, konnten nicht
aufgeworfen werden. Der Streit dieser Ideale unter einander
hätte auch keinen Platz im Gesichtsfelde gefunden, das von einem
schrofferen Gegensatz erfüllt war. „Ein andres ist das Bessere^)",
so hebt in der Katha Upanisad die Verkündigung des Gottes an,
„und ein andres das Liebere; beide verschiedenen Sinnes fesseln
den Menschen". Es steht fest, daß hier die „bange Wahl zwischen
Sinnenglück und Seelenfrieden" gemeint ist. An sie hat das in-
dische Denken und Leben seine höchsten Kräfte gesetzt. Gewiß
kann entfernt nicht gesagt werden, daß durch die Kämpfe, die
hier gekämpft sind, der Schönheitsfreude aller Raum genommen
worden sei. Aber sich siegreich zu höchster Macht erheben, zu
voller Reinheit läutern hat sie in Indien nie gekonnt.
1) sreyas. Vgl. oben S. 45 A. 3.
Beiträge zur Textkritik Herborts von Fritzlar.
Von
Edward Schröder.
Vorgelegt in der Sitzung vom 8. März 1918.
I.
In xmsern Nachrichten 1909, S. 92 — 102 steht ein kurzer Auf-
satz von mir 'Zur Überlieferung des Herbort von Fritzlar' : er
ist im Anschluß an meine Untersuchung über Albrecht von Halber-
stadt entstanden und gedruckt worden und hatte kein höheres
Ziel als das äußere Bild der Überlieferung und ihr Verhältnis zu
derjenigen von Heinrichs von Veldeke 'Eneide' festzulegen. Da
in den 72 Jahren seit dem Erscheinen der ersten und einzigen
Ausgabe des 'Trojanerlieds' (von Frommann 1837) nur die beiden
Berliner Blätter einer zweiten Handschrift (B) zu Tage gekommen
waren, maßte mein Urteil ziemlich resigniert ausfallen, was aber
im Angesicht des recht guten Textzustandes in der vollständigen
Heidelberger Hs. (H) ohne Beschwer hingenommen werden konnte.
Auf die Textkritik selbst einzagehn hatte ich damals keine Ver-
anlassung: daß dem späten Würzburger Schreiber von H scharf
auf die Finger gesehen werden müsse, war nach den massenhaften
Andeutungen des Herausgebers Frommann durch Sperrdrack im
Text und der reichen, von Benecke gemehrten, Beistener zur Text-
kritik in den Anmerkungen ohne weiteres klar, und ich selbst
wäre schon damals in der Lage gewesen, von den Rändern meines
Handexemplars die weitern Früchte einer drei- oder viermaligen
Lektüre des Werkes bekannt zu geben (s. jetzt unter II). Für
die Vorlage *H aber war ich zu der Überzeugung gelangt, daß
sie 'eine sorgfältig redigierte Kopie' darstelle.
,Da erhielt ich im Jahre 1911 von Professor Hjalmar Psilander
Beiträge zur Textkritik Herborts von Fritzlar. 73
in TJppsala die Nachricht, daß er bei der Inventarisierung der alt-
deutschen Handschriften aas schwedischem Biesitz in der Brahe-
Wrangelschen Bibliothek zu Skokloster zwei zusammen 734 Verse
umfassende Doppelblätter des Herbort von Fritzlar aufgefunden
habe und in ihnen eine ältere, kürzere Fassung des 'Trojanerliedes'
feststellen könne (vgl. die Mitteilung ßS^B 1914; S. 140). Ich hatte
keinen Grrund an dieser Möglichkeit zu zweifeln, mußte allerdings
für mich sofort die Einschränkung machen , daß die 'erweiterte
Form' dann nur eben von dem Autor herrühren könne. Dafür gab es
von vornherein verschiedene Anhaltspunkte. Einmal hatte ich
selbst bei der Lesung des Werkes früher scharf auf die Möglich-
keit von Interpolationen geachtet und war nur an ganz wenigen
Stellen zu einem Fragezeichen, nirgends zu einer entschiedienen
Ausschaltung gelangt. Dann aber besitzen wir seit 1907 in der
Leipziger Dissertation von Walther Brachmann 'Zum Reimgebrauch
Herborts von Fritzlar' eine Untersuchung, die immerhin zu den bessern
Arbeiten ihrer Art gehört und vor allem auf einem zuverlässigen
Reimregister beruht, und aus dieser lassen sich, ohne daß sie dort
formuliert sind, zwei wichtige Resultate entnehmen. Erstens hat
der Verfasser über die von Frommann vorgenommenen (und zu-
meist unanfechtbaren) Reimkorrekturen hinaus in den 18458 Versen
nur etwa ein Dutzend Anstöße gefunden : soweit er diese nicht selbst
beseitigt, werde ich sie im IL Kapitel erledigen. Zweitens sind
die Doppelformen welche Brachmann im Reimgebrauch Herborts
feststellt, sämtlich derart daß sie sich aus der Einwirkung der
litterarischen Tradition erklären, und obendrein kommen sie teil-
weise nur in den ersten Partieen vor und werden im Fortschreiten
des Werkes bald früher bald später überwunden. Von der Ein-
mischung eines dritten, fremden Elements ist nirgends etwas zu
spüren, wo immer der Reim Anstoß erregt, handelt es sich um
eine Entgleisung des Schreibers.
Nach alledem erwartete ich von dem schwedischen Fragment
zwar keine einschneidenden Korrekturen unseres Textes , sah
aber doch der Publikation dieser versprochenen 'älteren Fassung'
recht gespannt entgegen. Vor einigen Monaten ist sie nun ans
Licht getreten in der TJppsala Universitets Ärsskrift 1917, Pro-
gram 2: 'Ett fragment af den tyska Trojasagan i det Wrangelska
biblioteket päSkokloster af Hjalmar Psilander'. (Uppsala 1917)
— und ich will's gleich gestehn: sie hat mir eine schwere Ent-
täuschung gebracht! Wieder einmal bestätigt sich die alte Er-
fahrung, daß der Finder oft ein schlechter Beurteiler ist: das
Fragment aus dem Skokloster (S) steht zwar mit einer Anzahl
74 Edward Sehröder,
guter Lesarten unserer Überlieferung unabhängig gegenüber, sein
Versbestand aber hat keinen Anspruch als ursprünglich angesehen
zu werden; es handelt sich vielmehr um eine Handschrift, deren
Urheber seine gute Vorlage in rohster Weise verstümmelt und
außerdem was er beibehält sehr nachlässig abgeschrieben hat.
Erhalten sind uns zwei zusammenhangende Doppelblätter,
welche der Partie 7735 — 8510 der Frommannschen Ausgabe ent-
sprechen: sie boten dafür ihrerseits 734 Verse, von denen aber
eine Anzahl abgeschnitten oder am Rande weggescheuert sind.
Psilander gibt leider keinen diplomatischen Abdruck, sondern er-
weckt durch Korrekturen und Ergänzungen aus H den Eindruck
einer kritischen Behandlung seines Textes ; diese wenigen Korrek-
turen hat er durch ein Sternchen markiert, die eigenen Lesarten von
S läßt er durch Sperrdruck hervortreten, ist dabei aber sehr wenig
sorgsam verfahren und hat vor allem nicht bedacht, daß die wich-
tigste Grruppe der Varianten, die Wortauslassungen auf diese Weise
nicht zur Geltung kommen. Jedenfalls muß man annehmen, daß
er den Text, so wie er ihn bietet, für einen guten, zuverlässigen
hält, der durch seine von Ps. nicht angetasteten Lesarten seine
Vortrefflichkeit bezeugen soll. Ein Versuch, den Vorzug der Fas-
sung S kritisch zu erweisen ist nicht gemacht: Ps. meint (S. XXI
unten) allen Ernstes, 'schon die flüchtigste Vergleichung' liefere
den Beweis, daß uns in H (B) ein entstellter Text, eine oberfläch-
liche ßetuschierung oder Umarbeitung vorliege, die hauptsächlich
die Tendenz metrischer Grlättung verrate. Die Erwägung, ob nicht
etwa diese 'Umarbeitung' eine zweite Ausgabe durch den Autor
selbst darstelle, ist ihm gar nicht gekommen — für mich, der ich
in dieser Erwartung an das schwedische Fragment herantrat, ist
sie alsbald hinfällig geworden: die starken Abweichungen in S
sind zumeist derart, daß sie ihrerseits unbedingt eine fremde und
zwar eine recht täppische Hand verraten.
Da es Ps. dem 'Fragmentisten' überlassen hat, sich selbst zu
rechtfertigen, bin ich einer weitern Polemik zunächst überhoben
nnd kann alsbald an die Vergleichung der Texte H und S selbst
herantreten. Die Fragmente von B ermöglichen hier keine Ver-
gleichung, aber bei der einschneidenden Verschiedenheit von H und
S einerseits und den sehr geringen Differenzen zwischen H und B
anderseits besteht kein Zweifel, daß sich B in allen wichtigen Les-
arten gegen S zu H stellen würde; auch Psilander hat das natür-
lich gesehen.
Ich beginne mit einer Musterung des Versbestands. S hat
einerseits 44 Verse weniger als H, anderseits 4 Verse mehr. Die
Beiträge zur Textkritik Herborts von Fritzlar. 75
Verspaare von H die in S fehlen, sind die folgenden*): 7736 und
38. — 7789. 90. — 7799. 800. — 7891. 92. — 7939. 40. - 8051.
52. — 8201. 02. ~ 8227. 28. — 8245. 46. — 8265. 66. — 8325.
26. — 8353—56 (4 Verse!). — 8381—86 (6 Verse!). — 8395. 96.
— 8401. 02. — 8437. 38. — 8449. 50. — 8459. 60. — 8497. 98.
— S bietet zweimal ein Reimpaar mehr: nach 7812 (S 73. 74) —
für 8249. 50: 4 Verse (S 499—502). In der Mehrzahl der Fälle
ist eine versehentliche Auslassung von Seiten des einen oder des
andern Schreibers ausgeschlossen: die meisten haben in S nicht
nur Narben hinterlassen, sondern auch mehr oder weniger
gewaltsame Nähte veranlaßt, auf die ich unten zu sprechen
komme.
Der Reimcharakter der Plusverse. Von den 22 Plus-
Reimpaaren in H weisen 18 neutrale reine Reime auf, die für
Dichter JQ^er hochdeutschen Landschaft als rein gelten mußten
und auch bei Herbort reichlich ihre Parallelen haben. Dialek-
tisch gefärbt , aber für Herbort bezeugt sind 8383 f. man : hän
(Brachmann § 14), 8459 f. schwne : Jcröne (Br. § 4) und vor allem
8051 f. Widerreden : friden (vgl. rede : frede 7303 f. Br. § 24. 35) und
8365 f. gemnet: gr'emet (Br. §31, vgl. bes. jenen: grinen 6315 f.).
Den isolierten Reim man: hän 8384 bessere ich indessen in das
auch Herbort sehr geläufige man: gewan] 8597 hin dan: gän ist
entdn zu lesen (s. unter II zu 8867); dann bleibt von ßrach-
mann § 14, 1) nur übrig 4501 f. sän : an (Jiet an getan ?) und 281 f.
stdn : gruoßsam, das ich zu den vielen Besonderheiten der Eingangs-
partie rechne und im Hinblick auf gruozsam 181 nicht ändern mag.
Unter den 44 Reimwörtern (40 verschiedenen) erscheint nur eines
das bei Herbort anderweit nicht belegt ist : grimet {greinet) ^). Dem
gegenüber stehn ausgesprochene Lieblingsreime wie strUen: siten,
schöne : kröne, schulde : hidde und vor allem tmderdes (; Achilles), ein
Reimwort das durch die vielen griechischen Eigennamen auf -es
herbeigerufen, in manchen Partieen geradezu wuchert (vgl. gleich
7771. 7796). — Von den wenigen Plusversen in S hingegen voll-
zieht sich zwar die Anschwellung von 8249^. 50 auf vier Verse
(S 499—502) ohne anstößigen Reim, im zweiten Fall aber (nach
7812, S73. 74) tritt ein Reimpaar auf das doppelt bedenklich ist:
Von ir gerenne : Sie heretin is etiswenne ; gercnne (Ntr.) wäre ein aizai
XsYÖiisvov, das wir dem Dichter, der gesprenge, gedrenge, gedense,
1) Ps. gibt rechts die Zählung Frommanns, links eine Eigenzählung des Frag-
ments, von der ich nur gelegentlich Gebrauch mache, wobei ich ein S voranstelle.
2) Das Prät. zu grimmen: gram steht mehrfach im Reime.
76 Edward Schröder,
gejeeige u. ä. braucht, schon zugeatehn könnten, wenn nicht das,
Adverbium bei ihm bloß mit dem a bezeugt wäre: manne: etiswann^
14319. : wilen wanne 15080.
Dazu treten nun aber eine Reihe von Änderungen des
Reimes in S, die fast durchweg verdächtig und z. Tl. anstößig,
ja unmöglich sind. Ich übergeh dabei ganz Entgleisungen die
Psilander selbst als solche anerkennt, wie 7815 hert (st. da^ swert) :
phert, wie ich anderseits eine Umstellung von H 7753 f. gedranyei
getivenge st.: yetwmige^ gedrenge: für spätere Betrachtung aufspare.
Davon abgesehen zähl ich 11 Fälle in denen das eine Reim wort
abweicht, und 4 in denen S ein ganz neues Reimpaar bietet. Von
den erstem beseitigt 7963 craft hin mahf st. craft (: naht) offen-
sichtlich einen für Herbort litterarisch unanstößigen Reim (Br. § 77),
die Einführung des Adv. schöne 8465 statt des Subst. schcene (; löne)
wäre für Herbort ebenso unnötig (Br. §4), und nur die Ausdrucksver-
schiebung 8347 Mittin durh min herze in st. — durch das her.ze min
bringt allerdings eine Reim Verbesserung (Br. § 34). Die übrigen
8 Fälle berühren die Reimtechnik nicht und sollen, soweit sie eine
Entscheidung gestatten, weiter unten besprochen werden.
Bei dem völligen Ersatz eines Reimpaars liegt zweimal reim-
technische Indifferenz vor: 7989 {mere: 5ere. gegenüber geschiet: niet
H, 8441 f. geschehin: gesehin gegenüber geben: geleben H), in den
beiden andern Fällen aber bringt S unmögliche Bindungen : 7835 f.
mit dem Reimwort nu, das bei Herbort überhaupt niemals am
Versausgang erscheint: mi: du (dö) gegenüber do: .^ito H, das Br.
§70 9 mal belegt (dazu 2 mal dö : fruo) ; und 8455 f., wo das Reim-
paar von H Und hicz sie dannen riten, Er enliez sie niht biten ersetzt
wird durch Vn hiez den satil üf lein, Sie müste ritin übir ein. Der
Inf. legen ist bei Herbort, der ja sonst in weitem Umfang ege > ei
werden läßt (Br. § 55), ausschließlich im Reime srnf siegen (Dat. PI.)
bezeugt : 5119. 6348. 6495. 8813. 11547, und dies siegen reimt zwar
auch 2 mal auf engegen 14715 und 13184, aber hier ist unzweifel-
haft an der unkontrahierten Form festzuhalten , wie sie an der
zweiten Stelle das Fragment B und an der ersten auch H bietet;
der Dichter brauchte deutlich beide Formen und nach seiner wort-
spielenden Art sogar gelegentlich neben einander; so nicht nur im
Vers: 4481 Hie engegen da engein ^), sondern auch im Reim Wechsel :
14713 — 16 cngeine: kleine^ siegen: engegen. Und obendrein läßt sich
gegen das Reimpaar von S noch zweierlei anführen: 1) in allen
1) Vgl. z. B. 320 8i nämen ir iser und isen, 6197 An dem graben und an
der giafl und unten S. 80 die Nachweise für Oive wnäe owi.
Beiträge zur Textkritik Herborts von Fritzlar. 77
fünf Fällen wo sich bei Herbort legen im Reime einstellt, handelt
es sich um den Inf. (heyunden) .zuo legen, 2) über ein ist hier schwer zu
verstehn, keinesfalls hat es die sonst allgemein übliche Bedeutung
'insgesamt', die auch für Herbort bezeugt ist (z. B. 13716).
Unter sieben (3 -f 4) JReimpaaren welche S gegenüber H in gajiz
eigener, neuer Form bietet, sind mithin drei welche als für Herbort
unmöglich abgewiesen werden müssen : S 73. 74 (nach 7812j ; S 97. 98
(für 7835 f.) und S 681. 82 (für 3455 f.). Dem gegenüber haben
wir nur einen einzigen Fall (bei 44 Plusversen in H und 11 weitem
Beimdifferenzen zwischen S und H) feststellen können, wo S einen
bessern Reim als H bietet: 8347. Das ist aber nur erst die rein
äußerliche Betrachtung der Varianten unter dem Gresichtspunkt
der Sprache und Reimtechnik. Ich gedenke dabei nicht stehn zu
bleiben.
Am liebsten würde ich nun so verfahren, daß ich meine
eigene Recension des Textes H derjenigen des Textes S, so wie sie
JPsilander gegeben hat, gegenüberstellte: das wäre für den Leser
?die lehrreichste und für mich die bequemste Form, die Überlieferung
von H im Ganzen zu rechtfertigen und den Gewinn den wir
im Einzelnen aus dem neuen Fund ziehen , die Lehren für eine
Weiterführung der Kritik die wir aus ihm schöpfen können —
durch Hinweise im Text und Hervorhebung der Lesarten — anzu-
deuten. Da aber heutzutage mit dem Papier gespart werden muß,
beschränke ich mich auf einen Ausschnitt und wähle dafür die
Klage der Briseida mit ihrer kurzen Einleitung (V. 8331—8408).
Ich bitte, diesen Ausschnitt nicht etwa als Probe einer kri-
tischen Ausgabe Herborts anzusehen. Ich habe weder eine Unter-
suchung von Herborts Metrik angestellt, noch verfüge ich über ein
vollständiges Reimregister nach Zwierzinas Muster, wie es gerade
bei Herbort reiche Ergebnisse verspricht: ich meine ein solches das
die vollständigen Verse oder Verspaare nach dem Reim ordnet ^)
Was ich hier vorlege hat ja nur den Zweck, die Behauptung Psilanders,
er habe das Bruchstück einer ursprünglichen Fassung aufgefunden,
zurückzuweisen, das Vertrauen in unsere bisherige Überlieferung
zu stärken und weiterhin aus der Konfrontierung beider Texte die
Aufgaben der Kritik für jene 23 Vierundzwanzigstel der Dichtung
zu ermitteln, -für die uns S leider keine Kontrolle liefert.
Mein Text ist also zunächst auf Grrund meines Handexemplars
hergestellt, in das übrigens schon der mir unbekannte Vurbesitzer
1) Den frauzösischen Text in der Ausgabe von Constans (Bd. II) Uab ich
herangezogen, ohne daraus vorläufig viel zu gewinnen.
78
Edward Schröder,
allerlei kleine Änderungen eingetragen hat (so auch hier das un-
entbehrliche ich 8369). Diese kleinen Änderungen (auch geimz^e für
g§nieze 8391) ergaben sich von selbst; eine Ausnahme macht nur
allenfalls V. 8404, wo ich mir die Parallele 15829 vur geeite längst
an den Rand geschrieben hatte, aber ohne die Bestätigung getin
S^) nicht den Mut gefunden haben würde, sie in den Text zu
setzen. Manches von dem was Psilander als durch S gefundene
Besserungen ansieht und in seinem Text als solche durch Sperr-
druck bezeichnet, ergibt sich auch ohnedies als selbstverständliche
Korrektur von Schreibfehlern des H-Textes: daß z. B. für 8342
hetelere als 'Bettlerin' heteler^ d.i. het eieren zu. lesen ist {hede-
lerin S) sieht jeder : die movierten Feminina zu -cere (-ere) sind mit
der Form auf -eren wiederholt im Reime bezeugt: sunder en
Cpeccatrix') : uncrcn 16462, seng eren ('cantatrices') : eren 1 7866.
Ich habe am Außenrande die in S fehlenden Verse mit f
markiert, im Text mit * auf alle Stellen hingewiesen wo die
Lesart von S zu erwägen bleibt; wo dies * fehlt, halt ich die
Textform von S für bewußte Änderung, die zumeist mit einer
Auslassung zusammenhängt.
Do Briseida gesach
Daz ir ze rümene geschach
Die stat da si inne was gehorn,
Sie sprach 'Wör ich groz als ein
8335 Ich müeste kleine werden [torn,
Von sorgen und von swerden
Und von grozen leiden,
Sol ich hinnen scheiden?
Wie scheide ich joch hinne?
340 Ich bin ein küniginne;
Nu muoz ich hinnen keren
Als ein beteleren
TJnde rümen daz lant.
Hete ich daz in der hant
345 Daz ich hän in dem gemüete,
Ein'mezzer wüete
Mitten durch daz* herze min.
Wan daz ich hoffende bin
Daz mir ze blibene gesche,
350 Mins lebens enw^re niet m6'.
Jemerlicher dan ich uch sage
Wart der frouwen klage,
tSie sprach *Owi unde owß!
tOwi nü und immer me
355 f [Owi] daz ic^^ den lip ie gewan !
f Troyle, herzelieber mani
Mir ist min unselikeit,
Herre, um dich einen leit
Ez ist mir allez umme dich,
360 Ich enruoche niet umme mich.
Enweres'^ du, herre, alleine,
Würd ich danne zeime steine,
Des würde guot* rät.
Ginge ich als ein crete gät
365 Und soldich bi eime züne gän
Und mehtich din also vil hän
Daz ich dich gesee,
Swaz (so) mir* geschee,
Daz vei-trüege (^di) harte wol.
370 Nu enweiz ich waz ich tuon soL
Selic naht und selic tac
An sweder ich* bi dir gelact
Eya, troyesch künne!
Swer ie liep gewünne,
375 Der vergünne mir de«
Daz ich engelde ich enweiz we8>
Daz ich läzen einen helt
Den ich arme hete erweit
Zuo mime* libe.
380 An mir armen wibe
1) Ps. hat das Wort richtig beurteilt, aber es nicht einzustellen gewagt.
Beiträge zur Textkritik Herborts von Fritzlar. 79
f Nu enweiz ich waz man riebet, 395 fOwi nü unde owe !
fDaz man mir leide spiichet f Owi nü und immer nie!
•f Unde tribet von dem man Ist ieman der daz vernomen bat
f Den icb von berzen liep gewan. Daz icb mit worten oder mit tat
385 f Owt unde ow^! Oder mit gerete
fOwi nü und immer me ! 400 Übel ie getete,
Waz wil man an mir reeben ? •\ Daz icb verschuldet bän den f^t,
Oder waz mac icb nu sprechen ? fSo tuot mir scJiedeliche not.
Icb enweiz ob icb engulde So sult ir nibt beiten,
390 Mines vater schulde, Heizet fiur geeiten
So genwzze ich mit" rebte 405 Und läzet mich verbnnnen.
Daz min gesiebte, Kere icb alsus binnen
Min man unde min kint In ein unkünde.
Von diser stat geborn sint. Des hat ir alle sünde'.
8331 ohne Absatz Alse S 334 Sie sprach fehlt S also S torm H
V. 336 Von ruwin von swerdin S V. 337 Von sorgin von leidin S
338 Soldich S 339 scheidin ich h. S. 342 betelere H 346 daz
wüte S 347 min herze in /S 348 ich andirs h. S VV. 350
— 352 abgescJieuert resp. forfgeschnitten S VV. 353—356 fehlen S
353 owe vnd H 358 Durch dich S einer H einigin S 360 enraochej
in::::e[?)S V 361 Wene du aleine S 362 ich zv eineme S
363 harte gut S 366 eineme ^S^ 368 Swaz mir dan S 369 ich
fehlt H 372 ich ie bi /S. 373 Troies S 374 Der S 376 ingeltin S
379 minselbislibc/S^ V. 380 Waz riechit man an mir wibe S
VV, 381—86 fehlen S 384 han H 387 Odir waz S 388 Waz S
^ V. 389 Ob ich nu ingulde S 391 genieze H uon r. S. 392 andir
min S V. 394 In grozin truwin hie sint S VV. 395. 96 fehlen S
397 Ob iz iman y. S 400 Ie übil getede S VV. 401. 02 fehlen S
402 schediche H V. 403 Wes miigit ir langir nü betin S 404 ein
groz fiur S bereite H getin S 405. 06 vurbrinen: hunne H
406 sus S 408 Ir hat is S.
•
Den 78 Versen von H stehn in S (577—640) 64 Verse gegen-
über: 4 -}- 6 -f 2 + 2 Verse von H fehlen. Da es sich hauptsächlich
um Ausrufe handelt, die ohne syntaktischen Eingriff herausge-
nommen werden konnten, sind die Lückenränder hier weniger stark
beeinflußt worden als anderwärts, obwohl der Versuch einer Gegen-
probe jeden überzeugen muß, daß die Hinzufügung der 'Plusverse'
durch H resp. dessen Mutterhs. einfach undenkbar ist. Eine Be-
trachtung des rhetorischen Aufbaus der Klage in H ergibt ein
künstlerisches Grebilde, "das von S in der plumpsten Weise gestört
ist, indem der Schreiber glaubte durch Weglassung der 'Owe'-
Ausrufe und ihrer Umgebung am bequemsten kürzen zu können.
Oerade diese Ausrufe aber kehren in den Frauenklagen Herborts
80 Edward Schröder,
oft wieder: so 2661. 66— 69 (If elena) ; 2756. 62 f. (Cassandra); 5277
(Königin von Femeniö), und dabei machen wir eine Beobachtung^
welche die gute Überlieferung von H bestätigt. 7385 und 7395
lesen wir Owi umle oivc! und wahrscheinlich hat so auch 7353^
gelautet : diesen Wechsel aber finden wir auch 5277, und 2762 f.
witd er sogar durch den Reim bestätigt :
B&idß ferre unde hi.
'Otcc unde 0 iv i !
Owi unde 0 w e !
Waz' liumet noch von FarkU . . . ?'
Auch sonst enthalten die 'Plusverse' deutliche Anklänge aa
echte Partieen: 8365 Baz ich den Itp ie getvan ist sogar wörtlich
gleich 2658. Psilander will allenfalls 8355. 56 als echt zuge-
stehn, weil da in dem Anruf des Troylus ein deutlicher Anklang
an die Quelle (Constans 13286 f.) vorliegt. Aber hier gibt es
nur eine prinzipielle Entscheidung: H hat nirgends nachweislich
zugesetzt, S aber hat zweifellos vielfach gestrichen und dann die
Ränder geflickt wo es nötig schien. Bei der ersten Stelle (8353
— 56) ging es ohne das, an der zweiten (8381 — 86) wurde der vor-
dere Randvers aufgeschwellt: An mir armen wihoWas riechit
man an mir ivihe ? und der hintere mit einem höchst ungeschickten
Oder angeschlossen {Odir imz wil man an mir rcchin?), das aus
der nächstfolgenden Zeile entnommen werden konnte ; beim dritten
Male sind die Änderungen welche die Randverse erfahren haben
(8394 u. 397) nicht durch die Auslassung bedingt, an der letzten,
Stelle war der Nachsatz mit So schon durch die Streichung von
8402 aufgegeben, und der Bearbeiter fuhr nun mit einem Fragesatz
fort ^Wes mügit ir langir nu heün?^
Von den sonstigen Lesarten ist 336. 37 Von rinvin, von stverdin
Von sorgin, von leidin S schon metrisch verdächtig ; die Überlieferung
H wird durch reichliche Parallelen gestützt, von denen ich nur
anführe 14072 f. Von sorgen und von s wer den, Von grozen
umoerden, 16137 Von sorgen und von sweren. 8404 wird das
schlichte Hci/set fiur bereiten (resp. geeiten S) gegenüber ^ein gro/
fivr S empfohlen durch das einfache fiur geeiten 15829 und fiur
ntaohen 15752 f. In den übrigen Fällen die noch erwogen werden
können, handelt es sich um einen glatten Vers in S, dem ein Vers
mit beschwerter Hebung oder überladener Senkung in H gegen-
über steht, aber immer ein Vers wie er für Herbort zugestanden
werden muß: so (8348.) 8361. 8363. 8367. (8368.) 8379. (8392.)
Bei den nicht eingeklammerten Stellen wird eiiie auf metrische
Beiträge zur Textkritik Herborts von Fritzlar. 81
Untersuchungen gestützte Nachprüfung vielleicht zu Gunsten von
S entscheiden. — Ich selbst würde jetzt schon das i e V. 8372 und
von rehte st. mit r. 8391 aufnehmen ; gegen das metrisch gute und
durch Parallelen zu stützende harte guot 8363 sträub ich mich (trotz
8912), weil der Schreiber nachweislich (s. u.) öfters harte zuge-
setzt hat ; meine Besserung 8368 (die nicht metrisch notwendig ist)
möcht ich gegenüber S beibehalten, weil dies altertümliche so nach
swer, swie, swelh in H mehrfach ausgefallen ist, s. zu 15480 (S. 99).
Eh ich zur Durchmusterung der Varianten außerhalb dieses
Probestücks schreite, schalt ich eine kurze Charakteristik des
Fragments ein, wie sie schon ein rascher Überblick ergibt: sie
wird wohl dazu beitragen, unser Urteil zu festigen. S mag immer-
hin ein Menschenalter älter sein ('um 1300') als H (1333), und es
steht dem Niederhessen Herbort entschieden näher als diese ost-
fränkische, Würzburger Handschrift. Ps. bezeichnet die Sprache
von S als südfränkisch ^), ich setze die Hs. etwas weiter nördlich,
ins südwestliche Gebiet des Rheinfränkischen. In einigen Punkten
steht die Orthographie dem Reimgebrauch des Dichters nahe, wo H
in die eigene Sprachform auszuweichen pflegt, so schreibt S 8121
phlit (vgl. Brachmann § 41 , 2) und selbst im neutralen Reim richtig
rittirschaf: hodeschaf 7999. 8000. Besonders bemerkenswert ist, daß
im Versinnern (resp. Verseingang) dreimal noch dant (7918. 7947),
noch dan (7933) steht, wo H Dannoch bietet. Hier liegt unzweifel-
haft einer der Fälle vor wo H überwiegend geändert hat: die
Reime erweisen für Herbort noch dant 14202. 14395 und noch dan
3415, im Vers aber findet sich dies in H nur ausnahmsweise : 652.
4813, während es in zahlreichen Fällen durch Dannoch (dannoch)
ersetzt wird 982. 1847. 1714. 1900 u. s. w. Es ist mir kein Zweifel,
daß Herbort nur die Form nochdan{t) gebraucht hat und diese also
überall in den Text eingeführt werden muß, denn dannoch wird im Reim
augenfällig gemieden : es gab ja nicht eben viele Reimgelegenheiten
vgl. immerhin iedocJi : niht noch 8256. noch : loch 17892), aber wenn
man bedenkt, daß hier Herbort, der die 'erlaubten' rührenden Reime
sehr liebt (s. Brachmann § 128 — 141 : 3,2 % seines Reimbestandes
1) Wenn er S. XXIII sagt, daß das 'skriftens form och ortografien
uttvisa', so ist das wohl ein lapsus calami — so weit sind wir in Deutschland
wenigstens in der Kenntnis der Schreibschulen noch nicht, um derartiges nach-
weisen zu können.
2) Eingehalten wüi ich hier eine Beobachtung anderer Art : die Überlieferung
bietet neben /mZre Qiant) b2S9 \OTmegQjid lerge : 1084. 1086. 9080. 13684, ein Wort
das ich dem Hessen Herbort unbedingt nicht zutraue, sondern auf den ostfränkischen
Kopisten abschieben möchte.
Kgl. Oes. d. Wiss. Nachrichten. Phih-hist. Klasse. 1918. Heft 1. 6
32 Edward Schröder,
sind derart!), in noch: dannoch eine ihm sehr gemäße Bindung ge-
funden hätte, dann ist es klar: dannoch war ihm derart fremd
daß wir es auch aus dem Versinnern ausschalten müssen. — Weiter
bietet S neben vereinzeltem ros 8281 überwiegend ors, während
es in H umgekehrt steht: es stimmen mit ors überein HS 7791,
dagegen steht ors (orse) S gegen ros (rosse) H 7793. 798. 804. 807.
810; anderwärts finden sich auch inH die ors gelegentlich gruppen-
weise beisammen, so 8971. 9040. 9494. 9496, und es besteht mir kein
Zweifel, daß die nd. Form dem Original zugesprochen werden muß.
Der Reim kann hier nicht entscheiden, denn weder für ors noch
für 7'os gibt es Reimbänder, und das ist eben auch der Grund
warum Herbort im Reim neben pfert so oft das auf hochdeutschem
Boden auffällige phage (page) verwenden muß. — Schließlich dürfte
auch in der Bevorzugung von un^ S gegenüber hi^ H (7885. 7996)
immerhin etwas altertümliches stecken, obwohl hi^ dem Dichter
gewiß nicht abzustreiten ist und dem Herausgeber, wenn die Metrik
versagt, die Entscheidung hier schwer fallen wird; der Zustand
in H wird durch ein Beispiel beleuchtet in dem formelhaften Vers
Von der swarten unz {hiz) an daz sivil, wo H (das ihn allein über-
liefert hat) Ix unz (11282) und 2x biz (5590. 8567) bietet. Für
unz in der Vorlage von S spricht auch ein Schreib- oder Lese-
fehler wie uzer dem für unz an den 7785.
Diesen mehr oder weniger deutlichen Bewahrungen ursprüng-
lichen sprachlichen Bestandes stehn nun aber Neuerungen gegen-
über, die sofort ins Auge fallen. Der alte Unterschied zwischen
1)6 ('cum') und als ('cum primum') ist in S vollständig verwischt:
S setzt als(€) für dö ein 7759. 8097. 8307. 8331. 8445. 8491; 8133,
außerdem als dö für und als 7770. 7825. — Jedem Leser wird bei
Herbort der starke Gebrauch des Steigerungsadverbiums harte auf-
fallen: in S aber wuchert dies harte geradezu wie ein Unkraut,
einem einzigen Ausfall (8179) stehn zwölf Stellen gegenüber, wo
S ein in H fehlendes harte bietet, zumeist deutlich hinzugefügt hat.
Ich unterscheide folgende Fälle: 1) harte für vil 7977. 8115. 8123;
2) harte Zusatz 7763. 8087. 8315. 8363 ; 3) harte mit einem blassen
Adj. (oderAdv.) ersetzt ein einfaches, emphatisches Adjektiv: 7779.
7917. 8077; 4) harte als sonstiger Ersatz 8056. 8225.
Ich greife die dritte Gruppe heraus:
7779 Mit menlicher crefte H Mit 'harte starMr^ crefte S
7917 Und um den grimmigen mortis. Vnbe den 'harte grozin' mort S
8077 Er nam ir guote wäre H Er nam ir 'harte woV ivare S
Es ist klar daß es sich jedesmal um eine Glättung des Verses
handelt: nach diesen Beispielen, denen sich manche der schon be-
Beiträge zur Textkritik Herborts von Fritzlar. 83
sprochenen anreihen ließen, erscheint die Charakteristik von H als
einer Handschrift, die nach der Weise der mhd. Epigonen ^atmär-
kande jambisk-trokeiske versmättet' einführen soll, schlechthin un-
faßbar. Einen Anhaltspunkt für diese Auffassung Psilanders glaube
ich weiter unten aufgefunden zu haben.
Die Verse von H sind gar nicht selten von der Art daß sie
ein oberflächlicher Leser etwa bei der ersten Lektüre Herborts
am Rande korrigieren mag. Ich selbst finde in meinem Exemplar
^gebessert' den Vers 10921 Mit (viT) größer flehe, habe das vil aber
beseitigt, nachdem ich mir den Wortlaut Mit größer flehe noch zwei-
mal notiert hatte: 13725. 15775. Und ebenso hatte ich einge-
tragen 8087 Mit (vil) größer Mmdekeit — wofür jetzt^S bietet Mit
^harte' grozir Imndilmt] aber ich meine, das dreifache Mit grözer
flehe stützt zugleich auch Mit grbzer liünäekeit, und lasse mich durch
S vorläufig nicht wankend machen. Von den obigen drei Versen
sind die beiden ersten unzweifelhaft in H richtig überliefert, beim
dritten wird man vielleicht das harte anerkennen dürfen, indem
man unter Berufung auf V. 1171 J^emen harte guote wäre die
beiden Lesarten vereinigt.
Zu den sichern Unarten von S gehören weiter die zugesetzten
rehte 7852. 7984. 8171. 8242 und gewisUche 7737. 8233, schließlich
eine gewisse Vorliebe für idoch (8232. 8251) resp. doch (8268): es
ist für die lässige Art des Schreibers charakteristisch, daß diese drei
Fälle innerhalb weniger als vierzig Versen eintreten. — Sprachlich
direkt anstößig und deutlich Verschuldung eines jungem Schreibers
ist das mehrfache ioch für noch (7755. 7943. 7944),
Soweit ich die Stellen bisher noch nicht besprochen habe,
werde ich sie nunmehr nach Ausscheidung durchsichtiger Schreib-
fehler in drei Gruppen einteilen: 1) zweifelloser Vorzug von H,
2) zweifelloser Vorzug von S; damit ist dann die Charakteristik
der beiden Handschriften zum Abschluß gelangt, und ich kann zum
Schluß 3) eine Reihe von Fällen behandeln, wo der Wert der
Lesart nicht ohne weiteres festzustellen ist, die Entscheidung aber
versucht werden darf: eben aus der Ansicht die wir von dem Ver-
hältnis der Handschriften zum Originaltext gewonnen haben.
Ich fange wieder mit den Auslassungen an. Gleich beim Beginn
des Fragments hat S einen Vierreim des Originals zu einem Reim-
paar zusammengezogen:
1) Wie 7764 troyane H für Troye oder 7815 uiele hert S für daz swert.
84 Edward Schröder,
7734 Törste dehein man
H Disen välant hestdn^ S Diesin duvil hestan,
Vernemet tves ich gedaht liän:
Wir wellen in alumbe vän, Wir tvollin in gewisliche umbevan
Daz ist daz beste uns getan,
Es ist ein Irrtum Brachmanns (§ 148) wenn er meint, solche Reim-
häufung finde sich nur mit künstlerischer Absicht in der großen
Klage der Helena (14035 — 078): einen ganz ähnlichen Vierrreim
treffen wir 18226—229: Mn: stän: län: gevän. Dem V. 8738 ent-
spricht So ist uns beiszer getan 15142. Die Belastung des neuen
Randverses mit gewisliche ist charakteristisch für die Art wie S
nicht nur aus äußerer Nötigung, sondern aus einem eigentümlichen
Ersatztrieb heraus den verbleibenden Randvers zu überladen pflegt. —
Der äußere Zwang liegt im nächsten Falle vor:
7788 Ir iegelich *) begunde rämen,
H B eide Hector unde Achilles,
Wie er dem andern underdes
Sin ors geneme S Wie er dem andrin sin ors neme
Über den Lieblingsreim Achilles : underdes s. o. S. 75. — Ohne Än-
derung vollzieht sich die Auslassung der Verse 7799. 800: Vil
snellichen er lief, StarJce er im nd rief: in S bleibt der Anruf ohne
Einführung; snelliche{n) ist ein Lieblingswort Herborts. —
Der Fortfall von 7891. 892 Bie da solden strtten, Bie
qudmen von beiden siten hat nur die Änderung von Und in
Sie im Gefolge. —
7935 Baz ir bluot nider gbz
Unde in daz mer schöz
H Also starJce und also sere S So starke und so sere
Als ez ouch ein wazzer were, Als iz ouwic wazzir were.
Bas da rünne und flüzze
Und in daz mer schüzze.
ouwic wazzir, bisher unbelegt, ist offenbar 'Flußwasser' im Gegen-
satz zum Seewasser: mit diesem knappen Ausdruck hat der Re-
daktor S die Verse 7939. 40 erledigt. —
8049 Allen gemeine.
H Hector alleine S Iz wiedirredete Hector eine
Ber begunde ez Widerreden
Unde ivolde ez niet freden.
Über den gutherbortischen Reim s. oben S. 75. —
1) So beide Hss. ! man erwartet ieiceder, doch vgl. unter II zu 5137.
«
Beiträge zur Textkritik Herborts von Fritzlar. 85
Penthesilea hat dem Hektor allerlei goldene und silberne Klein-
gesandt :
8198 Durch der fromven minne
H Truocerdazgoltansinerhant S Brüc er yolt an der hant
Unde ein guldm härhant Vffe deme houbete guldin harhant.
In den selben stunden^)
Um sin ho üb et gebunden.
Daß der schlechte Vers, der hier in S einer Dreizahl von H gegen-
übersteht, nur eine Kontraktion darstellt, läßt sich diesmal auf einem
Umweg erweisen : das Motiv von dem Haarband der Dame auf dem
Haupte eines geliebten Mannes spielt nämlich auch schon in einen
Monolog der Lavinia hinein, und zwar mit sehr deutlichen An-
klängen : Eneide 12019 Si sprach 'het her [mm härbant ! 23 ii m b
sin houbet gebunden 2^' nü ze disen stunden. —
8224 H Ich gesetze uch so nidere^ S Ich gesetzin uch noch niedere
Also lesterliche Harte lestirlicJie
Hie in üwerme riche, In uwirme riche,
Daz irs imm e r la st e r hat
Die teile dise iverlt st dt.
IJm den Satz mit 8226 abzuschließen, hat S die vorausweisenden
so und also unterdrückt und der gianzen Druhung ihre Wucht ge-
nommen. — Die Weglassung von 8245. 46 ist mit einer Zerrüttung
der umgebenden Verse in S verbunden, die schon Psilander frucht-
loses Kopfzerbrechen verursacht hat. —
8264 Ich iveiz wol daz ez übel stät
H ün d vil übel {uch} gezimet
Daz ir vergeben uch sus
grimetj
Ouch enstdt ez uns niet ivol, S Vn geziemit niht tvol
Ob ich ouch nu sprechen sol Daz ich doch sprechin sol
Hier ist in S der ganze Sinn verdreht, denn Hector redet ja zunächst
von den Griechen, dann von den Trojanern: er versucht beiden
gerecht zu werden, indem er ihre Lage gleichpeinlich nennt. —
Noch krasser ist die Verstümmelung im folgenden Fall. Das
Widerstreben des Troylus, die Briseida ihrem Vater auszuliefern,
wird auch dadurch verstärkt :
8324 Ouch ivas daz niet deine in was iz S
H Daz er durch ir schulde
Siner gote hui de
1) Natürlich ohne alle Emphase: 'gleichzeitig', wie so oft.
85 Ed ward Schröder,
TJnde ir minne hete verlorn Daz er sine gote hete virlorn
Und grozltclien ir zorn Und eweliche irin sorn
Hete immer mere
Hier genügt allein schon das dem immer mer vorausgeschickte
eweliche, um den ungeschickten Textfälscher zu entlarven. Das
wichtigste: 'um ihretwillen' ist fortgefallen! —
8435 Gehabe dich menliche! Gehalt S
Ez stät dir hösUche.
H Waz wilt du beginnen? S
Du sali dich versinnen
Baz du ein man bist Sit du des herz in ein man bistr
Und dir der sin engangen ist. Baz dir der sin ing angin ist.
Hier liegt die Sache nicht ganz einfach. Zwar daß die Verse
8437. 38 von S fortgelassen sind, ist zweifellos, aber die "Worte
des herzin wurden in keiner Weise durch diese Kürzung herbei-
gezogen: sie könnten also ursprünglich sein, obwohl sie niemand
vermissen wird, denn der Zuruf 'Besinn dich daß du ein Mann
bist und nur die Besinnung verloren hast' ^) genügt vollständig.
Und in der Tat findet sich eine ähnliche Ausdrucksweise noch
mehrfach bei Herbort, so 6588 f. Br ist des Ubes ein guot Jmeht
Und von stetem herzen ein man, 7396 f. Beide an der gebore Und
an dem herzen ein man ; wie hier körperliche Erscheinung und Cha-
rakter, so werden oben Charakter (Entschlossenheit) und Verstand
(Besonnenheit) gegenübergestellt. —
Troylus und Briseida sind durch den Zuspruch des Priamus
sehr erleichtert worden : 8446 f. Bö was in als sie beJcart ^) Von
einer sühte iveren. Dann heißt es weiter 8448
H Von ir her zesweren S Also intliez sich ir swere.
Muosten sie sich twingen
Mit swerlichen dingen.
Mit einem Schlußsatz der kaum ein Vers zu nennen ist, schlägt
S eine richtige Stilblüte Herborts tot. —
Nach 8459 Wen ir varwe eine läßt S die Verse weg Bie was
also schöne, Ir gezeme wol die Jcrone ('mit ihrem Teint allein
schon erwies sie sich als würdig der Krone') und fährt dann höchst
ungereimt und beziehungslos fort: So inJcunde sich in niht gelichin.
— Täppisch ist auch die Zusammenziehung des als Ausruf einge-
1) Ich habe absichtlich diese Übersetzung hierher gestellt, weil ich dem be-
gegnen wollte, daß jemand Anstoß nimmt an Du salt dich versinnen Dae dir der
sin engangen ist.
2) In S entstellt.
Beiträge zur Textkritik Herborts von Fritzlar. 87
leiteten Satzes 8497 iF. Wa^ do m den stunden Klagen da begunden
TJnde weinen Ecuhä . . ./ in die eine Zeile Da weinete sere HeJcuha.
Ich denke die Streichungen von S sind zur Grenüge charakte-
risiert: sollte jemand noch auf den Einfall kommen, eines dieser
Verspaare dem Herbort abzusprechen, so kann es nur ein solches
sein das in H entstellt ist: denn ganz gewiß gesteh ich die Mög-
lichkeit von Verderbnissen innerhalb der 'Plusverse' von H ebenso
gut zu wie bei dem übrigen Text.
7740 und 7806 hat S den Anruf Wol dane schiere! zerstört,
indem es einmal das schiere strich, das andere mal ^otiivit dafür
einschob. — 798 Hector lief im se füezen nä, im fehlt S. — 851 f.
Agamemnon hesante Die herren die er erJcante gegen Ä. die
hesante Die er rehte erJcante S; vgl. z. B. 17220 f. Froive Egial he-
sante Ir (runde die sie helmnte, — 860 f. So hat ouch her Hector Thoctm
gevangen gegen So hat der herre Hector Toam ouch gevangen S. —
862 Dajs ist unlange ergangen gegen lange S. — 864 Ob nu tvessel
geschiet, nicht tvandel S; es handelt sich um einen Austausch, und
auch in S folgt 869 tuehsil S. — 951 Vor vespersU ein lüzsel e
gegen deil S, das aus 949 eingeschlüpft ist. — 969 Noch von strite
großzer imgemach gegen das junge und lahme Noch ouch gr. u, S. —
976 f. Uns ist abe gevangen Vil matiic Mene swertdegen gegen
Sie hant uns abe gevangin Harte manichin Jcünin degin S ; das alter-
tümliche Sivertdegen begegnet freilich bei Herbort nur hier, aber
auch in der Kaiserchronik (4409), im Straßb. Alexander (3668) und
in andern Werken kommt es nur je einmal vor, von einem jungen
Schreiber kann es kaum herrühren; zu Uns ist abe gevangen stimmt
im zweitnächsten Vers 7978 Ouch ist ir uns tot vil gelegen^ vgl.
ferner 5322 Daz im cibe gevangen was. — 979 Nu läzet ir herren
werden scMn gegen So mir got, nu werde schin S ; vgl. 10934 f. Küene
helde, läset schin Werden; natürlich fehlt unserm Herbort auch die
Formel 'so mir got' nicht (vgl. 2270. 5201. 8207. 8966), aber dann
handelt es sich doch immer um eine beteuernde Aussage, meist mit
einem Ich -Satz {ich enruochen, ich tvdnde, mir ist). — 982 Ob ich
tar und ob ich sol gegen Ob ich dar odir sol S. — 984 So sol
daz wesen min rat gegen ist das rehte S, rehte von S auch 7852
eingeschmuggelt.
8001 Danne her UUxes TJnde Diomedes {Daz wären zwene wlse
man) gegen Dan 'der wise' UUxes Und 'her^ Diomedes S, das hier
das wise unbedacht vorausnimmt. — 010 Hübisch unde riche gegen
Gefüge u. r. S. ; gefüege fehlt bei Herbort nicht, hat aber die Be-
deutung 'geschickt' und erhält darum einen Zusatz : Gefüege zuo
dem Schilde 148, Also gefüege in alleivts 3023; hübisch dagegen ist
88 Edward Schröder,
sehr häufig und erscheint auch in Nachbarschaft von riche: 13104
Er ist hübisch und wol getan, 106 Eiche tinde wol geborn. — 029
Eines frides suUen wir hiten st. ümhe einin friede S, vgl. 12896.
13412. — 043 f. Der hünic hie^ sie dannen gän. Und als da gezzen
was San st. ezzin g. . . . das geheizin S. — 054 War um ez mir
missevalle st. niht gevalle S; missevallen 15044. — 072 Do(ch)
vereinten sie sich dö st. virendetin S; vgl. Und vereinten sich des
4648, ähnlich 10176. 10865. 13813. 14946. 15176; anderseits auch
Wie ivir uns verenden 3465, das aber hier nicht zutrifft. — 094 Got
gehe dir immer gut st. immer mer S. — 116 Die Asche der Toten
wird aufbewahrt In der erden oder in eime steine st. Undir erdin
odir undir e. st. S; S hat offenbar stein für 'Grrabplatte' genommen,
es ist aber bei Herbort immer ^Sarkophag', vgl. z. B. stein 10797.
13753. 13781. 14115 = sarc 10789. 13776. 13785. 14129, und daher
findet die Bestattung stets in eime (schoenen, marmel-)steine statt .-^
7353. 10791. 12046. 13782. 14420—22. 15518. — 118 Daz dehein
hceser smac Noch übel räch quam dar abe st. Daz ^der drat ioch^
bosir gesmac Noch übil roch nie inquam dbe S; drat ist ein Wort
das bei Herbort nie vorkommt, uad es stört hier als drittes Syno-
nymen den Ausdruck ruch und smac der als Zwillingsformel bei
dem Dichter fest ist: 9347. 13376. 14123. — 125 Wären liden
vierzehen naht st. So warin irgangin v. n. S ; das altertümliche Part.
liden (ohae perfektives ge-) findet sich so noch im Straßb. Alex.
5108 Dö die nöne liden tvas. — 133 Dise darinne die da vor st.
Die da inne diese hie vor S. — 154 Daz ich were i r tvtssage st. ein S.
— 169 So kume ich gerne an den rät st. So dun ich gerne uwerin
rat S; an den rät homen z.B. 2535. — 174 Achilles und Hector
treiben friedliche Kampfspiele: Mit fride und mit m innen st. mit
sinne S; es ist der Gregensatz zu Ze strUe und ze unminnen 12653.
— 184 Beide nein unde ja (wörtlich = 3832) statt Vn lachedin
dar na S. — 187 Und bewilen ouch da vor st. Ouch bewilin da
vor S. — 192 Gemachet wol mit filze, wol fehlt S. — 209 Nu lät
es uch betragen (Frommann vergleicht Iw. 520) statt Inlat es iu
niht tragin S. — 218 Her Hector den ir hat erslagen st. Den
daz ir h. e. S. — 224 Ich gesetze uch so mildere, Also lesterliche
Hie in üioerme riche st. noch . . . Harte ... In . .,', vgl. 436 f. Ich ge-
setze in also nider In sin selbes' lande. — 233 Ir sU star c und
Miene st. Ir sit ^gewlsliche'' küne, mit dem für S charakteristischen
Eindringsei, vgl. 7737. — 247. 48 Ich wene üwer herze baz ste
Danne üwer rede hie ge st. Da^ ^min' rede baz ge Danne ^mir' daz
herze ste S (vgl. Psilanders misglückten Korrektur versuch). — 271
Wer wenet ir daz ir sit st. wer S. — (280) 281 (Wä nü, mine Hute?)
Beiträge zur Textkritik Herborts von Fritzlar. 89
Bringet min ros und min sivert! Bringet fehlt S. — 282 Er sol
der mt sin geivert st. iverden g. S. — 284 Nu tverde scMn ivaz er
tuo, Nu fehlt S. — 286 U7id hieschen swert schilt und sper, schilt
fehlt S. — 289 Sie hcten aldd an der stat (auf der Stelle) Den
fride gebrochen gegen ^vor' der stat . . . ^beide'' gehrochen S. — 291
Beiden vil leide st. Beidersit S. — 300 Zuo ir (runden st.
Ir igelich sü sinin f rundin ^. — 306 Do dis {des?) leides gesivigen
was st. Als Achilles g. iv, (Psilander beseitigt den Unsinn). —
417. 18 {In so größer leide) Daz sie enwisten waz sie ivolden Oder
icaz sie tuon solden: statt S, das die in H mit 419 einsetzende
anaphorische Aufreihung (5 maliges Si emoisten) schon mit 417 be-
ginnen läßt : Sie newistin ivaz sie tvoldin, Sie newistin waz sie soldin,
429 da st. iz S. — 435 Gehabe dich menliche st. Gehalt S. —
444 Waz tuot ir? ez ist schände st. Und düt ir sus S. — 461 Ir
enmohte niht geliehen st. So enhmde sich in niht gelichin S. —
478 — 80 Von einer hande tiere Was die Jdirse genomen, Und ivas
von eime lande komen st. ^Die ueV uon eineme tiere Zu der cur sin
warin genümin Und tvarin uon cleme lande hümin S, das offenbar
die Kursen für ein Pelzgewand hält , während es sich nach der
Quelle (ed. Constans V. 13341 ff.) um ein 'drap enchanteor' handelt :
13352 De cel drap fu faiz U manteaus, und zu dem 'drap' war aller-
dings 'la pel' des wunderbaren Tieres 'dindialos' verwandt , d. h.
die Haare verwebt worden; der Stoff und nicht 'die Felle' waren
aus dem Orient importiert. — (481) 482 (Da die siinne uf gät) So
der morgen enstät st. So ^sie des morgenis^ intstat S. — 483 Ir
Jcleit ivas guot i n allewts st. Ir gewant lo. g. allewts S. — 488 — 90 D d
die froutve tife saz, Daz ivas ein zeldende phert Und ivas
lüol hundert marlce wert st. Daz zeldinte phert da sie uffe saz,
Daz ivas ein also gut phert, Iz was ^dusinf rnarhe loert S. Zum
Ausdruck in H vgl. etwa 7402 f. Den er uf solde tragen, Der heim
{was) üzer mdzen guot und anderseits 11701 Da der man üfe saz.
Dem gegenüber enthält nun freilich S auch außer den schon
gelegentlich vorgekommenen eine Anzahl Lesarten die zweifellos
den Vorzug vor H verdienen. Sogleich 7739 Einsit und änderst t
S, An einesit u. a. H. ~ Verkannt hat Psilander die gute Über-
lieferung von S 757 AI gewimnin die Griechin uhil zlt (Ouch H),
iedoch wart er dl ziischtt (gar z. H) , wo er Alse einsetzt und nach
Zlt stark interpungiert : al c. ind. od. opt. bedeutet aber hier 'ob-
wohl, wenn auch', vgl. z. B. 7105 Vnd al si mir nü sus geschehen ;
<5. ind. 12121 AI bistu starc, du bist ein Jcint] häufiger braucht Herbort
Werfür allein (c. ind. od. opt.): 4139. 4380. 5558. 9856. — 751. 52
90 . Edward Schröder,
ist die Wortfolge (lange:) gedrange^ geüvenge (: lenge) B.m gedtv an ge^.
gedrenge S zu ändern, vgl. em^x^^ii^ gehvange (Dat.): lange 5624^^
anderseits gedrenge: ^gesprenge 5187, : enge 6865, :fuozgenge 6406;
freilich kommt auch dicht neben gedrenge 4261 gedranc 4267 im
Eeime vor, aber nur einmal durch den Ausdruck gefordert {Da
tvas dranc über gedranc), und die flektierte Form gedrange ist nicht
bezeugt. — 809 ?> hat schon Frommann (Anm.) ergänzt. — 878
Klageten jene [dort] ander sU H, das überflüssige und durch keine
Parallele gestützte dort fehlt S. — 928 wird Hüb S st. ErJmop
H, 935 So starke und so sere S statt Also st. u. also s. H, 941
Bellte unibe mitten tag S st. tmi den m. t. H durch die sonstige
Gepflogenheit des Dichters empfohlen. — 961 wird die Wortfolge
von S Ir netvas de eh ein so starc gegenüber Ir dehein was H durch
die Parallele 8354 gestützt, wo der Vers (und sogar das Reim-
paar) wiederkehrt. — 964 Wene daz si sehtet die ^swarze^ naht ist
das Epitheton, das in S fehlt, verdächtig, da es nie wiederkehrt:
allenfalls könnte die v in st er naht dagestanden haben, wie 6560.
8007. 16138. — 9671. Uf der hant und uf dem knie mit S gegen
die knie H.
8110 1. Von spei den und von spachen mit S gegen hohe H.
— 8120 für legelichen H hat schon Frommann Etelichen S
vorgeschlagen. — 126 ff. les ich mit S: Ouch so was die erde
e 7np Iaht Und gerümet als e Von der burc biz an den se statt
entacht — grünte — Vz d, b. H. — 208 Ein ist erncst ein ist spot
S st. ein ander ist H; vgl. den Rhythmus der Verse 716 1^ ist
ernest oder spot, 2746 Der in ernest der in spot^ 3505 Beide in
ernest und in spot. — 216 Den 'frunf den ich verlorn han H,.
besser gesellen S, vgl. Patroclum stnen gesellen 6075. — 261 uns
S st. 7nich H. — 283 {Er sol der gU sin geivert) Und des veldes
dar suo mit S gegen tverdes H, <el/ ist die Stunde und velt der
Platz des Zweikampfs; bei iverdes hätte ich an eine Reminiszenz
an den 'Holmgang' gedacht, wie wir einen solchen bei Gottfried in
dem Zweikampf Tristans mit Morolt auf einem 'Wert' (6745) haben,
aber davon ist bei Herbort nirgends die Rede, iverdes ist einfach
unter dem Einfluß von werde der nächsten Zeile aus veldes ent-
stellt worden. — Den Vers 313 Do Troylus vries H hatte ich mir
natürlich längst mit dag gevriesch ergänzt, ehe die Bestätigung
durch S kam, ebenso das ich 369, das Frommann freilich für un-
nötig hält. — 319 bietet S das in H fehlende (von Frommann
falsch ergänzte) Subjekt er. — 372 An swedir ich ie bi dir gelac
entnehm ich ebenso unbedenklich aus S. — Besonders interessant
ist 470 von eime ferren lande H, von Ter dien lande S, was Psi-
Beiträge zur Textkritik Herborts von Fritzlar. 91
lander in der Anmerkung hübsch ausgeführt hat. Im frz. Text (ed.
Constans 13341) steht En Inde la Superior: Herbort muß dafür
aus eigener Gelehrsamkeit das anderweit bezeugte India Tertia
eingesetzt und dies als Tertien lant angedeutscht haben. Der
Schreiber H aber hat das sonderbare Wort nicht verstanden und
dafür einen neutralen Ausdruck eingeführt. Von einer absichts-
vollen Änderung kann auch hier nicht eigentlich die Rede sein.
— 456 wären ir Ideit S st. was H, vgl. 8463 Ideider und 3258.
59 Ideider = Ideit.
Und so steht es in H, das im Einzelnen recht viele Fehler
hat und gewiß mehr als wir geglaubt haben, ehe wir S kannten,
fast durchweg: es handelt sich um Auslassungen, um zumeist me-
chanische Wortvertauschungen , dazu um Verlesungen und Ver-
schreibungen, nirgends um eine absichtliche Veränderung : in keinem
einzigen Falle ist bisher eine solche für den Reim nachgewiesen,
während die Zahl der Änderungen des Reimes in S recht groß ist.
Man wird also da wo die Lesarten gleichwertig einander gegen-
überzustehen scheinen, zunächst immer nach Parallelversen (die
sehr zahlreich sind) und nach dem Vorkommen ähnlicher Situation
und ähnlichen Ausdrucks suchen müssen. Wo dies Hilfsmittel,
das in der Mehrzahl der Fälle zu Gunsten von H sprechen wird,
versagt, darf man dem unaufmerksamen aber konservativen H
mehr Vertrauen schenken, als dem rücksichtslos ändernden und
obendrein sehr liederlichen S.
V. 7735 variiert Herbort den tiufel von 7728 mit välant,
8124 das bestatten von 8122 mit begraben , beidemal bleibt S bei
dem ersten Ausdruck — aus Lässigkeit. S war offenbar einer
von den Schreibern, die sich getrauen eine größere Anzahl von
Versen im Gedächtnis zu behalten, während H wohl zumeist nur
ein Reimpaar las und kopierte; bei H sind nicht wenige Fehler
visueller Natur, während bei S die Mehrzahl durch das innere
Gehör und ungenaues Gedächtnis verursacht sind. Der Schreiber
H konnte selbst Verse machen, wie sein bei Frommann S. XXVIII if.
abgedrucktes gereimtes Nachwort beweist, aber es läßt sich ihm
in keinem Falle nachweisen , daß er Verse eigener Mache in den
Text des Herbort eingeschwärzt habe; dem Schreiber S hingegen
haben wir bereits eine ganze Anzahl eigener Verse aufs Konto
gesetzt. Darum werden wir uns überall da wo ganze Verse schein-
bar gleichwertig einander als Lesarten gegenüberstehn , für H
entscheiden: so 7898 Sie huoben heiderstt den strit gegen
Sie lostin die sit S; 7989 f. Lihte uns ze tvissene geschiet
Daz ivir noch eniviszen niet gegen 3Iuge wir virnemin daz mere
^2 Edward Schröder,
Daz gesenftit unsir swere S; 8241 Vil reJite tvaj^ ich uch sage
gegen Waz ist dirre sage? eine Frage die nie wiederkehrt. —
8249 f. Daz Patroclus ist erslagen, Wellet ir daz so sere clagen gegen
S (499 — 502) Ist in leide geschehin , Also han ich viele daz gesehin
Daz im ungelüche sac7i(!); Mir ist leit min ungemach; 8318 Si ivas
im liep als der lip gegen Triiric ivar ime allir der Up S; 8394
Vo7i dirre stat gehorn sint gegen In grozin truwin hie sint^]
8441 f. Ez mac uns schiere got gehen Daz wir uns liehe
gelehen gegen Iz mac schire geschehin Daz ir iu liehe solit gesehin S.
Und so würde ich die weit überwiegende Mehrzahl der 'indiffe-
renten' Lesarten von S schon jetzt unbedenklich verwerfen.
Ich habe bisher kurzerhand von S als einem Individuum ge-
sprochen, das ich für alle Mängel und Sünden seiner Überlieferung
allein verantwortlich machte. Es ist aber möglich, daß wir mit
zwei Stationen rechnen müssen ; man könnte mir z. B. entgegen
halten, daß ich demselben Schreiber sowohl eine gewisse Tendenz
zur Versglättung wie rücksichtslose Überladung der Verse Schuld
gebe: das letztere besonders am Rande von Auslassungen wie auch
bei der Einschaltung gewisser Lieblingswörter wie iedoch, gewis-
liche. Es ist immerhin denkbar, daß sich die Glättung des Vers-
maßes auf der Vorstufe *S, die meisten übrigen Entstellungen des
Textes erst in S selbst eingestellt haben. Allzuweit ab vom Ori-
ginal resp. dem Archetypus wird man S genealogisch nicht rücken
dürfen; dagegen spricht folgende Beobachtung: das Fragment hat
für Mncc regelmäßig die Abkürzung .Je. 7769 (S 38). 8037 (S 295).
8043 (S 301); das ist eine Eigentümlichkeit die sich aus den
französischen Handschriften herleitet und sehr oft in mittelnieder-
ländischen, dagegen selten in alten deutschen Handschriften vor-
kommt, wie z. B. im Kasseler Reinhart-Fragment , wo der Held
immer als r. geschrieben erscheint; ich bin geneigt diesen Zug
auf die Originalhs. Herborts zurückzuführen.
Ob der Archetypus, auf den H(B)-|-S zurückgehn, mit dem
Original identisch war, das der 'gelarte schuolere' gewiß selbst
angefertigt hat, oder bereits Fehler aufwies, die uns zwingen eine
fremde Kopie anzunehmen, wird schwer zu entscheiden sein. V. 7747
hatte ich mir ein fehlendes da am Rande notiert — nun fehlt es
auch in S, Psilander vermißt es ebenso wie ich und stellt es
gegen beide Hss. ein. 8471 hatte ich 2cas in were geändert : in S
steht nun gleichfalls tvas — aber möglich ist auch der Indikativ.
Einen dritten gemeinsamen Fehler hat wieder Psilander hervorge-
„Jioben : 8027 lautet H Zv zwein ^mänen' oder zv drin, und S bietet gar
Beiträge zur Textkritik Herborts von Fritzlar. 93
mannin, obwohl der Sinn und das französische Original (ed. Constans
12893 Dous ineis o treis) 'Monate' verlangen; Ps. setzt denn auch
manedin in den Text. Der Fehler ist immerhin derart daß er
sich zweimal unabhängig einstellen konnte; dem Herbort selbst
freilich kann er nicht passiert sein, denn für ihn lautete das Wort
manf, flekt. niande, gesichert durch den Reim ; tvände (17024. 17593),
das seinerseits ; Imtde, sande reimt (s. Brachmann § 13, 2). So schreibt
denn auch H im Versinner n der Eegel nach n?ant (618), mand€{n)
(290. 3040. 9176. 9193. 10716. 10918. 16398); daneben kommt aber
nicht nur manet (14865) und manede (6063. 14353), sondern auch
mane (9528. 11063) vor, und dies konnte sehr leicht mit mänc
('viro' 5666), mäne ('viris' 14912) verwechselt und so verschrieben
werden. Einen Zwang, für unsere Überlieferung einen von der
Originalhs. verschiedenen Archetypus einzustellen, kann ich in
diesen drei Fällen nicht erblicken.
n.
Da mich das Hervortreten des Fragments S und die verkehrte
Wertschätzung mit der es durch seinen Finder uns vorgestellt
wurde, genötigt hat über die Überlieferung Herborts zu schreiben,
so benutz ich die Gelegenheit, um hier eine Auswahl von dem
mitzuteilen was ich mir während mehrfacher Lektüre des mir
lieben und mich durch seinen Wortschatz heimatlich vertraut anmu-
tenden Autors zur Textkritik an den Rand notiert und eben jetzt
nur durchgesiebt habe. Ich liebe derartige Mitteilungen sonst
wahrhaftig nicht, denn ich bin überzeugt, daß recht viele Fach-
genossen in ihren Handexemplaren reichlich Beiträge zur Kritik
von Texten aufgespeichert haben, die bisher nur in mehr oder
weniger unberührter handschriftlicher Wiedergabe veröjffentlicht
sind. Es gab auch eine Zeit wo ich hoifen durfte, diese Ähren-
lese berufenen Händen anzuvertrauen: Eugen Joseph plante eine
Monographie über Herbort, den er sorgfaltig mit dem Original zu
vergleichen begonnen hatte, und er gedachte damit soviel Teil-
nahme für den Dichter zu wecken, daß sich auch eine kritische
Ausgabe lohnen würde. Jetzt aber darf ich kaum noch hoffen
eine solche zu erleben — ich grüße mit diesem Bündel textkri-
tischer Bemerkungen den Herausgeber der einmal kommen wird^
und ich entbinde ihn feierlich von der Verpflichtung, bei jeder Kon-
jektur die er aufnimmt meinen Namen zu nennen, wenn er es
dafür unterläßt gegen diejenigen zu polemisieren, die er auf Grrund
eingehender Studien getrost verwerfen kann.
106 1. Baz [welsche\ buocJi von des Herren lohe. Bei diesem
94 Edward Schröder,
ersten Quellenverweis hat der Schreiber das ivelsche eingeschaltet
der Verf. selbst braucht das Adjektiv allerdings zweimal : 1178
Baz tvelscJie huoch von Jasonc und 4786 31ir saget daz ivelsche
buoch sus, aber weit überwiegend ist das einfache huoch: Als ich
daz huoch hcere sagen 1437. 4699. 6516. 12923; Als mir daz huoch
gesaget hat 10647, vgl. 515. 1717 ; Als ich ez von dem huoche hän
6687; Als ich ez an dem huoche las 2782. 12942; Mir saget ouch
daz huoch sus 4029 ; . . . als an dem huoche stät 7701 ; (vant) An
disem huoche gescrihen 16116 ', weiter 14270. 14289 u. s. w. — 1681.
veter (st. vater), vgl. z.B. 1176. — 1891. Uf eime f eisen in dem mer
{st. In — uf). — 2281. Frien und die dienestman (st. Frauwe);
diese Besserung ist notwendig und genügt (vgl. 510 Herren und
die Jcnehte) : da die fürsten schon 225 genannt sind, kommt Fürsten,
frien, dienestman (1231. 4201. 6237) nicht in Betracht, allenfalls
aber Gräven, frien, dienestman (2557). — 247 f. 1. Daz (Fr.) verre
in dem mere lit, Wol gevestent in alle sit; das hsl. in einer mure
ist wohl unter Einfluß des gevestent entstanden ; für i n alle sit (st.
an) vgl. 466. 1248. 1596. 1814. 2056 u. ö. — 287 1. schierest. —
304. 1. enhrast. — 534 Hs. Vn tröste sie vn fragete damite, 1. ünde
fragte sie ddmite. — 545 Als mir daz huoch (hat ge)saget, vgl.
1717. 10647. — 581 1. zouherinnen (wie 849)..— 626 1. ziere (nicht
geziere Fr.). — 664 1. Enhete sie [an gifte noch] an löne. — 724 1.
heidersU (st. in h.), vgl. 1451. 2417. 2448, 2533. 2892 u. ö. — 796 1.
Des entiveich im sin [herze] swcre. — 901 streiche Vn, — 941 1. heide.
— 952/3 1. In daz hethüs sie in leite, Da sie ir gote inne vant;
hethüs (Hs. heth) braucht Herb, beständig für 'templum' (s. From-
mann zu 1584) ; die gote (Hs. im got) sind Jupiter (963), Juno (965),
Venus (967) und Pallas (969).
1275 1. Also muoz ez geschehen st. muste. — 427 1. Slnen [herren]
Minie er sach. — 681. 82 besser umzustellen: Dem der richtuom
geschach, Deiphehus viel anz gemach. — 715. 16 1. Nochdan Mte
Priam Rehte drtzzic (kehes)hint; vgl. 4811 Ir wären drizzic heheshint.
3128 1. Ich wil ez (aT)sö erheben. — 321 Lant, hure, ^Mnt\ man
Und die dise gehmrent a?^(!) ist wunderlich und wird durch 2696
Lant^ hure, dienestman zur Änderung empfohlen; vgl. auch die
Verdrängung von dienestman 6171. — 369. 70 Hs. Die fuorten hin
üher mer Dri tüsent ritter . . . Brachmann. § 26 verzeichnet hier eine
völlig isolierte (und für Herb, unmögliche) Reimbindung : der zweite
Vers ist unvollständig, am wahrscheinlichsten hängt aber der Fehler^
mit einer Entstellung des ersten zusammen, sodaß oben zu lesen
ist üher se, unten zu ergänzen oder me resp. unde ouch me (wie
z.B. 4249. 3835. 7601. 9384); will man üher mer bestehn lassen,
Beiträge zur Textkritik Herborts von Fritzlar. 95
SO kann man 2370 etwa ergänzen tnlt ir her (vgl. 3370). — 511 1.
Muhte (s. Mitge). — 5411. Reiten. — 754 f. (ritterschaf :) Der Minie
gchöt eine wirtschaf; Die ivirtschaf iverte sihen tage; der rührende
reim ritterscJiaß : ritterschaft der Überlieferung wäre nicht zu recht-
fertigen, wie es Frommann versucht. — 768 1. grüwet. — 818 streiche
auch. — 828 1. inrihte. — 894 u. ö. I. siwe st. gezirde (nicht ge-
eiere Fr.). — 999 1. wcre?
3019 1. schal. — 074 Und \giiot] süeze minnere. — 032 1. {Sin
tugent ivas undersniten) Mit guoter zuht, mit guoten siten (Rs. gute
tugede). — 148 1. Süese stimme, niht (ze) Int. — 191 1. Dar ziio, —
232 1. Daz, gefordert von daz spor 3231 (vgl. 1930). — 298 1. Künige,
gräven, herzogen. — 416 streiche so. — 446 1. (smiden:) Und sullen des
niht (hän) vermiden; daß in dem scheinbaren sniiden: vermiden der
Überlieferung ein Fehler vorliege, erkannte Brachmann § 34, ohne
diesen aufzudecken. Herb., der bei sntden den grammat. Wechsel
bewahrt {sniten: geriten 5024 u. ö.), hat ihn bei (mtden und) liden
ausgeglichen, vgl. den Reim geliden : liden 13343 und im Versinnern
liden 10237 und 8125. Zum Ausdruck vgl. Er wolde si gerne hau
erslagen 16348, Wan er sie gemordet wolde hdn 15235, Si enmohten
si da niet hän genomen 18275; man könnte aber auch län vermiden
schreiben. — 672 1. antwcrc. — 677 1. Einstt und [auch] andersUj
vgl. 5453. 4480. -
4098. 99 1. Einhalp saz Äntenor, Änderhalp Troylus. — 185 1.
Wol uf, (ritter,) ez ist tac! = 6661. — 207 Vil halde und (vil)
gerade. — 291 1. Noch (so) feizt noch so gröz. — 330 Für Schutze
m gesteine lies Geschütze unde steine wie 14487; geschutze ist
außerdem sehr oft belegt (4494. 4738. 7058 u. s. w.), gesteine scheint
Herb, nur von Edelsteinen und feinern Steinarten zu brauchen (9931.
10808 u. ö.). — 344 1. (Daz desjneres ünden) Von gemenge icurden
triiebe, Hs. wart. — 439 {Ir ros wären wol bedacht:) 'Uf covertiure\
Eiche unde tiure ist schwerlich in Ordnung, es muß gebessert werden :
Uf in oder Darüfe — allenfalls auch Uf (geleit) covertiure vgl.
Covertiure uf geleit 8720. — 480 1. Einstt. — 661 1. Vaterhalp,
ebenso 4768. — 811 str. der. — 856 1. Der Griechen fürsten, —
9081. Ouch scharten (dö) sich, vgl. 4899 Ouch scharten sich dö. —
939 1. Ouch so nam sin (guote) ivare? vgl. 1171. 8077. — 981 1.
Beide dirre unde [auch] der.
5039 1. Do nam er dem (töten) man. — 137 1. leived^r den
andern enphinc; doch darf nicht verschwiegen werden, daß Herb,
bereits neben icweder auch iegelich, durch den Reim gesichert, für
'uterque' braucht: 16905 von den beiden Söhnen des Ajax, 8177
von dem Brüderpaar Elenus und Deiphebus. — 140 1. (So) daz iz
96 ' Edward Schröder,
gar hesouf = 1109. — 171 1. {Die wile daz dise striten) Qudmen
g ine zuo geriten st. dise. — 691 wahrscheinlich Biser vaht, der
vaht. — 5742 1. Der brahte i r einen zuo gezogen st. der bruder.
6135 1. Toren unde tummen, {Touben unde stummen), Tote ist
-wohl nur Druck- oder Lesefehler. — 156 Den der (mäge) dehein
Die mit mir ein fleisch sint). — 171 \. Künic; ritter, dienestman st.
sine man. — 461 1. Der giner {wart) gevangen. — 480 1. Durch {daz)
herze, do iz bestunt. — 505 1. Also wit als ein furch (mit Druck-
fehler?). —
7079 sigeneme ist in ein Wort zu schreiben, wie auch sigevahf
11586. 14894 u. ö., sigestreit 14456; die Wörterbücher haben alle
diese Belege übersehen. — 109 1. Sin wolte nemen {guote} ivare? vgl. zu
4939. — 110 Hs. Und reit ^ anderweit^ dar, vermutlich b>i ander lo erbe
einzusetzen, das dem Dichter sonst geläufig ist: 5926. 12018.
13971. — 143 1. Mit siegen und {mit) stichen. — 166 l. (Von wibe
und von lande) {Und) von dem ingesinde. — 178 1. Mit liebe und
{mi) senftiJceit. — 387 1. Agamemnon [in] andersit. — 561 1.
siirde: trürde; von den bei Brachmann § 145 b) verzeichneten glei-
tenden Reimen des Typus -t. u u ist nur allenfalls hangele : belangete
7469 f. zu belassen. — 577 str. Vnd. — 662 1. Dise selben liste st.
Die? — 707 1. Ir dehein er genas, — 736 1. Wä nu Agamemnon?
st. Wazmi; auch Wie nu, das mehrfach begegnet (so 10113) dürfte
durch Wä nu zu ersetzen sein. — V. 735 — 8510 ist in S über-
liefert, darüber siehe oben unter I.
8512 1. engeschiet, enschiet ist unter Einfluß des enscheide der
vorhergehenden Zeile eingedrungen. — 530 1. den zehenen st. der
sehende, vgl. 8526. — - 601 1. Doch entsebe ich {harte) tvol. — 644 L
Als sie hete rouwe st. hette si. — 662 1. Ir sult dise rede län st»
die. — 867 1. entdn (s. Frommann zu 8936) st. hin dan, vgL
14597.
9116 1. Über tal und (über) berc. — 118 u. 191. Eteslkher. —
311 1. Swaz {ie) uf der erden ginc {Und in den lüften ie wart). —
349 1. (man:) Sme(n) gesunt er wider gewan (^i.nam)] mit der Her-
stellung dieses Reims ist die Zahl der Bindungen m: n auf 3 be-
schränkt, die sich sämtlich im ersten Fünftel des Werkes (bis
V. 3623) finden, s. Brachmann § 119. — 407. 8 Daz Hector 'was'
von sime slage 'Genesen^ und von sin en wunden sind sicher verderbt r
wahrscheinlich Daz Hector genas von sime slage Und von stnen wunden.
— 500 'da hare' ist sowohl für den Dichter wie für den Schreiber
unmöglich, Brachmann hätte die Form nicht ernst nehmen dürfen
(§ 219), denn es handelt sich nur um einen Zwitter von dar(e) und
da her(e), dar ist einzusetzen. — 549 ff. Nuwen swert gesliffen WoT
Beiträge zur Textkritik Herborts von Fritzlar. 97
gmeget wol geivort Heilen ir sclierfe vn 'vorV ; Frommann nahm
Nuwen richtig für JSinwiu und wollte nach Beneckes Vorschlag
vort = vorhi beibehalten: 'neue Schwerter hatten ihre Schärfe und
darin ihre Furcht, d.h. was sie furchtbar machte, ihren Schrecken'.
Unmöglich! und noch unmöglicher die Erwägung, vort zu vüeren
zu stellen. Es ist unbedingt ir scher fc ande {ir) ort zu lesen (zum
Reim Bracbmann § 98), dasselbe was sonst ecke und ort heißt (6702),
was also zu sticlie und zu slage taugt (9556) ; swertes ort z. B. 10023,
1110. Zweifelhaft bleibt nur, ob Heten ir bleiben darf oder in Heten
si scherfe unde ort geändert werden muß. — 709. 10 1. gähte: nähte.
10265 Daz er (da) gevangen ivart. — 379 seinecUche 'zögernd'
ist zu belassen gegenüber Frommanns Vorschlag semeliche. — 431 1.
(Nider) uf die erden. — 647 1. Als {mir) daz huoch gesaget hat, vgl.
1717. — 751 1. (Man hete in zu löne) (Und) von rehte gegeben. —
752 ? — 767 1. (In ivazzer und in erde,) Von fischen {und) von tieren.
— 777 1. Swer ez {ie} gesee. — 781 1. Daz ich ie geivar wart st.
ie ich. — 821 1. Von Troye (und) von llion. — 848 1. {imder des:)
Falimedes st. Polidamas.
11168 1. Im tvas gar z e rmmen st. cntrunnen (Der tagende der er
ie geivan). — 178 1. durch einen tvibesnamen st. d. eines iv. n. —
184 1. Noch st. loch. — 241 str. so. — 277 ff. ist überliefert Des
sten ich ir ze huoze: Sie tuo mit mir ^die süeze^ Ze gnade und ze
rehte Als mit irme hiehte. Den Reim huoze : süeze versucht Brach-
mann § 9 zu rechtfertigen, allein das Subst. 'die Süßigkeit' hat
hier gar keinen Sinn, ich vermute Sie tuo mir sür(e) und suoze
und nehme dies chiastisch zu 'Grnade und Recht'. Den von Brach-
mann ebenda angeführten Vers 7558 les ich (fuoze:) Da wart sür
suoze und nehme das Reim wort als Adverb. Die mitteldeutsche
Form des Adjektivs suoz (wie hart, fast, sanft) ist durch keinen
Reim gesichert, und um ein 'Fehlen des Umlauts' handelt es sich
hier nicht. — 337 1. Von ir {da) gegeben tvart. — 349 1. Wiste in
her unde dar, der Fehler hin erklärt sich durch Einmischung von
hin linde her. — 353 1. An Übe und an gebere st. swere. — 632 Da^
im sin heim aller erschrac ist vielleicht gemäß 12498 in aZ zuschrac
zu ändern, da der Helm offenbar zerspringt; hirn aber braucht aus
diesem Verse nicht herübergenommen zu werden , denn schrecken
hat für Herb, noch durchaus die Bedeutung der physischen Er-
schütterung, vgl. 7420 Daz im sin schilt ein teil erschrac. — 642 str.
in, vgl. 724. — 847 1. Wan daz = 11936 u. ö. — 865 1. Daz nie
deheiner genas. — 905 1. (Do quämen von Ajäce) Die boten (...) gerant^
balde wäre ein Notbehelf. — 914 1. Do lobeten sie den {kiienen}
degen; degen scheint sonst nie ohne ein Epitheton zu stehn.
Kgl. Ges. d. Wiss. Nachrichten. Phil.-hist. Klasse. 1918. Heft 1. 7
98 Edward Schröder,
13041_1. Palimedes statt PoUdames. — 89 str. "F. — 243. 44 1.
Noch st. F. — 203 1. Unde (vU) gar vertaget. — 942 1. Als ich {ez)
an dem buoche las = 2782.
13017 — 290 sind in B überliefert; ich verzeichne nur die we-
nigen sichern oder möglichen Besserungen, die sich daraus ergeben.
— 076 Behalte Troylus den pris B, Behilt H; vgl. 14328. 14937.
— 153 ^u den smen B, den fehlt H. — 178 Es düht in ein un-
ivtsheit B, ein fehlt H. — 183. 84 engegen: siegen ß, engein:
sleinK. — 195 gur serschiet B, vaste jsiuschiet H. — 212 Und fehlt
B. — 230 Der in an dem pferde fürte B, Der Troylum fürte H. —
232 harte leit, fehlt H. — 236 irmirsB, irsmirB.. — 239 Durch
den buch nz and^rsU (vgl. 5666), fehlt H. — 269 da fehlt B. —
280 Achilles het in zcrschtt B, A. in zv schHt H. — 284 ouch
fehlt B. — 290 ouch fehlt B. 311 1. Bitter, frouwe, mag et,
hieht st. Ritter froive ^manic' Imecht, was die (chiastische) Grruppierung
zerstört. — 578 1. Die zwene dö tvol leisten ( Wes jenen was zc muote)
st. lene: so ist auch vorher gesagt : 571 Die zwene herren . . . 574 lene;
es muß nun freilich auch 582 Die jene zwene in Dise zwene geändert
werden. — 629 1. Tretet im zuo {in) allesit; während die Überlie-
ferung fast durchweg einsit, andersU, heidersit bietet und dem Autor
sichert, findet sich ebenso konstant in allesit: 466. 1248. 1596. 1814.
2036 u. s. w.; nur hier und 14024 hab ich allesit ohne in notiert.
— 646 1. zerscMten {:sUen\ vgl. 13280. 13656. — 697 1. Mitrittern
und {mit} mannen. — 977 1. Ez was [im] ein unselic tac {Des tagcs
dö er tot lad), vgl. 6176 ; allenfalls ließe sich in rechtfertigen ('den
Trojanern'), wie 7905 Jn entstunt ein unselic tac; vgl. auch 9149
Si hcten ein uns eigen tac.
Nach 14267 fehlt eine Reimzeile zum Sechsreim. — 379 — 641
liegt wieder B vor. — 380 järe B, tage H. — 392. 93 schreibt B
richtig als eine Reimzeile, lies Swelh wip (frowe H) erheben moht
ein swert. — 397 Do enwas da B, Da was da H. — 417 sich reitte
H, sich rechte B; vgl. 422 Reitet uch B, Bereitet ach H; 435 reit
sich B, bereute sich H. — 431 Ich emveiz waz ich mer spreche, ich fehlt
H. — 454 Sumelichen geschach d ä heil B, daz H. — 506 als von H,
€ille vol B. — 531 Und(e) e er queme dannen B, c fehlt H. — 548 Sie
solden vil nä er zagen B, waren . . . verzagen H. — 565 enbranten H,
verbranten B. — 576 Vn fehlt B. — 585. 86 hiez : liez B, hiez : hiez H.
— 590 Mit äze und mit tranhe B, ezzen H. — 597 entän B, hin
dan H. — Einen gemeinsamen Fehler bieten HB in Y. 623, der als
Entgleisung eines Schreibers verständlich, doch schwerlich zweimal
unabhängig eintreten konnte, also auf die gemeinsame Mutterhs.
weist. V. 620 ff. lautet die Überlieferung HB:
Beiträge zur Textkritik Herborts von Fritzlar. 99
Des tayes ir wenic genas.
An dem dritten tage alsam{e)
Von wtben manic mannesnam(e)
An dem Hage'' tot lac,
wo in der letzten Zeile zweifellos velde gelesen werden muß.
B22 Str. in. — 843 1. Vaterhalp. — 884 1. (Beide sie unde er) Sluogen
und er arm diu sper st. ^w arme, vgl. 14799. — 943 1. Durch
ubennuot tmd (durch) nU. — 960 1. 8was er ie ane gevinc st. ir,
15165 f. Da^ Friamus Jde riet Des envinde ich ^hie' niet ist hie
im zweiten Vers mechanische Wiederholung, ich schlage vor Des
envinde ich an dem huoche niet. — 445 1. {Daz tnan uzen ganz
vant) Und ivurmezic [ist] innen? — 480 1. Simz (so) uch gevalle, vgl.
9857 Stver so er tvere, 7705 Swelche so er getraf. — 691 1. Daz die
Griechen im hänt uf geleit st. hette. — 763 str. dane. — 876 1.
Antenor [sich\ genante; obwohl neben genenden auch sich genenden
seit dem Straßburger Alexander mehrfach bezeugt ist, halt ich
es hier doch für sekundär, vielleicht gar durch Mis Verständnis
eingedrungen, vgl. 1013 Zu hant sie dö genante, 4274 Die Griechen
genanten. — 934 1. gezimmer wie 16040.
16119 1. entte resp. ente 'endete'? — 210 str. Vn. — 229 1.
Und als (ez) quam an (oder uf) den tac, vgl. 16738. — 258 Da
Hiefen^ die froiiiven inne (: Imneginne) ist unmöglich ; liefen ist wohl
wiederholt aus 254, und es muß sdzen (oder ivonten) eingesetzt
werden. — 661 Ytis ^bereitef mich des ist mir verdächtig, aber
beriJäet (vgl. 11138) und bescheidet (vgl. 14270) sind gleich möglich,
bereitet ist vielleicht eine Zwitterform von beiden, doch vgl. immer-
hin 17066 Als ich es vor bereitet bin, dem 11138 Als ir vor berihtet
Sit gegenübersteht. — 675 1. in libe. — 988 str. mer.
17002 1. Über berc und (über) grünt. — 065 1. {Beide vor unde
vort,) Beide hie unde dort st. Vnd. — 118 Daz selbe (teil) daz ir
yenas, 'diejenigen unter ihnen die am Leben blieben'. — 142 1.
Durch haz unde (durch) nit. — 462 1. Durch Icaffen und (durch)
schoutven. — 562 1. Wan daz ich durch tiurJieit Von spise doH9 latf^
verkös st. Durch.
18107 1. sente, mitteldeutscher Opt. Praet. — 217 1. Ez sprach
(vgl. 18216. 217. 221. 223. 226).
7*
Silbischer und unsilbischer Laut gleicher Artikulation
in einer Silbe und die Aussprache der indogerma«
nischen Halbvokale u und i.
Von
Eduard Hermann.
Vorgelegt in der Sitzung vom 22. März 1918.
1. Man pflegt eine Form wie gr. kU aus idg. *liii herzuleiten
(Brugmann G-rundr.^ II, 2, 182) und sich dabei vorzustellen, daß in
der rekonstruierten Form derselbe Laut i dreimal hintereinander
vorkam, erst als Sonant, dann als Konsonant und darauf wieder
als Sonant. Mit einem derartigen Ansatz macht man die still-
schweigende Voraussetzung, daß man innerhalb ein- und derselben
Silbe einen Laut, ohne die Artikulation zu verändern, hinterein-
ander unsilbisch und silbisch sprechen könne. Gegen solche Laut-
verbindungen ist, soviel ich weiß, bisher kein Widerspruch erhoben
worden. Nur wer etwa mit J. Schmidt Sonantentheorie 3 fg. an
idg. i und u überhaupt nicht glaubt und statt ihrer die Spiranten
,; und V einsetzt, billigt die Rekonstruktion Hiii nicht. Daß sie
phonetisch unmöglich ist, haben die Anhänger der Schmidtschen
Theorie nicht ausgesprochen. Und da sich zeigen läßt, daß im
Urindogermanischen wirklich die Halbvokale i und u vorhanden
waren, tauchen ähnliche Formen wie ^li^i in der sprachwissen-
schaftlichen Literatur gar nicht selten auf.
Aber nicht nur ii, uu und ii, uii werden in theoretischen
Formen ein- und derselben Silbe zugewiesen, auch die silbischen
und unsilbischen Nasale und Liquiden werden in derselben Weise
mit einander verbunden. Hiergegen hat allerdings lebhafter Wider-
spruch eingesetzt, ßartholomaes *g2mmmme (KZ 29, 273) hat bei
den Gegnern der Sonantentheorie reichlich Spott geerntet, s. Bechtel
Silbischer und unsilbischer Laut gleicher Artikulation usw. IQl
Hauptprobleme 131 und J. Schmidt Sonantentheorie 186. Letzterer
hat an der genannten Stelle auch noch andre phonetische UQge-
heuer ähnlicher Art lächerlich zu machen versucht. Aber dieser
Spott war nicht völlig gerechtfertigt; denn Bechtel und Schmidt
nahmen eigentlich nur daran Anstoß, daß mm usw. in den Einzel-
sprachen Vokal -f Konsonant ergeben haben solle, während Vokal
+ Geminata zu erwarten sei ; beide spotteten nur darüber, daß
derartige rekonstruierte Wörter, die Nasale und Liquiden mehr-
fach als Sonaut und Konsonant hinter einander zeigen, unaus-
sprechbar seien. Der Grund, weshalb man gznumiune nicht aus-
sprechen kann, haben Bechtel und Schmidt übersehen. Nicht die
Häufung derselben Laute, nicht die zwei sonantischen Nasale oder
Liquiden hinter einander machen solche Wörter unmöglich. Mit
Recht hat ja Sievers Phonetik^ § 112 darauf hingewiesen, daß wir
in der landläufigen Aussprache einer Verbindung wie die berittenen
Offiziere wirklich zwei n sprechen. Auch die Aufeinanderfolge von
silbischem und unsilbischem Laut derselben Artikulation ist in ge-
wissem Sinne nicht anstößig. Darauf können wir wieder die Probe
an unsrer Sprache machen; wir haben nn hinter einander in be-
rittene Offiziere. Dabei ist allerdings n neben n nicht anders zu
verstehen als ss in ässn == essen. Mit der Geminata soll ja
nicht gesagt sein, daß zwei n artikuliert werden, ein sonantisches
und ein konsonantisches, sondern nur, daß n zu zwei Silben gehört,
ebenso wie sich 5s ja auf die beiden Silben verteilt. Phonetisch
richtiger wäre es äsi^ zu schreiben. Dem entsprechend wäre in
phonetischer Schrift auch bei berittene nur ein n berechtigt. Der
grundsätzliche Fehler, der in '^g2mmmme steckt, liegt anderswo.
Ihn macht auch Sievers mit, wenn er für 'berittenen' beritlii-nnn
ansetzt, wobei die letzte Silbe nun sein soll. Er gibt dazu noch
folgende irreführende Erläuterung: 'Ein und derselbe Laut wird
also fortwährend zwiscben den beiden Kategorien [Sonant und
Konsonant] hin- und hergeworfen, und vielfach hängt es ganz vom
Belieben des Sprechenden ab, ihm die eine oder andere Funktion
zuzuteilen'. Diese Worte sind darum unrichtig, weil sie eine an
sich richtige Beobachtung falsch ausdrücken. Es ist ganz berechtigt
zu sagen, daß man die letzte Silbe von berittenen so sprechen kann,
daß n erst schwächer, dann stärker, dann wieder schwächer ist.
Aber es ist unrichtig, dabei von verschiedener Funktion des n zu
sprechen. Die Unterschiede sind nicht nur gering, sondern laufen
innerhalb einer Silbe auch ganz allmählich in einander über.
Wenn ich das Wort so nicht diphthongisch spreche, setze ich bei
dem 0 stärker ein und lasse es schwächer werden. Wem würde
^02 Eduard Hermann,
es aber einfallen, dies phonetisch mit soo zu umschreiben ! Hierfür
haben wir doch die Bezeichnung so. Wenn also n der letzten
Silbe von berittenen wirklich in der Mittte am stärksten ist, dann
muß man heritttm umschreiben oder, da das n der vorletzten Silbe
in der Stärke ebenfalls abfällt, besser heritum. Die Umschrei-
bung der letzten Silbe mit nnn ist zu grob.
Ein und derselbe Laut kann also innerhalb einer Silbe nicht
erst Sonant und dann Konsonant sein oder umgekehrt. In beiden
Fällen ist es nur ein Laut, und zwar im ersten ein abnehmender^
im zweiten ein zunehmender, nn^ mrii^ 11, rr und ii, iia sind in
einer Silbe ebenso unmöglich wie m?, mm, II, p- und ii, im. Nur
auf zwei Silben verteilt, haben diese Lautverbindungen einen ge-
wissen Sinn. Dabei ist aber nicht zu vergessen, daß in den meisten
Fällen ebenfalls nur eine einzige Artikulation vorliegt, nicht zwei
Laute, deren zweiter neu angesetzt wird. Zwiefache Artikulation
desselben Lautes wird in den meisten Sprachen überhaupt nur an
der Grenze zwischen zwei Wörtern vorkommen können. So kann
einen mundartlich zu nn zusammenschwinden ; beginnt das daraut
folgende Wort . mit einem n wie in dem Satz ich habe mir einen
neuen Änsvg gelmvft, so ist es theoretisch wohl möglich, das zweite
1^ von dem folgenden n zu trennen und n neu zu artikulieren;
zumeist dürfte aber auch da n mit n zu einer einheitlichen Arti-
kulation verbunden werden. Nur weil das letzte Stück des Nasals
zur folgenden Silbe gehört, hat es eine gewisse Berechtigung mm
zu schreiben. Von selten der Phonetik wäre also gegen Bartho-
lomaes Ansatz nichts einzuwenden gewesen, wenn er statt girtmifpme
vielmehr *g2wmme geschrieben hätte.
Sprachgeschichtlich würde ich auch *^2/i?r^w?e für verkehrt
halten, ganz ohne Rücksicht auf die Berechtigung der Sonanten-
theorie, die ich hier weder zugeben noch ablehnen will. Die ave-
stischen Formen mit aw?, die Bartholomae KZ 29, 279 fg. vorgelegt
hat, sind doch wohl sämtlich Analogiebildungen nach thematischen
Formen, wie das Reichelt Awest. Elementarbuch 98 für hiscama'de
als die eine Möglichkeit neben idg. -nim- zugibt. Man braucht
sich auch gar nicht zu wundern , daß gerade die Formen jimama,
hiscama'de ein a eingefügt haben, erst durch diesen analogischen
Vokal werden sie leichter aussprechbar. Da im Iranischen Ge-
minata vereinfacht worden zu sein scheint, würde der Form Ji?>?ama
ohne Einfügung des a, je nachdem, wie man es auffassen will, das
m des Stammes oder der Endung gefehlt haben.
Der hier gerügte Fehler zieht sich durch einen großen Teil
der sprachwissenschaftlichen Literatur hindurch, besonders die
Silbischer und unsilbischer Laut gleicher Artikulation usw. 103
Verbindung ii, uu kann man häufig lesen. Manchmal ist der Fehler
dadurch verdeckt, daß ji, vu oder wu geschrieben wird. So setzt
Hirt Handbuch d. griech. Laut- und Formenlehre^ 400 als ältere
Stufe des Dativs r^x^t die Gestalt *rix<^ji an. Darin steckt aber
der Fehler gerade so gut, wie wenn er ^rjx^i^ geschrieben hätte;
denn S. 217 wird gesagt, das j seinem Lautcharakter nach ein un-
silbisches i war. Manche Forscher scheinen zu glauben, daß iunm
usw. als Sonanten und Konsonanten prinzipiell geschieden seien, so
z. B. Meillet Einführung in die vergleichende Grammatik Übers.
V. Printz S. 68. Diese Ansicht beruht auf einem leicht erweis-
lichen Irrtum ; dadurch daß ein Vokal konsonantisch oder ein Kon-
sonant sonantisch wird, tritt an sich keine Veränderung in der
Artikulation ein. Ich muß daher auch Forscher, welche dieser
Ansicht huldigen, des Fehlers zeihen, daß sie Laute derselben Ar-
tikulation hinter einander in einer Silbe als Sonant und Konsonant
oder umgekehrt für möglich halten. Man braucht nur ein bischen
zu blättern, um den gerügten Fehler bei den verschiedensten Sprach-
forschern anzutreiFen. Ich nenne hier nur einige: Boisacq Dict.
etym. 364, Braune Got. Gramm. ^ 25, Brugmann Grundriß^ I, 268;
II, 2, 182, Charpentier Die verbalen r-Endungen 57 fg. , Güntert
Indogerm. Ablautprobleme 6, Kluge Elemente des Gotischen^ 43 fg.,
Leskien Grammatik der altbulg. Sprache 44, Lindroth IF 29, 173
(trotz der phonetischen Auseinandersetzung über i, ;, u, iv), Loewe
German. Sprach w.^ II, 75, Luick, Hist. Gramm, engl. Spr. I, 116,
Maurenbrecher Parerga zur lat. Sprachgesch. 43, Meillet Einfüh-
rung 178, Niedermann Melanges Saussure 60, 62, Osthoff Morph.
Unters. 4, XI und 298, v. Planta Gramm, osk.-umbr. Dialekte 1, 179,
272 ; II, 152, de Saussure Memoire sur le syst. prim. 208, Solmsen
Studien z. lat. Lautgesch. 42 fg., Sommer Handb. lat. Laut- und
Formenl.2 67, Streitberg Gotisches Elementarbuch^/* 82, Walde Die
german. Auslautgesetze 149 fg. usw.^). Ich glaube, wir haben alle
oder fast alle miteinander den Fehler mitgemacht. Nur zwei
Stellen^) sind mir zur Hand, an denen die richtige Erkenntnis
durchschimmert. KZ 38, 325 sagt Pedersen, aus sei unter der Vor-
aussetzung leicht sprechbar, daß das konsonantische u etwas ge-
schlossener als das sonantische iJ war. Aber völlig scheint -Pedersen
die Sache nicht erkannt zu haben; denn in seiner später erschie-
1) Wenn Bezzenberger Mit. lit. lit. Ges. 2, 32, sg taü^^ku schreibt , so kann
das nur den Sinn haben, daß das hochgesetzte n eine andre Artikulation hat als
das vorausgehende.
2) Nicht recht verständlich ist mir Vondraks Bemerkung Altkirchensl. Gramm. ^
67 über das Verhältnis von ji zu i.
104 Eduard Hermann,
nenen Vergleichenden Grammatik der keltischen Sprachen 1, 47 nennt
er den irischen Akk. Plur. cona als Beispiel für die Fortsetzung
eines idg. ns. Das enthält die nicht zu billigende Voraussetzung,
daß cona aus *kunns entstanden sei. Vermischte Beiträge 14 nennt
Wackernagel ij eine undenkbare Lautfolge, und doch macht er
Akzentstudien III ISTGrCr 1914, 120 den Ansatz *duomdi und geht
Sprachl. Untersuch, z. Homer 99/100 von idg. Formen mit -iin- aus.
2. Wer wie Brugmann den Ansatz eines idg. n für richtig
hält, kommt bei Rekonstruktion des Akk. Plur. der w-Stämme
jedenfalls ins Gredränge. Nach dem Schema der Rekonstruktion
führen ai. gunas, gr. xvvccg, ir. cona, lit. S:zums ebenso wie lat.
homines, abulg. hameni den Anhänger der Sonantentheorie gleich-
mäßig auf die phonetisch unmögliche Schlußsilbe -nm. Theoretisches
nns könnte nichts anderes als ns sein. Lautete da die Urform
von Kvvag etwa "^kuns ? ^) Daraus hätte doch wohl *xvag, ai. *f was
usw. werden müssen, Oder will jemand das neue Lautgesetz auf-
stellen, daß %i hinter Vokal im Altindischen na, im Grriechischen va
usw. ergab ? Derartiges könnte man sich wohl für diejenigen Sprachen
denken, die aus n sonst einen Vokal entwickelt haben. Aber die
Sprachen wie das Lateinische, Grermanische, Litauische, die aus ij^
Vokal + ?i gemacht haben, würden dann ja hinter Vokal n zu
Nasal + Vokal + Nasal entwickelt haben müssen ; das ist natürlich
ausgeschlossen. Indes auch mit den Sprachen, die nur Vokal für
n haben, entsteht eine Schwierigkeit, sowie man sich klar machen
will, wie es mit denjenigen Stämmen stand, in denen dem -n noch
ein Konsonant vorausging. Nach Brugmann Grundriß'^ II, 2, 228
lautet zu ai. uksnis die rekonstruierte idg. Form *uqsnns, was für
uns nur *uqsns bedeuten kann. Aber aus *uqsns würde indisch
*uk.saSj nicht uksnas entstanden sein.
Mit Günterts Schwa sekundum (Indog. Ablautprobleme 127)
würde man nicht viel weiter kommen. Zwar für das Baltisch-
Slavische z. B. würde d2 ausreichen, so *kun92ns = lit. s^ums,
aber für andere Sprachen nicht, wir würden ja ai. *gumtns usw.
erwarten müssen.
Solche Bedenken wie bei dem Akk. Plur. der n-Stämme gibt
es noch bei manchen andern Formen, bei dem Akk. Sing, der m-
Stämme wie lat. hiemem, im Verbum bei Formen wie got. nemum
u. a. Auch ai. ayhnata gehört hierhin. Wackernagel hält Glotta
1) Nicht unerwähnt soll bleiben , daß man nach Osthoff M.ü. IV, 285 statt
*ÄM{»» vielleicht ein *k\^s anzusetzen hätte.
Silbischer und unsilbischer Laut gleicher Artikulation usw. 105
7, 259 = Sprachl. Unters. Hom. 99 diese indische Form für laut-
gesetzlicli und verlangt statt hom. Tciipavtai ein älteres '^Ttiq)vatui]
vermutlich zu Unrecht. Wenn im Urindogermanischen Formen mit
-nnt' d. h. mit -nt- zugrunde lagen, war die 3. Person im Singular
und Plural bei derartigen Verben nicht unterschieden; lautgesetz-
liche Entwicklung wäre *7ts(pcctai, *reWro gewesen, deren Verdrän-
gung durch Ttecpavrat, thavto besonders leicht verständlich würde.
Die Schwierigkeiten, die sich bei den n- und m-Stämmen er-
geben, schwinden sofort, wenn man Brugmanns Nasalis sonans
ganz fallen läßt und dafür J. Schmidts e", c*" einsetzt. Diesen
Gedankengang haben die Gegner der Sonantentheorie nicht einge-
schlagen ; sie hätten aber daraus eine HauptwafFe gegen Brugmann
schmieden können. Da sie sich diese Gelegenheit haben entgehen
lassen, ist es nicht ftieine Sache, einen nicht gemachten Angriff
abzuwehren. Aber mir scheint es noch gar nicht sicher, daß in
den genannten Fällen überhaupt in der üblichen Art zu rekon-
struieren ist. ai. tiJcsnas , ins Vor urindogermanische umgesetzt,
könnte etwa '^'^enqsenens gelautet haben. Nicht gern trete ich in
das mystische Dunkel vorurindogermanischer Formen ein und schlage,
um mein Heil zu wahren, gleich zwei Kreuze. Das ist hier nötig.
Denn Güntert hat Idg. Ablautpr. 115,125 ganz recht mit der For-
derung, daß man nicht von Wurzeln oder Basen ausgehen müsse,
um den Ablaut richtig zu begreifen, sondern von Wörtern. Bei
dahin gehenden Versuchen wird man aber meist nur zu ganz phan-
tastischen Gebilden gelangen ; auch *^eu(jsenens mag von dieser Art
sein, obwohl es nach den Regeln der Kunst rekonstruiert ist. Wenn
man sich nun fragt, was denn im Indogermanischen hieraus nach
dem Wirken der Abiautgesetze geworden sein kann, so wird man
nicht umhin können, sein völliges Nichtwissen einzugestehen: en
mag zu n oder n geworden sein, was aber wurde aus enen ? Etwa
ni^ oder w? Man wird nur vermuten dürfen, daß es ein Resultat
ergab, das von der üblichen Form des betreffenden Kasus und des
dazu gehörigen Substantivstammes etwas abwich. Formen wie Kvvag,
ai. gimas, aisl. pnm, lat. liiemem usw. sehen gar zu regelmäßig aus,
sie lassen sich trotzdem nicht in eine phonetisch mögliche indo-
germanische Form umsetzen, wir bekämen ja nur -nn- und -mm-
heraus. Sie werden also — die Richtigkeit von Nasalis sonans einmal
vorausgesetzt — analogisch umgebildet worden sein, und zwar in
einer Zeit, als oi und m ihre einheitliche Artikulation als sonan-
tische Nasale aufgegeben hatten, d. h. in den Einzelsprachen.
Die lautgesetzliche Form des Akkus. Sing, eines w?-Stammes
vermute ich in ai. Mäm, av. :tam. Zu diesen Akkusativen ist dann
■[QQ Eduard Hermann,
der Nominativ ksäs\ m neugebildet (Brugmann Grdr^ 1, 347). öa^ia
darf man nicht mit Brugmann Grundriß^ II, 1, 136 auf *dömm zu-
rückführen, armen, ttm läßt nur auf idg. *döm schließen; eine be-
sondere antekonsonantische Form dürfte es nicht gegeben haben.
da fasse ich dagegen als eine Bildung des Stammes dorn- auf, wie
got. namö u. a. von einem n-Stamm gebildet sind. Zu da wird
döfi« eine spätere Weiterbildung sein.
3. Eine viel größere Rolle als bei den Nasalen spielt das in
Präge stehende Problem bei i und u. Wir werden sehen , daß
sich nicht nur das Alter mancher Analogiebildung und manches
Lautgesetzes erst jetzt festlegen läßt, sondern daß auch die Aus-
sprache der konsonantischen Reflexe von i und u mitbestimmt
werden kann und daß sich besonders an die zweite Sorte dieser
Lauta Fragen anknüpfen, die tiefer in den Aufbau der indoger-
manischen Sprachwissenschaft eingreifen. Zum Teil spielen hier-
hinein auch die Sonantentheorie und die Gutturalfrage; von Bei-
spielen der Art sehe ich in dieser kleinen Untersuchung völlig
ab, um sie hoffentlich ein andermal für sich behandeln zu können.
Es sollen also Fälle wie ai. ürnä^ got. tvidla aus angeblichem ^filnä,
got. aurtigards aus angeblichem *wf(?- usw. ebenso wenig unter^-
sucht werden wie lat. querciis , kelt. Hercynia, got. fairguni aus
*perg''^U' usw. Hier soll im Mittelpunkt die Aussprache der beiden
genannten Laute stehen, soweit sie mit unserem Problem zusammen-
hängt. Es wird sich allerdings nicht ganz vermeiden lassen, die
Aussprache zum Teil auch noch etwas weiter zu verfolgen. Um
Schwierigkeiten in der Bezeichnung aus dem Weg zu gehen, setze
ich als Ausgangspunkt idg. i und u an, die Zeichen der Halb-
vokale, ohne damit über die Ansprache dieser Lautzeichen irgend-
wie vorher urteilen zu wollen.
Ich beginne mit dem Slavischen. Über die heutige Aus-
sprache des slavischen j werden wir von Broch, Slavische Phonetik
genau unterrichtet. Nach seinen Ausführungen S.S. 38, 72, 77,
86, 91, 94, 99, 105, 247, 272 finden wir in sämtlichen slavischen
Sprachen gleichmäßig jegliches ;", einerlei welcher Herkunft, ob
aus idg. i ererbt oder erst im Slavischen entstanden, bald als
Spirant /, bald als Halbvokal i. Bei langsamerem und deutlicherem
Sprechen wird i mehr geöffnet und wird geradezu zu einem e ; die
Aussprache liegt also nicht fest, sondern wechselt selbst bei dem
einzelnen Individuum. Bei dem geringen lautphysiologischen Unter-
schied zwischen j und i ist dieses Schwanken nicht so sehr wunderbar.
Vielleicht ist das im Englischen und in deutschen Mundarten, die
Silbischer und unsilbischer Laut gleicher Artikulation usw. 107
i kennen, nicht viel anders. Es braucht ja die Zunge, die bei i
den Zähnen schon sehr nahe ist, nur noch ein klein wenig vorge-
schoben zu werden, und es entsteht ein Reibungsgeräusch, das den
Halbvokal zum Spiranten macht. Bemerkenswert erscheint mir,
daß diesen Wandel alle Slavinen gleichmäßig kennen. Das beweist
natürlich noch nicht, daß es im Urslavischen auch schon so war,
macht aber die Vermutung, daß es nicht erst in den einzelnen
slavischen Sprachen so geworden ist, recht wahrscheinlich. Und
zu dieser Annahme paßt manches andre. iVuch würde sie erst
verständlich erscheinen lassen, daß weder das glagolitische noch
das kyrillische Alphabet einen besondern Buchstaben für diesen
schillernden Laut hatte. Um das i auszudrücken, behalf man sich
in der verschiedensten Weise, vgl. Vondrak Aksl. Grr.- 66 fg. Das
Zeichen für j, das man in der Glagolica in Fremdwörtern wie
jeona schrieb, wandte man für i nicht an. Man schied also zwischen
beiden in der Aussprache, j hatte eben wahrscheinlich ein sehr
deutliches Reibungsgeräuch, das dem i, mindestens in diesem Maße,
abging.
Neben i derselben Silbe kann sich i nur dadurch halten, daß
es merklich enger artikuliert wird (Broch 262 fg. vgl. Smal-Stockyj
Ruthen. Gramm. 15) wie in kleinruss. cifi, zum Spiranten wird e«
dadurch noch nicht unbedingt. So verstehen wir auch, daß ein
konsonantisches und ein sonantisches i-, eben mit verschiedener Ar-
tikulation, hinter einander in den Formen des Pronomens der dritten
Person stehen können wie in russ. hmt, hxx usw., vgl. entsprechend
kleinrussisch buu, Smal-Stockyj ebda.
Inwieweit i sich mit folgendem i im Slavischen verbunden
hat, vermag ich mit den mir zu Gebote stehenden Mitteln nicht
ganz zu beurteilen. Während im Russischen und andern slavischen
Sprachen das Pronomen der dritten Person oft mit ji- bez. ji- an-
lautet, haben dieselben Kasus im Slovakischen, in einigen mäh-
rischen Mundarten usw. den Anlaut /, z. B. Instr. Sing. im. Nach
Vondrak IF 10, 116 stellt dabei der Anlaut i- den urslavischen
Zustand dar, während il-, ji- auf Analogie beruhen soll. Leskien
will das IF 10, 261 gelten lassen , obwohl ein Beweis dafür nicht
erbracht sei. Der Beweis läßt sich aber vielleicht erbringen, falls
sich ein Unterschied im Anlaut des deklinierten Relativums (mit j)
und der zu Konjunktionen erstarrten Kasus des Relativums (ohne j)
nachweisen läßt, was meiner Beurteilung entgeht.
Im Inlaut hinter Konsonanten hat Leskien IF 10, 259 fg. die
Lautgruppe -ii bez. -ji festgestellt. Wie es hinter Vokalen steht,
bleibt noch zu untersuchen. Die verschiedenen slavischen Spracheii.
108 Eduard Hermann,
stimmen heute darin nicht überein. Während im Cechischen der
Nominativ Pluralis des Possessivum nioji, im Serbischen mbji lautet
und im Ruthenischen z. B. cmo'imh als stojW (Smal-Stockyj, Ruthen.
Gramm. 16) und im Weißrussischen z.B. Cbohx'b als svajich (Berneker
Slav. ehrest. 102) zu sprechen ist, spricht man großruss. moi, sloij
armü usw. ohne Konsonant vor dem -i der Endung. Die Slavisten
greifen diese Frage vielleicht bald einmal auf, zumal sie durch
Brückners Streitruf Gresch. idg. Sprachwiss. II, 3, S. 2 wegen der
Greltung des slavischen h für i + b auf den Schlachtplatz heraus-
gefordert sind.
Mir kommt nach Brückners Mahnung Leskiens Ansatz abg.
"imjh usw. nicht mehr richtig vor; man wird moj ansetzen müssen.
Also hinter Vokal ist i-\-h zu einem Laut verschmolzen, so auch
beim enklitischen Pronomen, z. B. moVaachg i = moVaachoj, vgl.
BphW1918, 41. Hinter Konsonant ist es aber, ebenso wie bei
langem i hinter i, anders. Man konnte einen Haken auf den Kon-
sonanten setzen und fügte b hinzu, z. B. vi^nh, d. h. man sprach
eine Art i oder j vor l. Auch hier läßt sich nicht sehen, ob der
Anlaut dieses Akkusativs jh lautgesetzlich geblieben oder analo-
gisch wieder eingeführt worden ist. Ebenso ist es mit Formen
wie honh, honi.
Im absoluten Anlaut ist i vor t nicht geblieben. Wir können
aber nicht recht erkennen, wie verändert worden ist, wir sehen
nur das Endergebnis : ?, also eine Dehnung ^). So wurden behandelt
B- und alle Verbindungen von anlautendem i- mit b, gleichgültig
welcher Herkunft, z. B. idg. di in img^ idg. ju in igo, idg. i oder
io- in i^e. Lautgesetzlich ergab sowohl idg. */> wie idg. *ios im
Slavischen ?; sollte nicht dieser Umstand zu einer Vermengung
der beiden Pronomina geführt haben? Wir werden sehen, daß
diese auch im Baltischen eingetreten sein kann. Andrerseits mag
die Veränderung des Anlauts und die Reduktion des Nominativs
auf einen Laut, wogegen sich ja die indogermanischen Sprachen
vielfach sträuben , vgl. Wackernagel NGGr 1906, 147 fg., bewirkt
haben, daß man den Nominativ i durch o«x ersetzte und daß die
ebenfalls einsilbigen Nominative ja, je infolgedessen durch ona, ono
verdrängt wurden.
Verloren gegangen ist das anlautende i vor l also auf irgend
«ine Weise; ob das, nachdem b- zu i- geworden war, geschah oder
vorher, wird zu untersuchen sein. Vondräk stellt sich Aksl. Grr^ 79
1) Brückners Ansatz Gesch. Sprachw. II, 3, 64, 100 ji- z. B. jigo ist nicht
tichtig, vgl. BphW 1918,41.
Silbischer und unsilbischer Laut gleicher Artikulation usw. 1Q9
den Vorgang so vor, daß aus ih zunächst ih wurde; irgend einen
Beweis für diese Metathesis hat er aber nicht erbracht.
Selbstverständlich handelt es sich bei ?ie, inw, igo um eine
Dehnung, wie es ja auch von den Slavisten aufgefaßt wird, nicht
etwa um die Vereinigung von i oder ; + V zu t; denn diese Ver-
einigung ergäbe nicht 7, sondern 7. Das verdient noch einmal be-
sonders gesagt zu werden. Wenn i oder ; zu t hinzukommt, wird i
natürlich länger; aber es wird noch kein langes L Umgekehrt
würde ^ + jii) ein langes i ergeben, wofür man übrigens gerade
aus dem Slavischen etwa abulg. tri je neben trhje u. a. nennen darf.
Denn hier wird die Dehnung doch wohl darauf beruhen, daß man
einen Teil des j(i) schon in der ersten Silbe vorausnahm , es also
geminierte, wie man gewöhnlich ohne Rücksicht auf die einmalige
Artikulation statt 'verlängerte' sagt. Das sieht zunächst vielleicht
wunderbar aus, verliert aber sofort alles Befremdende, wenn man
sich ein wenig weiter umsieht.
Im griechischen und lateinischen Vers macht bekanntlich nur
der hinter dem Vokal derselben Silbe stehende Konsonant Position,
nicht der vor ihm. Vor dem Vokal dürfen sogar mehrere Konso-
nanten stehen, ohne die Silbe zu längen, daher ist hinter der Zäsur
die Silbe tcqo- kurz: A 84 rbv ö^ ccTtcc^Sißo^svog 7tQo0£(pf] Jtödag
G)xvs 'AxikXevg, ebenso die Silbe |v-: A 273 ocal iiev ^ev ßovXecjv
^vvLEv TtEid-ovTÖ TS ^vd^G). Diouys vou Halikamaß erwähnt :r. övvd.
ov. 15, daß die erste Stelle von öxQocpog trotz der drei Konso-
nanten noch kurz ist. Bei Catull heißt es in der rein jam-
bischen Hexapodie 4, 9 : Fropontida trucemve Ponticum sinum. Die
experimentellen Untersuchungen haben denn auch ergeben, daß die
silbenanlautenden Konsonanten durchweg kürzer sind als die silben-
auslautenden, s. Jespersen, Lehrbuch der Phonetik 182 fg. Unter
den hier S. 187 aus E. A. Meyers Englische Lautdauer S. 30 und
77 zusammengestellten Tabellen zeigen besonders die inlautenden
Konsonanten, die wenigstens hinter langem Vokal Anlaut der fol-
genden Silbe sind, viel geringere Zeitdauer als die anlautenden
hinter kurzem Vokal; aber auch die anlautenden sind kürzer, zum
Teil recht erheblich, z.B. l 10,6: 17,4 Hundertstel Sekunden, m
10,2: 17,8. Bei inlautenden Konsonantenverbindungen ist der zweite
Konsonant besonders kurz, s. Meyer S. 79: b hinter m 2,8 Hun-
dertstel Sekunden , hinter langem Vokal 6,2 ; p ebenso 3,6 : 8,0.
Im Auslaut einsilbiger Wörter beansprucht b hinter langem Vokal
8,8, hinter kurzem 10,1 Hundertstel Sekunden; p 12,6: 14,8. Im
Serbischen sind die Unterschiede allerdings geringer, s. LC 1917, 791.
In den älteren indogermanischen Sprachen dagegen muß der Unter-
110 Eduard Hermann,
schied der Zeitdauer zwischen silbenanlautenden und siibenauslau-
tenden Konsonanten noch größer als im Englischen gewesen sein.
Nur so erklärt sich die Positionslänge und ebenso die Ersatzdeh-
nung, wie sie in eifil, got. (/ajjeihan usw. zum Ausdruck kommt.
Die Verschmelzung von i mit folgendem i, von u mit n konnte
ii.lso, wie das auch die Beispiele im folgenden überall bestätigen
werden, nur T oder fi ergeben.
Wenn Sommer Sprachgesch. Erläuterungen f. d. griech. Unter r.
49 das l in ai. hharantl aus idg. jd (gemeint ist id) kontrahiert sein
läßt, befindet er sich im Irrtum; denn er scheint zu glauben, daß
9 im Indischen erst zu i wurde und daß dann i-\-t eine Länge
^rgab. Dabei ist aber zum Überfluß auch noch übersehen, daß im
Litauischen (vehant)) und im Grotischen {frijöndi) usw. das 9 nicht
zu i geworden sein kann, sondern a hätte werden und im Grotischen
abfallen müssen. Grenau denselben Fehler wie Sommer macht Grüntert
Indog. Ablautprobleme 6, wenn er, andern folgend, i in ai. pmd-
und jitä- als die Fortsetzung von idg. id ansieht, das im Arischen
zu ii und weiter zu ~t geworden sei. Die Grruppe der indischen
IVörter gehört doch mit pivan-, pivari usw. zusammen, und von
•diesen sind Jticov, oiisLQa nicht zu trennen, deren ^ aus id nicht
herleitbar ist. Ebenso scheitert OsthofFs Theorie MU IV, 281 fg.,
nach der **u€gJiö > *iiughö > *üghö geworden ist.
Bei dem slavischen v steht es nicht ganz so wie bei ;. Fast überall
ist V heutzutage Spirant, und zwar labio - dentaler Reibelaut, s.
Broch 30. Ganz augenfällig zeigt sich dieser Unterschied im Rus-
sischen, wenn v vor folgendem stimmlosen Konsonanten selbst stimm-
loser Spirant wird z. B. in vtoroj; dagegen der {-Laut bleibt stimm-
haft z. B. in 2^ojti. Nur insofern zeigt sich noch die, wie wir gleich
sehen werden, alte halbvokalische Natur des v, als es selbst einen
vorausgehenden stimmlosen Konsonanten nicht stimmhaft machen
kann, wie das die stimmhaften Verschlußlaute und Spiranten tun, z.B.
V in svetiy gegenüber s>js in shor^ oder ^ > ^ in otäiib Das u in nord-
großrussischen Mundarten, z. B. udrug Berneker, Slav. Chrestomathie
99 und im Weißrussischen z. B. use ebenda 102 fg. kann natürlich
nur einen bilabialen Spiranten meinen, wie sich schon aus der Stel-
lung in der Silbe ergibt. Wie wird aber nordgroßruss. hlezmm
S. 99, yl'amm S. 100 und weißruss. zJännu S. 103 zu beurteilen
sein? — Interessant ist in diesem Zusammenhang auch der Über-
gang von unbetontem u in v in kleinruss. vdarW = iidarif, s. Smal-
Stockij und Grartner, Grrammatik d. ruthen. Sprache, 84.
Nur in ugrorussischen ^) und südserbischen Mundarten und im
1) Man vergleiche aber ruthen. na^Tcolo = naokolo, s. Smal-Stockyj und
Silbischer und unsilbischer Laut gleicher Artikulation usw. Hl
Slovenischen liegen die Verhältnisse ganz gleich denen des ;, so
daß dort v mit u und in langsamer Rede sogar mit o wechselt,
s. Broch-81fg., 74, 81, 93, 245 fg., 252, 254. Hierin könnte sich
vielleicht der urslavische Znstand fortgesetzt haben. Aber wie im
Neubulgarischen v Spirant ist, so könnte es das auch im Altbul-
garischen schon gewesen sein. Die beiden slavischen Alphabete
haben ja einen besonderen Buchstaben für v , eine Umbildung^ des
griechischen /5, das in jener Zeit bereits spirantisch gesprochen
wurde. So finden wir denn v auch vor x, das, aus o oder n ent-
standen, einen für das Altbulgarische noch nicht genau festgelegten,
überkurzen Vokal (Leskien, Gramm, altbulg. Spr. 10) darstellte.
Daß dieses o durch die Zwischenstufe ü einmal hindurchgegangen
war, ist wahrscheinlich.
Hinter Konsonant soll v nach Brugmann Grrundr.- 1, 340 vor
folgendem x in alter Zeit geschwunden sein, daher die isolierte
Form vecliy^ dagegen bei den nach der wo -Deklination flektierten
Wörtern soll v schon im Altbulgarischen wieder eingeführt sein,
daher mrt/r'B, während hinter Vokal v auch in den isolierten Formen
wie znavT> hki^ steht. Diese Ansicht dürfte nicht richtig sein und
ist von Brugmann selber Grundr.- II, 1, 571 aufgegeben worden.
Wie der Nominativ solcher slavischen Partizipien zustande
gekommen ist, hat für mich hier kein Interesse, da die Verbindung
vh nicht' nur in dieser einen Form zu finden ist ; haben wir doch
neben vediysa auch snaviisa usw. im Genetiv und neben vediasi auch
^navTasi usw. im Femininum. Diese Bildungen reichen vielleicht
über das Slavische hinaus, sie haben in den baltischen Sprachen
ziemlich genaue Entsprechungen, z, B. davii, lit. däviis, s. Brugmann
Grundr.^ II, 1. 571 fg.; II, 3, 492 fg. In beiden Sprachgruppen hat
das auf die Verbindung eines konsonantischen u mit einem sonan-
ti sehen u deutende Element das Partizipium der meisten voka-
lischen Stämme erobert, obwohl noch nicht alle wie altb. ckvalh,
lit. viyUjus, preuß. milijans ; am weitesten ist dabei das Preußische
gegangen, s. Osthoff MU. IV, 379. Wie das Suffix entstanden ist,
hat Brugmann an der ersten der genannten Stellen auseinander-
gesetzt. Den Ausgangspunkt lieferten die Verbalstämme auf -ü
(und -ii). Wenn hier ein vokalisch anlautendes Suffix antrat, ent-
stand ein n als Übergangslaut zwischen Stamm und Suffix, und
Gärtner, 83. Überhaupt scheint die halbvokalische Aussprache des v in den drei
russischen Sprachen weiter verbreitet zu sein, als es Broch angibt, s. die aller-
dings nicht ganz einwandfreien Bemerkungen Sobolevskijs, Lekcii* 120 fg. Weitere
Spuren s. Voi\drak Vgl. Gr. I, 282 fg., wo mit Recht urslavischer Halbvokal an-
genommen wird.
112 Eduard Hermann,
dieses u wurde auf die Formen mit Suffix -us übertragen : so steht
neben abulg. hyv%si schon ai. hahküvusi, hom. itecpvvlcc. Es erhebt
sich die Frage, wie alt derartige Bildungen sein mögen, ^ie ver-
schiedene Quantität des Stammvokals, Läfige im Slavischen dav%y
byvTt Kürze im Litauischen dävus, hhvuSy Länge im Preuß. däuns
könnte nahe legen, daß der Hiatus erst in den Einzelsprachen
getilgt ist, zumal im Preuß. -wims nur vereinzelt erscheint wie in
tayJtowuns , meist nur -uns , wie in hillums , däuns usw. , Berneker
Preuß. Sprache 230 fg., Trautmann Die altpr. Sprachdenkm. 255 fg.
Aber bei der Unzuverlässigkeit preußischer Schreibung, vgl. be-
sonders noch baüuns, darf man kaum Schlüsse daraus ziehen. Daß
im Preußischen der Übergangslaut (u) mit dem folgenden ti ver-
schmolzen sei, wird man angesichts der Formen auf -tvuns ebenso
wenig fest behaupten dürfen, wie daß däuns die ältere Stufe dar-
stelle, in der w noch nicht von den ff -Stämmen übernommen sei.
Man wird aber jedenfalls mit der Möglichkeit rechnen dürfen, daß
schon im Urbaltischslavischen ein Teil der vokalischen Stämme,
zum wenigsten die w- Stämme Partizipien mit it vor der Endung
'US- bilden konnten, wenn sich auch Gewißheit darüber nicht er-
reichen läßt. Also schon in jener Sprachperiode könnte es viel-
leicht Formen gegeben haben, in denen 2i mit folgendem u nicht
verschmolz. Die Aussprache dieses ii muß dann von der des fol-
genden u irgend wie abgewichen sein. Sie könnte geschlossener
gewesen sein, also w, oder spirantisch, also etwa bilabiales iv. Was
als das Wahrscheinlichere zu gelten hat, wird sich im Lauf der Unter-
suchung hoiFentlich deutlicher zeigen. Hier sei über das Partizipium
nur noch bemerkt, daß Formen mit -vtis- im Altindischen nur von den
«T-Stämmen vorliegen, also über das Ursprungsgebiet nicht hinaus-
gewachsen sind. Man wird fragen dürfen, ob dies nicht etwa gar
ein urindogermanisches Erbstück ist. Die andern Yokalstämme
verlieren im Altindischen ihren Vokal vor dem Suffix -ns- z. B.
tasthtist von sthä, und das könnte im Urindogermanischen ent-
sprechend gewesen sein. Bei den w-Stämmen lag das aber anders :
das u von *bJtü war vermutlich doch die Schwundstufe einer zwei-
silbigen Basis; da wird also im Partizipium vor dem -tis- nicht
auch ü geschwunden sein. Eher könnte man daran denken, daß
sich ü mit -us- zu -üs- verband , wie sich das Brugmann KZ 24, 85
ähnlich vorstellte; der Systemzwang könnte aber damals schon
-üs- zweisilbig gemacht haben, wobei dann auch hier ein irgendwie
beschaffenes u (wohl u) vor u in betracht käme.
Sicherlich erst innerhalb des Slavischen ist im Anlaut der
Vorschlag vor t> und ^, zu einer Zeit, als sie noch w-Laute waren,
I
Silbischer und unsilbischer Laut gleicher Artikulation usw. HB
entstanden. Dieser Vorschlag wird bei seiner Entstehung eher ein
w, also ein geschlossenes u, als ein Spirant gewesen sein, da ^
dem Vokal ü in der Artikulation näher liegt. Man setzte etwas
geschlossener ein und fuhr geöffneter fort, das konnte leicht zur
Scheidung in zwei Laute führen, wie z. B. bei dem weißrussischen
in betonter geschlossener Silbe aus o entstandenen uo, Berneker
Chrestom. 102 fg. Im Ruthenischen ist ti (w) auch vor das jüngere
anlautende u- getreten, Smal-Stockyj und Grartner 85. Von hier
aus darf man aber nicht etwa einen Schluß auf anlautendes i- ziehen;
der i- Vorschlag vor i, den z. B. Leskien Gramm, altbulg. Spr. 65 als
sicher annimmt, ist nur eine, der verschiedenen Möglichkeiten.
Die beiden Vokale verhalten sich in der Tat doch ganz verschieden,
7- ergibt t-, dagegen u- und ü- ergeben vt-, vtj-. Des Parallelismus
wegen ist man also zur Forderung eines vorgeschlagenen i nicht
berechtigt.
Im Baltisclien liegen die Verhältnisse etwas anders als im Sla-
vischen. Über das Lettische kann ich nur anführen, was Bielen-
stein Die lettische Sprache 87 fg. sagt, iv ist Halbvokal, lautet
nie wie v und hat fast vokalische Katur, nur zwischen Vokalen
hat es eine mehr konsonantische Aussprache, so daß auch die Ober-
zähne die Unterlippe berühren. Danach scheint gemeint zu sein
daß w außer zwischen Vokalen kein Spirant ist. j wird ähnlich
beschrieben : es ist mehr konsonantisch zwischen Vokalen, mehr
vokalisch im Anlaut und Auslaut. Dabei ist das Beispiel für letz-
teren bemerkenswert, weil es vor dem j ein i hat: skreif 'lauf.
Dieselbe Artikulation wie das vorausgehende i kann das auslau-
tende i natürlich nicht haben.
Im Litauischen dagegen scheint / meist Spirant zu sein.
Kurschat setzt es Grramm. lit. Sprache 24 dem deutschen j gleich,
womit er wohl den norddeutschen Spirant meint, wozu auch altlit.
til'jghie^ Bezzenberger Beitr. Gesch. lit. Sprache 93 paßt. In ge-
wissen Gegenden ist aber j im Litauischen Halbvokal, z. B. in
Godlewa, s. Leskien-Brugmann Lit. Volkslieder und Märchen S. 285 ;
fis wird hier zu ts reduziert; ebenso ist im Adjektivum ; vor i
kaum oder nicht hörbar z. B. in gerajt^, geroji. Auch im Ostlitauischen
ist ; vor i verklungen; bei Szyrwid wird für je^ite die Form inte
angegeben (brätowa fratria uxor fratris inte), hier war en lautge-
setzlich zu in geworden. Wenn der vorausgehende konsonantische
Anlaut mit i verschmolzen ist, läßt das eher auf i als auf 7 schließen,
da j von dem i in der Artikulation stärker abweicht. Aber ostlitauisch
lautet das Pronomen ßs, nicht etwa *is. Wie ist das zu verstehen ?
Trat die Verschmelzung nur mit dem aus e sekundär entwickelten
Kgl Ges. d. Wiss. Nachrichten. Phil.-hist. Klasse. 1918. Heft 1. 8
114 Eduard Hermann,
i ein? Oder ist ; in jis nur analogiscli wieder eingeführt? Ist
fis etwa überhaupt im Litauischen so zu verstehen ? Nach Sommer
Die indog. ja- und io-Stämme im Baltischen 225 fg., 368 fg. ist -io-
z. B. hinter einem Dental wie in iödis oder hinter einem ,9 voka-
lisiert worden und hat mit dem ehemaligen o zusammen i ergeben,
übrigens wieder ein Vorgang, der bei der halbvokalischen Natur
eines i begreiflicher ist als bei einem spirantischen j. Dann darf
man aber -is auch in yeräsis auf -ios zurückführen. Ferner wäre
es denkbar, daß ebenso auch das Demonstrativpronomen *io5, wenn
es unbetont war, zu *is führte, wodurch eine Vermengung mit dem
Pronomen Hs leicht herbeigeführt werden konnte wie im Slavischen.
Aber im Litauischen zeigt sich die Verquickung deutlicher; denn
die Form j) scheint das Femininum zu */5 zu enthalten, das uns
aus dem Avestischen als i bekannt ist. Voraussetzung für diese
Erklärung der Bestimmtheitsform im Nom. Sing, und für j)s^ j) ist
also, daß j)s^ jl ihr ; analogisch wieder erhalten haben und jl sein j-
von dem später verloren gegangenen Femininum *;a bezogen hat. Daß
geräsis und gerqj{, geroji mit dem ; nicht gleichmäßig behandelt
wurden, könnte in der Verschiedenheit der vorausgehenden Laute
(Konsonant: Vokal) seine Begründung finden. Notwendig ist diese
ganze Hypothese nicht, die Vermengung der Pronominalstämme
*^- und "^io- läßt sich auch ohne sie begreifen; immerhin würde
sie die Vermengung ganz besonders verständlich erscheinen lassen.
Eine Parallele zu der Ausdehnung des anlautenden j im Pronomen
der dritten Person liefert das weißrussische juan^ jena, jeno, jeny.
Das, was im Slavischen zweifelhaft bleiben mußte, der Vor-
schlag vor anlautendem i-, kommt in litauischen Mundarten wirklich
vor. Doritsch Beiträge z. lit. Dialektologie § 124 erwähnt ihn aus
der Mundart von Aszen, wo j- vor jeden hellen Vokal tritt. § 190
führt er außerdem ji = ir an aus der Mundart von Eund-Goerge.
Bei Leskien-Brugmann 283 wird das ; in j)mt als schwach und
unstet bezeichnet. Aus einem an einen litauischen Grefangenen
gerichteten Briefe, der aus der Nähe von Bausk abgesandt war,
habe ich mir iwr jilgti Icähu 'lange Zeit hindurch' notiert. Auch
der Vorschlag von ; spricht dafür, daß, wenn nicht jetzt, so doch
zvLT Zeit seiner Entstehung ein Halbvokal gesprochen wurde, und
zwar wohl ein mehr geschlossener.
Somit komme ich von verschiedenen Seiten für das Litauische
auf i neben ;, auf Halbvokal neben Spirant. Ist es etwa ähnlich
wie im Slavischen, wo die Aussprache individuell wechselt? Wenn
man fragt, was das Altere dabei sein wird, i oder j, so wird man
auf i geführt, und dazu paßt auch die lettische Aussprache sehr
Silbischer und unsilbischer Laut gleicher Artikulation usw. 115
wohl. Künftige phonetische Forschung wird das besser festlegen
und zugleich feststellen können, ob 'nicht in manchen Gegenden
des Baltischen i im allgemeinen als i, aber vor i als i gesprochen
wird.
Auch für V werden wir schließlich auf den Halbvokal ti geführt,
obwohl Wiedemann Handb. lit. Spr. 1 v als Spirant bezeichnet. In
manchen Gegenden wird apokopiertes av als au gesprochen, so
spricht man tau oder tati für tävei z. ß. in Godlewa, ferner in meh-
reren Mundarten, wie aus Doritsch a. a. 0. S. 115 zu ersehen ist,
ebenso in der Mundart bei Scheu- Kurschat, Zemaitische Tierfabeln
217, vgl. auch Jacoby Mit. lit. lit. Ges. 1, 73 aus Memel susiijau =
susiejowa usw. Wird etwa v in allen diesen Gegenden wie in
Godlewa jetzt noch als u gesprochen, oder /geschah das nur noch
zur Zeit der Apokope, für die mir u wahrscheinlicher dünkt als
Spirant tv? Im nördlichen Preußisch-Litauischen wird intervoka-
lisches V oft als ii gesprochen, vgl. Bezzenberger Mitteil. lit. lit.
Ges. 2, 34, so] auch S. 31, 39 \ uändenq und 42, e« sogar, tas uaiks.
Daneben gibt es hier auch Übergang von nichtspiräntischer zu spi-
rantischer Aussprache 29, s häuw\ 42, u te'^wois, aber 33, 59 giw^s.
Doritsch § 39 erwähnt aus Matzutkehmen sau neben sdiv mit bila-
bialem w. Diese Verhältnisse deuten auf individuellen Wechsel
wie im Slavischen. In Gefangenenbriefen fand ich z. B. loshaus
neben losJcavs aus loslavas-, aber die Schreibung allein beweist ja
noch nichts.
Andre Beobachtungen führen darauf, daß u im Litauischen in
gewissen Zeiten und Gegenden nach dem 0 hin klang, also ein
offenes u war. In s;sä, da, vielleicht auch in snml, ist u vor einem
«^-Laut gefallen, der aus 0 entstanden war, und das kann ein durch-
gehendes litauisches Lautgesetz gewesen sein ; die heutigen Wörter
mit der Lautfolge v -f- u oder u sind alle junge Wörter oder lassen
sich wenigstens leicht aus dem Systemzwang erklären wie vulga-
■risslas, VüMe, ^uva von iüü 'umkommen' (vgl. Schleicher Lit. Gr.
240, Osthoff MU IV, 393), gijvuse usw. Dazu paßt sehr gut, daß
in der Mundart der Scheuschen Tierfabeln statt des vulgären -ü
im Auslaut -uv erscheint, z. B. huv, s. Scheu-Kurschat Vorrede 7.
Eine noch deutlichere Sprache spricht die Verschmelzung des n
mit folgendem 0 in einer Mundart aus der Nachbarschaft Telsys
M. 1. 1. G. 5, 87 pauliaote lustig leben', suvencaötas Vermählt', da-
neben aber tau 'dir' usw. und im Paradigma sogar he galvos, ont
lovos, Deivo, im Anlaut pasvodina. Aus einem nach Pupsti b'ei
Xielmy gerichteten Brief eines litauischen Gefangenen habe ich
8*
Wß Eduard Hermann,
mir okis'kas = voJ:i.skas aufgezeichnet, eine Form mit bezeichnender
Verschmelzung des v vor o in einem Lehnwort.
Eigentümlich ist der Vorschlag eines v vor anlautendem tio^
den Trautmann 158 aus dem Zenaitischen , Ostlitauischen und aus
Godlewa erwähnt. Brugmann nennt Leskien - Brugmann 283 aus
Grodlewa vüszv'e, viidegä. Danach setzt man vor dem u des ü schon
mit einem konsonantischen ii ein, gemeint kann hier wohl nur u
sein. Vor einem u wie in vhp'c ist dieser Vorschlag nicht so deut-
lich und regelmäßig in dieser Mundart zu hören. Brugmann er-
wähnt aber auch den Vorschlag vor o S. 280, z. B. in uos^kä. In
andern Mundarten ist anlautendes no zu ivo geworden, so in Wil-
komierz wofjenos 'ein Platz, wo Beeren wachsen', s. Geitler Li-
tauische Studien 121 und in Marcinkancy wödcgu mit labialem iv neben
uodegii Boritsch CXLVIII. Es wird über diese Verschiedenheit
schwer zu sagen sein, ob der Vorschlag mehr für ein ti oder ein ti,
bez; u deutbar ist; jedenfalls spricht er aber für jetziges oder ein-
stiges V als Halbvokal.
Ganz ähnlich steht es mit dem Vorschlag des iv ^) im Preussischeii ;
s. Trautmann 158 fg. Im pomeranischen Dialekt ist w vor o und u
vorgeschlagen tvohle 'Apfel' lit. öbülas, tvundern 'Wasser' lit. unds^
in dem samländischen Dialekt des Katechismus I steht w vor u:
umschte 'sechster'. Danach ist wohl auch im Preußischen lo einmal
Halbvokal gewesen.
Will man die litauische oder baltische Aussprache früherer
Zeiten festlegen, so wird man sehr wohl mit dem auskommen
können, wie es im Slavischen zum Teil noch zu finden ist: indivi-
duelles Schwanken vom Halbvokal zum Spirant, geschlossenere
Aussprache des Halbvokals vor u. Aus dem Streben heraus, das
w mit dem folgenden u nicht zusammenfließen zu lassen, das durch
den Systemzwang veranlaßt ist, erklärt sich der geschlossenere
Charakter des li neben einem u sehr einfach. Zweifellos aber
hat das baltische ebenso wie das slavische v als Halb-
vokal nicht immer den Charakter eines ausgespro-
chenen «f, sondern neigt bisweilen auch zu o hin.
Zu einem ähnlichen Resultat wie das Baltisch-Slavische führt
auch das Oermanisclie. Auch hier haben wir teilweise noch heute
Halbvokale, so besonders im Englischen, das nicht nur i wie das
Deutsche, sondern auch n kennt. Die Angaben der Phonetiker
1) Übrigens gibt es diesen Vorschlag auch sonst noch in indogermanischen
Sprachen, z. B. in engl, mie oder in iranischen Mundarten vor u in dem Vakhan-
dialekt von Westpamir wuz aus uz 'ich' s. Hyuler, The second danish Pamir ex-
pedition, S. 20. Ich möchte aber aus solchen Fällen weiter keine Schlüsse ziehen.
Silbischer und unsilbischer Laut gleicher Artikulation usw. 117
stimmen allerdings nicht ganz überein, vgl. Vietor Elemente der
Phonetik^ 181 Anm. und 230 Anm. 2. Wenn statt i und u von
manchen ; und w in phonetischer Schrift gebraucht werden, so
ist nicht immer ganz klar, ob damit mehr als ein Unterschied in der
Funktion gegenüber einem i- oder «-Vokal gemeint ist. Storm nennt
Engl. Philologie^ I, 56 Anm. und 124 den Laut in engl, ive weniger
vokalisch als in frz. oui. Was für ein Laut ist da tv? Es scheint
mir, als ob im Englischen die Aussprache wie im Slavischen zwischen
i und ,; bez. u und iv bei demselben Individuum wechselt. Es mag
aber sein, wie es will, daran wird nicht zu zweifeln sein, daß im
Englischen i und u meist als Halbvokale ohne spirantische Ge-
räusche vorkommen. Nach freundlicher Auskunft Francis J. Curtis'
unterscheidet sich engl, ^t;, wie er es kennt, stets von einem eng-
lischen t(-Vokal. Es ist aber ein Unterschied zu machen je nach
dem folgenden Vokal. Die Zunge wird nicht so hoch gehoben wie
bei einem u, und die Lippen werden außer vor u nicht so stark
gerundet wie bei einem u ; dagegen vor einem ii werden sie stärker
gerundet. Was also die Rundung anlangt, so liegt ein vokalisches
u in der Mitte zwischen tv vor i und iv vor ii. Wir haben demnach
ähnlich wie im Slavischen für gewöhnlich u, dagegen vor u ein u.
Damit stimmt das, was Sievers Phonetik^ § 417 sagt: 'Hier [bei
engl, ye, wool, tvoimd] wird, wie überhaupt da, wo vor einem sil-
bischen Vokal wie i, n der korrespondierende unsilbische Vokal
gebildet werden soll (also bei Gruppen wie ji, ivu) der letztere
stets etwas geschlossener eingesetzt als der erstere , so daß hier
zum Teil Engen- bez. ßundungsgrade erreicht werden, die bei den
silbischen Vokalen derselben Sprachen sonst nicht üblich sind'.
Laute gleicher Artikulation stehen also — selbstverständlich —
auch hier nicht innerhalb einer Silbe nebeneinander als Sonant
und Konsonant. Es ist daher ungenau, wenn Sievers ye, dessen
zweites unsilbisches i er kurz vorher ebenfalls als geschlosseneren
Laut dem vorausgehenden silbischen i gegenübergestellt hatte, mit
iii umschreibt; diese Schreibung enthält die Ungenauigkeit gleich
doppelt ; richtiger war tii zu schreiben. Dagegen ist die Umschrift
tjii^l und uühid für tvool und woimd einwandfrei, obwohl sie beson-
dere Rundung und Enge des w auch noch nicht zum Ausdruck
bringt ; hier hätte sich etwa n oder wenigstens u mehr empfohlen.
Jedenfalls läßt sich diese Bemerkung Sievers' in Verbindung mit
Curtis' phonetischer Definition für das hier behandelte Problem
gut verwenden.
Kur nebenher zu gebrauchen ist eine andre Tatsache, auf die
von Phonetikern öfters hino-ewiesen wird. Vor anlautendem i und
118 Eduard Hermann,
u steht als unbestimmter Artikel nicht die ante vokalische Form
an, sondern die antekonsonantische a. Man sagt an Infant und an
ou^el 'eine Schwarzdrossel' aber a year und a ivinter wie a man.
Anlautendes y und tv ist also behandelt wie jeder andere Konso-
nant. Das mag zwei Gründe haben. Erstens scheint es mir nicht
ausgeschlossen, daß jeder einzelne statt ii gelegentlich spirantisches
«', statt i spirantisches ; spricht. Das Entscheidende dabei ist
aber doch wohl, daß an überhaupt nur dann gebraucht wird, wenn
der schallreichste Laut das folgende Wort beginnt. Darauf rea-
giert auch das naive Sprachgefühl des Sprechenden. In der ge-
lehrten Sprache der Grrammatik sagen wir dann, an steht nur vor
Sonant, a vor Konsonant, und wundern uns womöglich, daß der
Sprechende trotz Mangels an Reflexionen darüber so säuberlich
zwischen Sonant und Konsonant scheidet. Wenn man sich klar
macht, daß Sonant nichts anderes zu bedeuten hat als schallreichster
Laut der Silbe, dann ist die Verteilung von a und an leichter ver-
ständlich ; in ivinter wird ja doch i und nicht u mit stärkstem Schall,
bez. Druck in der Silbe gesprochen, während sich bei iinite i und
fi umgekehrt verhalten. Mit der Silbenbildung hat die Verteilung
übrigens nichts zu tun : wie man a niimero mit der Lautfolge niü
hat, so wäre auch an Unitarian, an university mit niü für den
Engländer sprechbar, es heißt aber doch a Unitarian, a university.
Während heutzutage engl, w auch vor gesprochenen i(-Vokalen,
nicht nur anlautendes tv , sondern auch postkonsonantisches ii\ als
u vorkommt, z.B. in swoon 'in Ohnmacht fallen', ist im Spät-
mittelenglischen postkonsonantisches tv vor v^-Vokal geschwunden,
wie man sich ausdrückt, oder besser: mit ?f verschmolzen, s. Mafik,.
«^'-Schwund im Mittel- und Frühneuenglischen, Wiener Beiträge
z. engl. Philologie XXIII, vgl. tivo, ivJio. Der Anlaut war also
hier stärker als der postkonsonantische Inlaut. In älterer Zeit
dagegen verhielt man sich wie im Englischen heutzutage, man
sprach iv vor u auch hinter Konsonant; denn man hatte Formen
wie forswidgun, swuJton u. a., s. Cosijn, Altwestsächs. Grammat. II,
134, 140; auch Formen wie Hroäwulf können sehr wohl der ge-
sprochenen Sprache angehört haben. Es liegt aber kein Anlaß vor
anzunehmen, daß ags. iv im Verlauf der Entwicklung zum Neu-
englischen seinen Lautcharakter wesentlich verändert hat. Und
gerade darum muß es als etwas sehr Natürliches erscheinen, wenn
w im Angelsächsischen mit den Vokalen nicht alliteriert; denn
dies beruht auf derselben Grundlage wie der englische Artikel a
vor einem mit tv anlautenden Substantivum. Wenn die Vokale
unter sich alliterierten , so bestand unter ihnen die Gleichheit,.
Silbischer und unsilbischer Laut gleicher Artikulation usw. 119
daß hier jedesmal der schallstärkste Laut die Silbe eröffnete, wäh-
rend anlautendes iv nicht der schallstärkste Laut der Silbe war.
Für sich allein würde diese Gleichheit vielleicht nicht genügt haben,
die Vokale unter sich als einheitlich aufzufassen. Der erste An-
laß mag gewesen sein, daß manche alte alliterierende Verbindungen
infolge des Umlauts der Vokale ihre alte völlige Gleichheit ver-
loren hatten. Das ist ein von Kock geäußerter Gedanke, Öst-
nordiska och Latinska medeltidsordspräk I, 113 Anm. Aber, wie
gesagt, nur Anlaß zur allgemeinen Alliteration der Vokale kann
dieser Umstand gegeben haben. Denn Vokale wie Beow. 135 ac
ymh äne niht oft gefremede waren nicht durch einen Umlaut und
eine sonstige Lautveränderung aus einst gleichen Vokalen hervor-
gegangen, sondern waren von jeher ungleich. Die Verallgemeine-
rung muß demnach noch einen andern Grund haben. Und dieser
Grund scheint mir eben der obengenannte zu sein. Nach einer
— wie ich glaube, trotz Kock noch — verbreiteten Ansicht soll
jedoch das Einende der alliterierenden Vokale der starke Einsatz
der Vokale sein, der ja gerade im Deutschen zu finden ist. Diese
Annahme hat aber ihre Bedenken. Starker Einsatz ist uns sonst
durch nichts in den altgermanischen Dialekten bezeugt; auch ist
in keinem Alphabet etwas Ähnliches zu seiner Bezeichnung auf-
gekommen wie der griechische Spiritus, der in seinen beiden Ge-
stalten zwei verschiedene Einsätze bezeichnet zu haben scheint.
Wir wissen außerdem gar nicht, wie alt der starke Einsatz des
Deutschen ist und wie weit er in früherer Zeit gereicht haben
mag. Es kommt nicht nur hinzu, daß, wer stets starken Einsatz
spricht, so wie der Deutsche das tut — abgesehen von phone-
tischen Versuchen, besonders beim Flüstern — das Knackgeräusch
ganz zu überhören pflegt, während es nur den anders Sprechenden
an uns auffällt. Es wäre dann doch auch noch wieder die Frage
zu beantworten, warum im Westgermanischen u, i nicht auch mit
den Vokalen alliterieren. Sollen etwa diese beiden Laute leisen
Einsatz gehabt haben? Die weitere Frage wäre dann unausbleib-
lich, warum denn m, i, wenn sie im übrigen nur durch die Funktion,
nicht durch die Artikulation von Vokalen unterschieden waren,
vom starken Einsatz ausgeschlossen wurden. Etwa, weil sie nicht
die schallreichsten Laute ihrer Silbe waren? Wenn man weiter
Sievers Altgerm. Metrik 36 folgt, würde zwar im Altnordischen
das mit den Vokalen alliterierende j , weil es aus einem Vokal
entstanden war, seine Erklärung finden, nicht aber das ebenfalls
so alliterierende iv. Für die Alliteration der Vokale scheint mir
also der feste Einsatz nicht zur Erklärung auszureichen. Jeden-
120 Eduard Hermann,
falls aber würde er sich nicht für das Verständnis des englischen
Artikels a vor iv, j gebrauchen lassen. Denn wenn die noch gar
nicht alte Regelung von an und a mit angeblichem einstigem —
inzwischen verlorenem — festem Einsatz zu tun hätte, müßte man
doch wohl a und nicht an vor festem Einsatz erwarten. Und so
kann es doch kaum gewesen sein, daß iv, j festen und die Vo-
kale leisen Einsatz gehabt hätten. Die Erklärung des an vor Vo-
kalen und der Alliteration der Vokale im Gegensatz zu dem Ver-
halten halbvokalischer w, i im Westgermanischen dürften wohl nicht
weit von einander zu suchen sein. Meiden der Elision vor % und
u im Lateinischen, s. unten S. 137, vor / im Griechischen, s. S. 153,
beruht offenbar auf etwas Ähnlichem^).
Abgesehen von dem Englischen finden wir iv in den westger-
manischen Sprachen jetzt als Spirant. Das ist jedoch erst eine
jüngere Sprachform; in den älteren Phasen haben wir wie im
Angelsächsischen einen mit den Vokalen nicht alliterierenden Halb-
vokal, vgl. für das Althochdeutsche Braune Ahd. Gramm. ^/^ 88, für
das Altsächsische Holthausen Altsachs. Elementarbuch 22. Man
darf dabei wohl vermuten, daß die Aussprache dieses Halbvokals
genau so war, wie wir sie für das Englische und Angelsächsische
angenommen haben, u vor u wird dadurch nahe gelegt,- daß wir
die beiden Laute in einer Silbe hintereinander sehen können wie
in den Analogieformen ahd. gidummgan, alts. hethtvungan; lautge-
setzlich verband sich tu mit folgendem ü im Inlaut z. B. ga^.0n,
vgl. Paul Deutsche Grammatik I, 289.
Vor den andern dunkeln Vokalen scheint (v ein offenes u ge-
wesen zu sein. Im Althochdeutschen hat sich iv mit folgendem
uo vereinigt, das aus ö hervorgegangen war, wie in hiosto suoiz,i.
Wenn nun analogisch eingeführtes iv vor u gesprochen werden
konnte, altes ip mit dem relativ jungen uo aber verschmolz, so
kann der Grund kaum anderswo zu suchen sein als darin, daß die
Aussprache des w vor den beiden Vokalen verschieden war. Am
allerersten konnte w mit uo verschmelzen, wenn es offener war,
also mehr zum o hin lag; denn uo entstand ja aus ö. Daß west-
germanisches IV vor a- oder o- Vokal ein zum o hinneigendes n war,
haben auch andre aus der Vokalisation des w zu o in ahd. hneo,
ags. peo geschlossen, vgl. z. B. Jellinek ZdA 36, 268, Luick Histor.
1) Morsbach gibt mir freundlich zu bedenken, ob nicht die Weite der
Mundöffnung eine Rolle dabei gespielt haben könne. Der Gedanke hat etwas
Verlockendes. Die Vokale werden mit der größten Mundöffnung gesprochen.
Diesen Hiatus meidet man durch Gebrauch des an statt a im englischen Artikel,
durch Elision im Lateinischen und Griechischen. Die Alliteration der Vokale
Silbischer und unsilbischer Laut gleicher Artikulation usw. 121
Oramm. engl. Sprache I, 118, 271. Nur nach ii, ü fiel ?r aus, vgl.
ahd. tou, hü ^). Die Frage nach der noch früheren Aussprache des
IV hängt also jedenfalls eng mit der Beurteilung der Schicksale
des u zusammen. Hier dürfte Bremer IF 26, 148 fg., obwohl er in
der Wahl der Beispiele, die für i und u eine Rolle spielen, die
Warnung CoUitz' Journal of Engl, and Grerman. Philology 6, 253 fg.
nicht beachtet hat, Recht haben mit der Vermutung, daß idg. ü
im Urgermanischen offen war, also zu o hinneigte. Wenn iv ein
ähnliches Schicksal vorauszusetzen scheint, kommen wir demnach
gerade auf den Laut, der sich bisher als der walirscheinlichste er-
geben hat, auf u. Nur vor folgendem u und i ist der Vokal a ge-
schlossener. Bei dem Halbvokal ii können wir dieselbe Beobachtung
nur vor n machen, wie wir schon sahen ; jedenfalls ist im heutigen
Englisch iv vor i offen wie vor a und nicht geschlossen wie vor n.
Man darf also wohl schon für das Urwestgermanische n und vor
n geschlossenes u voraussetzen.
Im Urgermanischen liegen die Dinge ein wenig anders als
im Westgermanischen. Hier war iv vor u nur im absoluten Anlaut
möglich, noch nicht im gedeckten Anlaut oder im Inlaut. Wenn
wir annehmen, daß vokalisches u im Urgermanischen vielleicht erst
geöffnet wurde, so ist jenes ein recht begreiflicher Vorgang. Nur
im absoluten Anlaut hat sich dann eine Art von Dissimilation ein-
gestellt, u ist li'er besonders stark gerundet worden. Wir haben
daher got. tvidfs, ividpus, wuUa, lüiinds, ivunns usw., aber got.
niunda, aisl. niunda, ahd. nüinto aus "^neimtos, aisl. siind^ ags. stind
aus *sumt-, ahd. u^summan aus stim-^ ahd. gidungan aus *tnf-, anord.
Hrodulf, ags. Hrodulf, alts. Lindidf, ahd. Hruodolf, deren zweiter
Teil wie got. ividfs usw. auf \dg^-os (bez. "^udlq-os Güntert, Indog.
Ablautprobl. 36, 81) beruht. Ebenso ist der labiale Beiklang des
Labiovelars ganz in dem aus den sonantischen Nasalen herausgetre-
tenen II aufgegangen, so in ags. ciimen, ahd. kum/t aus *g">»-, ags.
sce^on aus *seq^nh, aisl. hnigitm, ags. hniz,un , ahd. linigun aus
^Imig^hm- usw. Formen wie ahd. giduuungan, ags. forsaivon, got,
sivumfsl, gaqumßs sind analogische Neubildungen , die erst in den
beruht dann auf ähnlicher Weite der Muudöffnung. Ich habe aber dagegen das
Bedenken, daß u- und t- in den verschiedenen germanischen und den beiden
klassischen Sprachen doch vielleicht mit nicht viel geringerer Mundöffnung als die
Vokale u, i gesprochen worden sein könnten ; zum mindesten wird der Abstand bei
der Mundöffnung zwischen ihnen vermutlich vielfach geringer sein als zwischen u,
i und den andern Konsonanten.
1) Loewe, der KZ 45, 339 fg. auf das verschiedene Verhalten der deutschen
Mundarten hinweist, glaubt, daß im Althochdeutschen nur nach Konsonant oder
langem Vokal auslautendes «r zu o geworden, sonst aber zu u verschoben ist.
122 Eduard Hermann,
einzelnen germanischen Sprachen aufkamen. So ist auch Tatians^
und Otfrids sworya als die jüngere Form anzusehen, neben der
got. saurga, ags. so)\^ die ältere und lautgesetzliche Form dar-
stellen. Das IV könnte hier, wenn ich diese Vermutung äußern
darf, von einem ganz andern Wort hergekommen sein, etwa von
swär ^schwer', einem "Wort, mit dem es gewiß öfter verbunden
wurde. Die neuenglische Aussprache des tu {u und u
vor u) kann also schon im TJrgermanischen gegolten
haben.
Über die Aussprache der ur germanischen Greminaten h? UU iäßt
sich nicht leicht eine Vermutung äußern, da sie im Grotischen und
Nordgermanischen Gutturale usw. hervorgebracht haben. Man sieht
nur, daß sie anders als u artikuliert worden sind. Im Westger-
manischen, das auch hier den alten Halbvokal beibehielt, hat sich
der erste Teil der Geminata mit vorausgehendem ü zu einer ein-
zigen Artikulation vereinigt, und zwar natürlich zu einer Länge,
da die Geminata in der Zeit vor dieser Assimilation Position ge-
bildet haben wird, daher ahd. scüivo gegenüber got. slaiggwa. Die
Kürze, die Sievers für ags. scuiva PBB 10, 454, 507 feststellen zu
können glaubt, kann nicht als lautgesetzlich angesehen werden. Darf
man in Sat. 455 deades scmvcm nicht Länge anerkennen, vielleicht
sogar auch in den andern bei Sievers genannten Versen?
Schon im ältesten Runenalphabet hat iv ebenso wie ; sein be-
sonderes Zeichen gehabt. Wimmer Die Runenschrift 119; es wird
sich also die Artikulation von einem u und i unterschieden haben^
das paßt auch sehr wohl zu den bisherigen Ergebnissen.
Eine Bemerkung verdient noch der Umstand, daß man für u
und ti überall nur ein Zeichen angewandt hat, sowohl im ältesten
Runenalphabet wie in den späteren Schriftarten. Die Erklärung
hierfür liegt wohl darin, daß seit urgermanischer Zeit beide Laute
häufig im Anlaut ein- und desselben Verbums oder Wortstammes
vorkamen, so in denjenigen Formen, die gotisch ivinda und ivundum
lieferten.
Das Nordgermanische und das Gotische habe ich bisher aus
der Sonderbetrachtung absichtlich ausgeschaltet. Hier liegen die
Verhältnisse etwas anders. Daß im Nordgermanisehcii das Runen-
alphabet die Rune für w verlor, will allerdings nicht viel besagen,
weil auch andre Runen außer Brauch kamen, s. Wimmer Die Runen-
schrift 179 fg. Wichtiger ist, daß im Altisländischen iv- mit den
Vokalen bis ins 10. Jahrhundert hinein alliteriert, s. Gering PBB
13, 202 fg. Das haben Mogks gegenteilige Behauptungen IF 26, 211 fg.
nicht widerlegen können. Nach Gering ZdPh 42, 233 lassen sich
Silbischer und unsilbischer Laut gleicher Artikulation usw. 123
vielleicht 27 Fälle dieser Alliteration nachweisen. Für die alt-
isländische Poesie ist demnach das westgermanische Prinzip, die
Vokale nur unter sich alliterieren zu lassen, nicht maßgebend, es
alliterieren auch die konsonantisch gebrauchten Vokale (tv und y)
mit den silbischen Vokalen. Das dürfte mit dem sogenannten
Schwund des tv vor sämtlichen u- und o- Vokalen, vor kurzen und
langen und ihren Umlauten, also vor w, ??, p, y, o, 6, 0, 0, s. Noreen
Altnord. Gramm. I'^ 149, II, 191, Greschichte der nord. Sprachen^
14, 105 in Zusammenhang stehen. Wiederum handelt es sich na-
türlich nicht um wirklichen Schwund, sondern um Verschmelzung
des w mit dem folgenden Vokal; denn Schwund wäre sonst auch
vor den andern Vokalen zu erwarten. Deswegen, weil durch den
Verlust des tv vor den 0- und ?<- Vokalen diese jetzt anlautenden
Vokale mit anlautendem w vor andern Vokalen alliterierten, wurde
die Alliteration des w überhaupt gestört und fv auch mit von je
anlautenden Vokalen alliteriert. Kocks Hypothese hilft also weiter.
Aber auch hier reicht sie nicht aus; denn genau so wie tv wird
auch 5 mit folgenden 0- oder ?<- Vokalen verschmolzen, s. Noreen
Gramm. I^ 151, II 186; 5 alliteriert aber nicht mit den Vokalen.
Gerade die Ausdehnung auf tv und (s. unten) ; beweist, daß Kock
mit seiner Theorie auf der richtigen Fährte ist, sie bedarf nur
einer Ergänzung. Die "Westgermanen sahen sich wegen der Ver-
änderung der Vokale dazu gedrängt, überhaupt die schallstärksten
Laute alliterieren za lassen. Die Nordgermanen machten wegen
der Veränderung auch der genannten Konsonanten nicht an der-
selben Linie halt, sondern ließen alle Vokale, sonantische wie kon-
sonantische, unter einander alliterieren; das stets spirantische 5
zogen sie dagegen nicht mit in diesen Kreis, weil es wegen seines
Reibegeräusches ja weiter von den Vokalen ablag.
Verschmelzen konnte halbvokalisches w mit jenen Vokalen
natürlich am ehesten, wenn es vor einem u-Yokal einem u und
vor einem o-Vokal einem 0 nahe stand, d. h. wenn es u, bez. u war.
5 wird sich von diesem w im wesentlichen nur durch spirantischen
Beiklang unterschieden haben. Mit der urgermanischen Verschmel-
zung des tv mit folgendem sekundärem u steht dieser altnordische
Vorgang in keiner Beziehung. Das beweist die Ausdehnung der
Verschmelzung auf die Stellung vor 0- Vokalen, auf die Stellung
im absoluten Anlaut und auf 5 zur Genüge. In der Runeninschrift
war ja auch tv noch so erhalten, wie es die andern germanischen
Sprachen zeigen, z. B. in iviirte usw. Auf die vielen schwierigen
Fragen, die sich weiter an die Aussprache des anord. tv anschließen,
124 Eduard Hermann,
vgl. z. B. Lindroth IF 20, 129 fg., 35, 292 fg. einzugehen, erscheint
hier überflüssig.
Im Gotischen fällt zunächst die große Zahl von Beispielen
mit w vof u auf. Nicht nur im absoluten Anlaut wie ivuljms,
ivuJfs usw., sondern auch im gedeckten Anlaut wie in sivumfsl,
sivultawairpja, gaswuUun u. a. ist iv so zu finden. In den letz-
teren Fällen ist -iv- analogisch wieder eingeführt. Ebenso ist der
Labiovelar wiederhergestellt in qums^ neJimndja u. a. Wenn man
sich erinnert, daß der grammatische Wechsel im Gotischen bis auf
verschwindende Reste ganz aufgegeben ist, wird man verstehen,
daß auch hier durch Ausgleichung iv außer in isolierten Wörtern
wie niunda überall wieder hergestellt worden ist. Auch vor idg.
ü, das sich im Grotischen durch nichts von dem aus n m 19 l bez.
32n usw. herorgegangenen unterscheidet, sehen wir iv und Labio-
velar in Gebrauch so in inamviis, (ßaggwuhay aggwus. Gewiß wird
auch hier iv bez. Labiovelar analogisch wieder eingeführt sein;
falrlvus dagegen, das den Künsten der Etymologisierung zu spotten
scheint, mag ein Fremdwort sein, wofür auch der Umstand spricht,
daß im Gegensatz zu fimf, iviäfs der Labiovelar nicht an den Labial
assimiliert ist. Jedenfalls aber sind die Formen nicht geeignet,
idg. w oder Erhaltung des Labiovelars vor altem ii im Inlaut zu
erweisen.
Wie gotisches iv ausgesprochen worden ist, bildet seit langem
eine Streitfrage unter den Germanisten. Der von mir herange-
zogene Gesichtspunkt darf dabei natürlich nicht übersehen werden.
Daß IV anders artikuliert wurde als m, geht aus dem eben Erör-
terte^ deutlich hervor. Wulfila hat also sehr wohl Anlaß gehabt,
zwei verschiedene Zeichen für die zwei Laute einzuführen. Mir
scheint es als Konsonant kein ganz reiner Halbvokal mehr ge-
wesen zu sein. Die Gründe gegen diesen hat Jellinek ZdA 36, 268 fg.
vgl. ZdA 41, 369 fg. aufgezählt ; seine Vermutung wie die van Heltens
ZdA 37, 131 fg. und IF 14, 69 fg. , daß w Spirant mit «(-Stellung
sei, bez, daß dem Halbvokal nicht - periodische Schwingungen der
Stimmbänder beigemengt seien, kann das Richtige treffen; sie
stellen beide nur zwei der phonetischen Möglichkeiten dar. Wenn
das Zeichen für iv wirklich von dem griechischen v hergeleitet ist,
was nicht*so völlig feststeht, so darf man annehmen, daß Wulfila
den griechischen Spiranten ir, der im Diphthong vor stimmhaftem
Laut durch ir zum Ausdruck kam, seinem eigenen Laut iv als nicht
so sehr unähnlich empfunden haben wird. Das griechische und das
römische Ohr haben aber den gotischen Laut eher als Halbvokal
denn als Spirant aufgefaßt, da sie ihn meist mit ov bez. iiu, viel
Silbischer und unsill)ischer Laut gleicher Artikulation usw. 1^5
seltner mit ß, bez. üb wiedergaben. Auch diese Unstimmigkeit in
der Wiedergabe könnte dafür sprechen, daß gut. tv gerade an der
Grenze zwischen Halbvokal und Spirant lag. Die Aussprache wird
dann vor u mehr einem u, vor den andern Vokalen mehr einem u
ähnlich gewesen sein.
Aus dem Urindogermanischen ist die Lautverbindung im wohl
nirgends ins Germanische gekommen. Dasselbe ist von J^ zu sagen.
Die Versuchung liegt nahe, sich die Entwicklung des germanischen
/ dem lü ganz parallel zu denken. Zur Durchführung dieses Ge-
dankens fehlen mir die Beweisstücke. In gewisser Beziehung darf
man ihn aber wohl anerkennen. Da / jetzt noch im Englischen,
im Friesischen z. B, auf Helgoland, s. Siebs Helgoland 175, und
in süddeutschen Mundarten (Sievers Phonetik^ § 341) als i zu finden
ist, läßt sich vermuten, daß es auch in den alten westgermanischen
Dialekten — ebenso wie im Altnordischen — so war. Aber nur
im Altisländischen läßt sich das leicht zeigen. Hier war nach
Schwund des anlautenden i vor Vokalen sekundär aus anlautendem
e ein neues j entwickelt worden, das — wie bei seiner Herkunft
leicht begreiflich — mit den Vokalen alliterierte. Daß in den west-
germanischen Dialekten ; mit den Vokalen nicht alliterierte, wird
man bei dem gleichen Verhalten des iv wohl verstehen können.
Aber j/ alliterierte im Westgermanischen nicht nur mit sich, so >
dern auch mit dem aus urgerm. j entstandenen Laut, selbst wem
dieser vor dunklen Vokalen stand wie Beowulf 72 geongum ond
ealdum, swylc him god sealde oder Htliand 133 He quad that
the godo gumo Johannes te namon. Hing das nur damit zu-
sammen, daß j vor hellem Vokal so wie das englische j vor i be-
sonders geschlossene, zum Spiranten hinneigende Aussprache («)
hatte ? Wenigstens deutet die Schreibung mit g im Althochdeutschen
und Altsächsischen, die nur vor i, e bevorzugt wird, während im
Inlaut vor a, o dafür e beliebt ist, auf / vor hellem, auf \ vor
dunklem Vokal hin, vgl. über die Schreibung Wilmanns Deutsche
Gramm. ^ I, 165, Braune Ahd. Gramm. ^'^ 96, Holthausen Altsächs.
Elem. 62. (Ist es auch im Friesischen so?, s. Heuser Altfries.
Lesebuch 17.) Aber die Alliterationen mit gutturalem g scheinen
diese Annahme doch fast auszuschließen. War etwa gar westger-
manisches j Spirant? Ich will diesen Zweifel wenigstens aus-
sprechen, obwohl er mir zu weit zu gehen scheint.
Daß im ältesten Runenalphabet ein besonderes Zeichen für j
vorhanden war, hat an iv wieder eine genaue Entsprechung. Und
wenn Wulfila ; neben i einführte, so hat das natürlich den Grund
gehabt, daß er zwei verschiedene Laute sprach, was ja auch schon^
126 * Eduard Hermann,
durch die sehr häufige Verbindung ji, wie in jluha, harjis bewiesen
wird ^). Diese Verbindung kommt auch in den andern germanischen
-Sprachen wie in ags.5?/, alts. //m/m ahd. g Um yoi\ Ob der ungedeckte
Anlaut wie bei lüuiuu) so auch bei.y « {ii) stärkere Kraft hatte als andere
Stellung, wird schwer auszumachen sein. Für den Inlaut sind die
Gegensätze harjis: Jiairdei und nasjiß: soJceip hierbei nicht ohne
weiteres verwendbar. Das gegenseitige Verhältnis der vier Formen
ist nur durch eine genaue Untersuchung über die Silbenbildung
herauszubekommen, vgl. dazu Lindroth IF 29, 182 fg., IF 35, 292 fg. ;
ohne diese Untersuchung wird man auch nicht definitiv über ahd.
nerh und die Verschmelzung von j -\-i urteilen können. Nur der
Nominativ hairdeis mag hier Erwähnung finden, weil er auf *ker-
dhiios mit Synkope des letzten Vokals zurückgeführt zu werden
pflegt. Gegen die stärkere Kraft der Dissimilation des Anlautes
bei it- würde es nicht sprechen, wenn man got. ei mit lit. jei gleich-
setzte. Da jabai zu dem idg. ßelativum *io- zu gehören scheint,
liegt es sehr nahe, auch in ei eine Form von *io- zu sehen. Del-
brück hat, andern Gelehrten folgend. Vgl. Syntax III, 347 ei aus
*iod herleiten wollen; dem widersprechen aber die Lautgesetze zu
deutlich, wie sich Delbrück ja auch selber natürlich nicht verhehlt
hat. Man könnte auch in ei den gotischen Bruder des griechischen
£1 sehen, beide als Lokative zu dem Stamm o/e gedacht. Aber
ebenso nahe liegt doch vielleicht die Verbindung mit lit. jei. Da-
gegen sprechen die Lautgesetze nicht. Wenn sich ii- hielt, braucht
die Verbindung von i- mit J nicht ebenso bewahrt worden zu sein.
Schon der Umstand, daß im Gotischen die langen Vokale geschlos-
sener waren als die kurzen , würde diese Verschiedenheit in der
Lautentwicklung sehr wohl begreifen lassen. Auch griech. sl ließe
sich übrigens aus idg. *iei herleiten, wenn man Schwund, d. h.
Dissimilierung des ersten i gegen das zweite annehmen wollte ; da
aber im Griechischen andre Konjunktionen wie rj sichtlich zu dem
Stamm *o/e- gehören, ist es rätlicher, auch ei dahin zu ziehen. Wie
got. ei von Ho- könnte ßei von *to- gebildet sein, eine Ansicht, der
Delbrück ASGW 27, 686 nicht abgeneigt zu sein scheint, während
Brugmann BSGW 63, 166 fg. die Verbindung des got. ei mit gr.
si = idg. ei für empfehlenswert hält.
Auch im Italischen sind w und i lange Zeit hindurch Halb-
vokale gewesen. So lange wie Seelmann Aussprache 232 läßt
1) Wenn die auf Grund des Gegensatzes von ivaurstw tvaurstwis: kuni,
kunjis geäußerte Ansicht richtig ist, daß got. w Spirant, j aber Halbvokal war,
würde sich im Gotischen wie im Neuhochdeutschen und auch im Slavischen bei i
die halbvokalische Aussprache Länger gehalten haben als bei u.
Silbischer und unsilbischer Laut gleicher Artikulation usw. 127
man heute die halbvokalische Aussprache im Lateinischen aller-
dings nicht mehr gelten; immerhin setzt man als Grrenze erst die
Zeit nach Christus (1. oder 2. Jahrhundert) an, so Sommer Hand-
buch lat. Laut- und Formenl.'^ 163, Niedermann Histor. Lautlehre
des Lat.^ 11, Stolz Lat. Gramm.* 35. Ich glaube, daß man die
Orenze weiter hinaufrücken muß^).
Besonders wichtig und lehrreich ist hierfür die Verbindung
von V mit o. Nach der gangbaren, von Solmsen, Stud. z. lat. Laut-
gesch. begründeten, KZ 34, 546 fg. in Einzelheiten weiter ausgebauten
Ansicht hat sich im alten Latein v mit o verbunden, außer wenn
es im ungedeckten Anlaut stand. Gegen diese hat sich Juret Do-
minance et resistance dans la phonetique latine in scharfsinnigen
Ausführungen gewandt, die Solmsens Gebäude nicht unbedenklich
ins Wanken gebracht haben. Aber gerade in dem für mich hier
wesentlichen Punkt hat sich Juret geirrt ; daß v vor o auch außer-
halb des ungedeckten Anlauts lautgesetzlich geblieben sei, hat er
nicht wahrscheinlich zu machen verstanden. Ich kann nur zugeben,
daß eine Zahl von Beispielen, die Solmsen unter das erwähnte
Gesetz hat bringen wollen, vielleicht besser anders aufzufassen
sind, das brauche ich hier nicht zu untersuchen. Aber in dem bei
J. verbleibenden Rest inlautender -vo- steckt nichts Lautgesetz-
liches, sondern nur Analogiebildungen. Sekundär wiedereingeführt
wurde -vo- nur in den Ausgängen -vos, -vom. Meine Kritik Jurets
braucht sich also nur hieran zu halten. Die übrigen Beispiele
könnte ich ganz ausschließen, ohne meinen Auseinandersetzungen
etwas an Beweiskraft zu nehmen. Nur ein ganz nebensächlicher
Punkt würde durch Juret S. 62 fg. mit berührt. Wenn soror aus
"^snesor und auch coqtiö aus *quequö nicht durch Verschmelzung des
u mit dem zu o gewordenen e erklärt werden dürfen — wobei
quod, quondam, quoniam, quof, quotus als Analogiebildungen aufzu-
fassen wären — fällt die Übereinstimmung mit dem Germanischen,
wo ja u außer im ungedeckten Anlaut mit ?« verschmilzt.
Für die Verbindung von u mit o sind die besten Beispiele:
hoiim, parum, cahwinia. boum will J. 245 als Analogiebildung nach
dem Nom. lös auffassen. Er hat aber dabei versäumt zu erklären,
waium gerade der Gen. Plur. Anlaß zu dieser Analogie gegeben
haben soll ; ich kann einen Grund für eine derartige Bildung nicht
ausfindig machen. Über ]ianmi ist J. in seinem Buch hinwegge-
1) Nach Abschluß meiner Arbeit erst konnte ich Andersons Aufsatz Trans-
act. Americ. Philol. Assoc. 40, 99 fg. nachlesen ; ich freue mich der Übereinstim-
mung mit ihm, die sich zum Teü auch auf die Begründung erstreckt.
j^28 EduardHermann,
gangen. In der Erwiderung auf meine Rezension seines Buches
BphW 1917, 798 leitet er parum aus dreisilbigem paruimi ab und setzt
es mit passnm aus passuinn gleich. Dagegen wird man aus mehreren
Gründen Widerspruch erheben dürfen. Daß das v von parvus
einmal sonantisch war, wird nicht bestritten zu werden brauchen,
aber das von servns u. a. war es doch nicht weniger. Wie es mit
der Konsonantierung eines alten sonantischen u hinter Konsonant
stand, hat Maurenbrecher Parerga 234 untersucht und gezeigt, daß
der Lautübergang nach r zwischen 350 — 200 v. Chr. stattgehabt
haben müsse; Konsonantierung nach -ss- dagegen gibt es nicht.
Übrigens widerspricht — worauf es mir nicht ankommt — Jurets
Behauptang, daß arvom bei Plautus stets dreisilbig sei, der Fest-
stellung Maurenbrechers S. 239. Die portugiesische Form aro neben
der logudoresischen arvu kann nichts entscheiden, sie paßt ebenso-
gut zu Jurets wie zu Solmsens Hypothese. Dagegen widerspricht
der ersteren italienisch novo, dessen Diphthong nach Meyer-Lübke
Einführung^ 129, 146 daraufhindeutet, daß eine Zeitlang övtun ohne v
gesprochen wurde. Außer romanischen Fortsetzungen ohne v: ital.
lero, lat. ervuin, portug. 2>o, lat. pulvus, it. neo, lat. naevus, mit
denen J. fertig werden konnte, haben wir it. usw. rio, das er S. 245
zwar erwähnt, aber nicht zu erklären weiß. Für äeiis und Gnaeus
ist er zu der Annahme gezwungen, daß ti hinter früherem i (*deiuos
*Gnaiiios) vor kurzem Vokal + Konsonant schwand. Vergeblich
sieht man sich da nach einem Grund dafür um, daß der Schwund
des u an voraufgehendes i und folgenden kurzen Vokal + Konso-
nant gebunden sein soll, wobei noch dazu e-{-i in *deiuei, *deiueis
als derartige Kürze + Konsonant angesehen wird. Schließlich das
Beispiel calumnia aus *cahiomnia (Solmsen KZ 34, 547) hat J. über-
gangen. Ich bleibe darum dabei, daß in den genannten Fällen ti
mit 0 zusammengeflossen ist ^).
Die Verschmelzung von u mit o konnte sich natürlich am
leichtesten vollziehen, wenn ti hier — wie es wohl auch vor o, o
i gesprochen wurde — ein offenes u war. Da aber, wo im Anlaut
V blieb, werden wir es im Lateinischen ebenso wie in den bereits
behandelten Sprachen mit einem Akt der Dissimilation zu tun
haben; man darf also für volnus, vortex usw. vermutlich geschlos-
1) Jurets Haupteinwendung, daß bei Ausgleichungen die andern Kasus wohl
dem Nominativ und Akkusativ Singularis folgen, aber nicht umgekehrt, wül nicht
viel besagen, da auch nach J. bei parvus, arvum, mortuus der Nom. und Akk.
verdrängt sind. Eine große Zahl von Beispielen liefert das Neuhochdeutsche in
vielen Mundarten, z.B. Coburgisch däx *Tag', rii9 'Ring', mhd. tac, rinc, vgl.
auch ruthenische Beispiele bei Smal-Stockij und Gärtner 110.
Silbischer und unsilbischer Laut gleicher Artikulation. 129
senes u ansetzen. Im Inlaut wurde außer in isolierten Formen -vo-
auch in der Folgezeit in der Schrift noch beibehalten. Da die
Dichter den vorausgehenden Konsonanten außer in qii Position bilden
lassen, wurde also -vo- nicht nur geschrieben, sondern auch ge-
sprochen. Die gewöhnliche Annahme geht daher auch dahin, daß
man bald *paros durch parvos wieder ersetzte, um das Paradigma
in seinem Stamm wieder einheitlich zu gestalten. Manche glauben
aber weiter, Solmsen folgend, daß parvos später lautgesetzlich zu
parvus wurde, daß jetzt v noch einmal dasselbe Schicksal wie
früher erlitt, daß also parus zu stände kam und daß erst eine
zweite Analogiebildung nötig war, um parvus von neuem — defi-
nitiv — herzustellen, wie es uns geläufig ist. So stellt sich z. B.
auch Sommer^ 162 den Hergang vor. Ich muß gestehen, daß ich
mich mit dieser verwickelten Hypothese nicht recht befreunden
kann. Ich könnte mir allerdings denken, daß u in parvus mit dem
folgenden u verschmolz; ich würde aber nicht recht verstehen,
warum sich 2^ciH^os zu paruus nachträglich entwickelt haben sollte ;
ich würde vermuten, daß 3ie dissimilierende Kraft des w die Ver-
engung des 0 auch noch weiter aufgehalten haben müßte. Ver-
ständlich wird mir die nachträgliche Umgestaltung von parvos in
parvus und ebenso von volgus in vulgus eigentlich nur, wenn u
inzwischen spirantisch geworden war. Mit dieser Veränderung
gab der Laut natürlich seine dissimilatorische Kraft auf; zugleich
war aber auch wohl die Verschmelzung von v mit u in größere
Ferne gerückt. Ich ziehe daraus den Schluß, daß v weder zum
zweiten Mal schwand noch zum zweiten Mal analogisch wieder
eingeführt wurde.
Danach sind also lautgesetzliche Formen houm, parum^ vius,
ecus, secundus usw. Auf Analogie beruhen bovom, parvos, servos
u. a. Die letzteren sind lautgesetzlich zu parvus, equus etc. weiter-
geführt worden. In der Schrift tauchten paruus und ähnliche
Formen wohl nicht sofort auf, als man sie sprach. Die Orthographie
pflegt veränderter Aussprache ja immer nachzuhinken, vgl. aber die
durch diese veranlaßten falschen Schreibungen wie quoni und oquoltod,
Sommer 2 158. In unserem Fall lag es aber besonders nahe , daß
man die Schreibung nicht so schnell modernisierte. Wie wir aus
der romanischen Fortsetzung des Wortes arvom ersehen können,
sprach man im Volk später nicht gleichmäßig; manche sprachen
arum , das hat portug. aro ergeben ; andre sprachen arvum , das
im Logudoresischen zu arvu geführt hat. So war es sicherlich bei
ähnlichen Wörtern vielfach. Auch aus der Bemerkung des Velius
Longus Gramm. Lat. VII, 59, 3 ed. Keil über die Aussprache von
Kgl. Ges. d. WJss. Nachrichten. Pbil.-hist. Klasse, 1918. Heft 1. 9
130 Eduard Hermann,
equus kann man das vielleicht herausjeseu: auribus quidem suffi-
ciebat, ut equus per unum u scriberetur, ratio tarnen duo exigit.
Damit ist ja nicht unbedingt gesagt, daß man in jener Zeit nur
eciis, aber überhaupt nicht equus gesprochen habe. Wenn nun die
Aussprache nicht einheitlich war, lag es umso näher, die ältere
Schreibung mit tio beizubehalten, als die beiden jüngeren Formen
in der Schrift anstößig sein konnten : aruum wird man ebenso wie
uulgus nicht gleich geschrieben haben, weil u hierin in verschie-
dener Aussprache vorkam ; arum aber wird der Schulmeister leicht
als unrichtig verworfen haben, weil doch dabei 'ein Buchstabe
verschluckt' wurde. Die Schule blieb ja, wie uns Quintilian I, 7, 26
bezeugt, noch im 1. Jahrhundert bei der Schreibung uo stehen.
Daß sich die Analogieform hovum überhaupt nicht durchge-
setzt hat, läßt sich begreifen, da die Deklination dieses Wortes
auch sonst im Stamm wechselte. Wohl aber schrieb man noch
lange bouom. Die Handschriften überliefern uns zwar boum, wenn
man sich auf Handschriften dabei verlassen darf, schon für Cato de
agri cultura 22, 3. Soweit bouom bezeugt ist, wird es also in der
Hauptsache nur historische Schreibung sein. Daß sich Formen
wie serus, vius nur selten finden, ist bei dieser Sachlage ganz na-
türlich. Darüber daß sie erst verhältnismäßig spät (1. Jahrhundert
V. Chr.) inschriftlich bezeugt sind, braucht man sich nicht zu wun-
dern; die Zahl der älteren Inschriften ist eben doch bedeutend ge-
ringer. Das vereinzelte Flaiis aus der 1. Hälfte des 2. Jahrhunderts
muß aber entgegen Solmsens Annahme Studien 37 fg. in Verbindung
mit dem unorthographischen quom für cum 'mit' CIL 1, 34 und
[o]quoUod ebda 196 als wertvolles Zeugnis alter Zeit gelten. Grerade
wenn im 2. Jahrhundert v. Chr. die Aussprache luu aufgekommen
sein sollte, wird man verstehen, daß bei dem jetzt vermutlich noch
tärkeren Eintreten der Schulmeister für die allein 'richtige' Schrei-
bung uo die Formen wie serus sich nur ganz selten in der Schrift
hervorwagten und nur darum in jenen Jahrzehnten gar nicht
bezeugt sind.
Niedermanns ^) Versuch Melanges Saussure 59, aus Varro ed.
Götz-Schöll 240, 26 den Nachweis zu führen, daß zur Zeit dieses
G-rammatikers vulnus gesprochen worden sei, ist allerdings miß-
glückt, da die Stelle nach den Herausgebern s. S. 300 der Un-
echtheit verdächtig ist und nach S kutsch Grlotta 2, 370 zum wenig-
sten in dem Beispiel vulnus einen Zusatz aufweist. Aber wenn
1) Leider kann ich Sturtevants Aufsatz über Dissimilation und tio bei Plautus
Class. Philol. XI, No. 2 nicht nachlegen.
Silbischer und unsilbischer Laut gleicher Artikulation usw. 131
sich auch Niedermanns Beweis nicht halten läßt, so ist darum über
die Aussprache volnus oder vulnus zur Zeit Varros noch nichts
gesagt. Denn die römischen Grammatiker haben viel zu wenig
auf die lebende Sprache geachtet, als daß man sie gleich als Krön -
zeugen für die Nichtexistenz anrufen dürfte, wenn sie einen Sprach-
gebrauch nicht erwähnen. Wenn bei Varro wirklich die Stelle
folgendermaßen gestanden haben sollte: nemo abnuit syllabas, in
quibus u littera locum obtinet consonantis, ut sunt in his verbis
primae: vafer velum vinum vomis^ crassum et quasi validum sonura
edere, wird damit also vulnus noch nicht als unmöglich zu be-
trachten sein. Noch lange Zeit, nachdem nachweislich die Laut-
folge ivu längst üblich geworden war, haben die G-rammatiker an
ähnlichen Stellen davon^ keine Notiz genommen, sondern nur Bei-
spiele mit va, ve, vi, vo fortgeschleppt wie Terentius Scaurus Gr. L.
VII, 17, 2: u littera omnibus vocalibus et praeiectiva et subiecta
consentit, ut ua ue ui uo et rursus au eu in oti^ in quibus syllabis
non vocalis, sed consonantis vicem praestat. Genau so lehren die
Grammatiker noch Jahrhunderte später, wie die im 4. Jahrhundert
lebenden Charisius (Keil I, 8, 1) und Diomedes (I, 22, 14). So kann
also auch schon Varro durch seine Vorgänger, vielleicht durch Melius
Stilo, hierin beeinflußt sein. Bezeugt ist die Schreibung uu für Kon-
sonant -f u allerdings erst in der 2. Hälfte des 1. Jahrhunderts v. Chr.,
s. Sommer^ 67, 143 ; am frühesten ist uu für die beiden Vokale u
in snimi aus dem Jahre 45 v. Chr., überliefert^). Nimmt man diese
Momente alle zusammen, so wird man doch wohl sagen dürfen,
daß tv schon eine ganz geraume Zeit früher gesprochen worden
sein wird. Ausgang des zweiten Jahrhunderts v. Chr. werden wir
also wohl ansetzen dürfen.
Zu diesen meinen Ansätzen für Aussprache und Zeit passen
die Umschreibungen des v bei den Griechen sehr gut. Wenn v
in älterer Zeit ti, vor o aber u war , werden wir in griechischer
Schrift 0 und oi; für ii und ov für u erwarten dürfen. Und so ist
es in der Tat, s. Eckinger, Die Orthographie lateinischer Wörter
in griechischen Inschriften S. 82 fg. o wird allerdings nur selten
verwandt, aber nur in älterer Zeit, so in UsgoUiog. Das delphische
Beispiel VaXsQLos GDI 2581, 86 ist nach ßaunack zwar unsicher.
Die neuen Funde werden die Zahl der Fälle sicherlich erhöhen,
1) Das Metrum Horaz Sat. I, 2, 71 velatumque stola, mea confemiit ira, wo
die Handschriften h statt u haben, bietet für die Aussprache w keine sichere
Gewähr, obwohl hier das vokalische u nicht aus o verengt, sondern aus andern
Verben mit u analogisch übertragen war. Die Form war eben auch mit u
möglich.
9*
132 Eduard Hermann,
ich nenne nur aus Euböa IG XII, 9, 916, lo Vißiog aus dem 1.
vorchristlichen Jahrhundert; besonders für qti (s. unten S. 133)
findet sich häufiger ao, z. B. Köivxog ebenda Z. so, aus Arkadien
IG V, 2, 146, beide auch aus dieser Zeit. Es verlohnte wohl, die
Eckingersche Sammlung für v zu ergänzen^). Dabei würde sich
vielleicht auch deutlicher als bisher herausstellen, daß die Um-
schrift mit ß jünger ist. Nach Eckinger sind die Beispiele für ß
aus dem 2. Jahrhundert v. Chr. nicht durchaus sicher. Die Sache
verlangt neue Prüfung mit Zusammenstellung der hinzugekom-
menen Eälle. Jedenfalls spricht die Umschreibung mit ß, das
»elbst der Ausdruck eines Spiranten war, sehr für spirantische
Aussprache des v. In das 1. vorchristliche Jahrhundert gelangt
man von dieser Seite aus zum allermindesten. Wenn man dagegen
noch in viel späterer Zeit auch ov neben ß für v gebrauchte, so
ist das nichts als historische Orthographie.
Bei den Römern mußte sich diese in unserem Fall selbstver-
ständlich in viel stärkerem Maße geltend machen als bei den
Griechen, weil diese viel seltener Anlaß hatten, ein lateinisches
Wort oder einen römischen Namen zu schreiben. So finden wir
denn bei den Römern selber Verwechslung mit b erst geraume
Zeit später, im 1. Jahrhundert n. Chr., s. Sommer^ 163. Das älteste
Beispiel dieser Art als Dokument für die Grenze zwischen halb-
vokalischer und spirantischer Aussprache zu betrachten, wie es
Sommer zu tun scheint, geht umsoweniger an, als Voraussetzung
für die Verwechslung mit b sein muß, daß auch dieses Spirant
geworden war. Und das kann doch später als bei v geschehen sein.
Unrichtig ist auch der Schluß, der von Sonmier^ 163 aus dem
Wortspiel Cauneas : cave ne eas bei Cicero div. II, 84 gezogen \^ird.
Entweder gab es keine synkopierte Form für cave ne, dann läßt
«ich cau ebensowenig für die Aussprache verwenden, wie für den
Nachweis apokopierter Imperative. Oder cau ne war wirklich eine
alte Formel; auch dann vermag cau ne so wenig wie cautus etwas
für die halhvokalische Aussprache des v zu Ciceros Zeiten zu be-
weisen.
Ebensowenig geht es an, die Entwicklung der w-Diphthonge
für unsre Frage auszubeuten. Bekanntlich sind eu und ou zusam-
1) Ich mache hei dieser Gelegenheit auf das merkwürdige Evsttloj aus
Amorgos IG XII, 7, 53, 2» aufmerksam. Der Schreiber hatte wohl eine Ahnung davon,
daß da, wo man zu seiner Zeit ov in römischen Namen setzte, wie in Aovmos,
früher ev geschrieben worden war, also Asv-niogf so auch in Amorgos 418, «. 425, 6.
Darum setzte er auch in diesem Namen, für den seine Zeit neben JB- auch Ov-
im Anlaut kannte, fälschlich Ev ein.
Silbischer und unsilbischer Laut gleicher Artikulation usw. 13S
mengefallen und haben im weiteren Verlauf geschlossenes ü ge-
liefert. Diese Tatsache könnte zu der Meinung verlocken, daß
V eher ein u, als ein u gewesen sein müsse. Aber dabei würde
man doch zweierlei außer acht lassen. Erstens haben die indo-
germanischen Diphthonge hier überhaupt bei Seite zu bleiben —
darum ist oben auch die Monophthongierung der ^f-Diphthonge im
Slavischen zu ii beiseite gelassen worden — da ihj* zweiter Bestand-
teil nicht ohne weiteres mit einem sonstigen u in der Aussprach«
gleich zu sein braucht. Zweitens wissen wir gar nicht, seit wann
lat. ü geschlossen war.
Besonders will ich hier noch einmal an die bekannte Tatsache
erinnern, daß idg. g-" ganz wie M behandelt wird ; denn wir haben
secundus neoen ecus, wie ja auch in sequi und eqiii das qti keine
Position macht. Wenn aber Velins Longus VII, 58, 17 sagt : v
litteram digamma esse interdum non tantum in his debemus anim-
advertere in quibus sonat cum aliqua aspiratione, ut in valente et
vitulo et primitivo et (jenetivo , sed etiam in quibus cum q confusa
haec littera est, ut in eo, quod est quis, so darf man wohl (vgl.
Sommer^ 222) daraus entnehmen, daß v hinter q länger Halbvokal
geblieben war, der sich aber in der Aussprache von den Vokalen
unterschied. Für beides könnte auch die häufigere Schreibung
mit ico in griechischer Umschrift sprechen, z. B. xoÖQccvtrig quadrans
im Neuen Testament Blaß u. Debrunner 26, s. auch Dietrich Byzant.
Arch. 1, 74. Auch an das späte quaglator für coaglator sowie über-
haupt an das in den romanischen Sprachen aus co vor Vokal entstan-
dene qu, z. B. it. quatto aus coactus, span. quejar aus coaxare sei er-
innert.
Nicht mit in Rechnung gezogen habe ich bisher die Fälle, wo
0 in den Endungen hinter sonantischem u stand wie in morttws,
suos. Diese stehen mit servos und den andern Fällen mit konso-
nantischem V nicht auf einer Stufe. Da in ihnen u und o in zwei
verschiedenen Silben stand, lag kein Anlaß zur Verschmelzung wie
bei partim vor. Als das unbetonte o sonst zu n wurde, machte
sich aber genau wie bei volnus die Kraft der Dissimilation geltend.
In G-egensatz zu seruos ist mortuos auch damals noch die lautge-
setzliche Form gewesen. Wenn aber später gleichwohl mortuns
durchdrang, so ist nicht lautgesetzlich uo zu im geworden; denn
man müßte sich wundern, wenn hier die dissimilatorische Kraft,
die zwar ein spirantisches v in vnlmis, parvus natürlich nicht mehr
besaß, dem sonantischen u verloren gegangen wäre, während, wie
wir gleich sehen werden, sonantischem i diese Kraft gegenüber
dem e stets blieb. Alle Formen wie mortuus usw. werden demnach
134 Eduard Hermann,
wohl analogisch gebildet sein. Zu der Umfoimnng mortnvs > mortuus
war um so eher Anlaß gegeben, wenn auch die analogischen Formen
seriös, pariios lautgesetzlich zu seruus, pcinins geworden waren und
keinen Anhalt mehr für eine Deklination auf -o.s, -t gaben.
Der "Übersicht halber stelle ich hier noch einmal die chrono-
logische Folge der Lautentwicklungen zusammen:
1 molta uolnos seruos mortuos
2 „ „ serös „
3 j, „ anal, seruos „
4 multa uolmis „ „
5 - wulnus senvus
77 3 s 3 77
6 „ ;, „ anal, mortuus
Keine Rolle für die Entscheidung der Aussprache des ti spielt
die Entwicklung von anlautendem idg. q- vor u und von anlau-
tendem qij, Nach der Ansicht mancher Sprachforscher ist dabei
der Guttural gefallen. Gesetzt, die Ansicht wäre richtig, dann
brauchte man sich den Hergang noch nicht so zu denken wie z. B.
Walde Gesch. idg. Sprachwissensch. II, 1, 181 will. Nach Walde
soll uM so entstanden sein, daß q^u- zu qwu- und weiter zu ivu-
und u- wurde. Der Ansatz des Spiranten ist dabei ganz über-
flüssig, q^u- hätte ja auch zu quu- werden können, das liegt näher;
nun frage ich, warum dann w, das doch durch Dissimilation gegen
das folgende u entstanden sein mußte, schließlich doch mit u zu-
s ammenfloß. An den Abfall des Gutturals kann ich aber über-
haupt nicht glauben. In allen Zusammensetzungen hat uhi den
Guttural vor sich: necuhi, alicuhi, sicubi. Soll im Inlaut die Ent-
wicklung wieder eine andre gewesen sein? Meiner Ansicht nach
ist genau so, wie im Inlaut relic-uos Jeg-ümen und im Anlaut bei der
Media gurchs Sommer^ 187 entlabialisiert worden ist, neq^uhi zu
necubi geworden, weil sich ti mit u verbinden mußte; die Gestalt
*ncq'^ubi existiert nur auf dem Papier. Selbst Walde gibt — wenig-
stens für das Oskisch-Umbrische — Über älteste sprachliche Bezie-
hungen zwischen Kelten und Italikern58 Entlabialisierung des Labio-
velars vor u zu; der Vorgang war aber nicht auf diesen Teil des
Italischen beschränkt. Als g- in quom usw. noch fest war, hatte man
bereits *cw&«, necubi. Der Anlaut des "^cuhi stimmte nicht zu dem
von quoi, quom usw., der etymologische Zusammenhang war daher
zerrissen. Indem man darum necubi falsch zerlegte, entstanden uU
usw. Wie jung ubi, uter usw. waren, ersieht man z. B. aus neuter,
dessen eu nicht monophthongiert wurde, invitare hat ebenso wie
vaper nie einen Guttural besessen, invitare stellt sich mit vis 'du
Silbischer und unsilbischer Laut gleicher Artikulation usw. I35
willst' und invUus zu ai. ahhivitus 'erwünscht', vaper ist von lit.
Jcväpas zu trennen; es gehört einer nicht identischen, sondern nur
reimenden Wurzel an, wie Persson, Beitr. idg. Wortf. 527 annimmt.
vaper verhält sich also zu Jcväpas ähnlich wie lat. vermis, got.
waürms zu ai. Irmis. Das, was die Sache verdunkelt, ist nur, daß
vaper der einzige Überrest dieser Wurzel mit idg. u- geblieben ist.
Über die Entwicklung des idg. i im Lateinischen kann ich
mich kürzer fassen. Das Problem der io-Verba nach der dritten
und vierten Konjugation gehört im wesentlichen in eine Unter-
suchung der Silbentrennung, die hier nicht mit abgemacht werden
kann. So bleibt als Wichtigstes die Erklärung des Stammvokals
der Komposita von lacere. Die einfachste Lösung bringt hier die
Vergleichung mit den Verhältnissen bei ii vor 0.
Ohne den Umlautsprozeß von mittelsilbigem a zu i wie Exon
Hermathena 12, 219 in zwei auf einanderf olgende zeitlich getrennte
Vorgänge zujzerlegen, s. KZ. 48, 102 fg., wird man coniecio als eine
Zwischenstufe zwischen '^coniacio und conicio auffassen dürfen, die
genau so wie variego, parietem, Nerienis (Meister Lat.-Griech. Eigenn.
14) u. a. infolge von Dissimilation ein e hinter i zeigte. Nicht ^,
sondern e ist dabei anzusetzen; denn nur der näher verwandte
Laut e konnte einen Dissimilations Vorgang gegenüber vorausge-
hendem i hervorrufen, man wird also ie bez. ie (s. unten) gesprochen
haben. Während aber in pdrietem ein Nebenton auf e die Veren-
gung zu i für immer aufhielt, war i§- der Weiterentwicklung
preisgegeben (KZ 48, 108 fg.). Wie ii mit 0 verschmolz, so verei-;
nigte sich auch inlautendes i mit e (nicht auch mit dem bei cö-
niectus vorliegenden e) zu i', das alsbald zu { wurde. Zeitlich
brauchen die beiden Vorgänge no > 0 und i§ > e nicht zusammen-
zufallen, oder es müßte umgelautetes coniecio schon erreicht ge-
wesen sein, als 0 noch gar nicht zu u geworden war. Jedenfalls
ist uns die zweite Zwischenstufe *confcio nicht überliefert, was
auf sehr kurze Dauer derselben schließen läßt, während wir von
Schreibungen wie coniecio manche Zeugnisse auf Steinen und in
Handschriften haben. Die Form mit i allein ist uns ebenfalls
überliefert, am ältesten bei Naevius, ferner in dem spät bezeugten
(Neue Wagner^ I, 705) Nominativ obex, der nur aus obicis usw. er-
wachsen konnte, dazu auch vielleicht in aimcio, falls dies wirk-
lich ein Kompositum von iacio ist. Im übrigen bildeten später die
Komposita von iacere wegen des i in den andern Formen (Perfek-
tum und Participium) und wegen des Reimes auf die Komposita
mit faccre auch das Präsens mit i vor /. Dieses i in -iicio kann
man sich, sofern es nicht überhaupt Spirant war, nur als sehr ge-
136 Eduard Hermann,
schlössen vorstellen; außerdem wäre ja i mit i zusammengelaufen.
G-esichert ist -iicio bez. -jicio schon seit Plautus' Zeiten durch das
Metrum, falls nicht -iecio einzusetzen ist, wie das Exon a.a.O.
will. Die Orthographie aber hat die beiden i neben einander
nicht recht aufkommen lassen. Wahrscheinlich wurde, wie die
metrischen Messungen bei Seneca, Lucan und Martial das nahe
legen-, die lautgesetzliche Form mit bloßem i neben der analo-
gischen noch lange fortgeführt; etwa so lange, als i Halbvokal
war; denn ? und i waren in der Artikulation so wenig unter-
schieden, daß die Gefahr zusammenzulaufen für sie immer nahe
lag. So kommt es denn, daß wir bei der Abneigung gegen die
Schreibung mit doppeltem i meistens -icio geschrieben sehen. Ven
dryes mag vielleicht damit Recht haben (Recherches sur l'histoire
et les effets de l'intensite initiale en latin 267), daß -ich bei den
genannten drei Dichtern die spanische Aussprache des Lateins
darstellt. In Rom könnte j zur selben Zeit spirantisch geworden
sein wie ii. Für die vorausgegangene Zeit erhalten wir damit als
Aussprache i vor ^, sonst i.
Dazu würde sehr gut die von Sommer^ 114 hingeworfene Ver-
mutung passen, daß das vokalische i vor den offnenen Vokalen selbst
offen war. Leider entbehrt sie zu sehr der Begründung und wohl
auch der Wahrscheinlichkeit. — Die Aussprache des i in Wörtern
wie pdior ist natürlich ein Kapitel für sich.
Das bisher gewonnene Resultat eröffnet vielleicht die Mög-
lichkeit, zur Erklärung der io-Verba der dritten Konjugation
Stellung zu nehmen. Aus *kapiesi hätte nach unseren Erörte-
rungen wohl (^kapiesi >) Vcapes und weiter ca^ns werden können.
Sollte man aber dann von der älteren Form mit -ie- nicht noch
Spuren vorfinden, wie sie in conieciant noch vorhanden sind? Da
sie fehlen , steht von dieser Seite aus also wenigstens nichts im
Wege, die Erklärung aus *kapiesl mit Sommer'- 503 über Bord zu
werfen.
Auf einem anderen Brett steht parieäs, dessen e sich, bis zu f
umgelautet, durch Dissimilation des i hielt. Es hat an mortuos
die nächste Parallele. Die geschlossene Aussprache des e wird
durch die Fortsetzung im Romanischen : frz. paroi gewährleistet,
über die Einzelheiten s. KZ 48, 106 fg.
Mit idg. -i hat sich i- völlig vereinigt, der Fall liegt vor im
Genetiv der io-Stämme; die Verschmelzung kann schon aus dem
Urindogermanischen stammen und so ins Italische und Keltische
vererbt sein; auch im Indischen liegt eine ähnliche Verschmelzung
vor, s. unten S. 157.
Silbischer und unsilbischer Laut gleicher Artikulation usw. 137
Für das ältere Latein kommen wir also auf halbvokalische
Aussprache des j und v. Da ist es bemerkenswert, daß vor diesen
Lauten nie Elision eingetreten ist ; j und v stellen sich als Halb-
vokale demnach in ähnlichen Gegensatz zu den Vokalen wie engl.
; und w in der Behandlung des unbestimmten Artikels.
Über die andern italischen Mundarten habe ich nicht so viel
vorzubringen. Jedenfalls ist es unrichtig, wenn v. Planta 1, 272
von V in osk. trtbnrahaiüm behauptet, daß es ebenso artikuliert
worden sei wie das folgende u. Ich glaube allerdings überhaupt
nicht, daß oskisches und umbrisches v ein Halbkvokal war, wie
V. Planta annimmt. Es wird ja trotz J. Schmidts Reserve (Pau^-
Wissowa, s. Alphabet) dabei bleiben, daß die oskisch-umbrische
Schrift aus der etruskischen herstammt. Im Etruskischen aber
verwandte man v auch in sonantischer Geltung, ebenso wie in dem
faliskischen pvrtis. Warum hat man nun im älteren Oskisch und
im Umbrischen gleichwohl für etymologisches o, das von etymolo-
gischem u nach Ausweis der jüngeren Schrift geschieden war, a
für beide Vokale gebraucht, statt v für den einen dieser Vokale
zu benutzen? Den Fall gesetzt, daß im Etruskischen die beiden
Zeichen v und u einen Vokal bezeichneten, würden sich die beiden
wohl auch in der Aussprache unterschieden haben, der eine könnte
etwa mehr zum «, der andre mehr zum o hin geklungen haben.
"Warum gebrauchten dann die Osker und Umbrer die beiden Zeichen
nicht wie im Etruskischen zur Unterscheidung der beiden Quali-
täten? Warum warfen sie o und u in der Schrift zusammen, um
es nur von einem halbvokalischen v zu scheiden, dessen Aussprache
von dem einen der beiden gar nicht so sehr weit entfernt gewesen
sein könnte? Es müßte v dann vielleicht besonders stark gerundet
gewesen sein. Aber auch da hätte es doch wohl näher gelegen,
das etymologische u und diesen Halbvokal durch das eine und das
etymologische o durch das andre Zeichen wiederzugeben. Wenn
dagegen v im Etruskischen Spirant war, ist erst recht nicht zu
verstehen, warum das Oskisch-Umbrische bei halbvokalischer Aus-
sprache die Zeichen so angewandt haben sollte, wie wir es wirk-
lich sehen. Die Gründe, die v. Planta I, 180 für halbvokalische
Aussprache im Oskisch-Umbrischen beibringt, sind denn auch alle
miteinander nicht stichhaltig. Die Gründe 1, 2, und 4 enthalten
ein und denselben typischen methodischen Fehler : Verwechselung
der Entstebungszeit einer Spracherseheinung und der Zeit der Be-
lege. Als ob ein früher halbvokalisches n in späterer Zeit nicht
Spirant geworden sein könnte I Wegen des zum Spiranten ge-
138 Eduard Hermann,
wordenen Gleitlauts vgl. lakon. EvßccvoQog. No. 3 und 5 gehen
nur das Etruskische an.
Sowie man aber v im Oskisch-Umbrischen ebenso wie im Etrus-
kischen Spirant sein läßt, wird das alles leicht verständlich. Die
Erklärung der Orthographie läge also eigentlich außerhalb des
Bereiches der indogermanischen Sprachwissenschaft. So lange wir
aber noch keine Entwicklung der etruskischen Laute kennen und
es nicht möglich ist festzustellen, wie die Verwendung des v zu-
stande kam, kann es sich für mich also nur darum handeln, über-
haupt irgend eine theoretische Möglichkeit zu suchen. Ich hoiFe, daß
dies gelingt. Bei der für das Etruskische charakteristischen Syn-
kope (s. Skutsch Glotta 4, 187 fg., Deecke BB 2, 161 fg., Herbig lA
37, 21 fg.) wäre es gar nicht verwunderlich, wenn etwa in der
Lautverbindung ave, uve mit spirantischem v das e synkopiert
wurde. Nimmt man außerdem an, daß der Diphthong au im Etrus-
kischen ebenfalls zu av wurde,, wie das Herbig Grlotta 2, 87 wirk-
lich tut, dann hätte man bei Anwendung historischer Orthographie
für die Lautverbindung a + Spirant die Zeichen av und au. Dies
konnte zu Unsicherheit in der Schreibung Anlaß geben, so daß
man an Stellen, wo ii am Platz war, auch v schrieb. So könnten
wir etruskische Schreibungen wie inrnl CIE26475 worunter be-
merkenswerterweise in der lateinischen Übersetzung Furrd steht,
erklären. Da ein Diphthong uu ausgeschlossen ist, findet man na-'
türlich nur u und v^ nicht n und u neben einander, z. B. ruvfni.
Meine Vermutung scheint sich durch die Tatsachen wirklich zu
Ije^tätigen; Herbig macht mich freundlichst Siuf aveJe, «t^i/e auf-
merksam, das auch synkopiert als avle auftritt; wenn es da-
neben auch aide gibt, so kann das ebensogut falsche Schreibung
wie jüngere Entwicklung sein. Ist meine Hypothese richtig oder
entsprach die Entwicklung des Etruskischen wenigstens dem End-
resultat, daß V das, Zeichen für den Spiranten war und ursprüng-
lich nur durch Verwechslung auch für u gesetzt wurde, dann läßt
sich denken, daß auch die Osker und Umbrer v als Zeichen für
einen Spiranten gebrauchten, daß sie andrerseits aber für o und
u nur den einen Buchstaben verwandten, der im Etruskischen (s.
Herbig S. Bay. Ak. 1914, 2 Abh. 30/33, BphW 1916, 1441) einen
Vokal zwischen o und u bedeutete. In der Darstellung von a oder
0 + Spirant schlössen sich die Osker dem Vorbild ebenfalls ganz
an ; sie schrieben daher stets uv, aber neben av auch au. Ich nehme
also an, daß die Osker keine Diphthonge mehr hatten, sondern
eine Lautverbindung mit Spirant, wie sie die Neugriechen kennen.
Damit befinde ich mich zwar in Widerspruch mit v. Planta 1, 138 fg.^
Silbischer und unsilbischer Laut gleicher Artikulation usw. 139
155 fg. ; seine Gegengiünde sind aber so wenig durchschlagend,
daß ich auf eine weitere Widerlegung nach dem schon Erörterten
verzichten darf.
Für spirantische Aussprache des v lassen sich dagegen noch
folgende Gründe vorbringen. Die griechisch geschriebenen In-
schriften gebrauchen für v das griechische Digamma. Dieses wurde
aber in Sizilien und Unteritalien zur Zeit der Übernahme dieses
griechischen Alphabets sicherlieh nicht mehr als Halbvokal ge-
sprochen. In allen griechischen Landen war /, so weit noch vor-
banden, vielleicht im 4. Jahrhundert bereits nur noch Spirant, s.
S. 143. / in den oskischen Inschriften wird also einen Spiranten
bedeuten. Ganz besonders auffällig ist dabei die Schreibung Aj^äsisiSy
TcofTo, diese spricht sehr für Spirant, während tavgon die andre
etruskische Schreibung spiegelt und ÄGv^iavo^i wie das nicht er-
klärte Tovrg oder tovxl Nachahmung von dieser etruskischen Schrei-
bung oder griechische Schreibung zeigt.
Auch die Orthographie der lateinisch geschriebenen oskischen
und umbrischen Inschriften läßt sich bei der Annahme des Spi-
ranten sehr wohl verstehen. Wenn die ßömer damals Halbvokal
gesprochen hätten, so würde den Oskern und Umbrern ein andres
Zeichen als ii für ihren Spiranten eben nicht zur Verfügung ge-
standen haben. Aber vermutlich sind die lateinisch geschriebenen
Teile der iguvinischen Tafeln sowie die Tabula Bantina erst in
einer Zeit aufgezeichnet, in der lat. v schon Spirant geworden
war, s. die Zeitbestimmungen bei v. Planta I, 29 fg., Conway The
Italic Dialects I, 407 und 24.
Wenngleich so oskisch und umbrisch v zur Zeit der Denkmäler
Spirant war, läßt sich doch erkennen, daß in einer früheren Pe-
riode Halbvokal gesprochen worden sein wird. Die Gründe hierfür
sind die, welche v. Planta I, 180 fg. unter 1, 2, 4 für diese Aus-
sprache zur Zeit der Denkmäler selber vorgebracht hat; dazu
kommt noch, daß idg. n hinter /• vielleicht zu im und weiter zu iiv
entwickelt ist in osk. unmi, umbr. aruvia, doch ist der Lautübergang
zweifelhaft. Auch umbr. courtust 'converterit' gegenüber umbr.
vurtus 'verteris' dürfte hier nur mit einem Fragezeichen zu nennen
sein. Vielleicht ist v mit diesem u im Inlaut verschmolzen, wäh-
rend es im Anlaut geblieben ist, eine Erscheinung, die uns im
Vorausgegangenen nun schon mehrfach begegnet ist. Ist etwa
auch osk. iüklei mit sekundärem ^dpi- aus ^diuoklei so aufzufassen,
wie ja auch lat. midius sich aus '^dluos erklären läßt, beide mit
o-Stamm wie ai. dive dive'? Dann würden umbr. couortus u. a. als
Analogieformen zu betrachten seien, und das oben als lateinisch
140 Eduard Hermann,
angesprochene Lautgesetz (inlautendes tjo > o) würde zwar nicht als
uritalisch anzusetzen, aber doch auch auf das Oskisch-Umbrische
auszudehnen sein. Wir würden damit für eine frühere Periode
auch dieser Mundarten auf Halbvokal als m- kommen. Aber diese
zwei Beispiele für Verschmelzung sind doclT recht unsicher. Den
Vorgang für uritalisch zu halten, wäre jedenfalls nicht rätlich,
weil das verbale Kompositum courtast keinen Anspruch auf so
hohes Alter erheben kann. Angesichts der Tatsache, daß die Laut-
verbindung vti = V mit etymologischem o auch in menvum steckt
und durch Einschiebung des Gleitlautes v sogar erst entstanden
ist z. B. in osk. tribaraJcavnm, wird mir die Verschmelzung in diesen
italischen Mundarten überhaupt sehr zweifelhaft. Das auch hinter
u vorkommende v, umbr. tuvos wird in lateinischer Schrift nicht
mitgeschrieben, v. Planta I 184, Bück Elem. 44 ; das steht durchaus
in Einklang mit der gleichzeitigen Schreibung im Lateinischen
wie iuenis usw.
Eine bestimmte Entscheidung, wie idg. ij im Uritalischen als
Halbvokal gesprochen wurde, kann ich unter diesen Umständen
nicht treffen. Immerhin läßt sich wohl soviel sagen, daß man mit
ii durchzukommen scheint. Jedenfalls weist hier wie in den
vorher besprochenen Sprachen mancherlei darauf
hin, daß der Halbvokal teilweise zu einer offenen
Aussprache hinneigte.
Über i im Oskisch-Umbrischen möchte ich mich nicht auslassen.
Wie im Oskisch-Umbrischen sehen wir auch im Griechischen
zur Bezeichnung des idg. u wieder ein besonderes Zeichen ver-
wandt. Auch hier können wir eine Vermutung über seine Ent-
stehung wagen. Das semitische Alphabet, das dem griechischen
als Muster diente, gab eine Scheidung von / und v nicht an die
Hand, sie ist also erst griechisch. Und sie scheint nicht die Er-
findung eines einzelnen Mannes oder eines einzelnen griechischen
Stammes gewesen zu sein. Das Bedürfnis für ein besonderes
Zeichen scheint allgemeiner gewesen zu sein; denn wir sehen, daß
an verschiedenen Stellen griechischen Landes neue Zeichen ver-
mutlich verschiedener Art aufkommen, um den Unterschied festzu-
legen. Das wäre sehr eigentümlich, wenn die Zeichen nicht auch
zwei deutlich geschiedene Laute darstellen sollten; umso merk-
würdiger, als man es gar nicht so eilig hatte, andre Lautunfcer-
schiede ebenfalls durch die Schrift festzulegen. In Kreta und
anderwärts schrieb man für tt und (p, für x und % immer noch je
ein Zeichen, als man längst v und / auseinanderzuhalten wußte.
Ich stimme also Gercke Hermes 41, 541 durchaus darin bei, daß t;
Silbischer und unsilbischer Laut gleicher Artikulation usw. 141
und / zwei verschiedene Laute bedeutet haben müssen. Zunächst
aber galt T als Zeichen für beides , für v und /. Als man sich
nach einer Scheidung umsah, schuf man nicht etwas ganz Neues,
«ondem ging von dem Vorhandenen aus , vgl. jetzt M. P. Nilsson,
Die Übernahme und Entwicklung des Alphabets durch die Griechen,
Danske Vid. Selsk. Hist. fil. Medd. I, 6, 1918, S. 20 fg. Das neue
Zeichen verwandte man nicht für den Vokal v, sondern für den
Konsonanten /, das war ganz begreiflich, da v viel häufiger in
der griechischen Sprache vorkam als /. Der alte Name Vau blieb
aber an dem / hängen, auch das können wir wohl verstehen. Der
Buchstabennamen enthielt als ersten Laut ja doch ein / und kein
V, das akrophonische Prinzip verlangte also die Beibehaltung.
Und daß man Vau in dem Alphabet an seiner alten Stelle ließ,
war ganz selbstverständlich, warum hätte man ändern sollen ! Das
Zeichen T erhielt aber jetzt einen neuen Namen, man nannte es
U, sowie der e-Laut E (s) hieß^). Es trat natürlich im Alphabet
hinter das letzte bisherige Zeichen, hinter Tau, ebenso wie die
später geschaffenen Buchstaben — außer J — sich an dem Schluß
anreihen mußten. So lüftet sich der Schleier des Geheimnisses,
warum das neue Zeichen / die Stelle des semitischen Vau erhielt
und das alte Zeichen T an den Schluß kam. Genannt wurde das
Vau lau, da, wie wir sehen werden, / als u gesprochen wurde.
Es scheint mir übrigens möglich, daß auch schon der semitische
Buchstabe nicht mit u, sondern mit u, also dem Mittellaut zwischen
u und 0, begann; jedenfalls verdient Beachtung, daß das Waw
den Iraniern als Zeichen für den u- und ö-Laut diente, s. Andreas
und Wackernagel NGG 1911, Ifg.
V hatte später den Wert eines w, früher ist v allgemein al&
ii gesprochen worden. Auch im Diphthong war es von Haus aus
ein u, sonst hätte sich hier v nicht in der Schrift eingebürgert.
In der Hauptsache ist der Lautwert ti im Diphthong auch ge-
blieben, obwohl auch da in manchen Gegenden Veränderungen vor
sich gingen, s. unten S. 146 f. Das Normale im Altgriechischen
war also ii in «v, sv lange Zeiten hindurch. Auch in ccvXa^ und
den andern von Solmsen Untersuchungen z. griech. Laut- und Vers-
lehre 1 68 fg. genannten Wörtern, die, wie es scheint, erst im Grie-
chischen einen vokalischen Vorschlags vokal erhalten haben, ist es
mit dem v so bestellt. Ebenso in evgdyri u. a. Für ti in andern
Formen beweisen diese Dinge nichts. Wenn auch zu fQrjyw^c im
1) Ein ähnlicher Fall liegt bei den Zeichen für die semitischen Ä-Laute
▼or, s. Sethe GGN. 1917, 444^ Nilsson 20.
142 Eduard H ermann,
Aolischen Augmentformen wie sifQuyii gebildet wurden, so darf
man doch noch nicht mit Solmsen a. a. 0. 177 fg. daraus den Schluß
ziehen, daß fQ- zur Zeit dieser Schreibung im Aolischen als iir-
ausgesprochen wurde. Hier liegt erstens wieder der oben bei der
Kritik an v. Planta schon gerügte Fehler vor. Zweitens beweist
auch für eine frühere Zeit svQdyri nicht unbedingt die Aussprache
des / gerade als u. Auch wenn fg- als «/r- ausgesprochen wurde,
so kann doch mit vorausgehendem Augment eur- immer wieder
von neuem sofort entstanden oder später geworden sein. Jonisch-
attisches iggayr] setzt dagegen allerdings wohl voraus, daß in diesen
Mundarten / vor q- vorher spirantisch geworden war. Brugmanns
Annahme Grrundriß^ I, 307, fQ- hätte qq- ergeben, is^ nicht, wie
Solmsen meint, wenig wahrscheinlich, sondern unhaltbar. Gremi-
nata ist im Anlaut ebenso wie im Auslaut unmöglich. Daß der
Ausdruck Geminata, genau genommen, nur auf zwei gesondert
hintereinander hervorgebrachte Laute derselben Art bezogen werden
kann, beschäftigt uns dabei natürlich überhaupt nicht; denn auch
in dem andern Sinn , daß jeder Konsonant , der sich auf zwei
Silben verteilt, Geminata heißt, kann im Anlaut nicht von einer
Geminata die Rede sein. Das einzige, was sich aus assimilierten
Lauten im An- oder Auslaut allenfalls außer dem gewöhnlichen Laut
zugestehen läßt, wäre ein langer Konsonant. Auch diesen werden
wir nicht für jonisch-attisch QYJyvv(ii, wenigstens nicht zur Zeit der
jonisch-attischen Dichtung, anzusetzen haben. Unter den verschie-
denen Möglichkeiten, die man sich überhaupt ausdenken kann,
scheint mir daher immerhin Solmsens Vorschlag, für sQQayi^v von
einem spirantischen / auszugehen, bei weitem die annehmbarste
und wahrscheinlichste. Brugmann hat sie denn auch KVG 100
angenommen.
Der Unterschied zwischen jon.-att. sQQccyrj, äol. s-ugäyr} ist aber
kein grundsätzlicher und durchgreifender, er ist nur zeitlich. Überall
haben wir svQvg u. s.w., nirgends *SQQvg. Im Jonisch -Attischen,
das früh das / überhaupt verloren hat, war es auch besonders
früh im Anlaut vor q, vielleicht auch m andern Stellungen, spi-
rantisch geworden. Dieser Vorgang trifft auch andre Mundarten.
Aus dem Lesbischen sogar haben wir inschriftlich TcatocQgvöLov statt
x«r' ScQi^öLov IG XII, 2, 15, 19 (Schulze, Gott. gel. Anz. 1897, 881 fg.),
dazu IG XII, 2, 500, u ävdgQYjaLv, aus Pergamon HoiFmann Gr. Dial.
TL 'R. 148 ©söggritog, aus Böotien BGH 21, 557, is Ttgoggs^^tg, aus
Gortyn ccTCoggld-evra GDI 4991, IX, 17, svsgi]iiii£v . . . aus ivefgr^y^sv . . .
5001, 8, g7]x6cii£[v] 4965, 2 digiötog in einer nicht ganz aufgeklärten
Form 4991 IX, 36, aus Olus auf Kreta xlsiöiggödoi^ 5104 a, is, aus
Silbischer und unsilbischer Laut gleicher Artikulation usw. 143
Herakleia eggriysiag, ccggy^xtco 4629, ih und i<( ; über IIolvQQrivCoyv s.
unten S. 147, aus dem Delphischen h£fitQQ[£]vLa GDI 2561, D »j.
Demnach war in allen diesen Mundarten / vor q im Anlaut ver-
mutlich spirantisch geworden, die Vorbedingung für die Assimi-
lation. Statt / wird in späterer Zeit meist ß geschrieben in La-
konien, Kreta, Elis u.a., in Pamphylien qp; es unterliegt keinem
Zweifel, daß / später Spirant war. Daß / im 4. Jahrhundert
überhaupt irgendwo noch Halbvokal war, ist mir sehr zweifelhaft.
Es hat aber einmal einen durchgreifenden Unterschied gegeben,
■der nicht zeitlich verläuft. In einem Teil der Mundarten ist /
vor den ö-Lauten außer vor oi mit diesen verschmolzen, in dem
andern nicht. Verschmolzen ist / sicher im Aolischen, das hinter
Homers Sprache steckt, wie im Lesbischen z. B. owav ßechtel
Lexilogus 338, dann im Gortynischen und den Nachbarmundarten,
vielleicht auch im Kyprischen (??) vgl. jetzt dazu auch övd BGGW
1910,235, im Korinthischen (s. J. Schmidt KZ 33, 455 fg.) ; auch
das Böotische (Thumb IF 9, 313 bcpeiX- öcpiX-) und Thessalische könnten
in Frage kommen, s. Solmsen Untersuch. 186 fg. Das Lakonische,
das Solmsen 145 wegen der Alkmanstelle rj ovx oQrjg Parth. 50
auch dazu stellen wollte, hat nach Ausweis der Inschriften / auch
vor den o-Lauten bewahrt. Die neu entdeckten Inschriften liefern
dafür nicht nur Beispiele aus junger Zeit, die nach meiner Auf-
fassung IF 32, 358 fg., 33, 433 allerdings auch schon beweiskräftig
sind, sondern auch aus älterer, z. B. Faiaföxö SGD, S. 680 "4416, 51,
/o()'9-a[iat] S. 682 "3, foQld-aim] "4u. s.w., s. auch S. 706. So scheint
mir auch Epicharms oxx ögfi gegen Solmsen 155 den Schwund des
f vor o-Vokalen für Syrakus noch nicht zu gewährleisten. Die
Dichtersprache ist zu sehr abhängig von Homer; wegen der lesbi-
schen ■ Lyriker vgl. W.Schulze GGA 1897, 887 fg. und die Zustim-
mung bei Wilamowitz Sappho und Simonides S. 86 fg. Eigentüm-
lich verhalten sich in dieser Frage Kreta und Arkadien. Auf
Kreta ist / verschmolzen in Gortyn, geblieben in Olus und Aptera
u. a., s. Brause, Lautlehre d. kret. Dialekte 44 fg. Da die Gorty-
nische Mundart so viel achäische Züge bewahrt hat, vgl. Kieckers,
Die lokalen Verschiedenheiten im Dialekte Kretas 75 fg., in Gegen-
satz zu dem stärker dorisch durchsetzten Osten und Westen der
Insel, wird man gern auch diesen Schwand des / am besten auf
das Konto des achäischen Untergrundes der mittelkretischen Mund-
arten setzen, während seine Erhaltung dann dorisches Gut sein
würde. Der stärker dorisierenden Mundart von Hierapytna oder
Priansos wäre ßmav GDI 5024, 24 in dem Vertrag Gortyns und
Hierapytnas mit Priansos zuzuweisen, wie ja auch Aptera in West-
144 Eduard Hermann ,
kreta die Form Bog^iat mit ß = / geliefert hat, vgl. dazu Brause
41 fg., und der Name der ostkretischen Stadt Olas auf einem Ver-
trag zwischen dieser und dem benachbarten Lato GDI 5075 mit
«pirantischem / (BoXÖ£{v)tL) erscheint. In Arkadien sehen wir die-
selbe Verschiedenheit wie auf Kreta : wir haben fo(pX£x66c IGr V,
2, 262, 18 aus Mantineia und foQ^aeCa IG V, 2, 429, 13 aus Kotilion,
dagegen h(p}^v u. a. IG V, 2, 3, 4 aus Tegea, dtpsXXovßi ebda 343, A, 25
und [i]7tioQX£vti C 1» aus Orchomenos. Die Geminata der Form
6(pekXov6t hat schon Danielsson IF 35, 105 Anm. 3 als einen spezi-
fischen Achäismus angesprochen. Die Mundarten Arkadiens scheinen
danach Achäisches und Dorisches teilweise stark durcheinander ge-
worfen zu haben, was man zugeben wird, wenn man bedenkt, daß
die halbdorische Xuthiasinschrift IG V, 2, 159 ganz aus der Nachbar-
schaft Tegeas herstammt. Daß / vor 0 und g> im Dorischen geblieben
st, bezeugt außer dem Lakonischen argiv. BoQd^ayögag GDI 3260, 8 ;
auch an ßoQööv (StavQÖv *HXetoi Hesych sei erinnert, lokr. fött
(Wackernagel Rh M 48, 301) ist zu unsicher. Nimmt man dazu
noch, daß gerade die soviel Achäisches aufweisenden Mundarten
von Lesbos, Thessalien, Böotien, Korinth und Kypern (??), ferner die
Homers anlautendes / vor o-Lauten verloren haben, dann scheint
sich die für das Kretische und Arkadische ausgesprochene Ver-
mutung durchaus zu bestätigen. Überall scheint die Verschmel-
zung mit den 0- Vokalen als ein Überrest achäischer Sprache. Viel-
leicht haben außer den Achäern auch die Jonier einmal hieran
teilgehabt ; denn der einzige Überrest eines /-, der bei den Joniem
durchschimmert, ist der Biatus gerade vor oi bei Herodot und
andern Joniern, worauf Wackernagel Glotta 7, 268 = Sprachl. Unters.
Homer. 108 und Danielsson IF 25, 278 hinweisen, z. B. ov oC. Da,
wo / im Anlaut vor den o-Lauten gefallen ist, wird die Ähnlichkeit
der Artikulation eines f und eines 0 gewirkt haben. Ich ziehe
daraus den Schluß, daß / im Achäischen wie ehemals im Jonischen
nicht ohne weiteres m, sondern ein zum 0 hinneigendes u war.
Die Verschmelzung fand statt vor 0 und co, die unter ein-
ander nicht gleicher Qualität gewesen sein dürften; die gegen-
seitige Annäherung war also verschieden stark. Wenn sie nicht
auch vor et stattfand, so lag das natürlich an der Beschaffen-
heit dieses Diphthongs. Es ist aber doch wohl unrichtig, wenn
man glaubt, daß 0 in et offener als sonstiges 0 und to war. Wir
sehen doch gerade, daß in den meisten Mundarten 0 der ge-
schlossene und 03 der offene Laut war; das Zeichen für to war ja
nicht wegen des Quantitäts-, sondern wegen des Qualitätsunter-
schieds erfunden worden. Man sollte also erwarten, daß ein be-
Silbischer und unsilbischer Laut gleicher Artikulation usw. j^45
sonders offenes o in ot mit (o, nicht mit o geschrieben worden
wäre. Da dies nicht der Fall ist, wird auch die Aussprache des
OL eine andre gewesen sein ; o war vermutlich auch in ot dem sonst
geschlossenen o ähnlich. Aber nur ähnlich, nicht völlig gleich!
Ich denke mir, daß o in ot geschlossener war als sonst, ohne darum
einem u gleich zu sein. Bekanntlich ist ot später mit v zusammen-
gefallen in den Laut w, s. Blaß Aussprache^ 69 fg. Am frühesten
hat sich im Böotischen ot diesem Laut genähert. Aus der Schrei-
bung o£ auf archaischen Inschriften, besonders Tanagras, können
wir den Weg der Entwicklung zum Teil verfolgen; Thumb hat
ihn Handb. gr. Dial. 224 durch Einschiebung von ue so ergänzt:
oj, oe, ue, iL Ich glaube darum, daß auch in andern Mundarten o
in ot über ein stark geschlossenes o hinweg die Kontraktion zu ü
anbahnte. Also nicht ö-artig, wie Brugmann-Thumb* 46, 57 ange-
genommen wird, scheint mir der o-Laut von ot gewesen zu sein,
sondern im Gegenteil geschlossener als gewöhnlich. Für diesen
Laut verwandte man selbstverständlich o und nicht o. Wie wir
aber schon in verschiedenen Sprachen vor u ein stärker geschlos-
senes u beobacliten konnten, so wird man auch in diesem Fall im
Streben, / und ot deutlich zu artikulieren, das anlautende u stärker
als sonst geschlossen haben. Diesen Vorgang haben wir zeitlich
selbstverständlich vor die Verschmelzung von / mit o/co anzu-
setzen, bei der sich eine ähnliche Dissimilation eben nicht wieder-
holt hat. Man mag diese Auseinandersetzungen etwas ausgetüftelt
finden, ich glaube aber doch in diesem Zusammenhäng verpflichtet
zu sein anzugeben, wie ich mir eine Erklärung denke. — Meillets
Äußerungen Griotta 2, 27 über stimmhaftes Digamma vor ot im
Pamphylischen legen nur die Aussprache fest, ohne die Erhaltung
des Digamma vor ot zu erklären.
Zu diesem Ergebnis, daß / ein zum o hinneigendes u war, stimmen
noch weitere Tatsachen. In dem Gortyn benachbarten Vaxos schrieb
man / bis ins 2. Jahrhundert fccxöCöv u. s. w., s. Brause 49. Die
Aussprache muß aber einem o recht ähnlich gewesen sein ; denn
übereinstimmend in zwei Gegenden Griechenlands wurde der Vaxier
als 'Odl^iog bezeichnet. Wenn sich der Vaxier fd^Log nannte, so
klang das offenbar für andre Griechen nicht viel anders als 'Od^tog,
So lautet daher der Name auf einem attischen Leichenstein GDI
5148 a, auf einer delphischen Freilassungsurkunde 1951,6 und auf
einem Beschluß des ätolischen Bundes 1412, 3 und 5, s. Brause 40 fg.
W. Schulze charakterisiert die Schreibung KZ 33, 395 nicht genügend^
wenn er sagt, daß '/ den meisten Griechen ungeläufig und unbe-
quem war und deshalb wiedergegeben wurde, so gut es eben an-
Kgl. Ges. d. Wiss. Nachrichten. Phil.hist. Klasse. 1918. Heft 1. 10
146 Eduard Hermann,
ging'. Die Orthographie der delphischen wie der ätolischen In-
schrift ist dabei Tielmehr sehr bemerkenswert. In der Freilassungs-
urkunde wird der Vaxier Krinolaos in delphischer Mundart y^lto^
genannt; als ßsßai^cotfiQsg zeichnen zwei Vaxier mit ihrer Unter-
schrift, sie nennen sich selber noch M^iol mit /, aber dieses /
vermögen sie mit den Zeichen, die in Delphi damals üblich waren,
nur durch o auszudrücken. Ganz ähnlich ist es in dem ebenfalls
aus Delphi stammenden Beschluß der Ätoler. Hier werden die
Vaxier nach der in Delphi üblichen Orthographie als X)di^ioi be-
zeichnet GDI 1412, dagegen in dem eingelegten Schreiben der
Vaxier, das in kretischer Mundart gehalten ist, als M^lol (bez.
fav^ioi) GDI 5151. Auch Stephanos von Byzanz ed. Meineke I, 482
spricht von "Occlos xoXig Kq7]t^s und nennt den Bürger der Stadt
'Ow|fcog. Auch an ^OtXsvg = piXsvg ist zu erinnern, vgl. besonders
Kretschmer, Wiener Eranos zur Philologenvers, in Graz S. 121,
obwohl ein Schluß auf die Aussprache des lokrischen Digamma
darum noch nicht erlaubt ist. Das arkadische oXoatg IG V, 2, 514, is
würde sich auch heranziehen lassen, wenn es feststände, daß hier
0 für / gebraucht ist, vgl. Prellwitz Bursians Jahresber. 106, 105 fg.
Aus der griechischen Umschreibung des lateinischen v in Eigen-
namen, die Schulze a a. 0. nennt, möchte ich für das Griechische
keine Schlüsse ziehen, da solche Zeugnisse ebenso gut nur für das
Lateinische etwas beweisen können.
Auch Schreibungen andrer Art aus Gortyn und Umgegend
führen ebenfalls auf ein o-artiges /, und zwar als Ubergangslaut.
Wir finden diesen nicht nur zwischen u und o in rLtvfog (neben tirov-
/«(?^ö aus Vaxos Brause 40), sondern auch in raJ^vQog^ \a]fvtdv und
cc^e/vöaad^uL (Brause 39). Da wir Anlaß haben zu vermuten, daß v
in Gortyn noch lange Zeit u war und / wenigstens in diesen Wörtern
keinen Spiranten bedeuten kann, weil ja sonst der Diphthong in
zwei Silben zerfiele, was wir doch kaum annehmen werden, ein u
und II aber in einer Silbe noch dazu hinter einem a, e derselben Silbe
nicht aussprechbar sind, bleibt kaum etwas anderes als ein o-haltiges
u für / übrig. Es ist eine phonetisch genaue Umschreibung des
Diphthongs, der aus a, bez. e, einem Gleitlaut u und einem u be-
steht. Der Gleitlaut wird zwischen der Artikulation von a, bez.
e und der von u liegen. Ein solcher Laut kann nur o-artig sein.
Die Schreibung äj'töv SGD 4962, 4 'AfXövi ebenda s und i dagegen
berücksichtigt vielleicht nur diesen — ursprünglichen Gleit — Laut*).
Ebenso wird -sfd'Sy uroftog, 6/trö, ßoföC (Brause 18) aus Gortyn,
1) Vgl. dazu auch 'OfutC7i<i für Ovar6]s DGI 5295.
Silbischer und unsilbisclier liaut gleicher Artikulation usw. 147
o/ro aus Eleutherna, öTtofddccv, dazu . ./kos GDI 5125a aus Vaxos
(Brause 30) aufzufassen sein. Ein Beispiel wie öjtofdödv belehrt uns
außerdem mit aller nur wünschenswerten Genauigkeit darüber, daß
der Gleitlaut, wie überhaupt /, nicht dem o ganz gleich war, son-
dern ein Mittellaut zwischen o und u. Wahrscheinlich hatte im
Diphthong vor Konsonant der Gleitlaut in Gortyn und Nachbar-
schaft das u, das von alters her zweiter Bestandteil des Diph-
thongs gewesen war, fast überwuchert. Wenn gleichwohl der
Diphthong vor Konsonant nur in ganz alter Zeit mit / geschrieben
wird, dagegen in der großen Inschrift von Gortyn ausnahmslos
mit V (Brause 40), so ist auch das sehr wohl verständlich. Man
war ja in Griechenland gewohnt, zum Ausdruck des zweiten Teils
•des Diphthongs ein Zeichen zu gebrauchen, das sonst schon längst
•eine andre Bedeutung erhalten hatte. In Athen und anderwärts
war V sonst das Zeichen für ü] im Diphthong drückte es hier
aber noch den Wert u aus. So ist es also kein Wunder, wenn
man auch in Gortyn anfing, in Verbindungen wie av, sv etwas
anderes als die Vokale a ^ u , e + u zu sehen. Das konnte umso
leichter geschehen, wenn f in andern Stellungen (im Anlaut) in-
zwischen schon spirantisch geworden war, worauf nicht nur ß
in ötaßei'jtd^B[vo<s'\ GDI 5004, ii deutet (Brause 39) , sondern vor
allem auch die nur aus spirantischer Aussprache eines anlautenden
/ erklärliche Assimilation in a.Tto^Qsd'Evta usw. spricht, s. die oben
S. 142 fg. genannten Beispiele. Wenn der Name der Stadt Polyrhen
^uf den einheimischen Münzen stets als TIoXvq^v erscheint, dagegen
auf auswärtigen Inschriften (Teos und Magnesia) als TIoXvqqyiv,
so ist das erstere vielleicht die einheimische lautgesetzliche Weiter-
entwicklung eines älteren Sprachzustands , wo / Halbvokal war
und sich mit dem vorausgehenden v in einen Laut vereinigte, wäh-
rend die beiden andern Beispiele die Aussprache des Namens in
den Städten Teos und Magnesia darbieten könnten; ebenso ist arkad.
ßvj^oiKiav IG V, 2, 343 C 23 trotz des assimilierten v mit einfachem /
-hinter dem v aufzufassen. Nebenher sei bemerkt, daß ß in BaxCvd'iog
aus Lato auf Kreta ebenfalls spirantisches / bezeichnen wird. Brause
zieht S. 12 aus der Schreibung den Schluß, daß demnach damals das
Ypsilon als u ausgesprochen worden sei, weil / nur aus u, nicht
aus /(* hervorgegangen sein könne. Ganz abgesehen von der Her-
kunft, über die Kretschmer Wiener Eranos 118 fg., vgl. Glotta 7, 332
richtiger urteilt, sieht man nicht ein, warum zur Zeit der Schreibung
Bazivd'iog interkonsonantisches u nicht ü hätte geworden sein können.
Wieder einmal werden Ausgangspunkt eines Lautwandels und spätere
Äeit der Aussprache verwechselt. Genau denselben typischen Fehler
' 10*
148 Eduard Hermann,
macht Brause, wenn er S. 43 aus Baxiv&tog schließt, daß mit ß nur
^ gemeint sein könne. Als ob nicht auch dieses u zu irgend einer
Zeit zum Spiranten w hätte werden können! Die Orthographie ß
spricht eben doch gerade dafür, daß / zu tv geworden war.
Ganz ähnlich wie für Gortyn wird man den Gleitlaut / zu
beurteilen haben, wenn er in andern Gegenden, vgl. Brugmann-
Thumb'' 460, auftritt, so z. ß. in Korinth und seinen Kolonien
ä/vtdv, "E/»£C[€cgl EvfaQiog GDI IV, S. 387, in Mantineia in Ar-
kadien EvfaCv[ö\ Eif/höf EvfdvoQ\o]g IG I¥, 2, 323, 2 und 5 und 15
auf Kypern F^qv/os, dvfdvoi, EvfayoQÖ, 'Aar 86xsvfa6€, vfalg Hoif-
mann Gr. Dial. 1, 195 fg. Kyprisch ifQsräaatv steht vielleicht
auch auf derselben Stufe wie gortyn. «/toV, sicherlich ist das aber
der Fall bei dem bisher verkannten 0 • vo ' Ica ' re, das man unrichtige
(ygl. auch Sommer Glotta 1, 154) ov yuQ zu umschreiben pflegt,
während man 6/ yccQ schreiben muß. Dieses 6/ yäg ist also ganz
so zu verstehen wie öTtopdddv aus Vaxos. Auch im kyprischen
Diphthong hat sich das v zum / hin verschoben. Aber hier haben
wir auch svfQlxaaaxv daneben. Ist das eine Vermischung phone-
tischer und historischer Schreibweise, oder hat sich im Kyprischen
vor dem q hinter dem Diphthong sv, der, nach äol. evqdyri zu ur-
teilen , von alters her beim Augment der mit / + Konsonant be-
ginnenden Verba berechtigt war, der Übergangslaut f = '* einge-
stellt? Auch xsvevj'ov kaim jetzt verständlich werden. Hier ge-
hörte das etymologische n zur Silbe des folgenden 0. Klang da
der Laut in dem an 0 angrenzenden Teil vielleicht ein wenig
anders, mehr zum 0 hin als der erste Teil, und hat das der Schreiber
durch vp bezeichnet? Man vergleiche übrigens das weißrussische
tivajsuoyi bei Berneker Slav. Chrestomathie S. 102 für g«oßr. vosol
und weiter Schreibungen wie got. übadila usw. in lateinischen Ur-
kunden, Braune Got. Gramm.* 23 u. ä.
Wenn intervokalisches f spirantisch wurde, konnte das aus
dem Gleitlaut hervorgegangene p ebenfalls spirantisch werden,
wofür lakonische Schreibungen wie EvßdvoQog, EvßdXx^i^g, GDI IV,
S. 707 Zeugen sind. Dasselbe scheint von dem stimmhaften Di-
gamma im Pamphylischen zu gelten, in 2J£Xv}huvg, ferner a}\tat6i,
da he^ora ja rjßcota zu sein scheint und die Grammatiker pam-
phylisches / durch ß wiedergeben : dahin werden Meillets Bemer-
kungen Glotta 2, 26 fg. richtig zu stellen sein. Als eine Parallel-
erscheinung aus einer andern Sprache erwähne ich aus einer nord-
preußisch-litauischen Mundart Je(;a5^ = jei cisb Mit. lit. lit. Ges. 2, 31.
Auch außerhalb des Gebietes, das / bewahrt hat, findet man
den Gleitlaut durch p dargestellt: auf jonischem und attischem
Silbischer und unsilbischer Laut gleicher Artikulation usw. 149
Gebiet in afvto, vafvTCiiyög usw. GrDI IV, S. 925 Meisterhans-
Schwyzer Gramm, att. Inscbr.* 3, Anm. 15. Wiederum beweist die
Stellung vor einem u derselben Silbe, daß mit / ein Laut zwischen
0 und u gemeint sein wird, da ja Spirant ausgeschlossen scheint.
Zu diesem Ergebnis, daß der im Diphthong entwickelte Grleitlaut
einem o nahe kam, stimmt sehr gut die Darstellung des ganzen
zweiten Teils des Diphthongs durch o, wie sie besonders auf jo-
nischen und inseldorischen Inschriften bezeugt ist mit eo, ao für
^v, av^ s. Brugmann-Thumb* 60.
Besondere Erwähnung verdient der Übergangslaut in dem rho-
dischen Grenetiv Uaöiadafö GrDI 4247 u. a. vgl. Brugmann-Thumb*
263, weil er zwischen a und o kaum ein o-haltiges ii gewesen
sein wird ; denn wenn man von einem a zu einem o gelangen will,
stellt sich nicht ?* als Gleitlaut ein. Ganz ähnlich steht es mit
jonisch 'Ayaßuk'efö Jahrb. arch. Inst. 1899, Anz. S. 142. War hier
/ vielleicht zum orthographischen Zeichen des Silbentrenners zwischen
Vokalen herabgesunken, wie bei uns in ich gehe oder in lat. ahenus
s. Sommer^ 154 Anm. 192 und ähnlich im Oskisch-Umbrischen s.
v. Planta I, 60 h ohne etymologische Berechtigung gebraucht wird ?
Eine ganze Anzahl von Beispielen mit / zwischen «, ri oder i und
o bringt R. Meister BSGW 1911, 25 aus dem Kjrprischen und Alt-
phrygischen. -^
Manchmal finden wir / vor o, w auch in denjenigen Mund-
arten, die / mit o, co vereinigt haben. So wird /(5? in Gortyn mit
p geschrieben und zeigt bei Homar Digammawirkung. Aus den
andern Mundarten, die / mit o-Laut verbunden haben, fehlt ein
Beleg dieses Wortes. Sollte aber /dg wirklich, wie Brugmann-
Thumb* 46 annimmt, Analogieform sein? Undigam viertes ön^ ist
nur beweiskräftig, wenn in seinem ersten Stück wirklich *suod-
steckt, was ich bezweifle, s. Griech. Forsch. I, 229, Ist etwa nur
ungedecktes/ mit o/co zusammengeflossen, das aus <?/ entstandene,
sogenante stimmlose nicht? Verrät sich darin vielleicht aspirierte
Aussprache des stimmlosen /? Der Hauchlaut zwischen / und
o/o3 war ja wohl geeignet , die Vereinigung zu verhindern. Die
Festigkeit des / war jedenfalls im Griechischen ganz anders auf
die Stellung in der Silbe verteilt als in den bisher besprochenen
Sprachen. Auch hinter inlautendem Konsonant hielt sich / vor
o, CO in manchen der Mundarten, die es im ungedeckten Anlaut mit
o, CO verbanden; die äolische Mundart, die hinter Homers Sprache
steckt, war allerdings vielleicht davon ausgenommen, s. unten S. 154.
Eine besondere Stellung nehmen Personennamen ein, weil sie
auch aus andern Mundarten stammen können. Wie steht es da
250 EduardHermann,
aber mit dem Kyprischen ? Wir haben Hoömann Grr. Dial. I, S. 193*
'EaiÖQOS, VvccötöQog, aber Ttfto/o[()ö], ftgodogö? Sind die Formen^
mit / nicht dialektecht? Es kommt hinzu, daß vielleicht auch
d-vQafö[Q6g] anzuerkennen ist, ein Wort, das leider nicht so sicher
steht, wie Hoffmann S. 95 glaubt. Die neue Inschrift SBA 1910,
151 liefert dazu noch Zö/oqö^ das durch Haplologie aus ^ZöfofÖQÖ
entstanden sein wird, nach Zöfo^e^ig BSGW 1911, 32 zu urteilen.
Ist etwa nur pöqoöoqö nicht dialektecht oder falsch gelesen, und
^ in 'fÖQog auf den Inlaut zu schieben? Aber fast sieht es doch
vielmehr so aus, als ob /- vor o/o im Kyprischen nicht geschwunden
sei; sind dann Wörter wie OQxog, ojvvd aus andrer Mundart ins
Kyprische gewandert? Oder steht es so wie auf Kreta und i»
Arkadien, s. S. 14. Das Richtigste ist wohl, mit dem Urteil, wie
es Solmsen KZ 32, 287 tat, zurückzuhalten, bis neue Beispiele einen
sicheren Schluß erlauben. Ich habe daher oben S. 144 bei Auf-
zählung der Mundarten die /- mit olo haben verschmelzen lassen,
hinter das Kyprische zwei Fragezeichen gesetzt. Jedenfalls geht
es aber nicht an, so wie es bei Brugmann-Thumb* 46 geschieht, das
Kyprische ohne Einschränkung für diesen Lautwandel anzuführen.
Die Aussprache des / möchte ich noch etwas weiter verfolgen 1
Solmsen hatte Untersuch. 129 fg., besonders 161 fg. für Homer im
Anlaut die Aussprache u und Silbentrennung vor dem vorausgehenden
Konsonanten aus dem Fehlen der Position in Thesis bei auslautendem
V, Q vor anlautendem / festgestellt und in der Weiterentwicklung
von inlautenden vj", qJ", kß ohne Ersatzdehnung z. B. im Attischen
eine Bestätigung hierfür gefunden. Einem solchen Resultat hat
Danielsson IF 25, 264 fg. für Homer widersprochen und dagegen
S. 274 fg. vier Einwände formuliert. Diese sind nach meiner Über-
zeugung alle vier nicht stichhaltig. Daß die Silbenanlaute nn und
ru im Griechischen und den andern indogermanischen Sprachen
sonst nicht vorhanden oder äußerst selten sind, ist ebensowenig
ein ernstlicher Einwand wie die Tatsache, daß im Indischen und
Lateinischen Silben vor nu und ru Position erleiden. Auch daß.
der Vergleich mit Muta + Liquida nicht stimmen soll, Will nicht
viel besagen. Der Unterschied, den Danielsson herausliest, besteht
noch dazu nicht ganz so. Es ist allerdings richtig, daß Muta und
Liquida im Griechischen stets Position bilden, wenn sie zwei ver-
schiedenen Wörtern angehören. Aber Danielsson übersieht, daß-
diese zwei Wörter, weil nur ix in betracht kommt, immer einen
Konnex bilden, der auch bei -v, -q + /- im Epos jederzeit Position
gelten läßt.
Am schwersten wiegt scheinbar der an erster Stelle gemachte^
Silbischer und unsilbischer Laut gleicher Artikulation usw. 151
Einwurf, auf den Danielsson selbst am wenigsten Grewicht legen
will. Wenn im lockeren Wortverband wie A 106 in xg^yvov einag
ebenso wie im kompositionellen Inlaut z. B. A 555 in jcagsCTty der
auslautende Konsonant zur folgenden Silbe gezogen, dagegen im
engeren, enklitischen Konnex wie a 239 in tc3 xev ol die beiden
Konsonanten getrennt werden, so scheint das allerdings ein sonder-
barer Widerspruch zu sein. Ich sehe aber nur nicht, daß er für
Solmsens Theorie verhängnisvoller ist als für die Danielssons. Ganz
gleichgültig, ob man / für Homer anerkennt oder nicht, wird man
naQSiitri mit der Messung des x4.nlauts im lockeren Wort verband
entweder nur daraus erklären können, daß die Wortstellung xev
ol älter sein wird als itag vor sim^^ oder daraus, daß sich unri in
nagsCnri analogisch nach dem Anlaut des Simplex gerichtet hat.
Der schwedische Gelehrte hat leider keinen Versuch gemacht, den
Widerspruch mit seiner eigenen Theorie in Einklang zu bringen.
Aber obwoEl ich seine vier negativen Argumente gegen Solmsen
nicht anerkennen kann, stimme ich doch mit seinem Urteil (S. 276 fg.)
über / bei Homer überein: Das einst vorhandene Digamma war
im Wortanlaut geschwunden. Die andre Möglichkeit, die er noch
offen läßt, daß / wenigstens stark reduziert war, muß ich ab-
lehnen; denn ich kann mir unter diesem reduzierten Laut nichts
Rechtes vorstellen. Ich meine vielmehr, daß Homer (der oder die
Dichter der Ilias und Odyssee) als Jonier / sogar im Wort-
inlaut nicht mehr sprach. Wenn er seine Dichtung niederge-
schrieben hätte, würde er nirgends / gesetzt haben. Wohl aber
respektierte er, den Gesetzen der epischen Kunst entsprechend,
in der Mehrzahl der Fälle noch die ehemalige Wirkung dieses
Konsonanten, wie ja auch Herodot noch ov ol und die jonischen
Jambiker ov8b ol anwenden, s. Wackernagel Sprachl. Unt. Homer
108 = Glotta 7, 268 und Danielsson IF 25, 278. Für diese Ansicht
scheinen mir folgende Gründe ausschlaggebend zu sein : 1) Kürzung
eines langen Vokals und Elision sind nur verständlich, wenn das
folgende / überhaupt nicht mehr gesprochen wurde. Die Zahl
dieser Fälle ist zu groß und ihre Verteilung auf die Gesänge der-
artig, daß es nicht angeht, alle in Betracht kommenden Verse als
jüngeres Machwerk zu verdächtigen. 2) Der Dichter der lUas wie
der Odyssee war ein Jonier; was an Wirkungen ehemaligen Di-
gammas vorliegt, scheint äolisch zu sein. Bei Annahme einer
fremden Mundart pflegt man aber seine eigenen Laute zu substi-
tuieren und einen fremden Laut überhaupt nicht so leicht aufzu-
nehmen, vgl. Griech. Forsch. 1, 216. 3) Unsere Überlieferung weiß
nichts von einem Digamma bei Homer, obwohl sie diesen Laut der
152 Eduard Hermann
lesbischen Lyrik zuerkennt. Das wird kein Zufall sein. Ich glaube
daher, daß / nicht in den Homertext gehört. Solmsen scheint aber
gemeint zu haben, daß / da zu schreiben sei, wo seine Wirkung
verspürt werde ; ebenso verstehe ich die Darlegungen Meillets
MSL 16, 31 fg. Es wäre nur wünschenswert, wenn jeder Grelehrte,
der f bei Homer behandelt, sich über diesen Punkt so deutlich
wie z. B. Cauer Grrundlagen*^ 155 ausspräche und nicht dabei im
Unklaren ließe, wie er im einzelnen Fall für F den Text gestaltet
sehen möchte, v. Wilamowitz' Vorschlag, Die Ilias und Homer 10
Anm. 2, / als eine Form des Spiritus in den Texten zu verwenden,
hätte nur eine Berechtigung, wenn / bei Homer ein reduzierter
Laut war. Wurde / dagegen von dem Dichter nicht mehr ge-
sprochen, dann darf auch kein Zeichen dafür eingesetzt werden,
wenn auch die Wirkung des Vau manchmal noch zu spüren ist.
Diese Wirkung zeigt sich noch in der Position eines Konnexes
wie xev ol gegenüber der Kürze bei lockerem Wortverband wie
in xQYJyvov eiTtag. Mit Recht hat Danielsson in der Position die
über den Schwund des / hinaus in der altertümlichen Dichter-
sprache noch andauernde Kraft des einstigen Konsonanten gesehen.
Die äolischen Vorgänger Homers sprachen / noch, Homer selbst
hat nur die Technik der äolischen Positionsbemessung vielfach
beibehalten , ohne den ihm fremden Laut zu übernehmen. Die
Äolier vor Homer sprachen / als Halbvokal im Anlaut, also in
^QYiyvov siTcag und in TcaQscTtt], dagegen vielleicht als Spirant im Inlaut,
also auch in Ttev ol. Solmsens für Homer ausgedachte Verteilung der
Aussprache und der damit zusammenhängenden Positionsbildung, die
nur vor dem Spiranten, nicht vor dem Halbvokal möglich war,
gilt also nicht für den Dichter der beiden großen Epen, sondern
höchstens für die äolischen Vorgänger. Jetzt erst wird alles recht
verständlich. Da Homer / überhaupt nicht mehr kannte, verstieß er
in der Kurzmessung in der Fuge xQrjyvov slnag natürlich gar nicht
gegen die hergebrachte Technik ; die auslautenden Vokale vor ehe-
maligem / des Wortanlautes dagegen behandelte er, wenn auch
nur manchmal, auch nach Maßgabe seiner eignen Aussprache in
Gegensatz zur überlieferten Dichtersprache.
Daß man sich /- bei Homer so, wie auseinandergesetzt, zurecht
legen muß, bestätigen die von Meillet MSL 16, 31 fg. aufgedeckten
Tatsachen. Danach ist erhaltene Länge eines langen Vokals oder
Diphthongs in Senkung keineswegs ohne weiteres das Normale
vor digammatischem Anlaut, sondern nur in syntaktischen Kon-
nexen und in formelhaften Wendungen. In Ausdrücken, die nicht
formelhaft auftreten, wird gekürzt. Also hat Homer anlautendes
Silbischer und unsilbischer Laut gleicher Artikulation usw. 153
Digamma nicht mehr gesprochen, er hat nur eine Zahl von For-
meln und syntaktischen Gebilden mit der alten Messung bewahrt.
Das stimmt auch genau zu den Ausführungen Danielssons, daß
Hiat wie Erhaltung der Länge vor /- bei Homer auf ganz be-
stimmte Fälle beschränkt ist. Es zeigt sich eben in jeder Bezie-
hung, daß / bei Homer anders behandelt ist als ein wirklicher
Konsonant. Demnach ist es verkehrt, mit Meillet S. 41 fg. die
fehlende Positionslänge vor /- in der Wortfuge in Anschluß an
Sommer Grlotta 1, 145 fg. mit Homers Scheu vor Position in der
Fuge überhaupt oder auch nur mit der entsprechenden Erschei-
nung bei Muta cum Liquida und bei a- + Konsonant oder t,- auf
eine Stufe zu stellen. Vor diesen Lauten wird nicht wie vor ge-
schwundenem .F- irgendwo Länge gekürzt oder Kürze elidiert. Die
Positionsbildung hier wird nicht radikal außer in Konnexen ver-
nachlässigt, sondern, wenngleich der Dichter Positionsbildung in
der Fuge nicht gerne anwendet, so herrscht doch auch Vernach-
lässigung der Position nicht unumschränkt, sondern erscheint bei
Muta -f Liquida 564 mal unter 604 Fällen in jambisch-anlautenden,
sonst nicht verwendbaren Verbindungen, während (7- -f Konsonant
und l' gar 27 mal unter 27 Fällen so vorkommen.
Wir gelangen also zu dem Ergebnis, daß zwar Homer (bez.
die beiden Dichter derllias und Odyssee) anlautendes
/- vor Vokal nicht mehr gekannt hat, daß es aber in
der äolischen Dichtersprache, in der vor Homer das
Epos gepflegt wurde, ein Halbvokal gewesen sein
muß, und zwar war es da ein Mittellaut zwischen u
und 0. Wenn vor diesem Halbvokal einst Elision und Vokalkür-
zung ausgeschlossen waren, während sich beides vor Vokal fand,
so ist man berechtigt zu fragen, worauf denn dieser Unterschied
beruhe. Die Antwort wird lauten müssen, daß er ebenso wie
bei Elision vor Vokal, aber Hiatus vor v^ j im Latei-
nischen durch dasselbe Prinzip bedingt ist wie der
Unterschied in der Anwendung des englischen Ar-
tikels an, a vor Vokal oder vor it\ j.
Im Inlaut hinter Konsonant lagen die Verhältnisse anders.
Hier war / nicht etwa im Jonischen geschwunden und im Aolischen
Halbvokal, denn unter diesen Umständen würde sich hom. teivos
überhaupt nicht erklären lassen. Diese Form setzt voraus, wie
Solmsen richtig erkannt hat, daß / hinter Konsonant einmal
Spirant geworden war. Über Kürze vor ehemaligem / hinter A,
V, Q hat uns Wackernagel Grlotta 7, 280 fg. aufs beste belelirt.
Nur das will ich hier noch hervorheben, daß bei Beurteilung dieser
154 Eduard Hermann,
Präge im Griechischen überhaupt Wörter wie jt^ö^svog und Koga
nicht recht zu einer Entscheidung geeignet sind, weil sie leicht
entlehnt sein konnten — eine Möglichkeit, die auch Bück Greek
dialects 47 hervorhebt. Außerdem ist aber nicht zu vergessen,
daß manche derjenigen Mundarten, die anlautendes f mit o/co zu-
sammenwachsen ließen, vielleicht auch im Inlaut, z. B. in dem Pa-
radigma von ^evog u. a. das / in einer größeren Zahl von Formen
lautgesetzlich verlieren mußten. Könnte etwa im Lesbischen ^avog
die lautgesetzliche Gestalt, ievvog die Fortsetzung der analogisch
wiederhergestellten Form ^evfog sÄn,- dessen / später spirantisch
wurde, ehe es assimiliert ward ? ^swog u. a. brauchte dazu nicht
unbedingt eine Erfindung späterer Zeiten zu sein, wie das z. B.
Schulze Quaest. ep. 6 Anm. und ßrugmann-Thumb* 47 annehmen.
Die Beispiele bei HofFmann Griech. Dial. II, 480 kann man sich
danach wohl zurecht legen. Auch für die homerischen Formen
sga^ed^a, ^lovco^sig u. a. könnte der berührte Gesichtspunkt von
Bedeutung sein. Über die Schwierigkeit der Kurzmessung bei svexa
bringt am besten Fraenkels Vorschlag BphW 1917, 420, evvxa ein-
zusetzen, hinweg.
So können wir also / im Griechischen in zwei verschiedenen
Artikulationen nachweisen : als u und in jüngerer Zeit als Spirant.
Bei Yorantritt des Augments und der Reduplikation ist nur in
älterer Zeit / vor Konsonant noch Halbvokal gewesen, später
sehen wir es über Spirant hinweg assimiliert. In einer Form
wie argiv. fs/ge^sva kann aber das zweite / sehr wohl Halbvokal
sein, man muß dann nur annehmen, daß es tt war und in der Aus-
sprache von argirischem v abwich.
Wörter mit der Lautfolge fv oder v/ innerhalb einer Silbe
sind aus dem Urindogermanischen nicht ins Griechische gekommen
mit Ausnahme etwa von Partizipien wie hom. Tistpvvta, das aller-
dings auch analogisch neugebildet sein kann zu Ttscpvag. Da oben-
drein / in Ttscpvvia nicht vorhanden ist, verzichte ich auf eine Aus-
beutung dieser Form für die Aussprache.
Über die Fortsetzung des idg. i im Griechischen läßt sich
nicht viel sagen. Der Laut ist ja im Anlaut Spiritus asper ge-
worden, bez. geschwunden, im Inlaut zwischen Vokalen über Spi-
ritus asper hinweg ebenfalls geschwunden ; hinter Konsonant hat
er diesen mouilliert.
Ob auch hier als altererbt aus alter Zeit die tautosyllabische
Verbindung von i mit i fehlte, bleibt unsicher. Gelegenheit hierzu
war in der Praesensreduplikation der mit i einst anlautenden Verba
gegeben, wo natürlich nach etwa vorausgegangener Verschmelzung
Silbischer und unsilbischer Laut gleicher Artikulation usw. 155
eine analytische Neubildung eintreten konnte. Hier kämen wohl
lantG) und n^^t in betracht. Ob beide auf der Stufe von indisch
iyal(mü oder auf der der analogischen yiyakmti stehen, können wir
in beiden Fällen nicht entscheiden. Bei IdcTttG) ist der Spiritus
lenis nicht ausschlaggebend, weil das Wort homerisch ist, bei Üem
attischen ltjiil der Asper ebenso wenig, weil die Aspiration wie
bei BVG) aus .^ von dem Inlaut herstammen könnte (Sommer Griech.
Lautstudien 1 fg.) ^).
Da, wo L später für den Übergangslaut zwischen t und Vokal
geschrieben wird (Brugmann-Thumb^ 44), so besonders im Ky-
prischen und Pamphylischen , kann es ebenso gut Halbvokal wie
Spirant bedeuten. Die Schreibung mit y auf Papyri (Mayser
Gramm, griech. Papyri 167 fg.) weist wohl auf spirantische Aus-
sprache hin. Hierunter gibt es auch Beispiele mit l hinter j, z. B.
MvTJ'ysLog = Mvr}{og. Wenn umgekehrt der ehemalige Verschluß-
laut y hinter t gar nicht mehr geschrieben wird, s. Mayser 164,
wie in smovfjg, viaCvo^isv , so ist das nicht notwendig der Beweis
dafür, daß y zum Halbvokal geworden war. Falls die Auslassung
nicht überhaupt nur orthographisch ist, veranlaßt dadurch, daß in
Fällen wie vytyaCvrjg (Mayser 168) das zweite y den mit altem y
zusammengefallenen Gleitlaut darstellt, der in der historischen
Orthographie gar nicht geschrieben wurde, so sind eben i und j
wegen ihrer Ähnlichkeit in i verschmolzen. Möglich wäre es, daß
dies irgendwo in ägyptischer Aussprache so war; es kommt mir
aber gar nicht wahrscheinlich vor, weil dann der Gleitlaut zwischen
i und dunkeln Vokalen fehlen würde, während er sich doch sonst
gerade hier eingestellt hat. Die neugriechische Aussprache, die
spirantisch ist, zeigt j vor i erhalten, z.B. ysttovag = jitonas,
yvQog = jiros, Thumb Handbuch der neugriech. Volkssprache 1.
Sämtliche bisherige Sprachen haben gezeigt, daß u eine Zeit-
lang zum Teil ein offenes u war ; so weit ältere Sprachperioden in
Betracht kamen, konnte die Feststellung dadurch gemacht werden^
daß die Sprachen o-Laut haben ; das Arische, das von o keine Spur
mehr zeigt, läßt von u nichts erkennen, vielleicht eben nur darum^
weil 0 nicht vorhanden war.
Die indischen Grammatiker definieren v als labiodentalen Spi-
ranten, s. Wackernagel Altind. Gramm. I 223. Es ist also kein
Wunder, wenn wir die Lautverbindung vu im Anlaut wie im Inlaut
antreffen, so im Anlaut in vud, vürya, vüs, vurlta. Wir haben aber
1) Nicht behandle ich hier den Schwuud des intervokalischeu aus si ent-
stehenden ü, der sich vielleicht nur in Verbindung mit folgendem *, f t, tj, Tjt voU-
yieht, vgl. meine Abhandlung über Silbenbildung.
156 Eduard Flerraann,
Anlaß anzunehmen, daß das erst jüngere Bildungen sind, s. Osthoff
Morph. Unters. 4, X Anm. ; mit vii im Anlaut ist keine idg. Form
ins Indische gekommen, kein isoliertes Wort kennt vu. ' Wir sehen
dagegen noch, daß sich v mit folgendem u verbindet, das ist der
Fall in der Fuge, wenn -civ vor anlautendes w zu stehen kam,
Wackernagel ai. Gr. I 323. Dasselbe ist vielleicht auch der Fall
im Innern eines Wortes, wofür sich nur das Beispiel ai. yos^ av.
yao^ anführen läßt, falls hier wirklich an den Stamm auf -av- das
Suffix US angetreten ist; hier wäre dann weiter a mit 'ii zu einer^
Silbe verbunden worden. Es ist darum sehr wohl möglich, daß
auch Formen wie susruvus, susiiviis, hoh/uir?isi erst innerhalb des
Indischen neugebildet worden sind. Man wird aber auch die Mög-
lichkeit offen lassen müssen, daß hier ein urindogermanisches Erb-
teil vorliegt s. oben S. 111 fg. Für den Anlaut haben wir außer in
^er Fuge keine Beispiele der Verschmelzung von v mit u, wenn
nicht die mit sonantischen Liquiden hinter v hierherzuziehen sind,
z. B. ai. ürriä 'Wolle' aus angeblichem '^ulna. Ich will diese bei
Seite lassen, weil ich der Ansicht bin, daß man hierüber nicht ur-
teilen kann, ohne die 2<-Entwicklung vor den Liquiden in allen
Sprachen und nicht nur hinter idg. u zu behandeln. Zur Zeit der
Verschmelzung ist v vermutlich noch Halbvokal gewesen; nicht
vorsichtig genug in der Ausdrucks weise ist darin Wackernagel
197. Hervorheben will ich noch einmal, obwohl das eigentlich
überflüssig sein sollte, daß aus dem Wechsel zwischen u bez. i
vor Konsonant, v bez. y vor Vokal über die Aussprache des v, y
im Altindischen nichts zu ersehen ist, sondern daß dies höchstens
für eine frühere Zeit, als der Wechsel entstand, gelten kann.
Jedes später hinzukommende Wort konnte sich, auch bei spiran-
tischem t', analogisch dem Wechsel anschließen. So weit wir zurükr
blicken können, ist v aber, als es noch Halbvokal war, einem u in
der Artikulation ähnlich gewesen. Ob er mehr offen oder ge-
schlossen war, läßt sich daraus nicht ersehen.
Wie V hat auch / (^) sein besonderes Zeichen in den alt-
arischen Sprachen. In Formen aus idg. Zeit finden wir anlautendes
y nie vor i, also nicht innerhalb einer Silbe. Doch sind Wörter derart
wohl vorhanden wie ai. YHtha, reduplizierte Formen wie yiyaMati,
yiyaksu, yiyavi^u, yiyäsä, ylyasü oder av. Yima, yini. Das sind lauter
jüngere Wörter und Bildungen, s. Osthoff a. a. 0. Im Avestischen
sind sie durch Umlautung eines a in i entstanden, im Altindischen
sind es außer dem Namen Yütha Analogieformen; das Altere liegt
in iyalsati, lyalsu vor. Auch im Inlaut scheint i mit i zusammen-
geflossen zu sein, wenn man ai. i'resthaSj av. sraesto u. a. richtig
Silbischer und unsilbischer Laut gleicher Artikulation usw. |57
als Bildungen auf -?6-, das an einen -/-Diphthong angetreten ist,
auffaßt ; Lokative wie dhiyi, maiji, trayi u. a. sind dann Analogie-
formen. Aber ganz sicher läßt sich das nicht ausmachen. Auch
die vedischen Lokative gam% sarasl (Macdonell Vedic grammar 271)
führen keine Entscheidung herbei, da die mehrsilbigen Stämme
dieser Art in den andern schwachen Kasus auf -i-, nicht wie die
einsilbigen auf -iy- ausgehen. Sind die Superlative crcHthas usw.
richtig beurteilt, dann wird man nicht mit Bartholomae Grundr.
iran. Philol. I, 31 und Brugmann Grundr.^ I, 268 ii erst im Ur-
arischen zu i werden lassen. Anlaß zu dem Ansatz eines idg. ii^
natürlich mit /, liegt nicht unbedingt vor. Mit -i dagegen verband
sich vorausgehendes -i zu -t im Altindischen z. B. mcdlkr 'eggen',
s. Wackernage], M^langes Saussure 129, vgl. oben S. 136. Jeden-
falls genügen iyaksati usw. für die Annahme, daß % auch im Arischen
einmal Halbvokal war und erst in den einzelnen arischen Sprachen
zum Spiranten geworden ist, der neben sich ein / natürlich leicht
duldete.
4. Die fünf wichtigsten Zweige der indogermanischen Sprachen
haben uns dasselbe Ergebnis geliefert: die Laute, die wir als
i und u zu rekonstruieren gewohnt sind, waren in den
älteren Stufen dieser Sprachen Halbvokale. Wir
dürfen nicht daran zweifeln, daß sie das auch im Ur-
indogörmanischen waren. Wörter mit dem indogermanischen
Anlaut i- oder u und dem entsprechenden indogermanischen So-
nanten hat es in den älteren Stufen der fünf indogermanischen
Sprachzweige nicht gegeben, sie sind erst durch Veränderungen
der Sonanten hinter jj, ii später entstanden, sie werden also im
Urindogemanischen nicht vorhanden gewesen sein ^). Das könnte
darauf schließen lassen, daß im Urindogermanischen i und ii in
der Artikulation den Sonanten i und u näher standen als z. B. im
Slavischen. Der Schluß wäre voreilig; denn wenn es nur den
Anlaut /, w aber nicht i'i, nu, d. h. etwa ii, uu, gab, so darf man
nicht vergessen, daß auch Wurzeln, die mit *iei-, "^ueu- oder ähnlich
begännen, nicht vorhanden waren. Wohl gab es Wurzeln, die
auf beiden Seiten der Sonanten Verschlußlaute hatten, aber nicht
solche, bei denen der Silbenträger von zwei / oder zwei ti um-
geben war. Daß die Tiefstufe dazu ebenfalls fehlte, braucht also
nicht an der Aussprache der i, ii als Halbvokale derselben Arti-
kulation wie i, u zu liegen. Der Vergleich der fünf Sprachen
führt ja, so weit sich eine genaaiere Aussprache feststellen ließ,
1) Vgl. Bartholomae IF 9, 271 und Zur Buchenfrage HSß 1Ö18, S. 11.
158 Eduard Hermann,
eher auf offenes j und n. Mit folgendem a oder o verschmolzen
diese Laute aber nicht, der Anlaut He- oder *ij.o- war geläufig.
Im Inlaut gab es bereits im Urindogermanischen innerhalb der
Flexion Gelegenheit für / und 21 mit folgendem i bez. n .7.. B. für
i + e im Grenetiv-A.dverbialkasus der io-Stämme für i + i im Lokativ
Sing, der i-Stämme, für ii + u im Partiz. Perf. Daß i -\-i zu. indo-
germ. i wurde, legen das Lateinische, Keltische, Altindische nahe,
s. Wackernagel, Melanges Saussure 129. Dagegen ob hier -ii, -uii
gesprochen wurde oder die Laute zusammenflössen, wird schwer zu
entscheiden sein. War letzteres der Fall, dann wurde der Lokativ
der i-Stämme, die Brugmann Grrandr.^ II, 2, 182 mit -eil ansetzt,
auf -ei bez. -ei gebildet. Damit gewänne man nicht, nur eine ein-
fache Erklärung z.B. für abulg. hösti^ sondern man könnte auch
die andern mit den reinen Stämmen übereinstimmenden Lokative
als Analogiebildungen ansehen. Ich will derartiges nicht noch
weiter ausspinnen. Das aber läßt sich wohl mit Bestimmtheit
sagen, daß i und n im Urindogermanischen Halbvokale waren,
J. Schmidt war also Sonantentheorie 10 mit dem Ansatz ;, w als
Spiranten im Unrecht.
Auch in einer andern Beziehung hat J. Schmidt nicht scharf
genug gesehen. Er war der Meinung, daß wir nicht wissen könnten,
ob in den Diphthongen der zweite Bestandteil Konsonant war oder
nicht. Ich vermute, daß er Konsonant war. Wenn z. B. im Op-
tativ die 3. Person Pluralis '^bheropifo nicht '^bherointo lautete, vgl.
OsthofF MU IV, 1, 285, Wackernagel Glotta 7, 249 fg. = Homer 89 fg.,
so muß wenigstens in diesem Fall 0 allein Sonant gewesen sein:
im andern Falle würde man dahinter m, n als Konsonant erwarten
dürfen. Umgekehrt läßt sich aber aus (psQoivto usw. kein Schluß
ziehen, n als Konsonant verträgt sich ebensowohl mit vorausge-
hendem i wie i derselben Silbe. Andrerseits legt eine Form wie
z. B. *<j^öm {ßa)v, ai. gäftt) nahe , daß im Urindogermanischen we-
nigstens gewisse Langdiphthonge ebenfalls nur den ersten Teil des
Diphthongs sonantisch hatten; denn *(j"öm stammt von "^^g^Öum her,
indem es wohl ein h, aber nicht ein sonantisches u verloren haben wird.
Für die Beurteilung der Aussprache des i, u in den Einzel-
sprachen ist diese Erkenntnis leider nicht verwendbar, da der
zweite Teil eines Diphtongs* andern Bedingungen unterliegen kann
— auch wenn er konsonantisch ist — als ein konsonantisches l, ii
in andrer Stellung. Die Aussprache des zweiten Bestandteils der
i- und M-Diphthonge zu untersuchen , habe ich daher bei der vor-
liegenden Arbeit nicht für nötig gehalten.
Silbischer und unsiljjischer Laut gleicher Artikulation usw. 159
Nachschrift.
Der voraufgehende Aufsatz hat wegen Papiermangels bei der
Kuhnschen Zeitschrift über zwei Jahre auf den Druck warten
müssen, so daß ich mich endlich entschlossen habe, ihn hier zum
Abdruck zu bringen. Die Neuerscheinungen habe ich, so gut es
ging, nachgetragen und habe Veränderungen vorgenommen. Manches
habe ich aber nicht verbessert, im besondern nicht einiges über
Silbentrennung, an der ich zur Zeit wieder arbeite. So ist es mir
zweifelhaft geworden, ob die Aolier vor Homer, wie ich es S. 152
ausgesprochen habe, inlautendes / hinter Nasal oder Liquida als
Spirant gesprochen haben. Falls im Lesbischen in späterer Zeit
das Digamma in dieser Stellung restlos geschwunden sein sollte,
wird man halbvokalische Aussprache für die äolische Dichtung vor
Homer auch im nachkonsonantischen Inlaut anzunehmen haben.
Dann müßte man aber Kurzmessungen wie in XQYJyvov slicag doch
mit Hülfe von Sommers Theorie Glotta 1, 145 fg. zu erklären ver-
suchen, worüber ich mich nicht weiter auslassen will.
An Verschmelzungen von i mit f läßt sich noch nachtragen,
daß die lateinischen Formen ely cui dafür in betracht kommen,
womit sich andre Möglichkeiten als bei Herbig IF 37, Anz. 37 er-
geben. Auch der Dativ der i-Deklination auf -jei könnte für das
Lateinische wie für das Baltisch - Slavische auf diesem Weg er-
klärbar sein, indem sich i, nachdem ei zu e oder ^ geworden war,
mit diesem verband ; damit könnte man Meillets Theorie MSL
18, 378 fg. umgehen.
Berichtigung.
S. 134/5 ist vapor statt vaper zu lesen.
I
über einige alttestamentliche Handschriften des
Abessinierklosters S. Stefano zu Rom.
Alfred Rahlfs.
Vorgelegt in der Sitzung am 17. Mai 1918.
Chaine = M(arius) Chaine, Un monastere ethiopien ä Rome au XV« et XVIo
siecle, S. Stefano dei Mori: Universite Saint- Joseph, Beyrouth (Syrie). Me-
langes de la Faculte Orientale. V, fasc. 1 (1911), S. 1—36. Mit einer Tafel.
Di lim. Bodl. = Catalogus codicum manuscriptorum Bibliothecae Bodleianae Oxo-
niensis. Pars VII: Codices Aethiopici. Digessit A. Dillmann. Oxonii 1848.
Dil Im. Oct. = Biblia Veteris Testamenti Aethiopica ed. Aug. Dillmann. Tom. I:
Octateuchus. Lips. 1853( — 1855). Die Zitate beziehen sich stets auf die
besonders paginierte „Pars posterior, quae continet apparatum criticum".
Flemming 1 und 2 = J. Flemming, Hiob Ludolf: Beiträge zur Assyriologie,
hrsg. V. Fr. Delitzsch u. P. Haupt 1 (1890), S. 537—582, und 2 (1891 resp.
1894), S. 63—110.
Juncker = Commentarius de vita, scriptisque ac meritis illustris viri lobi Lu-
dolfi . . . Auetore Christiano lunckero . . . Lips. et Francof. 1710. Diese
Lebensbeschreibung beruht größtenteils auf eigenen Aufzeichnungen Ludolfs,
s. Junckers Vorrede.
Ludolf Comm. = lobi Ludolfi alias ßeüt^olf dicti Ad suam Historiam Aethio-
picam antehac editam Commentarius. Francof. ad M. 1691.
Platt = Th. Pell Platt, A catalogue of the Ethiopic biblical mss. in the Royal
Library of Paris, and in the Library of the British and Foreign Bible So-
ciety; also some account of those in the Vatican Library at Rome. London
1823.
Rahlfs Niss. u. Petr. = Alfred Rahlfs, Nissel und Petraeus, ihre äthiopi-
schen Textausgaben und Typen: Nachrichten der K. Gesellschaft d. Wiss.
zu Göttingen, Philol.-hist. Kl. 1917, S. 268—348.
Roupp = N. Roupp, Die älteste äthiopische Handschrift der vier Bücher der
Könige: Zeitschrift für Assyriologie 16 (1902), S. 296—343. Mit vier Tafeln.
Kgl. Oes. d. Wiss. Nachrichten. Phil.-hist. Klasse. 1918. Heft 2. 11
162 Alfred Rahlfs,
Tisserant = Tabulae in usum scholanim editae sub cura loh. Lietzmann. 8:
Specimina codicum orientaliura, conlegit Eug. Tisserant. Bonnae 1914.
Zotenb. = Manuscrits orientaux. Catalogue des manuscrits Äthiopiens (gheez
et amharique) de la Bibliothöque Nationale (von H. Zotenberg). Paris 1877.
Dicht hinter der Apsis der Peterskirche zu Rom^) liegt ein
altes, schon im Jahre 732 erwähntes ^) Kloster, welches nebst der
dazu gehörigen Kirche dem hl. Stephanus geweiht ist. Dieses
Kloster wurde um 1500^) den nach Rom pilgernden Abessiniern
tiberwiesen und bekam infolgedessen den Namen „S. Stefano dei
Mori" oder „degli Indiani" oder „degli Abissini" ^). Über seine
seitherige Greschichte unterrichtet am besten Chaine, der auch alle
auf die abessinischen Insassen bezüglichen Urkunden zusammen-
gestellt hat^). Hier sei nur auf die geradezu grundlegende Be-
deutung hingewiesen, welche S. Stefano dei Mori für die äthiopi-
sche Philologie gewonnen hat. Dort lernte der Kölner Propst
1) Die genaue Lage des Klosters ersieht man z. B. aus den von Frz. Ehrle
herausgegebenen alten Plänen Roms von Leonardo Bufalini (Roma al tempo di
Giulio III. La pianta di Roma di Leon. Buf. dei 1551 riprodotta dall' esemplare
esistente nella Bibl. Vat., Roma 1911) und von Du P(^rac-Lafrdry (Roma prima
di Sisto V. La pianta di Roma Du Pdrac-Lafröry dei 1577 riprodotta dall' esem-
plare esistente nel Museo Britannico, Roma 1908), oder aus den drei Tafeln bei
Ehrles „Ricerche su alcune antiche chiese dei Borge di S. Pietro" in den Disser-
tazioni della Pontificia Accademia Romana di Archeologia, Ser, II, tom. X (1907
resp. 1910), S. 1—43 (Taf. 1 und 2 enthalten Ausschnitte aus den beiden soeben
erwähnten Plänen, Taf. 3 aus dem Plane des Giambatt. Nolli vom Jahre 1748).
2) P. Fr. Kehr, Regesta pontificum Romanorum. Italia pontificia. Vol. I:
Roma (1906), S. 146 unter „Monasterium s. Stephani maioris". Weitere Literatur
s. bei E. Calvi, Bibliografia di Roma nel medid evo, Suppl. I (1908), App. S. 130
unter „S. Stefano Maggiore".
3) Das Datum ist nicht überliefert, und die Vermutungen darüber gehen
weit auseinander, s. F. Gallina, Iscrizioni etiopiche ed arabe di S. Stefano dei
Mori: Archivio della R. Societä Romana di Storia Patria 11 (1888), S. 281—283.
Maßgebend kann m. E. nur die von Chaine S. 8 mitgeteilte Katasternotiz vom
Jahre 1607 sein, nach welcher S. Stefano damals seit 100 Jahren von Abessiniern
bewohnt war: „Ante annos centum, ut notant censualia praedicta, ex concessione
capituli, habitant eamdem ecclesiam abissini ethiopes sive Indiani, quibus sanctis-
simus Dominus noster dat alimenta et basilica nostra dat ecclesiam et habitationem".
4) Über die Bezeichnung der Abessinier als Mohren und Inder s. Ludolf
Comm. S. 52. 54. 75—78.
5) Dabei sind Chaine allerdings die von Flemming 1, S. 567—582 und 2,
S. 68—110 publizierten Briefe des mit Hieb Ludolf befreundeten Abba Gregorius
entgangen ; sonst hätte er auch nicht auf den geradezu abenteuerlichen Gedanken
verfallen können, daß Ludolf die im Comm. mitgeteilten Briefe Gregors vielleicht
selbst fabriziert hätte (Chaine S. 35 : „peut-etre que la paternite doit en revenir
ä l'auteur lui-meme de VHistoria Aethiopica^).
über einige alttestam. Hss. d. Abessinierklosters S. Stefano zu Rom. 163
Job. Potken im Jahre 1511*) die abessinischen Mönche ^) kennen,
von denen er Äthiopisch lernte und den Text des äthiopischen
Psalters bekam, welchen er zwei Jahre später in Rom als erstes
äthiopisches Druckwerk herausgab. Und ebenda lebte 12 Jahre
lang Tasfä-Sejön (Petrus Aethiops), der 1548/49 das äthiopische
Neue Testament mit einem liturgischen Anhang herausgab und
1550 in der Kirche S. Stefano beigesetzt wurde ^). So sind gerade
die beiden Texte, auf die man beim Studium des Äthiopischen an-
fangs ausschließlich und auch nachher noch lange Zeit in erster
Linie angewiesen war, von S. Stefano ausgegangen.
In diesem Kloster hat nun bekanntlich Hiob Ludolf im
Jahre 1649 den Abba G^regorius kennen gelernt, der ihm ein
treuer Freund wurde und ihm wichtige Aufschlüsse über die G-e-
schichte' Literatur und Sprachen Abessiniens gegeben hat ^). Grleich
bei der ersten Begegnung legte Grregorius, wie Ludolf Comm. S. 30
humorvoll erzählt^), ihm einen großen Pergamentkodex vor, um
seine äthiopischen Kenntnisse zu prüfen; und dieser Kodex — es
war ein Senödös, jetzt in Rom, Bibl. Vat., Borg. aeth. 2^ —
hat dann Ludolf sehr interessiert '), und er hat über ihn im Comm.
S. 301 — 340 einen recht ausführlichen Bericht erstattet. Aber
außerdem gab es damals in S. Stefano auch einige alttestament-
liche Handschriften, über welche Ludolf dicht vorher auf
S. 298 f. berichtet. Ludolf gibt dort unter der Überschrift „Ma-
nufcripti in Europa habentur" ein Verzeichnis der in Europa be-
findlichen äthiopischen Handschriften, von denen er Kunde erhalten
1) Potkens römischer Psalterdruck wurde laut seiner Nachschrift zum Cant.
am 10. Sept. 1513 vollendet. In der Vorrede sagt Potken, daß er die Abessinier
„biennio vix elapso" kennen gelernt habe.
2) Einer dieser Mönche, Thomas, hat sich in einer äthiopischen Nachschrift
zu den Oden mit unterzeichnet, vgl. Chaine S. 14 Anm. 2.
3) I. Guidi, La prima stampa del Nuovo Testamento in etiopico, fatta in
Roma nel 1548-154:9: Archivio della R. Societä Eomana di Storia Patria 9 (1886),
S. 273—278. Chaine S. 9 f. 14 f. (beachte S. 15 Anm. 1 über die Wappen in den
Dedikations-Exemplaren I). 17. 27 f. ; Faksimile seiner Grabschrift auf Chaines
Tafel.
4) Ludolf Comm. S. 28—47. Juncker S. 48—50. 67—83. Flemming 1,
S. 542—548. 567 ff.
5) Nacherzählt von Flemming 1, S. 543.
6) Tisserant S. XLIII Nr. 63.
7) In seinen Briefen an Gregorius erkundigt er sich gerade nach dem Se-
nödös besonders dringend und bittet den Gregorius, ihm diese Hs. mitzubringen
oder wenigstens Abschriften daraus zu besorgen, s. Flemming 2, S. 107 (Nr. VI
und IX).
11*
164 Alfred Rahlfs,
hatte. Dies Verzeiclmis beginnt mit den Handschriften von S. Ste-
fano, über welche er also berichtet (C o m m. S. 2 9 8 f.) :
1. Pentateuchus, cujus Apographum ex benevolentia Ludovici
Piques B. & Socii Sorbonae poffideo. Protographum autem vidi
Romaß in sedibus Habeffinorum.
J2, lofua, quem & ego pof-
fideo.
Liber ludicum.
4. Buth.
5. I. et II. Samuelis ; alias I. &
II. Regum.
6. I. et IL Regum ; alias III. &
IV. Regum.
7. Efaias Propheta.
Quatuor magnis voluminibus continentur, quse, referente Grego-
rio, ä Regibus ^thiopiae olim Hierofolymam miffa fuerunt, qui-
que nomina fua infcripferunt, nempe Gehra-MesJcel , Jfaacus, et
Zer-a-jacohus. Inde Romam in hofpitium Habeffinorum, iftis
autem fato functis, ut audivi, in Bibliothecam Vaticanam translati
fuerunt.
Ludolf benennt und trennt hier die biblischen Bücher in der bei
den Protestanten üblichen Weise. Setzen wir dafür die bei den
Griechen und Abessiniern üblichen Namen ein und fassen wir die
Bücher in der bei ihnen üblichen Weise zusammen, so handelt es
sich nur um drei Nummern, nämlich
1) den Oktateuch oder, wie die Abessinier sagen, das Gesetz
Cörit),
2) die Bücher Regum,
3) den Isaias.
Von diesen — um es gleich zu sagen, sehr wichtigen — Hand-
schriften hat man den Oktateuch und die Bücher Regum mehr
oder weniger sicher wiedergefunden: jenen in der Bibliothek der
British and Foreign Bible Society in London, diese in dem seit
1902 der Biblioteca Vaticana einverleibten Museo Borgiano (Borg,
aeth. 3, vorher L. V. 16, s. Roupp S. 298 Anm. 2 und Tisserant
S. XLII f. Nr. 62). Der Isaias aber ist noch nicht gefunden , und
auch die Fragen, die sich an die beiden anderen Handschriften
knüpfen, sind noch nicht sämtlich beantwortet. Daher nehme ich
das Thema noch einmal auf und hoffe, nunmehr über alles völlige
Klarheit schaffen zu können. Dabei wird zugleich noch eine wei-
tere Handschrift von S. Stefano wieder ans Licht kommen , die
gleichfalls schon im XVII. Jahrh. eine erhebliche Rolle gespielt
hat und die Grundlage mehrerer Textausgaben geworden ist.
Ehe ich jedoch zur Sache selbst übergehe, muß ich einen
Fehler berichtigen, der Ludolf oder seinem Amanuensis an der
soeben abgedruckten Stelle untergelaufen ist, und der mich an-
über einige alttestam. Hss. d. Abessinierklosters S. Stefano zu Rom. 165
fangs, ehe ich seine Quelle entdeckt hatte, einigermaßen irritiert
hat. Ludolf gibt hier nämlich an, der Oktateuch, die Bücher Re-
gum und der Isaias seien in vier großen Bänden enthalten. Wenn
aber der Oktateuch und die Bücher Regum, wie man schon bisher
annahm, und wie sich im folgenden noch sicherer bestätigen wird,
je einen Band bildeten, so kommen, da natürlich auch der Isaias
nur einen Band gebildet haben kann, bloß drei Bände heraus.
Und mehr sind es auch in Wirklichkeit nicht gewesen. Wir können
das jetzt ganz sicher nachweisen, da uns bei Flemming 2, S. 72
Z. 34 — S. 73 Z. 4 der Originalbericht des Gregorius vorliegt, auf
dem die Darstellung Ludolfs nach seiner eigenen Angabe („refe-
rente Grregorio") beruht. Er findet sich im 8. Briefe des Grego-
rius an Ludolf vom 25. Febr. 1651 und lautet nach Flemmings
Übersetzung (2, S. 99 Z. 1 — 5) also: „Jene vier großen Bücher,
die sich in unserem Hause [d. h. in S. Stefano] befinden, dürfen
wir ohne die Erlaubnis des Majordomus ^) nicht wegnehmen, denn
sie sind einem jeden bekannt, als solche, welche die Könige von
Äthiopien mit der Einzeichnung ihres Namens nach Jerusalem ge-
schickt haben. Dies sind die Könige : Gabra Maskai, Isaak, Zar'a
Jakob." Welches „jene vier großen Bücher '^ sind, sagt allerdings
Gregorius an dieser Stelle nicht. Wohl aber ergibt es sich aus
seinem 6. Briefe vom 7. Jan. 1651, in welchem es heißt (Flemming
2, S. 96 Mitte) : „Die äthiopischen Bücher, welche in unserem Hause
sind, sind Gesetz [d. h. Oktateuch], Könige, Jesaias, Synodos und
das Neue Testament vollständig." Nur müssen wir hier, um die
„vier großen Bücher" herauszubekommen, das „vollständige Neue
Testament" fortlassen ; dies war offenbar keine Handschrift — von
einer solchen höre» wir sonst in jener Zeit nicht das mindeste,
obwohl wir mehrere Berichte über die Hss. von S. Stefano be-
sitzen — , sondern es war der schon erwähnte, in S. Stefano selbst
entstandene Druck von Tasfä-Sejön ; Ludolf hatte seinen Abessinier
nach den äthiopischen Büchern von S. Stefano gefragt (s. Flem-
ming 2, S. 107 unter Nr. VIII), und daß dieser daraufhin das Druck-
werk auf gleicher Stufe mit den Handschriften nannte, erklärt
sich ebenso leicht, wie daß Ludolf den wahren Tatbestand sofort
merkte, und auch Gregorius, vielleicht von Ludolf darüber auf-
geklärt, jenes Druckwerk nachher nicht mehr mitzählte. Die „vier
großen Bücher", von denen Gregorius im 8. Briefe spricht, und
die auch Ludolf in gar zu genauem Anschluß an seine Quelle in
1) Vgl. Chaine S. 12: „le majordome raeme du Pape tut stabil leur [d. h.
der Mönche von S. Stefano] procureur". Vgl. auch ebenda S. 19 unten.
166 Alfred Rahlfs,
seine Darstellung herübergenommen hat, sind also die drei, welche
Ludolf nennt, und der Senödös. Und daß dieser hier in der Tat
mit gemeint ist, ergibt sich mit völliger Sicherheit aus dem (Jm-
stande, daß Gregorius und auch Ludolf selbst unter den Königen,
welche die Hss. nach Jerusalem geschickt haben, auch den Zar'a-
Jä'töb nennt, der gerade den Senödös nach Jerusalem gestiftet
hat, wie Grregorius im 7. Briefe (Flemming 2 , S. 97 Z. 3 f.) und
Ludolf im Comm. S. 301 berichten ^). Hiermit ist also das Ver-
sehen in Ludolfs Darstellung vollständig aufgeklärt, und wir haben
nunmehr bei den alttestamentlichen Handschriften, die er aufzählt,
nicht mehr mit einer Vierzahl, sondern nur mit einer Dreizahl zu
rechnen.
I. Der Oktateacli.
Dillmann hat seiner Ausgabe des äthiopischen Oktateuchs
in erster Linie die beiden Hss. zugrunde gelegt, welche er mit
den Sigeln F und H bezeichnet.
F ist eine nach Dillmanns Schätzung (vom Jahre 1853) etwa
fünf oder sechs Jahrhunderte alte, also aus dem XIV. oder gar
XIII. Jahrh. stammende Pergament-Hs., welche den ganzen Okta-
teuch enthält. Sie gehört der British and Foreign Bible Society
in London. Dillmann beschreibt sie Oct. S. 4 — 6 (vgl. auch Oct.
S. 162 f. 164. 167. 173). Er verweist dort (S. 4 Anm. 1) auf eine
kurze Beschreibung in „the third Appendix of the Report of the
British Church Missionary Society of the year 1817 — 1818", wo
sich auch eine Schriftprobe finde; dieses Werkes habe ich aber
auch mit Hilfe des Auskunftbureaus der deutschen Bibliotheken
zu Berlin nicht habhaft werden können. Und auch das Verzeichnis
der äthiopischen Hss. der British and Foreign Bible Society bei
Platt S. 9 hilft uns nichts ; denn da wird unter Nr. I nichts weiter
gesagt als „The Pentateuch and three following Books (the Octa-
teuch)". Ich bin also zur Zeit, wo aus London keine Auskunft
zu erhalten ist, auf Dillmanns Beschreibung allein angewiesen, und
sie genügt auch, obwohl sie nicht alles so genau mitteilt, wie es
für unsem Zweck wünschenswert wäre.
H (vgl. Dillm. Oct. S. 6f. 167 f.) ist eine 1731 und 1732 in
Halle a. d. Saale entstandene Papierhandschrift, die sich noch heu-
tigen Tages in Halle befindet und jetzt der dortigen Universitäts-
Bibliothek gehört. Sie besteht aus zwei Bänden. Der erste, dessen
1) Ludolf Comm. S. 301—304 druckt die Stiftungsurkunde Zar VJä'köbs aus
der Senödös-Hs. vollständig ab.
über einige alttestam. Hss. d. Abessinierklosters S. Stefano zu Rom. 167
Bibliotheks-Signatur „Ya. 2" ist, enthält den Pentateuch. Sein
Titel lautet":
l^A^: I Hoc eft, I PENTATEUCHUS | AETHIOPICÜS, | olim
ab Exemplari | LUDOVICI PIQVES | Parifiis, \ jam ex Apo-
grapho I D. JOH. HENR. MICHAELIS | defcriptus. | Halte Sa-
xonum I CIO locc xxxii.
Der zweite Band, dessen Signatur „Ya. 3" ist, enthält das Buch
losue und Fragmente anderer alttestamentlichen Bücher (vgl. unten
S. 172 Anm. 2). Sein Titel lautet:
HA.PlVfi: I Hoc eft, I LIBER JOSUAE 1 AETHIOPICE, |
ex Manufcripto | D. JOH. HENRICI | MICHAELIS | defcriptus. |
Halte Saxonum | cio lOcc xxxi.
Beide Titel sind mit einem aus einer Krone und zwei Palmen-
zweigen gebildeten Kranze umrahmt; der äthiopische Name des
Buches ist beidemal in die Krone hineingezeichnet, während der
übrige Titel in Typendruck hergestellt ist.
H ist der jüngste^) Sprößlijig einer Familie europäischer
Hss., deren ältere Glieder auch noch vorhanden sind. Die Gre-
schichte dieser Familie, die zugleich ein Stück der Greschichte der
äthiopischen Philologie wiederspiegelt, will ich hier kurz erzählen.
Joh. Mich. Wansleben, der bekannte Schüler Hiob Lu-
dolfs^), hat nach der Rückkehr von seiner ersten Orientreise im
Jahre 1666^) die im Abessinierkloster S. Stefano zu Rom befind-
lichen Hss. des Oktateuchs und der Bücher Regum abgeschrieben*).
Mit dieser Abschrift und auch mit anderen Werken, die er für
den Druck vorbereitet hatte, ging er 1670 nach Paris in der Hoff-
nung, dort Colberts Unterstützung für ihre Veröffentlichung zu
gewinnen. Colbert ließ sich auch von Wansleben Bericht über
seine Publikationspläne erstatten, und dieser Bericht erschien im
1) Bei los. gibt es allerdings eine noch jüngere Hs., die wiederum aus H
abgeschrieben ist, s. unten S. 173.
2) Vgl. meine demnächst in diesen Nachrichten erscheinenden „Beiträge zur
Biographie Wanslebens".
3) Nach Ludolfs Notiz in der Hs. Göttingen, Univ.-Bibl., Aeth. 1, S. 79 hat
Wansleben seine Abschrift am 12. Mai 1666 vollendet.
4) Ludolf, Lexicon Aethiopico-Latinum, ed. II (1699), zweite Seite des „Ca-
talogus librorum". Zotenb. S. 1. Vgl. auch Vansleb, Nouvelle relation . . . d'un
voyage fait en Egypte (1677), S. 170: „En ce mefme temps [d. h. im Mai 1672J,
il arriva aufli au Caire Dom Pietro, Abyffin de Nation, que j'avois autrefois fort
particulierement connu ä Rome, & qui m'avoit procure les Manufcrits des Synodes
[d. h. des Senödös, s. die nächste Anm.], & celuy du vieux Teftament en Langue
Ethiopique".
IQg Alfred Rahlfs,
folgenden Jahre gedruckt unter dem Titel „CONSPECTUS | OPE-
EUM I ^THIOPICORUM | Quse ad excudendum parata habet | ß.
P. Fr. JOAK MICHAEL VANSLEBIUS | ERFORDIENSIS THU-
EINGUS. ORD. FRMD. \ Filius Conventus Eomani S. Marise fu-
per Minervam. | lllußrißimo Domino, D. JoanxXI Baptist^ | Colbkrt,
Begi ah intimis ConßUis, et Se-\cretis; Generali JErarij Moderatorin
Summo I Begiorum JEdificiorum Frcefecto, Begionmi \ Ordinum Qim-
ßori, MarcMoni de Seignelay \ EXHIBITUS. | (Signet.) | PARISIIS, |
E TYPOGRAPHIA REGIA. | M. DG. LXXI." ^) Aber zum Druck
der äthiopischen Texte, wofür übrigens erst äthiopische Typen
hätten angeschafft werden müssen^), kam es nicht. Vielmehr schickte
Colbert im April 1671 Wansleben wiederum in den Orient^), und
als er dann 1676 nach Paris zurückkehrte, war er bei Colbert in
Ungnade gefallen und erhielt von ihm nicht die erwartete Beloh-
nung. Hierdurch geriet Wansleben in große Not und verkaufte
im Winter 1676/77 seine äthiopischen Hss. ^). Damals wird er
1) 23 Seiten in 4°. Ich benutzte das aus Schlichtings (s. Eahlfs Niss. u.
Petr. S. 336) Nachlasse stammende Exemplar der Kieler Univ.-Bibl. (Signatur:
§ 50 4^}, welches Hiob Ludolf mit vier eigenhändigen Randnoten versehen hat.
Der Bericht selbst beginnt auf S. 3 mit der Überschrift „Fr. JÜAN. MICHAEL
VANSLEBIUS, \ Erfordienfis Thuringus, Ord. Prcedicatoi'um, et | Filius Con-
ventus JRomani S. Maricß fuper Miner-\vam, degens modo Parißis, in Conventu
FF. I Pradicatorum , in vico S. Honorati attulit fecum \ Borna nonnuUa Opera
j^thiopica Manufcripta, \ et Prcelo parata, quorum Catalogus fequens eft.^ Hier-
auf folgt unter Nr. I auf S. 3—20 ein sehr eingehender Bericht über den Senödös,
welchen Wansleben gleichfalls aus der Hs. von S. Stefano abgeschrieben hatte
(vgl. die vorige Anm.). Dann kommt auf S. 20 f. unter Nr. II der Bericht über
den Oktateuch und die Bücher Regum, „qui omnes hactenus nun quam funt editi,
neque in Bibliis Polyglottis Anglorum leguntur", und auf S. 21 f. unter Nr. III —
VII der Bericht über andere Werke.; Zum Schluß fordert Wansleben Colbert auf,
„vt ad caetera Tua prseclara facta, quse pro Christianissimi Galliarum Regis
Gloria toto orbe amplianda, feliciter hactenus peregifti ; hoc quoque addere, Ope-
rumque tarn inßgnium publicationem promovere digneris: ne dum inclyta Gallia-
rum Natio, Omnibus vicinis Gentibus glorise palmam Heroicis factis, & prseclaris
ftudiis prseripit; in hoc folo, quod nondum Typographiam -äi^thiopicam habeat,
etiam fibi longe inferioribus gloriä cedero videatur."
2) Siehe den Schluß der vorigen Anmerkung.
3) Über diese zweite Orientreise Wanslebens s. außer der oben S. 167 Anm. 4
zitierten Reisebeschreibung Wanslebens besonders H. Omont, Missions archeologi-
ques fran^aises en Orient aux XYII" et XVlIIo siecles (1902), S. 54—174; ebenda
S. 879—951 Verzeichnisse der von Wansleben für die Bibliothek des Königs ge-
kauften Hss.
4) (Niceron,) Memoires pour servir ä l'histoire des hommes illustres dans
la republique des lettres 26 (1734), S. 13: „Mai§ l'hyver il fe trouva dans la der-
niere neceffite, & fut reduit ä emprunter de toutes parts & ä vendre prel'que pour
rien les Manufcrits Ethiopiens qu'il avoit apportes."
über einige alttestam. Hss. d. Abessinierklosters S. Stefano zu Rom. 169
auch seine Abschrift des Oktateuchs und der Bücher Regum ver-
kauft haben. Sie ging in den Besitz des Pariser Gelehrten Louis
Pieques^) über. Dieser vermachte später seine Hss. dem Domi-
nikanerkloster der Eue Saint-Honore zu Paris ^), demselben Kloster,
in welchem Wansleben 1670/71 gewohnt hatte (s. oben S. 168
Anm. 1). Und aus diesem wurden sie bei der Aufhebung der Klöster
in der Revolutionszeit in die Bibliotheque Nationale über-
führt, wo Wanslebens Abschrift des Oktateuchs und der Bücher
E-egum jetzt die Signatur Eth. 1 (Pentateuch) und 2 (los. — Eeg. IV)
trägt, s. Zotenb. S. III und S. 1—4.
Während Wanslebens Abschrift sich im Besitze von Picques
befand, hat nun aus ihr wiederum Hiob Ludolf, als er vom
9. Nov. 1683 bis zum 1. März 1684 zum dritten Male in Paris war
(Juncker S. 128. 143), den Pentateuch und das Buch losue teils
durch seinen Sohn Christian^) abschreiben lassen, teils selbst ab-
geschrieben. Zwei Notizen darüber finden sich in der Pariser Hs.
selbst; die eine stammt von Ludolf und lautet: „Priorem partem
nempe Pentateuchum hujus scripturse sethiopicse accepi a Dn. D''®
Piques in hunc finem ut hoc in loco a filio meo describatur in
usum publicum, prout dicto D"° Piques visum fuerit, et fideliter
atque integre reddatur. Lut. Parisiorum, die 27 Febr. 1684. J. Lu-
dolfus^^; die andere stammt von Picques und lautet: „En 1683 M"^
Ludolf a pris copie et Ta envoyee a Hamb^ pour imprimer'* (Zo-
tenb. S. 4). Die Abschrift des Pßntateuchs, welche Ludolf an
der oben S. 164 abgedruckten Stelle seines Comm. und am Anfange
seines Lexicon Aethiopico- Latinum, ed. IL (1699), auf der zweiten
Seite des „Catalogus librorum" als in seinem Besitze befindlich
erwähnt, ist später in den Besitz seines Schülers und Amanuensis *),
des Hallenser Professors Job. Heinr. Michaelis, übergegangen, nach
dessen Tode (10. 3. 1738) auf der Auktion seines Nachlasses im
Jahre 1740 von seinem Neffen Christian Bened. Michaelis, gleich-
1) So schreibt Zotenb. S. III undS.4 etc. den Namen, und so wird er auch
in Picques' Briefwechsel mit anderen Gelehrten, darunter Hiob Ludolf, in lo. Diet.
Wincklers Sylloge anecdotorum (Lips. 1750), S. 281 ff. geschrieben. Dagegen schreibt
Ludolf stets Piques ohne c, s. z. B. das Zitat aus Ludolf oben S. 164, und ebenso
schreibt Le Grand in seiner Ausgabe der „Relation historique d'Abissinie du R.
P. Jerome Lobo" (Paris 1728), S. 180 ff., wo er einige zwischen Ludolf und Picques
gewechselte Briefe mitteUt.
2) Thesaurus epistolicus Lacroziauus ed. Uhlius 1 (1742), S. 82. Zotenb. S. III.
3) Geboren am 21. Juli 1664 (Juncker S. 182).
4) Siehe die Vorreden zu Ludolfs amharischer Grammatik (1698) und Lexikon
(1698); zum äthiopischen Lexikon (1699) und Psalter (1701).
170 Alfred Rahlfs,
falls Professor in Halle (f 22. 2. 1764), erworben^), von diesem
auf seinen Sohn, den bekannten Gröttinger Professor Job. Dav.
Michaelis, vererbt und schließlich nach dessen Tode (22. 8. 1791)
von der Kgl. Universitäts- Bibliothek zu Gröttingen an-
gekauft. Die jetzige Signatur der Hs. ist „Cod. MS. Michael. 270",
s. Verzeichniss der Handschriften im preussischen Staate, I: Han-
nover, 3 : Göttingen, 3 (1894), S. 200. Ihr Titel lautet :
PENTATEVCHVS | AETHIOPICE | a \ CHßISTIANO LV-
BOLFO I ILLVSTRIS VIRI | lOBI LTDOLFI 1 FILIO | ab
exemplari \ DN. LTDOYICI PIQVES, DOJCTORIS et SOCII
SORBONNAE: ^Quod Uli Joh. Mich. Wanslehen Bomce \ a fe de-
fcriptimi vendiderat, \ PARISIIS | Äö: cio loc lxxxiv | defcriptus.^)
Geschrieben ist sie gewiß in der Hauptsache, wie auf dem Titel
angegeben wird, von Ludolfs Sohn Christian; doch ist auch Hiob
Ludolfs eigene Hand an einigen Stellen, z. B. bei den in Exod. 36
— 39 eingeschalteten ^) lateinischen Bemerkungen, mit voller Sicher-
heit zu erkennen. — Die Abschrift des Buches losue ist andere
Wege gegangen; diese haben sie aber gleichfalls in die Göt tinger
Universitäts-Bibliothek geführt, für die sie bereits 1776
aus dem Nachlasse des am 6. Mai 1775 verstorbenen Gothaer Rek-
tors Joh. Heinr. Stuß *) angekauft wurde. Sie trägt jetzt die Sig-
natur „Cod. MS. Aethiop. 1^^ (früher „Orient. 20"), s. das ange-
führte Hss.-Yerzeichnis 3, S. 308. Ihr Titel lautet :
lOSUA I iETHIOPICE | ä \ lOBO LUDOLFO | ab Exemplari ma-
mifcripto \ D. LUBOVICI PIQUES, | Doctoris et Socij SorboncB, de
quo I fupra in titulo FentateucJd ; \ Cum initio An: 1684, Lutetiw
Pari„ \fiorum esfet, \ defcriptus. ^)
Sie ist ganz von Hiob Ludolf selbst geschrieben. Am Schlüsse
des Buches losue auf S. 78 hat Ludolf den Titel des darauf fol-
1) Dieser hat selbst auf dem Titel der Handschrift bemerkt: „Ex hibliotheca |
B. loann. Henr. Michaelis \ auctionis iure accefßt \ libris | Christ. Benedicti Mi-
chaelis 1 A. 1740.''
2) Die fett gedruckten Wörter sind mit roter, das Übrige mit schwarzer
Tinte geschrieben.
3) Die Art, wie diese Bemerkungen in den äthiopischen Text eingeschaltet
sind, beweist, daß sie von Hiob Ludolf, der die Abschrift seines Sohnes natürlich
überwachte, gleich bei der Abschrift hinzugefügt sind.
4) Allgemeine Deutsche Biographie 37 (1894), S. 68 f. Die Göttinger Univ.-
Bibl. besitzt den Auktionskatalog „Bibliotheca Stussiana oder Verzeichniß der
ansehnlichen Bücher-Sammlung Herrn Joh. Heinr. Stußens . . . Gotha 1776" ; darin
findet sich die los.-Hs. auf S. 58 unter Nr. 387.
5) Auch hier sind, wie beim Pentateuch, die fett gedruckten Wörter mit
roter, das Übrige mit schwarzer Tinte geschrieben.
über einige alttestara.'^Hss. d. Abessinierklosters S. Stefano zu Rom. 171
genden Buches ludicum noch mit abgeschrieben, aber hinzugefügt:
„Ob inoplam temporis descriptio fieri non potnit^'^). Auf S. 79 hat
Ludolf sich einige Notizen über die von Wansleben abgeschriebene
römische Hs. und über Wanslebens Abschrift gemacht; auf S. 80
hat er als Probe aus lud. die vier Verse 3 12— 15 abgeschrieben.
Die oben S. 169 angeführten Eintragungen von Ludolf und
Picques in Wanslebens Abschrift lehren, daß Ludolf sich ebenso
wie früher Wansleben mit der Absicht getragen hat, den äthiopi-
schen Text nebst lateinischer Übersetzung herauszugeben. Dasselbe
ergibt sich auch aus der Überschrift, mit der Ludolf seine soeben
erwähnten Notizen über die römische Hs. und Wanslebens Ab-
schrift versehen hat: „Sequentia in impressione addi poterunt". Nach
Picques (s. oben S. 169) hat Ludolf seine Abschrift auch schon
wirklich zu diesem Zwecke nach Hamburg geschickt. Darüber
habe ich sonst zwar keine Nachricht gefunden; aber da Picques
mit Ludolf im Briefwechsel gestanden hat (s. oben S. 169 Anm. 1),
wird er dies von Ludolf selbst erfahren haben, und auch an sich
ist es gar nicht unwahrscheinlich, denn in Hamburg gab es äthiopi-
sche Typen % und dort hatte Ludolf in Christoph Schlichting einen
äthiopischen Schüler, der den Druck überwachen konnte^). Es ist
dann allerdings nichts daraus geworden, wahrscheinlich weil sich
niemand fand, der die Kosten getragen hätte. Daß aber Ludolf
auch später den Plan nicht ganz aufgegeben hat, erfahren wir
von seinem Schüler Georg Christian Bürcklin ; dieser bemerkt näm-
lich im Vorwort seiner Ausgabe der „Quatuor prima capita Ge-
1) Wie Ludolf im Lexicon Aeth.-Lat., ed. II (1699), auf der zweiten Seite
des „Catalogus librorum" sagt, hat er Picques vergeblich gebeten, ihm die Wans-
lebenschc Abschrift nach Frankfurt a. M. zu schicken, um dort auch die noch
fehlenden Bücher ludicum und Regum abschreiben zu können: „Judicum atque
Begum Libros IV. Wanslebii manu defcriptos modo laudatus Doctor quoque
poffidet, fed ad me mitter e recufavit." (Das Buch Ruth nennt Ludolf nicht, weü
es bereits von Nissel herausgegeben war.)
2) Siehe Rahlfs Niss. u. Petr. S. 336 ff.
3) Die mechanischen Arbeiten bei der Herausgabe seiner Werke ließ Ludolf
bekanntlich in der Regel durch seine Schüler und Amanuenses besorgen, Schlich-
ting war 1684 — 1687 bei Ludolf in Frankfurt a. M. gewesen, s. Rahlfs Niss. u.
Petr. S. 336 Anm. 1. Bei meiner Annahme würde Ludolf seine Abschrift nicht
sogleich, nachdem er sie genommen hatte, nach Hamburg geschickt haben, sondern
erst später; aber das ist auch sehr wohl möglich, da Picques' Zeitangabe „en
1683", die übrigens nicht ganz genau ist, sich nur auf die Anfertigung der Kopie,
nicht auch auf ihre Sendung nach Hamburg zu beziehen braucht. — Später hatte
Ludolf noch einen anderen Schüler aus Hamburg, Joh. Friedr. Winckler, s. Rahlfs
Niss. u. Petr. S. 342 Anm. 2 ; aber dieser kommt hier wohl sicher noch nicht in
Betracht, da er erst im Dez. 1679 geboren ist.
172 Alfred Rahlfs,
neseos, iEthiopice et Latine" (Frkf. a. M. 1696) : „Is [d. h. Ludolf ]
Pentateucham integrum -^thiopice manufcriptum pol'fidet, & fi re-
pertus fuerit, qui fumptus imprerfionis facere velit, cum publico
non'denegabit."
Wir haben gesehen, daß Ludolfs Pent.-Abschrift später im
Besitze von Joh. Hein r. Michaelis war. Ludolfs los.- Abschrift
hat Michaelis nicht besessen, wohl aber hat er sie sich kurz vor
Ludolfs Tode^) durch seinen Neffen Christian Benedikt Michaelis
abschreiben lassen. Diese Abschrift ging später ebenso, wie die
Ludolfsche Pent.-Abschrift, in den Besitz von Christian Benedikt
und Johann David Michaelis und nach dessen Tode in den Besitz
der Göttinger Universitäts-Bibliothek über. Sie ist ent-
halten in dem aus Handschriften und Drucken zusammengesetzten
Sammelbande „Cod. MS. Michael. 264" und nimmt in ihm Bl. 24-— 76
ein, s. das oben S. 170 zitierte Göttinger Hss.- Verzeichnis 3, S. 198.
Diese beiden im Besitze von Joh. Heinr. Michaelis befindlichen
Hss., also die früher Ludolfsche Pent.-Abschrift und die Michaelis-
sche los.-Abschrift (jetzt Göttingen, TJniv.-Bibl, Mich. 270 und 264),
sind nun die Vorlagen der beiden von Dillmann benutzten Hallenser
Handschriften gewesen^). Wenn es also in den oben S. 167 an-
geführten Titeln der Hallenser Hss. heißt, sie seien „ex Apographo"
resp. „ex Manufcripto D. Joh. Henr. Michaelis" abgeschrieben, so
ist das nicht so zu verstehn, als ob J. H. Michaelis die ihnen zü-
grunde liegenden Hss. selbst geschrieben habe^). Der Pent. war
vielmehr von Christian Ludolf, der los. von Christ. Ben. Michaelis
geschrieben, und J. H. Michaelis war nur zu der Zeit, wo der unbe-
kannte Hallenser Gelehrte, vermutlich ein Schüler von J. H. Michaelis,
seine Abschriften nahm, im Besitze der beiden Handschriften.
1) Ludolf starb am 8. April 1704 (Juncker S. 153. 187). Die Michaelis'sche
Abschrift wird, da eine andere Michaelis'sche Abschrift eines gleichfalls von Lu-
dolf geliehenen Stückes, die sich in demselben Bande findet, vom Jahre 1703 da-
tiert ist (s. unten S. 177 Anm. 2), aus derselben Zeit stammen.
2) Die Hallenser los.-Hs. enthält hinter dem los. und den von Hiob Ludolf
am Schlüsse des los. hinzugefügten Bemerkungen (s. oben S. 170 f. ; diese Bemer-
kungen sind jedoch in der Hallenser Abschrift gekürzt) auch noch „Fragmenta
Bibliorura Aethiop:" (vgl. Dillm. Oct. S. 1G7), welche sich in Ludolfs los.-Hs. nicht
finden. Sie stammen gleichfalls aus dem Cod. Mich. 264, in welchem sie nur nicht
hinter, sondern vor los. stehen (doch hat der Hallenser Abschreiber die Pent.-Frag-
mente, mit welchen der Cod. Mich, beginnt, und auch die Ruth-Fragmente fort-
gelassen, offenbar deshalb, weil er vom Pent. und Ruth vollständige Texte besaß).
Übrigens geht 'auch diese Sammlung von Fragmenten der äthiopischen Bibel im
letzten Grunde zweifellos auf Hiob Ludolf zurück, vgl. unten S. 189 Anm. 1.
3) So hat es Boyd in seiner Ausgabe der äthiopischen Genesis S. XYII ver-
standen (den Titel dieser Ausgabe s. unten S. 176 Anm. 1).
über einige alttestam. Hss. d. Abessinierklosters S. Stefano zu Rom. 173
Von der Hallenser los.-Hs. hat ein Jahrhundert später wie-
derum Friedrich Tuch, damals Privatdozent in Halle, nachher
Professor in Leipzig, eine Abschrift genommen. Sie gehört jetzt
der Universitäts-Bibliothek in Leipzig und trägt dort die Signatur
„V 1093b«. Ihr Titel lautet:
HA,PiVil." I Liber Josuae | Aethiopice | ex Msc. | Bibliothecae
Eegiae Halensis I descriptus. | Halis Saxonum M.DCCC.XXXII.
Außerdem gibt es, wie der Vollständigkeit halber erwähnt sei,
noch mehrere Nebensprößlinge derselben Familie, welche di-
rekt oder indirekt auf die Ludolfschen Abschriften zurückgehen:
Göttingen, Univ.-Bibl., Aeth. 2 (früher Orient. 21): losue; s.
das oben S. 170 zitierte Gröttinger Hss.-Verzeichnis 3, S. 308 f.
Hamburg, Stadtbibl., Or. 271: Genesis; s. Katalog der Hss.
der Stadtbibl. zu Hamburg III 1 : Die arab., pers., . . . äth.
Hss. beschrieben von C. Brockelmann (1908), S. 178 Nr. 319.
Hamburg, Stadtbibl., Or. 272, zweite Abteilung Bl. la— 19b:
Exodus 1--4; Bl. 27b— 67b: Exodus 36 — 40; Bl. 70b—
176 b: losue (Kap. 1 mit Ausnahme der letzten Worte und
Kap. 12 1^ — 13?^ sind doppelt vorhanden); s. den soeben zi-
tierten Katalog Brockelmanns S. 178—180 Nr. 320.
Kiel, Univ.-Bibl., §50 4^: Sammelband äthiopischer Druckwerke,
besonders von Nissel und Petraeus (vgl. aber auch oben S. 168
Anm. 1), wozu handschriftlich andere Stücke hinzugefügt sind,
darunter Exodus 1 — 4 (hinter den Nissel-Petraeus'schen Aus-
gaben biblischer Bücher).
Diese Neben Sprößlinge stammen sämtlich von Ludolfs Hamburger
Schülern Christoph Schlichting und Joh. Friedr. "Win ekler ^).
Winckler hat die Göttinger Hs. geschrieben. Die beiden Ham-
burger Hss. und der Kieler Band rühren jedenfalls von Schlichting
her; sie hängen untereinander aufs engste zusammen: einerseits
stimmt die Hamburger Gen.-Hs. Or. 271 in der ganzen Art ihrer
Ausführung völlig mit der Abschrift von Exod. 1—4 in dem Kieler
Bande überein, und andrerseits finden sich die meisten der in die-
sem Kieler Bande handschriftlich zu den Druckwerken hinzuge-
fügten Stücke auch in dem Hamburger Or. 272; allerdings sind
die drei Bände nicht durchgehends von einer und derselben Hand
geschrieben, sondern es wechseln darin zwei Hände, doch lassen
sich diese auch in anderen Hss. Schlichtings, z. B. Göttingen, Univ.-
Bibl., Aeth. 6, ebenso unterscheiden.
Sehen wir nunmehr von jenem späten Nachtriebe und diesen
1) Über Schlichting und Winckler s. oben S. 171 Anm. 3.
174 Alfred Rahlfs,
Seitenschößlingen ab und beschränken uns auf die direkt von dem
römischen Archetypus bis auf die von Dillmann benutzten und mit
der Sigel „H" bezeichneten Hallenser Hss. herabführende Haupt-
linie, so ergibt sich folgender Stammbaum:
Original in S. Stefano zu Rom
Abschrift Wanslebens vom J. 1666, später im Besitz von Picques, jetzt Paris,
Bibl. Nat., Eth. 1 (Pent.) und 2 (los.— Reg. IV)
Pent-Abschrift Christian Ludolfs vom los.-Abschrift Hiob Ludolfs vom J.
J. 1684, später im Besitz von J. H., 1684, jetzt Göttingen, Univ.-Bibl.,
Chr. B. und J. D. Michaelis, jetzt Aeth. 1
Göttingen, Univ.-Bibl, Mich. 270 I
los.-Abschrift von Chr. B. Michaelis
aus der Zeit um 1703, anfangs im Be-
sitz von J. H,, dann von Chr. B. und
J. D. Michaelis, jetzt Göttingen, Univ.-
Bibl., Mich. 264
Pent.- Abschrift eines Unbekannten vom los.-Abschrift eines Unbekannten vom
J. 1732, jetzt Halle, Univ.-Bibl, Ya. 2 J. 1731, jetzt Halle, Univ.-Bibl., Ya. 3
(= Dillmanns „H«) (= Dillmanns „H")
Nachdem wir uns so über die Herkunft H's aus der römischen
Original-Hs. genau orientiert haben, kommen wir zu der Frage:
Wie verhält sich H zuF, der anderen von Dillmann in erster
Linie zugrunde gelegten Hs., die jetzt der British and Foreign
Bible Society in London gehört?
Dillmann Oct. S. 6 f. hat mit vollem Rechte bemerkt, daß
H und F außerordentlich nahe miteinander verwandt sind. Sieht
man' von allerlei Versehen und absichtlichen Änderungen ab, wie
sie sich bei europäischen Gelehrten-Abschriften des XVII. und
XVIII. Jahrh. eigentlich von selbst verstehen, so bietet H einen
Text, der ^miro modo^ mit F verwandt ist und mit F sogar in
Archaismen und sonstigen Besonderheiten „fere ubique'^ überein-
stimmt. Daher hat sich Dillmann der Verdacht aufgedrängt, daß
H in direkter Linie auf F zurückgehe, daß also die jetzt im Be-
sitze der British and Foreign Bible Society befindliche Hs. F keine
andere sei als die, welche zur Zeit Ludolfs und Wanslebeng im
Abessinierkloster S. Stefano zu Eom war, und er hat sich deshalb
die äußerste Mühe gegeben zu erfahren, von wo F nach London
gekommen sei, ohne jedoch darüber Auskunft erhalten zu können ^).
1) Dillm. Oct. S. 6 : „Quae suspicio quum me moveret, acerrime quidem id
agebam, ut comperirem, unde Britanni librum comparavissent et Londinum depor-
tavissent, sed quamquam iterum iterumque percontabar, nemo mihi, quae scire
volui, respondit."
über einige alttestam. Hss. d. Abessinierklosters S. Stefano zu Rom. 175
Da ihm nun der historische Beweis für die Identität F's mit der
römischen Hs. fehlte, und er in H doch auch Lesarten fand, „quas
aliunde haustas esse necesse est", so hat er sich schließlich für
die Annahme entschieden, daß H nicht direkt auf F, sondern nur
auf einen nahen Verwandten F's zurückgehe ^), und daher in seinem
textkritischen Apparat H neben F notiert^).
Nachträglich aber scheint sich Dillmann doch der anderen An-
nahme, daß F selbst die zu Ludolfs und Wanslebens Zeit in Rom
befindliche Hs. sei, zugeneigt zu haben. Ich schließe das aus den
Addenda et corrigenda am Schlüsse des Oct. (S. 219), in welchen
Dillmann zu S. 6 Z. 3, wo er erwähnt hatte, daß F laut Unter-
schrift „ab Isaac quodam, eins possessore^' den Abessiniern in Je-
rusalem gestiftet sei, folgenden Nachtrag gibt : „postquam ea, quae
Ludolfus in Comm. ad bist. Aeth. p. 298 seq. [das ist die oben
S. 164 abgedruckte Stelle] de libris Aethiopicis in hospitio Abys-
sinorum Romae asservatis annotavit, inspexi, equidem Isaacum il-
lum, qui nostrum codicem F Axuma Hierosolymam misit, regem
Abyssiniae (saeculo XIV [lies XV]) fuisse suspicor." Denn wenn
Dillmann nunmehr in dem Isaac, der F nach Jerusalem gestiftet
hat, den König Isaac vermutet, weil Isaac nach Ludolfs Angabe
einer der Könige ist, welche einst die später in Rom befindlichen
Hss. nach Jerusalem gestiftet haben ^), so muß er eigentlich an-
nehmen, daß F mit einer jener römischen Hss. identisch ist.
Über Dillmann hinaus ging Zotenberg S. 1 in seiner Be-
schreibung der Abschrift Wanslebens, indem er F geradezu und
ganz bestimmt für den Archetypus erklärte, welchen Wansleben
abgeschrieben habe. Einen Beweis hierfür gab er nicht, doch scheint
er dadurch, daß er aus Dillm. Oct. außer „p. 4 et suiv." auch
„p. 164^^ zitiert, anzudeuten, worauf er seine Annahme gründet.
Dillmann handelt nämlich an dieser Stelle über Lektionsvermerke
in F und fährt dann fort: „Etiam in codice H eorum multa con-
servata sunt; sed cum librarii eorum sensum non intelligerent,
satis inepte et annotationes et sigla in ipsum orationis contextum
receperunt" ^).
1) Ebenda S. 7 : „codicem F et codicis II archetypum intima inter sese con-
junctos esse cognatione et idem textus genuini et antiqui genus praebere".
2) Ebenda: „Quare lectiones e codice H annotare haud omisi."
3) Siehe hierüber unten S. 179 f.
4) Vgl. auch schon Dillmanns Beschreibung von H auf S. 7: „nee raro 11-
brum archetypum a librario falso lectum et descriptum esse clarissime apparet
(ex. gr. sigla, quibus pericopae in ecclesia legendae signantur, perperam in ipsum
verborum contextum saepius inserta sunt)."
176 Alfred Ra^hlfs,
Ebenso wie Zotenberg entscheidet sich J. Oscar Boyd in
seiner neuen Ausgabe des äthiopischen Oktateuchs ^) für Herkunft
H's von F wegen der „intimate relationship of the text of H to
the text of F". Damit ist er aber im G-runde nicht über Dillmann
hinausgekommen; denn die „cognatio intima" oder „intima neces-
situdo" der beiden Hss. hatte schon Dillm. Oct. S. 6 hervorgehoben.
Einen wirklich durchschlagenden Beweis für die Herkunft H's von
F hat Boyd so wenig wie Zotenberg geliefert.
Und doch läßt sich ein solcher Beweis sehr wohl liefern. In
der alten Pergament-Hs. F sind nämlich , wie Dillmann Oct. S. 4
bemerkt, das 7. und 8. Blatt ausgefallen und später durch zwei
Papierblätter ersetzt. Der Text dieser beiden Papierblätter, Gen.
4 15 — 6 11, weicht aber in seinem ganzen Charakter völlig von dem
übrigen Texte F's ab, so sehr, daß Dillmann annimmt, daß hier
gar nicht die altäthiopische, sondern eine aus einer arabischen
Übersetzung oder vielmehr Paraphrase geflossene, ganz junge Über-
setzung vorliege, s. Dillm. Oct. S. 28—31 und vgl. auch Boyds
Varianten zu jenem Abschnitt. Hier handelt es sich also um einen
Textwechsel, der durch eine mechanische Verletzung F's veranlaßt
ist, und der Textwechsel reicht genau so weit wie der Wechsel
zwischen dem alten Pergament und dem jungen Papier. Stammte
nun H nicht von F, sondern von einer mit F verwandten Hs. ab,
so müßten H und F hier auseinander gehen; denn daß auch in
der mit F verwandten Hs., welche Dillmann als Archetypus H's
ansetzt, gerade genau dieselbe Stelle ausgefallen und in genau der-
selben Weise ergänzt worden wäre, das wäre doch ein schlechthin
unwahrscheinlicher Zufall. Indessen ist auch hier, wie Dillm. Oct.
S. 28 selbst bemerkt, H aufs engste mit F verwandt: „Totus locus
inde a C. 4, 15 usque ad C. 6, 11 non tantum in codice F sed etiam
in codice H, qui illi intime cognatus est, prorsus corruptus est.^
Daraus folgt mit vöÄiger Sicherheit, daß H in direkter Linie
von F abstammt, und man muß sich nur wundern, daß nicht
schon Dillmann diesen ganz selbstverständlichen Schluß gezogen hat.
Geht H aber in direkter Linie auf F zurück, so wird F auch
dieselbe Handschrift sein, welche einst im Abessinierkloster
S. Stefano zu Rom war und dort von Ludolf gesehen und von
Wansleben abgeschrieben wurde. Für diese Tatsache , die sich
schon aus dem Texte von F und H mit großer Wahrscheinlichkeit
1) Bibliotheca Abessinica ed. by E. Littmann, Vol. III: The Octateuch in
Ethiopic according to the text of the Paris Codex, with the variants of five other
mss. ed. by J. Oscar Boyd, Part I : Genesis (Leyden & Princeton 1909), S. XVIII.
über einige alttestam. IIss. d. ABessiniferklosters S. Stefano zu Rom. 177
ergibt, vermag ich zwei Beweise zu liefern, die, wie mir scheint,
jeden Zweifel ausschließen:
1) Dillm. Oct. S. 6 sagt in seiner Beschreibung F's : „E sub-
scriptionibus a calce, fol. 283 seq., additis eum Axumae, in regni
et ecclesiae metropoli, exaratum et ab Isaac quodam, eins posses-
sore, Hierosolyma missum et Abyssinis in hospitio Hierosolymitano
degentibus dono datum esse apparet." Von den Unterschriften,
deren Inhalt er hier angibt, fand sich aber wenigstens die eine
ganz sicher auch in der Hs. von S. Stefano. Wansleben hat
dieselbe mit abgeschrieben; sie steht in seiner Abschrift nach Zo-
tenb. S. 3 Sp. II (unter „a") hinter Rutli, also genau wie in F am
Schlüsse des Oktateuchs, und lautet folgendermaßen: ;,Betet^) für
die, die wir uns an diesem Buche abgemüht haben, und für Isaak
euren ^) Knecht, der dieses dem heiligen Jerusalem gegeben hat".
Außerdem haben wir über dieselbe Unterschrift noch einen Bericht
bei Platt. Dieser teilt nämlich auf S. 7 f. eine Beschreibung der
äthiopischen Hss. von S. Stefano mit, welche Hiob Ludolf im Jahre
1700 von seinem NeiFen Heinrich Wilhelm Ludolf bekommen^)
und dann eigenhändig am Schlüsse eines jetzt „in the Royal Li-
brary", d. h. in der Bibliotheque Nationale zu Paris, befindlichen
Exemplars seines Comm. unter dem Titel „Miscellanea varia pro
futura fortassis editione", d. h. für eine eventuelle zweite Ausgabe
des Comm., eingetragen hat. Diese Beschreibung, die ich hier ganz
1) Der Verfasser der Unterschrift redet hier die Mönche des abessinischen
Klosters in Jerusalem an. Vgl. über dieses Kloster H. Duensing, Die Abessinier
in Jerusalem: Zeitschr, d. Deutschen Palästina-Vereins 39 (1916), S. 98— 115.
2) Über Heinr. Wilh. Ludolf s. die Stammtafel bei Juncker vor S. 187. H.
W. Ludolf war Sekretär beim Prinzen Georg von Dänemark, dem Gemahl der
Königin Anna von Großbritannien. Er verfaßte eine russische Grammatik, die
1696 in Oxford erschien. 1698—1700 machte er eine größere Reise, bei der er
auch Äthiopisches für seinen Oheim sammelte. Im Okt. 1698 schreibt Hiob Lu-
dolf an Picques : „Mon neveu eft deja parti de Livorne, je ne f^ai fi c'eft pour
Conftantinople ou pour Scandrona", s. Relation historique d'Abissinie, du R. P.
Jerome Lobo^. . . Traduite . . . par M. Le Grand (Paris 1728), S. 182 [im Druck
ist diese Seite irrtümlich mit der Zahl „178" versehen]. Im Nov. 1699 war H.
W. Ludolf bei den Abessiniern in Jerusalem ; denn der Cod. MS. Michael. 264 der
Göttinger Univ.-Bibl. enthält auf Bl. 96—101 eine im Jahre 1703 von Christian
Benedikt Michaelis angefertigte Abschrift eines äthiopischen Festkalenders und
eines Gebetes, welches H. W. Ludolf „ex MSto Hdbeffini Meraivi- Christos, ßbi
communicato, HierofoJymis, menfe Novemhn cioiocxcjx.^ abgeschrieben und dann
offenbar seinem Oheim mitgeteilt hatte. Im Mai 1700 war II. W. Ludolf in Rom
und beschäftigte sich dort mit den äthiopischen Hss. von S. Stefano, s. Roupp
S. 300.
Kgl, Oes. d. Wiss. Nachrichten. Phll.-hist. Klasse, 1M8. Heft 2. 12
l78 Alfred Rahlfs,
abdrucke ^), weil sie auch für unsere weitere Untersucliung in Be-
tracht kommen wird und sich in einem schwer zugänglichen Buche
findet, lautet folgendermaßen:
De libris Aethiopicis in hospitio Habessinorum E-omae re-
pertis sequentia ad me scripsit Heinricus Wilhelmus Ludolfus.
FOLIO.
1. Octateuchus: nim. Quinque libri Mosis, libri Jpsuae, Ju-
dicum et Ruth. In fine extat: 'Orate pro iis qui mihi labora-
runt in hoc libro, et pro me Isaaco ^) qui eum vobis Hierosolymis
degentibus dedi.' Hunc tomum descripsi, p. 298. ^)
2. Quatuor libri Regum. Bene est compactus in corio rubro,
et Rex Amda-Tzion, cujus nomen regni Gebra-Meskel *) , eum
Hierosolymas misisse dicitur.
3. fh^J^ill Cui praemissa est Epistola Regis HCA'JP
Diversi quaterniones incompacti.
QUARTO.
1. Esaias. Post finem cap. LXVI. incipit alius liber voca-
tus ÖC*?'t' I A,»*! JB.Pil ■ et postea quaedam Esdrae.
2. Undecim Prophetae minores — Deest Hoseas.
3. Tenuis liber qui videtur Liturgia, incipit enim: ^Oratio
quando sacerdos induit vestimenta sacerdotalia.'
4. 5. Duo Volumina. Unum in charta pergamena, et alterum
in Charta communi; quod hie Romae tempore Urbani VIII. tran-
scriptum dicitur; 'Organen Dinghil' mihi videntur; posterius
enim ita concludit: "l-^ÄC^.TlHP.'AO^^::
6j 7. Duo libri Precum.
Diversae schedae multos characteres Amharicos continentes.
Psalterium in majori octavo.
In 12 mo. Duo libri Precum, maximam partem ad B. Vir-
ginem directarum.
Alii tres libri in 12 mo. ejusdem argumenti.
1) Auf die hier abgedruckte Beschreibung der Hss. von S. Stefano folgen
hoch einige Angaben über äthiopische Hss. in Florenz (Senödös, Paulusbriefe,
Zaubergebete). Diese lasse ich fort.
2) Hierzu bemerkt Hieb Ludolf (nach Platt): „Iste Isaacus rex esse videtur
qui hunc tomum Hierosolymam misit, ut Gregorius mihi indicavit. (P. 298. § 6.
[dies ist die oben S. 164 abgedruckte Stelle des Comm.])".
3) Auch hier verweist Hieb Ludolf auf die oben S. 164 abgedruckte Stelle
Beines Coinm.
4) Hierzu bemerkt Hieb Ludolf (nach Platt): ^Is quoque ibidem nominatur."
Siehe wiederum oben S. 164.
über einige alttestam. Hss. d. Abessinierklosters S. Stefano zu Rom. Y}^
Endlich ist auch noch die oben S. 164 a,bgedruckte Stelle aus Lu-
dolfs Comm. heranzuziehen. Ludolf gibt dort an, daß die in S.
Stefano befindlichen äthiopischen Hss. „a Regibus J^thiopige olim
Hierofolymam mirfa fuerunt, quique nomina fua infcripferunt, nempe
Gebra-Meshel, Ifaaciis, et Zer-a-jacohus," Ludolf stützt sich hier,
wie bereits oben S. 165 f. ausgeführt, auf einen Bericht des Abba
Grregorius, nach welchem die Könige Gabra- Maskai , Isaak und
Zar'a-Jä'köb einst jene Hss. „mit der "Einzeichnung ihres Namens
nach Jerusalem geschickt hüben". Auch hier erscheint also unter
den Stiftern derselben ein Isaak, und es kann nicht wohl zweifel-
haft sein, daß auch diese Angabe des Grregorius auf ebenjene Un-
terschrift des Oktateuchs zurückgeht. Mit Recht also hat Dill-
mann, wie schon S. 175 bemerkt, diesen von Grregorius und Ludolf
erwähnten Isaak mit dem Isaak der Londoner Hs. F identifiziert.
Eine andere Frage ist es freilich, ob dieser Isaak wirklich, wie
Gregorius und Ludolf^) und im Anschluß an sie auch Dillmann
und Boyd^) annahmen, der bekannte abessinische König ist, der
1414 — 1429 regierte. Mir ist das mindestens sehr unsicher. Denn
der oben S. 177 aus Zotenb. mitgeteilte Wortlaut der Unterschrift
weist mit keinem Worte auf königliche Würde des Stifters hin^).
Daß aber nicht etwa noch eine andere Unterschrift vorhanden ist,
in der Isaak als König charakterisiert würde, schließe ich aus dem
Umstände, daß Dillmann anfangs in seiner Beschreibung F's (Oct.
S. 6) nur sagt, aus den Unterschriften ergebe sich, daß die Hs.
„ab Isaac quo dam, eins possessore" nach Jerusalem geschickt sei,
und erst nachträglich (Oct. S. 219) durch das Studium von Ludolfs
Comm. auf den Gedanken gekommen ist, daß es sich hier um den
König Isaak handle. Denn wenn jener Isaak in der Hs. selbst
1) Siehe oben S. 178 Anm. 2.
2) J. Oscar Boyd, The text of the Ethiopic version of the Octateuch (=
Bibliotheca Abessiuica ed. by E. Littmann, II, Leyden & Princeton 1905), S. 17
unten: „Codex F is ancient, writteu not later than 1429"; dies Jahr ist das To-
desjahr des Königs Isaak. Später allerdings, in seiner Ausgabe der Gen. (s. oben
S. 176 Anm. 1) S. XVII, setzt Boyd zu der Identifikation des in F genannten
Isaak mit dem König Isaak ein Fragezeichen.
3) Der Schreiber der Unterschrift sagt, indem er sich an die Mönche des
abessinischen Klosters in Jerusalem wendet (s. olben S. 177 Anm. 1): „Betet . . .
für Isaak euren Knecht . . .". Derselbe Ausdruck „euer Knecht" findet sich auch
in einer Unterschrift der später zu besprechenden Reg.-Hs., aber nicht in der
Stiftungsurkunde des Königs, sondern in der in jüngerer Zeit hinzugefügten Bitte
eines gewissen 'Estifänös an seine „Väter und Brüder", seiner in ihren Gebeten
zu gedenken, s. Roupp S. 342 Anm. 2 und Taf. 4.
12*
iSO Alfred Rahlfs,
deutlich als König charakterisiert wäre, so würde Dillmann dies
zweifellos sofort bemerkt haben.
2) Dillm. Oct. S. 6 sagt in seiner Beschreibung F's : „Quando
autem et a quo hie liber Hierosolymis in Europam transvectus sit,
equidem compertum non habeo, sed cum argumentum libri in
primo folio latine inscriptum ibidemque annus Domini 1696, Sep-
tember 20, adscriptus sit, sequitur ante hunc annum volumen esse
transportatum." Ebenso wie der Londoner Oktateuch hat aber
auch die borgianische Hs. der Bücher. Regum, in der Roupp die
zu Ludolfs Zeit in S. Stefano befindliche Reg.-Hs. wiederentdeckt
hat (s. unten S. 184 iF.), auf einem dem äthiopischen Texte voran-
gehenden Vorsetzblatte eine lateinische Inhaltsangabe, welche
Eoupp S. 299 f. abgedruckt hat. Diese stammt von dem römischen
Lector theologiae Johannes Pastritius und ist von ihm in der
Hauptsache am 18. Mai 1700 (Roupp S. 300 Z. 16) nach Angaben
des damals in Rom weilenden Heinr. Wilh. Ludolf (s. oben S. 177
Anm. 2) niedergeschrieben (Roupp S. 300 Z. 25 ff.). Sie beginnt
jedoch mit den Worten „Hie Codex continet libros 4 Regum. Jo. *)
Pastritius 1694 et 1696 20 Sept.« Und was diese Worte zu be-
deuten haben, lehrt uns der letzte Abschnitt (Roupp S. 300 Z. 19 ff.),
wo Pastritius berichtet, daß er, obwohl der äthiopischen Sprache
unkundig, „anno 1694 primum, tum 1696" auf Bitten Hiob Ludolfs
„omnes libros manuscriptos qui in domo S. Stephani Abyssinorum
reperiebantur" verzeichnet habe. Pastritius hat also der Hs. nicht
erst am 18. Mai 1700 eine Inhaltsangabe voraufgeschickt, sondern
er hatte schon vorher im Jahre 1694 und am 20. Sept. 1696 ihren
Hauptinhalt mit den Worten „flic Codex continet libros 4 Regum"
kurz angegeben. Hier haben wir also in dem 20, Sept. 1696
genau dasselbe Datum wie in dem Londoner Oktateuch. Und über-
dies hat auch der Senödös, der einst in S. Stefano war (s. oben
S. 163. 178) und jetzt als Borg. aeth. 2 in der Biblioteca Vaticana
aufbewahrt wird, nach Tisserant S. XLIII gleichfalls „notulam 20
sept. 1696 a lohanne Pastritio exaratam in fol. I". Bei dieser
völligen Übereinstimmung der drei Hss. kann es keinen Augenblick
zweifelhaft sein, daß auch das ^argumentum" des Londoner Okta-
teuchs, dessen Verfasser Dillmann nicht nennt, von Joh. Pastritius
1) In Roupps Abdruck der Inhaltsangabe steht hier nicht „Jo.", sondern
„Js." Aber dies ist gewiß ein Druckfehler; denn bei Roupp S. 300 Z. 16f.,
wo der Name ausgeschrieben ist, heißt es: „Joannes Passtritius [so!] Dalmata
Spalatensis, Lector Theologiae". Vgl. auch Tisserant S. XLIII unter Nr. 62
und 63.
über einige alttestam, Hss. d. Abessinierklosters S. Stefano zu Rom. 181
stammt. Vermutlich hat dieser sich auch in der Londoner Hs.
ebenso unterzeichnet wie in den beiden anderen, und Dillmann,
der ja überhaupt den Wortlaut des „argumentum" nicht mitteilt,
hat Pastritius bloß deshalb nicht genannt, weil es sich um einen
unbekannten Namen handelt, und weil es ihm nur darauf ankam,
nachzuweisen, daß die Londoner Hs. schon vor 1696 nach Europa
gekommen sei. Daß Pastritius in der Tat auch den Oktateuch mit
einer derartigen Eintragung versehen hat, ist um so sicherer, als
er selbst in seiner Vorbemerkung zu der Reg.-Hs. auf diese Ein-
tragung verweist: Roupp S. 300 Z. 18 „ut et innuebam in Octa-
teucho n*" 1."^). Hat aber Pastritius sowohl den Oktateuch, als
die Reg.-Hs. und den Senödös am 20. Sept. 1696 mit einer Inhalts-
angabe versehen, so müssen natürlich an diesem Tage noch allß
drei Hss. an demselben Orte vereinigt gewesen sein. Und dieser
Ort kann kein anderer gewesen sein als das Abessinierkloster S.
Stefano, welches ja Pastritius, wie wir sahen, in seiner Vorbemer-
kung zu der Reg.-Hs. ausdrücklich als ihren Aufenthaltsort nennt.
Hiermit ist erwiesen, daß der Londoner Oktateuch „F'^ im Jahre
1696 in S. Stefano war. Daraus folgt dann aber auch, daß er
mit dem Oktateuch identisch ist, der einige Jahrzehnte früher in
S. Stefano von Hiob Ludolf gesehen und von Wansleben abge-
schrieben wurde. Denn es wäre doch ein gar zu sonderbarer Zu-
fall, wenn Hiob Ludolf 1649 ^j, Glregorius 1651 (s. oben S. 165),
Wansleben 1666 (s. oben S. 167 Anm. 4 und S. 168 Anm. 1), Pa-
stritius 1696 und Heinr. Wilh. Ludolf 1700 (s. oben S. 178) sämt-
lich einen Oktateuch, eine Reg.-Hs. und einen Senödös in S. Stefano
vorgefunden hätten, und es sich dabei nicht um dieselben Hss.
handeln sollte. Daher hat auch Hiob Ludolf zweifellos recht, wenn
er zu der Oktateuch-Beschreibung seines Neifen hinzufügt, dies
sei derselbe Band, den er in seinem Comm. S. 298 beschrieben habe
(s. oben S. 178).
Nach alledem kann, glaube ich, auch nicht der leiseste Zweifel
mehr möglich sein, daß F in der Tat die von Wansleben kopierte
Hs. und damit zugleich der Archetypus H's ist. Daraus ergibt
sich dann aber als praktische Konsequenz, daß die ja auch an sich
1) Zu „no 1.« vgl. oben S. 164. 165. 178, wo die Oktateuch-Hs. von Hiob
Ludolf, Abba Gregorius und Heinr. Wüh, Ludolf auch immer an erster Stelle
genannt wird.
2) Von Ludolf wissen wir allerdings mit Sicherheit nur, daß er den Okta-
teuch und den Senödös gesehen hat. Das Vorhandensein der Reg.-Hs. hat er
vielleicht erst durch die Briefe des Gregorius erfahren.
182 Alfred Rahlfs,
ganz sekundäre Handschrift H in Zukunft aus dem textkriti-
schen Apparat, in welchem sie noch Boyd sonderbarerweise
beibehalten hat, obwohl er sie für einen direkten Abkömmling F's
hält, endgültig zu verschwinden hat. "Wo sie von F ab-
weicht, haben wir es bestenfalls mit Korrekturen Ludolfs, in der
Regel aber mit Versehen Wanslebens oder der späteren Abschreiber
zu tun (vgl. die Bemerkung über Ungenauigkeiten in Wanslebens
Abschrift der Königsbücher unten S. 186 f,).
Bisher habe ich nur über Wanslebens Abschrift F's und deren
weitere Abschriften gesprochen. Nun ist aber noch zu erwähnen,
daß schon vor Wansleben ein anderer Gelehrter zwei allerdings
kleine Stücke aus F abgeschrieben und sogar zum Druck befördert
hat. Es handelt sich um Theodor Petraeus, mit dem ich mich
kürzlich in meinem Aufsatz „Nissel und Petraeus, ihre äthiopischen
Textausgaben und Typen" (s. oben S. 161) eingehender beschäftigt
habe.
Petraeus hat 1660 im Anhange zu seiner Ausgabe des äthiopi-
schen lonas die vier ersten Kapitel der Grenesis herausgegeben,
s. Eahlfs Niss. u. Petr. S. 277. Dieser Text soll nach Dillm. Oct.
S. 12 ein „textus mixtus et ab editore castigatus" sein. Letzteres
wird für einzelne Stellen zutreffen, obwohl Petraeus selbst in der
Überschrift behauptet, ihn „fideliter" aus der Hs. abgeschrieben
zu haben. Aber Dillmanns „textus mixtus" ist mindestens irre-
führend, da es den Eindruck erweckt, als liege hier eine Mischung
der beiden von Dillmann unterschiedenen Texttypen (FH und CGr)
vor. Davon kann aber keine Rede sein. Vielmehr beruht Petraeus'
Ausgabe einzig und allein auf F. Man kann das sehr leicht nach-
weisen. Denn gerade in dem 4. Kapitel der Gen., mit dem die
Ausgabe des Petraeus schließt, beginnt ja mit Vers 15 der oben
S. 176 besprochene, in seinem ganzen Charakter völlig von der
altäthiopischen Übersetzung abweichende, junge Text, der in F
erst nachträglich zur Ausfüllung einer durch den Ausfall zweier
Blätter entstandenen Lücke eingeschoben ist. Geradeso wie die
Abschrift Wanslebens und deren Abkömmlinge geht hier nun auch
die Ausgabe des Petraeus nicht etwa mit den übrigen von Dill-
mann und Boyd (s. oben S. 176 Anm. 1) kollationierten Hss., son-
dern mit F zusammen ; nur hat Petraeus in dem ersten Verse dieses
jungen Textes den ersten der großen Überschüsse, welche derselbe
gegenüber dem hebräischen und griecbischen Texte aufweist, in-
folge eines Versehens oder absichtlich fortgelassen.
über einige alttestam. Hss. d. Abessinierklosters S. Stefano zu Rom. 183
In demselben Jahre 1660 ist dann auch das Buch Ruth äthio-
pisch erschienen, gleichfalls nach der Abschrift des Petraeus, aber
nicht von ihm selbst, sondern von seinem Freunde Nissel heraus-
gegeben, s. Eahlfs Niss. u. Petr. S. 277— 279. Daß dieser Text
ebenfalls aus F stammt, geht schon aus Dillmanns Charakterisie-
rung desselben hervor, s. Oct. S. 215 : „Textus, qui hoc libro [d. h.
Nisseis Ruth- Ausgabe] continetur, fere omnibus in locis cum nostro
codice F mire convenit, et easdem formas verborum obsoletas eos-
demque librariorum errores, quibus F insignis est, fere omnes ex-
hibet.^
Daß Petraeus gerade F benutzt hat, erklärt sich nun auch
leicht. F war damals, wie wir gesehen haben, im Abessinierkloster
S. Stefano in Rom ; Petraeus aber ist, wie ich a. a. 0., S. 292—294 '
nachgewiesen habe, im Jahre 1656 in Rom gewesen und hat dort
unter anderen die Abessinier aufgesucht. So ist es ganz natürlich,
daß er, der ja überall mit in erster Linie auf Handschriften fahn-
dete, auch die äthiopischen Handschriften von S. Stefano gesehen
und benutzt hat (vgl. auch unten S. 189. 194 — 196). Allerdings
hat weder Petraeus noch Nissel den damaligen Aufenthaltsort F's
deutlich angegeben. Petraeus sagt, er habe Gen. 1—4 abgeschrieben
;,ex pervetufto Manufc. Pentateucho , ex iEthiopia Hierofolymam
allato" ; Nissel sagt, das Buch Ruth sei „e vetufto Manufcripto,
recens ex Oriente allato erutus". Aber darin haben wir, wie ich
a. a. 0., S. 277. 279 ausgeführt habe, wohl nur absichtliche Ver-
schleierungen des wirklichen Tatbestandes zu erblicken, wie sie
bei Entdeckern, die ihre Entdeckung für sich zu reservieren wün-
schen, so häufig vorkommen. Beide Angaben sind, wie ich dort
gesagt habe, „an sich nicht falsch; ja, nimmt man sie nur in der
richtigen Weise zusammen, so bekommt man sogar die Geschichte
der "Wanderung der Hs. heraus : sie war zuerst im Orient aus
Äthiopien nach Jerusalem und dann, nicht sehr lange vor Petraeus'
Reise, aus dem Orient nach Europa gebracht. Aber nur der Ein-
geweihte vermag jene beiden Angaben richtig zusammenzusetzen
und zu deuten. Der Uneingeweihte wird aus der einen Angabe
schließen, Petraeus habe seinen Gen.-Text au« einer in Jerusalem
befindlichen Pentateuch-Hs. abgeschrieben, aus der anderen dagegen,
er selbst habe die Ruth-Hs. aus dem Orient mitgebracht."
Zum Schlüsse ist hier noch zu erwähnen, daß Petraeus nicht«
nur Gren. 1—4 und Ruth aus dem römischen Oktateuch abgeschrieben,
sondern sich auch sonst allerlei Notizen aus demselben gemacht
haben muß. Denn wenn er in den Anmerkungen zu seiner Aus-
gabe des lonas auf S. 8—24 (also auf den dem Texte von Gen.
184 Alfred Rahlfs,
1—4 voraufgehenden Seiten) eine größere Zahl anderer Stellen
aus dem Oktateuch, besonders der Grenesis,- zitiert (den. 87.
12 14. 222. 2811.14. 2020. 3O37. 38l2. 4324. 44?. 17. 20. 4632. 34 zweimal.
473. 48 11. Exod. 2 17. 19. 99.10.23.28.33. 10 19. Lcv. 9 1. 3. 16 8. Num.
21s|8. los. 2io. 423. 24i6. lud. 196. 10.23), so kann er den Wort-
laut auch dieser Stellen nicht wohl anderswoher als aus ebenjenem
römischen Oktateuch gekannt haben.
Über die Art, wie der Oktateuch nach London gekommen sein
Wird^ s. unten S. 190—193.
n. Die Bücher ßegtiui.
Die einst in S. Stefano befindliche Hs. der Bücher Regum hat
N. Roupp, angeregt durch seinen Lehrer Ignazio Guidi, in sei-
nem Aufsatz „Die älteste äthiopische Handschrift der vier Bücher
der Könige" in der Zeitschrift für Assyriologie 16 (1902), S. 296
— 343 nachgewiesen. Sie ist heutigen Tages in der Biblioteca Va-
ticana und trägt dort die Signatur Borg. aeth. 3, s. Tisserant
S. XLH Nr. 62.
Aus E-oupps Darlegungen ergeben sich folgende Grründe für
die Identität dieser Hs. mit derjenigen, die zu Ludolfs und
"Wanslebens Zeit in S. Stefano war:
1) Borg. aeth. 3 ist, wie die schon oben S. 180 f. herangezo-
gene Eintragung des Pastritius beweist, in den Jahren 1694, 1696
und 1700 zweifellos in S. Stefano gewesen ^).
2) Dieselbe Handschrift ist auch schon vor 1694 in S. Stefano
gewesen. Denn am unteren Rande des Blattes, auf welchem der
äthiopische Text beginnt, hat sie nach Roapp Taf. 1 und S. 303
1) Roupp selbst meint allerdings S. 303, sie sei damals nicht mehr in S.
Stefano gewesen, sondern Pastritius habe sie aus dem Kloster gekauft und 1694
oder spätestens 1696 in eigenem Besitze gehabt. Aber das ist, wie schon Tis-
serant S. XLIII Z. 2f. mit Recht bemerkt hat, ein evidentes Versehen Roupps.
Pastritius hat die Hs. niemals besessen, und er behauptet dies auch gar nicht ;
vielmehr gehörte sie nach seiner ausdrücklichen Angabe zu den „libri manuscripti
qui in domo S. Stephani Abyssinorum reperiebantur" (Roupp S. 300 Z. 23 f.).
Vielleicht hat sich Roupp durch den Schluß der Vorbemerkung des Pastritius
irreführen lassen, wo derselbe sagt, er habe die Inhaltsangabe in die Hs. einge-
tragen als „beneficium hoc modo futurum tum domui tum emtoribus" (Roupp
S. ßOO Z. 29 f.). Hierdurch weist Pastritius jedoch nur auf die Möglichkeit hin,
daß das Kloster die Hs. einmal verkaufen könnte.
über einige alttestam. Hss. d. Abessinierklosters S. Stefano zu Rom. 185
folgende Notiz in äthiopischer Sprache*): „Im Jahre 1637 nach
Christi Geburt^) habe ich Abbä Mähsanta-Märjäm zaMändämbä
dieses Buch als Druckexemplar gebracht. Es ist das Eigentum
Jerusalems. Wir werden es zurückgeben, nachdem wir es gedruckt
haben." Wohin der Schreiber dieser Notiz, Mähsanta-Märjäm, die
Hs. im Jahre 1637 gebracht hat, sagt er nicht. Aber da er einer
der vier Abessinier ist, welche das äthiopische Gedicht vor dem
1638 in Rom erschieneuen Lexicon Aethiopicum von lacobus Wem-
mers unierzeichnet haben ^), so hat er natürlich damals in S. Ste-
fano gewohnt und dorthin auch unsere Hs. der Königsbücher ge-
bracht. So erklärt sich auch die Angabe, daß er die Hs. als Druck-
exemplar gebracht habe. Ich vermag zwar keine anderen Nach-
richten über den Plan einer Herausgabe der äthiopischen Königs-
bücher in Rom nachzuweisen. Aber gerade in Rom begreift sich
ein solcher Plan leicht. Dort waren früher der Psalter und das
Neue Testament erscbienen (s. oben S. 162 f.) ; so konnte man dort
wohl auf den Gedanken kommen, auch die übrigen Teile der Bibel
herauszugeben. Und gerade um 1637 lag, wie mir scheint, dieser
Gedanke besonders nahe. Kurze Zeit vorher hatte die Mission
der Jesuiten in Abessinien ihre höchste Blüte erreicht, und damals
hatte Urban VIII. für dieselbe durch die Propaganda zu Rom
neue äthiopische Typen schneiden lassen, die der gelehrten Welt
1630 durch eine Neuauflage der Grammatik des Victorius bekannt
gemacht waren, und mit denen dann auch das eben erwähnte, 1638
erschienene Lexikon von Wemmers gedruckt wurde ^). Gerade
diese eifrigen Bemühungen um die Gewinnung der Abessinier für
die römisch-katholische Kirche konnten den Gedanken eines Bibel-
druckes sehr wohl nahelegen. Nun war allerdings die Macht der
Jesuiten in Abessinien im Jahre 1632 jäh zusammengebrochen;
aber es versteht sich von selbst, daß man Abessinien nicht sofort
1) Ich gebe die Übersetzung im Anschluß an Roupp S. 303.
2) Der in Rom lebende Mähsanta-Märjäm folgt hier offenbar der römischen
Jahreszählung, genau so, wie es auch llabta-Märjäm (s. unten S. 198 Anm. 1) in
der 1610 von ihm in ö. Stefano geschriebenen Hs. London, Brit. Mus., Add. 19892,
Gregorius bei Flemmiug 1, S. 571 Z. 24/25 etc. und die Grabinschriften von S.
Stefano bei Chaine S. 27 ff. tun. Nach der in Abessinien herrschenden alexau-
driuischen Weltära des Panodorus fällt die Geburt Christi in das 8. Jahr unserer
Ära (s. z. B. Ludolf Comm. S. 387), aber die Abessinier pflegen sonst auch nicht
nach Jahren der Geburt Christi zu datieren, sondern diese höchstens nebenbei
anzugeben.
3) Dies hat schon Wansleben bemerkt, s. unten S. 186 den Schluß von Anm. 1.
4) Genauere Mitteilungen über diese Typen s. bei Rahlfs Niss. u. Petr.
S. 324 f. (dritte Typenart).
186 Alfred Rahlfs,
aufgab, sondern zunächst noch auf eine baldige Wiederkehr bes-
serer Zeiten hoffte. Und so wird man auch den Plan einer Bibel-
ausgabe weiter verfolgt haben, zumal da gerade damals in Eom
Gelehrte wie lacobus Wemmers und Athanasius Kircher lebten,
die sich lebhaft für die äthiopische Sprache und Literatur inter-
essierten (vgl. Chaine S. 16), und da ja auch das für einen solchen
Druck erforderliche Typenmaterial in Rom vorhanden war.
3) Die soeben besprochene Notiz über die Verbringung der
Hs. von Jerusalem nach Rom findet sich, wie Zotenb. S. 3 Sp. II
lehrt, ebenso, bloß mit einigen orthographischen Varianten, in
Wanslebens Abschrift der Königsbücher ^). Daraus folgt, daß
Wansleben seiner Abschrift eben unsere Hs. zugrunde gelegt hat.
Daß Wansleben die Notiz erst am Schlüsse der Königsbücher bringt,
während sie in der Hs. am Anfange — jedoch am unteren Eande,
also doch nicht zu Anfang des Textes — steht, macht natürlich
nichts aus, vgl. Roupp S. 339 f.
4) Wanslebens Text der Königsbücher stimmt, soweit es sich
nach den Mitteilungen über denselben bei Zotenb. beurteilen läßt,
sowohl in seinem Wortlaut, als auch in seiner Einteilung meistens
mit dem Borg. aeth. 3 über ein, s. Eoupp S. 336 f.
Nun hat allerdings Roupp S. 336—341 in lobenswerter Vorsicht
eine Reihe von Unterschieden zwischen Wanslebens Abschrift
und dem Borg. aeth. 3 aufgeführt, die gegen die Identifikation
dieser Hs. mit der Vorlage Wanslebens ins Feld geführt werden
könnten. Aber mit Recht hat Roupp auch geurteilt, daß jene
Unterschiede keinen genügenden Gegenbeweis gegen die sonst so
wohl begründete Identifikation abgeben, und sie richtig daraus
erklärt, daß Wansleben bei der Abschrift des Bibeltextes öfters
flüchtig und ungenau gearbeitet und einige Zutaten, die nicht zum
Bibeltexte selbst gehören, ganz fortgelassen hat. Die Überein-
1) Aus Wanslebens Abschrift bat Hiob Ludolf diese Notiz mit abgeschrieben
in den oben S. 170 f. erwähnten Bemerkungen am Schlüsse seiner los.-Abschrift, und
von da ist sie dann in die weiteren Abschriften, auch in die Hallenser, überge-
gangen. Daher kann auch Dillm. Oct. S. 167 berichten, daß Wanslebens Abschrift
(Dillm, meint ."mit einem leicht erklärlichen Irrtum : auch die des Oktateuchs, während
es sich in Wirklichkeit nur um die Bücher Regum handelt) genommen sei „e co-
dice autographo, quem anno 1638 Mahtzenta-Marjam, Mand-Ambensis, Hierosolyma
Romam attulit, ubi typis exprimeretur et unde perfecta typographia Hierosolymam
reportaretur" („1638" ist ein Fehler Dillmanns; auch die Hallenser Hs. hat richtig
„1637" und bemerkt nur, wie schon Wansleben bei Zotenb. a.a.O., daß es sich
hier um denselben Mahtzenta-Marjam handle, der das äthiopische Gedicht vor dem
1638 in Rom erschienenen äthiopischen Lexikon von Wemmers mit unterzeichnet
habe).
über einige alttestam. Hss. d. Abessinierklosters S. Stefano zu Rom. 187
Stimmung der Abschrift mit dem Original ist hier eben genau so
unvollkommen wie beim Oktateuch, wo sich ja Dillmann durch
ähnliche Unterschiede zwischen H und F sogar zu der Annahme
hatte verleiten lassen, daß H gar nicht direkt auf F, sondern nur
auf einen nahen Verwandten F's zurückgehe (s. oben S. 174 f.). Einer
eingehenden Widerlegung jedes von einem derartigen Unterschiede
hergenommenen Gegengrundes bedarf es nicht; doch möchte ich
mir zu Houpps Ausführungen, die jene Gegengründe im großen
und ganzen schon hinreichend entkräften, noch] zwei kurze Bemer-
kungen gestatten:
1) Roupp S. 336 rechnet mit der allerdings von ihm' selbst als
nicht wahrscheinlich bezeichneten Möglichkeit, daß Mäh§anta-Mär-
jäm mehrere Reg.-Hss. nach Eom gebracht und mit derselben Notiz
versehen und Wansleben eine andere dieser Hss. abgeschrieben
hätte. Aber eine solche Möglichkeit wird dadurch ausgeschlossen,
daß nicht nur nach Heinr. Wilh. Ludolf (s. oben S. 178), sondern
auch schon nach Gregorius und Hiob Ludolf (s. oben S. 165 und
164) bloß eine einzige Reg.-Hs. in S. Stefano vorhanden war.
2) Roupp S. 341 bemerkt als auffällig, daß Wansleben die am
Schlüsse der Hs. stehende, für ihre Geschichte so wichtige Schen-
kungsurkunde nicht erwähnt, durch welche der König 'Amda-
Sejön, mit Regierungsnamen Gabra-Maskal (1314 — 1344), die Hs. den
Abessiniern zu Jerusalem stiftet (Roupp Taf. 4 und S. 304). Aber
wenn auch "Wansleben sie unerwähnt gelassen hat, so finden wir
doch Hinweise auf sie nicht erst bei Pastritius (Roupp S. 299 f.)
und Heinr. Wilh. Ludolf (oben S. 178), sondern auch schon bei
Gregorius und Hiob Ludolf, die ja Gabra-Maskal unter den Kö-
nigen nennen, welche einst die später in S. Stefano befindlichen
Hss. nach Jerusalem geschickt haben (s. oben S. 165 und 164). Da
nun in S. Stefano, wie eben bemerkt, nach allen Nachrichten im-
mer nur eine einzige Reg.-Hs. gewesen ist, so kann Wansleben
auch nur diese abgeschrieben haben und muß in der Tat, wie Roupp
S. 341 annimmt, jene Schenkungsurkunde entweder ganz übersehen
oder nicht genügend beachtet haben.
ni. Isaias.
Hinter dem Oktateuch und den Büchern Regum nennen Abba
Gregorius und Hiob Ludolf den Isaias, s. oben S. 165 und
164. Dieser ist noch nicht identifiziert, und auch mir wollte es
anfangs nicht gelingen, ihn zu identifizieren, bis ich Heinr. Wilh.
Ludolfs oben S. 178 abgedruckte Beschreibung der Hss. von S.
188 Alfred Rahlfs,
Stefano fand und daraus ersah, daß die Isaias-Hs. außer dem ka-
nonischen Buche auch noch die Ascensio Isaiae und „quaedam Es-
drae" enthielt. Hiermit ergab sich die Identifikation ganz von
selbst. Bis jetzt sind nämlich nur drei Hss. der Ascensio Isaiae
bekannt, die schon Dillmann für seine Ausgabe des Werkes^) be-
nutzt hat, und zu denen auch Charles^) keine weitere hat hinzu-
fügen können, nämlich
1) Oxford, Bodl. Libr., Aeth. 7, die Hs., auf der die Editio
princeps des Werkes von Eich. Laurence^) beruht,
2) London, Brit. Mus., Orient. 501,
3) London, Brit. Mus., Orient. 503.
Von diesen kommen aber die beiden Londoner Hss. schon deshalb
nicht in Frage, weil sie erst neuerdings nach Europa gekommen
sind; denn beide stammen aus der Beute der 1868 von den Eng-
ländern eroberten abessinischen Stadt Magdala. Auch paßt ihr
Inhalt (s. W. Wright, Catalogue of the Ethiopic mss. in the Brit.
Mus. [1877], S. 19— 21 Nr. XXV und XXVII) nicht zu der von
Heinr. Wilh. Ludolf gegebenen Beschreibung. Dagegen stimmt die
Oxforder Hs., wie schon Platt in einer Anmerkung zu jener
Beschreibung bemerkt hat*), völlig mit ihr überein; denn sie ent-
hält 1) das kanonische Buch des Propheten Isaias, 2) die Ascensio
Isaiae, 3) die Apokalypse des Esdras = Esdr. I nach abessinischer
oder Esdr. IV nach lateinischer Zählung, s. Dillm. Bodl. S. 9 f.
Aber stammt nun diese Hs. wirklich aus S. Stefano? In
Oxford selbst denkt man darüber anders. F. Madan, Summary
catalogue of western mss. in the Bodl. Libr. 5 (1905), S. 414 Nr.
28166 sagt über die Herkunft der Hs. : „Probably brought by
Theod. Petraeus from Jerusalem". Von wem diese Vermutung
stammt, und worauf sie sich gründet, sagt Madan nicht. Man
wird aber nicht fehlgehen, wenn man annimmt, daß die Oxforder
sie von Dillmann übernommen haben; denn dieser sagt in seiner
Ausgabe der Ascensio Isaiae S. VI Anm. 10 : „Hunc codicem . . .
1) Ascensio Isaiae Aethiopice et Latine. Lips. 1877.
2) The Ascension of Isaiah, translated from the Ethiopic version etc. London
1900.
3) Ascensio Isaiae vatis. Oxoniae 1819.
4) Platt S. 8 Anm. 1: „The MS. from which Dr. Laurence published his
"Ascensio Isaiae Vatis," seems to have had exactiy the same contents, and the
"quaedam Esdrae" here mentioned, proved to be the fourth Book attributed to
that Prophet in the Vulgate, or the first, according to the Ethiopic Version."
Daran, daß es sich in beiden Fällen um dieselbe Hs. handle, hat Platt, wie seine
Ausdrücke zeigen, offenbar nicht gedacht.
über einige alttestam. Hss. d. Abessinierklosters S. Stefano zu Rom. 189
quondam Th. Petraei fuisse arbitror. Etenim e verbis librarii sub
calcem Ascensionis subscriptis (impressa sunt apud Laurence p. 78
— 80) elucet, codicem in usum Aaronis clerici et monachi, Hiero-
solymam peregrinati vel peregrinaturi, exaratum esse. Petraeum
autem ut alios . . . ita hunc quoque Hierosolyma in Europam re-
portasse videtur. Sane Ascensionem Aethiopicam a se inspectam
esse Petraeus ipse testatur in suo libello, qui inscriptus est Pro-
pbetia Jonae ex Aethiopico in Latinum versa 1660, p. 20." Wäh-
rend nun aber die Vermutung selbst entschieden falsch ist, ent-
halten die sie begründenden Ausführungen Dillmanns ganz richtige
Beobachtungen, welche bloß anders gedeutet zu werden brauchen,
um durchaus für Herkunft der Hs. aus S. Stefano zu sprechen.
Denn 1) kann eine Hs., die für einen Jerusalempilger geschrieben,
also früher einmal in Jerusalem gewesen ist, ja nicht bloß von
Petraeus nach Europa gebracht, sondern ebenso wie der Oktateuch
und die Reg.-Hs. schon vor der Orientreise des Petraeus ans Je-
rusalem in das Abessinierkloster S. Stefano zu Rom gekommen
sein; 2) wenn Petraeus die Hs. benutzt hat — und daran kann
nach dem von Dillmann sehr gut nachgewiesenen Zitat aus der
Asc. Is. bei Petraeus kein Zweifel sein, da es ja, wie bemerkt,
außer den beiden erst neuerdings aus Abessinien nach Europa ge-
kommenen Londoner Hss. nur noch diese einzige Hs. der Asc. Is.
gibt — , so braucht er sie nicht erst selbst nach Europa gebracht
zu haben, sondern kann sie ebenso wie den Oktateuch (s. oben
S. 183) und die später zu besprechende Hs. der kleinen Propheten
(s. unten S. 194—196) schon in S. Stefano vorgefunden und ein-
gesehen haben. Darüber aber, daß er die Hs. wirklich dort kennen
gelernt hat, besitzen wir sogar eine direkte Angabe in dem Göt-
tinger Cod. Michael. 264 und der daraus abgeschriebenen Hallenser
Hs. Ya. 3 (s. oben S. 172 und 167). Beide enthalten nämlich am
Schlüsse der oben S. 172 Anm. 2 erwähnten Sammlung von Bibel-
fragmenten solche aus der Apokalypse des Esdras mit der aus-
drücklichen Angabe, daß Petraeus dieselben in Rom gesammelt
habe: „Ex IV. Libro Esdrce Theodor us Fetrceus fragmenta qucedam
jRomce collegit, qim hie adfcripta fimt" ^). Diese stammen aber zwei-
fellos gleichfalls aus unserer Isaias-Hs., die ja nach Heinr. Wilh.
Ludolf auch ^quaedam Esdrae", d.h., wie wir jetzt wissen, eben
die Apokalypse des Esdras, enthielt^).
1) Siehe Ralilfs Niss. u. Petr. S. 293. Dort habe ich auch schon bemerkt,
daß Hiob Ludolf diese Fragmente aus den Adversaria des Petraeus haben wird,
die er von Olfert Dapper geschenkt bekommen hatte.
2) Auch in den Anmerkungen zum lonas (vgl. oben S. 183 f. und die soeben
190 Alfred Rahlfs,
Nach alledem kann die Identität der Oxforder Hs. mit der
einst in S. Stefano befindlichen nicht mehr zweifelhaft sein , und
es fragt sich nur noch: Wie ist jene Hs. nach Oxford ge-
kommen? Nach Madan a.a.O. hat sie der Oxforder Prof. Ei-
chard Laurence im Jahre 1822 der Bodleiana geschenkt. Vorher
hatte Laurence aus ihr die „Ascensio Isaiae" (Oxon. 1819) und
„Primi Ezrae libri, qui apud Vulgatam appellatur quartus, versio
Aethiopica^ (Oxon. 1820) herausgegeben. In dem ersten dieser
beiden Werke S. V Anm. a gibt er nun an, wo er die Hs. erworben
hat: „Ab J. Smith ßibliopola Londinensi in vico "Drury Lane,"
qui eum ex quibus nescivit libris sub * hasta divenditis mercatus
erat." Daraus sehen wir, daß die Hs. aus Italien nicht direkt
nach Oxford, sondern zunächst nach London gekommen ist. Wann
Laurence die Hs. erstanden hat, sagt er nicht. Da er sich aber
mit der Herausgabe des zweiten Werkes, wie er selbst am An-
fange seiner Vorrede bemerkt, möglichst beeilt und es bereits ein
Jahr nach dem ersten veröffentlicht hat, so wird er auch mit der
Herausgabe des ersten Werkes nicht lange gezögert haben. Mög-
licherweise hat er also die Hs. erst im Jahre 1818 erworben und
sich sofort an die Herausgabe der Ascensio Isaiae gemacht und
diese ebenso wie die der Esdras- Apokalypse innerhalb eines Jahres
fertiggestellt; denkbar ist jedoch auch, daß die Vorbereitungen
für diese erste Publikation etwas längere Zeit in Anspruch ge-
nommen haben, und er die Hs. etwa im Jahre 1817 erworben hatte.
Diese beiden Jahreszahlen 1817/18 kehren nun in höchst auffälliger
Weise bei dem Londoner Oktateuch wieder. Denn wie ich oben
S. 166 bemerkt habe, ist derselbe nach Dillmanns Angabe kurz
beschrieben im „Report of the British Church Missionary Society
of the year 1817 — 1818", und obwohl ich diesen Bericht nicht zu
Gesicht bekommen habe, ist es mir doch nach der ganzen Sach-
lage keinen Augenblick zweifelhaft, daß er die erste Beschreibung
einer erst kürzlich erworbenen Hs. gibt. Daß dieser Oktateuch
dann aber durch die Hände desselben Londoner Buchhändlers ge-
gangen ist wie die Isaias-Hs., und daß J. Smith inDruryLane
um dieselbe Zeit die eine Hs. an die British Church Missionary
abgedruckte Stelle aus Dillmanns Asc. Is.) zitiert Petraeus auf S. 13 zwei Stellen
aus der Apokalypse des. Esdras (4i5. 17). Ferner zitiert er ebenda S. 15. 14. 17,
wohl gleichfalls aus unserer Isaias-Hs., die Stellen Is. 1 8. 2 19. 5 1. (Ebenda S. 24
zitiert er auch ler. 43o und Ez. 2340; woher er diese Stellen kennt, vermag ich
nicht zu sagen.)
über einige alttestam. Hss. d. Abessinierklosters S. Stefano zu Rom. 191
Society *), die andere an Laurence verkauft hat, ist eine selbst-
verständliche Folgerung.
J. Smith will die Isaias-Hs. laut seiner oben zitierten Angabe
auf einer Auktion' gekauft, aber nicht mehr gewußt haben, auf
welcher. Er muß mir aber gestatten, hierzu nachträglich ein
kleines Fragezeichen zu setzen. Mag eines Buchhändlers Gedächtnis
noch so belastet sein, so wird es sich ihm doch, sollt' ich meinen,
ganz von selbst einprägen, wo er so rare Sachen wie diese alten
äthiopischen Bibelhandschriften erworben hat. Bei dieser sonder-
baren Gedächtnisschwäche drängt sich mir unwillkürlich der Ver-
dacht auf, daß der ehrenwerte J. Smith sie simuliert hat, um die
nicht ganz einwandfreie Art der Erwerbung jener Hss. zu ver-
decken.
Wann und wie die Hss. nach London gekommen sind, können
wir nun allerdings nicht feststellen. Aber ganz sicher ist, daß sie
einige Jahrzehnte zuvor noch in Eom gewesen sind. Denn Jakob
Georg Christian Adler hat sie bei seiner in den Jahren 1780 —
1782 ausgeführten Romreise noöh in der ;,Bibliothek der Pro -
pagande" vorgefunden. Nach der „kurzen Uebersicht seiner
biblischkritischen Reise nach Rom" (Altena 1783), S. 172 f. gab es
damals in dieser Bibliothek folgende äthiopischen Hss. :
Ö5e{c^i(^te ber Könige in (Stl^iopien (K XLII. D. 14.), ferner B.
Virginis preces et encomia quotidie recitanda et coUoquium eius-
dem B. Virginis cum lefu (inepte compofitum), ac tandem bene-
dictiones aquae in nomine B. Virginis, in 12. fel^r alt, (N. XL.
A. 28.) Unb öon 58ibelftü!!en, '^^ntat^nd], Sojua, Sflid^ter unb
^ui^ auf Pergament, dt, (N. XLII. D. 13.), bk 12 tkxmn $ro=
:p^eten, auffer §ofea, ^ergam. (N. XX. E. 4.), Sefaiag unb 4 ^ücfjer
(Sfrä, fel^r alt, ^erg. (N. XX. A. 13.), ^fatme, ^ol^eUeb, unb einige
Sobgefänge ber ^ötbet, fe^r alt, $erg. (N. XX. E. 21.), ba^ §o^e-
Heb, ^ergam. (N. XX. E. 20.).
Daß es sich hier um die früher in S. Stefano befindlichen Hss.
I
1) Hierbei setze ich voraus, daß die Church Missionary Society, welche in
ihrem Jahresberichte von 1817/18 über die Hs. berichtet, damals auch die Be-
sitzerin derselben war. Ganz sicher ist mir dies freilich nicht, da ich, wie ge-
sagt, des fraglichen Jahresberichtes nicht habe habhaft werden können. Denkbar,
obwohl etwas sonderbar, wäre es schließlich auch, daß die Church Missionary
Society hier über eine Erwerbung der British and Foreign Bible Society berich-
tete, in deren Besitze sich die Hs., wie Platt lehrt (s. oben S. 166), spätestens
seit 1823 befindet. Am wahrscheinlichsten ist es aber doch wohl, daß die Church
Missionary Society in der Tat die Hs. gekauft, aber dann an die Bibelgesellschaft
als mehr in deren Arbeitsgebiet fallend abgegeben hat.
192 Alfred Rahlfs,
handelt, liegt auf der Hand ^). Die „Geschichte der Könige in
Ethiopien" ist nichts anderes als die oben S. 184 fF. besprochene
Reg.-Hs.; Adler konnte kein Äthiopisch und hatte, wie er in der
Fortsetzung der soeben abgedruckten Stelle sagt, auch keinen
Äthiopier zur Hand, der ihm „Aufklärungen über diese Hand-
schriften" hätte geben können; daher hat er den Inhalt der Hs.
nach dem ihrem Einbände aufgeprägten, irreführenden Titel „MSS
AETH I HIST. REGUM | ET CATALOa | PONTIF." (Roupp
S. 297) angegeben^). „B. Virginis preces" etc. in 12° wird eine
der am Schlüsse von Heinr. Wilh. Ludolfs Hss. -Verzeichnis (oben
S. 178) nur summarisch beschriebenen Hss. „in 12mo" sein. Dann
folgen der Londoner Oktateuch, die noch zu besprechende Hs. der
kleinen Propheten (s. unten S. 193 fF.) und unsere Isaias-Hs.; wenn
Adler angibt, letztere enthalte auch „4 Bücher Esrä", so ist das
offenbar ein Versehen für „4. Buch Esrä". Ein Psalter, der natur-
gemäß auch das Hohelied und die Oden enthält, findet sich gegen
Ende von H. W. Ludolfs Verzeichnis unmittelbar vor den Duodez-
bänden. Nur das „Hohelied" am Schluß von Adlers Liste läßt
^sich nicht identifizieren, ist mir aber auch sehr zweifelhaft, da Hss.,
die nur das Hohelied enthalten, mindestens ungewöhnlich sind.
Aber wie sind die Hss. in die Bibliothek der Propaganda, in
der sie Adler vorfand, gekommen? Durch päpstliches Breve vom
15. Januar 1731 war das Kloster S. Stefano, in welchem schon
seit mehreren Jahrzehnten keine abessinischen Mönche mehr wohnten
(Chaine S. 11. 18), der Propaganda unterstellt, s. Jos. Sim.
Assemanis Abhandlung „Della nazione dei Copti" in Ang. Mais
;,Scriptorum veterum nova collectio" 5 (1831), zweite Abteilung,
S. 181 unten, sowie den Abdruck des Breves im Bullarium pon-
tificium S. Congregationis de propag. fide 2 (1840), S. 71—74. Daß
aber die Propaganda nunmehr die äthiopischen Hss. von S. Ste-
fano, die dort doch nicht mehr benutzt wurden , in ihre eigene
Bibliothek überführen ließ, war eigentlich selbstverständlich. So
1) Von den Signaturen, welche Adler angibt, habe ich allerdings nirgends
eine Spur gefunden. Auch bei Tisserant, der bei der Reg.-Hs. eine ganze Reihe
älterer Signaturen notiert (S. XLll Nr. 62: „olim IUI Aeth. 3, dein 2; 10; L.V.
16"), findet sich gerade die Ädlersche „N. XLII. D. 14." nicht. Dies beweist je-
doch nicht gegen die Richtigkeit der Identifikation. Die Adlerschen Signaturen
haben vielleicht bloß auf Zetteln gestanden, die auf die Einbände geklebt waren,
und sind infolgedessen bei der Umsignierung völlig verschwunden.
2) Vgl. Roupp, der a. a. 0., ohne Adlers Werk zu kennen , sagt : „Wollte
man sich bloß auf den Titel verlassen, so könnte man meinen, es würde in dieser
Handschrift die Geschichte der Könige Aethiopiens erzählt und zu-
gleich die Reihenfolge der Metropoliten angegeben". Vgl. auch unten S. 202.
über einige alttestam. Hss. d. Abessinierklosters S. Stefano zu Rom. 193
erklärt es sich nun auch, daß die in Rom gebliebenen Hss. der
Bücher Regum und des Senödös später ins Museo Borgiano
gekommen und mit diesem im Mai 1902 (Roupp S. 298 Anm. 2) in
die Biblioteca Vaticana überführt worden sind. Denn das Museo
Borgiano gehörte eben der Propaganda und befand sich in ihrem
Gebäude; es enthielt nicht nur die Hss., welche die Propaganda
von ihrem 1804 verstorbenen Präfekten, dem bekannten Kardinal
und gelehrten Sammler Stefano Borgia ^), dem zu Ehren sie eben
das Museo Borgiano gründete^), geerbt hatte, sondern es wurden
diesem Museum auch diejenigen Hss. einverleibt, welche die Pro-
paganda schon vorher besessen hatte und erst nachher erhielt^).
Hiernach ist es klar, daß der Oktateuch, der Isaias und ebenso
die nunmehr zu besprechende Hs. der kleinen Propheten einst in
der Bibliothek der Propaganda und auch wohl noch im Museo
Borgiano gewesen sind. Wann und wie sie aber daraus entwendet
und nach England gebracht worden sind, entzieht sich begreif-
licherweise unserer Kenntnis.
IV. Kleine Propheten.
Abba Gregorius und Hiob Ludolf nennen außer dem Okta-
teuch, den Büchern Regum und Isaias keine alttestamentlichen
Handschriften (s. oben S. 165 und 164). Wohl aber fügt Heinr.
Wilh. Ludolf (s. oben S. 178) noch hinzu:
„Undecim Prophet ae minores — Deest Hoseas*"
Und ebenso Adler (s. oben S. 191):
„bie 12 kleinen $roj)]^eten, auffer §ofea, ^ergam.''
Nun hat aber auch die Bodleiana neben der Isaias-Hs. (Aeth. 7)
eine Hs. der kleinen Propheten außer Osee (Aeth. 8), und diese
Hs. ist ebenso wie jene vonLaurence im Jahre 1822 geschenkt,
s. F. Madan an der oben S. 188 zitierten Stelle^). Da liegt doch
die Vermutung außerordentlich nahe, daß auch diese Hs. aus
S. Stefano stammt und denselben Weg gegangen ist wie die
Isaias-Hs., mit der sie noch jetzt in Oxford zusammensteht.
Gegen diese Vermutung darf man nicht anführen, daß in
der Oxforder Hs. außer Osee auch noch die erste Hälfte des Arnos
1) Siehe über ihn auch Adler a. a. 0. , S. 167 f. Als Adler in Rom war,
war Stefano Borgia noch Sekretär der Propaganda. Später wurde er ihr Präfekt.
2) A. Ciasca, S. Bibliorum fragraenta Copto-Sahidica Musei Borgiani 1 (1885),
S. XVII.
3) Tisserant S. XXVI Nr. 32 beschreibt z. B. einen Codex Borgianus, welcher
der Propaganda erst im Jahre 1879 geschenkt wurde.
4) Nur diese beiden Hss. der Bodleiana stammen von Laurence-
Kgl. Ges. d. Wiss. Nachrichten. Phil.-hist. Klasse. 1918. Heft 2. 13
194 Alfred Rahlfs,
fehlt; nach Dillm. Bodl. S. 10 beginnt sie nämlich erst mit Am.
5 14. Denn in den summarischen Verzeichnissen Heinr. Wilh. Lu-
dolfs und Adlers kann man natürlich nicht so genaue Angaben
erwarten wie in Dillmanns ausführlichem Katalog.
Umgekehrt spricht für unsere Vermutung und zwar ausschlag-
gebend die von Dillmann beobachtete Übereinstimmung des Textes
der Oxforder Hs. mit den von Petraeus und Nissel 1660 und
1661 herausgegebenen Texten der vier kleinen Propheten loel,
lonas , Sophonias und Malachias ^). Schon 1848 hat Dillm. Bodl.
S. 10 f. in seiner Beschreibung der Oxforder Hs. bemerkt: „Textus
Joelis, Jonae, Sophoniae et Malachiae cum editionibus impressis,
in ipsis mendis, tarn accurate concordat, ut hie Codex non possit
non esse idem, quo olim Th. Petraeus et Nisselius usi sunt". Ferner
sagt derselbe in der Vorbemerkung zu seiner Neuausgabe des
äthiopischen loel am Schlüsse von A. Merx, Die Prophetie des
Joel (1879), S. 450: „Der hier zu Grrund gelegte älteste oder ur-
sprüngliche Text (A) ist genommen aus der alten Handschrift Cod.
Oxon. Bodl. VIII (Katalog p. 10), und ist dieser Cod. ohne Frage
derselbe, aus dem Th. Petraeus a. 1661 den Joel äthiopisch heraus-
gegeben hat (die Abweichungen dieser Ausgabe beruhen theils auf
Versehen und Druckfehlem des Petraeus, theils auf Verbesserungen,
vielleicht nach einer andern Handschrift)." Ahnlich auch Job.
Bachmann in seiner Neuausgabe des Malachias in „Dodekaprophe-
ton Aethiopum" Heft II (1892), S. 5 : „Petraeus dürfte seiner Aus-
gabe ebenfalls cod. Oxi [d. h. unsere Hs.] zu Grunde gelegt haben,
obwohl es nicht an mannigfachen Varianten fehlt, die vielleicht
der Vergleichung eines andern Codex ihre Entstehung verdanken.
Möglich auch, daß sie auf Mißverständnissen des Herausgebers be-
ruhen.^ Was Dillmann und Bachmann hier über Abweichungen
der Ausgaben des Petraeus von der Hs. bemerken, hat seine völ-
lige Parallele an dem oben S. 174 f. 182. 186 f. beim Oktateuch und
den Büchern Regum Bemerkten; daß Petraeus noch eine andere
Hs. der kleinen Propheten benutzt habe, darf man daraus ebenso-
wenig schließen, wie man dort aus ähnlichen Unterschieden schließen
durfte, daß Petraeus und Wansleben andere Hss. des Oktateuchs
und der Bücher Eegum neben oder statt der uns hier beschäfti-
genden benutzt haben. Petraeus hat offenbar — daran kann nach
den Beobachtungen von Dillmann und Bachmann kein Zweifel
sein — die vier Prophetentexte, welche er und sein Freund Nissel
1) Eine genaue bibliographische Beschreibung di6ser Ausgaben s. bei Rahlfs
Niss, u. Petr. S. 276 f. 282—284 unter Nr. 5. 8—10.
über einige alttestam. Hss. d. Abessinierklosters S. Stefano zu Rom. 195
herausgegeben haben, dem jetzigen Bodl. Aeth. 8 und nur diesem
entnommen.
Aber hat denn Petraeus diese Hs. wirklich im Abessinierkloster
S. Stefano zu Rom, das er im Jahre 1656 besuchte (s. oben
S. 183), vorgefunden und dort seine Texte aus ihr abgeschrieben?
Dies ist jedenfalls die nächstliegende Annahme, da er, wie wir
oben S. 183 f. 189 gesehen haben, aus S. Stefano auch seine Texte
von Gen. 1 — 4 und Ruth und seine Exzerpte aus dem Oktateuch,
der Ascensio Isaiae und der Apokalypse des Esdras hat. Indessen
könnte man dagegen zwei Einwände erheben, und diese müssen
wir jetzt noch erörtern und zu entkräften versuchen.
1) Wie ich schon in Niss. u. Petr. S. 282 f. ausgeführt habe,
scheint das, was Nissel und Petraeus selbst über die Herkunft
ihrer Prophetentexte sagen, auf eine andere Spur zu weisen. Nissel
sagt auf dem Titel seiner Ausgabe des Sophonias, der Text stamme
aus einem „vetuftifsimus MS. Codex" und sei „nunc primum" aus
dem Orient mit den übrigen kleinen Propheten nach Europa ge-
bracht. Derselbe nennt in der Widmungsepistel seiner Ausgabe
des Buches Ruth die zwölf kleinen Propheten unter den Hss.,
welche Petraeus „haud ita pridem Hierofolymis, & in iEgypto . . .
acquifivit". Auch äußert Petraeus selbst in der Widmungsepistel
seiner Ausgabe des lonas die Absicht, diesem kleinen Propheten
die übrigen elf folgen zu lassen. Hiernach würde man zunächst
annehmen, daß den Propheten-Ausgaben von Petraeus und Nissel
eine vollständige Hs. der zwölf kleinen Propheten zugrunde liege,
welche Petraeus von seiner Orientreise, etwa aus Jerusalem, mit-
gebracht hätte. Aber auch hier haben wir es offenbar, wie beim
Oktateuch (s. oben S. 183), mit einer absichtlichen Verschleierung
des wirklichen Tatbestandes zu tun. Wir haben dort gesehen, daß
Petraeus trotz seiner und Nisseis scheinbar in ganz andere Rich-
tungen weisenden Aussagen doch völlig zweifellos sowohl Gen.
1 — 4 als das Buch Ruth der damals in S. Stefano befindlichen
Londoner Oktateuch-Hs. entnommen hat. Da können wir natürlich
auch auf seine und Nisseis Angaben über die Hs. der kleinen
Propheten kein besonderes Gewicht legen. Nun ist es durch Heinr.
Wilh. Ludolfs Zeugnis (s. oben S. 178) über allen Zweifel erhaben,
daß diese Hs. einige Jahrzehnte später in S. Stefano gewesen ist.
Dorthin hätte sie aber nicht wohl kommen können, wenn örst Pe-
traeus sie aus dem Orient mitgebracht hätte. Denn ein Grund,
weshalb er diese Hs. nicht wie die übrigen, die er im Orient er-
worben hatte, für sich behalten, sondern nach S. Stefano gebracht
haben sollte, läßt sich kaum ausfindig machen. Auch hat er seine
13*
196 Alifred Rahlfs,
Rückreise aus dem Orient gar nicht, wie die Hinreise, über Eoin,
sondern über England gemacht, s. Rahlfs Niss. u. Petr. S. 297
— 299^.
2) Hiob Ludolf weiß noch in seinem 1691 erschienenen Comm.
nichts von einer in S. Stefano befindlichen Hs. der kleinen Pro-
pheten, s. oben S. 164. Aber Ludolfs Angaben im Comm. beruhen,
wie bereits S. 165 gezeigt, durchaus auf den Mitteilungen, welche
ihm Abba Gregorius im Jahre 1651 gemacht hatte. Und daß dieser
Abessinier auf Ludolfs Frage nach den äthiopischen Hss. von S.
Stefano ihm kein schlechthin vollständiges Verzeichnis geschickt,
sondern nur die größeren und vollständig erhaltenen genannt, da-
gegen eine so wenig umfangreiche und noch dazu Verstümmelte Hs.
wie die der kleinen Propheten (nur 71 Blätter) unerwähnt gelassen
hat, ist um so wahrscheinlicher, als er selbst von „großen Bü-
chern" spricht" (s. oben S. 165). Sollte aber trotzdem die Hs. der
kleinen Propheten im Jahre 1651 noch nicht in Rom gewesen sein,
so bliebe bis 1656, wo Petraeus in Rom war (s. oben S. 183), im-
mer noch eine Frist von einigen Jahren, in der die Hs„ nach Rom
gekommen sein könnte.
V. Oeschichte der vier Handschriften
(zugleich Zusammenfassung der Resultate)*
l)ie vier Hss., die wir besprochen haben, sind sämtlich für
ftbessinische Verhältnisse sehr alt. Der Oktateuch stammt nach
Dillmanns Schätzung aus dem XIII./XIV. Jahrhundert, s. oben
S. 166. Derselben Zeit muß die Reg.-Hs. angehören, da sie ja
bereits von dem 1314 — 1344 regierenden Könige 'Amda-Sejön, mit
Regierungsnamen Grabra-Maskal, nach Jerusalem gestiftet ist, s.
oben S. 187. Von den Hss. des Isaias und der kleinen Propheten
gibt Dillm. Bodl. S. 9 f. an, daß sie ;,literis grandioribus et forma
antiquioribus", resp. „characteribus grandioribus formaque anti-
quioribus" geschrieben seien; auch bemerkt er S. 10 Anm. y, daß
die Schrift der beiden Hss. ähnlich sei. In seiner Ausgabe der
l^^In seinen Anmerkungen zum lonas (vgl. oben S. 183 f. und S. 189 Anm. 2)
zitiert Petraeus aus den nicht von ihm edierten kleinen Propheten nur Mich. 1 6
und Agg. 1 4 (beide Zitate finden sich auf S. 15). Daraus läßt sich natürlich kein
sicherer Schluß ziehen. Immerhin aber darf man darauf aufmerksam machen,
daß der Befund wenigstens nicht gegen unsere Identifikation spricht, da die in
der Oxforder Hs. ganz oder teilweise fehlenden Propheten Osee und Amos auch
Ton Petraeus nicht zitiert werden.
über einige alttestam. Hss. d. Abessinierklosters S. Stefano zu Rom. 197
Biblia Veteris Testamenti Aethiopica 6 (1894), S. 193 setzt er die
Isaias-Hs. ins XIV./XY. Jahrhundert i).
Ihrem Alter entsprechend enthalten alle vier Hss. auch durch-
weg, soweit sie untersucht sind, sehr wertvolle alte Texte«
Auf die Oktateuch-Hs. „F" hat Dillmann seine Ausgabe in erster
Linie gegründet, und auch Boyd sagt in seiner oben S. 179 Anm. 2
zitierten Schrift auf S. 21 : „F . . . is indisputably a MS that
embodies the ancient text". Über die Eeg.-Hs. urteilt Roupp
S. 329 nach Prüfung ihrer Lesarten in Reg. I : „Wir besitzen also
in Cod. Borg, die älteste bis jetzt bekannte Handschrift der versio
anüqiia der IV Libri Regum." Der Isaias-Text selbst ist noch
nicht untersucht; Joh. Bachmann, Der Prophet Jesaia nach der
äthiopischen Bibelübersetzung 1 (1893) hat die Hs. „aus äußern
Grründen^^ (S. VIII) nicht berücksichtigt ; er hatte erst nachträglich
eine Kollation derselben bekommen und wollte diese im 2. Teile
seines Werkes verwerten, ist jedoch vorher gestorben. Wohl aber
haben wir über die Texte der Ascensio Isaiae und der Apokalypse
des Esdras, die in unserer Hs. auf das kanonische Buch Isaias
folgen, das Urteil Dillmanns; beide schätzte er so hoch ein, daß
er sie seinen Ausgaben in erster Linie zugrunde gelegt hat, s.
Asc. Is. (1877), S. VII f.: ;,In constituendo igitür textu quam ar-
ctissime ad librum A [d. h. unsere Is.-Hs.] me applicui", und Biblia
V. T. Aeth. 5 (1894), S. 193 in der Schlußbemerkung zur Esdr.-
Apokal. : „Principatum codicum' laudatorum [es handelt sich um
nicht weniger als 11 Hss.] obtinet L [d. h. unsere Is.-Hs.], ejusque
auctoritatem in conformanda libri editione potissimum sequendam
esse, ultro elucet". Ebenso steht es mit der Hs. der kleinen Pro-
pheten. Dillmann sagt in der schon oben S. 194 zitierten Vor-
bemerkung zu seiner Ausgabe des loel: „Der hier zu Grund ge-
legte älteste oder ursprüngliche Text (A) ist genommen aus der
alten Handschrift Cod. Oxon. Bodl. VIII" d. h. aus unserer Hs.
der kleinen Propheten. Und auch Joh. Bachmann hat seinen Aus-
gaben des Abdias und Malachias (Dodekapropheton Aethiopum Heft
I und II, Halle 1892) unsere Hs. zugrunde gelegt.
Der Oktateuch ist laut Unterschrift in 'Aksüm, dem politi-
schen und religiösen Mittelpunkte des älteren Abessiniens, ge-
schrieben, s. Dillm. Oct. S. 6. Über die Heimat der übrigen Hss.
wissen wir nichts. Die Is.-Hs. ist zwar, wie Dillmann aus einer
1) Dillmann sagt dort, die Hs, stelle „traditae versionis condicionem, qualis
XI V° vel XV° saeculo evascrat" dar und sei „severiori grammaticorum disciplinae,
(j^uam in(ie a saeculo XVI in Geez literis observare licet, nondum subjectu?".
3^98 Alfred Ralilfs,
Notiz am Schlüsse der Ascensio Isaiae mit Recht gefolgert hat
(s. oben S. 189), für einen Jerusalempilger geschrieben ; aber diese
Notiz ist so unbestimmt formuliert, daß man nicht sehen kann, ob
jener Pilger bereits in Jerusalem war oder erst dorthin ziehen
wollte (Dillmann: „peregrinati vel peregrinaturi").
Die drei ersten Hss. sind dann sicher in Jerusalem gewesen.
Den Oktateuch hat ein Isaak, der kaum mit dem 1414 — 1429 re-
gierenden Könige Isaak identisch ist, „dem heiligen Jerusalem",
d.h. den in Jerusalem wohnenden Abessiniern, geschenkt, s. oben
S. 177-180. DieReg.-Hs. hat der König 'Amda-Sejön (1314— 1344)
„der Herrin Maria nach Jerusalem geweiht", d. h. wohl der Keniset
Sitti Marjam im Kidrontale, deren westlichen Querflügel die Abes-
sinier innehatten, s. Roupp Taf. 4 und S. 304 und vgl. Rahlfs Niss.
u. Petr. S. 296. Die Isaias-Hs. ist , wie eben erwähnt, für einen
Jerusalempilger geschrieben. Nur die Hs. der kleinen Propheten
enthält keinen Hinweis auf Jerusalem; doch darf man wohl ver-
muten, daß auch sie aus Jerusalem nach Rom gekommen ist.
Die Reg.-Hs. hat Mähsanta-Märjäm im Jahre 1637 nach Rom
in das Abessinierkloster S. Stefano gebracht, damit sie dort als
Druckvorlage diente, s. oben S. 184— 186. Über die Zeit, wann
die übrigen Hss. nach Rom gebracht sind, haben wir keine Nach-
richten ^). Da sich aber die Texte so schön ergänzen (Gren. — Reg.
IV und die Propheten, diese allerdings noch recht unvollständig),
so liegt die Vermutung nahe, daß sie nicht zufällig so zusammen-
gekommen, sondern absichtlich zu einem und demselben Zwecke
1) Dagegen wissen wir, daß der Senödös (s. oben S. 163 u. ö.) um dieselbe
Zeit wie die Reg.-Hs. von Jerusalem nach Rom gebracht ist. Abba Gregorius
sagt bei Flemming 2, S. 97 Z. 4f. : „aus Jerusalem haben ihn die Mönche kurz
vor dem Tode des Papstes Urban VIII [f 1644] gebracht". Noch genauer be-
richtet Wansleben in seinem oben S. 168 beschriebenen „Conspectus" auf S. 20:
„Romam delatus eil ä quodam Monacho ^ithiope, Monalterij Gubae, Hdbte Mar-
jam vocato, ante annos circiter viginti-quinque" [der „Conspectus" ist von 1671
datiert, aber vielleicht schon 1670 gedruckt]. Über den abessinischen Mönch, der
ihn nach Rom gebracht hat, wissen wir sonst folgendes: 'Abbä Habta-Märjäm
von Dabra-Gübä'e restaurierte laut einer Inschrift bei Chaine S. 31 f. im Jahre
1638 gemeinsam mit einem anderen Abessinier auf eigene Kosten die Kirche von
S. Stefano. Er gehört zu den vier Abessiniern, welche das äthiopische Gedicht
vor lac. Wemmers' 1638 in Rom erschienenem äthiopischen Lexikon unterzeichnet
haben. Als Hieb Ludolf 1649 S. Stefano besuchte, lebte Habta-Märjäm noch, s.
Ludolf Comm. S. 30. Zu Anfang des Jahres 1651 aber starb er an der Schwind-
sucht, s. Flemming 2, S. 92 Z. 9 f., S. 96 Z. 3 f. 18—21, S. 97 Z. 6, S. 100 Z. 18
und den Schluß der soeben zitierten Inschrift bei Chaine S. 32. Vgl. a,uch oben
S. 185 Anm. 2.
über einige alttestam. Hss. d. Abessinierklosters S. Stefano zu Rom. 199
ausgewählt worden sind. Ging man in Rom einmal mit dem, wie
S. 185 f. gezeigt, gerade zu jener Zeit wohl begreiflichen Plane
eines Druckes äthiopischer Bibeltexte um, so wird man auch nicht
bloß beabsichtigt haben, nur die Königsbücher zu drucken ; da das
ganze Alte Testament mit Ausnahme des Psalters und seiner An-
hänge (Oden, Cant.) noch nicht gedruckt war, wäre eine solche
Beschränkung gerade auf die Königsbücher doch ziemlich sonder-
bar gewesen. Vielmehr wird man einen Druck des ganzen Alten
Testamentes oder der ganzen Bibel ins Auge gefaßt und dafür
die nötigen Vorlagen gesammelt haben. Daß man aber nicht gleich
das ganze Alte Testament zusammenbrachte, ist wohl erklärlich;
hat doch sogar Tasfä-Sejön seinerzeit, als er den Druck des äthiopi-
schen Neuen Testaments begann, nicht einmal für dieses eine voll-
ständige handschriftliche Vorlage beisammen gehabt und daher die
Paulusbriefe erst in einem ein Jahr später erschienenen Nachtrage
gebracht^), ja für große Teile der Apostelgeschichte überhaupt
keine Handschrift besessen, sondern sie selbst aus dem Lateinischen
und Grriechischen ins Äthiopische übersetzt^). Ich nehme also an,
daß alle vier Hss. um dieselbe Zeit von Jerusalem nach Rom ge-
schafft sind und sämtlich als Vorlagen für den beabsichtigten Druck
des Alten Testamentes oder der Bibel haben dienen sollen. Und
dafür waren sie ja auch sehr glücklich gewählt, da sie, wie wir
sahen, sämtlich gute alte Texte enthielten.
Weshalb dann aber aus dem geplanten Bibeldrucke nichts ge-
worden ist, wissen wir nicht, wie wir ja überhaupt über den ganzen
Plan außer der Notiz des Mähsanta-Märjäm keine Nachricht haben.
Möglicherweise schob man den Beginn des Druckes hinaus, bis die
Vorlagen auch für die übrigen Bücher des A. T. einigermaßen voll-
ständig beisammen wären, und inzwischen erkaltete der erste Eifer,
was um so erklärlicher wäre, als es sich immer deutlicher heraus-
1) Siehe Tasfä-Sejöns Nachwort zum Neuen Testament Bl. 226 b: „epistola
ad Hebrcßos fuo loco non eß, pofita est Jautem a ndbis ante acta apostolorum, hoc
autem ideo factum est, quia cum quatuor Euangelia, Apocalypßm, feptem cano-
nicas epistotas, et apostolorum acta, typis iam ah hinc biennio excudi feceriinus,
Pauli epistolas Italice non hdbehamus, nifi illam quce est ad Hehreos, et ideo, ne
qiiis forte malus euentus facrum illud opus prcBriperet, tunc unä cum alijs im-
preffa esP'.
2) Siebe Tasfä-Sejöns äthiopisches Nachwort zur Apostelgeschichte Bl. 157a
II Z. 7— 11; in lateinischer Übersetzung findet man die Stelle bei Ludolf, Historia
Aethiopica (1681), Lib. III cap. IV § 11: „Ißa Acta Apoßolorum maodmä ßii
parte verfa funt Bomce e lingud Romand (hoc eft Latina) et Grcecd in ^thio-
picam, propter defectum Arclietypi; id quod addidimus vel omißmus, condonate
noUs, vos autem emendate illud.^
200 Alfred Rahlfs,
stellte, daß eine Wiederaufnahme der Mission in Abessinien we-
nigstens vorläufig unmöglicli war, und damit auch der praktische
Nutzen eines Druckes der äthiopischen Bibel in Wegfall kam ^).
Mähsanta-Märjäm hat, wie wir sahen (oben S. 185), am Schlüsse
seiner Notiz in der ßeg.-Hs. ausdrücklich bemerkt: „Sie ist das
Eigentum Jerusalems. Wir werden sie zurückgeben, nachdem wir
sie gedruckt haben." Diese Notiz ist vermutlich dadurch veran-
laßt, daß die meisten äthiopischen Hss. von S. Stefano um jene
Zeit (am 13. Mai 1638) in die Biblioteca Vaticana überführt wur-
den, s. Chaine S. 14 und vgl. auch Abba Gregorius bei Flemming
2, S. 96 Mitte: „Die im Vatican befindlichen [näml. äthiopischen
Bücher d. h. Handschriften] habe ich nicht gesehen, aber ich habe
mit eigenen Ohren gehört, daß viele schöne Bücher vorhanden sind,
welche einst äthiopische Mönche, die vor uns da waren, mitgebracht
haben. ^ Mähsanta-Märjäm wollte durch seine Notiz wahrscheinlich
verhüten, daß die ßeg.-Hs. gleichfalls in die Vaticana überführt
würde und damit ihren rechtmäßigen Besitzern, den Abessiniern
von Jerusalem, verlorenginge. Er hat diese Absicht auch erreicht :
die Keg.-Hs. ist ebenso wie die übrigen uns beschäftigenden Hss.,
die wohl auch nur leihweise^) von Jerusalem nach Rom gebracht
waren, in S. Stefano geblieben, was übrigens auch deshalb not-
wendig war, weil diese Hss. eben als Druckvorlagen dienen sollten.
Aber zum Druck ist es dann ja nicht gekommen, und schließlich
ist auch die Rückgabe nach Jerusalem unterblieben. TJnd das ist
für die Wissenschaft nur zum Segen gewesen. Denn in Rom und
später in England waren die Hss. den abendländischen Gelehrten,
die ja doch allein die äthiopische Wissenschaft geschaffen haben,
viel leichter zugänglich als in Jerusalem, wo die Hss. so gut wie
sicher unbenutzt gelegen hätten und womöglich gar mit der Zeit
verschollen wären. Und die abendländischen Gelehrten
haben sich auch in der Tat bald der Hss. angenommen und gerade
diese Hss. in besonders ausgiebigem Maße benutzt.
Schon 1649 hat Hiob Ludolf bei seinen Besuchen in S. Ste-
1) Vielleicht ist es auch von Einfluß gewesen, daß Mähsanta-Märjäm nicht
gar lange nachher starb. Sein Todesjahr kenneu wir zwar nicht, doch war er
schon tot, als Ludolf 1649 die Abessinier in S. Stefano aufsuchte, s. Ludolf Comm.
S. 30 und Gregorius bei Flemming 2, S. 96 Z. 19—21.
2) Vgl. das, was Gregorius an Ludolf über die Senödös-Hs. von S. Stefano
schreibt (Flemming 2, S. 89 Z. 9—1 1) : „In betreif Eurer Frage nach dem Synodos :
so steht es nicht in meiner Macht, ihn Euch nach Venedig zu bringen, denn er
ist Eigenthum der Kirche von Jerusalem, und der Oberkönig von Äthiopien hat
ihn geschickt [näml. nach Jerusalem]**.
über einige alttestara. Hss. d. Abessinierklosters S. Stefano zu Rom. 201
fano mindestens den Oktateuch persönlich in Augenschein genommen
(s. oben S. 164). Nach seinem Fortgang von Rom hat er sich dann
durch Abba Gregorius Auszüge aus den Bibelhss. und dem Senödös
machen lassen, s. Gregorius' Brief vom 4. Juli 1650 bei Flemming
2, S. 85 Z. 27—29 : „Was jene Vocabeln aus der Thora [d. h. dem
Oktateuch], dem Jesaias und Sy nodos und andere Redensarten an-
belangt, die Ihr mir besonders an das Herz gelegt habt, so habe
ich gethan, wie Ihr mir gesagt habt"-, sowie Ludolfs Lexicon
Aethiopico-Latinum , ed. II. (1699), zweite Seite des „Catalogus
librorum", wo er die „Vocabula^^, welche Gregorius exzerpiert hat,
„fed plane imperfecta", unter den Quellen seines Lexikons anführt.
Auch hat Gregorius das dritte Kapitel der Genesis für Ludolf
abgeschrieben (s. Flemming 2 , S. 92 Z. 19 und S. 106 Z. 6 f.) und
ihm auf seine Anfrage einige, wenn auch nur recht dürftige, Nach-
richten über die Hss. gegeben (s. oben S. 165 f. 196).
Viel wichtiger und ertragreicher ist dann aber die Benutzung
der Hss. durch Theodor Petraeus im Jahre 1656 (s. oben S. 183)
geworden. Denn dieser hat sie nicht nur exzerpiert (s. oben S. 183 f.,
S. 189 Text und Anm. 2 und S. 196 Anm. 1), sondern auch mehrere
vollständige, wenn auch kürzere Texte aus ihnen abgeschrieben
und dieselben nach der Heimkehr von seiner Orientreise in den
Jahren 1660 und 1661 in Leiden teils selbst veröffentlicht, teils
seinem Freunde Nissel zur Veröffentlichung überlassen. So sind
schon damals Gen. 1 — 4, das Buch Ruth und die Bücher der
vier kleinen Propheten loel, lonas, Sophonias und Zacha-
rias aus unseren Hss. herausgegeben, s. oben S. 182f. 194 f.
Bald darauf, im Jahre 1666, hat Johann Michael Wans leben
den ganzen Text des Oktateuchs und der Bücher Regum abge-
schrieben und 1670/71 in Paris Colberts Unterstützung für eine
Ausgabe dieser Texte zu gewinnen versucht, jedoch vergeblich, s.
oben S. 167 f. Aus Wanslebens Abschrift, die inzwischen in den
Besitz des Pariser Gelehrten Louis Picques übergegangen war
(jetzt Bibl. Nat., Eth. 1 und 2), hat dann 1683/84 Hieb Ludolf,
gleichfalls in der Absicht, den Text zu veröffentlichen, den Penta-
teuch und das Buch losue teils selbst abgeschrieben, teils durch
seinen Sohn Christian abschreiben lassen; aber auch aus seinen
Editionsplänen ist nichts geworden, sondern seine Abschrift (jetzt
Göttingen, Univ.-Bibl., Mich. 270 und Aeth. 1) hat nur noch wei-
tere Abschriften seiner Schüler und späterer Gelehrten gezeitigt,
s. oben S. 169 — 174. Doch hat Ludolf das Interesse an den Hss.
auch später nicht verloren, sondern sich um weitere Nachrichten
über sie bemüht. Hierauf hat er zunächst die falsche Auskunft
202 Alfred Rahlfs,
bekommen, welche er am Schlüsse der oben S. 164 abgedruckten
Stelle seines Comm. mitteilt, daß die Hss. in die Vaticana über-
führt seien. Nachdem er aber erfahren hatte, daß sie doch noch
in S. Stefano waren, hat er 1694 und 1696 von dem römischen
Lector theologiae Johannes Pastritius ein Verzeichnis der Hss.
von S. Stefano erbeten und erhalten, welches allerdings, da Pastri-
tius kein Äthiopisch konnte, nur sehr summarisch ausfiel; gleich-
zeitig übrigens hat Pastritius in die Hss. selbst, wenigstens in den
Oktateuch und die E.eg.-Hs., sowie auch in den Senödös kurze In-
haltsangaben eingetragen, die sämtlich vom 20. Sept. 1696 datiert
sind -und uns dadurch den Nachweis ermöglichten , daß der Lon-
doner Oktateuch damals in der Tat noch mit den in Rom ver-
bliebenen Hss. der Königsbücher und des Senödös zusammen ge-
wesen ist, s. oben S. 180 f. Endlich aber hat Ludolf im Jahre
1700 durch seinen Neifen Heinr. Wilh. Ludolf noch eine et-
was genauere Beschreibung der Hss. bekommen. Und diese hat
er eigenhändig in ein später in die Bibl. Nat. zu Paris gekommenes
Exemplar seines Comm. eingetragen, um sie in eine eventuelle
Neuauflage dieses Werkes aufzunehmen, s. oben S. 177 f. Diese Be-
schreibung ist für unsere Untersuchung sehr wertvoll gewesen.
Pastritius rechnet in seiner ausführlichen Vorbemerkung zur
E,eg.-Hs. mit der Möglichkeit, daß das Kloster S. Stefano die Hs.
einmal verkaufen könnte, s. oben S. 184 Anm. 1. Hierzu ist es
jedoch nicht gekommen, vielmehr sind die Hss., nachdem im Jahre
1731 das schon seit mehreren Jahrzehnten nicht mehr von abessi-
nischen Mönchen bewohnte Kloster der Propaganda unterstellt war,
in die Bibliothek der Propaganda überführt und hier von
Adler, der 1780—1782 seine „biblischkritische Keise nach Rom"
machte, noch sämtlich gesehen worden, s. oben S. 191 f. Am An-
fange des XIX. Jahrb., als die Propaganda zu Ehren ihres hoch-
verdienten Präfekten, des 1804 verstorbenen Kardinals Stefano
Borgia, in ihrem Gebäude das Museo Borgiano errichtete und
diesem auch die bereits in ihrer Bibliothek befindlichen Hss. ein-
verleibte, kamen auch die Hss. von S. Stefano in dies Museum,
s. oben S. 193. Aber bald darauf wurden sie arg dezimiert: ein
Dieb stahl alle Bibelhss., mit denen wir uns beschäftigt haben,
mit Ausnahme der Reg.-Hs., die ihm wohl nur deshalb entging,
weil er, durch den ihr aufgeprägten Titel „MSS AETH | HIST.
REGUM I ET C ATALOG | PONTIF.« ') irregeführt, sie nicht als
Bibelhs. erkannte, vgl. oben S. 192 Text und Anm. 2.
1) „CATALOG I PONTIF.« erklärt sich daraus, daß sich unter den Zutaten
über einige alttestam. Hss. d. Abessinierklosters S. Stefano zu Rom, 203
So kamen nun der Oktateuch und die beiden Prophetenhss.
an den Londoner Buchhändler J. Smith in Drury Lane." Und
dieser verkaufte um 1817 den Oktateuch an die British Church
Missionary Society, die ihn dann sehr bald an die British
and Foreign Bible Society weitergab^). Die beiden Pro-
phetenhss. aber verkaufte er gleichzeitig an den Oxforder Professor
Eichard Laurence, der aus der Is.-Hs. 1819 die Ascensio
Isaiae, 1820 die Apokalypse des Esdras herausgab und
darauf beide Hss. 1822 der Bodleian Library zu Oxford
schenkte, s. oben S. 190. 193.
In neuerer Zeit sind dann die nach England gekommenen Hss.
besonders von Dillmann ausgenutzt. Er hat 1848 die beiden
Prophetenhss. in seinem Kataloge der äthiopischen Hss. der Bod-
leiana eingehend beschrieben und sie später seinen Ausgaben der
Ascensio Isaiae (1877], des loel (1879) und der Esdras-
Apokalypse (1894) zugrunde gelegt; und ebenso hat er seine
Ausgabe des Oktateuchs (1853 — 55) vor allem auf die Londoner
Hs. gegründet; s. oben S. 166. 197.
Die in Rom verbliebene Hs. der Königsbücher blieb dagegen
im Museo Borgiano versteckt, bis Ignazio Gruidi sie wieder ans
Licht zog und sein Schüler N. R-oupp auf seine Anregung hin
sie untersuchte und sie durch seinen oft zitierten Aufsatz, in
welchem er auch schon ihre Identität mit der Vorlage Wanslebens
nachwies, der gelehrten Welt bekannt machte. In neuester Zeit
(im Mai 1902, s. Roupp S. 298 Anm. 2) ist sie in die Biblioteca
Vaticana überführt. Roupp und Tisserant haben photogra-
phische Proben aus ihr gegeben; Roupps vier Tafeln enthalten
Reg. I li-ii mit der oben S. 185 angeführten Notiz Mähsanta-Mär-
jäms. Reg. III 155— 15, Reg. IV li— e und die Schenkungsurkunde
des Königs 'Amda-Sejön; Tisserants Taf. 62 enthält Reg. I 29 10
— 30i. 30 3-6.
am Schlüsse der Hs. auch ein Verzeichnis der jüdischen Hohenpriester findet, s.
Roupp S. 299. 301.
1) Hierzu vgl. oben S. 191 Anm. 1.
Sachliches und Sprachliches zur indogermanischen .
Grossfamilie.
Von
Eduard Hermann.
Vorgelegt in der Sitzung vom 17. Mai 1918.
1. Die Gfrossfaniille.
Wenn von der indogermanischen Großfamilie gesprochen wird,
pflegt man auf indische, armenische, irische, slavische und albane-
sische Verhältnisse hinzuweisen (vgl. z. B. Schrader Reallex. 218 fg.,
Feist Kultur der Idg. 114) und die geringeren Überreste bei den
Griechen, Römern und Germanen zu erwähnen. Die Zeugnisse
lassen sich aber noch vermehren. Vor allem sind dabei die Iranier
nicht zu übersehen. Großfamilie besteht noch heute, wie mir
Andreas mitteilt, bei den Afghanen und Belutschen, s. Anhang.
Dasselbe ergibt sich wohl auch mittelbar für die Osseten aus den
Darstellungen ihrer Gewohnheiten bei v. Klaproth Reise in den Kau-
kasus II, 608 Anm., Haxthausen Transkaukasia, Kovalewsky Cou-
tume contemporaine et loi ancienne, droit coutumier ossetien eclair^
par rhistoire comparee und aus der S. 210 genannten Schrift Schana-
jevs. Auch die Parsen in Indien, die sich darin nach Spiegel Era-
nische Altertumskunde III, 676 nicht von den alten Iraniern unter-
scheiden, leben noch so. Für die Kurden ist das sicherlich eben-
falls anzunehmen, wie die Nachrichten v. Stenins Globus 70, 223 fg.
nahelegen.
Auch für die Balten gibt es Zeugnisse der Großfamilie. Von
den Preußen kennen wir sie aus den Scriptores rerum Prussicarum
I, 267. Von den Litauern ist mir ein solches direktes Zeugnis
nicht bekannt, aber Nachklänge finden sich vielleicht noch in den
litauischen Dainas. In diesen Volksgesängen ist ein häufiges Motiv,
Sachliches und Sprachliches zur indogermanischen Großfamilie. 205
daß die Braut oder junge Frau über ihr schweres Los klagt. Zu-
meist richtet sich die Klage gegen die Schwiegermutter, unter
deren strengem Regiment sie zu leiden hat. Aber damit ist ja
noch nicht gerade die Grroßfamilie gegeben, ebenso wenig wie bei
unsern Bauern, wenn die Jungvermählte unter der auf dem Alten-
teil sitzenden Schwiegermutter zu leiden hat. Bei Nesselmann
Litauische Volkslieder lesen wir aber unter No. 229: uz anytel^
ugnuz^ kursiu, uz moszyteles wandens parnesziu 'für die Schwieger-
mutter werde ich Feuer anmachen, für die Schwägerinnen (Rhesa
moczutelQ ^Mutter' !) werde ich Wasser holen'. Das ist doch wohl
am ersten aus der Großfamilie heraus zu verstehen; nicht die un-
verheirateten Schwestern des Mannes werden früher damit gemeint
gewesen sein, die nichts zu befehlen haben, sondern die Frauen seiner
älteren Brüder; die Ehrenstellung in der Familie war ja bei den
Indogermanen genau abgestuft, man denke an die Reihenfolge der
Verheiratung und an die Begrüßung bei den Indern. Noch deut-
licher ist No. 248: Tenay rasi d('werelius, bernuzio brolytelius,
deweruzelius, ne broluzelius, skaitys kojü zingsnelius. Tenay rasi
moszyteles, bernuzio sesereles, moszytuzeles, ne sesuzeles, n'atmjs
tawo wardelj. 'Dort wirst du deine Schwäger finden, die Brüder
deines Greliebten, deine Schwäger, nicht Brüder, sie werden die
Schritte deiner Füße zählen. Dort wirst du deine Schwägerinnen
finden, die Schwestern deines Geliebten, deine Schwägerinnen, nicht
Schwestern, sie werden sich deines Namens nicht erinnern'. So
scheint also» die Daina noch Reminiszenzen aus einer Zeit zu be-
wahren, als auch bei den Litauern die Großfamilie zu Hause war.
Daß diese Schlußfolgerung richtig ist, ergibt sich daraus, daß die
russischen Volkslieder die Leiden der jungen Frau ähnlich besingen ;
hier ist aber die Beziehung auf die Großfamilie durch die Ver-
hältnisse selber gegeben. Die oben erwähnte Rhesasche Variante
beweist aber, daß die Litauer den Inhalt solcher Lieder nicht mehr
verstehen.
Für die Kelten ist nicht nur auf die Iren hinzuweisen (Schrader
Reall. ^ 219, Hirt Indogerm. 422) , sondern auch auf die Kymren
(Walter Das alte Wales 143, 438, 440).
Auch Deutsche wohnen heutzutage noch in Großfamilien zu-
sammen. Ich denke dabei nicht an die Gemeinderschaften der Schweiz,
auf die z. B. in G. Kellers Novelle 'Das verlorene Lachen' ange-
spielt zu werden scheint, sondern an die Verhältnisse bei den Wolga-
deutschen. Diese sind aber nicht etwa ein altgermanisches Erbteil,
sondern nur durch ^e Landverteilung bei der Ansiedelung durch
erzwungene Nachahmung russischer Sitte entstanden, für die wir
206 Eduard Hermann,
• keine anschaulichere Darstellung haben als die in Maxim Grorkijs
kurz vor Kriegsausbruch entstandenem Roman Dßtstvo.
Wenn Tacitus die Großfamilie bei den Grermanen nicht erwähnt,
so ist das noch kein Beweis dafür , . daß dieser römische Schrift-
steller sie bei unsern Vorfahren nicht gekannt hat. Vermutlich
waren ihm solche Verhältnisse von Rom her bei seinen Landsleuten
nicht ungeläufig. Wenn nun etwa auch bei den Germanen damals
ähnlich wie in Rom die Großfamilie hinter der Einzelfamilie zu-
rücktrat, so fiel das dem Römer so wenig auf, daß er in seiner
Germania dieser für uns wichtigen Sonderheit nicht Erwähnung
tat. Ebenso mag es bei andern Schriftstellern des Altertums ge-
wesen sein, so etwa bei Caesar da, wo er von den Germanen und
den Galliern spricht. Überhaupt wird in Rom und in Griechen-
land die Großfamilie nicht so gär selten gewesen sein, wie es ihre
vereinzelte Erwähnung erscheinen läßt.
Unter den Zeugnissen für Griechenland wird die Nachricht,
daß in Athen der väterliche Großvater seiner Enkelin eine Mitgift
geben mußte, mit ß. W. Leist Graecoitalische Rechtsgeschichte 75
dahin aufzufassen sein, daß zu jener Zeit der verheiratete Sohn nicht
mehr in der Gewalt des Vaters stand; aber diese Sitte ist, wie
ich glaube, ein Überrest aus einer andern Periode, wo der verhei-
ratete Sohn der Gewalt des Vaters noch nicht entrückt war, wo
er noch allgemein in der Großfamilie verblieb.
Wenn sich nun so die Großfamilie in weiterer Ausdehnung
nachweisen läßt, als das bisher der Fall war, so möchte ich im
Gegensatz zu Feist a. a. 0. glauben, daß sie bei defi Urindoger-
manen die gewöhnliche Form der Familie war und daß die Griechen,
Römer und Germanen am frühesten von dem alten Zustand abge-
wichen sind. Bei den Griechen und Germanen, bei denen das
Streben nach individueller Freiheit auch sonst besonders hervor-
tritt, werden wir das Überhandnehmen der Sonderfamilie aus diesem
Gesichtspunkt heraus leicht begreifen. Zu meinem obigen Schluß
veranlaßt mich auch eine Bemerkung Wesnitschs über die ser-
bische Familie in Montenegro Zeitschr. f. vergleich. Rechts wissensch.
9,47: „Der einzelne für sich lebende Mensch mit seiner Frau und
seinen Kindern und ohne den Bund mit einem Stamm oder mit
einer Familiengenossenschaft ist in Montenegro und in den umlie-
genden Distrikten gar nicht zu finden, er würde den dortigen Ver-
hältnissen widersprechen. Ja, wenn sich ein solcher fände, so
müßte er sich an einen von den vorhandenen Stämmen anschließen,
und zwar nicht aus dem Grunde, weil dies ein Gesetzesgebot wäre,
sondern weil es seine Lebensinteressen erheischen. Die Mitglieder
Sachliclies und Sprachliches zur indogermanischen Großfamilie. 207
der Familiengenossenscliaft sind einander zu jeglicher Hülfeleistung
verpflichtet". Sollte es bei den Urindogermanen nicht ähnlich ge-
wesen sein?
2. Sianoipcc.
Daß deöTtoiva als Femininum zu dem Maskulinum dEönötr^c;
gehört, läßt sich nicht gut bezweifeln. Aber die Laute wollen
nicht stimmen. Aus *d£67torvia kann deöTtoiva nicht entstanden
sein, jene ältere Form hätte nur *ds07c6rvLa liefern können, wie
ja das Femininum zu Ttöötg in der Tat Tcötvicc lautet, und das ist
durchaus die Form, die man zu erwarten hat. Das Altindische,
Avestische und Altlitauische lehren gemeinsam, daß die Frau des
Haushaltungsvorstandes der indogermanischen Familie, bez. Groß-
familie *potm hieß, über dessen Bildung man Brugmann Grrundr.^
II 1, 215 vergleiche. Da' wir im Grriechischen statt -? stets -^a
vorfinden, müssen wir im Grichischen jedenfalls von *7totvia aus-
gehen, und statt dieses l erscheint hinter zwei Konsonanten regel-
mäßig i als Vokal. Demnach ist Äorvtt^ die lautgesetzliche Form. Will
man für deöTCOiva einen etymologischen Zusammenhang mit dsöjtörrjg
und Tcoöig nicht überhaupt aufgeben, dann muß man versuchen,
seine Lautgestalt mit Hülfe der Analogie zu erklären. Daß die
Analogie hier eingriif, ist ganz besonders leicht verständlich; denn
eine Femininbildung auf -via gab es sonst nur von n-Stämmen.
Im Baltischen ist ja dieses absonderliche Femininum ebenfalls ver-
ändert worden. Aus dem altlitauischen wieschpatni (Mit. lit. lit.
Ges. 5, 164) ist jetzt vesspaü geworden, und so heißt entsprechend
der Akkusativ schon im Preußischen waispattin.
Einen Halt hätte "^dsöTtötvia allenfalls noch gehabt, wenn das
Maskulinum ^dsöTCodig gelautet hätte und Ttörvia in der Bedeutung
das Femininum zu nöötg gewesen wäre. Beides ist nicht der Fall.
Die Entwicklung der Bedeutung hatte Ttööig und TtötvLa ausein-
andergerissen, s. Delbrück Verwandtschaftsnamen 41 fg. Noch
können wir aber erkennen, daß TCÖtvLcc einmal 'Ehefrau' bedeutet
haben muß. Unter den Göttinnen hat bei Homer vor den andern
besonders diejenige das Beiwort Tiötina^ welche als Gattin und ge-
wissermaßen als *potni der Götterfamilie, wenn ich so sagen darf,
gedacht wird : die ßocbitig nÖTCvia'HQri. Die adjektivische Verwendung
gerade bei ^rixriQ spricht ebenfalls für diese ältere Bedeutung. Wie
man im Indogermanischen dazu kam, zu dem Maskulinum "^potis
das Femininum "^potni zu bilden, entzieht sich ganz unsrer Beur-
teilung. Im Griechischen konnte sich neben 8s6n6trig die Bildung
"^ÖEöTCÖrvLa jedenfalls nicht halten, zu einem Wort auf -trig gab es
2Ö8 feduard Hermanii,
sonst nie ein Femininum auf -rvta. War es da so merkwürdig,
daß man das Wort volksetymologiscli an Tcovog anlehnte und *^£-
öjcov/ia daraus machte, woraus dann ÖEöitoiva werden mußte? Daß
der Frau des Hausherrn die Leitung der Arbeiten zukam, sehen
wir ja an Penelope bei Homer nur allzu deutlich.
3. Witwe.
Delbrück hat Verwand tschaftsn. 391 fg., 442 fg., 553 fg. auf
die merkwürdige Tatsache hingewiesen, daß die Vergleichung der
indogermanischen Sprachen wohl ein Wort für Witwe, nicht aber
eins für Witwer rekonstruieren läßt, und sie daraus erklärt, daß
es der Frau verboten war, sich nach dem Tode des Mannes wieder
zu verheiraten, während die Wieder Verheiratung des Mannes als
etwas ganz Natürliches betrachtet wurde. Dem läßt sich noch
hinzufügen, daß nach Manu V, 168 und Yäjnavalkya 1, 89 der Witwer
sogar die Pflicht hat, alsbald nach der Verbrennung des Leichnams
seiner Grattin eine andre Frau zu nehmen. Den von den Sprach-
forschern gesammelten Stellen, die eine zweite Heirat der Frau
ausschließen, dürfte noch anzureihen sein, daß bei den Osseten
eine Witwe, die Kinder hat, nicht wieder heiraten darf (Haxt-
hausen Transkaukasia II, 21) ; dasselbe galt bei den Parsen noch
im 17. Jahrhundert (Menant Les Parsis I, 173). Offenbar jünger
ist die von Andreas für die Osseten erforschte jetzige Sitte, s. An-
hang. Diese iranische Einschränkung ist überhaupt natürlich das
Altere. Nicht jeder Witwe war die Wieder Verheiratung verboten,
nicht der sohnlosen, weil die Witwe dem sohnlos verschiedenen
Mann durch eine zweite Heirat künstlich noch zu einem Sohn zu
verhelfen hatte. Es gab also bei den Urindogermanen , wie Del-
brück richtig erkannt hat, nur Witwen, aber keine Witwer, darum
konnte es auch keinen sprachlichen Ausdruck für 'Witwer' geben.
Nun hat Lommel Studien über indogermanische Femininbil-
dungen 21 fg. zu erweisen versucht, daß ^aidheuä 'Witwe' zwar
kein Maskulinum *uidheuos neben sich gehabt habe, daß aber ein
Adjektivum ^tiidheuos 'gattenlos' vorhanden gewesen sei. Das will
mir nicht einleuchten. Ich verstehe wohl, daß z. B. d^do) nur im-
perfektiv, sldov nur perfektiv ist und daß in manchen Forma-
tionen gewisse Anwendungen und Bildungen nicht gebraucht werden ;
warum aber zu dem Adjektivum ^uidheuos eine Substantivierung
nur im Femininum möglich gewesen sein soll, ist mir unfaßbar.
Nach Lommel bedeutete das Adjektiv 'gattenlos', das ist aber,
wie er selber ausführt, nicht nur 'verwitwet', sondern auch 'noch
nicht verheiratet', 'vom Gatten verlassen', 'ohne Beischläfer'. Diese
Sachliches und Sprachliches zur indogermanischen Großfamilie. 209
Eigenschaften lassen sich doch ebenso gut auf den Mann wie
auf die Frau beziehen. War aber *uidheuos als Maskulinform
üblich, so wird es ebenso wie das Femininum nicht nur als Ad-
jektiv, sondern auch als Substantiv gebraucht worden sein. Man
muß sich das nur an einem andern Beispiel klar madien, das
Lommel in demselben Zusammenhang S. 21 nennt: sponsa ist schon
bei Terenz, sponsus erst bei Cicero bezeugt, das Maskulinum ist
also jünger. Hier liegt die Sache aber doch erheblich anders. Das
Part. Pf. von spondere war, auf Menschen angewandt, nur bei der
Braut möglich: der Bräutigam wird nicht 'versprochen', auch wenn
er noch im Hause seines Vaters lebt; nur die Braut wird ver-
sprochen. So ist sponsa zunächst Partizip-Adjektiv, wird aber dann
Substantivum, und erst als solches, in der Bedeutung 'Braut', kann es
ein Maskulinum dazu erhalten. Warum aber *uidheuos nicht ebenso
wie "^uidheua hätte Substantiv sein können, ist mir unerfindlich.
Lommels Schlußfolgerung ist also vermutlich unrichtig. Nicht die
Bedeutung, sondern der syntaktische Gebrauch von rjL^sog hatte
ihn leiten sollen. rjCd'Eog ist nur Substantiv, und das ist nie anders
gewesen. Im Urindogermanischen gab es nur das Femininum
*uidheuä, und zwar nur als Substantivum in der Bedeutung 'Witwe'.
Im Grriechischen ist dazu ein Maskulinum gebildet worden, das
wir in der Bedeutung 'Junggeselle' kennen; die Zwiscfhenglieder
lassen sich verschieden denken. Es mag z. B. ßein, daß das Femi-
ninum die Bedeutung 'Jungfrau' bekam und daß dazu ein Masku-
linum geschaffen wurde. Das russische vdovyj ist ebenfalls erst
eine junge Bildung. Es entstand auf dem Wege, daß vdova auch
als Adjektivum gebraucht und diesem dann ein Maskulinum bei-
gesellt wurde. Sollte dieses Maskulinum seinerseits substantiviert
werden, so geschah es in derselben Weise wie bei andern Adjek-
tiven, nämlich durch eine Bildung auf ech. Die siavischen Sprachen
stimmen aber nicht einmal alle darin überein; es gibt nicht bloß
Bildungen, die wie das russische vdovecT> auf vbt?ot;bCB zurückgehen:
im Serbischen haben wir ein Maskulinum zu nhdova (serb. udova)
in der Form udov. Das lateinische viduus erweist &ich schon aus
dem Gebrauch sowohl als Substantiv wie als Adjektiv nach den Aus-
führungen Delbrücks 444 fg. als jünger. Ich glaube also, wir können
ganz getrost sagen, *uidheuä war nur Femininum und nxtr Sub-
stantiv.
Man könnte sich damit und mit der Delbrück«chen Erklärung
begnügen und allenfalls noch hinzufügen, daß bei den vielen kriege-
rischen Ereignissen alter Zeiten sehr viel häufiger der Gatte vor
der Gattin den Tod gefunden haben wird als umgekehrt. Aber
Kgl. Ges. d. Wiss. Nachrichten.VPhü.-hist. Klasse, 1918. Heft 2. 14
210 Eduard äermanü,
die Etymologie zwingt, glaube ich, noch etwas weiter Umschau
zu halten. Grefunden hat sie Roth KZ 19, 223, indem er *uidheiiä
zu ai. vidh 'leer sein von, einer Sache ermangeln' gestellt hat. Mir
scheint aber noch nicht recht erkannt zu sein, wessen sie erman-
gelte. Man stellt sich wohl vor, daß die Witwe eben 'des Gatten
entbehrte'. Aber welchen Sinn hat das für indogermanische Zeiten?
Soll es heißen, daß sie auf den Geschlechtsgenuß fortab verzichten
mußte? Würde man das nicht vielleicht damals mit derber Deut-
lichkeit genauer ausgedrückt haben? Oder soll es heißen 'die
Schutzlose' ? Stimmt das ? Verblieb sie nicht in dem Schutz der
Großfamilie, in die sie hineingeheiratet hatte? Ich glaube allerdings,
daß mit *uidheuä die 'Schutzlose', ganz besonders z. B. die Witwe
des Haushaltungsvorstandes, die gewesene und abgesetzte "^potniy
bezeichnet wurde. Man muß sich nur richtig klar machen, wie es
wohl einer solchen Frau gegangen sein wird.
Die "^potm als Gattin des Haushaltungsvorstehers war den an-
dern Frauen der Großfamilie gegenüber die Herrin, und sie ließ
das die andern- wohl meist gehörig fühlen. Man braucht bloß
einmal zu lesen, wie es noch bei den Osseten zugeht. Nach Scha-
najev, Sbornik svedönij o kavkaskich gorcach IV, 10 gebietet die
Schwieger ganz unumschränkt über die Schnur, zumal in der ersten
Zeit nach der Hochzeit. Erst allmählich verbessert sich die Stel-
lung der jungen Frau. Bei den Urindogermanen ist das zweifellos
um kein Haar besser gewesen. Die jüngeren Frauen hatten unter
dem Regiment der Hausherrin mehr oder weniger zu seufzen.
Starb dann der Hausherr, so wurde sie ihrer Würde als Haus-
herrin entkleidet. Die neue Herrin aber, die bisher unter schwerem
Druck zu gehorchen hatte, ließ das die bisherige "^potnl entgelten.
Da war diese allerdings 'vereinsamt' und 'leer', sie 'ermangelte'
jetzt der mächtigen Stellung. Ihre Lage war wirklich nicht
beneidenswert. War es da ein Wunder, wenn sie ihrem Mann
sogar in den Tod folgte ? Sollte sich nicht von hier aus die Sitte
erklären, daß bei gewissen Stämmen die Witwe den Tod des
Gatten nicht überleben durfte?
Aber auch die Witwe eines Mannes, der es in der Großfamilie
noch nicht bis zum Hausherrn gebracht hatte, war nicht viel besser
daran. Auch sie war die 'Fremde' innerhalb der Blutsverwandten,
die nun an dem Gatten keine Stütze mehr hatte; bezeichnet man
doch auch jetzt noch die Verwandtschaft der Frau im Russischen
als 'die fremde Seite' cuMja storona. Wie schlecht in Indien die
Witwe behandelt wird, legt JoUy Grundriß indo-ar. Phil., Recht
und Sitte, 69 fg. dar.
Sachliclies und Sprachliches zur indogermanischen Großfamilie. 2li
Von Karl Fritzler habe ich mir sagen lassen, daß bei den
Großrussen wie bei den benachbarten tatarischen Stämmen auch
in der Einzelfamilie die Witwe eines muzik immer das fünfte Rad
am Wagen ist, sie hat nirgends mehr etwas zu sagen. Er konnte
mir folgenden Fall erzählen, den er gerade von einem gefangenen
russischen Studenten, dem Sohn eines Bauern aus Saratov, gehört
hatte. Die Schwester des Grefangenen war verwitwet. Da ver-
schiedene Verwandte im Dorfe sie nicht leiden konnten, wurde
sie nicht selbst Vormund ihrer Kinder, sondern der Bruder ihres
Mannes. Als sich dieser nicht um die Kinder bekümmerte, er-
reichte sie zwar, daß ein. andrer Mann aus dem Dorf zum Vor-
mund bestimmt wurde ; aber es ward nicht besser. Schließlich
wurde die älteste Tochter zum Vormund über die kleineren Ge-
schwister eingesetzt. Ganz typisch ist es nach Fritzler, daß eine
alleinstehende Witwe im ganzen Dorf verfolgt wird. Jeder glaubt
sie beleidigen zu dürfen. Kommt ein Betrunkener in den Ort,
dann muß sie ihn aufnehmen und bewirten. Überall wird ihr ein
Schabernack gespielt, bis allmählich ihre Kinder größer werden und
der älteste Sohn, obwohl noch nicht gesetzlich, aber in der Tat
als muzik auftritt und sie schützt. Die Witwe ist also so unter
den russischen Bauern die Schutzlose. Und dieser Sinn wird eben
auch hinter dem indogermanischen *uidheuä 'die Ermangelnde' stecken.
4. Die Eltern.
Die Ansichten darüber, ob es im Urindogermanischen eine Be-
nennung für das Elternpaar gegeben hat, gehen auseinander. Del-
brück (Verwandtsch. 452) ist geneigt die Frage zu bejahen, Schrader
(Reallex.^ 182, Sprach vergl. 306) und Feist (Kultur 105) verneinen
sie. Am weitesten in der Verneinung geht Schrader B/Callex. 182,
wo er das Fehlen des Begriffs Eltern aus der verschiedenartigen
Stellung des Vaters und der Mutter den Kindern gegenüber zu
erklären versucht. Diese kulturgeschichtlich weitgehende Folge-
rung hat Feist abgelehnt; wie ich meine, mit Recht. Die Einzel-
völker haben ja alle eine zusammenfassende Benennung für die
Eltern, wenn es auch nicht immer ein besonderes Wort ist; bei
manchen der historischen indogermanischen Völker wird die Stel-
lung des Vaters aber kaum weniger überragend gewesen sein als
in urindogermanischen Zeiten. Bei den Römern z. B. hatte der
pater familias ja sogar das Recht über Leben und Tod der Frau,
und doch gab es das Wort parentes. Daß man Vater und Mutter
in der Familie in gewissser Beziehung gleichhoch' bewertete, ergibt
sich daraus, daß die *2^otm nach dem *potis benannt war; oder
14*
212 Eduard Hermann,
wenn man dieses Beweisstück allein noch nicht anerkennen will,
wird man gegen das Wortpaar *stieJcuros und *suelcrüs nichts ein-
wenden können. Damit ist jedenfalls die Ansicht widerlegt, daß
die Indogermanen den Begriff Eltern überhaupt nicht gehabt haben
könnten.
Eine andre Frage ist, ob sie für diesen Begriff auch einen
sprachlichen Ausdruck hatten. Die Yergleichung der Sprachen
vermag nicht, ihn unmittelbar zu liefern. Den vedischen Dual
pitarä darf man nicht etwa mit den Pluralformen TtcctsQsg, lat.
patres auf eine Stufe stellen, um daraus den Dual des Wortes
'Vater' als indogermanische Bezeichnung für die Eltern zu rekon-
struieren. Das griechische wie das lateinische Wort sind nur ganz
vereinzelte, spät belegte Ausdrücke, s. K. Meister Latein.-griech.
Eigennamen 1, 123 und 126. Grleichwohl sehe ich in diesem Dual
ein altes Wort für 'Eltern'. Zu dieser Annahme glaube ich mich
durch eine Überlegung berechtigt, die auch Delbrück schon an-
deutet. Ein zusammengehöriges Paar wurde bei verschiedener Be-
nennung der Einzelteile entweder durch das Dvandvakompositum
des Duals beider Wörter oder durch den elliptischen Dual aus-
gedrückt (Delbrück Altind. Synt. 98, Vgl. Synt. 1, 137 fg., Fest-
graß an Roth 15%., Brugmann, Grrundr.^ II, 2, 458). Da nun
nach Ausweis von *sueJmros: '^siiehrüs und *potis : potm Vater und
Mutter im Sprachbewußtsein als etwas Zusammengehöriges auf-
faßbar waren, wird man gar nicht darum herum kommen, den
Dual von 'Vater' als Ausdruck für Eltern anzusetzen. Dieser
Dual ist mit Ausnahme des Altindischen allerdings verloren ge-
gangen, wie das dem elliptischen Dual überhaupt meist so gegangen
ist. In den andern Sprachen traten zumeist Wörter dafür ein,
die zu Verben mit der Doppelbedeutung 'erzeugen' und 'gebären'
gehören, wie lat. parentes (Meister 124), roxijfg (über homerisch
rojc^« s. Wackernagel Sprachliche Unters. Homer 54 fg.), yovstg, abulg.
rodMelja. Auch das litauische gimdytojai wird dahin gehören wegen
»einer naännlichen Form, obwohl gimdyti nur 'gebären' zu bedeuten
^heint.
Anders liegt es aber mit dem altindischen Dual mcUarau; das
ist doch das genaue Gegenstück zu pitarau. Und dieser Form
steht das gotische berusjos nahe. Hier liegt eine von Haus aus
feminine Bildung vor, vgl. Brugmann Grundr.^ 11, 2, 458, es ist
zweifellos das Femininum zu einem verloren gegangenen Partizi-
pium des Verbums bairan 'tragen'. Mit Recht hat, wie ich meine,
Brugmann IF 24, 168 Anm. daran erinnert, daß in berusjos der Über-
rest eines elliptischen Duals wie bei mcUarau vorliegt. Wenn Janko
Sachliches und Sprachliches zur indogermanischen Großfamilie. 213
IFA 27, 39 auch formell darin einen Dual mit einem Plural-s sieht
so kann ich ihm allerdings ebensowenig folgen wie in der Annahme,
daß cech. rodice 'die Eltern' als 'die beiden Gebärenden' aufzufassen
sei, während es abulg. roditelja zu vergleichen ist. nmtarau und
herusjos heißen eigentlich 'die beiden Mütter', das ist als Bezeich-
nung für 'die Eltern' in indogermanischen Sprachen etwas so Un-
gewöhnliches, daß man auf gemeinsamen Ursprung schließen darf.
Danach gab es für 'Eltern' im Urindogermanischen neben dem el-
liptischen Dual "^pdtere auch den elliptischen Dual *matere, der im
Gotischen durch herusjos ersetzt ist. Das von Meister 121 erwähnte
nutirices auf einer vulgärlateinischen Inschrift (Diehl 204) wage
ich dagegen nicht hiermit in Verbindung zu bringen; es scheint
mir lediglich eine Augenblicksbildung zu sein^).
Das Eigentümliche und uns Befremdende an der Ausdrucks-
weise ist die Bevorzugung des Namens der Mutter. Das hängt
aber mit einem andern Problem zusammen, der Voraussetzung des
unwichtigeren von zwei Begriffen, z. B. in dem altertümlichen
(Wackernagel SBA 1918, 408 fg.) sanskritischen mätarapilarau für
'Eltern', s. Delbrück Synt. Forsch. 5, 98. Andreas erinnert mich
an av. posuvfrö (pasuvira) usw., dem Bartholomae Altir. Wb. 1453
Ovids pecudes virosque und Wackernagel KZ 43, 296 Vergils armenta
virosque zur Seite gestellt haben, und fügt als Erklärung hinzu, daß
man überhaupt nicht erwarten dürfe, das begrifflich Wichtigere
gerade an der ersten Stelle zu finden, die Stärke des Nachdrucks
könne sich von alters her doch auch in aufsteigender Linie bewegt
haben. Die Sache verdient eine weitere Grundlage, als ich sie heute
geben kann; ich erinnere nur an sunufatarungo im Hildebrandslied,
an matrem et patrem Plaut. ^Capt. 549 und die andern Beispiele bei
Meister 120 fg., an kleinruss. sriblo-zloto 'Gold und Silber' in Sevßenkos
Gedicht Hamalija (Berneker, Slav. Chrestom. 143) usw. Auch unser
Geschwister, das Delbrück Rothfestschrift 17 behandelt hat, gehört
hierher. Spielt auch der Rhythmus eine Rolle dabei? Daß aber
auch ganz andre Gründe maßgebend sein können, lehren die Ver-
bindungen von Nacht und Tag sowie von Winter und Sommer.
1) Sethe macht mich darauf aufmerksam, daß im Ägyptischen in gewisser
Hinsicht ähnliche elliptische Duale des Femininums gebraucht werden und daß
sich auch die Wortstellung Mutter und Vater belegen läßt (Sonnenhymnus Ame-
nophis' IV, N. Davies, Amarna 4, 32), die nach Andreas im Türkischen das Übliche ist.
2X4 • Eduard Herroami,
5. Die Grosscltcrn.
Während eine Bezeichnung der Schwiegereltern und der Schwager-
schaft für die Verwandten der Frau von alters her gar nicht vor-
handen ist, fällt für die Kinder die Scheidewand zwischen den Ver-
wandten des Mannes und der Frau in der Benennung der Grroßeltern,
des Mattersbruders und der Enkel, Neffen, Nichten. Daß hier die Ver-
wandtschaft der Frau als 'Verwandtschaft' gilt, ist nur zu natürlich.
Wenn auch der Mann in dem Vater und der Mutter seiner Frau
noch nicht seinen Schwäher und seine Schwieger sah, so war für
seine Kinder die Sache doch anders : die Eltern der Mutter waren,
wenn sie mit ihr zu diesen kamen — und das geschah doch na-
türlich — ebenso blutsverwandte Grroßeltern wie daheim die Eltern
des Vaters. Für die Großeltern des Mannes gab es vielleicht
von Haus aus, abgesehen von Lallwörtern, mehrere Benennungen,
oft mögen die Ausdrücke "Spotts und "^potni genügt haben, vgl. Del-
brück 483. Daneben mag indes noch eine andre Bezeichnung her-
gegangen sein, die sich gelegentlich vielleicht auch auf die Ur-
großeltern erstreckt haben kann: 'der Alte' und 'die Alte'. Das
Wort dafür war dasselbe, das in unserm Ahn steckt, ahd. ano^
f. fl?m, ein Wort, zu dem preuß. ane 'Großmutter', lit. aiiyta
'Schwiegermutter der Frau', arm. ayier 'Vater der Frau' gr. avvCg-
^i]tQbg 7] utatQog ^tjrrjQ Hesych. und lat. anus 'alte Frau' gehören.
In manchen Sprachen sind andre Wörter für alt an die Stelle ge-
treten wie lit. senis 'Großvater' usw. Das litauische atnjta und das
arm. aner bezeichnen nicht mehr die väterlichen Großeltern, sondern
sind auf andre Verwandte in leicht verständlicher Weise übertragen ;
beide lehren aber, daß der Ausdruck von Haus aus den Verwandten
des Mannes zukommt, lit. anyta zeigt es direkt, arm. atier, wie
M. E. Schmidt KZ 47, 189 dargelegt hat, indirekt : aner, idg. "^aneros
ist 'etwas wie der Alte', 'etwas wie der (nämlich väterliche) Groß-
vater', d. h. 'der mütterliche Großvater'.
Für die Großeltern mütterlicherseits gab es im Urindogerma-
nischen eine andre Bezeichnung, und zwar, wie ich glaube, die
beiden Wörter, die wir im Lateinischen als avus und avia amiTe&en.
Die zwei lateinischen Ausdrücke werden allerdings für die beider-
seitigen Großeltern angewandt, aber das muß etwas Sekundäres
sein, die etymologisch dazugehörigen Wörter zeigen deutlich, daß
mit dem Stamm *ati- zunächst nur Verwandte der Frau gemeint
sein können. Das sind lat. avunculus 'der Mutter Bruder' und in
derselben Bedeutung ahd. öheim {^aun%aimas 'der beim Großvater
Wohnende'), lit. avynasj pr. awlsj slav. w;b C^UÜos), ferner lit. äva
. Sachliches und Sprachliches zur indogermanischen Großfamilie. 215
'Mutterscli wester', während körn, euiter auf beide Oheime geht nnd
die genaue Bedeutung des got. awo ^Großmutter' unbekannt ist.
Ich stimme also mit Delbrück 482 fg. überein, lasse es aber dahin-
gestellt, ob %j;f06* wirklich von Haus aus 'Gönner' bedeutet hat.
6. JEnkeL
Über *nepöt, *nepti weiß ich kaum etwas Neues zu sagen.
Unterdrücken will ich aber nicht, daß mir Delbrücks Ansicht
(S. 504), die nvpötes seien ursprünglich nur die Enkel gegenüber
dem Vater ihrer Mutter und die Neffen gegenüber dem Bruder
derselben gewesen, nicht ganz geheuer vorkommt. Es ist nicht
nur der Umstand, daß für die Enkel und Neffen männlicherseits
keine rechte Bezeichnung übrig bleibt; man darf doch auch nicht
vergessen, daß in keiner Sprache *fiepöt, *nepH die Kinder der
Tochter ausschließlich oder überwiegend bedeuten, sondern daß
nur die Bedeutung 'Schwestersohn' da und dort in den Vorder-
grund tritt. Ich möchte dies daher doch eher für eine Beschrän-
kung halten, die sich einstellte, weil für die verwandten Kinder
männlicherseits neue Bezeichnungen aufkamen.
Zu diesen zähle ich auch unser Wort EnJcelj ahd. enmchiU.
Über sein Verhältnis zu den baltisch - sl avischen "Wörtern, deren
lautlicke Schwierigkeiten Brückner Gesch. idg. Sprachwissensch. II,
3, SS. 8, 47, 104 neuerdings wieder hervorhebt , ohne sie zu besei-
tigen, möchte ich mich nicht auslassen. Daß EnJcel wirklich, 'der
kleine Ahn' ist, hat W. Schulze KZ 40, 408 fg. und 411 Anm. 2
von neuem gegenüber Schrader IE 17, 35 fg. wahrscheinlich gemacht.
Er erinnert dabei daran, daß der Name des Großvaters häufig auf
den Enkel vererbt werde, und vermutet darin ein Stück alter re-
ligiöser Vorstellung: der Großvater solle so in dem Enkel auch
körperlich mit dem Namen fortleben. Um dies noch deutlicher
zum Ausdruck zu bringen , habe man das Enkelkind überhaupt
gleich den kleinen Großvater genannt. So einleuchtend mir das
erstere ist, so wenig kann ich dem zweiten Gedanken folgen. Der
Ausdruck EnM wird doch wohl vom Großvater geprägt sein ; soll
aber dieser aus dem genannten Grund seinen Enkel einen kleinen
Großvater genannt haben? Das ist nicht recht glaublich. Ich
komme daher ganz auf die alte Erklärung zurück, die Schrader
a. a. 0. S. 35 wohl mit Unrecht verworfen hat. Genau so, wie
Vetter zuerst 'des Vaters Bruder' bedeutet, dieser aber den Aus-
druck in der Anrede an seines Bruders Sohn zurückgibt, ist es
auch bei Enkel und Großvater. Im Bayrischen bedeutet enl, änl,
im Österreichischen cunl dnl sowohl 'Großväterchen' wie 'Enkel'
21^ Eduard Hermann^
Dasselbe ist fwr das schweizerisclie Ähnl vorauszusetzen wegen
ennp im Schwei^^er Idiotikon I, 248 unter cweh 'Enkel' „Das ein an
ir enny nüt soll erben, als ein muotter kind ocli nüt erbt" nach
Landr. March ; vgl. überhaupt die Zusammenstellung bei Seboof
Ztschr. hochd. Mund. l,263fg. , auf die mich Ed. Schroeder auf-
merksam macht. Daran, daß EnJcd im Sinn von Großvater nir-
gends belegt ist, braucht man, glaube ich, wirklich nicht Anstoß
zu nehmen; denn daß der • Großvater bei dem Anredewechsel das
Wort mit einem Deminutivsuffix versieht, ist doch schließlich etwas
ganz Natürliches. Zum ano ist das Enkelkind noch zu klein, drum
nennt es der Großvater nur eninclüH 'den kleinen ano\
7. JEidani.
Mit der Etymologie von Eidam hat mtan sich viel herumgequält,
ohne zu einem befriedigenden Resultat zu kommen. Man hat es
z. B. zu got. aipci 'Mutter' gestellt. Damit ist aber kaum ge-
holfeö ; denn das Wort aipei selber ist dunkel, und der begriffliche
Zusammenhang zwischen 'Mutter' und 'Schwiegersohn' ist mehr als
zweifelhaft, aipei mag vielleicht ein Wort aus der Kindersprache
sein und mit unserem e?, ei zusammenhängen. Andre haben Eidam
mit Eid verknüpft und sich auf engl, son-in-law berufen sowie auf
die Zusammengehörigkeit von got. lingan 'heiraten' und mir, luige
'Eid' hingewiesen. Aber die Etymologie von liwjan ist recht un-
sicher, und die Berufung auf son-in-law ist völlig unstiatthaft.
Neben son-in-law gibt es auch father-in-law, brotJier-in-latv usw. ;
man sieht also gar nicht, warum gerade der son-in-law allein
herhalten soll. Dazu kommt noch als ausschlaggebend, daß mit
law nach freundlicher Auskunft Hatscheks das kanonische Recht
gemeint ist. Die Wörter son-in-law usw. sind zunächst, wie Hat-
schek meint, wohl als eine Art von Spottausdruck geprägt. Eine
Parallele zu Eid und Eidam liegt also auf keinen Fall in son-in-
loiW' So müssen wir .uns nach einer andern Etymologie umsehen.
Falls das Wort Eidam ein verhältnismäßig hohes Alter haben
sollte — und die Eigentümlichkeit seiner Bildung spricht sehr
dafür — liegt es nahe, daß es für den Erbtochtermann aufkam;
denn ein andrer Schwiegersohn wohnte ehemals nicht in einer
Hausgemeinschaft mit seinen Schwiegereltern zusammen und galt
daher nicht als verwandt, es wäre ihm also kaum eine besondere
Bezeichnung zugekommen. Für den Erbtochtermann eröffnet sich
aber sehr leicht eine Etymologie. Eidam, ahd. eidmn, ags. aöwm,
afr. äthom führt auf urgerman. "^aipuma^ zurück und gehört ver-
Sachliches und Sprachliches zur indogermanischen Großfamilie. 217
mutlich zu osk. acfeis 'des Teiles', gr. alöa 'Gebühr, Anteil' % hom.
tö6a 'Anteil', lööaö&ai ' xhjQovöd-at AiößioL (Hesych), av. oUo- (aeta-)
'gebührender Teil'. Das germanische Wort kann auf idg. *altd2fuos
zurückgehen. Die Bedeutung läßt sich besonders an dem lesbischen
l'ööciö&ai • 7cXfiQov0d-ai Hesychs begreifen. So wie die Erbtochter
STtixlrjQog heißt; ist der Erbtochtermann: 'der Teilende' oder 'der
das Erbe hat' genannt; die Bildungen auf -mos sind leider ent-
wicklungsgeschichtlich nicht ganz klar, s. Brugmann, Grundriß^
II, 1, 125. Bei den Armeniern tritt der Erbtochtermann unter
Aufgabe seines Namens in die Familie der Frau ein und erbt als
Glied dieser Familie, s. Klidschian, Zs. vgl. Rechts w. 25, 301 fg., 321 ;
ebenso ist es in gewissem Sinn bei den Südslaven, Krauß Sitte und
Brauch der Südslaven, 470, 474 fg. ; denn wenn er meist auch
rechtlich seinen Namen behält, so nennt ihn doch das Volk nach
dem Schwiegervaterhaus. In Athen wurde bei mehreren Erbtöchtern
der Mann der einen adoptiert (Demosthenes 41, 3, Isaeus äy 42).
Für die Bichtigkeit meiner Erklärung scheint ein Umstand
zu sprechen, der mir erst nachträglich bekannt geworden ist. Von
dem aus Dahlem in der Eifel gebürtigen Lehrer Meilingen erfahre
ich, daß in seiner Heimat das Wort ään 'Eidam' nicht von jedem
Schwiegersohn gebraucht wird, sondern nur von dem Einheirater,
wie dort auch Schnur nur auf die einheiratende Schwiegertochter
angewandt wird. Obwohl ich diese Einschränkung weder in andern
Mundarten noch in der Literatur habe feststellen können, bin ich
doch nicht abgeneigt, darin etwas Altertümliches zu erblicken; es
würde in schönstem Einklang zu meiner Etymologie stehen.
8. gener.
Der Erbtochtermann, der seinen Namen ablegt und ganz in
die Familie der Frau übertritt, steht bei den Südslaven nicht sehr
in Achtung, Krauß 467 fg., 478. Ja, es kommt vor, daß es dem
Erbtochtermann blüht, nach der Geburt eines Sohnes, der erwachsen
die Verwaltung des Hauses übernimmt, fortgejagt zu werden; er
darf dann iroh sein, wenn er wieder in sein Stammhaus zurück-
treten kann, Krauß 480. In Athen blieb der Erbtochtermann im
Besitz des erheirateten Vermögens nur bis zur Volljährigkeit seines
Sohnes (Demosthenes 46, 20). Beides ist vermutlich der Überrest
einer hocharchaischen Sitte, die wir bei den alten Indem deutlich
vorfinden. Hier gilt der erste Sohn des Erbtochtermanns nicht
als Sohn und Erbe seines Vaters, sondern als der seines sohn-
1) al'aifjkos ist wohl erst -eine im Giiechischeu aus alaa gebüdete Ableitung.
218 Eduard Hermann,
losen Grroßvaters. Ebenso war dies bei der Yogänehe d. h. der
Erbtochter ehe der Perser der Fall, s. Spiegel Eran. Altertumskunde
III, 678. Hierauf scheinen auch die Bestimmungen des sasani-
dischen Rechtsbuchs (Bartholomae S. Heid. Ak. 1910, No. 11, 8 fg.)
bezug zu nehmen, vgl. Kohler Zs. vgl. Rechtsw. 25, 434. Auch in
Rom findet sich eine Spur dieser sonderbaren Sitte. Bei Festus
(ed. Lindsay p. 174) heißt es von dem einzigen Überlebenden der
300 Fabier: inductus magnitudine divitiarum uxorem duxit Otacili
Maleventani, ut tum dicebantur, filiam, ea condicione, ut qui primus
natus esset, praenomene avi materni, Numerius appellaretur. Ähn-
lich ist die Überlieferung De praenominibus 6 im Anhang zu Va-
lerins Maximus. Damit haben wir sicherlich eine zweite urindo-
germanische Form der künstlichen Schaffung eines Sohnes für
einen sohnlosen Mann vor uns. Für einen solchen Schwiegersohn
hätte die Bezeichnung 'Eidam' nicht gepaßt. Haben wir hier die
Erklärung des Wortes gemr zu suchen? Ich möchte das aller-
dings glauben.
Schon längst hat man gener mit gigyiere zusammengebracht und
als den 'Erzeuger' erklärt. Warum hieß aber der Schwiegersohn
gerade für seinen Schwiegervater der Erzeuger? Darauf gab es
bisher keine Antwort. Nunmehr liegt sie auf der Hand. Der
Tochtermann, der seinen ersten Sohn seinem Schwiegervater abtrat,
war in der Tat für diesen der 'Erzeuger'. Wie gener sind die
Nebenform genta (Corp. gloss. II, 32, 45) , abulg. i2^t\>^ lit. ientas,
alb. dendar zu beurteilen. Die indogermanische Bildung scheint
dabei verwischt. Ich glaube, man hat von *geniis 'das Zeugen',
das unverändert in lat. gens, av. furozontis {frazaintis) vorliegt,
auszugehen. Der Schwiegersohn wurde also, vielleicht mit einem
Anflug von Spott, 'das Zeugen' seines Schwiegervaters genannt.
Wörter dieser Art auf -ü- sind frühzeitig zu Maskulinen geworden,
vgl. Brugmann Grrundr.^ IT, 1, 611. Im Slavischen ist dieses Wort
so geblieben. Im Litauischen, das die maskulinen i-Stämme stark
beschränkt hat, finden wir äentas in die o-Deklination übergeführt.
Daneben gibt es ein hier anklingendes Maskulinum der i- Stämme
mit der weiteren Bedeutung 'Verwandter' gentis, aber mit g. Liegt
da ein Zusammenhang vor? Im Lateinischen wird gcAier durch
Einfluß seines Oppositums socer analogisch umgestaltet sein, das
-t- gewahrt man aber noch in der Grlosse genta.
Ist meine Erklärung richtig, dann gibt sie indirekt wohl ein
Zeugnis für Exogamie der Urindogermanen, die auch Schrader
Reallexikon^ 908 fg. anzunehmen geneigt ist. Sollte aber nicht
gerade die Erbtochter mit Anlaß gegeben haben, die Form der
Sachliches und Sprachliches zur indogermanischen Großfamilie. 219
Exogamie aufzugeben ? Der Wunsch, das der Erbtochter zufallende
Vermögen den Blutsverwandten zu erhalten, mag hier bestimmend
gewesen sein, wie ja auch die Leviratsehe bei den Osseten nach
V. Klaproth, Reise in den Kaukasus III, 605 mit demselben Wunsch
zusammenhängt.
9. ya/uß^og und yd/uog.
Von ganz andrer Art als FAäam und gencr ist die griechische
Benennung des Schwiegersohns. Die Bedeutung des Wortes erklärt
sich aus seiner Herkunft. Es liegt auf der Hand, daß es von
yäiiog, ycc^SG) abgeleitet ist, die Bedeutung ist daher zunächst
'Hochzeiter', dann 'Heirats verwandter'. Die weitere Bedeutung
zeigt sich noch deutlich E 474, wo Sarpedon zu Hektor sagt : qprjg
Ttov axEQ Xacbv Ttokiv i^SfiEv ijd' mixovQCOV olog, 6vv ya^ßQolöi kccöl-
yvrixoiaC rs öot0Lv. So wie TttxQÖg 'scharf eigentlich 'stechend' zu
'^peiJc 'stechen', abulg. hT>drT> 'wachsam' zu *b]ieiidh 'wachen', tavQog
'Stier', eigentlich 'stark' zu "^täu 'stark sein' gehört, so steht ya^-
ßgög zu ya^- 'heiraten'. Daß 'Hochzeiter, Heirater' zu 'Schwieger-
sohn' wurde, ist vielleicht nicht ganz ohne Einfluß des Suffixes
-Qog des Oppositums exvQog vor sich gegangen, das selbst wieder im
Akzent von naxitiQ, ädeXcpög beeinflußt wurde ebenso wie nevd'SQÖg.
Meillets (MSL 8, 238) von Boisacq Dict. 235 wiederholte Ansicht,
daß ixvQÖg seinen Akzent von jtevd^sQog habe, übersieht ganz, daß
TCsvd^sQÖg gemäß dem Wheelerschen Gesetz selbst Paroxytonon sein
sollte.
Grern denkt man sich ya^ißgög, indem man es zu yd^og stellt,
gleich dem ai. järas aus idg. "^^gniros hervorgegangen ; noch Wacker-
nagel hält in seinen Sprachl. Unters. Homer S. 174 an dieser An-
sicht fest. Sie ist aber aus zwei Gründen unwahrscheinlich. Im
Griechischen passen die Laute nicht dazu: in hat ^ä, aber nicht
ä^i ergeben. Zweitens macht die Bedeutung des indischen Wortes
Schwierigkeiten, järas heißt 'Liebhaber, Buhle', die indische Heirat
war aber keine Liebesheirat; dazu kommt, daß ya^ßQog uns ver-
ständlich ist als 'Heiratsverwandter', eine Benennung, die Vater
und Brüder der Frau auf den Mann anwenden: järas ist aber der
Buhle der Frau selber. Anders wäre es, wenn für ya^ßgog als
vermittelnde Bedeutung 'Beischläfer' zur Verfügung stände, das
scheint aber nicht der Fall zu sein, järas läßt sich denn auch
viel leichter mit einem ganz andern Wort zusammenbringen, und
zwar mit einem, das noch keinen befriedigenden Anschluß gefunden
hat, gr. ßovXo^im^ dessen ß nach Ausweis des dorischen dyjXo^at
usw. Labiovelar gewesen ist. Eödiger ist in seiner Untersuchung
220 Eduard Hermann,
ttb^r ßovlo^ai Glotta 8, 1 fg. zu dem Ergebnis gekommen, da3 die
Grundbedeutung sei 'lieber wollen, vorziehen, erwählen als das
Bessere', während ed-sXcj 'bereit sein, geneigt sein zu einem Tun'
ausdrücke. Unabhängig davon ist Fox BphW 1917, 597 fg., 633 fg.
zu einem Resultat gekommen, das damit in Widerspruch steht.
Für ßovXo^ai, fällt dieser weg, wenn man von der in ßovXo^svog
*der Lust hat' steckenden Bedeutung ausgeht. Von dieser Grrund-
bedeutung aus ist die Brücke zu järas leicht zu bauen. ßovXo^ai
heißt 'ich habe Lust', järäs ist 'der, welcher Gelüste hat'. Wahr-
scheinlich liegt demnach eine leichte Basis zu Grunde, '^'^g'^ele 'Lust
haben'. Ob zu ihr auch toch. äkäl 'Verlangen', ab. Mati u. a. ge-
hören können, will ich nicht untersuchen, ya^ß^og und järas sind
also von einander zu scheiden.
In Gegensatz zu Waldes Annahme Lat. et. Wb.^ 337, daß ya^-
ßgög kaum erst einzelsprachKch gebildet sein werde, bin ich der
Ansicht, daß es vermutlich gerade erst innerhalb des Griechischen
entstanden ist. Eben so wird erst verständlich, daß es -Qog hinter
derjenigen Form der Tiefstufe zeigt, die vor Vokalen berechtigt
war — andernfalls müßte man eine jüngere Analogiebildung an-
nehmen. Es gibt ja sonst noch andre speziell griechische Bil-
dungen auf -Qog mit vorausgehender Tief stufe, vgl. ^v<y(>o'g 'lügen-
haft', rgrjQog 'furchtsam' aus ^tgaöQog, öaTtgog 'faul', Brugmann
Grdr.''^ II, 1. 351. Um die Etymologie von ya^ßgog zu verstehen,
muß man ydfiog, yafiBco richtig anknüpfen.
Das ist zwar bereits längöt geschehen; man muß diese Wörter
mit ysvto, gemini u. a. verknüpfen. Nur muß man dabei von der
richtigen Bedeutung ausgehen. Meiner Ansicht nach birgt sich
diese in ysvto 'er erfaßte', "^gem- hieß nicht 'umfassen', wie Fick
I* 401, und nicht 'paaren, verbinden, zusammenfassen', wie Walde
Wb^ 336 ansetzt, sondern 'erfassen'. Deutlich zeigt sich diese
Bedeutung auch in kypr. vyys^og' övXXaßj]. UaXa^tvioL Hesych.
Demnach heißt ya^og von Haus aus 'Erfassung', nämlich 'Hand-
ergreifung'. Inhaltlich ist es also mit ind. imnigraliana und lat.
mancipatio zu verknüpfen. Die Handergreifung war ja ein besonders
wichtiger Akt der indogermanischen Eheschließung. Daß nicht nur
bei den Indem und Römern (dextrarum coniunctio), sondern auch bei
den Germanen der Mann durch die Handergreifung die Gewalt über
die Frau (hier munt) erlangt, ist längst bekannt ; IF 17, 387 habe ich
hinzugefügt, daß auch bei den alten Iraniern und vielleicht bei
den Kymren die Handergreifung eine Rolle gespielt hat. Bei den
Armeniern ist diese Zeremonie nötig im Elternhause der Braut in
Anwesenheit des erkorenen Vormunds, s. Klidschian, Zs. vgl. Rechtsw.
Sachliches und Sprachliches zur indogermanischen Großfamilie. 221
25, 315. Von den Letten, bei denen sonst das Handgeben gar nicbt
üblich ist, berichtet Hupel, Topographische Nachrichten von Lief-
und Ehstland 1774, II, 149 und 192, daß der Bräutigam bei der
Verlobung die Hand der Braut feierlich ergreift. Daß auch die
Slaven die Sitte gekannt haben, werden wir gleich sehen. Man
vergleiche auch das Handergreifen bei den Litauern Lepner Der
Preusche Littauer 1690, S. 32, den Parsen Modi Marriage customs
among the Parsees S. 30 und bei den Bretonen Rheinsberg-Dürings-
feld Hochzeitsbuch 246. Es ist eben ein Brauch, der seit urindo-
germanischer Zeit gepflegt worden ist und der bei der christlichen
Vermählung in der Kirche in der Zusammenlegung der Hände des
Brautpaares durch den Geistlichen immer noch seinen symbolischen
Ausdruck findet.
Diese feierliche Handlung heißt bei den Griechen, wie 'bekannt,
iyyvrj eigentlich 'das in die Hand geben', was, worauf mich Reitzen-
stein aufmerksam macht, besonders deutlich zum Ausdruck kommt
in Eurip. Iph. Aul. 703, wo es von Thetis heißt : Zsvg Yiyyvriös xccl
dtdo(?' 6 xvQLog. Wir haben also zwei Ausdrücke für dieselbe
Sache : iyyvi] ist hergenommen von der Handbewegung des Braut-
vaters, yd^og von der des Bräutigams. Wieder von einer andern
Seite wird die Handergreifung betrachtet bei dem Verbum izdovrai.
Damit ist nicht wie bei syyvt] ausgedrückt, daß die Braut in die
Hand, in den Schutz des Bräutigams gegeben wird, sondern daß
sie aus der Hand, aus dem Schutz des Vaters entlassen wird.
Unter diesem Gesichtspunkt werden vielleicht manche der von
W. Schulze KZ 40, 401^ genannten Wörter zu verstehen sein, so
z. B. etwa got. fragifts. Bei andern Ausdrücken wie lit. sal\n ejtl
^sich verheiraten' ist allerdings daran nicht mehr gedacht.
Aus der Zeremonie der Handergreifung ist wohl auch abulg.
hralcT> 'Hochzeit' zu verstehen. Berneker stellt in seinem Etym.
Wörterbuch 1,81 hraJciy , dessen Plural im Altrussischen noch
hhvaci lautet, dem Herkommen gemäß zu hhrati 'nehmen' und äußerst
unter Zurückweisung des Gedankens an Raubehe die Vermutung,
daß hhrati vielleicht ein Terminus technicus für eine bei der heid-
nischen Eheschließung übliche Zeremonie gewese^n sein kann. Daß
diese Zeremonie die Handergreifung war, dürfte nach dem eben
Erörterten nahe liegen.
10. Die Männer zweier Scliwestern.
Ganz unter demselben Gesichtspunkt wie das Aufkommen der
Wörter für Schwiegersohn hat man es zu verstehen, daß von indo-
germanischen Zeiten her ein Wort vorhanden gewesen zu sein
222 Eduard Hermann,
scheint für die 'Männer zweier Schwestern'. Grriech. äsXioi, hei.
aCkioi wird man von anord. svilar, mit dem es längst verbunden
worden ist, wohl nicht trennen dürfen. Das Wort wird von Haus
aus nur die Männer zweier Schwestern bedeutet haben, die Erb-
töchter waren. Wegen der Seltenheit des Vorkommens solcher
Schwestern scheint aber der Ausdruck in den meisten Sprachen
verloren gegangen zu sein.
11. Des Mannes Schwester.
Alle bisher besprochenen Verwandtschaftsbezeichnungen fügen
sich gut in den Rahmen der indogermanischen Grroßfamilie. Wie
läßt sich da der Ausdruck für 'des Mannes Schwester' verstehen,
der in 'mehreren indogermanischen Sprachen vorliegt und dessen
Lautgestalt noch nicht sicher festgestellt ist? Im Lateinischen
haben wir glös, dazu gehören gr. yaXöag, wie der Nom. Sing, zu
dem Dat. yccXöcoc und dem Gen. Plur. yccXomv für Homer anzusetzen
sein wird, und abulg. zi>li>va^ serb. zaova^ russ. zoIvöl. Den Ausgang
dieser Wörter möchte ich aus -uös herleiten trotz der Resignation
Solmsens Stud. lat. Lautg. 108. Lat. (jlös geht dann auf '^gloim
zurück; die griechische Form läßt sich mit Hülfe von Grünterts
Schwa secundum leicht auf die ganz ähnliche Lautstufe *gd2loiiös
zurückführen und die slavische auf gd2ld2Uös = gdiluuös. In der
ersten und in der zweiten Silbe lag also ein kurzer Vokal zu
Grunde. Dazu paßt nun sehr hübsch die phrygische Glosse ysXaQog'
adsX(pov yvvT] ^QvyißxC aus Hesych, die gleich ösdQOLxag [ds]doi}c6gy
TQS' öE KQYJteg Verwechslung von f und q zeigt. Man hat also
yeXafog zu lesen. Eine genauere Untersuchung der phrygischen
Lautentwicklung darf ich mir wohl schenken. Das y statt des zu
erwartenden J dürfte kein unübersteigbares Hindernis bilden. Vor
Vokal + l, r findet häufig, wie ich bald zu zeigen hoffe, ein Wechsel
der Gutturalreihen statt. Die Bedeutung des phrygischen Wortes
macht keine Schwierigkeit, sie enthält dieselbe Erweiterung, die auch
für lat. glös vorliegt. Man kommt also auf diese Weise zu einem
Wort für 'Mannesschwester', das urindogermanischen Adel hat.
Das aber ist in gewisser Weise doch verwunderlich ; denn das
Vorhandensein dieser Bezeichnung scheint nicht recht zu der Groß-
familie zu passen — außer wenn man annimmt, daß damit nur die
unverheiratete Schwester des Mannes bezeichnet wurde. Für die
Verwandten außerhalb der Großfamilie gab es keine indogerma-
nischen Ausdrücke. Innerhalb dieser ging die Sonderbenennung
allerdings recht weit, fehlte doch auch das Wort für die Frau des
Sächliches und Sprachliches zur indogermanischen Großfamilie. ^23
Bruders des Gatten nicht, das nicht nur im Indischen, Griechischen *),
Lateinischen , Baltisch-Slavischen und Phrygischen nachgewiesen,
sondern von Andreas auch in afghan. iör entdeckt ist. *goJoitös
wird also nur die unverheiratete Schwester des Mannes bezeichnet
haben.
12. i/dQog.
Boisacq bezeichnet die Etymologie des Wortes ix^QÖg als un-
bekannt, da die bisher vorgetragenen Deutungen nicht befriedigten.
Unter diesen befindet sich auch die Waldes KZ 34, 485, der es an
lat. exterus unter Zugrundelegung der Bedeutung 'von außen kom-
mend' anknüpft. Dieser Versuch überzeugt allerdings nicht. Lautlich
ist aber Waldes Vorschlag sxd'gög = *eghstros einwandfrei, er scheint
mir auch richtig zu sein, nur bedarf er einer neuen Begründung
seitens der Bedeutung. Ich fasse exd'QÖg als 'exsul'.
Meine Vermutung gründet sich auf die Auseinandersetzungen
B. W. Leists in seiner Graekoitalischen Rechtsgeschichte und in
seinem Altarischen Jus Gentium über Blutrache. In letzterem Buche
sagt er S. 4*23 sehr treffend: „In dem Blutracherecht haben wir
die technische Privat feindschaft der alten Zeit vor uns" und S. 296,
Anm. 5: „Der Mörder ist der sx&QÖg^'. Homer erwähnt ja eine
ganze Reihe von Fällen, wo sich der Mörder durch Flucht der
Rache zu entziehen sucht: J3 661fg., iV694fg., 77 570 fg., ^83 fg.,
V 256 fg., J 378 fg., 0 272 fg., i^ 118 fg. Also wegen der Flucht
nannte man ihn 'den draußen Befindlichen'. Die Beziehung des
Wortes ix^Qog zum Mörder zeigt sich bei Homer in der Bedeutung
des Wortes nicht mehr unmittelbar. Ebenso wie bei ^x^og, äitsx^d-
vo^iai usw. tritt der Begriff 'verhaßt' dabei bereits in den Vorder-
grund. Es ist aber ein Unterschied zwischen dem Haß, der durch
h^Q^^-> h^og usw., und dem, der durch ^löbcd ausgedrückt wird. P 272
ist ^C<3ri0£v vom Unwillen gebraucht, dagegen ix^QÖg bedeutet den
unversöhnlichen Haß. 'ix^Q^ ^^ /^ot tov ö&qu, tCca de (iiv iv xagbg
aiörf sagt Achill I 378 von den Geschenken, die ihm Agamemnon
zur Versöhnung anbieten läßt, und J 312 heißt es : sx&Qog yccQ (iol
üslvog 6^G)g ^Aidao nvXißöLv, og x! £t€Qov ^sv nsv&r] ivl (pQEoCv^ äXXo
dh siTtrj. Derartiger Haß ist der Haß gegen den Mörder, an dem
es Blutrache zu nehmen gilt. Deutlichere Beziehungen des Wortes
zum Mörder und zur Blutrache zeigen manche Stellen bei Aischylos,
1) Die Betonung des griechischen stvdtsgsg beweist, daß diese Form den
äolischen Bestandteilen der Dichtung zukommt, vgl. die von Wackernagel GGN 1914,
47 fg. erörterten Fälle.
1224 Eduard Hermann,
z. B. Agam. 1322 fg. i^AtW d' ictsvxo^iat TCQog vötatov q)G)g rolg i^otg
ti^aoQOig sxd-Qotg cpovsvöi rolg e^otg tCvEiv o^iov oder Choeph. 122
jtcbg d^ ov, xov h%%'Qhv ävtaiisißsöd-at xaxotg und 308 fg. avtl ^sv
ixd-Qäg ylcjödr^g ix^Q^ ykcb66a rsXsL0d^co . . . ccvtl de TcXrjyfjg cpovCag
cpoviav nXfiy^v tivstg). Das Wort ix^Q^S ist also auf die Gesin-
nung, das Gefühl übertragen. Wenn man es auch auf den poli-
tischen Feind anwendet, wird der Umstand, daß die Blutrache
zwischen großen Geschlechtern einem Krieg nahekommt, nicht ohne
Einfluß gewesen sein ; man denke z. B. an die Alkmenoiden. Be-
sonders deutlich vermögen die südslavischen Blutfehden zu zeigen,
wie daraus geradezu internationale Fehden werden, vgl. Wesnitsch,
Zs. f. vgl. Rechtsw. 9, 61 fg. So heißt es denn auch in dem Vertrag
zwischen Hierapytna und Lyktos SGDI 5041, le tbv avxov fpCXov
xal sx^Qov a^w xal jiöXi^rjCm äito x^Q^^S^ '^^ ^(^ ^ccl & IsQajtvzviog.
Besonders beachte man Herodot VII, 145 TcarakXäöös^d'ai tag te
* sX^^g xal Tovg xar^ äXXTJXovg eövtag TCoXs^vg.
Besonders deutlich wird der Begriff des Mörders als exsul aus
den Worten Achills I 63 afpQiqTWQ, ä%'iiii0xog^ äviöxiog söxiv sxstvog^
og TCols^ov sgaxai eitidruiiov oxQvösvxog. Der Mörder ist rechtlos,
er ist ausgeschlossen aus dem Gesetz und aus der Gemeinde ; denn
die Familie des Ermordeten darf an ihm Eache nehmen. Sehr
häufig sehen wir bei Homer denjenigen Mörder auf der Flucht, der
einen Verwandten, einen Mitbewohner des Hauses, getötet hat.
Und das ist ja natürlich, daß der Verwandtenmörder am aller-
wenigsten sicher zu Hause war. So erzählt Herodot I, 35 auch
von dem Phryger Adrast, daß er seinen Bruder getötet habe und
darum b^i Krösus erscheint, i^sXijlafisvog vico xov jtaxgog. Aber
Homer kennt die Flucht auch in solchen Fällen, wo der Ermor-
dete kein Verwandter ist, so z. B. bei der Flucht des Patroklos
^85 fg. Nach dem Morde zu fliehen, war wahrscheinlich schon
lange vor der griechischen Zeit üblich, das war schon urindoger-
manischer Brauch. Schrader erwähnt ihn Reall.^ 153 fg. aus Schweden
und aus Montenegro. Der Brauch erklärt zur Genüge, wie Bx^Q6g
^der draußen Befindliche' zur Bedeutung 'Feind' kommen konnte.
'Der draußen Befindliche', 'der Ausgestoßene' ist ja doch darum
landesflüchtig, weil er die Eache, die Feindschaft der Familie des
Ermordeten fürchten muß.
Wie nahe an einander die Begriffe 'Feind', 'geächtet', ^rächen',
'verfolgen' liegen, sehen wir auch in anderen Sprachen. Abulg.
vragii 'Feind' gehört etymologisch zu ai. parävfj 'Verstoßener', ags.
wrecca^ ahd. recheo usw. 'Verbannter', got. wrtkan 'verfolgen' usw.,
Sachliches und Sprachliches zur indogermanischen Großfamilie. 225
nhd. rächen; ahd. fehida Feindschaft' usw. gehört zu ags. fdh 'ge-
ächtet, verfehmt, friedlos'.
J^isher habe ich nur von ix^QÖg gesprochen. Ist aber dieses
Wort die älteste Bildung des Stammes? Man darf nicht ver-
gessen, daß bei Homer neben iyßQÖg schon vorliegen: fj^O-t^rog, s'x&og,
exO-eöd-ai, djCEX^ccvo^ai^ ajtsx^ccCQcOy dazu kommen aus späterer Zeit
ix^C(ov, £x^L^og, £X^Q0C' ix^Qog ist also aufzufassen wie xvdgög^
TtvdkWf nvdiörog, xvdos, zvdi^og, ^vddvco, wie ccidxQ6g^ aldx^ov usw.,
und ix^QÖg : sx^Qa = XsTtgög : XsTtQa s. Fraenkel KZ 42, 124 Anm. 2,
Wackernagel Sprachl. Unters. Homer 234 fg. Es hat demnach das-
selbe Suffix -ro-, das wir oben bei ya^ßgög angetroffen haben.
Darum geht es nicht an, in sx^Qog eine komparativartige Bildung
mit Tief stufe vor q zu sehen, wie das Walde KZ 34, 485 will, der
es lat. cxterus unmittelbar gleichsetzt.
Es erhebt sich aber eine Schwierigkeit. Wie soll man das O-
erklären? Ausgangspunkt muß *egh^dhros sein, das aus *eghs-tros
oder aus "^egJis-dhros hervorgegangen sein könnte. In beiden Fällen
wäre daran zu erinnern, daß auch sonst Formen mit Dental vor
dem Suffix -ro- vorkommen, s. Brugmann Grrdr,^ II, 1, 340 und 378;
es sind nur gerade die Maskulina dieser Art selten, obwohl daiZQÖg,
laTQÖg, öKsd^QÖg usw. vorhanden sind. Zu ix^gög hat man dann
ix^kov^ £;t^t(?rog, %^og gebildet, wozu alöxtcov, aYöxi^tog, al^xog das
Vorbild geliefert haben dürften; gerade die Adjektiva auf -gog haben
ja mehrfach, wie oben schon erwähnt, Bildungen auf -i(ov, -Lötog
neben sich.
13. Altrussisch vira*
Das Wergeid wird von Schrader Sprachvergl. u. Urgesch.^ 396,
sowie Reallex.^ 157 und andern als eine urindogermanische Einrich-
tung angesprochen. Entscheidend für diese Ansicht ist die Gleichung
ags. wcre, mhd. were, ai. vaira' 'Wergeid'. Auch im Altrussischen gibt
es ein ähnliches Wort hierfür: in der Gestalt vira, Ist dieses mit
dem germanischen und dem indischen Wort urverwandt, dann ist der
Beweis für das urindogermanische Alter des Wergeides wesentlich
verbessert. In dem Festgruß . an Roth 49 fg. hat L. von Schroeder
russ. vira als echtslavisches Wort zu erweisen versucht. Schrader
aber glaubt, in vira ein germanisches Lehnwort suchen zu dürfen.
Wie steht es mit diesen Wörtern?
So leicht, wie es sich Schrader macht, läßt sich die Entleh-
nung jedenfalls nicht feststellen. Für sie spricht zunächst nur die
Tatsache, daß das Russische allein unter den slavischen Sprachen
das Wort vira 'Wergeid' kennt. Dagegen hat aber schon L. von
Kgl. Oes. d. Wiss. Nachrichten. l»hil.-hist. Klasse. 1918. Heft 2. 15
226 Eduard Hermann,
Schroeder mit Recht geltend gemacht, daß der Vokal des russischen
Wortes lang, der des germanischen kurz ist. Vor allem aber scheint
mir noch ein ganz anderes Hindernis vorzuliegen. Von einem
germanischen *uirä 'Wergeid' kann gar nicht die Rede sein. Im
Mittelhochdeutschen ist, soviel ich aus den Wörterbüchern ent-
nehmen kann, were mit der Bedeutung 'Wergeid' nicht vorhanden.
Auch im Angelsächsischen heißt das Wort nach Liebermann Ge-
setze der Angelsachsen II, 240 fg. zunächst nicht were, sondern als
Maskulinum wer. Die Form mit -e ist erst nachträglich aufge-
kommen und findet sich nur gelegentlich, obwohl sie in lateinische
und französische Urkunden {wera und tvere) als Femininum über-
gegangen ist. Das Wergeid heißt vielmehr zunächst ags. weregild
nnd ahd. weragelt, mit dem Wort wer 'Mann' gebildet, genau so
wie altisl. manngjöld und ags. leodgüd. Aus ags. ivergild hat sich
nun das schon erwähnte wer für 'Wergeid' losgelöst, so wie nach
E,. Schröder, Lehrbuch der deutschen Rechtsgeschichte^ 83 neben
ags. leodgüd anch salisch leudis usw. steht. Ein germanisches Wort
^uirä 'Wergeid' hat es also schwerlich gegeben, und wenn auch in
lateinische Urkunden wera aufgenommen wurde, kann die ältere
Lautstufe *^f^rä doch nicht schon ins Slavische entlehnt worden sein.
So bliebe denn Urverwandtschaft übrig? Ich glaube auch das
nicht. Das Slavische kennt "^wtros 'Mann' nicht, obwohl im Li-
tauischen vyras^ wie v. Schroeder hervorhebt, lebendig ist. Im
Gegensatz zu v. Schroeder macht mich der Mangel stutzig. Und
weiter! Was für eine Bildung soll denn vira sein? Wie soll es
zu der Bedeutung 'Wergeid' gekommen sein? Ich finde hier nicht
recht eine Brücke. Was aber den Ausschlag gibt, ist der Um-
stand, daß im Altrussischen keineswegs nur die Form vira vorkommt,
sondern auch die Form vera ; auch die Ableitung virniJc und virnyj
kommen mit e vor, s. Sreznevskij, Materialy dlja slovarja drevne-
russkago jazyka I, 262 fg. Diese Wörter vera, vernih, vernyj sind
aber keine andern als die geläufigen slavischen Wörter mit den
Bedeutungen 'Glaube, Treue' usw. Altruss. vira hat also mit unserm
Wort Wergeid gar nichts zu tun und gehört vielmehr zu lat. venis
usw. Wir haben es bei vira, virnih, virnyj nur mit dem in meh-
reren russischen Mundarten (kleinrussisch, Novgorod usw.) üblichen
Wandel von e zu i zu tun. Das ist natürlich für die Gegend der
Entstehung des Brauchs von Wichtigkeit. Ich muß es mir aber
versagen, darauf einzugehen, und führe nur aus den Pravdas ein
weiteres Beispiel für * = e an in Pravdas 1, N. 6 lichcju = letcju.
Die andern slavischen Sprachen kennen vera für 'Wergeid'
nicht, im Serbischen gibt es aber eine sehr bemerkenswerte Ver-
Sachliches und Sprachliches zur indogermanischen Großfamilie. 227
Wendung des Wortes in Verbindung mit der Zahlung des Wer-
geides. Wie es dabei in Montenegro zugeht, beschreibt Wesnitsch
ausführlich Z. vgl. Rechtsw. 9, 68 fg. Am verabredeten Tag kommen
sämtliche Verwandte des Mörders, mit Geschenken beladen, zu-
sammen, die vierundzwanzig Altesten gehen ohne Waffen den Ver-
wandten des Erschlagenen entgegen, die möglichst zahlreich, 100—200
an der Zahl, sämtlich bewaffnet erscheinen. Dann nähert sich der
Schuldige entblößten Hauptes auf den Knien, das G-ewehr am Hals.
Er muß dem Rächer die Hand und das Knie küssen, worauf er
aufgehoben und ihm die Waffe abgenommen wird. Gebeugten
Hauptes geht er zurück. Darauf wird dem Beleidigten ein Knäb-
lein seiner Verwandtschaft gebracht, in dessen Wiege das ausbe-
dungene Wergeid liegt. Es werden mehrere Patenschaften zwischen
beiden Parteien abgeschlossen, worauf ein Versöhnungsmahl folgt.
Ehe die Zeremonie stattfindet, muß für den Mörder um freies Geleit
gebeten werden, dieses heißt vera (oder in andern Mundarten vlra),
eigentlich 'Treue'.
Hat die russische vira damit etwas zu tun? Ich habe Be-
denken daran anzuknüpfen, erstens weil die Zahlung des Wer-
geides in Montenegro etwas ganz Modernes zu sein scheint, zweitens,
weil das Geld bei den Russen vielleicht nicht die Familie des Er-
schlagenen erhielt, sondern dem Fürsten bezahlt wurde. Goetz ist
Zs. vgl. Rechtsw. 24, 306 fg., 321 für die älteste Periode allerdings
andrer Ansicht, die richtige Auslegung ist jedoch mit so vielen
sachlichen, historischen und juristischen, Schwierigkeiten verknüpft,
daß ich dazu nicht Stellung nehmen möchte. Ich verweise aber
darauf, daß K. Fritzler in Gegensatz zu Goetz die Grundzüge
der russischen Pravdas für germanisches Recht in Anspruch nehmen
wird. Wie er mir sagt, stimmt die Abstufung der Strafen so
genau zu den nordgermanischen Rechten, daß man in der russischen
vira nichts echt Russisches erblicken darf. Ich lasse das alles dahin-
gestellt, bis Fritzlers Untersuchungen im Druck vorliegen. Falls
sich wirklich feststellen läßt, daß die vira nicht nur der Familie
des Erschlagenen, sondern auch dem Fürsten gezahlt wird, ferner
daß die vira nicht auf slavisfher, sondern auf germanischer Sitte
beruhte, dann wird man in vira lediglich eine Übersetzung von
frcdiis, fridiis zu sehen haben.
Das russische Wort vira ist demnach in keiner Weise geeignet,
Ifür das indogermanische Alter des Wergeides ein Zeugnis abzulegen
Fällt aber auch ags. were mit mhd. teere dahin und bleibt nur ags.
weregild mit ahd. weragelt neben ai. vaira übrig, so wird man aus
dem Wortstamme *mr- heraus überhaupt keinen Beweis für das
15*
228 Eduard Hermann,
Alter des Wergeides herleiten können. Ja, mit Rücksicht darauf,
daß in Montenegro erst 1855 durch den Fürsten Danilo der erste
ernstliche Versuch gemacht worden ist, die Blutrache durch Wer-
geid abzuschaffen, daß in Albanien erst während des Krieges der
österreichische kommandierende General erklären konnte ^ daß der
Grottesfrieden nunmehr angenommen und die Blutrache tatsächlich
abgeschafft sei (Frankfurter Zeitung vom 8. 11. 1916, No. 310, 2.
Morgenblatt) und daß bei den iranischen Stämmen, wie den Af-
ghanen (s. Anhang), die Blutrache noch in alter Weise üblich ist
halte ich es für ausgeschlossen, daß schon in urindogermanischer
Zeit das Wergeid sich an die Stelle der Blutrache zu setzen be-
gonnen habe. Die ungefähre Übereinstimmung der Summe bei den
Indern und Russen (v. Schroeder a. a. 0.) beweist also nichts.
14. Lateinisch Manes,
In der Andreas gewidmeten Festschrift 63 fg. hat es Christensen
wahrscheinlich gemacht, daß eine Tlfa^awlegende nicht nur in Indien,
sondern auch in Iranien vorhanden war, daß Manu bei den Persern
als Stammvater der Priester gegolten habe, wie er bei den Indern
als erster Opferer galt, daß er von beiden Völkern ursprünglich als
der Urmensch aufgefaßt worden sei. Nun haben wir zu ai. manu,
av. monti (manu) 'Mann, Mensch' gehörig : got. manna 'Mann, Mensch',
ahd. man usw., abulg. mgzi, ferner den Namen Mccvtjg für das Metall-
männchen, auf das beim Kottabosspiel, das aus Sizilien nach Grriechen-
land kam, der Wein tropfenweise fiel, vgl. Athenäus XI, p. 487c
naXsttaL ds Mdvrig ocal tb inl tov nottdßov scpsörrjxög^ 487 e rö xorrccßG)
ütQÖösöti xal Mdvrig tig coGiteQ olxhrig ; das Versmaß in Mavrjg d' ovdhv
laxdyov dUi Hermippos Kock Com. Att. fragm. I, 238 No. 47 beweist
die Länge des a; und dahin gehört wahrscheinlich auch der in
Phrygien, Paphlagonien und Lydien gebräuchliche Name Mdvrig.
Auch die keltischen Völkernamen auf -mäni (Norden SBA 1918,
95 fg.) sind wohl hierhin zu stellen. Man wird nicht irre gehen, in ai.
manu- die Fortsetzung eines gemeinurindogermanischen Wortes für
'Mann, Mensch' zu sehen. Wenn man aber weiter bedenkt, daß
bei den indogermanischen Völkern die erweiterten Großfamilien,
die einzelnen Geschlechter und Stämme an die Spitze ihres Ge-
schlechts oder Stammes einen Heros zu setzen pflegten, nach dem i
sie sich nannten, wie die Herakliden den Herakles, so wird man
auch in dem indisch-iranischen Manu einen solchen Stammheros
sehen. Dieser stimmt nun im Namen ganz zu dem Stammheros
der Westgermanen, dem Mannus, den Tacitus Germania 2 als den
Stammvater der IngvaeoneS; Hermiones und Istvaeones bezeichnet.
Sachliches und Sprachliches zur indogermanischen Großfamilie. 229
Die Stammheroen waren teils sagenhafte, teils wirkliche Per-
sönlichkeiten. Nach dem Ahnenglauben der Indogermanen lebten
die Seelen der Verstorbenen weiter, ihre Stammheroen waren also
z. T. die Seelen längst Verstorbener. So läßt sich auch der Manu,
Mannus auiFassen als der Repräsentant der verstorbenen Ahnen,
kurzhin 'Mann, Mensch' genannt. Das bringt die Mänes der Römer
in Erinnerung. Etymologisch läßt sich dieses Wort, das man bisher
meist mit lat. manus 'gut' oder mit iirivis zusammengebracht hat,
sehr wohl hier unterbringen. Der Ablaut und die Suffigierung
sind zwar anders als bei den arisch -germanischen Wörtern, das
bedeutet aber keine Schwierigkeit. Auch lat. manus 'gut' würde
sich in der Form anschließen lassen, aber die Bedeutung liegt trotz
der Eumeniden zu weit ab, als daß ich es hier mit heranziehen
möchte. Dagegen wird zu den besprochenen Wörtern vielleicht
eher das phrygische pLiqv gehören, auf das Kretschmer Einleitung
Gesch. griech. Sprache 197 Anm. 4 hinweist. Darf man ybr^v für
eine jonische Umbildung von ^{läv^ dem phrygischen Wort für 'ab-
geschiedene Seele', halten? Ahnlich faßt ja auch schon Kretschmer
den Sinn des Wortes auf, ohne aber den etymologischen Zusammen-
hang in dieser Weise anzuerkennen. Der königliche Schwur der
politischen Fürsten, der nach Strabo XII, 557 ^) rv%riv ßaöUscog nal
iifjva ^aQvaTiov hieß, bedeutet also vielleicht 'beim Glück des Königs
und der Seele des Pharnakes'. Gerade, daß Pharnakes als 'Stammvater'
der kappadokischen Satrapen (Diodor XXXI, 19, 1) galt, ist hierfür
von Wichtigkeit. Es wird eben die Seele des ältesten Ahnen an-
gerufen. Die Genetive Mtjv Td^ov, Mrjv KaQov, Myjv QaQvdxov
werden so durchaus verständlich ; besonders aber bekommt der Myjv
%ata%d'6vioQ jetzt seine Erklärung: Sterret, Pap. Amer. School II,
S. 200 N. 211 og 8' iav s[:jt]i(jßLdöritaL r) d[d]i^7]öSL, exoi xo[v M]flvcc
Kcctax^6vL[o]v %s%olo:>iiivov und III, S. 174 No. 284 Ev[o\QMl6^e^a da
Mrjva '^atai^-oviov Sig tovto ^vrj^atov ^r^deva ^l^sXd'siv.
1) Die Nachricht Strabos e%ei 8s v.al to isqöv Mrivög ^ccQvdyiov yiaXovfisvov,
Ti)v'J^£Qiccv 'HcofiOTtoXiv TtoXXovg tsQoSovXovg 8%ovaav Kai %coqav lsqccv, ^v 6 tsgco-
lievos ccsl TiccQTtovtccL. EXL[ir\aav 8^ ot ßccciXsig tb ieqov tovto ovtmg sig vnsgßoX'^Vj
a>at£ tbv ßaciXi-^bv v.aXovfisvov oqtiov tovtov änicpTivav ^tv%7iv ßccöiXicog kccI ^Mfjvu
^aQvdyiov. 86t i, ds Tial tovto tijg asXijvrig tb tsgbv ist mit Ramsay vermutlich so
zu erklären, daß die Mondgottheit erst nachträglich in das an das Wort für 'Mond'
anklingende Mrjv hineingedeutet wurde.
230 , Eduard Hermann,
15. Die Adoption.
Sclirader hat Reallex.^ 15 darauf hingewiesen , daß in llom
bei der Adoption der Geburtsakt symbolisch nachgeahmt werde.
Die von ihm weiter herangezogene Stelle Diodor IV, 39, 2 erweist
dieselbe Sitte nicht nur für Barbarenstämme, sondern wohl auch
für die Griechen; denn es heißt da: TCQoad-eteov ö' i)^tp rotg sigi][i8'
voi$, ort ^srä xriv ocTCod-eaiöLv avtov Zsvg '''Hgav ^hv ensiGsv vloTtotrj-
öaöd-at rbv ^HgaTcXsu tcccI to Xoltcov slg xhv äitavta ^qovov ^rjtQog
svvoiag TCaQS^s^d^ai^ xriv ds rsxvcoöiv ysveöd'ai cpaöl roiavtriv ' ti^v
"Hqccv avccßäijav eig KXivrjv xal tbv ^Hganlia TCQoöXaßo^evrjv TCQog t6
öG)iia dt,ä tG)v kvdviidtcQv äipslvai TtQog xriv yfiv ^i^oviievr^v triv alri^ivi]v
ysvsöLV ' OTtSQ ^£XQi Tov vvv TtOLStv tovg ßaQßccQOvgf otav dstbv vlbv
TtoLstßd'ai ßovlavxai. Was hier von der griechischen Göttin gesagt
wird, darf man wohl auch von den älteren Griechen ruhig an-
nehmen. Nachahmung des Zeugungs- bez. des Geburtsakts bei
fürstlicher Adoption im Mittelalter hatKogler Zeitschr. derSavigny-
Stiftung für Rechtsgeschichte, Germ. Abt. 25, 166 fg. belegt, und
zwar aus Bulgarien, Spanien und bei der Adoption des Bruders
Gottfrieds von Bouillon durch den Fürsten von Edessa. Ähnlich
wie die Adoption des Herakles beschreibt Klidschian Z. vgl. Eechtsw.
25, 304 die armenische Adoption in Aschtarak (Gouv. Erivan) in
der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts: „Die Adoptivmutter
zieht unter Anwesenheit des Adoptivvaters das zu adoptierende
Kind zu sich heran, bringt es in knieende Stellung und birgt es
unter ihrer Schürze. Da das zu adoptierende Kind nach der Adop-
tion dem armenischen Recht nach als leibliches Kind betrachtet
werden muß, wird in der angegebenen Weise eine Geburt simu-
lierte
Eine andre bemerkenswerte Übereinstimmung ist die Schoß-
setzung, die sich nicht nur bei den Germanen (Hoops Reallex. 39),
sondern auch bei den Indern findet. In der Geschichte von Cunali-
9epa heißt es Ait. Brahm. 7, 17, 2 : atha ha cunahcepo vicvamitra-
syäi^kam äsasäda ^da setzte sich Cunahcepa auf den Schoß des Vicva-
mitra'. Da auch die Sitte des Haarschneidens bei der Adoption den
Indern und Germanen gemeinsam ist, könnte es fast so scheinen,
als habe man hier Reste altindogermanischer Bräuche Vor sich. Aber
man darf nicht vergessen, daß das Haarabschneiden auch sonst bei
der Aufnahme in die Familie üblich ist, so bei der der altindischen,
altgriechischen und litauischen Braut. Gleich Schrader Reall.^ 15 ist
es darum auch mir zweifelhaft, ob die Adoption eine urindogerma-
nische Sitte war, zumal da keine einheitliche Terminologie zu
Sachliches und Sprachliches zur indogermanischen Großfamilie. 231
finden ist. Als Gegengrund lassen sich allerdings nicht die andern
Einrichtungen zur künstlichen Schaffung eines Sohnes anführen,
da in manchen Fällen weder Erbtochter noch Zeugungshelfer oder
Leviratsehe den gewünschten Erfolg haben konnten , z. B. für
einen kranken, verwitweten und kinderlosen Mann.
Anhang.
Andreas hat sich auf meine Bitte von iranischen Grefangenen
über das Familienleben Angaben machen lassen, die ich mit seiner
freundlichen Erlaubnis hier zum Abdruck bringe.
Ein Ossete aus dem Dorf Snäg , das von der Familie der
Gähoitä bewohnt wird und von dem Urgroßvater des Befragten
gegründet ist, gibt an, daß man seine Frau aus einem andern Dorfe
zu suchen habe und daß sich eine Witwe nicht in dem Dorfe
(== Greschlecht) ihres verstorbenen Mannes wieder verheiraten dürfe.
Afghanen vom Stamme der Afndi (gesprochen Apridi)^ die
nicht unter englischer Herrschaft stehen, bekundeten, daß ihr Volk
häufig in Großfamilien wohnt. Eine sohnlose Witwe ist zur Heirat
mit ihrem Schwager gezwungen, auch wenn sie nicht will. Daß
der Schwager schon vorher verheiratet ist, kann kein Hinderungs-
grund sein, weil die Afndt Muslims sind. Hat die Witwe schon
einen Sohn, so braucht sie nicht wieder zu heiraten. Die Erb-
tochter wird in der Familie behalten und von dem nächsten Ver-
wandten — einen Bruder hat sie ja nicht — geheiratet. Überhaupt
heiraten (durch Kauf) die Afridis vorwiegend Mädchen aus ihrem
Stamme ; doch werden ihre Töchter auch den als -nahe verwandt
angesehenen Oruhzt, spr. Wringt gegeben. Die Blutrache spielt unter
denjenigen Afghanen, die nicht unter englischer Herrschaft stehen,
eine große EoUe. Zwischen Blutfeinden kann aber ein Waffen-
stillstand, 'Stein' hänae genannt, abgeschlossen werden, und zwar
durch einen vermittelnden Stamm. Wenn der Vertrag nicht ge-
halten wird, brennt der Vermittler das Dorf des Brechers des
Waffenstillstands nieder. Bei einem Ausgleich wird je nach Zahl
der Toten und Verwundeten und der Art der Verwundung eine
Rechnung aufgestellt; da gibt es dann eine regelrechte Taxe, der
Ausdruck für dieses 'Wergeid' ist nä^a.
Ein Belutsch {Balöc) aus Sörän (auf der Karte Sörän genannt)
von dem Stamme Uind bezeugt, daß in seiner Heimat die Groß-
familie zwar vorkommt, aber nicht sehr üblich ist. Hier kennt
man die Blutrache nicht mehr. Die Witwe kann wieder heiraten,
und zwar, wen sie will.
232 Edu ard Hermann, Sachliches u. Sprachliches zur indogerm. Großfamilie.
Zu den Ausführungen oben S. 217 fg., ist nachzutragen, daß
zwei verschiedene Grründe die Exogamie bei der" Erbtochterheirat all-
mählich aufgehoben haben mögen. Da die Stellung des Einheiraters
nirgends für besonders ehrenvoll gegolten haben wird, es aber
darauf ankam, unbedingt einen männlichen Nachkommen für die
Darbringung der Totensakra zu schaffen, wird man darauf ver-
fallen sein, den nächsten Verwandten väterlicherseits zur Heirat
mit der Erbtochter zu zwingen. In älterer Zeit gesellte sich dazu
als zweiter Q-rund der Vorteil für die Gesamtfamilie, daß die Erb-
tochter nicht erst gekauft zu werden brauchte, in jüngerer Zeit
die Aussicht, das Erbe der Erbtochter in der Familie zu behalten
(vgl. Plutarch Solon 20 und die Bemerkungen über die Afghanen
im Anhang).
S. 217 hätte ich nicht mit solcher Bestimmtheit sagen sollen,
daß nur der erste Sohn des Erbtochtermanns bei deu alten Indern
als Sohn seines Grroßvaters mütterlicherseits angesehen wurde, da
die indischen Quellen nicht von dem ältesten Sohn der Erbtochter
(jputriMputrä) , sondern nur von ihrem Sohn im Singular sprechen.
Jolly hat mir über diesen Punkt freundlichst folgende Auskunft
gegeben : Er weist darauf hin , daß die neueren Bearbeiter des
indischen Eechts verschiedener Ansicht sind. Mayne Hindu Law
and Usage' 91 glaubt , daß nur der erste Sohn dem Grroßvater
gehört, dagegen Ghose Principles of Hindu Law'^ 98 will ihm alle
Söhne seines Schwiegersohns zueignen. Für den ersten Sohn allein
spricht nach Jolly die Bestimmung bei Manu IX, 60, daß in dem
analogen Fall des Jcsetrajuy d.h. des Sohnes, der dem sohnlos ver-
storbenen Gatten von seinem Bruder in der Leviratsehe gezeugt
wird, ein einziger Sohn aus solcher Verbindung als Sohn des ver-
storbenen Ehegatten seiner Mutter zu gelten hat. Im modernen
Indien beerben allerdings alle Söhne einer Erbtochter den mütter-
lichen Großvater, s. A Manual of Malabar Law 114 fg. Im allge-
meinen hält es aber Jolly 'für wahrscheinlich, daß [im alten Indien]
nur der älteste Sohn als putriMpiitra gilt , während die jüngeren
als die Söhne ihres leiblichen Vaters betrachtet werden'. So bleibt
es leider immerhin zweifelhaft, wie die Dinge im alten Indien lagen.
Livius und Horaz über die Entwicklung des römischen
Schauspiels.
Von
R, Reitzenstein.
Vorgelegt in der Sitzung vom 19. Mai 1918.
Leo hat in einem feinen Aufsatz über 'Varro und die römische
Satire' (Hermes XXIV 1889 S. 67 iF.) das berühmte Kapitel, in
welchem Livius die Greschichte des römischen Dramas berichtet
(VII 2), weil es von Jahn u. a. Varro zugeschrieben war, mit be-
handelt und einer herben Kritik unterzogen: seine Angaben sind
sachlich wertlos und nur in Nachahmung griechischer Theorie er-
funden. Den Grundgedanken nahm Hendrickson, The Dramatic Sa-
iura and the Old Comedy at Borne {American Journal of Philology XV
1894 S. liF.) auf, formulierte ihn noch schärfer i) und nahm zu-
gleich die zweite einschlägige Stelle der älteren lateinischen Li-
teratur hinzu, die Leo nur beiläufig gestreift hatte ^), Horaz Ep.
II 1, 145—160. Sie behandelt nach ihm die gleiche Entwicklung
und stammt aus der gleichen Quelle, daher darf man die einzelnen
Wendungen des Livius nach ihr deuten und z. B. hinter der von
Livius erwähnten satura die alte attische Komödie suchen, die auf
Naevius gewirkt hat. Die Grleichsetzung der Satire des Lucilius
mit der apy^xla x(0[j.tpSta hat die 'abenteuerliche Erfindung' veran-
laßt. In einem zweiten Aufsatz Ä Fre-Van onian Chaptcr of Boman
Literary Bistory {Americani Journal of PhiloJogy XIX 1898 S. 285 ff.)
führte Hendrickson dann einen früher von ihm flüchtig hingewor-
1) Vgl. S. 30 A. 1: ^The assumption is so monstruosly unhistorical^ .
2) Leo a.a.O. S. 81A.: „Man könnte die Sätze (des Horae.) ohne Mühe der
Darstellung des Livius einfügen".
234 " R. Reitzensteiu,
fenen Gredanken naher aus, Horaz v. 156—165 deute auf den von
Accius gegebenen falschen Ansatz des Livius Andronicus, den Varro
später berichtigt hat. Da nun Horaz und Livius auf eine ge-
meinsame Quelle zurückgingen, so stamme auch Livius VII 2 aus
einer vorvarronischen Quelle, vielleicht, wie Hendrickson andeutet,
aus Accius selbst. Ein letzter Aufsatz Satura — the Genesis of a Lite-
rary Form (Classical Fhüology VI 1911 S. 129) bringt hierzu nur
noch die eine Umgestaltung, daß aus der Greschichte der Bezeich-
nung satura für das literarische fsvog des Hohngedichtes nunmehr
erschlossen wird, die unmittelbare Quelle des Livius und Horaz
könne nicht wohl vor etwa 30 v. Chr. fallen. Schon vorher war
Leo auf die ersten beiden Aufsätze des amerikanischen Gelehrten
in einer Erwiderung 'Livius und Horaz über die Vorgeschichte
des römischen Dramas' (Hermes XXXIX 1904 S. 63 ff.) eingegangen
und hatte Hendricksons These, daß Horaz und Livius die gleiche
Entwicklung schilderten, mit einigen Einschränkungen übernommen ^),
gerade hieraus aber gefolgert, daß die starken Unterschiede zwi-
schen ihnen uns zwängen, die Benutzung verschiedener Quellen
anzunehmen; der Bericht des Horaz, den Leo jetzt auf Vers 139
bis etwa 170 ausdehnte, sei vorvarronisch , der des Livius, den
man wohl ganz dessen annalistischer Quelle zuweisen dürfe, nicht-
varronisch; die wörtlichen Uebereinstimmungen, die Leo früher
selbst nachdrücklich hervorgehoben hatte, beruhten nur auf der
Verwendung der gleichen griechischen Methode in den beiden ver-
schiedenen Quellen. Die an diese Aufsätze schließende Literatur ^)
zählt am vollständigsten 0. Weinreich in einem Aufsatz 'Zur rö-
mischen Satire' (Hermes LI 1916 S. 386 ff.) auf und bringt in einem
Punkte der Analyse des livianischen Berichtes einen außerordent-
lich dankenswerten Fortschritt über Leo hinaus, bleibt aber freilich
in der Hauptfrage wohl zu sehr in dem Bann einer communis opinio,
die sich unter dem Einfluß eines leicht entschuldbaren Irrtums bei
Leo und seiner Vergrößerung durch Hendrickson allmählich ge-
bildet hat. So gibt er mir den Anlaß, einen Deutungsversuch
vorzulegen, den ich unter dem frischen Eindruck der ersten grund-
legenden Arbeit Leos im Winter 1889 in Eo stock meinen Hörern
vortrug. Ich habe nur Weinreichs feine Beobachtung hinzugefügt
1) Die frühere Andeutung, daß er das Verhältnis der beiden Berichte anders
fasse (vgl. oben S. 1 A 2), blieb unberücksichtigt.
2) Den Ehrenplatz verdient in ihr die feine und eindringende Kritik B. L.
UUmans Bramatic ^Satura" {Classical Fhüology IX 1913 S. Iff.), die mir für
die Deutung des livianischen Berichtes außerordentlich ertragreich scheint.
Livius und Horaz über die Entwicklung des römischen {Schauspiels. 235
und die Analyse des Livius ein wenig weiter ausgeführt. Von
dem Wege Weinreicbs muß sich dabei der meine sehr bald schon
trennen; denn während dieser vor allem den Namen der Quelle
ermitteln will, möchte ich hauptsächlich feststellen, was sie eigent-
lich lehrte. Dazu muß ich zunächst untersuchen, wie Livius bei
der offenbar sehr starken Verkürzung verfahren ist. Erst dann
läßt sich die weitere Frage aufwerfen, ob sich bei Livius oder bei
Horaz die Benutzung einer griechischen Theorie so stark geltend
macht, daß sie die Verwendung auch guter römischer Tradition
von vornherein ausschließt. Daß Leo diese Frage voranstellte und
bejahte, hat ihn, den Meister der Interpretation, offenbar ver-
hindert, zunächst die Quelle selbst zu rekonstruieren, und Hen-
drickson, der in der "Wertung des Berichtes ganz von Leo abhängig
ist, läßt in seiner Deutung alle Schärfe und Methode vermissen.
Paul Lejay endlich, der in seiner großen Ausgabe der Satiren
(1911) p. LXXXIIIff. das Problem streift, bleibt in der Interpre-
tation ganz von Hendrickson abhängig, während er die Ergebnisse
offenbar „in konservativem Sinn" umzugestalten bemüht ist. Nicht
auf ein derartiges Ergebnis kommt es mir an — von dem Eifer auf
jeden Fall die „Ueberlieferung" zu retten, weiß ich mich frei — ,
wohl aber auf die Analyse der beiden Berichte. Leider ist es
unvermeidlich sie selbst noch einmal abzudrucken, sogar in wei-
terer Ausdehnung, als es meist geschieht, damit klar wird, wie
weit beidemal eine antiquarische Quelle überhaupt reichen kann.
Ich beginne mit dem Berichte des Livius.
VII cap. 2 : Et hoc et insequenti anno C. Sulpicio Fetico C. Li-
cinio Stolone consulibus pestüentia fuit. (2) eo nihil dkjnum memoria
act2im, nisi quod pacis deum exposcendae causa tertio tum post condi-
tam urhem lectisternium fuit. (3) et cum vis morhi nee hwnanis con-
siliis nee ope divina levaretur , victis superstitione animis ludi quoque
sceniei, nova res hellicoso popido — nam circi m,odo spectaculum fuerat — ,
inter alia caelestis irae placamina instituti dicuntur, (4) ccterum parva
quoquej ut ferme principia omnia, et ea ipsa peregrina res fuit, sine
carmine tdlo, sine iniitandorum carminum actu ludiones ,. ex JEtruria
acciti, ad tihicinis modos saltantes hattd indecoros motiis more Tiisco
dabant. (5) imitari deinde eos iuventus simiil inconditis inter se io-
cidaria fundentes versihus coepere; nee absoni a voce motus erant.
(6) accepta itaque res saepiusque usurpando excitata. vemaculis artifi-
dbus, quia ister Tusco verho ludius vocdbatiir, nomen histrionihus inditum ;
(7) qui non, sicut ante, Fescennino versu similem ijiconpositum temere
ac rudern alternis iaciebant, sed inpJetas modis saturas descripto iam
ad tihicinem cantu motuque congruenti peragehant. (8) Livius post
236 ^- Beitzenstein,
aliquot annis^ qui ab saturis ausus est primus argumento fdbulam se-
rere^ idem scüicet, id quod omnes tum erant, suorum carminum actor, (9)
dicitur, cum saepius revocatus vocem ohtudisset, venia petita puerum ad canen-
dum ante tihicinem cum statuisset, canticum egisse aliquanto magis vigente
motu, quia nihil vocis usus inpediehat. (10) inde ad manum cantari histii-
onihus coeptum diverhiaque tantum ipsoi'um voci relicta. (11) postquam lege
hac fabularum ah risu ac soltito ioco res avocahatur et Indus in artem
paulatim verterat, iuventus histrionibus fabellarum actu relicto ipsa inter
se more antiquo ridicula intexta versibus lactitare coepit; quae exodia
postea appellata consertaque fabelUs potissimum Atellanis sunt. (12)
quod genus ludorum ab Oscis acceptum tenuit iuventus^ nee ah histrionibus
poUui passa est : eo institutum manct, ut actores Atellanarum nee tribu mo-
veantur et stipmdia, tamquam expertes artis ludicrae^ faciant. (13) inter
aliarum parva principia rerum ludorum quoqiie prima origo ponenda
Visa est, ut appareret, quam ab sano initio res in haue vix opulentis
regnis tolerahilem insaniam venerit,
cap. 3. Nee tarnen ludorum primum initium procurandis religi-
onibus datum aut religione animos aut corpora morbis levavit ; (2) quin
etiam, cum medios forte ludos circus Tiberi superfuso inrigatus inpe-
disset, id vero, velut aversis iam diis aspcrnantibusque placamina irae,
terrorem ingentem fecit. (3) itaque G. Genucio L. Äemilio Mamerco
iterum consulibus, cum piaculorum magis conquisitio animos quam Cor-
pora morhi adficerent, repetitum- ex seniorum memoria dicitur, pesti-
lentiam quondam clavo ab dictatore fixo sedatam.
Sehr fein hat Weinreich hier gegen Leo (vgl. oben S. 234)
auf die Wiederholung bedeutungsvoller Worte an Anfang und
Ende des Hauptberichtes verwiesen und aus ihr geschlossen, daß
Livius in einen annalistischen Grundtext eine Einlage aus einer
andern Quelle gemacht hat. Handgreiflich ist die Absicht bei der
Wiederholung der Eingangsworte ceterum, parva quoque, ut ferme
principia omnia, et ea ipsa peregrina res fuit im Schluß des Ab--
schnittes inter aliarum parva principia rerum ludorum ^) quoque prima
origo ponenda visa est e. q. s. Aber in Verbindung mit ihnen mißt
Weinreich mit Recht auch der Wiederholung der Worte inter alia
caelestis irae placamina in den späteren aversis iam diis aspcrnanti-
busque placamina irae (gerade von den hidi scaenici gesagt) eine ge-
wisse Bedeutung bei 2). Es ist für den, der die Technik der
1) Das Beiwort scaenicorum ist weggelassen, weil es sich nach § 3 von selbst
versteht, nicht weil die Quelle nur die Bühnenspiele behandelte.
2) Auch die Worte victis superstitione animis ludi quoque scaenici, nova res
belUcoso populo werden in ludorum primum initium procurandis religionibus datum
Livius und Horaz über die Entwicklung des römischen Schauspiels. 237
Wiederholungen nach Digressionen und Einlagen etwas verfolgt
hat, durchaus sicher : was zwischen 2, 4 und 2, 13 steht, entstammt
einer anderen Quelle ; ich nenne sie die antiquarische. Wir können
den Inhalt der annalistischen und den Anfang der antiquarischen
Quelle vermutungsweise noch etwas genauer festlegen. Festus
p. 326, 26 M. gibt unter lauter Glossen, die mit den Buchstaben
SAL beginnen, auch die Grlosse^) [Saltici qui n]unc ludi, scenicos
[olim dicebant. qii6]s primum fecisse C [fi^lium M. Popilium
M. [ßlium curides a]ediles memoriae [nostrae prodiderunt] historici
solehant [enim ludiones saltare hi\ o[rc\hestra^ dum [fa\-
hidae conponerent[ur, cum gestihus non oh]scaenis. Da M. Popilius
359 Consul ist, also 364 sehr wohl Aedil sein konnte, liegt offenbar
derselbe annalistische Bericht zugrunde, der sowohl die Jahresbe-
amten wie die Spielleiter nannte und außerdem eine andeutende
Beschreibung gegeben haben muß, die den Worten des Livius sine
carmine nllo entsprach, sonst konnte der Lexikograph sich nicht
die für ihn moderne Bezeichnung saltici ludi (vgl. salticae fabulae
in der vita Lncani) für diese scenici ludi bilden; wir haben ein ge-
wisses Recht, aus den Worten des Livius haud indecoros motus die
Schlußworte der Glosse zu ergänzen^). Dagegen gehört die Erklä-
rung des Wortes histrio kaum in die annalistische Quelle; denn
Cluvius Rufus (bei Plutarch AXzia TtojjLal'Ttd 107) benutzt diese
ebenfalls^), bietet aber eine etwas andere Erklärung des Wortes.
Erst von § 5 (imitari deinde eos) ist bei Livius die antiquarische
Quelle allein benutzt.
Diese Quelle, die nunmehr einzig für uns Wichtigkeit hat,
wieder aufgenommen. Das Mittel, durch derartige Wiederholungen die Rückkehr
zu einer Haupterzählung oder Hauptquelle deutlich zu machen, bietet sich jedem
auch 'kunstlosen Erzähler von selbst, hat aber bei bestimmten Historikern wie
z. B. Polybios offenbar bewußte Ausgestaltung gefunden und läßt sich bei ihm
jetzt mit Laqueurs Buch, in dem es freilich mißverstanden ist, am leichtesten ver-
folgen. Daß wir die planmäßige Wiederholung nicht etwa der annalistischen Quelle
des Livius zuweisen dürfen, wird die Analyse der Fortsetzung zeigen, die darzutun
hat, wie stark Livius hier kürzt und die Anordnung der ihm vorliegenden Quelle
umgestaltet. Uebrigens zeigt auch das folgende Kapitel (VII 3) deutlich die Ver-
bindung einer annalistischen mit einer antiquarischen Quelle.
1) Ich benutze eine eigene Collation des Farnesinus aus dem Jahre 1885.
Die Ergänzungen Müllers nach der Glosse Orchestra sind ganz unsicher. Die
Glosse Salva res est, die danach folgt, ist in der Handschrift selbst deutlich als
neuer Artikel abgehoben,
2) Wohl im Gegensatz zu dem talarius ludus, der von Anfang an ausge-
lassen war (Cicero De off. I 150).
3) Er nennt dieselben Consuln.
2^8 ^- Reitzensteiö,
betrachtete m. E. die Einführung der Tanzspiele nicht als den
Ausgangspunkt, sondern nur als den "Wendepunkt einet Entwick-
lung, die sich gar nicht auf die lucli scaenici in dem römischen
Jahresfest beschränkte. Sie mußte notwendig vor der Einfüh-
rung der Tanzspiele den älteren Brauch freier Spottgesänge
schildern, da ihr ja darauf ankam, nachzuweisen, daß diese G-e-
sänge durch das Hinzutreten des Tanzes eine entscheidende Aen-
derung erfahren haben. Man kann das in dem Text sogar noch
herausfühlen. Die Worte qui non sicut ante Fescennino versu
similem inconipositum temere ac rudern alternis iaciehant befremden in
ihrem Anschluß an die Erklärung des Wortes histrio; sie
wiederholen ferner nur, was vorher schon mit den Worten incon-
ditis ivter se iocularia fundentes versihus gesagt war, und geben hier
Erläuterungen, die wir eigentlich vorher erwarten durften: es
waren nicht mehr eigentliche Fescennini, wohl aber etwas den
Fescennini noch immer Aehnliches. Der Begriff wird durchaus als
bekannt vorausgesetzt, wie wir später sehen werden, wahrschein-
lich sogar in einem Sinne, der durchaus nicht der allgemeinen
Auffassung entsprach. Zunächst scheint mir sicher, daß die Er-
klärung des Wortes histriones ungeschickt eingefügt ist ^). Die
Schilderung mußte ursprünglich sich fortsetzen: vernacuU deinde
artifices non sicut ante e. q. s. Die Hervorhebung des zeitlichen
Abstandes dieser Entwicklungsphase, die ich durch Einfügung des
Wörtchens deinde angedeutet habe, mußte unterbleiben, als die
Namens erklärung eingeschoben wurde; Livius bringt sie — so
könnte man vielleicht sagen — aus diesem Grunde in den fol-
genden Worten non sicut ante nach. Allein gerade durch diese
Worte entsteht eine schwere Unklarheit. Beziehen sie sich 'auf
jene ersten Nachahmungen der hiventus^, so ist zunächst nicht
1) Siehe hierzu auch Uilman Classical Fhüdlogy IX 6.
2) So Lejay und Hendrickson {Am. Journ. of Philol. XIV 8). Sie nehmen
dabei an, daß die iuventus erst nach 364 zu singen begonnen hat.. Das ist auch
sachlich unwahrscheinlich; das Singen der Necklieder beim Triumph — und also
auch bei der pompa — ist nicht durch die Einführung des ernsten Tanzes zu
erklären und gilt offenbar als sehr alt. Ganz andere Erklärungen dafür hätten
sich ohne weiteres geboten und scheinen nach den Worten Fescennino versu si-
milem auch wirklich in der Quelle vorgebracht zu sein. Betrachtete sie die Verse
als schon gegeben, den gleichzeitigen Tanz zur Flötenbegleitung als neu hinzuge-
kommen, so ist der Ausgangspunkt dieser Konstruktion klar : in der pompa ziehen
wirklich nach Dionys von Halikarnass VII 72 nach dem Chor der Waffentänzer
die lustigen Personen in ähnlichem Chor und ahmen ihn parodierend nach (vgl.
unten S. 248). Aehnliches wird hier berichtet ; denn natürlich nehmen die Worte
nee absoni a voce motus erant ihre Bedeutung zugleich aus den vorausgehenden
4nter se iocularia fundentes.
I
Livius und Horaz über die Entwicklung des römischen Schauspie m 239
abzusehen, warum Livius in dem knappen Bericht deren Beschrei-
bung jetzt wiederholt und in beträchtlicher Verstärkung wieder-
holt; ja der Zusatz Fescennino versu similem wird geradezu unbe-
greiflich. Aber noch unbegreiflicher wird bei dieser Annahme das
Verhältnis der vernactdi artifices, d.h. dann also der hlstriones, zu
der iuventus, also den Dilettanten. Hendrickson, der gegen Jahn
u. a. schon die saturae den hlstriones zuweist, hebt hervor, die iu-
ventus beginne ihr Spiel erst wieder nach Einlührung der fahulae
des Andronicus. Hierbei bleibt ebenso unerklärt, woher die ver-
naciili artifices denn kommen, wenn nicht aus den Reihen der Iu-
ventus — Livius setzt doch offenbar voraus, daß sie das Spiel der
iuventus fortiuhTGn] nur unter dieser Voraussetzung hat der kurze
Bericht überhaupt noch einen Sinn — wie andrerseits die Worte
§11. postquam lege hac fabularum ab risu ac soluto ioco res avocahaiur
et Indus in artem paulatim verterat, iuventus histrionihus fabellariim
actit relicto unverständlich bleiben. Nicht einmal der Ausweg hilft,
lege hac fabularum auf zwei Arten der fabula, die satura und die
fabula im eigentlichen Sinne, zu beziehen; von der später zu er-
örternden lexikalischen Schwierigkeit abgesehen, würden wir, da
jene beiden Arten ganz verschiedene ^Gesetze' haben, dann min-
destens den Plural erwarten müssen; lege hac fabularum kann nur
heißen : durch diese Norm, fabulae (mit festem Argument) zu bieten.
Das wird auch in dem folgenden Paragraphen (12) durch die auf die
Zeit nach Einführung des eigentlichen Dramas bezüglichen Worte
gesichert : qnod genus ludorum . . . tenuit iuventus nee ab histrionihus
pollui passa est. Erst das eigentliche Drama bringt eine strenge
Scheidung der histriones und der iuventus] bis dahin sind es im
wesentlichen l^sXovcai mit mehr oder weniger Schulung. Die Un-
klarheit ist in Wahrheit nur durch die Einlage der Etymologie des
Wortes histrio entstanden, das Livius hernach im Sinne der späteren
Zeit (Acteur einer fremden Dichtung) gebraucht. Daß sie die Einlage,
die freilich aus der gleichen Hauptquelle stammen wird, nicht erkann-
ten, hat die neueren Erklärer (außer Ullman) irre geführt. Die ver-
naculi artifices sind zunächst noch kein fester Stand. Bedeutet doch
artifex nach dem Sprachgebrauch aller Zeiten nur denjenigen, der bei
den ludi mit irgend einer Darbietung auftritt (vgl. für die ältere Zeit
Plautus Amphitr. 69, 70, Foen. 37) und Livius hat das Wort V 1, 5
daher mit Recht eben von jenen etruskischen Tänzern schon ge-
braucht. Jene römische Jugend, welche den etruskischen Tanz-
brauch nachahmt und mit dem Gesang improvisierter Scherzlieder
verbindet, ist selbst als vernactdi artifices bezeichnet, mag auch der
Gedanke an eine gewisse Uebung und Schulung der öfter auftre-
240 ^' Beitzenstein,
tenden Personen (vgl. res saepius usurpando^ excitata) dabei schon
mitwirken. Dann aber können die Worte non^ sicut ante, Fescen-
nino versii similem incompositum temere ac rudern alternis iaciehant
nicht eine bloße Wiederholung der früheren inconditis inter se io-
cularia fundentes versibus bieten ; notwendig müssen die Worte sicut
ante sich auf die Zeit vor 364 , nicht nach 364 beziehen. Livius
konnte diese Zeit nicht besonders berücksichtigen; nur in einer
Art Einlage verweist er auf sie. Die Annahme, daß die antiqua-
rische Quelle ihre Darstellung ebenfalls mit dem Jahr 364 be-
gonnen haben müsse, hat keinerlei innere Berechtigung und schafft
nur Schwierigkeiten. Greben wir sie auf, so ist der Grundgedanke
klar. Völlig frei improvisierte und kunstlose Neckverse lassen
sich mit den einer bestimmten Melodie angepaßten und einer festen
Entwicklung unterworfenen Tanzbewegungen in der Tat nicht ver-
einigen ; eine Umgestaltung mußte eintreten ^). In der Quelle des
Livius war die Entwicklung also folgendermaßen gezeichnet: den
Brauch, kunstlose Spottverse zu singen, hatte die römische Jugend
von sehr früher Zeit her und übte ihn auch bei der pompa oder
den Spielen. Als nun aus Etrurien das stumme Tanzspiel zur
Flötenbegleitung auf einer Bretterbühne eingeführt war^), ahmte
sie es nach, indem sie es zu gleicher Zeit mit dem eignen Brauch
der Necklieder verband. Diese Neubildung wurde allmählig ein
Teil der offiziellen Feier, auch auf der Bühne. Es bildete sich
bei den dadurch gesteigerten Anforderungen an den Sänger eine
Art Stand einheimischer gewohnheitsmäßiger Bühnenkünstler, in
dem die weitere Ausgestaltung sich vollzog; so wurden aus den
ursprünglich rohen und improvisierten Wechselgesängen allmählig
impletae modis saturae] aus der zunächst von selbst sich ergebenden
ßesponsion von Gesang und Tanz (nee ahsoni a voce motus erant)
wurde jetzt die planmäßige Komposition und schriftliche Fixierung
(descripto iam ad tihicinem cantu motuque eongrucnti peragehant). Die
letzte Fortbildung bringt diesem Spiel, bei welchem der Text
schon künstlerische Bedeutung gewinnen (zum eigentlichen Carmen
werden) konnte, Andronicus durch die zusammenhängende Hand-
lung, die zugleich auch gesprochene Partien notwendig macht. Die
technischen Anforderungen an die schauspielerische Kunst wachsen
1) Auch das Schnadahüpfl hat nur deshalb die Freiheit in der Wahl der
Strophe und des Verses, weil der Sänger sich selbst auf der Zither begleitet oder
ohne jede musikalische Begleitung eine bekannte kurze Weise nachahmt. Sobald
die Musik unabhängig wird, verlangt schon sie eine künstlichere Ausgestaltung
des gesungenen Textes.
2) Der Tanz verlangt die Bretterbühne ; so geht von ihr die Entwicklung aus,
Livius und Horaz über die Entwicklung des römischen Schauspiels. 241
dadurch noch mehr, und zugleich wird die Mehrzahl der Darsteller
Werkzeug des Einen, der den einheitlichen Text schreibt. So löst
sich jetzt ein wirklich geschlossener Stand der Schauspieler, histri-
ones, von der iuventus, den Dilettanten, ab ; letztere sinken zu der
alten, kunstloseren Form zurück *). Den histriones bleibt das eigent-
liche Drama, das jetzt auch dem in diesen Darbietungen früher
ganz ausgeschlossenen Ernst (der Tragödie) zugänglich ist. Den
äußeren Anhalt dafür, die Begründung eines festen Schauspieler-
standes erst unter Andronicus anzusetzen, mochte dem Grrammatiker,
auf welchen diese ganze Konstruktion zurückgeht, die Tatsache
bieten, daß erst in der letzten Zeit des Andronicus das coUegium
scriharum et histrionum begründet worden ist. Die Bezeichnung
zeigt, daß die schriftliche Aufzeichnung der Zeit als etwas Wich-
tiges und Neues galt. Zur Gilde gehören außer den scribae nur
noch die histriones (das Wort ist jetzt auf die an den Text ge-
bundenen Darsteller des literarischen Dramas beschränkt).
Das Fortleben des alten Brauches, den die Dilettanten wieder
aufnehmen, findet der Autor dann in den Liedern, die man später
mit dem griechischen Kunstnamen exodia bezeichnet habe^); sie
haben sich besonders in der Atellane erhalten. Die Deutung der
Worte consertaqiie fabellis potissimum Atellanis sunt ist strittig. Na-
türlich können sie an sich, wie Leo ^) will, bedeuten ; 'sie sind be-
sonders den Atellanen angefügt worden' (vgl. Ovid Am. III 6, 10
nocti conseruisse diem). Nur ist der Ausdruck dann etwas unge-
wöhnlich; die Wahl des Wortes conserere scheint mir eher davon
beeinflußt, daß Livius soeben argumento fahulam serere für die ge-
ordnete Zusammenfügung der Handlung gesagt hat; das Wort
conserere wird gern von der Zusammenreihung der Bestandteile
eines Granzen gebraucht*), vgl. Seneca Quaest. wa^. II30 nubem . , »
tarn arida quam humida conserunt^ Quintilian V 10, 71 ut sunt autem
tria tempora, ita ordo rerum tribus momentis consertus est; Jwbent
enim omnia initiuni, incrementum, summtim, Seneca Ep. 90, 16 plumae
1) inter se more antiquo ridicula intexta versibus iactitare. Es ist klar,
warum bei dieser zweiten Wiederholung nur noch die poetische Grundform, nicht
mehr die Rohheit der Ausführung betont wird.
2) Das späte Vorkommen der technischen Bezeichnung in Rom darf also
nicht gegen die Glaubwürdigkeit der Quelle geltend gemacht 'werden (Leo, Hermes
XXIV 79).
3) Hermes XXXI^ 68 A. 2.
4) Auf den engen Zusammenhang wird dabßi der Ton gelegt, vgl. Seneca
Dial VHI 6, 2 misceri inter se et cwiseri dehent, Epist. 90, 3 viHutes consertae inter
se et cohaerentes, Cicero De fato 31 conserte contexteque. Die Stellen danke ich
dem Thesaurus.
Kgl. Oes, d. Wiss. Nachrichten. Phil,-hist. Klasse. 1918. Heft 2. 1^
242 R« Reitzensteinj
in usum vestis conseruntur, Lucan III 512 sed rudis ei qualis pro-
cumhit montibiis arhor conseritur, stabilis navdlibus area hellis, Culex 397
quem circum lapidem levi de marmore formans conserit. Ich halte
demnach die Deutung von ridicula carmina conserta Atellanis 'Scherz-
lieder, die in Atellanen (durch die Atellanen, daher zu Atellanen)
mit einander verbunden sind' für sprachlich durchaus einwandfrei.
Im Sinne scheint sie mir sogar noch besser; der Ausdruck würde
zugleich den früheren Worten impletas nibdis saturas einigermaßen
entsprechen.
Livius leitet sich mit diesen Worten zu der Erwähnung einer
andern Art von ludi über, die seit ihrer ersten Uebernahme von
den Oskern den Dilettanten verblieben und überhaupt niemals den
histriones verfallen ist^). Deutet man die Worte tenuit inventus
streng, so muß die Uebernahme nach der Ansicht des Grammatikers
vor die eigentliche Begründung eines Schauspielerstandes gefallen
sein. Daß dies tatsächlich einer grammatischen Tradition ent-
spricht, zeigt bekanntlich Festus 217 M. Personata fahula. Alte
Erklärer nahmen an, daß das so betitelte Stück des Naevius aus
Mangel an histriones von Ätellani, also von personati, wie die Neben-
bezeichnung der Atellanendarsteller laute, aufgeführt worden sei.
Es fragt sich danach nur, ob die Quelle des Livius nicht jene
Uebernahme des oskischen Spiels sogar schon vor dem Jahr 364
erwähnt hat; sie hätte sie ja sonst in der Darstellung der Ent-
wicklung mit berücksichtigen müssen^).
Auch in diesem Teil hat Livius in die kurze Skizze der Haupt-
entwicklung recht ungeschickt eine Einlage aus späteren Ausfüh-
rungen über die Aufführungsart des eigentlichen Dramas gemacht ;
die Worte idem scilicet quod omnes tum erant suorum carminum actor
.... diverhiaque tantum ipsorum voci relicta zerreißen allen Zu-
sammenhang. Livius zeigt in dem Anfang des nächsten Satzes
postquam lege hac fahularum ja selbst, daß er unter der lex operis
der fahula nur den einheitlichen Inhalt, bzw. den Zusammenhang
der Handlung, meint. Er knüpft also an den Relativsatz qid
1) Die Worte nee ab histrionibus poUui passa est (Gegensatz zu histrionibus
fabellarum actu relicto) erhalten volle Bedeutung erst, wenn der Grammatiker die
künstlerische Ausgestaltung der Atellane im ersten Jahrhundert v. Chr. schon
kennt. Auch ihre Darsteller büden ja auch nach ihm einen Stand und üben ihre
Kunst berufsmäßig (daher Atellanarum histrio abusiv Sueton Nero 39) ; der Unter-
schied zwischen ihnen und den histriones ist nur historisch zu erklären. Auf die
Zeit des Accius weist bei Livius schlechthin nichts.
2) Daß die Uebernahme früher erwähnt war, geht aus tenuit hervor ; die
Worte ab Oscis acceptum sind von Livius ebenso aus den früheren Ausführungen
entnommen wie in § 7 Fescennino versu similem e. g. s.
Livius und Horaz über die ßatwicklung des römischen Schauspiels. 240
ah saturls ausus est ar giimento fahulam severe und erläutert ihn
zugleich : durch das argumentum, die einheitliche komplizierte Hand-
lung, wird, was vorher nur satura war, zur fahula, zur Erzählung ^).
Gerade der Hauptsatz bleibt in der Fortsetzung ganz unbe-
rücksichtigt; er bietet nur eine nebensächliche Angabe, die uns
ahnen läßt, wie reich an antiquarischem Detail seine Quelle war^).
Etwas geschickter ist die letzte derartige Digression eingelegt eo
Institut am manet . . tamquam expertes artis ludicrae faciant. Ist sie
doch durch die Wahl des Verbums pollui wenigstens vorbereitet ;
aber die Verkürzung zeigt sich auch hier. Die Quelle muß An-
gaben geboten haben, daß die histriones, die sich doch ursprünglich
aus der iuventus rekrutiert hatten, nach ihrer Loslösung als Stand
völlig der Mißachtung verfielen und gegen sie jene Bestimmungen
erlassen wurden, von denen der Atellanenspieler nicht betroffen
wurde. Die drei Digressionen zeigen am besten den Charakter
der Quelle, die offenbar weniger eine Geschichte der dramatischen
Dichtung in Rom ^) als eine Geschichte der ars ludicra oder des
Schauspielerstandes geben wollte. So kann ich es nicht so be-
fremdlich finden, daß Livius gar nicht erwähnt, daß die eigent-
lichen Dramen Uebersetzungen aus dem Griechischen sind, oder
mit Leo vermuten, daß er diese Tatsache habe verschleiern wollen*).
Er durfte derartig elementare Kenntnisse bei seinen Lesern wohl
voraussetzen. Ebensowenig dürfen wir die unbestimmte Angabe
post aliquot annis irgendwie beanstanden und aus der Absicht,
Widersprüche über die erste Aufführung des Andronicus zu ver-
hüllen, erklären. Die Zeitangabe rechnet nicht von der Einfüh-
rung scenischer Spiele im Jahre 364 — dann wäre sie, gleichviel ob
sie sich auf das Jahr 240 oder 197 beziehen sollte, in jedem Falle
abgeschmackt — , sondern von der Verfeinerung der inconditi versus
zur satura modis impleta. Sie ließ sich zeitlich natürlich nicht
1) Damit verlieren oisus et solutus locus ihre ausschließliche Bedeutung und
die Schauspielerkunst muß sich nun weiter entwickeln, die dilettantische Jugend
sich also von diesen Darbietungen zurückziehen. Voraussetzung ist immer, daß
der freie, selbständige Scherz der iuventus vorher nachdrücklich zugesprochen ist.
2) Das schriftstellerische Verfahren ist ähnlich wie bei der ersten Einlage.
Eine lange Darlegung will Livius in einer möglichst kurzen Inhaltsübersicht zu-
sammenfassen, flicht aber dennoch ein paar Einzelheiten, die aus antiquarischem
oder sprachgeschichtlichem Grunde sein Interesse besonders gefesselt haben, in
vollerer Form ein. Solche Einlagen lassen sich, wie wohl jeder von uns schon
selbst erfahren hat, nicht immer leicht in den Zusammenhang der stärker abge-
kürzten Darstellung einfügen ; wir verwenden dann den Notbehelf der Anmerkung.
3) So Leo Hermes XXXIX 65.
4) Hermes XXXIX 69.
16*
244 ^' Reitzensteih,
datieren ; der Schriftsteller will nur ausdrücken , daß diese neue
Art geraume Zeit bestanden hat, bis die nächste Verfeinerung ein-
setzte, und tut dies in durchaus passender Weise.
Die folgenden Worte, die für den Wert des ganzen Berichtes
und für die Arbeitsweise des Historikers Livius entscheidende Be-
deutung haben, gilt es genauer zu prüfen: Livius qui ab
saturis ausus est primus argumento fabulam serer e^ idem scilicet, id
quod omnes tum erant , suorum carminum actor. Leo ^) meinte in
ihnen die Tendenz des ganzen Berichtes und zugleich die Unglaub-
würdigkeit der Angaben nachweisen zu können und verglich zu-
nächst die ersten Worte mit der Angabe des Aristoteles Foet. 5
xm ^k 'A'O-TfjvYjGiv KpdTYjc 7:p(öTog "^plev b.^i^y.z'^oq, x-^c ia(xßt/.'^c ISsac
Tca-ö-öXoD 7C0LSLV XoYOuc %ai [iü^oo?. Die Uebereinstimmung schien ihm
so stark, daß er den Worten ab saturis die Deutung a<ps[i.£Vo<; zriz
oaTopix-^^ IS^ac glaubte unterlegen zu dürfen. Hendrickson, der
dies aufnahm, redete geradezu von einer wörtlichen Uebersetzung
und fand danach die satura in den Worten des Horaz iam saevus
apertam in rabiem coepit verti iocus charakterisiert. An ihn wieder
schloß Lejay sich an, der in seltsamer Inkonsequenz zwar die fun-
damentalen Unterschiede zwischen den sachlichen Angaben des
Livius und Aristoteles hervorhebt, dennoch aber ruhig wiederholt,
Livius habe den Satz aus Aristoteles übernommen. Ich betone
demgegenüber zunächst : ab saturis kann nur heißen 'ausgehend von
den saturae, nach den sattirae\ Daß diese saturae irgend et wag
mit der lajj.ßiXY] ISda zu tun haben, läßt sich aus dem Bericht des
Livius zunächst nicht entnehmen. Ferner : Aristoteles meint, Krates
habe den Charakter des persönlichen Hohnes aufgegeben und den
E>eden wie der Erfindung ([lö-ö-oc) eine allgemeine Richtung und
Beziehung gegeben; er ist darin der Vorläufer der vsa x(0[jL(pSia
geworden. Die lateinischen Worte besagen dagegen nur: Andro-
nicus hat eine Zeit lang saturae gedichtet, dann aber durch eine
einheitliche Handlung, die in ihrem Verlauf ordnungsmäßig dar-
gestellt wird, etwas hergestellt, was man fabida (Erzählung) nennen
kann^). Tatsächlich zeigt die Geschichte dieses Wortes, daß dies
das Neue, dem Römer Auffallende in dem griechischen Bühnenspiel
1) Hermes XXIV 77.
2) Es ist ähnlich, wenn Weinreich a. a. 0. S. 411 einem Hinweis R. Schoells
folgend mit den Worten idem scilicet, id quod omnes tum erant, suorum carminum
actor den ßfo; SocpoxX^ou? 4 vergleicht, wo ebenfalls in der Form der Parenthese
gesagt wird izdXai yap xal 6 iroirjx)]? uirexp^vexo abzöi (vorausgeht eine Erwähnung
der (jiixpo(p(ov(a, die bei Livius folgt). Auch hier täuscht uns, wie ich überzeugt
bin, eine zufällige äußerliche Uebereinstimmung und ist wirkliche Benutzung von
vornherein unwahrscheinlich.
Livius und Horaz über die Entwicklung des römischen Schauspiels, 245
war: es gibt eine volle, einheitliche Erzählung. Nur deßhalb
konnte der Begriif des Dramas bei dem Römer diese Wiedergabe
finden ^). Wenn Hendrickson und Lejay behaupten, Livius scheide
zwischen fahulae mit argumentum und solchen ohne argumentum^),
so halte ich diese Deutung für unvereinbar mit den Worten des
Schriftstellers und mit dem Sinne des Wortes fabula. Eine fahula
sine argumento ist ein Widerspruch in sich selbst ^), und Livius hätte
dann den Begriff fabula in dem ersten Gliede unterbringen müssen :
impletas modis fdbulas peragehimt . . . Livius Ms fahulis argumenta
addere ausus est. Die Worte, die er tatsächlich gewählt hat, lassen
nur die eine Deutung zu: erst seit Andronicns die in fester series
sich entwickelnde Erzählung hereinbringt, entsteht das, was man
als fahula bezeichnen kann; vorher war es ein ordnungsloses Neben-
einander von Gesangstücken. Dieses zusammenhangslose Nebenein-
ander muß für ihn in dem Worte satura liegen, das fühlbar in
Gegensatz zu fahula gestellt wird. Der Begriff des Liedes kann
nicht darin liegen, sonst hätte er nicht impletas modis damit ver-
bunden. Von dem Charakter der einzelnen Gesangnummern kann
1) Wissowa (Realencycl. VI 1943) erklärt es etwas kurz als üebersetzung von
[AüOo?. Das ist in einer Hinsicht ja durchaus berechtigt, da (xüOo? die Erfindung
(Handlung) bezeichnet (vgl. die Aristoteles-Stelle), dem argumentum entspricht
(vgl. Thesaur. l. lat. H 548, 40) und in gewissem Sinne wie dies Wort für das
Drama selbst eingesetzt werden kann (vgl. Quintilian V 10, 9 nam et fahulae ad
actum, scenarum compositae argumenta dicuntur, eine Behauptung, die» freilich
durch die Fortsetzung stark eingeschränkt wird); allein fabula ist seit ältester
Zeit zugleich die technische Bezeichnung der Literaturgattung,
und das ist {xüdo? nicht. Aus dem Latein übersetzte späte Stellen wie Johannes
Lydus de 7nag. I 40 p. 41, 11 W. beweisen dafür so wenig wie die lateinisch-
griechischen Glossen. Wie das Wort diese Bedeutung annehmen konnte, kann
ich mir nur erklären, wenn in dieser Art [xoOo?, bzw. fahula {argumentum), gegen-
über einem älteren Brauch der charakteristische Unterschied der neuen Art emp-
funden wurde.
2) Lejay p. LXXXVII deutet argumento fahulam serer e gtiakdezu: er gibt der
satura ein argumentum.
3) Vgl. Pro Caelio 64 velut haec tota fahella vetens et plurimarum fahula-
rum poetriae quam est sine argumento, quam nullum invenire exitum potest! . . .
mimi ergo iam exitus, non fahulae, in quo cum clausula non invenitur, fugit ali-
quis e manibus, dein scahilla concrepant, aiilaeum tollitur. Ein Spiel mit den
Worten Spa{ji.a und fahula scheint mir Plautus Capt. 52 zu bieten : haec res agetur
nohis, vohis fahula: für die Personen der Handlung ist es ein wirkliches Ge-
schehen, für die Zuschauer nur eine ergötzende Erzählung. Ein griechisches
Vorbild mag trotzdem den Anlaß gegeben haben ; anders und doch ähnlich ist die
Stelle in Piatos Gorgias 523 a, auf welche mich mein Kollege Prof. Pohlenz ver-
weist : axous Stj, cpacff, (jictXa xaXoO Xoyou, 8v au fxsv TjyT^arj {xü&ov elvat, ü){ ifoi oT|i.at,
lyw Se Xdyov ib? dXrj^r] ydp ovxa cot Xe^w et (j,eXXü) X^yeiv.
246 ^' Reitzenstein,
überhaupt nicht die Rede sein ; eine Bezeichnung des literarischen
Ysvoc des Ganzen brauchen wir keinesfalls darin zu suchen. Der
Zusatz impletas modis weist oiFenbar auf einen bildlichen Ausdruck,
und zwar eher auf die satura lanx als auf das genus farciminis,
Nur daß das Bild schon auf die Literatur übertragen war, dürften
wir auch aus Livius folgern, wenn es nicht auch sonst genügend
feststände ^).
Mit derartigen freien Verbindungen verschiedener Gesangs-
vorträge, die mit rhythmischer Bewegung verbunden waren, ist
nach der Quelle des Livius der Dichter Andronicus zuerst hervor-
getreten {ab saturis ausus est e. q. s) und war wie sie alle damals
Dichter und Darsteller zugleich ^). Er behielt das, fuhr die Quelle
nunmehr fort, zunächst auch nach der Einführung der fahulae bei
und erleichterte sich erst in höherem Alter die nunmehr sehr viel
schwieriger gewordene Aufgabe durch die Zuziehung eines Sängers,
ohne selbst die Aktion aufzugeben, die ihm also Hauptsache war.
Als Zeugnis dafür waren wohl Stellen, die eine ähnliche Gepflogen-
heit für spätere Zeit belegten, angeführt^). Wir erkennen jetzt,
wie Livius bei der Verkürzung verfuhr.
Es ist diese Stelle, an welche Leo seine vernichtende sachliche
Kritik geschlossen hat : alles, was hier berichtet wird, beruht nach
ihm lediglich auf Erfindung! Und doch ist uns ein m. E. durchaus
einwandfreies Zeugnis erhalten, daß gerade diese Schilderung Wort
für Wort geschichtlich ist. Bekanntlich bestand noch zu Plautus
Zeit, ja wahrscheinlich darüber hinaus in der fabula ein ocywv der
Schauspieler unter einander. Die Einrichtung ist sinnlos innerhalb
des literarischen Dramas, das durch den Umfang und die Besonder-
heit der Rollen einen Wettbewerb aller Schauspieler fast unmöglich
macht, ja selbst aufs schwerste leidet, wenn jeder Schauspieler
seine Rolle möglichst in den Vordergrund drängen will; sinnvoll
ist sie bei einer freien Abfolge von Einzelvorträgen oder bei im
wesentlichen improvisierten Wettkämpfen, z. B. der Mimen, und ist
hier ja auch immer geblieben; man denke an den von Caesar ver-
1) Aehnlich UUman p. 14 und natürlich auch Leo, zu dessen Grundan-
schauung wir damit zurückkehren.
2) Daß omnes tum nur die Künstler dieses satura im Gegensatz zur fabula
benannten Spieles sein können, hat Leo Hermes XXIV 78 richtig betont. Von
einer Fülle von Dramendichtern würde man damals zunächst noch gar nicht reden
können ; auch erwartete man dann eher plerigue post eum poetae oder dgl. Nur
Leos Deutung gibt ferner einen Fortschritt des Berichtes.
3) Ein solches cantare ad manum kennt als Notbehelf auch die neuere
Theatergeschichte. Ein Grund der Verdächtigung liegt in der vielleicht zu Un-
recht verallgemeinerten Angabe sicher nicht,
Livius und Horaz über die Entwicklung des römischen Schauspiels. 247
anlaßten Wettkampf des Laberius und Publilius Syrus ^). Die Vermu-
tung, daß in die Aufführung deTfahulae eine Einrichtung übernommen
ist, die ursprünglich für ganz andere Darbietungen, Darbietungen
eigener Dichtung, bestimmt war, ist gar nicht abzuweisen. Nun führt
uns Plautus im Trinummus 627 ff. ein Streitgespräch zweier Jünglinge,
Lysiteles undLesbonicus, vor, das von dem Sklaven Stasimus belauscht
wird. Es ist in trochäischen Langversen, also einem ursprünglich
gesungenen Maß verfaßt, ist also nach antikem Begriff ein canti-
cum^). Der lauschende Sklave ruft gegen Ende v. 705: non enim
possum quin exclamem enge, enge, Lysiteles, TcaXiv. faclle palmam Juihes :
liic vldust, vicit tna comoedia. hie agit magis ex argumenta et versus
melioris facit. Das ergibt klar das Bild eines improvisierten Agons
über ein gegebenes Thema, bei dem jeder der beiden Darsteller
gewissermaßen sein eigenes Stück bietet und für sich, nicht inner-
halb des Ganzen, wirken will. Mich erinnerte es immer an die
Wettstreite zweier Improvisatoren über ein gegebenes Thema wie
etwa 'Feder und Schwert', die ich in meiner Jugend noch in Flo-
renz gehört habe. Auch sie vereinten Dichtung und Gesang^).
In dem von Plautus geschilderten Agon muß noch eine Art kunst-
voller Bewegung oder wenigstens Gestikulation hinzugetreten sein,
denn sie wird als besonders wichtig betont hie agit magis ex ar-
gumento (nee absoni a voce motus erant — cantu motuque congruenti) ^).
Die Beschreibung ist so lebhaft und anschaulich, daß ich vermute,
die Hörer des Plautus kannten derartige Agone noch aus eigener
Anschauung und konnten die Einzeldarbietung mit dem Namen
comoedia bezeichnen, weil solche freien Spiele noch neben den Ko-
mödien üblich waren und einen festen Namen nicht hatten.
Eine gewisse innere Wahrscheinlichkeit wird man dieser Ver-
mutung wohl zusprechen. Die über vier Tage ausgedehnten ludi
boten dem Volke das Allerverschiedenste. Die Neueinführung
einer Spielart schließt also die Abschaffung der früheren nicht ein.
Es ist bei dem sakralen Charakter der Aufführungen und dem
konservativen Sinn der Römer sogar wahrscheinlich, daß auch
Ueberholtes sich noch lange hielt, besonders wenn es beim niedern
1) Aus dem Nacheiüari'ier der Darbietungen konnte sich das Nebeneinander
einzelner leicht und ungezwungen entwickeln; man denke an den Brauch des
ßouxoXta'Csa^at oder die Schadahüpfln.
2) Das Versmaß herrscht noch in den Resten der literarischen Atellane.
3) Die Improvisation ward durch den Gesang, der es gestattete, den Schluß
der Zeilen und Strophen zu dehnen, überhaupt erst ermöglicht.
4) Sie l'ildet bei den Entscheidungen ein Kriterium ; daß diese Septenare selbst
kaum mehr mit T anzbewegungen verbunden waren, macht zunächst nichts aus.
248 ^- Beitzenstein,
Volk beliebt war ; nur konnte, was nicht literarisch war, in der
Literatur natürlich keine Spuren hinterlassen. Wir müssen uns
an vereinzelte Andeutungen oder Festbeschreibungen halten.
Von Wichtigkeit erscheint mir bei dieser Sachlage die Schil-
derung der ponipa bei Dionys von Halikarnass VII 72, deren Be-
deutung für die Beurteilung des livianischen Berichtes zu meiner
Freude auch üllman erkannt hat (a. a. 0. S. 14). Hinter den
^Ytöviotai, die bei den ludi dann auftreten sollen, folgen zunächst
6p/Y]aTai, und zwar in verschiedenen Chören, zuerst die zu ernsten
Tänzen, auch Waffentänzen, bestimmten Künstler, dann die )(opol
oaioptoTtöv *). Von ihnen bezeugt Dionys eine P^^odie der Darbie-
tungen der ernsten Chöre (oütoi xarsaxcöTUTÖv is %ol\ xaTeiiijjLoövco xolq
OTuooSaiac TttvTJast? ItcI id '^BXoioxBpa. [xsia^pspovisc), bezeichnet ihren
Tanz als v.Bpx6\L0Q xal Tco^aaiixT] opyriGK; und erinnert an die Spott-
lieder der Soldaten beim Triumph, die Spaßmacher beim Begräbnis
der Vornehmen und daneben an die oxa){j.{j,a'ca aizb twv aixa^wv zu
Athen. Mit einem gewissen Recht, wie eine Anzahl lateinischer
Glossen beweisen. So berichtet Festus bekanntlich p. 128 M.
Manduci effigies in pompa antiquorum int er ceteras ridiculas
formidulosasque ire solebat, magnis malis ac late dehiscens et
ingentem dentibus sonitum faciens, de qua Plautus (Rud. 535) ait:
„Quid si (aliquo) ad ludos me pro manduco locemP Quapropter? —
(Quia poT) clare crepito dentibus". Seine Schilderung wird durch
Placidus {Corp. gloss. lat.YSS,30 = 83,5; 116,13) Manducum Hg-
neam hominis figuram ingentem, quae solet circensibus malas movere
quasi manducando ergänzt. In der pompa wird der Unhold im Ab-
bild gefahren oder getragen sein; bei den Spielen trat, wie die
Plautus-Stelle zeigt, ein artifex für ihn ein und übte mit den eigenen
Kinnbacken jenes Kunststück, das ihm heutzutage der toskanische
Stentorello nachmacht; es ist charakteristisch, daß der römische
Popanz später in das sogenannte 'oskische Spiel' übergegangen ist.
Eine ähnliche Erscheinung mag jene Petreia gewesen sein , von
der ein Sprichwort Petreia inpudentior stammt, vgl. Festus 242 M.
Fetre[ia vocabatur quae pompam praecedens in colonii\s aiit [munici-
piis imitabatur anum ebriam ab] agri vitio, [scilicet petris, oppellata]
vepreculis^) C. [Gracchus con]vertar ad illam
inpudentior ntur legationes [po\test. Aehnlich jene Citeria,
1) In der Beschreibung ihrer Tracht hebt Dionys besonders hervor, was
seiner Tendenz, Reste altgriechischen Brauches in Rom wiederzufinden, dient;
eine gewisse Hellenisierung mag allmählig auch eingetreten sein.
2) vepraecilU Cod. Die Erscheinung des Unholds war vielleicht beschrieben.
Livius und Horaz über die Entwicklung des römischen Schauspiels. 249
mit der Cato einen Gegner verglich, Festus p. 59 Citeria appella-
hatur effigies quaedam arguta et loquax ridicuU yratia, quae in pompa
vehi solita sit. Cato in M. Caecilium: Quid ego in illum disseriem,
ampUuSy quem ego denique crcdo in pompa vectitatum ire ludis pro Citeria
afque cum spectatoribus sermocmaturinn^). Wie bei dem manducus
scheint es mir bei der Citeria klar, daß sie nicht nur im Zuge,
sondern auch bei den Spielen selbst aufgetreten ist. Auch jene
feierlichen Tänze sind ja nicht nur bei dem Zuge aufgeführt, son-
dern haben sich bei den Spielen selbst bis tief in die literarische
Zeit erhalten. Das zeigt ein früher fälschlich auf eine Tragödie
bezogenes Geschichtchen bei Polybios (XXX 14) : Anicius, der Ueber-
winder des Königs Genthios, wirbt für die Begleitung einer der-
artigen TanzauiFührung die vier berühmtesten Flötenvirtuosen
Griechenlands und läßt sie, jeden mit seinem Chor, zusammen auf
derselben Bühne auftreten. Als ihr Spiel dem Festgeber zu lang-
sam und gemessen scheint, sendet er ihnen den Befehl otYwvi'Csa^at
{iäXXov, und der Lictor erklärt dies, sie sollten eine Art Kampf
aufführen. Sie lassen voll Hohn gegen den Barbaren ihre Chöre
gegeneinander marschieren, und als ein Chorent gegen einen der
Virtuosen mit geballter Faust losgeht, erhebt sich stürmischer Bei-
fall. Das ist, wenn wir davon absehen, daß die Tänzer offenbar
nicht die volle Waffenrüstung tragen, genau das Bild, das wir.
nach der Beschreibung der pompa erwarten mußten, und entspricht
einigermaßen auch der Angabe des Livius über die älteste Form
der ludi scaenici : sine carmine ullo, sine imitandorum carmimmi actu
. . . ad tibicinis modos saltantes^). Auch die heitere Nachahmung
durch die Spaßmacher darf uns jetzt als bezeugt gelten. Selbst
jene Einzellieder zur Flöte haben sich bei dem Feste bis an das
Ende des zweiten Jahrhunderts v. Chr. weiter erhalten, vgl. Cas-
siodors Zeugnis (Mommsen Chronica Minora II 131): L. Metellus
et Cn. Domitius censores artem ludicram ex tirbe removerunt praeter
latiniim tibi einem cum cantore^) et ludum talarium.
Bis in die Zeit der grammatischen und antiquarischen Studien
hat sich in den Darbietungen der ludi alter und neuer Brauch
1) Man denke an den archimimus beim Begräbnis Vespasians. Cato nimmt
höhnend an, daß sich sein Gegner zu den ludi verdingen wird, wie der Sklave bei
Plautus es möchte. Daß die Darsteller dieser Rollen Masken tragen ist besonders
begreiflich.
2) Mit Marx (Realencyclop. II 1915) von einem ludus Graecus zu sprechen
haben wir schwerlich Anlaß. Der Chor, den Polybios schildert, war römisch.
3) Der griechische Flötenmimiis ist ausdrücklich ausgeschlossen, man will
nur die nationale Ueb erlief erung dulden.
250 ^- Reitzenstein,
neben einander erhalten. Der Versucli, hiernacli eine Geschichte
der Entwicklung zu entwerfen, konnte gemacht werden und ist
offenbar gemacht worden. So gilt es jetzt noch einmal die Frage
auf zuwerfen, wie weit er durch die Theorie des Aristoteles beein-
flußt sein muß. Gewiß kann man antworten, der ganze Gedanke
einer historischen Entwicklung muß auf griechischer Anregung be-
ruhen und die Betrachtungsart ist griechisch. Aber direkte Ent-
lehnungen aus dem Griechischen finde ich bisher nicht. Leo glaubt
eine solche freilich nachweisen zu können: Livius kann gar nicht
selbst Schauspieler gewesen sein, denn er ist Schulmeister ge-
wese.n ; das war ein immerhin anständiges Gewerbe, das des histrio
war es nicht. Er selbst weist dabei darauf hin, daß uns die An-
gabe in drei unabhängigen Ueberlieferungen vorliegt, in der Quelle
des Livius, sodann bei Festus p. 333 M. in der Angabe, daß zu
Ehren des Livius Andronicus das collegium scribarum et histrionum
begründet wird, quia is et scribebat fabulas et agebaty endlich in dem
Libcr glossarum (Corp, gloss, lat. V 250, 10) Tragoedias comoeäiasque
primus egit idemque etiam conposuit Livius Andronicus duplici toga
infulatus. Wenn Leo annimmt die Vereinigung der Dichter und
Schauspieler in einem Kollegium sei der Anlaß für die Erfindung
über Livius Andronicus gewesen, so wäre damit besten Falls eine
Möglichkeit, einen sonst erwiesenen Irrtum zu erklären, gewonnen,
aber zugleich die Annahme der Einwirkung der griechischen The-
atergeschichte überflüssig gemacht. Auch ließe sich sofort ein-
wenden, daß die Vereinigung von Dichtern und Schauspielern zu
einem Kollegium, gerade wenn die Atimie des Schauspielers da-
mals so schwer empfunden wurde und die soziale Stellung des
Dichters so hoch war, wie Leo voraussetzt, nun ihrerseits be-
fremdlich wird.
Können wir nach dem Wenigen, was uns bekannt ist, über-
haupt eine Entscheidung fällen ? Gewiß, Plautus hat vierzig Jahre
nach Einführung des Dramas seine fabulae einem dux gregis zur
Aufführung übergeben; aber als maccus ist er vorher selbst vor
das Publikum getreten ^). Als Livius seinen kühnen Schritt wagte,
1) Ich halte, wie Leo, hieran trotz W. Schulze fest, natürlich ohne Plautus
dadurch zum „Schauspieler" zumachen. Er war artifex scenicus. Wenn Leo freilich
(schon im Hermes XXIV 78) die Angabe des Gellius III 3, 14 als „legendarisch" be-
zeichnet, kann ich nur teilweise zustimmen. Sie kann — besonders wenn man den
geschraubten Ausdruck ad circumagendas molas quae trusaUles appellantur vergleicht
— recht wohl aus einer Stelle eines der drei Stücke stammen, die man mit Recht oder
Unrecht als Anspielung auf eigenes Erleben faßte; die Worte in operis artificum
scenicorum müssen wir nach archaischem Sprachgebrauch deuten (vgl. z. B. Mer-
Livius und Horaz über die Entwicklung des römischen Schauspiels. 251
gab es einen dux yregls, an den er sich wenden konnte, überhaupt
nicht, nur Tänzergesellschaften und, nach unserm Bericht, freie
Einzelsänger und Spaßmacher. Er hatte allen Anlaß, selbst in
die Lücke zu treten^), wenn das möglich war. Daß seine Neue-
rung — besonders die Einführung der Tragödie — einem Wunsch
gerade der vornehmeren Kreise entsprach, ist sicher; ob sie, die
keinen Anstoß daran nahmen, daß der Sklave und Freigelassene
ihre Kinder unterrichtete, dies für unmöglich erklärt hätten, wenn
er in dem neueingeführten griechiycben Spiele auftrat, kann wohl
niemand sagen ^). Daß, sobald ein Stamm ausgebildeter Schau-
spieler vorhanden war, die Trennung tatsächlich eingetreten ist
und die Stellung des Dichters sich gehoben hat, bestätigt uns die
Angabe, daß der Schauspieler ~ weil er zugleich Tänzer blieb
(vgl. Cicero De off'. I 150) — zunächst misachtet war, aber es be-
rechtigt uns nicht; die Angaben über den Notbehelf in der ersten
Zeit kurzer Hand beiseite zu schieben. Rechtliche Bestimmungen
werden sich erst nach der Ausbildung des Standes ergeben haben.
Fällt dieser Einwand also fort, so sehe ich nicht, was man
an dem Bericht der Quelle des Livius als abenteuerliche Erfindung
bezeichnen will, möchte aber, ehe ich die Folgerungen aus ihm
ziehe, zunächst die mit ihm verglichene Stelle des Horaz (Epist.
II 1, 139 ff.) ins Auge fassen. Wieder muß ich , leider , den Text
dem Leser noch einmal vorlegen.
Agricolae prisci, fortes parvoqiie heati,
140 condita post frumenta levantes tempore festo
corpus et ipsum animum spe finis dura fereiitem
cum sociis operum, pueris et coniuge fida,
Telliirem porco, Süvanum lade piabant,
floribiis et vino Genium memorem brevis aevi.
145 Fescennina per hunc inventa licentia rnorem
versibus alternis opprobria rustica fudit,
libertasque recurrentis accepta per annos
lusit amabiliter, donec iam saeous apertam
cator ^Ib pol haud censebam istarum esse operarum patrem); der Plural steht
für den Singular (vgl. das lehrreiche Gegenbild Dig. 32, 73, 3 proinde si quis seroos
lidbuit proprios, sed quorwn operas locabat vel pistorias vel histrionicas vel alias
similes). Nur freilich, für Plautus gewinnen wir doch nichts, da die Echtheit
jenes Stückes ja bestritten war. Er wird nicht der einzige Komiker gewesen
sein, der von der Picke auf gedient hat.
1) Er wird in der Quelle des Livius durchaus als Protagonist, also als dux
gregis, beschrieben.
2) Der Verweis auf Naevius, der Soldat gewesen sei (aber nicht römischer
Bürger), hat noch weniger üeberzeugungskraft.
252 R. Reitzenstein,
in rabiem coepit verti locus et per honestas
150 Ire domos inpune minax. doluere cruento
dente lacQSsitij fuit intactis quoque cura
condiäone super communi, quin etiam lex
poenaque lata, malo quae nollet carmine quemquam
describi. vertere modum^ formidine fustis
155 ad bene dicendum delectandumque redacti.
Graecia capta ferum victorem cepit et artis
intulit agresti Latio. sie horridus ille
defliixit numerus Saturmus et grave virus
munditiae pepulere ; sed in longum tarnen aevum
160 manserunt hodieque manent vestigia ruris.
serus enim Graecis admovit acumina chartis
et post Funica bella quietus quaerere coepit
quid Sophocles et Thespis et Aeschylus utile ferrent.
temptavit quoque rem, si digne vertere posset,
165 et placuit sibi natura sublimis et acer:
nam spirat tragicum satis et feliciter audet,
sed turpem putat inscite metuitque lituram.
creditur, ex medio quia res arcessit, habere
sudoris minimum, sed habet comoedia tanto
170 pltis oneris, quanto veniae minus, adspice, Flautus
quo pacto partis tutetur amantis ephebi,
ut patris attenti, lenonis, ut insidiosi,
quantus sit Dossennus edacibus in parasitis,
quam non adstricto percurrat pulpita soqco.
176 gestit enim nummum in loculos demittere, post hoc
securus, cadat an recto stet fabula tdlo.
Mit Livius berühren sich nur die Verse 139 -155. Nur sie
geben einen zusammenhängenden Bericht, der sich auf eine literar-
historische oder antiquarische Darstellung zurückführen läßt, und
auch sie geben ihn natürlich nur in der Umgestaltung durch einen
Dichter, der aus der gelehrten Angabe ein anschauliches und in
sich geschlossenes Bild herausgestaltet. Was nur diesem Zwecke
dient, werden wir als sein Eigentum absondern ' und zugleich mit
der Wahrscheinlichkeit rechnen müssen, daß jenes Bild in einen
neuen, durch den Zweck des Briefes gegebenen Gedankenzusammen-
hang gerückt ist. Die Charakteristik der altlatinischen Bauern
und ihrer Gedanken wird niemand für die Quelle in Anspruch
nehmen ; dann dürfte man es freilich auch nicht ohne weiteres mit
der entsprechenden Angabe der Stimmung und Gedanken der
Städter, die zu dem Gesetz führen. Auch hier waltet eine Breite
Livius und Horaz über die Entwicklung des römischen Schauspiels. 253
und Anschaulichkeit, die mehr für den Dichter als für die gelehrte
Quelle Zweck hat. Gerade hier aber finden sich die Berührungen
mit den Traktaten über die attische Komödie, die besonders Hen-
drickson hervorhebt. Tatsächlich sind hier Züge aus dem Grie-
chischen übernommen, und sie passen sogar für die römische Si-
tuation nicht recht. Setzen sie doch ein Einzelgesetz voraus, das
unmittelbar aus den geschilderten Uebelständen entspringt, wäh-
rend in der Quelle, wie wohl kein Erklärer mehr bestreitet, von
dem Gesetz der Zwölf Tafeln die Rede war *). Nun kennt Horaz,
der ja schon früh die Satire des Lucilius mit der ap/aia xcojKpSta
vergleicht und selbst mit der v^a wetteifern möchte, jenes angeb-
liche Verbot des ovoi^aotl oTcwTcrstv in Athen. Die Einzelnheiten
dieser Schilderung können daher durchaus auf ihn selbst zurück-
gehen, ja sie erweisen sich bei näherer Betrachtung als eng mit
dem Grundgedanken verbunden, in dfen er die Angaben der anti-
quarischen Quelle gerückt hat. Horaz benutzt sie, um einerseits
zu betonen, daß die römische Dichtung unter den Bauern entstanden
sei und die Spuren dieses Ursprungs erst spät, ja eigentlich nie
völlig losgeworden sei, andrerseits um hervorzuheben, daß nur die
grausamste Strafe (das fustiarium) die erste Wendung dieser Dich-
tung zu einer harmlosen Kunstübung erzwungen habe. Die Worte,
die er dabei gebraucht formicUne ftislls ad hene dicendiim de-
lecfandtimque redadi, zeigen dabei in dem Spiel mit der Doppel-
deutigkeit der Worte bene dicendum die Erinnerung an ein eigenes
früheres Wortspiel Sat. II 1,80 ff. iu forte negoti incutiat tibi quid
sandanim insdtia legum: si mala condiderit in quem quis car-
mina, ins est iudidumque. — Esto, si quis mala: sed bona si quis
iudice condiderit laudatus Caesare? Auch hier wird auf das Zwölf-
tafelgesetz angespielt. Wir begreifen, welche Gedankengänge und
Erinnerungen ihn bei der Ausgestaltung der antiquarischen Quelle
beeinflussen konnten. Für diese selbst glaube ich mit einiger
Sicherheit nur folgende Angaben in Anspruch nehmen zu können :
das Alter der Poesie in Latium bezeugen schon die Zwölf Tafeln^);
das malum Carmen, von dem sie sprechen, müssen die sogenannten
Fescennini versus gewesen sein, die mit ihrer Anknüpfung an das
ländliche Leben bis in frühe Zeit hinaufreichen müssen; sie haben
freilich unter der Einwirkung dieses Gesetzes ihren Charakter und
1) Vgl. auch Useners klassischen Aufsatz 'Altitalische Volksjustiz' Khein.
Mus. LVI Iff. = Kl. Schriften IV 356 ff.
2) Vgl. Cicero Tusc. IV 4 : quamquam id qtiidem etiam XII tabulae decla- «
rant, condi iam tum solitum esse Carmen, quod ne liceret fieri ad alterins iniuriam,
lege sanxerunt (vgl. De re p. IV 12).
2Ö4 R. Üeitzen stein,
ihre Weise einigermaßen* geändert. So weit reicht ein klaret Zu-
sammenhang und ist gelehrtes Material benutzt. Was Horaz weiter
hinzufügt, sind allgemeine Betrachtungen, für die er eine antiqua-
rische Quelle nicht bedarf). Wenn er wirklich in v. 162 die falsche
Datierung des Andronicus durch Accius voraussetzt, was mir nicht
ganz sicher erscheint, so ist nur er selbst, nicht die Quelle, für dies
Festhalten an einem längst 'berichtigten Irrtum seines Lehrers
verantwortlich.
Horaz hat uns also nur eine Angabe, die bis zum Jahre 450
reicht, erhalten; der Bericht des Livius beginnt erst 364. Ein
Vergleich, wie ihn Leo in seinem zweiten Aufsatz anstellt und
Weinreich weiter fortführt (Horaz nimmt ländlichen, Livius städti-
schen Ursprung an u. s. w.) kann daher nicht beweisen , was er
soll, die beiden Schriftsteller reden von ganz Verschiedenem. Hen-
dricksons Deutungen des Livius aus Horaz und des Horaz aus
Livius kennzeichnen sich nunmehr ohne weiteres als schwere Ver-
stöße gegen die Methode der Quellenforschung wie der Interpre-
tation. Wohl aber lohnt es zu fragen, ob nicht Leos erster Ge-
danke, das Horaz-Stück ließe sich in die Darstellung des Livius
einfügen^), glücklicher war. Ich möchte für ihn eintreten.
Es ist sehr auffällig, daß Livius und Horaz den Vers nicht
nur fast mit denselben Worten charakterisieren, sondern daß auch
der eine scharf hervorhebt, daß er nicht mehr von dem Fcscen-
ninnf versus selbst, sondern von einer ihm ähnlichen Fortbildung
redet (qui non, siciit ante, Fescennino versu similem incom-
posHiim fernere ac rudern alternis möiebant), während der andere
berichtet, daß dieser Vers durch das Zwölftafel - Gresetz seinen
Charakter geändert hat {Fescennina per Jiunc inventa licentia morem
versibus alternis opprobria rustica f udit . . . . vertere modum
formidine fustis) ^). Für beide Berichte ist die Voraussetzung, daß
die versus Fescennini die älteste lateinische weltliche Poesie dar-
stellen. Mir genügen diese sehr auffälligen Uebereinstimmungen,
um bei Horaz den Anfang des von Livius benutzten Berichtes
wieder zu erkennen, doch muß ich befürchten, daß sich bei der
1) Künstlerisches Interesse und Kunstempfinden kam erst aus Griechenland;
so konnte Ennius den Hexameter einführen, Terenz u. a. auf den sermo purus
achten u, s. w.
2) Vgl. ohen S. 233 A. 2.
3) Den Charakter des Wechselgesanges mochte man dabei entweder aus den
noch üblichen Neckereien bei der Hochzeit oder aus anderen Neckversen, wie den
.bei dem Triumph bekannten, erschließen. Die Improvisation (auf sie deutet ja
das von Lejay u. a. falsch übersetzte Wort temere) war durch die gleichen Ana-
logien und die Theorie gegeben.
Livius und Horaz über die Entwicklung des römischen Schauspiels. 255
Mehrzahl der Forscher das Mißtrauen gegen dessen sachliche An-
gaben eben dadurch steigert, da sie den Fescennimis versus anders
betrachten. Ich muß daher auf ihn noch eingehen.
Wissowa geht in seiner Besprechung Realencycl. VI 2222 von
dem Gedanken aus, daß wo die Worte Fescennimis versus u. dgl.
im lebendigen Sprachgebrauch erschienen — die Stellen reichen
von Catull bis zum Ausgang des Altertums — , Hochzeitsgesänge
bezeichnet würden; also sei dies die ursprüngliche Bedeu-
tung; wegen ihres ausgelassenen Charakters sei dann die ur-
sprünglich spezielle Bezeichnung vereinzelt auch für kecke Spott-
gedichte allgemeineren Charakters verwendet worden, so von Oc-
tavian für Hohngedichte auf Asinius Pollio (Macrobius Sat. II 4, 21),
ja der alte Cato habe das Wort Fescenninus geradezu in dem
Sinne von 'Frechling' verwendet. Die beiden bisher besprochenen
Stellen des Livius und Horaz werden dabei als Konstruktion eines
Gelehrten, der die Aristotelische Darstellung der Anfänge des
griechischen Dramas auf Italien übertrug, beiseite geschoben. Allein,
wenn seit der klassischen Zeit ein alter Brauch improvisierter
Scherzlieder nur noch bei der Hochzeit nachweisbar ist, so folgt
daraus nicht notwendig, daß die Bezeichnung dieserLieder
ursprünglich nur für die Hochzeit geprägt ist; unverständlich
bleibt ferner, warum diese Lieder dann den Namen 'Verse aus
Fescennium' erhielten, bedenklich endlich, daß wir hierbei von
einer technischen Bezeichnung einer Dichtart oder Versart aus-
gehen ^), zumal da der älteste Gebrauch Fescenninus als Personen-
oder Standesbezeichnung kennt. Ich möchte von diesem Gebrauch
ausgehen.
In der Rede Si se M. Gaelius tribunus plebis appellasset ^) hat
Cato seinen Gegner als lächerliche Person charakterisiert : er ver-
gleicht ihn mit der Citeria, die bei der pompa mit den Zuschauem
plaudert (oben S. 249) , mit dem Quacksalber, der unter Witzen
seine Mittel ausschreit, mit dem Bettelsänger, der für ein Stück
Brot redet oder schweigt, endlich mit dem Fescenninus : in colo-
niam me Jiercules scrlbere nolim, si triumvirum sim, spatiatorem atcpie
Fescenninum. Das Bild erweitern die unmittelbaren Schilderungen
praeter ea cantat, ubi coUibuit, interdum Graecos versus agit, iocos
dicit, voces demutat, staticulos dat^) und descendit de cantherio, inde
1) Auf den versus Satumius wird man sich kaum berufen können, er setzt
m. E. die Bezeichnung Italiens als Saturnia tellus voraus, ist also eine relativ
junge, künstliche Bildung.
2) Eine Datierung der Rede ist Jordan nicht gelungen ; sie ist für uns zeitlos.
3) Vgl. Plautus Persa 824 nequeo, Uno, quin Ubi saltem staticulum, olim
I
256 R. Reitzenstein,
staticulos dare, ridicularia fundere. Ein lebensvolles Bild nicht des
Frechlings, sondern des gewerbsmäßigen Spaßmachers
wird hier gezeichnet; er ist der Fescenninns, Ich möchte in dem
Fragment sogar einen gehässigen Seitenhieb auf Fulvius Nobilior
sehen, der den Ennius als Bürger in die Kolonie aufgenommen hat,
und für die Verbindung mit spatiator das bekannte Fragment aus
dem Carmen de moribus (Gellius XI 2) vergleichen : poeticae artis
honos non erat. *) siquis in ca re stiidehat aut sese ad convivia adpli-
cabat, grassator vocahatur. Von hier gewinnen wir eine verständ-
liche Entwicklung: der fahrende Mann, der bei den Festen der
latinischen Bauern erschien und seine Spaße vortrug, war ur-
sprünglich nach der südetrurischen Stadt Fescennium benannt
worden, in der vielleicht eine Art Grilde bestand oder von wo zu-
erst einige bekanntere Vertreter dieses G-ewerbes gekommen waren ^).
Leicht erklärlich ist dann, wie hieraus die Sachbezeichnungen
Fescennina iocatio, oder Fescennini loci (bzw. versus) enstanden. Als
die Nachahmung des alten Brauches im wesentlichen auf die Hoch-
zeit beschränkt war, entstanden für sie dann neue Erklärungen,
deren eine wir durch ihre Benutzung bei Lukan II 368 auf eine
bestimmte Quelle zurückführen können:
non soliti lusere sales nee niore Sabin o
excepit tristis convieia festa maritus.
Die gelehrte Quelle ist klar. War in ihr ein altitalischer
Brauch auf die Sabiner zurückgeführt, wie das Varro ja liebte,
so konnte der Name des Verses dabei kaum von der etrurischen
Stadt abgeleitet werden. Also geht von den beiden im Altertum
üblichen Worterklärungen, die Festus (Paulus) p. 85 M. verbindet,
Fescennini versus^ qui canebantur in nuptiis, ex urbe Fescennina di-
cuntur allati (vgl. Servius zu Äen. VII 695), sive ideo dicti, quia
fascinum putabantur arcere, die zweite, sprachlich unmögliche auf
Varro zurück, der dabei eine ältere auf die Person des Fescenninus
quem Hegea faciebat. vide vero, si tibi satis placet. — Me quoque volo reddere,
Biodorus quem olim faciebat in lonia.
1) Cato weiß also, daß zu den Gelagen und Festen schon in üer Vorzeit
fahrendes Volk zu kommen pflegte, das, ähnlich wie in seiner Zeit die poetae bei
den Mahlen der Großen, für Unterhaltung sorgte ; nur waren jene Leute mißachtet.
2) Auf die Personen, nicht aber auf die Verse könnte sich auch die Glosse
des Festus (Paulus) p. 86 beziehen : Fescemnoe (wohl Fesceninoe) vocabantur, qui
depellere fascinum credebantur. Es wäre an sich durchaus möglich, daß jene fah-
renden Gesellen in älterer Zeit auch allerlei Zauberbrauch getrieben haben oder daß
der sakrale Charakter ihres Tuns stärker empfunden worden ist. Doch gestattet
die Unsicherheit über die Herkunft und Beziehung der Glosse, die auf ein Sprach-
denkmal sehr früher Zeit bezug nehmen muß, keine sicheren Schlüsse.
Livius und Horaz über die Entwicklung des römischen Schauspiels. 267
bezügliclie Glosse benutzt haben mag. Ist dies richtig, so hatte
seine Erklärung des Begriffes zwar manche Aehnlichkeit mit der
bei Horaz und Livius gebotenen (auch er betont ja die convicia\
unterschied sich aber doch von ihr ; für uns ist sie in keiner Weise
verbindlich.
Eine gewisse Bestätigung meiner Annahme, daß der technische
Gebrauch des Wortes zunächst von der Person ausgeht, bietet
vielleicht eine Betrachtung der zweiten Bezeichnung, die bei Li-
vius vorausgesetzt wird, Atellana. Wie ein Blick in den Thesaurus
uns lehrt, steht neben der Bezeichnung Atellana fabula eine zweite
Atellania^) (einmal auch fabula Atellania Gellius XII 10,7). Das
ist am leichtesten begreiflich, wenn wir auch hier von der Personen-
bezeichnung Atellanus ausgehen, die nach den Glossen den ßioXöfoc,
ioculatorj cantor, mimus bedeutet, wie ja auch die typischen Figuren
der Atellane ebenda sämtlich als parasiti bezeichnet werden *). Nach
Festus p. 217 {Per Sonata) traten sie von Anfang an in Masken auf
und unterschieden sich dadurch von den Fescennini^). Auch in
ihrer Kunst spielt der Gesang und wahrscheinlich auch der Tanz
eine große Bolle (vgl. Terentianus Maurus G. L. VI p. 396 K).
Eine Darbietung, in welcher mehrere solcher A^tellani auftraten,
ward in einer neuen Ableitungsform Atellania genannt (wie Atel-
lania ars die Kunst des Atellanus ist). Daß daneben auch Atellana
fabula üblich wurde, besonders als man die Arten der fabula, also
des römischen Dramas, zu scheiden und nebeneinander zu stellen
begann, ist wieder leicht begreiflich. Wir entgehen bei dieser Annahme
den Schwierigkeiten, die sich von selbst bei der anderen ergeben,
Atellana fabula sei ursprünglich der technische Ausdruck, von dem
die weiteren Bildungen ausgehen: ein ausgebildetes literarisches
Y^voc müßte vor der Schlacht von Cannae und doch — wegen der
schon festen Bildung des Begriffes fabula für Drama — nach 24Ö
aus Atella übernommen und dabei so stark romanisiert sein, daß
die Personennamen nicht oskisch, sondern griechisch wurden, wäh-
rend es die Heimatsbezeichnung weiter behielt. Ein Anlaß dafür
wäre damals kaum zu erweisen ; was wir durch Lucilius und Horaz
von oskischen volkstümlichen Spielen wissen, wiche weit ab.
Die beiden vielleicht nicht ohne Beziehung auf einander ge-
1) Daher im Briefwechsel des Fronto (p. 34 N.) Ätellaniolae.
2) Der Wortgebrauch von Atellanus entspricht genau dem von mimus.
3) Daß auch Porphyrie zu Ep. II 1, 145 die carmina Fescennina mit den
Ätellanica zu identifizieren scheint, möchte ich nicht hervorheben, da das Sätzchen
vielleicht verstümmelt ist (etwa: ut et Ätellanica nominata sunt) und in den so-
genannten Acro-Scholien fehlt.
Kgl. Ow. d. Wist. Nachrichten. PhU.-hist. Klasse. 1918. Heft 2. 17
268 R- Reitzenstein, Livius u. Horaz üb. d. Entwickl. d. rom. Schauspiels.
bildeten Bezeichnungen der fahrenden Leute als Fescennini und
Atellani zeigen uns die Einflüsse, die zunächst auf Latium wirken,
den etruskischen und den oskischen. Beide geben in letzter Linie
griechische Anregungen weiter; es ist an sich nicht wunderbar,
daß die Metrik der Gesangspartien, welche die römische fabula
gegen ihre attischen Originale, offenbar dem G-eschmack des Publi-
kums zuliebe, einlegte, die hellenistische Technik zeigt. Nur möchte
ich daraus nicht ohne weiteres mit Leo auf ein hellenistisches Sing-
spiel schließen, das ohne genügenden Grund mit dem gesprochenen
Drama verquickt wurde. Nur Einzelvorträge, nicht eigentliche
Singspiele dieser Art sind uns auf griechischem Boden bisher be-
zeugt. Dagegen bietet die Geschichte des römischen Bühnenspiels
durchaus die Möglichkeit , auch eine Verbindung jener Einzelvor-
träge zu heiteren Szenen für Rom selbst anzunehmen^). An sie
schloß später das rein griechische Drama an.
Die Theatergeschichte, welche die Quelle des Livius bot, war
gewiß nicht frei von kühner Konstruktion^) und war in Erinne-
rung an griechische Theorien entworfen^). Dennoch ist in ihr
gutes Material im ganzen verständig benutzt ; die Einwirkung der
Theorie ist lange nicht so stark, als man annahm; wir dürfen sie
gewiß nicht kritiklos verwenden, aber noch weniger ihre Angaben
unberücksichtigt lassen, wenn wir uns von den Anfängen der rö-
mischen Dichtung eine Anschauung zu bilden versuchen.
1) Von einer dramatischen satura kann bei scharfer Interpretation nicht die
Rede sein; für die Existenz von Gesangsszenen gewinnen wir wirklich eine Art
Zeugnis.
2) Man denke an die Verbindung der Fescennini versus mit dem Gesetz der
Zwölf * Tafeln. Gegeben war nur die Auffassung der Fescennini versus als con-
vida, die man in den Neckliedern bei der Hochzeit noch wiederfand, und das
Verbot beschimpfender carmina (nach der von griechischer Anschauung beein-
flußten, damals allgemein verbreiteten Deutung der Stelle).
3) Auf Aristoteles selbst weist nichts.
Moyccy7av2/ und onager.
Von
E. Schramm.
Vorgelegt in der Sitzung vom 22. März 1918 von R. Reitzenstein.
Das als Einarm, |j.ova7%o)v, bezeichnete griechische Wurfgeschütz
wird bei Heron und Philon überhaupt noch nicht, bei den übrigen
griechischen Kriegsschriftstellern nur selten und fast nur nebenbei
erwähnt.
Die erste Beschreibung und Zeichnung eines dem Einarm ähn-
lichen Instrumentes gibt die „Belagerungskunst" des Apollodoros
AnOAAOAßPOr nOAlOPKHTIKA.
Sie lautet Wescher 188. 2 ff.
IldXiv 6 v.pi6(; ov [idaov ai
xXi[i.axe<; (p^pooat "k'q^exa.i xat' Äxpov
TSTpaYcbvoüc iTrtTnrjYac 56o woavel
otaifovta. TaÖTa ipirj^dvia x^^^^~
ziöac Xri^BZOLi xal OTpo^ac veopwv
v.cd otYXwva [xiaov [laxpöv, olot elotv
Ol Xt^oßöXot [lovdYXCövsc öu? Ttvs<;
o^pevöövac; xaXoöatv, Sc ^) uttö xfjc
pojc^C l7ui«pspö[ievo<; tij) TSL^et, a)(aa-
TTjpiav Xaßd)V eTca^pYJast toi? tsi/o-
^uXa^t töv [lovdYTtcDva, %al tuoXXtjv
^pYdasrai twv l^peaTwicüV aXwoiv.
')
Ferner bekommt der Widder,
der in der Mitte der Leitern ge-
tragen wird, vom 2 vierkantige
Ansätze, gleichsam Backenstücke.
Diese werden durchbohrt und
erhalten Buchsen und Sehnen-
bündel mit einem langen Arm in
der Mitte, wie die einarmigen
Steinwerfer, die manche Schleu-
der nennen. Wird er (der Wid-
der) dann gegen die Mauer ge-
schwungen, wird der Abzug frei,
daß der Einarm gegen die Mauer-
verteidiger schlagen und eine
große Menge der Dortstehenden
fangen wird.
1) Siehe auch R. Schneider, Griechische Poliorketiker Abhandl. d. Kgl. Ges.
d. Wissenschaften Göttingen. X, 1, S. 46.
2) 6 Sc xploc R. Sehn.
17*
260
E. Schramm,
Bild 1. cod. M. fol. 44.
Einen ähnlichen, aber sehr erweiterten Text geben die ano-
nymen Anweisungen zur Belagerungskunst üAPArrEAMATA IIO-
AIOPKHTIKA, ANQNTMOr HTOI HPQNOS ETZANTIOT. Hand-
schrift vom Jahre 1535. Der Text lautet W. 252. 3 v. u.^):
252. '0 Bk 'üpiÖQ, 8v xam |idaov
al 7tXi|jLa>ce? ^spoooiv, 1^ IxaT^pwv
Twv TüXaYioöVTtaia tö s{X7:ppo6-£V axpov
TrpocXdßot l7rt7:7JY[i.aTa Süo leTpocYcova,
(253) xaddcTTsp oiaYÖvta, op^a 7üpö<;
oifoc, 6;u£paveaTY]%ÖTa toö Ttpioö tuyj-
^£(«)(; a)(pt, elg ös tyjv TupoaT^Xwovv
%al xd-cwO-sv Sta ttjv Tdotv toö tö-
voo da^paXtCöfisva.
Taöta öl TpöTüdo^waav It:' sü-
«ö-stac aTuevavxiov dXXvjXwv ;upö? tö
Wenn die Leitern den Wid-
der in der Mitte tragen, kann
man an dessen Vorderende zu
beiden Seiten 2 viereckige An-
sätze, gleichsam Backenstücke,
senkrecht anbringen, die oben den
Widder um eine Elle überragen und
unten durch ein starkes Querholz
verbunden sind, um sie vor der
Kraft der Spannsehnen zu sichern.
Diese Backenstücke sollen in
der Mitte an 2 gegenüberliegen-
1) Siehe auch R. Schneider a. a. 0. XI, 1, S. 60.
Movdtyxtov und onager.
261
-üpTjiidTCöV 7rpoa'A]Xöt)o^(öaav aie^pavai
oxepsal Tca^dTTsp %pi7,ot, §e/ö[i£vai
zatd ^daov Tag XsifO[i,eva<; )^oivi7Ci§a<;,
6{iOioü[i^vag Iv a^7][iaaiv oaipaxtvoK;
oüDXTjviStotc;, sz y^cuXiiob slpYaoji^va?
ocTuö TÖpvoo scca^ev t] I^ sotovcov
Gi§Yjpoi<; l^w^sv ivSsSejx^vac; izezoiX-
Xoig, eopoTspac ßdostc Tcspl t7]V ^d-
OLV e)^o6aorcj >tal %axd iy]V Tcspioipo-
(pTjV OTTO TWV TrpOOTQXoöö-SVTCöV %pa(ov
7t(J)X00[J.SVag TOÖ TUapeTCTTtTüTSlV TOix;
lä)V TpTJJxdTtOV TÖ7rOü(;.
Td ÖS Tü)V xoivtTtiSwv dva>to7:d-
Twoav aTÖ{j.La %al ös'/ea^waav xa-
vövia TSTpd'jfüöva lir£[j.ßaivoV'üa waavsl
7r£piaT0[ii§a<;, Tupöc id axpa twv gto-
^icov Tcaps^s^^ovua • TTpög d veopot«;
(ö[i.iaiotg 7) vcöTiaiOK; Tcdvrwv C<pwv
;rX7]V auwv Sid [isooo twv /otvixiSwv
Siep^O[j.£VOi(; IttI t"^ x'^c GTpoff^q idost
öid TÖ süxovov, (§£1) ^) 7r£pi£iX£La^at,
7) TOt<; k% V7]{J.dT0DV OTJplXWV d§pox£-
poig {iaXd^otc, ^ vtal o/oiviotg ex
X(voD VYj[iaxi7tot<;, %axd [isoov eia§£-
yo\i.Bvoi<; ^oXov {xaxpöv l[i.ßaXXö[i.£Vov
Iv 0)(75[iaTt ;uaXtVTÖvoo aYXwvoi; dv-
T£axpa[i[i£Vov ö;uig^£V xal xaxaxXelS',
%paTOü[X£Vov, oloL sloiv Ol Xi^oßöXoi
liovdY%{ov£<;, (254). oog Ttvs? a(p£V-
Sövac TtaXoöat.
Mo)rX6v Se (§£t) oiÖYjpoöv pt-
Coxpixiv s'xovxa, Tcpög xdc pY]'ö'£i(3ag
7r£piaxo[i.i§ac ltißaXXö[X£Voy, ßiaiav
T7]v iTTtaxpo^pYjV sttI xwv ^oivivciScov
den Stellen durclibohrt «werden,
an die Außenseiten der Löcher
sollen ringförmige Kränze ge-
nagelt werden, welche die soge-
nannten Buchsen umfassen. Diese
sind tonröhrenförmig aus Erz
hergestellt und inwendig ausge-
bohrt, oder aus starkem und
äußerlich mit Eisenblech beschla-
genem Holze ; an der Auflage ist
der Rand breiter, bei der Um-
drehung verhindern die aufge-
nagelten Ringe, daß sie von der
Stellung über den Löchern wei-
chen.
Die Buchsen sollen oben Ein-
schnitte erhalten und darin vier-
kantige Bolzen aufnehmen, gleich
wie Klammern, die über die En-
den der Ausschnitte hervorragen.
Daran werden Schulter- und
E/ückensehnen aller Tiere, außer
der Schweine, befestigt, die zwi-
schen den Buchsen liegen und
mit Kraft straif gezogen werden,
auch stärkeres Seidengarn und
Hanfstricke sind verwendbar, und
endlich wird in deren Mitte ein
starkes Holz durchgeschlagen,
das in der Art wie ein Arm beim
Palintonon rückwärts gedreht
und mit einem Riegel festgehalten
wird, wie bei dem einarmigen
Steinwerfer, von Einigen Schleu-
der genannt.
Ein eiserner Hebel mit Wur-
zelring ist außerdem nötig, er wird
auf die genannten Klammern ge-
schoben, um die Buchsen mit Ge-
walt herumzudrehen und dadurch
1) M xZ dvxov^tp (durch die Spann leiter) R. Sehn.
262
E. Schramm,
Tüoteiv %a^ o^oSpav ty]V xdatv ÄTrep-
YaCeodat. '0 dk xpi6<; airö tcov xXt-
iTUKpepöfievo^ iTütppitfsi ToFc tei^o^pö-
Xa^tv otTToXo^^vra töv [lova^zcöva,
xal ttoXXyjv IpYdasTai twv l(peoTa)T(öv
aXcootv. Kai zb cxr^jia xaiaYeYpaTr-cat.
eine starke Kraft zu erzeugen.
Der Widder wird von den Leitern
gegen die Mauer gestoßen, wird
den freigewordenen Einarm gegen
die Verteidiger der Mauer schla-
gen und eine große Menge der
Dortstehenden erfassen. Das Bild
ist beigefügt.
Bild 2. cod. B. fol. 182.
Bild und Beschreibung genügen um das Instrument als eine
Art Menschenfalle zu rekonstruieren. Die Breite des größten be-
kannten Widderbalkens des Hegetor von Byzanz beträgt 369,6 mm,
rund 37 cm. Die Höhe über Widderbalkenobcrkante ist auf 443,6 mm.
rund 44 cm angegeben. Die Dicke des Balkens beträgt 295,7
rund 30 cm.
Obgleich der Widder sich nach vorn verjüngt, um ihn wegen
des dortiges Eisenbeschlages und der Tauumwickelung nicht zu
schwer zu machen, ist trotzdem in der beigegebenen Zeichnung
(Bild 3) absichtlich seine größte Stärkeabmessung eingesetzt, da-
Movotyxwv und onager.
263
mit die Leistung des darauf befindlichen Instrumentes, das Menschen
fangen soll, lieber überschätzt als unterschätzt wird.
"^^w\^^
Die erwähnten Backenstücke müssen aus zwei Gründen sehr
stark gehalten werden.
1) Da sie über den Widderbalken nach oben frei auskragen,
d. h. oben keine zweite Unterstützung haben, wie bei dem Plin-
thion eines Geschützes , so können Peritrete von nur 1 Kaliber
Dicke, wie sie der Vorschrift bei zweifacher Unterstützung ent-
sprechen, nicht genügen, sie sind also stärker gehalten. Die beiden
durchbohrten Backen, die die doppelt unterstützten Peritrete er-
setzen müssen , werden auseinandergehalten durch den Widder-
balken, vermutlich zusammengehalten durch einen warm aufgezo-
genen Eisenblechrahmen, sowie durch Bolzen mit breiten Köpfen.
Die wegen des Reißens des Holzes unbedingt nötigen Verstärkungs-
bleche ersetzen zugleich auf jeder Seite die Unterlage, oTrö^Yjjia.
Ohne diese Verstärkungen würde beim Trocknen und allmäh-
ligen Schwinden des Holzes des Widderbalkens infolge der starken
Spannung der Sehnen ein Schrägdrücken der Backen nach Innen
stattfinden. Die Buchsen verkeilen sich dann in ihren Lagern
und lassen sich nicht mehr drehen.
264 ^- Schramm,
2) Bei normalem Philon' sehen Rahmen müßten die Buchsen
5^2 Kaliber Abstand von einander haben. 5 Kai., wie in beiliegender
Zeichnung angenommen ist, dürfte als äußerste Grenze eines ka-
tatonischen Rahmens bezeichnet werden und ist bei Geschützen
mit 2 Bogenarmen vielleicht auch angewandt worden, aber dann
bei gleichzeitiger Vergrößerung der Bogenarme, um einen genügend
langen Pfeilweg unter Druck zu erreichen, ohne eine Verdrehung
der Bogenarme bis über 30^ zu benötigen. Für das Instrument
auf dem Widderbalken reicht aber eine Bewegungsfreiheit des
Armes von 30^ nicht aus um mit einem Querholz und einer Schlinge
daran den Feind zu erfassen. Er muß bis vor die Spitze des
Widders schlagen können.
Die größte Breite des Widders ist eingesetzt worden weil da-
durch der Abstand der Buchsen von 5 Kai. leichter erreicht werden
kann. Trotz dieser absichtlich günstig gewählten Verhältnisse
kann man von einer nur einigermaßen erheblichen Leistungsfähig-
keit des Instrumentes nicht reden. Denn nach der beigegebenen
Konstruktionszeichnung kann das Kaliber des Spannloches nicht
über 4 Daktylen (knapp 8 cm) gewesen sein. (Also entsprechend
dem Ampuriasgeschütz, aber nur mit einem Arm). Das ist sehr
wenig und für das Fangen von Feinden mit Schlingen oder Netzen
sehr schwach bemessen. Das ganze Instrument ist keine glück-
liche Konstruktion zu nennen.
Alles in Allem kann weder die Beschreibung bei Apollodoros
noch bei dem Anonymus den Eindruck erwecken, daß man es mit
einem wirklichen Geschütz zu tun hat, es soll nur „nach Art des
einarmigen Steinwerfers" einen in einer Vertikalebene beweglichen
Arm haben, und zwar nicht zum Schleudern mit der o^evSövT] son-
dern zum Überwerfen einer Schlinge oder eines Netzes.
Das Wichtigste an der Beschreibung beider Kriegsschriftsteller
sind einmal die Worte : „wie die einarmigen Steinwerfer, die manche
Schleuder nennen", und in zweiter Linie: „wie beim Palintonon
rückwärts gedreht und mit einem Riegel festgehalten". Dadurch
erhält die Beschreibung und Zeichnung des Instrumentes erst den
richtigen Wert, denn ohne sie hätten wir nur Vermutungen über
das Aussehen des Einarmes. Wenn man aus der Beschreibung
beider Kriegsschriftsteller auch nicht direkt die Konstruktion des
Einarmes ableiten kann, so sind doch einige Anhaltspunkte gegeben.
Geht man beiden Sätzen genau auf den Grund, so tritt allmählich
das einarmige Steingeschütz immer klarer vor unsre Augen. Die
griechische Stockschleuder, otpevSövYj, besteht aus einer hänfenen
oder ledernen Schleuder mit 2 Ösen. Die eine Öse fest an einem
Movttyxfov and onnger. 265
Stocke befestigt, die andere lose über das sorgfältig geglättete
daumenartige Ende des Stockes geschoben. Beim Wurfe zieht das
in der Schleuder befindliche Geschoß die obere Ose vom Stocke
ab und der Stein wird frei.
Der menschliche Arm, die Hand und der Schleuderstock werden
beim Geschütz durch den Wurfarm ersetzt, die Armkraft aber
bedeutend verstärkt. Die Schleuder bleibt die gleiche. Der Wurf-
arm muß sich wie der menschliche Arm in einer senkrechten Ebene
bewegen. Dieser Arm wird wie beim Palintonon nach rückwärts
gedreht und durch einen Riegel ^befestigt.
Das Spannsehnenbündel liegt, wie bei dem Widderinstrument,
horizontal.
Der Halbrahmen eines Palintonon horizontal gelegt mit einem
Schleuderarm an Stelle des Bogenarmes entspricht also dem Mo-
nankon. Der Wurfarm bewegt sich dann in einer senkrechten
Ebene. Der Stein soll die Schleuder unter einem Winkel von 45^
verlassen, weil er dann die größte Schußweite erreicht. Das Ver-
lassen der Schleuder muß erfolgen kurz ehe der Arm gegen das
Widerlager anschlägt, damit möglichst der ganze Weg des Steines
in der Schleuder unter Druck zurückgelegt wird. Verläßt er die
Schleuder erst später, so geht ein Teil der Kraft nutzlos in dem
zu starken Schlag gegen das Widerlager verloren, verläßt er sie
schon früher, so wird die Kraft des Armes nicht voll ausgenutzt.
Die Bewegungsfreiheit des Wurfarmes ist wie die der Bogen-
arme keine beliebige.
Das normale Euthytonon mit nur 5^2 Kai. Spannlänge eignet
sich nicht zum Vergleich mit dem Einarm, da es zunächst beim
Spannen nur Ausschlagswinkel der Bogenarme unter 30^ anwendete
und erst mit abnehmender Spannung 30^ erreichte, sicher nicht
überschritt. Denn die Verlängerung des Pfeilweges ist nur bis
zu einer gewissen Grenze von Vorteil. Das Palintonon mit 7^2
Kai. Spannlänge kann unbeschadet um die Ausdauer des Sehnen-
bündels von vornherein stärker in Anspruch genommen werden
und allmählich dieser Winkel unter Ausnutzung der ganzen Leiter-
länge beim Zurückziehen des Schiebers bis ca. 45*^ erhöht werden,
bei gebogenen Bogenarmen noch etwas mehr. Diese Erfahrungen
sind auf den Einarm zu übertragen.
In beistehendem Bilde (Bild 4) ist die Bewegung des Armes
und der Schleuder von der Spannstellung bis zur Euhestellung
am Widerlager eingezeichnet. Der Weg des Schleudersteines in
der Schleuder ist a b c d und von da ab nach dem Verlassen der
Schleuder d f.
266
E. Schramm,
• V 1:20
^\L}vix}AX^^iö€^ei/n£ic^ dXncxhrui/yia' ^ea Sla^icn:>.
i^ssT"
Bild 4.
Die Schleuderlänge von V* der Bogenarmlänge hat sich als
die praktischste herausgestellt. Zu lange Schleudern beeinträch-
tigen die Wucht des Wurfes durch ihr elastisches Nachgeben, auch
dürfen sie nicht bis auf das Spannseil herabreichen. Zu kurze
Schleudern sind für wechselnde Steingrößen nicht brauchbar, sie
verlassen, wenigstens bei Anwendung größerer Wurfkörper, leicht
vorzeitig mit der losen Ose den Daumen des Wurfarmes. Berech-
nungen sind ganz unzuverlässig. Dieselbe Schleuder, die sich an-
fangs durch ihre Steifigkeit und durch starke Reibung der losen
Ose am Daumen schwer von dem Wurfarme löst , ergibt nach
einigen Feilstrichen am Daumen größere Abgangswinkel und im
MovayxcDv und onager. . 267
Laufe ihrer Verwendung muß sogar durch die Daumenform nach-
geholfen werden, daß sie den Schleuderarm nicht zu früh verläßt.
Ist der Arm, der Daumen au demselben und die Schleuder
schließlich richtig zu einander eingespielt, so geht der Wurfstein
nicht von d nach e wie es der Fall sein würde wenn die Öse den
Daumen nicht verläßt, sondern bereits in der Stellung des Steines
bei d streift sich die lose Ose vom Daumen ab und der Stein fliegt
unter einem Winkel von 45" weiter. Der Bogenarm hat an dieser
Stelle einen Ausschlag von 37 V2 Grrad gemacht, also einen Winkel von
67 V2 Grad zur Horizontalen erreicht : den gleichen Winkel müßten
auch die Spannbolzen in den Buchsen haben, wenn in dieser Stel-
lung der Druck des Sehnenbündels auf den Wurf arm zu Ende
sein soll. Unmittelbar darauf müßte der Wurfarm gegen das
Widerlager schlagen. Dann wäre der ganze Weg unter Druck
zurückgelegt und keine Kraft verloren. Bei frischer Bespannung
ist das das Richtige. Leider ist man durch das Nachlassen der
Spannung bald genötigt die Buchsen zu überdrehen. Dadurch wird
sofort die Kraft des Schlages gegen das Widerlager so stark, daß
trotz der Polsterung desselben der Wurfarm leicht bricht. Des-
halb hat sich eine Anordnung des Widerlagers unter 7ö" vor-
teilhafter herausgestellt, als unter 67^2 Grad zur Horizontale.
Die Anordnung der Spannwelle und des Angriffspunktes des Spann-
seiles muß ungefähr der Zeichnung entsprechen ; liegt der Angriffs-
punkt mehr nach dem Drehpunkte zu, wird die Kraft zum Spannen
vergrößert, liegt er entfernter davon, stören sich Seil und Schleuder.
Die Anordnung des Spannrahmens wäre theoretisch richtig
wie sie im Bilde dargestellt ist mit Schrägstellung der Ständer
unter 45^, wenn daß Reißen des Holzes in Richtung der Maserung
nicht berücksichtigt werden müßte. Dieses Reißen zwischen Bohr-
loch und Außenseite ist aber in diesem Falle höchst wahrscheinlich,
vor allem wenn man bei größeren Geschützen gezwungen ist, um
das Gewicht nicht zu sehr zu erhöhen, den Schwellen außerhalb
des Spannrahmens, wo sie dem Drucke der Spannsehnen nicht aus-
gesetzt sind, möglichst kleine Abmessungen zu geben.
Ferner beansprucht die Herstellung schräggestellter Ständer
eine viel schwierigere Bearbeitung des Holzes, so daß man auch
aus diesem Grunde annehmen kann, daß die Ständer einfach senk-
recht gestellt wurden. Das bedingt zwar eine Schwächung des
rückwärtigen Ständers durch den Einschnitt für den Bogenarm,
die sich aber durch etwas stärkere Abmessungen desselben und
Eisenbeschlag wieder ausgleichen läßt.
Die mutmaßliche senkrechte Anordnung der Ständer zeigt
268
E. Schramm,
1 : W.
*V\Mvzfu:(um\tufie dUunb^^^^.vna^ 2teö Ji^ahAruno
Bild 5.
Bild 5. Bei kleineren Geschützen ließ man vermutlich auch die
Ausbiegung nach unten weg, so daß das auf der Tafel dargestellte
Geschütz entsteht ^).
Stimmt nun diese Konstruktion des Einarmes mit der Be-
schreibung des Ammianus Marcellinus XXIII, 4 vom onager?
Der Text dieser Beschreibung lautet:
Scorpionis autem, quem ap- Der Skorpion aber, welcher
pellant'nunc onagrum, huiusmodi jetzt onager genannt wird , hat
forma est. Dolantur axes duo quer-
nei vel ilicei curvanturque me-
diocriter, ut prominere videan-
tur in gibbas, hique in modum
serratoriae machinae connectun-
tur, ex utroque latere patentius
folgende Form. Zwei eichene
oder steineichene Schwellen wer-
den bearbeitet und mäßig so ge-
rundet, daß sie sich in Buckeln
zu erheben scheinen, diese wer-
den nach Art einer Säge ver-
1) Die^Tafeln, aus „die antiken Geschütze der Saalburg 1917" entnommen,
sind von der Saalburgverwaltung kostenlos überlassen worden, wofür auch hier
der beste Dank ausgesprochen wird.
Movctyxwv und onager.
269
perforati; quos inter per caver-
nas funes colligantur robusti com-
pagem, ne dissiliat, continentes.
Ab hac medietate restium
lignens stilus exsurgens obliquus
et in modum iugalis temonis e-
rectus ita nervorum nodulis im-
plicatur, ut altius tolli possit et
inclinari ; summitatique eins unci
ferrei copulantur, e quibus pen-
det stuppea vel ferrea funda.
Cui ligno fulmentum prosternitur
ingens, cilicium paleis confertum
minutis, validis nexibus illiga-
tum^). Et locatur^) super con-
gestos caespites vel latericios ag-
geres. Nam muro saxeo huiusmodi
moles imposita disieetat, quid-
quid invenerit subter, concussione
violenta, non pondere.
Cum igitur ad concertatio-
nem ventum fuerit, lapide rotundo
fundae imposito quaterni altrin-
secus iuvenes repagula, quibus in-
corporati sunt funes, explicantes
retrorsus stilum paene supinum
inclinant ; itaque demum sublimis
adstans magister claustrum, quod
totius operis continet vincula,
reserat malleo forti percussum;
unde absolutus ictu volucri stilus
et mollitudine offensus cilicii
bunden, auf beiden Seiten mit
großen Löchern versehen. Zwi-
schen ihnen sind durch die Löcher
starke Taue gezogen, welche das
Gestell zusammenhalten, daß es
nicht auseinanderfalle.
Mitten in diesen Seilen er-
hebt sich schräg ein Holzarm
nach Art einer Wagendeichsel
aufgerichtet, und so in den Seh-
nenknäuel eingefügt, daß er auf-
gerichtet und gesenkt werden
kann. An seiner Spitze werden
eiserne Haken befestigt, von de-
nen eine hänfene oder eiserne
Schleuder herabhängt. Diesem
Holze wird ein Widerlager ent-
gegengesetzt, ein mit kleinge-
machter Spreu vollgestopftes
Haar tuch, das mit starken Stricken
befestigt ist. Man stellt es
auf eine Rasenziegel- oderZiegel-
maner, denn stellt man ein sol-
ches Ungetüm auf eine Bruch-
steinmauer, so zerstört es durch
die Erschütterung, nicht durch das
Gewicht, alles Unterliegende.
Kommt es zum Kampfe, wird
ein runder Stein in die Schleuder
gelegt und 4 junge Männer auf
jeder Seite drehen die Welle, um
die das Tau geschlungen ist, und
ziehen den Arm weit nach rück-
wärts (fast horizontal), dann erst
löst der Geschützmeister, von er-
höhtem Standpunkte zur Seite,
den Eiegel zur Verbindung mit
dem Geschütz durch kräftigen
Hammerschlag, worauf der Arm,
1) Punkt statt Komma gesetzt.
2) locatur statt locatum gesetzt nach I^ Sehn.
270 ■^- Schramm,
saxum contorquet, quidqaid in- durch den schnellen Schlag frei-
currerit, collisurum. geworden, indem er auf das
elastische Haartuchkissen auf-
schlägt, den Stein fortschleudert,
der alles zerstört was er trifft.
Et tormentum quidem ap- UndTorsionsgeschützwirdes
pellatur ex eo, quod omnis expli- deshalb genannt, weil alle seine
catio torquetur; scorpio autem, Kraft aus der Torsion hervor-
quoniam aculeum desuper habet geht, Skorpion aber, weil es
erectum ; cui etiam onagri voca- einen aufrechten Stachel hat ; die
bulum indidit aetas novella ea Neuzeit gab ihm auch den Na«
re, quod asini feri, cum venati- men Waldesel weil die wilden
bus agitantur, ita eminus lapides Esel, auf der Jagd verfolgt, hinten
post terga calcitrando emittunt, ausschlagend Steine mit solcher
ut perforent pectora sequentium Kraft rückwärts schleudern, daß
aut perfractis ossibus capita sie die Brust der Verfolger durch-
ipsa displodant. bohren oder selbst ihre Schädel
zerschmettern.
Die naive Beschreibung und namentlich das „ne dissiliat" werden
dem braven Ammian zum Vorwurf gemacht. Man kann aber auch
ohne hervorragende technische Kenntnisse ein tüchtiger Soldat
sein. Wort für Wort der Beschreibung stimmt auf das vorbeschrie-
bene einarmige Geschütz. Die Langschwellen, die Buckel an dem
Spannrahmen, die Bohrlöcher für das horizontale Spannsehnenbündel,
der Wurfarm, die eiserne oder hänfene Schleuder, das Widerlager
mit einem mit Spreu wohlgestopftem Haartuchkissen, das mit Seilen
an dem Holze des Widerlagers festgebunden ist.
Ammian hat sich bemüht seinem Leserkreise die Sache so an-
schaulich als möglich zu machen. Wie bei der Handsäge der
Knebel, steckt der Bogenarm in dem Sehnenbündel. Wenn man bei
der Handsäge den Knebel herauszieht, kann man sie ganz ausein-
andernehmen, das hat ihm bei dem Ausdrucke: „Damit sie nicht
auseinanderfalle" vorgeschwebt.
Daß die drei rekonstruierten onager den Eindruck von Säge-
böcken machen, war jedenfalls nicht beabsichtigt. Übersetzt man,
wie Schneider, serratoria machina mit Dreschmaschine, so stimmt
die Rekonstruktion, wenn man die Eäder wegläßt, die ja nur zum
Transport da sind und beim Gebrauche abgezogen werden können,
wie bei unseren älteren Mörsern.
Absichtlich ist bei jedem der 3 onager die Spannvorrichtung
etwas anders konstruiert worden um zu zeigen,' daß es zweifellos
verschiedene Konstruktionen derselben gegeben hat.
MovctYxtov und onager. 271
Ammian schreibt, daß an der Spitze des Schleuderarmes eiserne
Haken befestigt waren. Vielleicht war das nur bei Verwendung
eiserner Schleudern nötig. Eiserne Haken wurden mit eisernen
und hänfenen Schleudern ausprobiert. Nach wenigen Schüssen
zerbrach regelmäßig der Bogenarm, selbst bei Umwickelung des-
selben mit Eisenblech oder geleimten Stricken. Alle entsprechenden
Holzarten wurden probiert; Eschenholz hat sich am besten be-
währt. Schließlich wurde der eiserne Haken ganz weggelassen,
der Arm hielt und die Schußweite vergrößerte sich. Eine eiserne
Einlage für die Kugel in die Hanfschleuder hat sich als günstig
herausgestellt. Auch das würde der Beschreibung entsprechen.
Ammian schreibt ferner, daß der Greschützmeister von erhöhtem
Standpunkte mit einem Hammerschlage den Schuß löste. Der Ab-
zug lag bei einem onager von doppelter Größe wie das große Saal-
burggeschütz auf 2ni Höhe über dem Boden. Man mußte also
auf ein Podium treten, um ihn mit dem Hammer zurückschlagen
zu können. Das Abziehen mit der Leine, das der Gefahr wegen
nur seitlich erfolgen konnte, zog den Wurfarm seitlich aus der
Richtung. Der Hammerschlag brachte den Wurfarm nicht aus
seiner Richtung, war leichter und bequemer. Beim Schlage auf
die rechte Schwelle des Geschützes zu treten war zu gefährlich
und deshalb ein Auftritt nötig.
Nachrichten von der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften zu Oötting.
Phil.-hist. Klasse 1918, Heft 2 (Schramm).
en.
Nachncnten von der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen.
Phil.-hist Klasse 1918, Heft 2 (Schramm).
Onager nach Ammianus Marcellinus
/ Längsschnitt , 2 Ansicht von der Seite, 3 von Oben , ^ von Tunten,
5 Spann- n.Äbzugsvorrichtunff t-^
r*^ . , . f
Maßstab 1:W
RICHTCriÄ: &EP3ER.METZ
RICHTER* 6ERBER,M£TZ
Die böotische Betonung.
Von
Eduard Hermann.
Vorgelegt in der Sitzung vom 14. Juni 1918.
Von der Betonung des Böotischen haben uns die Alten keine
Nachricliten hinterlassen. Meister konnte daher in seinen Grriechi-
schen Dialekten I, 213 fg. auch nur ein paar oxytonierte Eigen-
namen zusammenstellen und daraus den Schluß ziehen, daß die
böotische Mundart in der Betonung nicht mit dem Lesbisch-Aoli-
schen zusammengegangen sei. Einen wirklichen Einblick in die
böotische Betonung haben wir erst erhalten, seitdem Papyrusblätter
aus dem 2. Jahrhundert v. Chr. zwei Gredichte der Korinna ans
Tageslicht gefördert haben. Ihr erster Herausgeber, v. Wilamo-
witz, hat in den Berliner Klassikertexten V, 2, 42 fg. die Akzent-
zeichen der Papyrusblätter vermutlich mit Recht sofort für das
Böotische in Anspruch genommen und die Betonung richtig als
zwischen der attischen und dorischen liegend bezeichnet. So küm-
merlich nun auch die Überreste sind, möchte ich doch die böotische
Akzentuation noch etwas genauer, so weit es möglich ist, festlegen.
Bei den ÜSTachrichten über dorische Betonung sowie in den
akzentuierten Papyrusrollen, die dorische Verse enthalten, finden wir
neben Echtdorischem gelegentlich die Betonung der Koine. Wenn
nun der Korinnatext eine Akzentuation aufweist, die nur in ein-
zelnen Fällen von der attischen abweicht, könnte man auf deu
Gedanken kommen, daß nur die Abweichungen sicher Echtmund-
artliches enthalten. Ein solcher Gedanke scheint mir nicht be-
rechtigt zu sein. Ich will natürlich nicht behaupten, daß die Be-
tonung der Koine dem Schreiber nirgends eine Form seiner Aus-
sprache der Betonung in die Finger diktiert hätte, aber im großen
Kgl. Ges. d. Wiss. Nachrichten. Phil.-hist. Klasse. 1918. Heft 3. 18
274 Eduard Hermann,
ganzen scheint mir die Überlieferung des Papyrus Echtes zu ent-
halten, dazu ist die Akzentuation in sich zu folgerichtig. Wir
wollen deshalb einmal den Versuch machen, die überlieferte Ak-
zentuation der Korinna überall zu verstehen.
Die Drittletzte wird im allgemeinen ebenso betont wie im
Attischen, dafür liefern Beispiele 1,29 y^d[d]6xtog, 2,68 7C8Ö[oxo]g^
2,76 noxiddcovog, 2, 132 nkdtr}[av], 2,85 dr}^6v[666iv], 1,29 [I6]vjtri0i,,
2,81 TG)V£K, 1,18 S^slfS^, 1,90 ÖÖQOVÖSV, 1,20 haTtOV, 1,27 SKOÖ^iOV^
2,97 Fado[iiri], 2, 107 J'ddo^t] ts, 2,98 tvccvo^t], 2,62 söyEvvdöovd'', 2,63
Kae^oyd-iq. Auch das Hemagesetz scheint geherrscht zu haben;
denn wir lesen: 1,6 (povXov, 2,5& ^vßog, 1, 30 [%aXs7c]riaLv, 2,6 ötr[f],
1,22 aQd'sv. Eine Ausnahme machen nur l,i9 ^667], 2,84 X6v[6ov]r
2,114 Fadüäv.
Für 1166Y1 hat v. Wilamowitz an die dorische Betonung TcaCöeg
erinnert. Wenn meine Ausführungen über die dorische Betonung
IE 38 richtig sind und im Böotischen das Hemagesetz einmal
bestanden hat, kann diese Anknüpfung nicht richtig sein. Wir
haben im Dorischen sogar Fälle, die dem böotischen ^(höri noch ähn-
licher zu sein scheinen, z.B. TtQdvai^ und doch liefern, wie ich
glaube, diese vom Attischen abweichenden Betonungen des Dori-
schen keine Parallele für das Böotische. Wohl aber stehen avsi-
Qo^svai u. a. mit ^coöt} auf einer Stufe.
Wie ich IE 38 auseinandergesetzt habe, beruhen dyxvQaL^
avsiQo^svai usw. auf analogischer Einwirkung des Akzents des
Dativs und Akkusativs Pluralis. Ebenso wird ^coörj zu erklären
sein. Weil man ^60i^g^ ^66ag sprach, änderte man ^aüTj in /ic&öi^
um. Wir werden vermuten dürfen, daß die Maskulina sich ent-
sprechend verhielten, d. h., daß z. B. nach dd^icjv, dd^vg, dd^cag der
Nominativ dä^iv zu ddfiv geworden war. Ja, man wird die weitere-
Vermutung wagen dürfen, daß die Maskulina bei diesem Ausgleick
den Femininen vorausgegangen sein werden, weil bei ihnen da-
durch der ganze Plural in seiner Betonung einheitlich wurde. Ob
man auch die Proparoxytona unter den Nominativen der Maskulina^
und Feminina nach den beiden ersten Deklinationen zu Paroxy-
tonen umgestaltete, wie das im Dorischen mit ccvd-QaTCOL, äynvQai
geschah, können wir nicht wissen, weil in dem Korinnatext keine
derartige Form belegt ist. Wie dem aber auch sein mag, analogi-
sche Veränderung des Akzentes werden wir im Böotischen jeden-
falls wegen fi(6(?)^ anzuerkennen haben.
Wenn nun böotisch ii^ari auf Analogie beruht, liegt es nahe^
auch bei dorisch zgdvai an Analogie zu denken und in der erör-
terten Akzentveränderung des Böotischen einen dorischen Einschlag
Die böotische Betonung. 275
in dieser Mundart zu vermuten. Das wäre aber doch verkehrt.
Manche der dorischen Formen mit mundartlichem Akut auf der
Vorletzten lassen sich nicht gut als Analogiebildungen verstehen,
so vdeg und wohl auch die Infinitive dfivvai, auf die doch kaum der
Akzent der Infinitive des Mediums oder der Partizipien eingewirkt
haben wird. Für das Dorische bleibt eben nichts andres als die
Annahme übrig, daß das Hemagesetz nie wirksam gewesen ist.
Im Böotischen war das aber anders, vorausgesetzt, daß man Ovßog,
q)ovXov als dialektecht anerkennen will.
Mit der Betonung fadsiäv hat es seine besondere Bewandtnis.
V. Wilamowitz hält sie a. a. 0. S. 35 für falsch , S. 44 für rätsel-
haft, 'wenn die Länge nicht etwa besagen soll, daß das -av so
lang war, daß es den Zirkumflex verbot'. Ich meine, ein Versehen
ist dabei ziemlich ausgeschlossen; der Schreiber müßte sich dann
schon zweimal versehen haben. Das Längezeichen auf dem ä spricht
deutlich genug. Länge und Kürze werden in unsrem Text ja
nur aus besonderen Grründen bezeichnet. So steht ziemlich häufig
über V der Strich, um zum Ausdruck zu bringen, daß hier v für
attisch OL steht. Umgekehrt trägt ödxQov % über dem ov das
Zeichen der Kürze; denn ov war im Attischen und in der Koine
lang. Der Strich über a in fadsCccv war also bei derartiger Schreib-
weise, die für einen der Mundart nicht mächtigen Leser berechnet
war, sehr angebracht, vorausgesetzt, daß dieses a lang war : denn
die Länge steht im Gegensatz zu der Messung im Attischen und
in der Koine. Paroxytonon und Länge stützen sich aber gegen-
seitig, also sind beide richtig. Wir haben demnach aus dieser
Schreibung zu lernen, daß im Böotischen die Feminina zu Adjek-
tiven der w-Stämme nicht mehr auf -ta, sondern auf -lä ausgingen.
Di^ Kürze des Nominativs und Akkusativs war also verdrängt
durch die Länge des Genetivs und Dativs. Eine Länge von außer-
gewöhnlicher Art, nämlich eine, die zur Kürze hinneigt, ist dem-
nach nicht darin zu suchen, sondern die gewöhnliche zweimorige
Länge der (X-Stämme.
V. Wilamowitz ist geneigt, das ohne Akzent überlieferte yriav
2, 78 auch zu akuieren. Ich weiß nicht, ob das richtig ist. Wenn
man die Betonung von 2, 132 niutri[av\ als echt gelten lassen will,
wird man vorsichtiger sein müssen. Man soll nur nicht vergessen,
daß die Analogie Schritt für Schritt wirkt; gegen diese Grund-
wahrheit wird leider nur gar zu häufig verstoßen. Dieses lang-
same Umsichgreifen der Analogie werde ich an andrer Stelle in
größerer Ausführlichkeit behandeln. Hier sei nur deswegen mit
18*
276 Eduard Hermann,
besonderem Nachdruck kurz darauf hingewiesen , weil v. Wilamo-
witz für 1, 22 (allerdings aus andern Gründen) auch hdttov fordert.
Daß hattov zu schreiben ist, lehrt 1,2? sxöö^iov. Mit dem
ehemals auslautenden -t hat der dorische Akzent in iXsyov u. a.
nichts zu tun, sondern beruht auf Analogiebildung, s. IF 38.
Dagegen ist mit Recht der Singular ^layov im Dorischen propa-
roxytoniert. Die im Korinnatext überlieferten Akzente sind sehr
wohl zu verstehen. Im Böotischen hat die Analogie eben nicht so
weit um sich gegriffen wie im Dorischen oder hat andre Wege
eingeschlagen, so wie in iiaörj.
In dem Akzent von 2,84 k6v[öov] steckt aber nicht etwa eine
— unverständlich bleibende — Analogiebildung ; hier war vielmehr
die erste Silbe im Böotischen, wie wir hieraus lernen können, kurz,
also die Kürze, nicht der Akzent war analogisch eingeführt. Da-
gegen läßt sich über 1,46 ä6[6ov], falls es richtig ergänzt ist (Crö-
nert liest c^<?(% . .), kein bestimmtes Urteil fällen, weil man ebenso-
gut an analogische Betonung wie an Kürze denken kann.
Was das merkwürdige iitLr 2,77 für etceixo, anlangt, so ist es
vielleicht erlaubt, an die von Hirt IF 16, 88 und genauer von
Vendryes MSL 13, 218 fg. für s^oiya gegebene Erklärung anzu-
knüpfen. Wie bei fester Komposition aus siioC + ys durch das
Hemagesetz erst *Biiotys werden mußte, das dann im Attischen
in s^OLys umschlug, gleich iQfjiiog in egrj^og, so würde stcsC, mit toj
verknüpft, *E7tslra ergeben haben, das im Attischen weiter zu
äTtsita wurde. Auffällig ist allerdings, daß wir im Gregensatz zu
igfj^og usw. nichts von einer außerattischen Akzentuation bei ejtsLta
wissen. Aber vielleicht darf man sich darüber hinwegsetzen, ho-
merisches sTtEixa würde ja auch äolisch sein können ; wir vermissen
also nur jonisches "^BTtEixa und dorisches *a7CsCxa. Dabei darf man
jedoch nicht vergessen, daß die Betonung von ^Tcsita bisher ziem-
lich im Dunkeln geblieben war. Für die Richtigkeit meiner Ver-
mutung könnte noch elta sprechen, das den bei eTtsita vermißten
Zirkumflex aufweist. Diese Auffassung scheint mir vor der Wacker-
nagels (Beiträge zur Lehre vom griech. Akzent 15) den Vorzug
zu verdienen. Böotisches h%Cta käme bei meiner Hypothese leicht
unter, es würde eine erst nach dem Wirken des Hemagesetzes
vollzogene Komposition darstellen so wie ovts usw.
V. Wilamowitz erwähnt noch als etwas Besonderes S. 43 die
Stellung des Akuts auf dem ersten Vokalzeichen eines Diphthongs.
Er meint damit vermutlich 2,98 7Cavo[fi't^] , lu fadiiäv, so ovtavj
«4 [li\a[vto6]övvcD, 55 XQatovvi, 140 (pMvQ[ivo], 58 x6v:tQLS, 84 I6v[0ov],
1,29 [X6]v7cri6i, 2,64 t' äreiQcoT (= t^ äystgcx) t). Es ist aber unge-
Die böotische Betonung. 277
nau zu sagen, daß die Stellung des Akuts auf dem ersten Vokal-
zeichen der guten Praxis entspreche. Genau genommen ist ja
beides unrichtig, der Akut auf dem ersten wie der auf dem zweiten
Zeichen. Da beim Akut der Ton von Anfang bis zum Ende an-
steigt, müßte der Strich über die beiden Zeichen gesetzt werden.
In der Tat zeigt auch das Facsimile auf der Tafel VII Berl. Klass. V
ganz deutlich, daß der Akut in einigen der genannten Fälle nicht
nur auf dem ersten Vokalzeichen steht, sondern sich über beide
erstreckt, und zwar bei XQato'vvi, xovJCQLg, '^4x[Qri](pslv, fadfiäv, (pi-
ldvQ\ivo\ , der Akut wurde also ebenso wie der Zirkumflex z. B.
1,6 (povXov in guter Praxis über die zwei Vokalzeichen gesetzt.
Daß diese Schreibung nichts mit einer absonderlichen Betonung zu
tun hat, geht zur Grenüge auch daraus hervor, daß sowohl echte
wie unechte Diphthonge den Akut auf dem ersten Vokalzeichen
tragen. Und es ist nicht etwa so, daß der Strich nur aus Flüch-
tigkeit über die beiden Vokale geraten ist. Denn da jeder Vokal,
der kein Akzentzeichen trägt, den Gravis hat, wäre z. B. X6v6ov
so viel wie Xövöov, das wäre aber nichts anderes als Xövöov. Daß
daran gar nicht zu denken ist, ergibt sich aus Ttdvo^i], ^avtoöövvcj
usw. Wie in unserm Text wird denn auch in andern Papyris der
Akut häufig auf beide Teile des Diphthongs gesetzt, oder er steht
scheinbar nur auf dem ersten.
Eine besondere Eigentümlichkeit des Böotischen scheint nach
V. Wilamowitz die häufige Doppelakuierung eines Paroxytonons
vor einem Enklitikon zu sein, s. Meillet MSL 16, 51 fg. Belegt
ist sie dreimal in 1, le [t\DcvC}td vlv, 2, 48 [ovjjtd;«' avto , wobei
die Enklise des avto Erwähnung verdient, und in 2,89 dthcgov x'.
Nach den Lehren der alten Grammatiker wurde sonst nur ein
trochäisch ausgehendes Paroxytonon so behandelt. Wie das zu
verstehen ist, hat Wackernagel durch eine glänzende Kombination
erkannt (Beiträge zur Lehre vom griechischen Akzent, 24 f.) ; da-
nach ist Ev^'d ol aus ivd-d ol umgebildet. Da die Grammatiker
auch die Betonung oq)Qd rot lehren, die bei dem Momentanlaut (p
nicht auf älterer Schleiftonigkeit der ersten Silbe beruhen kann,
und ferner vor den mit <J^- beginnenden enklitischen Formen des
Personalpronomens der dritten Person auch ein nichttrochäisches,
d. h. jedes Paroxytonon doppelt akuiert wird, könnte es nahe lie-
gen, für das Böotische eine weitere Verallgemeinerung des Doppel-
akuts auf einem Paroxytonon, das vor einem Enklitikon steht,
anzunehmen. Ich glaube aber doch nicht, daß damit das Richtige
getroffen wäre.
In der Koine gibt es ja auch noch ein paar andre Fälle der
278 Eduard Hermann,
Doppelakuierung, das sind 3ttC (loi, xiitte (le usw., die Wackernagel
a. a. 0. 25 richtig aus der alten Enklise des zweiten Teils erklärt
hat. Dieselbe Erklärung paßt nun auch auf ovTtöx a\)to und wahr-
scheinlich auch auf zccvUd vlv. Hier wird doch wohl -xa enklitisch
angetreten sein wie in 8xa, aXloxa, ccötUa. Diese Wörter verraten
die Zusammensetzung durch die Betonung tavCxa avtCna gegenüber
üXkoTta. Sie enthalten, wie ich vermute, dasselbe -t- wie ohto^C,
böot. toit usw., rav- ist dann Akkusativ zum Ausdruck der Zeit-
erstreckung. Diese Erklärung setzt sich allerdings in Widerspruch
mit der Perssons IF 2,251 (vgl. R. Meister IE 25,315), der in
taviKcc die Partikelform 7ii sucht. Aber auch, wenn Persson recht
haben sollte, könnte man die Doppelakuierung von ravCKcc viif ver-
stehen, und zwar aus dem Wheelerschen Gesetz. Wegen xYivi^dds
vermutet Wheeler (S. 94), daß die Barjtonese in tYjvLTca infolge
des daktylischen Rhythmus entstanden ist. TavCxa vlv könnte dann
die ältere und jüngere Betonung zusammengeschmiedet haben, in-
dem sich zunächst noch tavLxä viv hielt, später aber wegen tavCxa
zu ravLxd viv wurde. Mag man die erste oder die zweite Deutung
vorziehen, in beiden Fällen bleibt nur noch dd%Qov ts übrig, das
mit o(pQcc rot ganz auf einer Stufe steht. Danach würde also das
Böotische nicht jene sonderbare Betonung eines Paroxytonons vor
einem Enklitikon zeigen, die von allem sonst Bekannten abwiche.
Wenn übrigens in dem Pindarpapyrus Oxyrrh. Pap. V, S. 40, Z. 44
svd^d IIB und an der von Meillet herangezogenen Alkmanstelle [il^tC
ng steht, kann das kaum echt dorische Betonung sein ; denn wenn
im Dorischen das Hemagesetz nie geherrscht hat, wird auch die
Doppelbetonung trochäischer Paroxytona, die uns nur als Folge
des Hemagesetzes verständlich ist, nicht üblich gewesen sein. Die
jetzt vermehrten Beispiele doppeltbetonter Paroxytona, die niemals
den Schleifton getragen haben können, lehren aber, daß diese Ak-
zentuierung doch mehr als eine Schrulle der Grammatiker sein
wird, worüber Wackernagel noch im Zweifel war. Bemerkenswert
ist nur, daß bcpQa bloß solange trochäisch war, als Mata mit Li-
quida noch Position bildete. Demnach muß die Doppelakuierung
vor einem Enklitikon stehender Paroxytona älter sein als die
Veränderung der Silbengrenze bei Muta + Liquida, d. h. älter als
Homer.
Ohne Belang für die Sprachwissenschaft ist die Betonung des
Dativs Eycovov^oi. Wilamowitz hat sich darin geirrt, daß sie be-
sonders wichtig sei. Für den Akzent ist -ol jedenfalls lang, mag
es aus -(OL gekürzt oder alte Lokativendung sein. Beide Endungen
hatten Schleifton, vgl. oYxol gegenüber ohoi, und galten darum
• Die böotische Betonung. 279
für die Betonung als lang. Zur Entscheidung der Frage, wie das
böotische -ot im Dativ entstanden ist, trägt also unsre Form
nichts bei.
Über d^og brauchen wir uns den Kopf nicht zu zerbrechen,
da sich der Akut als Spiritus asper entpuppt hat und «fidg zu
lesen ist. — Die Setzung eines Gravis in Nichtschlußsilbe 1, 24 Kl-
^ijQcov, 2,85 dij^öveöötv, 2,6o hvvi!, 2, io4 dlä bedeutet keine Über-
raschung, da in einigen Papyris sogar jede unbetonte Silbe den
Gravis erhält. Das Besondere könnte wie ander^^ärts sein, daß
hier lediglich die vor der Haupttonstelle des Wortes stehende Silbe
den Gravis trägt, Gegenbeispiele sind nicht vorhanden.
Schließlich sei darauf hingewiesen, daß die Oxytona vor dem
folgenden Wort ihren Akut nicht immer in den Gravis verwandeln
sollen. Das würde allerdings glatt erklärt werden können, vgl.
Wackernagel a. a. 0. 6 fg. Aber die von v. Wilamowitz genannten
Beispiele halten der Kritik nicht ganz stand. 1,4 xoQddg steht
nicht nur am Versende, sondern vielleicht auch am Ende eines
Satzes, es kann also gar nicht mitzählen. 2,49 d'tdg behält seinen
Akzent mit Recht, wenn, wie vermutet wird, t darauf folgt. Es
bleibt nur 2,78 [f]dv übrig, das nach einer Vermutung Crönerts
RhM 63, 174 gemäß dem fccdolfirj] 2, 97 als [/jav zu lesen ist.
Wir können also, wie ich gezeigt zu haben hoffe, über die
Schwierigkeiten der böotischen Betonung Herr werden. Wenn wir
zurückblicken, werden wir erkennen, daß eine besonders große Ähn-
lichkeit mit der dorischen Betonung nicht vorliegt, sondern daß,
abgesehen von verschiedenen Einzelheiten, ungefähr die Betonung
des Attischen üblich war, daß aber wie im Dorischen durch System-
zwang die Analogie manches Altere aufhob.
Demnach . dürfte man vielleicht annehmen, daß das Dreisilben-
gesetz schon urgriechisch war, daß das Hemagesetz sich aber nur
auf die jonisch-attischen und vielleicht auch die achäischen Mund-
arten erstreckte, das Dorische aber nicht mit umfaßte. Im Lesbi-
schen haben das Dreisilben- wie das Hemagesetz alle Wörter er-
faßt, d.h. sie haben jeden älteren näher am Wortende liegenden
Akzent beseitigt. Im Attischen vollzog sich ein Kampf mit dem
Dreisilbengesetz, der beim Nomen zumeist mit dem Sieg des alten
Akzents endete. Das Böotische und das Dorische scheinen hierin
dem Attischen nahegestanden zu haben. Das Attische blieb dann
im ganzen bei dieser Betonung. Im Böotischen dagegen durch-
brach die Analogie das Hemagesetz , dem sich übrigens auch im
Attischen jüngere Zusammensetzungen mit einem Enklitikon wie
280 Eduard Hermann, Die böotische Betonung.
Tovdds nicht mehr zn fügen hatten. Im Dorischen setzte sich die
Analogie wie im Mittel- und Neugriechischen über das Dreisilben-
gesetz hinweg.
Anders liegt aber die Situation, wenn die Überlieferung des
Akzents im Korinnatext nicht soviel Vertrauen verdient, als ich
ihr vermutungsweise im Obigen geschenkt habe. War etwa nur
li667] dialektecht, tpovXov aber nicht? Galt etwa im BÖotischen
das Hemagesetz so wenig wie im Dorischen? Dann wäre wohl
auch die Betonung öccxqov z nicht echt; denn nur im Hemagesetz
findet sie ihre Erklärung. Wahrscheinlich kommt mir das nicht
vor. Immerhin können erst^ weitere akzentuierte böotische Texte
Sicherheit geben.
Etymologisches.
Von
Eduard Hermann.
Vorgelegt in der Sitzung vom 14. Juni 1918.
1. Qqdiog.
Boisacq sagt Yon Qadiog Dict. 831 'sans parente en dehors du
grec'. Dieses Urteil stammt von Wackernagel (Vermischte Bei-
träge 14), der uns gezeigt hat, daß hom. qia, Qsta, äol. ßQä als
'^fQä[0]a aufzufassen ist. Soll die hier zutage tretende Wurzel
*fQä6- etwa. so, wie wir das in letzter Zeit von gar manchem
griechischen Wort gelernt haben, von den nichtindogermanischen
vorgriechischen Bewohnern Griechenlands entlehnt sein? Das ist
gleich auf den ersten Blick höchst unwahrscheinlich wegen der
Bedeutung des Wortes, der mancherlei Ableitungen, die man von
der Wurzel kennt: Qea, QaÖLog, qo:(ov, QrfttsQog, Qac^co, und wegen
des indogermanischen Aussehens.
*/p«[^]oj scheint gebildet zu sein wie xQvg)cc, fidXa, odcpa u. a.
Man darf daher in Qä Tiefstufenvokalismus f vermuten. Das führt
darauf, fQüa- an ai. varsman- 'Höhe', lit. virsztis 'das Obere', ab.-
vrhc}n> 'Höhe', ahd. riso usw. anzuknüpfen, die Hirt Ablaut 127
unter der Basis '^'^ueres- vereinigt hat. Es bedarf nur der An-
nahme, daß es neben **weres die schwere Basis ^'^iieres gegeben habe,
um fgäö- als Tief stufenform idg. *tifs- zu verstehen. Die Bedeu-
tung von *%ieres wird 'heben, erheben' gewesen sein, */pä[(jJ« war
also 'hebbar' und erinnert an levis 'leicht' neben leväre 'heben^
erleichtern'.
Zu einer schweren zweisilbigen Basis, aber ohne -5-, d. i. **uere,
gehört auch hom. ccTCrjVQcc, äjtovQÜg, während aus einer wieder an-
282 Eduard Hermann,
ders gebildeten leichten Basis ädQo und hom. ä7t6sQ6s herzuleiten
sind. Alle diese Basen werden in der Bedeutung 'heben' vereinigt.
.Qadiog liefert also neben ccTtrivQä ein weiteres Beispiel für die
Lautentwicklung f > qü , während sich gco immer deutlicher als
Hochstufe oder analogische Bildung für qü = f herausstellt. Da-
mit gesellen sich zu den Beispielen für diese mit Unrecht be-
strittene Lautentwicklung (vgl. Jahresber. phil. Ver. Berlin 40,
140 fg.) zwei sehr erwünschte isolierte Fälle.
Die richtige Zusammenstellung der Wörter gadtog usw. hat
schon Prellwitz Etym. Wörterb. ^ 393 gegeben, aber ohne sich auf
die Einzelheiten der Bildung einzulassen.
2. nöa.
W. Schulze hat att. noä, jon. TtoCrj^ dor. Tto^ä Quaest. ep. 45
Anm. 2 mit lit. peva 'Wiese' verknüpft. Eine weitere Beziehung
ist bisher nicht aufgedeckt worden. Sucht man bei Brugmann
Grdr. ^ II, 1, 207 unter den Suffixen -uä, so ist allerdings nicht
leicht ein Leitmotiv herauszufinden, eine gemeinschaftliche Bedeu-
tung wird nicht ersichtlich; die einzige Bemerkung, die weiter
führen kann , steht S. 624. Hier wird mit Bezug auf S. 205 litt.-
lett. -ava als Sufiix für Ortlichkeitsnamen angeführt. Leskiens
Bildung der Nomina im Litauischen S. 346 fg. läßt aber erkennen,
daß nicht nur -ava, sondern auch schon -va als derai:tiges Bedeu-
tungselement betrachtet werden muß. Man findet hier : dirvä 'Acker',
uppiü grewa 'Flußbett', halva 'Hügel', maiva 'Sumpf in einer Wiese',
narva 'Bienenzelle', revä 'Steinkluft', stovä 'Stelle', urva 'Höhle'.
Demnach sind die Wörter auf -ava sekundäre Bildungen , wie ja
auch ohne weiteres ersichtlich ist, sekundäre Bildungen, die erst
auf Grund solcher wie der obengenannten möglich waren. Man
vergleiche auch abulg. glava, niva und die Wörter auf -ava, s. Von-
dräk, Vgl. sl. Grr. 1, 410. Es ist also rätlich, auch bei peva nicht
von der üblichen Bedeutung des griechischen Wortes: 'Gras', son-
dern von der des litauischen auszugehen. Dann ergibt sich aber
leicht Verknüpfung mit lit. pemu 'Hirtenjunge', dessen ehemaliger
Diphthong in dem finnischen aus dem Litauischen entlehnten paimen
deutlich sichtbar ist, und mit gr. tcoliiyjv. Die Bedeutung von
peva ist darum von Haus aus 'Weideplatz', woraus dann 'Wiese'
geworden ist. Dieselbe Bedeutungsentwicklung liegt im Griechi-
schen vor. 'Weideplatz' haben wir Homer l 449 zu übersetzen,
wo Polyphem zu dem Widder sagt : dlXä %okv jtg&Tog vefisccc tsqsv
.Mvd'sa TtoCrig naxQa ßißdg, Tcgcbtog de Qoäg TCotan&v ätpixdvsig, da-
Etymologisches. 283
gegen 'Wiese' z. B. Xenoph. Hellen. IV, 1, 30 : 'AyriöCkaog xul ol
%eQl avtbv tQLaxovta xaiial iv %6a xivX JcaraTisC^svoL ccve^svov und
Plutarch Agesil. 36: cog dh iagav . . . ävd'QcoTtov TCQSößmrjv zuta-
KsC^svov SV xLvv Ttöcc jtaQCi f^v d-dXaödav. Des weiteren ist dann
erst die Bedeutung 'Futterkraut', 'Grras' entstanden.
Zu den genannten "Wörtern gehört auch noch lit. pisa 'Herde',
das Leskien a. a. 0. 221 in sonderbarer Verkennung des handgreif-
lich Richtigen in pes-a zerlegt. In der Tat aber enthält pesa das
Suffix -sa, das auch in andern litauischen Wörtern vorkommt, die
gewissermaßen KoUektiva eines Nomens agentis sind, /jesa ist
'das Weidende, die Herde', wie s^vesä 'das Leuchtende, das Licht',
gaisa 'das Scheinende, der Lichtschein', lett. rusa 'das rot Seiende,
der Rost' ist. Dieselbe Bedeutung hat -sä schon von urindoger-
manischen Zeiten her besessen, wie lat. terra aus ^tersä 'das trocken
Seiende, die Erde', lixa 'das Fließende, das Wasser', aisl. eisa 'das
Brennende, die feurige Asche', hussa = gr. %vC(5ri 'das Dampfende,
der Fettdampf usw. lehren. Interessant ist dabei der in -ä steckende
Kollektivbegriff, weil sich hieran gerade die Schmidtsche H3rpo-
these von dem aus einem Kollektivum entstandenen Neutram Plu-
ralis auf -ä besonders hübsch verfolgen läßt. Gerade weil Nomina
agentis zugrunde liegen, läßt sich hier auch für uns Deutsche leicht
die Neigung der kollektiven Bedeutung zum Neutrum hin nach-
fühlen. Wollen wir die in pesa steckende Bedeutung 'weidend*
wiedergeben, so können wir im Deutschen nur das Neutrum 'Wei-
dendes, das Weidende' anwenden. Auf der andern Seite vermag
diese Erkenntnis Solmsens Vermutung (Beiträge griech. Wortf.
244 fg., KZ 42, 227) zu stützen, daß die Wörter auf -sos von Haus
aus Nomina agentis waren. Von dem Kollektivum aus ist dann
leicht die Brücke zu den Abstrakten auf -sä gefunden wie abulg.
Icrasa 'Schönheit', lit. tamsä 'Dunkelheit', ai. hhäsä 'Sprache', ahd.
wisa 'Kenntnis, Weise' usw.
3. inaQY],
Man hat früher ybagr} 'Hand' mit {lagTCta 'erfasse' zusammen-
gebracht. Davon ist man abgekommen, seitdem man es mit lat.
manus zusammenstellt. Man kann aber mit letzterer Etymologie
einverstanden sein, ohne erstere abzulehnen. Allgemein gilt wohl
die Überzeugung, daß ^ccQTttco und ai. mars 'anfassen, berühren'
zusammengehören. Beide stimmen aber nur in den ersten drei
Lauten überein. Damit kommt man auf eine Basis **mer 'erfassen'.
Hierzu stellt sich (iccqyi sehr einfach als 'Greif erl' mit einer Be-
284 Eduard Hermann,
deutungs entwicklung ähnlich wie bei lit. ranlä Hand gegenüber
renkü ^sammle auf oder gr. ayo6t6g 'Hand' gegenüber äysCgm (s.
Solmsen Beitr. gr. W ortf . 1 6). Das a in ^idQri, ^aQTttcj läßt sich als
Günterts 92 auffassen. Will man auch manus damit verknüpfen,
so hat man von einer Basis mit einer nasalen statt einer liquiden
Erweiterung auszugehen. Wiederum kann a auf 92 zurückgehen,
desgleichen aber auch u von ahd. munt. Möglich ist, daß man
statt **me-r und **f«e-w vielmehr *'^a77te-r und **ame-n oder mit
anderem anlautenden Vokal anzusetzen hat, das erlaubt dann lat.
ansa u. a. anzuknüpfen, vgl. Walde Über älteste Beziehungen zw.
Kelten u. Italikern 43 Anm. 2 und Persson Beiträge idg. Wort-
forsch. 1 fg.
4. vnaQ.
Die Etymologie von vitag ist eigentlich längst gefunden, sie
steht bei Johannsson BB 14, 163 und bei Prell witz ^ 333 fg. Sie
hat aber keinen Glauben gefunden. Boisacq urteilt 1002 kurz:
Etymologie obscure. Es verlohnt darum, die bereits gefundene
Etymologie so zu begründen, dg^ß ihre Einfachheit und Wahr-
scheinlichkeit auch erkannt wird.
vTcaQ ist das Gegenstück zu oVc^^. Das sollte man nicht be-
zweifeln, sein Gebrauch zeigt es ja nur gar zu deutlich. Bei Homer
kommt es nur zweimal vor, beide Male in Verbindung mit ovag:
T 547 o'hK ovaQ, äXX' vjtaQ iöd-Xöv, o tot xsrsXeö^svov eörac und
V 90 x^'^Q% ^^^^ o^;c ig)dfi7]v övojp s^fiEvat, cclX^ vjtaQ i]d7]. Auch in
späterer Zeit erscheint das Wort vorzugsweise in derselben Ver-
bindung, ich nenne: Aischylos Prom. 486: tcccxqcvcc TCQ&rog hl ovsi-
gdtav ä %Qii vtcccq ysvBOd-ai, Pindar Ol. 13, 66 fg. £| ovsIqov d' av-
tCxa ^v v:taQ^ Plato Eep. 382 e und Phileb. 65 e ovO-' vicag ovts
i)vaQ, Phileb. 36 e ovrs drj 6Vc^() ovO'' vTtccg, Phaidros 277 e ro yäg
äyvostv vTCag xs ^al ovaQ, Theait. 158 b itsgl tov ovag ts aal vjtag,
158 d Ttotsgöv sotuv VTtag tj ovag, Politikos 277 d klvövvsvel yäg
Yiii&v £}ia6tog olov ovag sidcog a%avta av %dXiv^ cjöTCsg vTtag dyvoslv,
278 e IW VTtag dvx' bveCgatog r^itv ylyvritai, Eep. 576 b söxi ds Ttov,
olov ovag dLTJXd-o^sv, bg äv vTtag toLovtog ri, vgl. 574 e, Briefe 319 b
vTcag dvT bvsCgaxog ysyovsv, Demokrit (Diehls Vorsokr. B 17) y.al
VTtag xal ovag, Libanios Reden 62, § 66 vjcag ovag loyi^o^svog rd-
Tcovg, Heliodor Aith. 2,16 xal sl'd's ys vTtag ^v xal ^rj ovag, Plu-
tarch Moralia 565 B oxa xb vTtag äv sIltj xov ovsCgaxog ivagysöxsgov.
Die Fülle dieser Belege lehrt, daß vTtag wirklich der Gegen-
satz zu ovag ist und daß das Wort ganz besonders in der Ver-
bindung mit seinem Oppositum in der Sprache lebte, wie ja auch
Etymologisches. 285
Photios vTtag als ccX7]d^sLa ovx iv övsCgip interpretierte. Dabei ist
zu beachten, daß sehr häufig, darunter an den beiden Homerstellen,
gerade die mit vjtccQ reimende Form 'övaQ, nicht ein andrer Kasus
gebraucht ist. Das aber liefert alle nur wünschenswerte Klarheit
für die Etymologie. Nichts liegt näher als in diesem Gegensatz
auch die Entstehung des Wortes vitag zu suchen. Danach muß
vütag mit rein griechischen Sprachmitteln gebildet sein und vTt-
als V7c6 'unten, darunter' der Gregensatz zu ov-, das für dvd 'darauf
steht, sein. Daraus folgt weiter, daß jene Griechen, bei denen
vTcaQ aufkam, das Wort ovccq volksetymologisch mit der Präpo-
sition ov- zusammenbrachten. Das konnten aber nur solche Griechen
sein, bei denen 6v- gebräuchlich war. Zu diesen gehörten, soviel
wir sehen, nur die achäischer Mundart, ob einmal auch die andern
Griechen sie besessen hatten, wissen wir nicht. Somit wird es
sehr wahrscheinlich, daß v:caQ aus der äolischen Sprache Homers
herstammt und von da aus seinen Weg in die griechische Lite-
ratur gefunden hat. Das Wort hatte also für den Griechen der
nachhomerischen Zeit einen poetischen Beiklang, so verstehen wir
auch, daß es sich so lange in der Verbindung mit öi^c^^ gehalten
hat. Daran kann man wieder einmal lernen, daß sich die Analogie
nur schrittweise ausdehnt. Das Wort vTtag macht eben gar keine
rechten Anstalten, ein eigenes Leben zu führen, es braucht noch
lange die Anlehnung an sein Oppositum ovag.
. Diese volksetymologische Zerlegung des Wortes ovag zeigt
sich aber auch noch an etwas anderem. Hesych bewahrt uns die
Glosse avaiQov ' ovslqov KQfjtsg auf. Hier sehen wir die Anknüpfung
an die Präposition ja ganz deutlich. Das cc des Diphthongs «t ist
dabei natürlich aus einer Kontamination von ovccq und ovslqov ent-
standen.
Die Bedeutung der Gegensätze övc^p, vTcag hat Prellwitz be-
reits in die richtigen Worte gekleidet : ^vTtag bezeichnet den wirk-
lichen Kern im Gegensatz zum darüber befindlichen, vergänglichen
Schein und Traum'.
Noch etwas anderes gilt es dabei festzuhalten: vtckq ist in-
deklinabel. Auch das ist aus ovag heraus zu verstehen, ovccg kommt
ja nur als Nominativ und Akkusativ sowie adverbial 'im Träum'
vor. Die andern Kasus werden von ovsLQog, ovsLgov gebildet; zu
denen dem Sprachgefühl nach auch ovsLgatog u. a. gehört haben
werden. Genau so wie ovag ist vitag im Gebrauch: als Nominativ
und Akkusativ sowie adverbial 'in Wahrheit', darüber hinaus sind
Kasus von vTtag nicht gebildet worden. Wiederum ein Wink, wie
die Analogie wirkt : sie macht keine Sprünge, sondern geht Schritt
286 EduardHermann,
für Schritt voran. Erst ganz spät hat man gewagt, xccd'^ v^a^
zu sagen, wie man auch xar' öi/a^ sagte, so Matthäusevangelium
1, 20 ayyeXog KvqCov xar" ovag iq^dvrj avrö. Also beide Adverbien
hat man später gleichmäßig verändert, man sieht wiederum, wie
stark die beiden zusammenhängen.
Höchst interessant ist dazu die Bemerkung des Phrynichos
(ed. Lobeck 421, Rutherford 494) : zcct^ ovao ' noXenov 6 icavi'no^
^riiLod^ivovg xov QiqxoQog sixöva xaXxfjv iv ^AöxXriJttov rov iv Ueg-
ydiifp tfi Mv6i(f äva%^8ig STcdyga^ev snCygan^a tOLÖvds ' ^rj^oöd'svri
IlaioLVLBa TloXs^cav Tcat ^vag, ädoTa^cotätG) tö %ax ovag %gi]0d^6vog,
G)(57teg yäg xad'^ vTtag ov kiyaxai dXX^ vjtag, ovxcog ovdh xax ovagy
dXX' ^rot ovag idhv tJ s^ bveCgov oipsag. Lobeck hat an der ge-
nannten Stelle eine Zahl von Belegen für dieses von Phrynichos
als unattisch gerügte xax^ ovag zusammengetragen. Die Sammlung^
enthält Beispiele nur aus späterer Zeit, wie auch 7cad'\ vjcag erst
spät aufkommt.
So geht also der Parallelismus zwischen ovag und vTtag durch
die ganze griechische Literatur hindurch. Offenbar war dabei lange
auch die adverbiale Bedeutung der beiden Wörter deutlich im
Sprachbewußtsein, erst die Verbindung mit xaxd zeigt, daß sich
das später geändert hat. Vielleicht war auch der Ausgangspunkt
gerade der adverbiale Gebrauch gewesen, Formen wie dq)ag, avxdg^
äxdg, ydg konnten es dem griechischen Sprachgefühl nahe legen,
in ovag {vitag) ein Adverbium zu suchen, das nur gelegentlich auch
als Substantivum gebraucht wird, aber natürlich der Deklination
entbehrt.
5. dxOfjaai,
Boisacq 735 und Prellwitz ^ 347 sind geneigt, 6i%-fi6aL zu ^^O-og-
zu stellen. Diese Etymologie scheint mir ganS: unmöglich zu sein.
Die Bedeutungen der Wörter passen gar nicht zu einander, s^d-og^
braucht man von dem tödlichen Haß, besonders von der aus der
Blutrache stammenden Feindschaft, 6%^Yi6ai ist nur 'unwillig, un-
wirsch, aufgebracht werden', die beiden Wörter unterscheiden sich
in dem G-rad so wie der Orkan und der Wind, sie können also
nicht zusammengehören. Auch die Form scheint ihre Verbindung
zu verbieten. Wenn ich mit Recht s%%^og von der Präposition s^
ableite (GGN 1918, 223 fg.), darf man nicht eine dazu ablautende
Bildung in 6%^i]0ai suchen; denn s%%^og^ h^Q<^S nsw. werden erst
im Griechischen entstanden sein.
öx^y^^ai hat man vielmehr an ax^og, äxd^ofiai anzuknüpfen, de-
ren Bedeutungen 'Kummer' und 'unwillig sein' sich eng an die
Etymologisches. 287
von b%^Yi6m anschließen. Des weiteren gehören dazu äxw^ai, %o-
[lai 'unwillig sein' und ccxog * Verdruß, Schmerz'. Nun bedeuten
aber ccx&og, äxd-o^ccL außerdem auch noch 'Last' und 'belastet sein'.
Welche dieser Bedeutungen die älteste ist, läßt sich leicht ver-
muten: doch wohl die anschaulichere 'Last'. Danach hat sich aus
1) 'Bürde' entwickelt: auf der einen Seite 2) 'physischer Druck',
d. i. 'Schmerz', auf der andern 3) 'psychischer Druck', d. i. 'Kummer'
und weiter 4) 'Unwille'. Daneben steht weiter aus 3) entwickelt
'Furcht' im Germanischen und Keltischen; denn wir werden got.
agis 'Furcht', unagands 'furchtlos', air. aichthi 'furchtbar', ferner
got. og und air. ägor 'fürchte' nicht beiseite lassen dürfen. Von
der Bedeutung 'Bürde' aus sind auch got. aglus 'schwierig', usagljan
'bedrängen' ausgegangen.
Eine gewisse Schwierigkeit könnte der Vokalismus bereiten;
denn Grüntert wird IF 37, Ifg. damit recht haben, daß a nicht in
Ablaut mit o stand. Aber wieder Güntert kann uns da aus der
Verlegenheit helfen mit seinem Schwa secundum. Wir werden
von einer Wurzel "^ogh auszugehen haben, die in dx^rj^ca, agis,
aichthi vorliegt ; die Dehnstufe dazu steckt in og, ägor ; d2 haben
wir in ^O-og usw. zu sehen. Die Neutra auf -os haben sonst al-
lerdings meist die Hochstufe, daneben gibt es aber auch tiefstufige,
vgl. Brugmann Grundr.^ IE, 1, 516. Tiefstufe in axw^iai ist selbst-
verständlich, s. Brugmann - Thumb. 337; äxonccL, ax^oiiau werden
sekundäre Bildungen sein. Vielleicht hat man aber auch in axvv-
liai eine Umbildung zu sehen, falls Güntert Ablautprobl. 24 fg. für
92 im Griechischen wegen des folgenden v mit Recht Entwicklung
zu i fordern sollte. Jedenfalls lassen sich die Wörter auch nach
der formellen Seite hin ohne Schwierigkeit mit einander verbinden,
wie sie ja auch schon früher, z.B. von Leo Meyer, allerdings unter
Vermischung mit Falschem , mit einander verbunden worden sind»
Ein aegyptischer Vertrag über den Abschluss einer
Ehe auf Zeit in demotischer Schrift.
Von
Kurt Sethe.
Hierzu eine Tafel.
Vorgelegt in der Sitzung vom 28. Juni 1918.
I.
Spiegelberg hat im J. 1909 in der Aeg. Ztschr. 46, 112 ff.
ein demotisches Ostrakon aus dem Ende der Ptolemäerzeit , im
Besitze der Wissenschaftlichen Gesellschaft zu Straßburg, veröf-
fentlicht, das in den Kreisen der Rechtshistoriker berechtigtes
Aufsehen erregt hat, enthält es doch eine Rechtsurkunde ganz
eigener Art, einen Vertrag über die Schließung einer Ehe auf
kurze Zeit, oder, wie Spiegelberg es (wir werden sehen, in ge-
wissem Sinne richtig) nannte, einer Probeehe.
Durch E. Rabel, der sich für das Stück lebhaft interessierte,
auf die Probleme, die es bot, hingewiesen, habe ich die Urkunde
seit längerer Zeit nicht aus den Augen verloren und immer wieder
von Zeit zu Zeit vorgenommen. Dabei lichtete sich das Dunkel,
das über dem merkwürdigen Texte lag, zwar allmählich in ein-
zelnen Punkten, aber die eigentliche Pointe blieb verborgen, bis
mir die soeben erschienene ausgezeichnete Arbeit von Greorg
Möller, Zwei aegyptische Ehe vertrage aus vorsai' tischer Zeit
(Abhandl. der Berliner Akademie 1918, Phil.-hist. Kl. Nr. 3) durch
einige treffende Bemerkungen, die der Verfasser unserer Urkunde
widmete, Anlaß gab, die Sache nochmals zu durchdenken. Dabei
fand ich des Rätsels Lösung. Der letzten Hindernisse, die sich
dem Verständnis in einigen nebensächlichen Punkten noch in den
Kurt Sethe, Eia aegypt. Vertrag über d. Abschluß einer Ehe auf Zeit etc. 289
Weg stellten, Herr za werden und den Wortlaut des Textes
lückenlos zu gewinnen, gelang mir erst angesichts des Originales,
das mir Spiegelberg mit der freundschaftlichen Bereitwilligkeit,
durch die er mich so oft schon zu Dank verpflichtet hat, darch
Vermittlung der Straßburger Landesbibliothek zum Studium nach
Gröttingen senden ließ.
Nach Spiegelbergs Lesung und Deutung des Textes sollte
in (ier Urkunde ein Gränsezüchter Psenmin (Psenminis) für 5 Mo-
nate eine Frau Tamln zur Ehefrau nehmen, indem er für sie ein
Frauengeschenk (Morgengabe) von 4 Silberlingen (80 Silberdrach-
men) in zwei Tempeln deponierte und mit ihr vereinbarte, daß
dieses Greld an ihn zurückfallen solle, falls sie ihn vor Ablauf
der 5 Monate verlasse und in ihr Haus zurückkehre, dagegen ihr
zustehen und ausgezahlt werden solle, falls er seinerseits sie inner-
halb der genannten Frist von sich gehen lasse.
Möller wendet nun in seiner erwähnten Arbeit (S. 24) gegen
Sp iegelb er gs Definition der Sache als Probeehe ein, eine solche
könnte doch nur den Zweck haben, „die Fruchtbarkeit der Frau
vor dem Eingehen einer dauernden Bindung zu prüfen". Dann
würde, meint er, der Schreiber aber wohl klar und unbedenklich
geschrieben haben: „bist du am 1. Choiak des Jahres 17 (der Ter-
min, mit dem die angegebene Frist von 5 Monaten ablief) nicht
schwanger, so lasse ich dich gehen, und das Geld verfällt dir"
d.h. zu deinen Grünsten. Gegenüber Mitt eis' Bemerkung (Grund-
züge der Papyruskunde S. 204) aber, daß in der Urkunde ein ehe-
liches Verhältnis begründet werde, das der Vollehe diametral ge-
genüber stehe, müsse ausdrücklich festgestellt werden, daß der
Vertrag die beiden Kennzeichen der Vollehe trage, insofern die
Frau zur Ehefrau erklärt werde und eine Morgengabe erhalte,
wenn diese auch vorerst für sie nur deponiert werde. Möller
meint (wie wir sehen werden, mit vollem Recht), es würden per-
sönliche Verhältnisse besonderer Art vorgelegen haben, die dem
Ehemann verboten, der Frau eine längere Dauer der Ehe in Aus-
sicht zu stellen. Er sieht in der Sache also einen singulären Aus-
nahmefall.
Mir war es seit langem klar, daß die Lösung des Rätsels von
einer Bemerkung des Urkundentextes in Z. 17/18 (Rs. 2/3) ausgehen
werde, die bisher nicht richtig verstanden worden ist. Dort ist
nämlich nach meiner Lesung und Deutung, die beide ganz sicher
sind (s. u.), von einem Eide die Rede, den die Frau dem Manne
geleistet habe „betreffs jenes Menschen, von dem" er sie „getrennt
habe". Das kann m. E. nur so verstanden werden, daß es sich
Kgl. Ges. d. Wiss. Nachrichten. Phil.-hist. Klasse. 1918. Heft 3. 19
290 KuTt Sethe,
Din eine Frau handelt, die sich von ihrem ersten Mann, ob es nun
ihr Ehegatte oder nur ihr Liebhaber war, geschieden hat und nun
ihrem zweiten Manne einen Eid über ihr Verhältnis zu dem ersten
geleistet hat.
Nachdem nun Möller (übrigens ohne Kenntnis der richtigen
AuJÖPassung der kritischen Stelle) richtig die Frage der Schwanger-
schaft als den springenden Punkt erkannt hat, um den sich die
Sache drehen müßte, wenn es sich wirklich um etwas wie eine
Probeehe handeln sollte, ward mir sogleich klar, worauf sich der
erwähnte Eid der Frau bezogen haben wird. Grewiß hat sie ge-
schworen, daß sie mit dem ersten Manne entweder überhaupt nicht
oder nicht mehr in der letzten Zeit geschlechtlich verkehrt' habe,
jedenfalls aber daß sie kein Kind von ihm unter dem Herzen trage.
Ist das aber richtig, so wird die Bemessung der Frist für die
neue Ehe auf 5 Monate seltsam. Was man erwarten sollte, wäre
9 Monate oder allenfalls auch 10, wenn dieselbe vorsichtige Praxis
wie im römischen und im modernen bürgerlichen Rechte ange-
wendet sein sollte ^). Das erstere, 9 Monate, steht nun in der Tat
auch da, wenn man das Datum, das den Anfang der Frist bezeich-
net, richtig liest. Spiegelberg las „Jahr 16 Monat 3 der Som-
merjahreszeit Tag 1", also den 1. Epiphi. Nichts hindert aber^
stattdessen „Monat 3 der Winter Jahreszeit Tag 1" d. i. den 1.
Phamenoth zu lesen, wodurch das Datum um 4 Monate zurück-
gerückt wird. Die Schreibungen für die 2. und die 3. Jahreszeit
des aegyptischen Kalenderjahres 2?^(.Q „Winter" und smw „Sommer'^
1) Die Höchstdauer der Scliwangerschaft wird bekanntlich auf rund 280
Tage = 40 Wochen = 10 Mondmonate = 9 Sonnenmonate berechnet. Die mo-
dernen Rechte geben der Frau eine Frist von 300 Tagen nach der Beendigung^
der Ehe für die Geburt eines als ehelich anzuerkennenden Kindes. Daß die
Aegypter im bürgerlichen Leben mit 9 Monaten rechneten, was bei der Natur
ihres Kalenders (Jahr von 365 Tagen) zu erwarten ist, geht aus einer aegypti-
sehen Textstelle hervor, deren Kenntnis ich einer freundlicLen Mitteilung Möllers
verdanke. Auf dem aus römischer Zeit stammenden Sarge Berlin 17043 (aus den
Ausgrabungen von Abusir el Melek) heißt es in einem Totentexte : „o Osiris NN
deine Mutter ist schwanger geworden mit dir, sie gebiert dich" <cz> ^'^ ^ O
„bis zum 1. Tage des 10. Monats". Wenn dagegen, worauf mich gleichfalls
Möller hinweist, in dem Isistexte von der Insel los (C. I. Gr. 12, fasc. 5, 1,
S. 217, Z. 22) die Göttin von sich sagt: iyat yvvai^l 8Biiäyir\vov ^gicpog ivira^oc,
so ist das weniger aegyptisch als griechisch gedacht, vgl. SsTtafiriviciLov ßgicpog
„ein 10 Monat alter, im 10. Monat stehender Foetus" Plut. Numa; yvvi} yivst St-^
xd/Lirjvos „das Weib trägt 10 Monate lang" Menand. bei Gell. Noct. att. 3, 16.
Der griechische Kalender beruhte ja auf dem Mondjahr, und auf den Mondmonat
bezieht sich ja auch die Bezeichnung der naTcciirjvicc.
Ein aegyptischer Vertrag über den Abschluß einer Ehe auf Zeit etc. 291
sind einander dermaßen ähnlich, daß man immer wieder in Zweifel
gerät, was denn eigentlich gemeint sei, wenn man nicht Beispiele
für beide Worte in einer und derselben Urkunde nebeneinander
hat, sodaß eine Vergleichung ermöglicht ist. Der eine Schreiber
schreibt pr{.t) so, wie der andere smw. Was in unserm Texte steht,
hat tatsächlich eine Form, die man nicht nur jederzeit auch pr{.t)
lesen darf, sondern bei der diese Lesung, wie Spiegelberg jetzt
selbst zugibt (brieflich), sogar die paläographisch näher liegende ist.
Die Dauer unserer Probeehe — um eine solche handelt es sich
also wirklich, wenn auch in anderem Sinne als man erwartete —
ist demnach auf die Zeit vom 1. Phamenoth (7. Kalendermonat)
des Jahres 16 bis zum 1. Choiak (3. Kalendermonat) des Jahres
17 festgesetzt und somit auf 9 Monate oder, da die Epagomenen
in diese Zeit fallen, auf genau 275 Tage bemessen. Kommt die
Frau in dieser Zeit nicht nieder, so wird die provisorische Ehe
in eine definitive umgewandelt werden. Das ist im Texte zwar
nirgends gesagt, ist aber offenbar die stillschweigende Voraus-
setzung der ganzen Abmachung. Und noch etwas anderes muß
dabei, so seltsam es auch scheinen muß, vorausgesetzt sein, wefln
es sich um eine Probeehe zu solchen Zwecken handeln soll : die
neuen Ehegatten müssen wenigstens für die ersten Monate der
Ehe auf den natürlichen Greschlechtsgenuß verzichtet haben, wenn
anders das Ganze seinen mutmaßlichen Zweck nicht verfehlen
sollte.
II.
Ich lasse nunmehr den Text der Urkunde, wie er sich jetzt
darstellt, in Umschrift^) und Übersetzung folgen und verweise für
das demotische Textbild auf die Tafel. Das Faksimile, das sie
bietet, beruht auf einer nach Spiegelbergs Publikation von mir
hergestellten Pause, die durchweg nach dem Original berichtigt
wurde. Ein Lichtdruck würde an den ohnehin ganz deutlichen
Stellen nicht mehr als Spiegelbergs erste Lesung, die als solche
vortrefflich war, zeigen, an den minder deutlichen Stellen, an denen
Spiegelberg damals noch nicht die endgültig^ Lesung gefunden
hat und auf die es jetzt gerade ankommt, aber nichts ergeben.
1) Die demotische Schrift umschreibe ich im Unterschied zu Spiegelberg^
da, wo sie historisch schreibt, was bekanntlich meist der Fall ist, auch historisch,
lautlich hingegen nur da, wo sie wirklich rein lautlich, unhistörisch, schreibt. Das
hat den großen Vorteil, daß der Kenner der aeg. Sprache (und für den ist doch
nur die Umschrift berechnet) sogleich erkennen kann, was dasteht.
19*
292 Kurt Sethe,
Umschrift.
a) Vorderseite.
1. hU-sp 16 ihd 3 pr{.t) ssw 1
2. Pi'Sr-{n')mn si ffnsw-dhwtj pi min.w ipd
3. pi ntj dd n Ii{'\i>)'mn U (t«^) Pi(iii>.ymnt pij hd wdh (1) J2 r
(= irj-n) sttr lO.t r (= Irj-n) M wdh 2 'w
4. ntj wih-j dj,t st n-t m-hih H.t-hr (3) pij hj hd wdh 2 r {= irj-n)
sttr lO.t
5. r (= Irj-n) hd wdh 2 "n ntj wih-j dj.t st (3) n-t m-hih R.\.ty
ti.wj (4) r (= irj-n) hd wdh 4 r (= Wj-n) sttr 20. t
6. r (= irj-n) hd wdh 4 'w ntj wih-j dj.t st n-t m-hih m ntr,w
s-hm.t.w
7. mtW't ^pr n pij-j \wj (hi) iw-t mtw-j n hm.t n-tij-n (H-'sjit) pi-hrw
(nooY)
8. hi.t-sp 16 Ihd 3 pr(.t) ssw 1 r-hn-r hi.t-sp 17 Ihd 4 il>{.t) ssw 1
iw-f J^pr
9. Iw sm{-t) n-t (5) r pij-t \tvj (hi) iw hn-pw-t ij (ei)i) r ihd 4
ibi't) ssw 1
10. n pij-j \wj (hi) mtw-t mh pi hd wdh 4 (n) hht (6) ntj sh hrj
iw-f (7) hpr
11. iw inJc pi ntj wih (8) dj.t sm-(t) n-t iw hn-pw-t ij (ei) r ihd 4
ij^{.i) SSW 1
12. mtw-j mh pi hd wdh 4 ntj sh hrj mtw-t (9) wih-j mh-w r
13. d.t m rd.w (n) Pi'Sr-{n-) inp (10) pi shj.tj (11)
14. p] rd (13) mtw-j tm dj.t hn-f (13)
15. r.hr-t (epo)
b) Rückseite.
16. iw hn^) tw-j (14) m-si-t n 'wj n s-hm.t in (e^n)
17. m-si pj 'wj ntj wih-t ir-f n-j r (15) pi rmt (16) ntj wih-j
18. prd-f Wm-t (17) m-si (18) pi 'w^
19. n pi w''b{-t) n pij-j \wj (hi) (19) r ir-f (30) n-j n hj hrw
1) Unter dem Zeichen für '.j „kommen" in Z. 9 und dem Zeichen für 6n
^nicht" in Z, 16 steht im Original noch ein einzeln dastehender Füllpunkt, wie
er bei diesen und andern sich horizontal in die Länge erstreckenden Zeichen
häufig (vgl. die Schreibungen derselben beiden Worte in Z. 11, sowie sm „gehen"
in Z. 9, \ivj „Haus" in Z. 7. 10. 19, ink „ich" in Z. 11, p von prd in Z. 18, mn
von Fi-mnt in Z. 3), aber keineswegs regelmäßig zu stehen pflegt (vgl. &n in Z. 9,
sm in Z. 11). In den genannten beiden Fällen ist dieser Punkt bei Herstellung
der Zinkätzung für die Tafel durch Schuld der technischen Anstalt weggefallen
und konnte in der Reproduktion nicht wieder hergestellt werden.
Ein aegyptischer Vertrag über den Abschluß einer Ehe auf Zeit etc. 293
Übersetzung.
a) Vorderseite.
1. Jahr 16, Monat 3 der Winter Jahreszeit (Phamenoth), Tag 1.
2. P-sen-min, Sohn des Chens-dhowt, der Gänsehirt,
3. ist es, der sagt zu Ta-min, Tochter des Pa-mont: „Jene 2
(voll)ausgegossenen (1) Silberlinge, — macht 10 Statere, macht
2 vollausgegossene Silberlinge wiederum — ,
4. die ich dir gegeben habe vor (der Gröttin) Hathor (2), (und)
jene andern 2 (voll)ausgegössenen Silberlinge, — macht 10
Statere,
5. macht 2 (voll)ausgegossene Silberlinge wiederum — , die ich.
dir gegeben habe vor (der Göttin) R\t-ß.tvj (4), (das) macht (zu-
samnien) 4 (voll)ausgegossene Silberlinge — macht 20 Statere,
6. macht 4 (voll)ausgegossene Silberlinge wiederum — , die ich
dir gegeben habe vor den Göttinnen.
7. Du wirst in meinem Hause sein, indem du mir eine Ehefrau
bist, von heute,
8. Jahr 16, Monat 3 der Winterjahreszeit (Phamenoth), Tag 1
bis zum Jahre 17, Monat 4 der Überschwemmungsjahreszeit
(Choiak), Tag 1. Wenn es geschieht,
9. daß du weggegangen bist (5) in dein Haus, bevor du gekom-
men bist zum Monat 4 der Überschwemmungsjahreszeit (Choiak),
Tag 1
10. in meinem Hause, so wirst du die 4 (voll)ausgegossenen Sil-
berlinge von früher (6), die oben geschrieben sind, (zurück)-
zahlen. Wenn (7) es geschieht,
11. daß ich es bin, der dich hat (8) weggehen lassen, bevor du
gekommen bist zum Monat 4 der Überschwemmungsjahreszeit
(Choiak), Tag 1,
12. so werde ich (dir aus)zahlen (lassen) die 4 (voll)ausgegossenen
Silberlinge, die oben geschrieben sind, die (9) ich bereits ge-
zahlt habe
13. in die Hand der Vertreter (oder Beauftragten) des P-sen-anüp
(10), des Geldwechslers (11),
14. des Vertreters (d. i. des Treuhänders) (12). Und ich werde
ihn sich nicht nähern lassen (13)
15. dir (d. h. keine Forderungen an dich stellen lassen).
b) Rückseite.
16. Ich bin (14) aber nicht hinter dir in bezug auf (d. h. ich habe
von dir nicht zu fordern) einen Frauenspersonen-Eid
294 Kurt Setho,
17. außer dem Eide, den du mir bereits geleistet hast betreffs
(15) jenes Menschen (16), den ich
18. von dir getrennt habe (17), (sowie) außer (18) dem Eide
19. de(ine)r Reinigung in bezug auf mein Haus (19), der mir zu
leisten ist (30) an einem andern Tage".
Kommentar.
1. Zu diesem Ausdruck, dessen Lesung und Übersetzung un-
sicher ist, der aber jedenfalls irgendwie die YoU Wertigkeit der
Münze bezeichnen muß, s. Griffith, Ryl. III 270 note 4, der
dort den Beweis lieferte, daß die ältere Lesung dbn „Pfund" un-
möglich ist.
2. Das ergänzende Praedikat zu diesem und dem koordinierten
Parallelausdruck ist sicherlich in der Summier ung ;, macht (zu-
sammen) 4 Silberlinge" (Z. 5) zu suchen, vgl. „was aber den Hori-
zont der Sonnenscheibe betrifft von der südlichen Stele bis zur
nördlichen Stele, gemessen zwischen Stele und Stele, so macht das
(irw-n) 6 Schoinoi und 179 Ellen" Davies, Amama 5, pl. 28,
S. 18.
3. st im Original deutlich, wenn auch verblaßt, erhalten.
4. Neue Lesung von Spiegelberg, die er demnächst in der
Aeg. Ztschr. begründen wird. Hathor und die ihr wesensähnliche
B\t-U.wj, die in Hermonthis zu Hause ist, sind vielleicht in ihrer
Eigenschaft als Gröttinnen der Liebe und der Mutterschaft zu Zeu-
ginnen der Greldzahlung gewählt.
5. Man könnte an sich zweifeln, ob so zu ergänzen ist oder
*w{-t) sm „daß du gehst". Für die perfektische Fassung spricht
der Satz in Z. 11, der von der entsprechenden Tat des Mannes
redet. Auch daß der Schreiber in Z. 7 richtig iw-t und in Z. 11
ebenso unrichtig sm(-t) geschrieben hat, spricht gegen die Ergän-
zung iw't sm ^). In Verbindung mit dem futurisch gedachten „wenn
es geschieht" entspricht das Perfektum uns erm Futurum exactum:
aeg. „wenn es geschieht, daß du gegangen bist" = deutsch: „wenn
du gegangen sein wirst". Vgl. Spiegelberg, Erbstreit S. 52, III.
6. IiLt „früher" (antea) findet sich wie hier als mutmaßlich
genitivischer Zusatz auch sonst gern bei Greldbezeichnungen, z. B.
;,du hast mein Herz zufriedengestellt mit ihm (dem Pachtzins) in
1) Die Weglassung des Suffixes 2. f. sg. t bei sm an beiden Stellen dürfte
mit der Ähnlichkeit, die das Determinativ des Gehens mit einem t hat, zusammen-
gehangen haben.
Ein aegyptischer Vertrag über dea Abschluß einer Ehe auf Zeit etc. 295
0-eld von früher (M hi.ty Kairo 30615,7; „15 Artaben Weizen,
davon ab Greld von früher zu meinen Lasten heute = 11 Artaben,
bleiben 4 Artaben" Kairo 30615.14; vgl. auch: „du hast mir ihn
(den Pachtzins) gegeben in Geld von früher als heute {hd hi.t
pl-hnvY Kairo 31079, 18/9. 30613,11. Überall handelt es sich da-
bei um eine Darlehensschuld. Vielleicht soll auch an unserer Stelle
das für die Frau deponierte Geld, das sie gegebenenfalls zurück-
zahlen soll, als ein solches Darlehen hingestellt werden.
7. Iw in Resten erhalten.
8. Der Ausdrucksform wlh-j sehn „ich habe gehört^, „habe
bereits gehört", eigentlich „ich bin fertig mit Hören" = altkopt.
^d^i-cui-rü , die unser Text so gern mit dem Relativwort ntj ver-
bunden gebraucht (Z. 4 — 6. 12. 17) ^), entspricht hier ein ntj ivlJi sdm
„welcher bereits gehört hat", das die Bedeutung eines alten Part,
act. perf. hat. Es ist offenbar das Prototyp des achmim. e-r-ö.^-
ciu-Tü., für das ich Aeg. Ztschr. 52, 112 eben eine solche Entste-
hung postuliert habe. Daß dieser letztere Ausdruck mit e-r-d^g^-
im Kopt. nur auf den Dialekt von Achmim beschränkt ist und daß
unser Ostrakon, das in Luksor gekauft wurde, in den Namen der
beiden Kontrahenten P-sen-min („der Sohn des Gottes Min") und
Ta-min („die des Gottes Min") Beziehungen zu einem Orte, der
dem Gotte Min diente, also Achmim oder Koptos, zu verraten
scheint, ist ein merkwürdiges Zusammentreffen. Man könnte da-
nach auf den Gedanken kommen, daß wir in unserer Urkunde, die
sich in dem oben belegten Gebrauch des perfektischen Hülfsverbums
tvlh im Relativsatz mit ntj merklich von der übrigen Masse der
demotischen Urkunden aus Memphis, dem Faijum, Theben, Gebelen
und Edfu unterscheidet, das älteste Denkmal des achmimischen
Lokaldialektes zu erblicken hätten. Dagegen spricht jedoch der
von Spiegelberg gelesene Name der Göttin R\f-t'.wj, der ebenso
wie der Personenname Pa-mont eher auf die Umgegend von Er-
ment (Hermonthis) als eigentlichen Herkunftsort des Ostrakons
schließen läßt. Die mit Min gebildeten Personennamen finden sich
in griechisch-römischer Zeit tatsächlich auch ebenso in der Um-
gegend von Erment, in Gebelen wie in Theben, nicht selten, sind
also damals keineswegs auf die eigentlichen Kultorte des Min be-
schränkt gewesen.
9. Das mtiV't (n-re), das hier steht, muß, wie Spiegelberg
bereits sah, eine Verschreibung für das Relativ wort ntj sein, das
der Zusammenhang mit Notwendigkeit fordert. Vielleicht verrät
1) Anderweitig, soviel ich weiß, bisher noch nicht belegt.
296 KvLTt Sethe
sich in dieser Fehls chreibung die Aussprache, die das Relativwort
in der Verbindung mit dem Hülfszeitwort wih-j damals noch hatte,
etwa *ente-ha'i.
10. Man kann zweifeln, ob das r-d.t m rd.w (n) P3-^/*-(w-)mp
„in die Hand der Vertreter des P-gen-anup" mit dem vorhergehen-
den Relativsatz „die ich bereits gezahlt habe" zu verbinden ist,
wie das oben in der Übersetzung angenommen worden ist, oder
mit dem Hauptsatze „so werde ich zahlen". Wegen des plurali-
schen Ausdruckes nl rd.w „die Vertreter" ist wohl das erstere
vorzuziehen. Denn darin sind doch gewiß die Personen zu er-
kennen, die die beiden Zahlungen in Gegenwart der Göttinnen
Hathor und K.t-tiwj, also vermutlich in deren Tempeln, entgegen-
genommen haben.
11. Das letzte Zeichen des Wortes ist hier wie in Kairo 30601
und Berlin 3116, 3, 13, wo das Femininum davon vorliegt (P. sb.tj.t
^die Geldwechsler in") , deutlich tj. Das Wort, das vom Infinitiv
shj.t (igefiic-, lyifie) kommt, wird entweder *s^hjet (vgl. tanm-x) oder
*s'hlt (vgl. juepn) gelautet haben.
12. Da vor pl rd „der Vertreter", „der Beauftragte" kein n
steht, kann nicht daran gedacht werden, etwa einen den Empfänger
angebenden Dativ zu dem Hauptsatz „so werde ich zahlen" darin
zu suchen: „dem Vertreter" im Sinne von „deinem Vertreter".
Der Ausdruck kann vielmehr nur Apposition zu „P-§en-anup, der
Geldwechsler" sein. Andernfalls wäre auch wohl der Possessiv-
artikel pij-t „dein" zu erwarten. Die Ersetzung eines solchen Pos-
sessivausdrucks durch den einfachen bestimmten Artikel ist ja sonst
gerade bei appositionellem Verhältnis nicht selten (vgl. die Bei-
spiele bei Sethe-Partsch, Demot. Bürgschaftsurkunden, Urk.
15, § 15) , aber naturgemäß überall nur da anzutreifen , wo das
Wort, auf das sich das nicht ausgedrückte Pronomen personale
bezieht, im selben Satze vorher genannt ist. Das ist an unserer
Stelle aber nicht der Fall, wenn man das „der Vertreter" nicht
als „mein Vertreter" deuten will, was durch den Zusammenhang
ausgeschlossen erscheint. Aus diesem Grunde wird man in dem
pl rd wohl den Vertreter einer dritten Person oder Korporation
zu erkennen haben, etwa des Notars, der Priesterschaft ^) oder der
Gaubehörde ^). Das paßt in der Tat auch allein in den Zusam-
menhang, der als Empfänger der ersten Doppelzahlung eine neu-
1) So z. B. in den Statuten der Priesterkorporation von Tebtynis, vgl. meine
Arbeit Sarapis und die sogen, xaro^ot S. 93.
2) Vgl. Ryl. 9, 7, 1.
Ein aegyptischer Vertrag über den Abschluß einer Ehe auf Zeit etc. 297
trale Stelle erfordert, die die Geldsumme bis zur Entscheidung
der Angelegenheit zu verwahren hat, einen Treuhänder. Nur so
wird auch das nachher folgende mtiv-j tm dj.t Im-f r-hr-k „und ich
lasse ihn sich dir nicht nähern" verständlich, s. u.
13. tm auf dem Original ganz deutlich. Das dj.t, das damit
zusammengelaufen ist, ist in seiner linken Hälfte etwas verblaßt.
Daher das Ganze von Spiegelberg verkannt. Zur Lesung von
hn „sich nähern" (g^mn) und seiner Konstruktion mit r vgl. x— ^
Spieg., Mythus 4, 29 (hn-s r pi giw „sie näherte sich der Speise„);
^nü Grriffith -Thompson, Mag. Pap. 4,4 {liv-f hn r didi-Jc
„indem er deinem Kopfe nahe ist").
Das Suffix 3. m. sing, f in hn-f kann sich nur auf das unmit-
telbar vorher genannte „P-sen-anup, der Vertreter" beziehen, also
auf die Person, die das Geld in Verwahrung genommen hat. Der
Sinn der Zusicherung „und ich werde ihn sich dir nicht nähern
lassen" kann nur sein, daß die Frau vor etwaigen Forderungen,
die diese Person an sie bei oder nach der Auszahlung des ihr ver-
fallenen Geldes stellen sollte, etwa auf Provision, Spesen oder der-
gleichen, sicher gestellt sein soll, indem der Ehemann diese Un-
kosten übernimmt. "Wir haben in dem Ausdruck dj.t hn x. r y.
„Jemanden (x.) sich einem andern (y.) nähern lassen" ofi^enbar das
Gegenstück zu dem bekannten Ausdruck der demotischen Rechts-
sprache dj.t wij X. r y. „Jemanden (x.) sich von einem andern (y.)
entfernen lassen" d. i. bewirken, daß er keine Ansprüche in bezug
auf etwas {n bezw. im-) an den andern stelle, daß er es ihm über-
lasse. Nur pflegt das kausative dj.t „veranlassen*^, „bewirken" im
negierten Satze meist die Bedeutung „lassen", „zulassen" zu haben.
Der Ehemann verspricht also wohl, nicht zulassen zu wollen, daß^
die Frau mit Ansprüchen des Geldwechslers verfolgt werde.
14. Spiegelberg las mtw-j. Der von ihm für m gehaltene
Strich muß, da er nicht zufällig zu sein scheint, wohl oder übel
zu der Negation hn gehören, mtw-j gibt keinen Sinn. Der adver-
biale Nominalsatz und die Negation hn — In (n — «.n) verlangen
das tw-j des Praesens I (e-n-^-Ilctu d.n).
15. Es steht deutlich r „betreffs" da, nicht n „in bezug auf",^
das in Z. 19 hinter "nfi „Eid" steht.
16. Es steht völlig deutlich rmt „Mensch" da, das Spiegel-
berg nur deshalb in M „Silber" emendieren wollte, weil er mit
rmt nichts anzufangen wußte; und dies war wohl lediglich Folge
seiner Verkennung des folgenden Relativsatzes.
17. ^-?r^ (ntupi) vom Trennen eines Paares auch Mag. pap.
13,1; prd hivtj r s.hm.t „Mann von Weib trennen"; ib. 13,9: sf
mtw-iv prd r nij-w irj.iv „bis sie (Mann und Weib) sich von ein-
ander trennen". Hier ist das Verb mit r konstruiert. Die Kon-
struktion mit irm „mit", »und", die bei uns stattdessen vorliegt,
ist indeß aus demKopt. gut belegt in: nen-Texq-nuip-zE. efiioA n3ÄJüiö.Y^)
„der, welcher sich von ihnen getrennt hatte" Act. 15, 38 (roi/ äito-
^tdvta alt avtcbv), eigentlich „der, welcher sich und sie getrennt
hatte". Bei uns könnte man es etwa so wiedergeben; „zwischen
den und dich ich getreten bin". Die dem Hülfsverbum wih inne-
wohnende Bedeutungsnüance der vollkommenen Vollendung der
Handlung kann hier so wenig wie in Z. 11 und auch sonst oft
im Deutschen durch „bereits" wiedergegeben werden, eher viel-
leicht durch das Plusquamperfektum.
18. Dieses Wort, das Spiegelberg in seinem offenbar nicht
nach dem Originale selbst, sondern nach einer mangelhaften Photo-
graphie hergestellten Faksimile (s. u. Note 13) als undeutlich an-
gab und js „siehe" lesen wollte^), ist im Original völlig deutlich
m-sl „außer" in genau dens-elben Formen, die es vorher in Z. 16
und Z. 17 hatte.
19. pl ^n^ n p] iv'b n p\j-j \wj (hi) „der Eid der Eeinigung
in bezug auf mein Haus", das ist wohl ein Eid, durch den sich
die Frau, wenn sie das Haus des Mannes verlassen sollte, von dem
Verdachte zu reinigen hat, daß sie Dinge aus dem Haushalte des
Mannes verdorben oder beiseite geschafft habe. Zum Ausdruck
^fijj, n pi w'b njit der ungewöhnlichen Setzung des bestimmten Ar-
tikels vor dem Infinitiv vgl. mtw-iv Wk-w (n) pi '^ J (n) ''nji (n) p
tv^b-f „und sie schwören den Eid als einen Eid der Selbstreinigung"
Rev. ^g. 4, pl. 1 zu p. 143. Danach wird vermutlich auch bei
uns hinter w^b das reflexive Objekt in Grestalt des Suffixes 2. fem.
sing, -t „dich" zu ergänzen sein, das ja so oft unbezeichnet bleibt,
weil es in der Aussprache weggefallen . war (z.B. Z. 9.11 nach
am). Zu w'b mit reflexivem Objekt vgl. Qriffith Ryl. III 339.
Das Wort w^'b, das in Spiegelbergs Faksimile ein sehr
ungewöhnliches Aussehen hat und daher von ihm nur zweifelnd
1) In Budge's Ausgabe irrig nach dem bohair. Text juLJULooTf ergänzt.
2) Dieses Wort js „siehe" ist nebenbei bemerkt recht problematisch. Über-
all daj wo S p i e g e 1 b e r g bisher so lesen wollte, liegen m. E. andere Worte vor.
Das gut beglaubigte Aequivalent des kopt. eic im Demotischen sieht wie iw-s
„es ist" aus, mit dem meiner Meinung nach das kopt. eic ebenso wie die alt-
.aegyptische Partikel is in der Tat identisch ist.
Ein aegyptischer Vertrag über den Abschluß einer Ehe auf Zeit etc. 299
SO gelesen wurde, hat im Original durchaus wohlerhalten seine
normale spätere Grestalt, wie sie seit dem letzten vorchristlichen
Jahrhundert (z.B. Spiegelberg, Prinz- Joachim-Ostraka Taf. 4,
Nr. 10 vom J. 59 v. Chr.) , dem unser Text angehören dürfte, üb-
lich ist.
20. r ir-f „zu machen" neben n ir-f der gewöhnliche Aus-
druck für das Grerundivum im Demotischen, s. Sethe-Partsch,
Demot. Bürgschaftsurkunden S. 67. Unsere Stelle macht es wahr-
scheinlich, daß die beiden Ausdrucksformen nicht, wie dort noch
angenommen wurde, nur graphisch verschieden und tatsächlich iden-
tisch, sondern daß sie wirklich von einander verschieden waren.
Die ältesten Berührungen der Russen mit den nord-
ostflnnischen Völkern und der Name der Russen.
Von
H. Jacobsohn in Marburg i. H.
Vorgelegt von E. Hermann in der Sitzung vom 12. Juli 1918.
Der alte russische Clironist Nestor, der von 1056 bis etwa
1116 gelebt hat, erwähnt einige Male ein Volk der Fetscheren ',
Kapitel 1 (der Ausgabe von Miklosich): w^ Jafetowje ie casti sjed-
jaU Rust, Cjudt i si jazytsi : Merja, Muroma, West, Morzdva, Za-
wolchsJcaja Cjudt, Fermh, Fecera, Jamt>, Vgra usw. usw. = „im An-
teil Jafets sitzen Eussen, Tschuden und diese Völkerschaften:
Merja, Muroma, Wepsen(?), Mordwinen, Tschuden von jenseits des
Wolok, d. h. der großen unbebauten Waldstrecke, Permier, Pet-
scheren, Jamen, Ugrier usw. usw." Kapitel 7 a se sutt> ini jazyts%
i^e dam dajuit» Biisi: Cjudh, Merja, West, Muroma, Ceremisa,
Morzdva, Permt, Fecera, Jamt usw. usw. = „das sind andere Na-
tionen, die Tribut an Rußland geben: die Tschuden, Merja, Wep-
sen(?), Muroma, Tscheremissen, Mordwinen, Permier, Petscheren,
Jayien usw. usw.^ Dazu kommt eine berühmte Stelle, die die
ersten zuverlässigen Nachrichten über das Volk der Ugrier bringt,
von der ich aber nur den Anfang ausschreibe, Kap. 81: se äe cho-
ätsju szJcasati, jaie slüsachz prjeMe sichz cetürb IjetZj ja^e szka^a mi
Gurjata Bogovistsh Nowogradttst . . .: jalio poslachz otroJcz moi wn
FecerUy Ijudi, iie sutt dam dajustse Nowii Gradu i , . . oiz tudu ide
WZ Jugru. Jugra äe, ... szsjedjatt sz Samojadiju na polunostshnücht
stranachz: „dies will ich erzählen, was ich vor vier Jahren hörte
(das ist das Jahr 1096), was mir ein Nowgoroder, Gurjata Rogo-
witsch sagte : ich sandte meinen Diener zu den Petscheren, Leuten,
die Nowgorod Tribut zahlen, und von dort ging er zu den Ugriem.
H. Jacobsohn, Die ältesten Berührungen der Russen etc. 301
Die Ugrier aber sind Nachbarn der Samojeden in den nördlichen
Gregenden."
Die Wohnsitze dieses Volkes der Tetscheren lassen sich ziem-
lich dadurch bestimmen, daß sie Kap. 1 und 7 in Verbindung mit
den Permiern und Jamen genannt werden, daß Nestor sie Kap. 1
nicht weit von den Tschuden von jenseits des Wolok und den
Ugriern stellt, und daß sie nach Kap. 81 deutlich (westliche) Nach-
barn der Ugrier sind^). Die Annahme liegt sehr nahe, daß sie
den Syrjänen zuzurechnen sind, einem finnisch-ugrischen Volke, das
mit den Wotjaken zusammen den permischen Zweig dieses Sprach-
stammes bildet und heut seine Wohnsitze auf dem ungeheuer aus-
gedehnten Grebiet an den Flüssen Petschora, Ishma, Mesenj, WaschJcüj
Wytschegda, Sysola, Lusa und Kama in den Grouvernements Wologda,
Archangelsk, WjatJca und Perm hat, und das ist auch früh aus-
gesprochen worden. Vgl. etwa Schafarik, Slavische Altertümer II
54 f. Aber man ist zu dieser Annahme offenbar nur deswegen
gelangt, weil in späterer Zeit wie noch heute der nördlichste Teil
der Syrjänen an der mittleren Petschora sitzt. Einen Beweis da-
für hat man nicht versucht, und noch vor wenigen Jahren haben
es Yrjö Wichmann, Die tschuwaschischen Lehnwörter in den permi-
schen Sprachen (= Memoires de la soci^te finno-ougrienne 21) 146
und Jalo Kalima, Die russischen Lehnwörter im Syrjänischen (=
Memoires de la sociöt^ finno-ougrienne 29) 180 f. nur für wahr-
scheinlich erklärt, daß die Petscheren zu den Syrjänen gehörten.
Ich glaube, der Beweis, daß dies richtig ist, läßt sich führen.
Es wird niemandem einfallen, den Namen der Petscheren von
dem Flusse Petschora zu trennen^). Unzweifelhaft ist der Fluß-
name das primäre und hat dem an seinen Ufern hausenden Volke
erst den Namen gegeben. Entscheiden läßt sich nicht völlig, ob
der Name der Petscheren bei dem Volke selbst aufgekommen ist,
als dieses sich am Flusse Petschora niedergelassen hatte, oder ob
die Russen ihm diesen Namen erst gegeben haben. Aber durchaus
1) Genannt werden die Petscheren noch lange nach Nestor, so in der etwas
später oben im Text angeführten russischen Chronik von 1396, wo sie zwischen
Lappen, Korelaern, Jugrern auf der einen Seite, Wogulen und Samojeden auf der
andern Seite unter einer großen Anzahl von Völkernamen als Petscheren erwähnt
werden, ebenso das Land Petschera in einer Chronik für das Jahr 1264, wo von
den Distrikten Nowgorods unter anderen Jugra, Sawoloksie, Perem (= Perm) und
Petschera aufgezählt werden, und so ständig unter den Wolosten der Kepublik
Nowgorod, vgl. Lehrberg, Untersuchungen zur Erläuterung der älteren Geschichte
Kußlands 29 f.; 32 f.; 57 Anm. 1 usw.
2) Vgl. den in der Chronik von 1264 genannten Distrikt Petschera Anm. 1.
302 H- Jacobsohn,
wahrscheinlich ist das Letztere. Dafür spricht auch die Form.
Die Russen haben doch wohl die Gegend an der Petschora nach
dem Flusse benannt und dann die Bezeichnung für das Land
kollektiv auch für das dort wohnende Volk gebraucht, wie es der
Sprache Nestors entspricht, wo Wörter wie Litwa, 3Ierja, ügra,
Bush usw. gleicherweise für das Land und kollektivisch für das
Volk verwandt werden^). Man beachte auch, daß die Russen ge-
rade die einzelnen Teile der Syrjänen gern nach den Flüssen be-
nennen, an denen diese ihre Sitze haben. Ich verweise auf eine
Chronik vom Jahre 1396, die ein Verzeichnis der Völkerschaften
des nördlichen Rußlands enthält, und in der von Völkern der per-
mischen Landschaft und der umliegenden Gegenden und Orter
unter anderm genannt werden die Wytschegdaery das sind die Syr-
jänen von der Wytschegda, und die Juger^ das sind die Syrjänen
am Jug usw. In dieser Chronik folgen nun gleich auf die Juger
die Syrjänen selbst, aber Nestor und die ältesten russischen Chro-
niken kennen den Namen Syrjänen noch nicht. Sie reden zwar
von Permiern, unter denen wohl Syrjänen mit einbegriffen 'sind.
Aber Perm ist ein Gebiet, das nach derselben Chronik innerhalb
der Grenzen der Wytschegda und Kama liegt ^). Die Gegend an
der Petschora fällt außerhalb dieses Landstrichs. Waren nun die
Petscheren ein Stamm der Syrjänen, was erst bewiesen werden
soll, so kannten doch die Russen zu Nestors Zeiten diesen Zusam-
menhang mit den übrigen Syrjänen oder Permiern nicht. Um so
näher|lag es für sie, diesen Stamm, den sie nicht einordnen konnten^
nach der Gegend zu benennen, in der sie ihn trafen.
Wir werden also keinen Fehler begehen, wenn wir annehmen,
daß der Name Petscheren auf die Russen zurückgeht. Für unsere
Untersuchung ist es übrigens gleichgültig. Die Hauptsache ist
vielmehr die : gelingt es, den Flußnamen Petschora einwandfrei aus
syrjänischem Sprachgut zu erklären, haben erst die Syrjänen die-
sem Fluß im äußersten Nordosten Europas den uns bekannten
Namen gegeben, so setzt auch der Volksname Petscheren die An-
wesenheit von Syrjänen in diesen Gegenden voraus ^). Nun scheint
1) Vgl. zu diesem Gebrauch, der dem des Finnischen entspricht, V. Thomsen,
Der Ursprung des russischen Staates (deutsche Übersetzung) 101 ff., aber auch
W. Schulze, K. Z. 41, 168 f., der denselben. Gebrauch im Gotischen nachweist.
Haben ihn die Finnen aus dem Germanisehen entlehnt?
2) Mit dem heutigen Gouvernement Perm deckt sich dies Gebiet nicht.
3) Natürlich hat der Flußname Petschora nichts mit dem russischen Orts-
namen Petschory zu tun, der 'Höhlen' oder 'Grotten' bedeutet und zu der kirchen-
slavischen Form pestsera gehört. Diese früher vertretene Ansicht, die z. B. Lehr-
Die ältesten Berührungen der Russen mit d. nordostfinnischen Völkern etc. 303
es mir ohne weiteres klar, daß im Flusse Petschora das syrjäni-
sche Wort für „Nessel" steckt: petser oder petsör nach Wiedemanns
syrjänischem Wörterbuch 224 f., petser mit dem Vokal /i, der zwi-
schen ö und e steht und bei Ruhelage der Zunge gesprochen wird,
in den beiden Dialekten aus dem Bezirk Ust-SysolsJc des Gouver-
nements Wologda, aus denen ich Aufzeichnungen machen konnte.
In beiden Dialekten wurde der Flußname ebenfalls in der zweiten
Silbe mit demselben Vokal gesprochen. Aber auch die Wortbil-
dung, das im Flußnamen überschüssige a, läßt sich vortrefflich aus
dem Syrjänischen deuten. Nach Wiedemann, Grramm. der syrj.
Spr. 46, bildet das Suffix -a im Syrjänischen „am häufigsten Ad-
jektive, welche dann . . . wieder substantivisch gebraucht werden
können : das-a „zehn enthaltend", „Zehner im Kartenspiel" zu das
„zehn"; gos-a „fett, fettig, mit Fett versehen" zu gos „Fett";
eia-a „mit Rasen versehen" zu eäa „Rasen" ; va-a „wässerig" zu
va „Wasser^. So ist petsera, PetscJwra der mit Nesseln bestan-
dene, an Nesseln reiche Fluß^). Vgl. den syrjänischen Namen der
WytscJiegda: e^-va^ ein Kompositum aus ei, eza^ „Rasen, Grasplatz"
und va „Wasser, Fluß" = „der Rasenfluß, das Rasenwasser".
So bleibt nur die Frage, was die Syrjänen in diesen Gegenden
veranlaßt haben kann, dem Flußnamen grade diese Bezeichnung
zu geben. Daß an dem Mittellauf der Petschora, dort wo ein Teil
der Syrjänen sitzt, und wohin Syrjänen aus andern Gegenden als
Jäger oder in andrer Tätigkeit kommen, die Flußufer stark mit
Nesseln bewachsen sind, haben mir meine syrjänischen Gewährs-
männer erzählt. Aber es läßt sich nun auch verständlich machen,
warum den Syrjänen die Nessel so wichtig war, daß sie von ihr
den Namen der Petschora herleiteten.
Bekanntlich haben die Griechen, Lateiner, Germanen und Slaven
den Ha'iif und seine Verwendung zur Herstellung von Stricken,
Webstoffen usw. von den Völkern des östlichen Europas kennen,
gelernt. 0. Schrader hat das Wort für Hanf in den europäisch-
indogermanischen Sprachen, üccwaßig, lat. cannahis, ahd. hanaf,
ags. hcenep, altnord. hampr, altkirchenslav. Jconoplja, lit. Jcanäpes,
altpreuß. Jcnupios^) aus dem Ostfinnischen hergeleitet und es als
berg a. a. 0. 65 Anm. 6 ausspricht, kann schon deswegen nicht richtig sein, weil
keine einzige dieser Völkerschaften des Nordens mit einem Namen aus russischem
Sprachmaterial genannt wird.
1) Vgl. etwa die deutschen Ortsnamen Nesselbach in Würtemberg, Nesseln-
bach in der Schweiz, Nesselbrunn im Marburger Kreise.
2) Die schwierigen Fragen, die sich an die Herleitung des Wortes knüpfen,
behandele ich hier nicht weiter. Immerhin ist doch hervorzuheben, daß das
304 ^' Jacobsohn,
^ine Zusammensetzung aus den beiden Bestandteilen kanna, Jcana
-und pis, bis erklärt, von denen der erste zu tscheremissiscli kenej
Jcine „Hanf"^ gehöre — vgl. moksa-mordwiniscli Jcantf, erzja-mord-
winisch Icaht — , während der zweite mit syrjänisch ^/^■5 „Hanf",
wotjakisch pis, pes „Hanf" ^) identisch sei. Mit Sicherheit ist an-
schwanken zwischen h und p in KavvccßLg^ lat. canndbis einerseits, slavisch Ico-
Moplja andrerseits — vgl. lat. cannapis Thesaurus Linguae Latinae III 262, 70 flf.
— ein Zeichen finnisch-ugrischen Ursprungs sein kann und möglicherweise auf
die Sprache zurückgeht, aus der das Wort stammt. In weitem Umfange kennen
finnisch-ugrische Sprachen eine Art von 'äußerem' Sandhi, durch den anlau-
tende Teöuis nach stimmhaftem Auslaut zur Media wird, eine progressive Au-
sgleichung, die im Indogermanischen hinter der regressiven sehr zurücktritt und
nur in der Lenition des Keltischen eine große Rolle spielt. Mag es sich nun hier
um einen einmal durchgeführten Satzsandhi handeln oder dieser Sandhi eigentlich
nur in Wortgruppen zur Erscheinung kommen, jedenfalls hält er sich auch in
Sprachen, die ihn im eigentlichen Wortanlaut nicht mehr kennen, in engen Wort-
verbindungen, und so könnte auch h von Kccvvaßig, lat. canndbis seine Deutung
finden gegenüber syrjänisch pis usw. In slavischem Tconoplja würde p aus dem
selbständigen zweiten Gliede restituiert sein. Dies konoplja aber muß ein Kollek-
tivum sein. Es ist entweder vom Stamme konopi- mittels -ä abgeleitet wie rus-
sisch gospodd, das als Plural zu gospodin „herr'' fungiert, altbulgarisch gospoda
j7tciv8o%Eiov usw. mit demselben Suffix vom Stamme gospod-, oder von einem
Stamme ko7iopo- mittels des Kollektivsuffixes -ja wie das urslavische bratrbja,
hraibja, das als Plural zu hratrii „Bruder" dient (russisch hrätbja usw.). Vgl.
die griechischen Bildungen cpgcctQ-ä und cpgcctg-ia zu (pQÜtrjQ. Auf die ursprüng-
lich kollektive Natur des Wortes führt mit Sicherheit, daß das Wort für Hanf
in den slavischen Sprachen immer wieder als neutrales Kollektiv oder als Plurale
iantum erscheint. Vgl. kleinrussisch pluralisches TconöpU neben singularischem
konöpia, serbokrotisch pluralisches könoplje, Genitiv könopäljä neben singulari-
schem konoplja usw. usw., dazu die aus dem Slavischen entlehnten litauisch ka-
mäp'es, lettisch känepes, altpreußisch knapios\ ferner die neutralen Kollektive
bulgarisch konop'e, serbokroatisch könoplje, slovenisch konopie. Ob das Kollek-
tivum die Hanffasern bezeichnet oder aber Hanf hier in der Weise gebraucht
wird wie „Korn, Roggen" usw., weiß ich nicht zu sagen. Sehr merkwürdig sind
bulgarisch konöp Mask. „Hanf", serbokroatisch kcmop, Genitiv konöpa Mask.
„Strick", die ebensogut auf altes ^konopos wie auf *konopis zurückgehen können.
1) Vgl. Munkäcsi, A Votjäk nyelv szötära 557. Ich habe von einem Wot-
jaken aus dem Bezirk Glasof, Kreis Jagoschursk, pii&^ aufgezeichnet. Übrigens
erinnert Schrader Reallexikon 331 zu tscheremissisch fcene, kine selbst an das
erste Glied von tatarisch ken-dir, tschuwaschisch kan-dyr. Vgl. auch ungarisch
ken-der aus alttschuwaschisch "^kändir, vgl. Gombocz, Die bulgarisch-türkischen
Lehnwörter in der ungarischen Sprache 92 f., dessen Bemerkungen über die Sippe
-überhaupt zu vergleichen sind. Bei den Kasantataren bedeutet km-dir sowohl
„Hanf" (den „weiblichen Hanf", russisch konoplja) wie die daraus hergestellte
grobe Leinwand, russisch cholst. Daß in diesem Worte übrigens wirklich als
erstes Glied km- abzutrennen ist, was die Verknüpfung mit tscheremissischem
Mne um so sicherer macht, lehrt kasantatarisch km-djep „der Faden", eigentlich
Die ältesten Berührungen der Russen mit d. nordostfinnischen Völkern etc. 305
zunehmen, daß die Syrjänen seit alters den Hanf gekannt haben.
Nun ist nachgewiesen, daß sie ihre nördlichen Wohnsitze in den
Gouvernements Wologda und Archangelsk, in denen jetzt der
größte Teil des Volkes wohnt, erst später erreicht haben. Der
Beweis ist geführt auf Grund der tschuwaschischen Lehnwörter,
die das Syrjänische in allen seinen Dialekten hat. Die Tschu-
waschen repräsentieren für uns den einzigen Rest der ehemals
mächtigen Wolgabulgaren, die ihr Reich an der mittleren Wolga'
hatten. Berührungen zwischen ihnen und den Syrjänen können
aber nur stattgefunden haben, als die letzteren noch weiter südlich
saßen, etwa im Gouvernement Wjatka, wo noch heute die ihnen
nächstverwandten Wotjaken wohnen, nur hier können die Syrjänen
Lehnwörter aus dem Tschuwaschischen aufgenommen haben. Aber
auch die Zeit für diese Beziehungen läßt sich einigermaßen bestim-
men. Die Wolgabulgaren, die Vorfahren der heutigen Tschu-
Tconopljdnaja nitlca „der hänfene Faden", denn djep heißt auch an sich „Faden".
Also bleibt Jan als Bezeichnung für „Hanf" übrig. (Das entsprechende kirgisische
Mn-jep bedeutet entweder „grobe Leinwand", = russisch cholst, oder „Faden").
Munkäczi, Keleti szemle 5,327; 6,209 stellt die erwähnten tscheremissischen,
tatarischen und mordwinischen Wörter zu ossetisch gänä, gän „Hanf". Für
syrjänisch pis, wotjakisch pts ist moksa - mordwinisch j^a^ej, erzja- mordwinisch
paze „männlicher Hanf" zu nennen, die Paasonen, Journal de la societe finno-
ougrienne 15, 2, 43 aus mischärtatarisch päzi ds. ableitet, das mit kasantatarisch
hasä, tschuwaschisch pozä zusammengehört. Im kasantatarischen , wo Uin-dir den
weiblichen Hanf und die daraus hergestellte grobe Leinwand bezeichnet, steht
neben hasä „männlicher Hanf" als Wort für die aus dem männlichen Hanf be-
reitete feine Leimvand (russisch polotnö) iüss (kirgisisch äfe^- hüss „Leinwand"
= türkisch hez, krimtatarisch basmä). Andrerseits vergleicht Paasonen, Beiträge
zur finnischugrischen-samojedischen Lautgeschichte 262 mit den permischen Wör-
tern osttscheremissisch patsas „der männliche Hanf".
[C.-N. Das osttscheremissische kme „Hanf" stimmt im i-Vokal zu Mn-dir
meines kasantatarischen Gewährsmannes. Das von Jän-dir abgeleitete Wort für
„Strick" gab mir dieser in der Form Mndrä an (a bedeutet ein sehr geschlossenes
a, in der Klangfarbe etwa wie mittelhannoversches ä), sagte aber, daß die Frauen
bei ihnen auch Jcandra sprächen. Das osttscheremissische hat hier kand^rd mit
a- Vokal. Vgl. tschuwasch. kandrä. Vgl. dasselbe Verhältnis der Vokale in fol-
genden ostscherem. Lehnwörtern aus den Türksprachen, wobei unter tatarisch
immer die Sprache meines kasantatarischen Gewährsmannes zu verstehen ist:
osttscheremissisch kaskä ) ^^, „ . . . , ,-w , , , . . i ikeskä.
, , , „Klotz" = tatarisch kiskä, baschkirisch U t ,
„ kastä „Dachsparren" = „ kiSta, „ keStä ^
(tschuwasch. kasta „Querbalken an der Zimmerdecke").
„ kätik „Bruch" = tatarisch kiti^'k, baschkirisch ketik.
„ ka^äs „Bat" = „ kiwgos. „ ke^äs
usw. usw.].
Kgl. Ges. d. Wiss. Nachrichten. Phil.-hist. Klasse. 1918. Heft 3. 20
306 H- Jacob söhn,
waschen, sind nicht vor dem sechsten nachchristlichen Jahrhundert
an die mittlere Wolga gekommen, vgl. Wichmann a.a.O. 140 ff.
Erst nach dieser Zeit können die Syrjänen gegen Korden aufge-
brochen sein, etwa im achten und neunten Jahrhundert, und nun
gelangten sie in Gegenden, in denen der Hanf infolge der Kälte
nicht gedieh. Um so notwendiger war es für sie, einen Ersatz zu
finden, um Garn und daraus ihre Webstoffe herzustellen. Diesen
Ersatz aber bot ihnen die Nessel, sei es daß sie selbständig darauf
verfielen, aus ihren Fasern Zwirn zu verfertigen, sei es daß sie
es von den arktischen Yölkern lernten, auf die sie dort trafen.
Ahlquist, die Kulturwörter der westfinnischen Sprachen 43, er-
wähnt, daß das wogulische Wort für ;-Hanf", panla und pönale
ebenso das ostjakische pöUn und pötlen eigentlich Nessel bedeute,
erst sekundär diese Wörter für Banf gebraucht wären. „Dies er-
klärt sich dadurch", fährt er fort, „daß die Völker im asiatischen
Norden, wo kein Kulturgewächs, also auch der Hanf nicht gedeiht,
es verstehen, aus den Fibern einer wildwachsenden Nesselart . . .
Garn zu bereiten und erst durch die Russen Bekanntschaft mit dem
Hanf gemacht haben, auf den sie dann den Namen des ihnen früher
bekannten Fasergewächses übertragen haben". Vgl. das. S. 78ff.
Alle diese Völker taten und tun ja nur das, worauf wir wieder
im Kriege zurückgegriffen haben, indem auch wir jetzt Kleider-
stoffe und Stricke aus Nesselfasern herstellen. Ein Syrjäne aus
der Gegend der Petschora erzählte mir, daß in der Nähe seines
Dorfes eine Insel in der Petschora läge, die dicht mit Nesseln be-
standen sei. Auch heute noch verwende man die Nesseln von
dieser Insel, um Stricke, Hosen, Jacken daraus zu verfertigen,
weil Hanf und Flachs bei ihnen wegen der Kälte nicht wüchsen.
Freilich geschähe dies nur noch selten, da man jetzt fertige An-
züge, die aus Hanffasern gemacht würden, kaufen könne.
Wir finden daher in diesen Sprachen sehr häufig, daß Hanf
und Nessel mit demselben Worte bezeichnet werden, bez. ursprüng-
lich identische Bildungen sind. Ein Wort für Nessel ist im Wo-
gulischen onahS'panla, das ist ,;der wogulische Hanf". Erinnern
will ich auch an das russische ostjätsJcoja Jcrapiva (uriica cannabina)
„der Nesselhanf, die sibirische Hanfnessel", wörtlich „die ostjaki-
sche Nessel". Im Ostjak-samojedischen bedeutet säe (am mittleren.
Ob), säcu (in der Ketschen Mundart) usw. — die Formen der ein-
zelnen Dialekte bei Castr^n, Wörterverzeichnis aus den Samojedi-
schen Sprachen 157 — sowohl Hanf wie Nessel. Vgl auch H.
Paasonen, Beiträge zur finnischugrischen-samojedischen Laut-
geschichte 169, der diese Wörter mit syrjänisch söd0, sod£ ^Faser^
Die ältesten Berührungen der Russen mit d. nordostfinnischen Völkern etc. 807
Hede, Werg", ungarisch s;zös^ „Hanf, Werg" zusammenbringt.
So wird man wohl auch ohne weiteres ein anderes syrjänisches
Wort für Nessel, das ich aus dem Kreise Turinsk, Bezirk Jarinsk
des Gouvernements Wologda aufgeschrieben habe, jön, und das
Wiedemann im Wörterbuch als Jon, jön aus dem Dialekt an der
IsJima verzeichnet, das aber auch die Bedeutung von 'Klette,
Distel' hat '), mit jurak-samojedisch jien, tawgy-samojedisch jenth
jenissei-samojedisch jedcli gleichzusetzen haben, das im Samojedi-
schen überall „Hanf" bedeutet. Von diesen Wörtern aber kann
man kaum trennen die gleichlautenden jurak-samojedisch jien, jen
„Bogensehne", tawgy-samojedisch jenti, jenissei-samojedisch jeddiy
ferner ostjaksamojedisch Mnd (am mittleren Ob), Jxendde (in der
Ketschen Mundart), ccnd (in der Narymschen Mundart) usw., vergl.
das Verzeichnis bei Castren Wörterverzeichnis 116, 208, der selbst
schon an der letzten Stelle unter tawgysamoj. jenti auf das gleiche
Wort für Hanf verweist. Diese samojedische Gruppe aber gehört
zusammen mit finnisch jünne (Grundform jänfee aus *jäntege) „Sehne,
Bogensehne, Saite", tscheremissisch iidü'^ „Strang, Bogensehne",
wogulisch iänJDeß „Bogensehne", ostjakisch idndl ds., ungarisch ideg
ds., „Nerv". Vgl. zuletzt Paasonen ds. 87, 269. Die Bogensehne ist
also in der „uralischen", d. h. finnisch-ugrisch-samojedischen Ur-
sprache die aus Hanffasern oder Nesselfasern gesponnene Schnur,
wobei ich mich über das Verhältnis der zuletzt genannten Wörter
zu syrj. jön nicht weiter auslasse. Bestimmen läßt sich natürlich
nicht, ob das Wort ursprünglich Nessel oder Hanf hieß. Denn
es kann auch grade umgekehrt, als Ahlquist es angibt, die Be-
zeichnung für Hmif auf die Nessel als Ersatzmittel des Hanfs
übertragen worden sein, wenn ein Stamm aus südlicheren Gegenden
in kalte Regionen einrückte, in denen der Hanf nicht gedieh.
Haben demnach die Syrjänen dem Elusse Fetschor a erst den
Namen gegeben, so müssen die nach ihm benannten Petsclieren ein
syrjänisches Volk gewesen sein. Die Annahme, daß die Syrjänen
das Wort für „Nessel" und den Flußnamen von einem Volke über-
nommen haben, das vor ihnen in den dortigen Gegenden saß, ist
nach jeder Seite -unglaubhaft, schon deswegen, weil petser als
Name der Nessel auch außerhalb des Gebiets an der Petschora
bei den Syrjänen gebräuchlich ist. Es kommt hinzu, daß petser
offenbar zusammenhängt mit dem ossetischen Wort für Nessel:
1) permjakisch jen „Distel" ; das Wort kann wegen seiner Bedeutung und
Verbreitung in den syrjänischen Mundarten nicht etwa aus dem Juraksamojedi-
schen entlehnt sein,
20*
308 H. Jacobsohn,
ostossetisch plsira, pslra, westossetisch pur sä mit Umstellung der
inneren Konsonanten. Vgl. zu dieser Umstellung Wsewolod Miller,
Sprache der Osseten 37 ^) ^). Freilich so sicher mir diese Wortglei-
chung zu sein scheint, so wenig bin ich in der Lage, das genaue
lautliche Verhältnis des ossetischen und syrjänischen Wortes auf-
zuklären. Schon das ist die Frage, ob das Wort von den Iraniern
zu den finnisch-ugrischen Stämmen gewandert ist, oder ob es um-
gekehrt die Iranier entlehnt haben. Die finnisch-ugrischen Sprachen
haben in sehr alter Zeit eine Reihe von Worten von den Vorfahren
der Osseten übernommen, mögen dies nun im Einzelfall die Alanen
oder andere nabverwandte skythisch-iranische Stämme gewesen sein.
Eine große Anzahl von iranischen Lehnwörtern im finnisch-ugri-
schen, die im Ossetischen ihre direkte Entsprechung haben, gibt
davon Zeugnis. Vgl. Munkacsi, Keleti szemle 5, 304 ff., besonders
B26 f. ; 6, 208 ff. Auch die permischen Sprachen weisen solches
Sprachgut auf. Ob das umgekehrte stattgefunden, das Ossetische
aus den finnisch-ugrischen Sprachen entlehnt hat, ist weniger sicher,
die Beispiele , die Miller a. a. 0. S. 8 dafür bringt, sind sämtlich
nicht voll beweiskräftig. Wir haben also nicht die Möglichkeit,
zu sagen, welche Sprache die gebende war. Das Wort braucht
1) Fernzuhalten ist wotjakisch pusner 'Nessel'. ^
2) Eine ähnliche Konsonantenumstellung treffen wir in westossetisch nimäl
„Freund" neben Umän, ostossetisch llmän, vgl. Miller ds. Hier zeigt die Her-
kunft des Wortes, daß nimäl sekundär ist. Andreas hat das Wort auf dem
Kopenhagener Orientalistenkongreß auf altiranisch oryomon zurückgeführt, das ist
„der Stammesgenosse", also „der Freund". Aber der „Stammesgenosse" kann
auch ganz allgemein als „Mensch" aufgefaßt werden, vgl. etwa den umgekehrten
Vorgang in syrjänisch Tcomi „Syrjäne, Permier" zu wogulisch %um, khum, khom
„Mensch". So besteht die Herleitung des gemein-mordwinischen loman „Mensch",
das dann sekundär „Fremder" bedeutet, aus ossetisch Umän, Umän zu recht (z. B.
Setälä, Journal de la soci^te finno-ougrienne 14, 3, 37), noch dazu, wenn man be-
denkt, daß die finnisch-ugrischen Sprachen das Wort für „Mensch" des öfteren
dem Arischen entlehnt haben. Vgl. etwa wotjakisch murt, syrjänisch mort „Mensch"
= altindisch mdrta „Sterblicher, Mensch", awestisch murta „Mensch" usw. usw.
Dann aber ist mordwinisch lomah nicht nur ein weiterer Beweis für die unur-
sprüngliche Konsonantenfolge in westossetisch nimäl gegen Umän, ostossetisch
limän, es bringt auch eine höchst erwünschte Bestätigung für den Vokal o, der
von Andreas für die zweite Silbe des altiranischen oryomon angesetzt wird, und
der dem ossetischen i, l vorausliegt. In loman ist sozusagen die Zwischenform
wirklich belegt, die wir zwischen altiranisch oryomon und ossetisch limän, Umän
erschließen müssen. Daß Andreas' Ansatz des altiranischen Vokalismus auch
sonst teilweise durch die iranischen Lehnwörter im Finnisch-ugrischen bestätigt
wird, hoffe ich bald zeigen zu können, bemerke aber, daß die obige Gleichung
wotjakisch mort, syrjänisch murt „Mensch" = awestisch 7norta (altindisch mdrta)
nicht ohne weiteres als beweisend in Frage kommt.
Die ältesten Berührungen der Russen mit d. nordostfinnischen Völkern etc. 309
aber weiter weder direht aus dem ossetischen, bez. alanischen, ins
syrjänische noch bei einem ev. umgekehrten Wege aus dem syr-
jänischen ins ossetische gedrungen zu sein. Aber bei dieser Un-
sicherheit wird man alle Versuche, das Wort zu etymologisieren,
unterlassen ^).
Die von verschiedenen Forschern geäußerte Vermutung, daß
die Syrjänen schon im 11. Jahrhundert an der Wytschegda und
Ishma und Petschora in ihren heutigen Wohnsitzen in den Gou-
vernements Wologda und Archangelsk gesessen haben, läßt sich
auch von einer ganz anderen Seite her bestätigen, nämlich durch
die Form, in der der Name der Russen bei den Syrjänen erscheint.
Bekanntlich hat V. Thomsen diesen, der zuerst als kollektiver
Singular Bus'b belegt ist, mit der finnischen Bezeichnung für Schwe-
den, Riiotsi, zusammengebracht: Thomsen, Der Ursprung des russi-
schen Staates (deutsche Übersetzung) 97 if. Riiotsi hätten auch die
skandinavischen Ansiedler auf der Ostseite des bottnischen Meer-
busens, an der finnischen Küste, geheißen, und so sei der Name
auch auf den Teil der skandinavischen Waräger übertragen, der
unter Rurik und seinen Nachfolgern das Grebiet der russischen
Slaven unterwarf. Von den Finnen übernahmen ihn die Slaven,
und schließlich verlor er bei diesen seine alte ethnographische Be-
deutung und ward erst von dem Lande und dann auch von dessen
Bewohnern gebraucht, über die die Ruriks herrschten. Gegen diese
ausgezeichnete Herleitung ist immer wieder eingewandt worden,
daß dem Russennamen das ts von Ruotsi von Anbeginn an mangele,
es gebe keinen Beleg dafür, daß die Form mit ts für etwas an-
deres als Schweden gebraucht sei. Diese Lücke hat nun Mikkola
ausgefüllt, der auf die syrjänisch-wotjakische Benennung für die
„Russen" hingewiesen hat : syrjänisch röts ^), wotjakisch dMiis (mit
Übergang des anlautenden r im Wotjakischen in c/i), vgl. Finnisch-
ugrische Forschungen 2,75. Syrjänisch röts^), wotjakisch d^uts
setzen eine Form rötsi voraus, mit ö wie in estnisch Röts „Schweden",
1) An sich ließen sich ostossetisch pislra, pslra, westossetisch pursa auf
eine Grundform altiranisch *posuro- zurückführen und mit altindisch päsas
„Schlinge, Fessel, Strick", pas „Strick", päsäyati „bindet", griech. nriyvviLi „be-
festige", näyri «Falle, Schlinge" usw. usw. verbinden, d. h. sie würden zu der indo-
germanischen Wurzel pak „flechten, winden" usw. gehören, so etwa wie man ahd.
nazza, nezzila, ags. netele „Nessel" usw. mit gotisch nati „Netz" usw. verknüpft.
Auch im Suffix, d. h. in der Bildung, könnten ahd. nezzila, ags. netele, norwegisch
netla„ Nessel" und iranisch *posuro- fast zusammentreffen. Aber alles dies ist
ganz unsicher.
2) So, mit langem ö, habe ich die Form aufgezeichnet aus den beiden oben
erwähnten Dialekten des Bezirks Ust-Sysolsk; das s von röts ist mouilliert.
310 H* Jacobsohn,
Bötslane „der Schwede", wotisch i^ö^^i „Schweden", Eötsalaine „der
Schwede" ; uo des finnischen Buotsi beruht erst auf späterer Diph-
thongierung.
Es ist oben hervorgehoben worden, daß die Wanderungen der
Syrjänen in die Gouvernements Wologda und Archangelsk frü-
hestens im achten Jahrhundert begonnen haben können. Im neunten
Jahrhundert dringen die germanischen Bush in Rußland ein, Mitte
des neunten Jahrhunderts setzt sich Rurik in Nowgorod fest. Früh
sind die Russen von Nowgorod weiter nach dem Osten Rußlands
gezogen, um dort Handel zu treiben, vor allem, die kostbaren
Felle und Pelze der dortigen Gregend einzutauschen. Wir wissen,
daß die Nowgoroder im elften und zwölften Jahrhundert dem Groß-
fürsten von Kiew die petschorische Abgabe entrichten müssen. Mögen
die Nowgoroder zuerst noch als Germanen in diesen Gegenden
aufgetreten sein, gar bald kamen sie als Russen im heutigen Sinne,
mit rassischer Sprache, sie hatten sich mit den Ostslaven, die sie
in Nowgorod vorfanden, verschmolzen. Es muß aber eine kurze
Periode bestanden haben, in der die von den Finnen herüberge-
nommene Form zur Bezeichnung der skandinavischen Eindringlinge»
Bötsi, noch als solche in Nowgorod gebraucht wurde, bevor sie
formell zu Bust abgewandelt ward. Und die Form Bötsi wird
dort eine Zeit auch noch für die slavisierten Waräger, bez. für
das aus der Verschmelzung von Germanen und Slaven hervorge-
gangene Volk gegolten haben. In dieser kurzen Epoche nun, die
von der Übertragung des Namens auf das aus Warägern und Ost-
slaven gebildete Volk bis zu seiner Umwandlung in Biist verstrich,
müssen die Nowgoroder zuerst mit den Syrjänen, die in den Gou-
vernements Wologda und Archangelsk saßen, in Fühlung getreten
sein. Damals nahmen diese die Form Bötsi auf, um sie für
alle Zeit als Bezeichnung der Russen festzuhalten und sie weiter-
zugeben an die stammverwandten Wotjaken und weiterhin an die
Samojeden und Tungasen; vgl. juraksamojedisch lüca, jenissei-sa-
mojedisch luota, tungusisch lüca (Yrjö Wichmann, Finnisch-Ugri-
sche Forschungen 2, 183). Dabei aber kann es sich nur um die
ersten Jahrzehnte nach dem Erscheinen der Waräger unter Rurik
in Nowgorod handeln, auch wenn wir annehmen, daß die Form
Bötsi sich in Nowgorod länger als sonst gehalten hat. Denn daß
s für ts sich sonst schnell im Rassenname durchsetzte, zeigen die
Schriftstellerbelege, Thomsen a.a.O. 42 ff. Wir werden also auf
die Wende des neunten zum zehnten Jahrhundert als die Zeit ge-
führt, in der die Syrjänen schon in ihre nördlichen Wohnsitze
gelangt waren und dort mit den Nowgorodern in Verbindung traten.
Die ältesten Berühruagea der Russen mit d. nordostfinnischen Völkern etc. 311
~ Dürfen wir das Grleiche aucli daraus folgern, daß syrjänisch
röts im ö zu altfinniscliem Bötsi stimoat? Das u des russisch-sla-
wischen Rusb erklärt sich bekannblich so, daß die Slawen das ö
von altfinnischem Röisi durch ü ersetzten, weil sie kein langes ö
hatten: Thomsen a.a.O. 102. Wir dürfen zudem voraussetzen,
daß das alte finnische ö ein geschlossener Laut war, also slawisch -
russischem ü nahestirid. An sich könnte nun das syrjanische ö
umgekehrt slawisch - russisches ü der Form *Ratsi wiedergeben^).
Aber möglich ist doch auch Folgendes : wenn wir auch keinen Be-
leg dafür haben, daß der skandinavische Stamm, der sich in Buß-
land festsetzte, den Namen Rötsi oder eine dem ähnliche Form, die
die Finnen durch Rötsi wiedergaben, selbst geführt hat, bevor er
die Slawen und Finnen um Nowgorod unterwarf, so könnten diese
Skandinavier doch schon sehr früh diese Benennung, die sie bei
ihren Untertanen hatten, von diesen aufgenommen haben. Sie
könnten sie sich angeeignet haben, als sie noch auf der Grenze
der Assimilation standen, sozusagen schon mit einem Fuß im Sla-
wentum steckten, aber ihre heimische Sprache noch nicht ganz
aufgegeben hatten. Ob es sich so erklären würde, daß die Leute
schwedischer Nationalität, die der byzantinische Kaiser Theophilos
nach dem Bericht des Bischofs Prudentius von Troyes in den An-
nales Bertiniani unter dem Jahre 839 an Ludwig den Frommen
schickte, angaben, ihr Volk heiße 'Pco^? Daß diese Leute durch
Rußland nach Konstantinopel gekommen sind, ist sicher, vgl.
Thomsen 44, der selbst die Stelle anders auffaßt, 42 ff.; 94 ff.
Haben sie den Namen von ihren Untertanen übernommen, so könnten
sie das ö des Namens Bötsi, den sie nicht nur von den Slawen,
sondern auch von den Finnen kannten, noch eine Zeit lang fest-
gehalten und diese Form zu den nördlichen Syrjänen getragen haben.
Auch das würde auf dieselbe Zeit führen, da sie ja immer von
Nowgorod ausgingen, um diese fernen Gregenden zu erreichen. Da-
bei ist es gleichgültig, ob sie damals noch teilweise germanisch
sprachen, und die Syrjänen sie so kennen lernten, oder ob sie als
zweisprachige Leute auch in ihrer Aussprache des russisch-slawi-
schen eine Zeit lang das ö nicht eingebüßt hatten. Immer waren sie
für die Syrjänen die Leute von Nowgorod, das sind für die Syr-
jänen noch lange die Russen ;car' i^ox^jv- Alle diese Möglichkeiten
1) In dem oben genannten Buch von Jalo Kalima, Die russischen Lehnwörter
im Syrjänischen, wird das Wort nicht erwähnt. Die von K. behandelten Lehn-
wörter gehören einer jüngeren Zeit an, die bei ihnen vorhandenen Lautentspre-
chungen (syrjänisch u meist = russisch u: Seite 29) sind also für röts nicht ohne
weiteres maßgebend.
312 H- Jacobsohn, Die ältesten Berührungen der Russen etc.
hier genau darzulegen, scheint mir zwecklos. Am wahrscheinlichsten
bleibt es immer, daß die Russen, die ihre Reisen zu den Syrjänen
in Wologda und Archangelsk machten, schon Repräsentanten des
verschmolzenen slawisch-germanischen Volkes waren, daß die Syr-
jänen unter röts von Anfang an durch die Jahrhunderte hindurch
dieselben Russen verstanden haben. Die Annahme, daß bei ihnen,
zu denen die Nowgoroder nur als Handelsleute kamen, der Name
dieselbe Verschiebung in der Bedeutung erfahren habe wie in Now-
gorod und Kiew, ist nicht ohne Bedenken. So ist es denn auch
das Nächstliegende, das o von röts gegenüber ü you* Bütsi aus
dem Sonderleben des Syrjänischen zu erklären. Kein Vokalwechsel
ist in den permischen Sprachen häufiger als der von o und u, vgl.
Y. Wichmann, Zur Geschichte des Vokalismus der ersten Silbe im
Wotjakischen usw. 74 § 1H5. Daß dabei in einer Reihe von Fällen
wotjakisch u gegen syrjänisch o das ursprüngliche ist, scheinen
Beispiele wie finnisch julma „grausam" : wotj. jim „stark, fest;
sehr", syrj. Jon, ds., finnisch husiainen = wotj. kuhili „Ameise",
syrj. hül-lcodhu ds. ^) usw. zu erweisen. Die Syrjänen haben also
u von Butsi in o geändert, im wotjakischen d^ufs ist das u geblieben.
Ausgeschlossen ist, daß die Syrjänen den Namen für die Russen
direkt von den Finnen übernahmen. Erstens haben damals sicher
keine Beziehungen zwischen Finnen und Syrjänen bestanden, kein
Lehnwort herüber und hinüber gibt von solchen Kunde. Dann
aber hat sich Buotsi im Finnischen niemals auf die Russen bezogen.
Vielmehr heißt Rußland seit alters bei den Finnen Venäjä. Diese
Form geht ajd*Venädä zurück: Thomsen, Einfluß der germanischen
Sprachen auf die finnisch-lappischen 72, 182; Setälä, Yhteissuoma-
lainen äännehistoria 66. Sie entspricht den Venedi des Plinius, den
Veneti des Tacitus usw. usw. Mag sie nun aus dem Germanischen
entlehnt sein oder nicht, so setzt jedenfalls schon ihre dreisilbige
Gestalt ein beträchtliches Alter voraus. Wäre sie jüngeren Ur-
sprungs, d. h. in dem Falle entlehnt und zwar erst nach der Zeit,
in der der Name Bötsi zu den Slawen kam, so müßten wir eine
zweisilbige Form erwarten wi*e in altnordisch Vm^r, Vindr^ mhd.
Wint, nhd. Wende.
1) So Wichmann, Wotjakische Chrestomatie 77 ; anders Munkäczi, 'Arja ös
Kaukäzusi elemek I 326 f. (Wichmann, Finnisch-ugrische Forschungen 11, 182),
der das Wort aus den kaukasischen Sprachen ableitet. Auch dann hat es ur-
sprünglich u.
Zur handschriftlichen Überlieferung des Daniel-
kommentars Hippolyts.
Von
Nathan ael Bonwetsch.
Vorgelegt in der Sitzung vom 12. Juli 1917.
In diesen Nachrichten, philol.-hist. Klasse aus dem Jahr 1896,
S. 16 if. habe ich über die handschriftliche Überlieferung des Daniel-
kommentars Hippolyts gehandelt (vgl. auch Nachr. 1895, S. 515 ff.
über „die Datierung der Greburt Christi in dem Danielkommentar
Hippolyts"). Inzwischen ist ein neuer Textzeuge für umfangreiche
Abschnitte des Danielkommentars entdeckt worden, und die Grüte
des Herrn Hahlfs hat mir die photograpbischen Aufnahmen der
betreffenden Teile der berühmten Handschrift der Bibliothek des
Fürsten Chigi gr. R. VII, 45 — u. a. von Lagarde herausgegeben
in Hippolyti Romani quae feruntur omnia graece, Lpz. 1858, S. 151 ff.
und von mir in meiner Ausgabe jenes Kommentars verwertet nach
einer Kollation von H. Achelis — und der Handschrift der Daniel-
catene aus derselben Bibliothek R. VIII, 54 zur Verwertung freund-
lichst überlassen. Es erscheint angezeigt, darüber zu berichten,
welchen Beitrag zur Kenntnis des Textes Hippolyts der neue Fund
und die Kollationen der Chigihandschriften liefern.
Der russische, 1885 verstorbene Bischof Porfirij Uspenskij hat
zuerst in einem Katalog der bemerkenswerten Handschriften der
Meteorischen und Kissawo - Olympischen Klöster — aus seinem
Nachlaß 1896 herausgegeben — auf eine Handschrift des Meteoron-
klosters in Thessalien hingewiesen, die neben Hippolyts Schrift
über den Segen Jakobs (diese unter dem Namen des Irenaeus) auch
Teile des Danielkommentars Hippolyts enthält. Alexander Berendts
hat auch die abendländische Wissenschaft adf sie aufmerksam ge-
macht und über ihren Inhalt berichtet („Texte und Untersuchungen'^
314 NathanaelBonwetscli,
von V. aebhardt u. Harnack, N. F. XI, 3, S. 67 ff., Leipzig 1901).
Er hielt, von mir befragt, nicht für ausgeschlossen, daß die Hand-
schrift nach Athen gebracht worden sei. Wilhelm Meyer hat jedoch
auf meine Bitte, als er in Athen weilte, festgestellt, daß eine
Überführung von Handschriften des Meteoronklosters nach Athen
nicht stattgefunden habe. Inzwischen aber hatte der verdienstvolle
eifrige Erforscher der Bibliotheken der Meteor aklöster N. Bei's in
Athen die Aufmerksamkeit auf jene Handschrift gelenkt. Seine
Mitarbeit hat es C. Diobouniotis in Athen ermöglicht, den Text
der Schriften Hippolyts aus jener Handschrift herauszugeben (in
jenen Texten und Unters., 3. Reihe, VIII, 1, Leipzig 1911). Ich
habe den Druck der Ausgabe geleitet und trage namentlich die
Verantwortung für Interpunktion und Einteilung. Für Hippolyts
Erklärung des Segens Jakobs ist die Meteoronhandschrift 573 (frü-
her 108) die einzige griechische. Der armenische Text ist noch
unediert, und die Übersetzung des Georgischen ins Russische, aus
der ich 1904 jene Erklärung herauszugeben hatte, ist leider in
recht freier Weise gehalten. Nach Veröffentlichung der armeni-
schen Version und einer erneuten Übertragung bezw. einer Edition
der georgischen wird erst die definitive Ausgabe jener Abhandlung
Hippolyts erfolgen können, dürfte es sich wohl gleich um keine
größeren Differenzen gegenüber dem jetzt vorliegenden Text handeln.
Von derselben Hand s. X/XI wie jene Abhandlung sind auch
in der Meteoronhandschrift die Brachstücke des Danielkommeutars
auf Bl. 156^^ — 201^^ geschrieben. Von beiden Texten hat die Kirchen-
väterkommission der König!, preußischen Akademie der Wissen-
schaften auf meine Bitte durch die Expedition von Jantzsch Auf-
nahmen in Schwarz -Weiß machen lassen und mir gütigst ihre
Verwertung gestattet. Ich habe ihren Text aufs Neue verglichen.
Welches ist nun das Verhältnis des Textes der Meteoron-
handschrift (= E) zu dem der sonstigen Überlieferung des Daniel-
kommentars Hippolyts? Schon Berendts hat auf seine Verwandt-
schaft mit dem der altsla vischen Übersetzung (= S) jenes Kommen-
tars hingewiesen. Wie diese und wie die Vorlage der Catenen-
fragmente (= C) hat auch E das Danielbuch in Visionen eingeteilt.
Aber nicht wie in S und in C steht in E die Greschichte der Su-
sanna voran, sondern sie folgt erst als zwölftes Gresicht, wie in
^er ursprünglichen Septuagintaübersetzung. Die nahe Beziehung
zu S und C wird dadurch djch nicht aufgehoben. Mit S und C
■steht aber auch die Athoshandschrift (= A) des Danielkommentars
in enger Verwandtschaft. Ich habe dies „Nachrichten" 1898, S. 38
gezeigt. Einzelne Beispiele mögen die Zugehörigkeit von E zu
Zur handschriftlichen Überlieferung des Danielkommentars Hippolyts. 315
der Grruppe ASC belegen. Im Gregensatz zu der Chalkihandschrift
(B), aus der Georgiades zuerst das vierte Buch des Danielkom-
mentars Hippolyts herausgegeben hat, kommt in einer ganzen An-
zahl von Fällen E mit A überein. Dies tritt gleich dort zu Tage,
wo neben A, S und B auch E als Textzeuge einsetzt, S. 228, 17 ff.
meiner Ausgabe jenes Danielkommentars. Zwar bietet E 230, 3
ort Iyyoc tö tsXo<; ähnlich wie B on i^^b<; Iotiv B, während in AS
dies fehlt; 230, 3 f. kommt SYsp^YJaovraL Y^p Xsysi mehr mit B Iy^P"
-ö-YJasTai Y^p ^Tjatv überein als mit Bib Xsysi in A, und ebenso heißt
es 230, 6 qiipxal wSivcov (prjoiv wie in ß, statt «pyjolv ^pycd wSlvcov wie
in A. Aber 230, 1 fehlt gegen ASE [j.övoo in B, 230, 7 Iv aoroi«,
230, 11 Ixsi. 230, 10 haben ASE Sitjy. Ss gegenüber StyjY- y«? in B,
Z. 11 IfiTTÖvo)«; (s{JL7uopo? B), Z. 12 Tai? ^wvaic (t^ ywvg B), Z. 18 fehlt
Ixsivo? in E wie in S, Z. 19 lesen ASE TraiSicov (tsxvcdv B), Z. 20
aTTsX^sLV nach epY]{JLov (l^eX^stv vor el? t. sp. B), S. 232, 3 im (xal B),
Z. 4 SE o7ü' aüTOD (§l' auTOüc AB), fehlt Träotv in B, Z. 5 7rop£i)ö[i.£Voi
+ AE, Z. 8 (paiverai AE ((pavsi B), Z. 9 ji-^xP^ ^E (sco? B), Z. 14
p.i%pöc ASE (eursXy]? und + [lövov B), Z. 15 Tuap-^v AE (TuapsY^vsTo B),
Z. 16 lassen ASE udyzaq ajjiapTcoXoDc %al weg, ebenso Z. 17 TULOTcäv
(allerdings Z. 18 f. sie, iv und Ix, Z. 21 t^ -|- A) und Z. 20 s^^-aasv
Yap Itu' auröv iq oovrsXsia, 234, 1 oLO'^aXwc, Z. 6 auToö TrpoXsYOVTuo«;, w?
OTt IveotYjxsv IQ T^ii.spa toö xopioo, Z. 21 axpißtöc, Z. 22 xal Täte iaoröv
^cXdvatc xal tol? saoxwv lvo;rviotc xal [ioO-oXoYia:c >tal Xöyok; YpaipSsatv,
236, 4 7rpoa£)(ovT£? opdjtaai pLaiatoi? xal öiSaoxaXiaK; Saiji.ovi(oy xal, Z. 5
%cd xoptax^ ;coXXaxtc. S. 318, 3 fehlt niaioi, Z. 16 aYtcov ASE, 322, 10
xal xam/^oviüiv; S. 326,18 haben ASE aYtwv für otv^pcoTucov ; aller-
dings S. 318, 16 AS ayaoxa7:T0[i£V(üv für xaTaaxaTuroiJ.svcDV in BE.
Das Verwandtschafts Verhältnis von ASE gegenüber B ist so-
mit ein klares. Alle drei, ASE, sind aber treffliche Textzeugen.
Da erhebt sich die Frage, ob nicht einfach, was ASE bieten, die
ursprüngliche Textgestalt ist, daß alle Abweichungen in B spätere
Korrekturen und daher für die Herstellung des Textes bei Seite
zu lassen sind. Zufällig kann die Differenz von B einerseits, ASE
andererseits nicht sein. Für den hohen Wert der Textüberlieferung
in A ist kein Greringerer als Usener eingetreten („Sol Invictus",
Ehein. Mus. f. PhiloL, N. F., 60, S. 486 ff.). Er hat dort in scharf-
sinniger Weise gezeigt, wie in der mannigfachen Korrekturen
unterzogenen Stelle Buch IV, 23 A und S, zum Teil A allein den
ursprünglichen Text erhalten haben, da ihre Datierung der Greburt
Christi mit der sonst von Hippolyt vertretenen übereinkomme. Der
Text von ASC empfängt nun durch den Hinzutritt von E noch
eine Stärkung. Sind nun dem entsprechend die Abweichungen von
316 Nathanael Bonwetsch,
B in IV, 18 ff., S. 230 ff. als Änderungen der ersten Vorlage und
als Zusätze zu beurteilen? Ohne Zweifel machen IV, 19, 4, S. 234, 6 f.
die an avtooaavxs? sich anschließenden Worte autoö TTpoXi^ovio?, wc
oTi IvsaTTjzsv 1^ T^jispa Toö Ttopioo durchaus den Eindruck der Echtheit,
obschon sie nach dem vorangegangenen el;csv Ytvwaxsts, otSeX^poi^
ozi {jLsia IviaoTÖv i] xpioig [xsXXsi Yivsad-at entbehrt werden können.
Ein Anlaß, sie einzuschalten, lag doch kaum vor. Dasselbe gilt
von den Worten, die IV, 20, 1, S. 234, 22 f. (s. o.) B über ASE hinaus
bietet. Noch klarer liegen die Dinge IV, 20, 3, S. 236, 4 f. Hier
trifft der Satz ;upoae/ovTs? 6pd[jLaai [laxaioK; %cd SiSaaTtaXiatc Satjxoviwv
wörtlich mit dem zusammen, was Epiphanius Panarion haer. 48, 1,
S. 426, 20 f. aus Hippolyt entlehnt hat, er geht also so gut wie
gewiß auf Hippolyt selbst zurück. Es könnten sich etwa indem
Archetypus von ASE die Auslassungen dadurch erklären, daß der
in Kap. 19 f. gegebene historische Bericht in dem exegeti-
schen Werk nicht mehr interessierte.
Daß aber ASE gegenüber B auf einen gemeinsamen Arche-
typus zurückgehen, empfängt eine Bestätigung durch IV, 59, 9 ff.,
S. 336, 9 ff. Es soll nach Dan. 12, 9 f. die Schrift der Weissagung
versiegelt bleiben, sw? av stcXs^wclv >tai exXsDxavO-waiv ncd IxTroptoO-waiv
TüoXXoi. Nun fragt Hippolyt IV, 59, 3 ff. nach ASE nur, wer die
l/tX£YÖ[isvoi und die XsoxaivöixsvcL sind, dagegen nach B auch, wer
die i7t;uopo6[X£Voi. Er muß aber doch auch diese Frage gestellt
haben. Damit stimmt der Inhalt ihrer Beantwortung überein,
denn das Hindurchgehen durch Feuer und Wasser, von dem hier
Hippolyt unter Hinweis auf Ps. 66, 12 redet, entspricht der Deu-
tung, die dieser Psalmstelle der von hippolytischer Tradition ab-
hängige Methodius von Olympus De res. I, 56 gibt. — Auf eine
Auslassung in der Vorlage von AS in III, 28, 6, S. 174, 17 habe
ich schon in meiner Ausgabe des Kommentars hingewiesen.
Haben somit ASE eine gemeinsame Wurzel, so fragt es sich
weiter, ob E näher A oder S verwandt ist. Es will nicht viel
besagen, wenn II, 26, 1, S. 88, li S und E ISwv lesen gegenüber
slSox; in A und 88, 15 Tudviüx; ^ap statt nur TrdvTox; wie A. Aber
II, 26, 4, S. 90, 1 und 5 f. heißt es in A Koppoo und Koppoc 6 n§paYj<;,
dagegen in ES Aaptoo und Aapioc; 6 Mf^Soc, 90, 6 Tcaraßpcö^evia statt
7.a'üa;üo^£V'ca, und II, 27, S. 90, 12 f. lassen E und S aorwv und I;üsI
üTTspio/osv TÖ TOD ßaoiXscöc p^{j.a weg und fügen 90, 20 xaXwc hinzu
(§ia zobio fehlt freilich daselbst in S). 92, 2 ließt E mit S Tcdvia
statt TüdvTOTe in A, 92, 8 ttjV ISiav statt zbv lSlov, 92, 14 1% /oög statt
kv. xe^P^<s, II, 32, S. 104, 19 izazpbq (nicht TTveuixaro?) poTTJpLa, 104, 21
-h Ix zri<; xa[ALVoo, 106, 3 rjXaovöjxsvov statt TeXo6[isvov, III, 7, S. 134, 25
Zur bandschriftlichen Überlieferung des Danielkomraentars Hippolyts. 317
oTTÖTs statt TÖTs, 136, 5 avaYYsXXsL statt aTUTJYYsiXsv. 136, 20 fehlt xöv
ßaaiXda %aX svöo^ov Ysv^o^ai in SE, dagegen IV, 30, 9, S. 266, 11
Itjooöc + SE, und sie lesen IV, 49, 1 6 XaXwv statt XaXv^asi; IV,
35, 3, S. 278, 15 freilich haben AE Iv Tuavul t(j) %öo[jl(j) für Iv Travil
TÖTKp in B und „an allen Orten" in S.
Ein näheres Verhältnis von E zu den Excerpten aus Hippolyt
in den Catenen läßt sich daraus noch nicht entnehmen, daß S. 106, 16
E und C sail liest gegen -^v in A und daß S. 108, 1 beide ev %a[i.iv(j)
hinzufügen. S. 4, 2 läßt C 'Iwoiac weg gegen SE und 4, 13 fügt
C xal £ßSö[JL(|) hinzu.
Wie in der Chigihandschrift R VII, 45 (== J, vgl. Nachrichten
1896, S. 22) sind auch in E Stücke aus Hippolyt De antichristo
und In Danielem vereinigt; aber es sind nicht dieselben Stücke,
vielmehr in J aus De antichr. c. 23—28, in E aus c. 48. 50 f. und
54. Mit J liest E S. 330, 5 IttI zb xstXo(; für ItcI toö ^siXodc in AB.
Eine nähere Beziehung von E und J ist nicht nachzuweisen, und
ergibt sich daher auch aus E nichts für das Verhältnis von J zur
sonstigen Textüberlieferung.
Durch E liegt jetzt fast der ganze Danielkommentar Hippo-
lyts auch im griechischen Text vor.
Die Vergleichung der photographischen Aufnahme des Textes
V 0 n J zeigte die Zuverlässigkeit der Kollation von H. Achelis. —
Ebenso bestätigte die Vergleichung des photographischen Textes
der Danielcatene in Chis. VIII, 54 s. X, daß diese Handschrift die
Vorlage des in meiner Ausgabe des Danielkommentars verwerteten
Paris, gr. 159 ist. Schon der verstümmelte Anfang zeigt dies (vgl.
Caro-Lietzmann, Caten. graec. catalogus S. 118 (350)). Auch die
Seitenanfänge treffen zusammen. Danielkommentar II, 5, 2, S. 52, 18
steht im Chis. ßl. 455^ voslv am Rand ; infolge davon ist dies Wort
versetzt im Parisinus Bl. 340^ und steht dort hinter soaTcXa^/vtav.
Dasselbe ist aber auch im Vat. 1153/54 der Fall, von dem Faul-
haber, Die Prophetencatenen nach römischen Handschriften (Freib.
1899), gezeigt hat, daß er aus dem Chisianus abgeschrieben ist.
Nun lesen aber auch der Vaticanus und der Parisinus S. 290, 12 f.
GTcXirjpoxdpSLOv für GvX-qpoxpdyrfikov. Daher^wird der Parisinus durch
Vermittlung des Vaticanus auf den Chisianus zurückgehen. Der
Anfang von Vat. 1153 war dann noch nicht in dem Maße wie
gegenwärtig verstümmelt, als Par. 159 von ihm abgeschrieben wurde.
Ge'ez-Studien.
Von
Enno Littmann.
Vorgelegt in der Sitzung vom 26. Juli 1918.
in.
Texte und Paradigmata nach Takla-Märyam.
Im Nachtrag zu Teil II meiner Ge'ez - Studien (Nachrichten
der K. Gr. d. W., Phil.-hist. KL, 1917) habe ich darauf hingewiesen,
daß ich in einem dritten Teile die Angaben verwerten würde, die
ein Abessinier über die Aussprache des Ge'ez gemacht hat. Es
handelt sich um die dort genannten Schriftchen von Takla-Märyäm
Samhäräy : Mamlwra Idsäna gd'dz und Fotün malmade fldal wandbäh
sahsäna gd^dz. Beide sind in Eom im Jahre 1911 erschienen^).
Im ManiJwr setzt der Verfasser nach der Einleitung, in der er
von seinen Vorgängern spricht, sein eigenes System der diakritischen
Zeichen {td'^mdrtäta sdhfat) auseinander. Dann gibt er die Accentre-
geln für Verba, Substantiva, Pronomina und Partikeln, Eigennamen,
danach für Verba und Substantiva sowie Partikeln mit Suffixen. Die
diakritischen Zeichen teilt er ein in solche für den Accent i^dTizat)
und für die Verdoppelung i^osnd'o). Den Accent definiert er dahin,
„daß man auf einen Buchstaben mehr Ton verwenden müsse {yäd-
mds) als auf die, welche mit ihm in demselben Worte vereint sind..
Und ein Buchstabe, auf dem der Accent ruht, heißt betont (dd-
müsy. Er verwendet vier Accentzeichen : l)^aVdl^) (d.i. „erhebe")^
1) Ersteres zitiere ich als Mamhdr, letzteres als Malmade.
2) Diese Namen erinnern in merkwürdiger Weise an die Benennungen in
der hebräischen Grammatik b*i3?bü und S^^bü.
Ge'ez-Studien. III. 319
", wem der Ton auf dem ersten Buchstaben des Wortes liegt;
2) ^andh (d. i. „erhöhe" oder „verlängere"), ~, wenn er auf einem
der mittleren Buchstaben liegt; 3) ^asnon'^) (d.i. ^neige"), ^, wenn
er auf dem letzten Buchstaben liegt; dazu kommt 4) ''ahaz (d. i.
„halte fest"), •, für Buchstaben mit dem 6. Vokalzeichen, wenn
dieser Buchstabe innerhalb eines Wortes nicht vokallos, sondern
mit einem unbetonten kurzen o zu sprechen ist, oder wenn d der
einzige Vokal eines einsilbigen Wortes ist. Denn Buchstaben der
6. Vokalreihe haben dreierlei Aussprache nach T.-M. : a) hochbe-
tont Qd^üla dams), wenn sie den Accent haben; b) kurzbetont (ha-
stra (hms), wenn sie am Anfang oder in der Mitte der Wörter mit
kurzem 9 zu sprechen sind ; c) schwachbetont {ddMma dams)^ wenn
sie am Schlüsse oder in der Mitte der Wörter ohne Vokal zu
sprechen sind.
Diese Unterscheidung nach Buchstaben ist rein willkürlich und
äußerlich. Sie führt auch zu großen Inkonsequenzen ; so hat z. B.
nad den 'Al'ol, sä den 'Asnen, zd den 'Ahaz, ivarad den 'Al'el,
qabar den 'Aneh, ^allä den 'Asnon, u. s.w. Daraus ergibt sich,
daß die Art des Accents in allen Fällen dieselbe sein muß. Ich
habe daher für 'Al'el, 'Aneh und 'Asnen in der Umschrift stets
den Acut gesetzt, für 'Ahaz in den wenigen Fällen, in denen er
zum Ausdruck gebracht ist, jedoch den Gravis. Eine Unterschei-
dung zwischen musikalischem und exspiratorischem Accent ist, wie
man sieht, nicht gemacht; die Bezeichnung des so wichtigen Ge-
gentons und Vortons, mag dieser nun exspiratorisch oder musika-
lisch sein, fehlt vollständig. Aus den von T.-M. gewählten Namen
jedoch geht mit großer Wahrscheinlichkeit hervor, daß er im We-
sentlichen den musikalischen Hochton im Auge hat^).
Das für die „Verdoppelung" angewandte Zeichen 'Asna'ö sind
zwei Punkte (") über dem betreffenden Buchstaben; ich habe in
diesen Fällen natürlich den Konsonanten doppelt gesetzt.
Im Mahnade gibt T.-M. zunächst eine Art Lesefibel : Alphabet^
Konsonanten zuerst mit dem 1. Vokal, dann mit anderen Vokalen,
Leseübungen einzelner Buchstaben, dann ganzer Wörter ; zwischen
diese Wörter werden die Namen der Monate, Jahre u. s.w. ein-
1) S. Anm. 2 der vorigen Seite.
2) So wird auch im hebräischen gottesdienstlichen Vortrag der Accent we-
sentlich musikalisch gewesen sein; vgl. die Schrift von E. Hommel, Der Akzent
des Hebräischen; man muß dabei aber die Worte von E. Sievers, Metr. Studien
I, S. 65, im Auge behalten, wonach alle Accentsysteme gemischt sind und nur
bald das eine bald das andere Prinzip vorwiegt.
520 EnnoLittmanu,
gestreut. Dann folgt ein maihd' (d. i. „Stärker") genannter Ab-
schnitt mit weisen Sprüchen, die zum größten Teile aus dem Buche
Sirach genommen sind; am Schlüsse der Schrift stehen die ersten
drei Kapitel des 1. Johannes-Briefs aus dem Neuen Testamente.
Die Namen der Buchstaben werden nicht gegeben, doch steht
neben U halle, neben /fi hamär, neben UJ 7idgüs, neben fl "'osat,
neben "i bd^mhän, neben A 'alef, neben U ^ain, neben Ä salot und
neben ^ sahäi. Dazu vergleiche man die Namen in Teil II {'Nach-
ricJden 1917, S. 677 f.).
Am Schlüsse des Ge'ez-Alphabets, nach den Zahlzeichen, stehen
auch die Zeichen, die im Amharischen und Tigrina neu hinzuge-
kommen sind. In einer Anmerkung weist T.-M. darauf hin, daß
$ , S?o nnd 'jff nur im Tigrina .vorkommen, ferner daß die Aus-
sprache des tl im Amharischen verschieden ist von der im Ti-
grina, endlich daß im Tigrina U— (tl—'i, Ä— ö von W — ^h. — 'i,
\—Uj verschieden sind und nicht mit letzteren zusammenfallen
wie im Gre'ez.
In der Verwertung des von T.-M. gebotenen Materials bin
ich nun folgendermaßen verfahren. Zuerst gebe ich in A die zu-
sammenhängenden Texte in Umschrift (Mahnade, S. 25 — 33) ; dann
die einzelnen Wörter aus den Leseübungen, und zwar, des rascheren
Verständnisses wegen , in Urschrift und Umschrift ; danach die
Aufzählungen der Wochentage u. s. w., einzelne Sätze, den Mathe' -
Abschnitt nur in Umschrift. In B folgen die Beispiele zu den
Accentregeln aus dem Mamlidr. Da T.-M. immer nur die Buch-
staben für die Accentregeln zu Grrunde legt, ist seine Anordnung
vielfach ganz anders, als wir sie nach den Silben treffen würden.
Auch ist bekanntlich die grammatische Einteilung bei den Abes-
siniern ganz anders als bei uns. Da es sich hier aber nicht um
eine Darstellung der abessinischen Nationalgrammatik, sondern le-
diglich um eine möglichst übersichtliche Materialsammlung handelt,
habe ich alle Formen, deren Aussprache durch diakritische Zeichen
festgelegt ist, hier in der Weise unserer Grammatiken und Para-
digmata angeordnet. Es war nicht möglich, dies Prinzip restlos
durchzuführen, weil dazu eine systematische Darstellung nötig
gewesen wäre; aber ich hoffe doch, daß eine gute Übersichtlichkeit
erreicht ist. Die Verbalformen sind nur spärlich vertreten, die
Nominalformen aber desto reichlicher ; das ist sehr erwünscht, da
in Teil II die Nomina, infolge der Art, wie sie in den Tabellen
bei Dillmann erscheinen, sehr stiefmütterlich behandelt sind. Im-
merhin läßt sich aus den Texten in Teil I und in III A eine große
Ge'ez-Studien. III. 321
Anzahl Nomina zusammenstellen ; und so haben wir ein gutes Ver-
gleichsmaterial zu der Darstellung bei Trumpp.
Meine Art der Umschrift muß hier naturgemäß von der in Teil
I und II gebrauchten etwas abweichen ; denn bei letzteren handelt
es sich um die von mir gehörte, individuelle Aussprache eines Ein-
zelnen, hier in Teil III jedoch um meine Wiedergabe einer ge-
druckten Vorlage, die von ihrem Verfasser als ein normiertes Sy-
stem beabsichtigt ist. Aber gerade die Abweichungen werden für
eine historische Gesamtbetrachtung der Überlieferung ihren Wert
haben.
Ich habe also den 5. und den 7. Vokal hier durchweg einfach
mit ö und ö umschrieben ; es ist durchaus möglich, daß Takla-Mär-
yäm, dessen Muttersprache Tigrina ist, selbst auch ä oder in
halb tigrinischer, halb amharischer Weise *a spricht. Die Normal-
aussprache für die beiden Laute sollte der Theorie nach e und Ö
sein, und danach habemch mich hier gerichtet, da mir die Unter-
lage individueller Praxis hier fehlt. So habe ich auch den Gre*ez-
Vokal immer durch a wiedergegeben, obgleich er wohl mit Aus-
nahme der Fälle, in denen er vor oder nach Gutturalen steht,
mehr oder weniger konsequent als ä gesprochen wird.
Besondere Schwierigkeiten bietet wiederum der 6. Vokal. Wenn
T.-M, sein 'Ahaz konsequent in allen Fällen, in denen ein unbe-
tontes 9 steht, gesetzt hätte, so wäre keinerlei Zweifel möglich.
Aber das hat er eben leider nicht getan, sondern er hat es nur
da gesetzt, wo eine Verwechslung stattfinden könnte , also z. B.
bei Jcafdl (;,teile") im Unterschiede von kdfl („Teil"), ferner bei dem
Worte ^^, das er aber ebenso gut ^d hätte schreiben können. Ich
habe mich hier, soweit es möglich war, nach meinen eigenen, in
Teil I und II niedergelegten Erfahrungen gerichtet; um nur eins
zu erwähnen, für die Form JBYl4^Ai, die von Gabra-Mikä'el
iJcaffdldnm gesprochen wurde, habe ich die Umschrift ikafdlänl ge-
wählt, da T.-M. JBYl4^Äi schreibt ^).
Für gewöhnlich wird, wie es scheint, in der überlieferten Aus-
sprache des Ge'ez ebenso wie im Hebräischen und im Tigre, teil-
weise auch im Tigrina kein vokalloser Guttural im Inneren eines
Wortes gesprochen, vielmehr muß ein Guttural, der im Silbenaus-
laut vor einem anderen Konsonanten steht, einen kurzen vokali-
schen Nachschlag erhalten, falls man sich nicht in anderer Weise
aus der Schwierigkeit hilft , wie z.B. bei ^äimdra (vgl. Teil I,
Nachrichten 1917, S. 631). T.-M. macht bei solchen Wörtern aber
1) Zur Verdoppelung des Suffix-Konsonanten vgl. unten S. 336.
Kgl. Oes. d. Wiss. Nachrichten. Phil.-hist. Klasse. 1918. Heft 3. 21
322 Enno Littmann,
nie sein 'Ahaz-Zeichen, so daß man annehmen könnte, er betrachte
den 6. Vokal dort als „schwachbetont". Aber wenn er z.B. hadd,
ladlc als dieselbe Form ansieht wie sädSg, sähs, so deutet er eben
an, daß bei den ersteren beiden 0 and 2\ mit Vokal zu sprechen
sind. In Teil I und II finden sich manche Schwankungen bei
solchen "Wörtern. Ich habe nun, um hier, wo ich die gesprochenen
Formen nicht gehört habe, wenigstens ein gewisses System durch-
zuführen, nach ' stets den Hilfsvokal durch hochstehendes ' ange-
deutet, auch bei 5\ als zweitem Radikal von fal- und fil- (qdtl-)
Formen, die sonst im Ge'ez nach der Theorie einsilbig zu sprechen
sind ; das Amharische unterscheidet sich eben hierin von der über-
lieferten Ge'ez- Aus spräche wie das Syrisch- Arabische vom Ägyp-
tisch-Arabischen. Bei fa^l- oder /i7-Formen entsteht im Kontext
ein Hilfsvokal am Schlüsse ; vgl. Teil 1 {Nachrichten, 1917), S. 630.
Diesen Hilf s vokal habe ich in den Texten und Sätzen hier natür-
lich auch gesetzt. Wenn aber solche Forrflen in pausa stehen, habe
ich ihn, auch bei Bildungen von Stämmen tertiae gutturalis, nicht
ausgedrückt; das ' und h ist dann sicher nur sehr schwach zu
hören. Hoffentlich werden künftige Forschungen diese Frage, die
für die Überlieferung des Gre'ez von gewisser Wichtigkeit ist, ein-
mal restlos aufhellen. Bei h ist auch im Inlaut der Hilfsvokal
nicht angedeutet, da hier nach meiner Erinnerung die vokallose
Aussprache vorwiegt.
Mit allem Nachdruck aber sei hervorgehoben, daß so sehr T.-
M. auch zum Schlüsse des Mamhdr (s. unten am Ende von Teil III,
S. 339) betont , seine Accentregeln seien durchaus einheitlich und
gültig, doch (1) bei ihm selbst Inkonsequenzen vorkommen, und daß
(2) von ihm Verschiedenheiten der Überlieferungsschulen zugegeben
werden; für das Hebräische vgl. Nöldeke, Iiikonsequenzen in der
hebräischen Punliation (Zeitschr. f. Assyr. 26, 1 ff . — Festschrift für
Ignaz Goldziher, 1 ff.). Von ersteren seien erwähnt kafaldna neben
wahabdnna, ndJcafdlaMmü neben ndsendwaMdmü. Vermutlich aber
hat er an Stellen, wo er sein Augenmerk nur auf den Accent rich-
tete, oft das Verdoppelungszeichen vergessen, und zuweilen auch
den Accent nicht gesetzt, wo er wohl zunächst die Verdoppelung
im Auge hatte; hier habe ich in der Umschrift stets verbessert,
und zwar so, daß ich bei nicht bezeichneter Verdoppelung den
zweiten Konsonanten in eckigen Klammern hinzufügte, bei feh-
lendem Accent aber in einer Anmerkung auf die Form bei T.-M.
hinwies. Von Verschiedenheiten der Schulen führt T.-M. an tdhöh-
hdrd, tehöbdrdy höbdrd neben den regelmäßigen Formen mit Paenul-
tima- Betonung (unten S. 333, Anm. 1); qeqph neben qeqdh (bei den
Ge'ez-Studien. III. 323
Nomiiialformen, S. 334, 5b/3); yäred, yos^f^ romän neben den Formen
mit Ultimabetoniing (bei den Eigennamen, S. 335) ; betontes Suffix
-]{9n neben unbetontem (bei den Verbalformen mit Suffixen, S. 336).
In Teil I und II sind die umschriebenen Texte und Wörter
in gewöhnlicher Antiqua- Schrift gedruckt. Ich hatte zunächst be-
absichtigt, alles, was umschrieben ist, kursiv drucken zu lassen.
Als aber damals bereits ein ganzer Bogen in 1. Korrektur mit
Antiqua- Satz ankam, konnte ich meine ursprüngliche Absicht nicht
durchführen, sondern behielt diese Schrift bei, zumal die Druckerei
einige neue Typen in ihr hatte anfertigen lassen. Für die Um-
schrift von 1. Joh. 1 — 3 habe ich diese Schrift auch hier beibe-
halten. Aber dort, wo Umschrift und Übersetzung oder sonstiger
deutscher Text zusammenstoßen, maß unbedingt ein Schriftunter-
schied gemacht werden. In letzteren Fallen, hier am Ende von A,
sowie durchgängig in B, habe ich also die umschriebenen Wörter
in Kursivschrift gegeben; diese Inkonsequenz bitte ich zu ent-
schuldigen.
Die W^issenschaft ist dem gelehrten Abessinier Takla-Märyäm
für das, was er geboten hat, sehr dankbar. Wenn auch seine Dar-
stellung noch nicht als abschließend gelten kann, so bringt sie
doch viel neues und wichtiges Vergleichsmaterial, das innerhalb
des Eahmens meiner Ge'ez- Studien nicht fehlen darf und Anspruch
auf sorgfältigste Berücksichtigung hat.
mal'ekta yöhanes hawarya walda zabde^os qadamäwf.
me'^räf I Uü I.
nazenewakk^mü ba'onta W9'5tü zahallö 'emq^dm we'otü 1
zasamä'^nähü wazaro'inähü ba'a'^yentina wazataiyaqna waza-
gasasähü 'edawlna ba'enta nagara hoiwat. — 'esma hoiwät 2
ta'auqat lana ware'inähä wasem'a könna wanozenawakkemü
lak^müni heiwäta 'enta la'äläm '9nta hallawat haba ^) 'ab wa-
ta'auqat lana. — ware'inähä wasamä''näha wanazenawakkomü S
lakemüni kama 'antomüni tokünü sütäfe meslena. wasütäfg-
nassa mesla 'ab wamesla waldd 'iyasüs kr8stüs. — wazanta 4
nas^hef lakomü kama tofsehtekemü fass^mta t^kün. — wazätf 5
ya'^ti zenä 'enta samä'^nähä tokat '8m[en]nehd wanezenewak-
k^mü kama 'egzi'abehgr berhän we'^tü waselmatessa ^) 'albö
1) So! L. haha. 2) Im Text -sa ohne Accent.
21*
324 Enno Littmann,
6 habehd wa'i'ahattini. — wa'emmassa nabelakemü b^na sütäfg
meslehti waw9sta salmat nahauwar nahessü wa'inagaberä lar^t'.
7 — wa'ammassa w9sta barhan nahauwar bakama wa'atü wasta
barhan wa'atü sütüfän n^bna babainätina wadamd la'iyasds
8 krastös yänasahanna 'amkuUd hätäwa'ina. — wa'ammassa
n^bj 'albana häti'ät naggggl lara'*s5na wa'albö rat'a babgna.
9 — wa'ammassa nagarna wa'amanna häti'atäna ma'^man wa'atü
wasäd^q kama yalidag lana hätäwa'ina wayänasahanna 'am-
10 kuUü 'abasäna. — wa'ammassa nab6 'i'abbasna hassäw6 na-
resayö lötd waqäldni*) 'iballö habena.
ma'^räf II.
1 daqiq^ya zanta 'asahaf lakamü kama 'ita'abb§sü wa'am-
manf bö za'abbasa paräqlitös b5na haba 'ab 'iyasüs krastös
2 §äd6q. — wa'atü y^hdag lana hätäwa'ina wa'akkö ba'anta
3 zi'ana bähtitü 'alld ba'anta 'älamanl. — waba'anta za na-
4 'ammar kama 'a'^marnähti la'amma 'aqabna ta'®zäzö. — wa-
zassa yöbj Vamarö wa'iya'aqqab ta'^zäzö hassäwi wa'atü
5 wa'albo sadqa 'agzi'abaher [. . — • • •] ^) fassüm lä'^lehd. wa-
6 bazantü na'ammar kama bötd hallauna. — wazassä yab} bötu
7 hallaukü maft^u y6hür bakama höra zaktü. — 'ahawina 'akko
ta'^zäza haddisa za'as^haf lakömü 'aUa ta'^zäza balita 'anta
bak^mü takät. 'asma ta'^zäz balüi wa'atü zantd qäl zasamä-
8 '^kamü. — waka'^ba ta'^zäza haddisa 'as^hef lakamü wa-
wa'^tü 'amdn bötd wabakamü. 'asma halafat salmat wabar-
9 hän zaba'aman waddö'a 'astar'aya. — wazassa yab} wasta
barhan hallökü waisaUa' biso hassäwi wa'atü wawasta sal-
10 mat hallö 'aska ya'^ze. — wazassa yäfaqqar biso wasta
11 barhan inabbar wa'albö 'aqaft bahabehd. — wazassä isalla*
bi§ö wasta §almat wa'atü yahauwar wa'iya'ammar haba ya-
12 hauwar 'asma salmat 'a'örö 'a'^yantihd. — 'asahef lakömü da-
qiqaya 'asma tahadga lakamü häti'atak^mü ba'anta samd. —
18 'asahaf lakömü 'abau 'asma 'a'^markamiiwö laqadämäwi. 'as§-
14 haf lakamü waräzdt 'asma mö'^amüwö la'akkdi. — sahafkü
lakamü daqiqaya 'asma 'a'^markamiiwö la'ab. sahdfkü lakamü
'abau 'asma 'a'^markamüwö laqadämäwi. sahafkü lakamü wa-
räzdt 'asma sanü'an 'antamü waqäla 'agzi'abaher inabbar ha-
15 bekamü wamö'^kamüwö la'akkdi. — 'itäfqariiwö la'älam wa'f
zahallö wasta 'älam. wazassa 'afqarö la'älam 'ihallö faqra
16 'egzi'abahgr habehd. — 'asma kulld zahallö wasta 'älam fat-
1) S. 325, Anm. 1, 2) Hier fehlt ein Satz im äthiopischen Text.
Ge'ez-Studien. III., 325
wata lasegä wafetwatd la'din wasaräliti lamanbart 'iköna zantn
'emhaba 'ab 'allä 'em'äläm we'otü. — wa'älamanf ^) yahälbf 17
wafetwatdnf ^) wazassa igabbor fotwatö la'agzi'abaher inäbber
la'äläm. — daqiqoya zäti sa'at dahärit ye'ati wabakama sa- 18
mä'^k^mü kama imas^a' hassäwe maslh waye'^zeni ^) könü be-
zühän hassäwayäna masih. wabazentd 'a'^märna kama dahärit
sa'at ya'eti. — 'osma 'araannena was'ü *alla 'ikönü bähtd 'a- 19
menngna. wasöbassa 'amannena 'amüntd 'amnabarü maslena.
wabäbtd kama yat'awäqü kama 'ikönü kuUömü 'amanngna. — 20
wa'antamüssa qab'at bakamü 'amanna qaddds wata'ammarü
kuUö. — 'i§ahafkü lakamü kama za'ita'amarüwä lasadq 'allä 21
kama ta'amarüwä. 'asma knllä hassat 'ikönat 'amsadq. — wa- 22
mannü wa'atü bassäwi za'anbala zaik^bad wayabj 'asma 'lya-
sds 'ikona masiha wazantd wa'atü hassäwe masih zaikahad
ba'ab wabawald. — wakullu zaikahad bawäld waba'äbani^) 'i- 23
hallö wazassa ya'amman bawald waba'abani') halläwa. — wa'an- 24
tamüssa zasamä'^kamü takat layanbar habekamü wa'ammassä
zasamä'^kamü takat nabara habekamü wa'antamüni tanabbarü ^)
ba'ab wabawald. — wazäti ya'ati tasfä 'anta 'asaffawänna 25
haiwäta zala'äläm^). — wazanta nas^haf lakamü ba'anta 'alla 26
yäsahatükamü. — wa'antamüssa qab'at bakamü 'anta nasä'®- 27
kamü 'amhabehd tanabbar habekamü wa'itafaqqadü mannohl
yamharkamü 'allä manfasa zi'ahd imeharakkamü ba'anta kulld
wa'amdn wa'atü wa'iköna hassata. wabakama tamhartakamü
nabarü bäti. — waya'^zenf^) daqiqaya nabarü bäti kama 'ama 28
'astar'aya narkab gässa wa'inathäfar 'amannehd 'ama imassa'.
— wa'ammassä ra'ikamü kama sädaq wa'atü 'a'^marü kama 29
kulld zaigabarä lasadq 'amannehd tawälda.
ma'^räf III.
wara'ayü zakama 'afö faqrd zawahabanna 'ab kama wa- 1
lüda 'agzi'abahür nakün wakönnahi waba'antaza 'ifatawänna
'älam 'asma lötdni^) 'iyä'^marö. — 'ahawina ya'®zessä daqiqa 2
'agzi'abahgr nöhna wa'ädi 'ita'auqa lana manta nakauwan. —
na'ammar bähtd kama 'amkama ta'anqa lana kamähd nakau-
wan 'asma nare'ayö lötd bakama wa'atü. — wakuUd zatawak- 3
kala kiyähd yänässah ra'^sö bakama wa'atü nasdh. — wakulld 4
zaigabarä lahäti'at wala'abasäni ^) gabrä wa'atü 'asma 'abasä
hätl'at wa'atü. — wata'ammarü kama 'astar'aya zaktd kama 5
1) Im Text -m ohne Accent. 2) Im Text ohne Verdoppelungszeichen.
3) Im Text ohne Accent.
326 Enno Littmann,
6 yäsas[s]5llä lahäti'ät wahäti'ätassa 'albö habehd. — wakulld
zabötd inabbar 'iy^'ebbas 'asma kuUd zai^'ebbes 'iy®re'eyö wa'i-
7 ya'amarö. — daqiq^ya 'iyäsahatükemü kulld zaigabara la-
8 §5dq säd^q we'etü bakama zektd sädeq wa'^tü. — wazassd
igabarä lahäti'ät 'emanna gängn we'^tü 'asma qadämikd sai-
tän 'abbasa. waba'anta zentd 'astar'dya walda 'ogzi'abahgr
9 kama yes'ar gabrö lagänen. — wakulld zayatwallad 'am 'ag-
zi'abahgr 'iy^gabara lakäti'at 'asma zar'a zi'ahd bötd inab-
10 bar wa'iyakl 'abbaso 'asma 'am 'agzi'abaher tawalda. — wa-
bazantd 'amüran wa'atömü daqlqa 'agzi'abaher wadaqiqa gä-
ngn. wakulld za'iy®gabarä lasadq 'iköna 'am'agzi'abahgr. wa-
ll kamähd za'iyäfaqqar biso. — 'asma zäti ya'6ti ta'^zäz 'anta
12 samä'*kamü takat kama natfäqar babainätiaa. — wa'akkö ba-
kama qäyan za'am'akkdi wa'^tü waqatalö la'ahühd. waba'anta
mant qatalö? 'asma magbära zi'ahd 'akkdi wa'6tü waza'ahühdssa
13 sädaq wa'^tü. — wa'itänkarü 'ahäwlna 'ammaki 'älam sal'a-
14 kamü. — nahna na'ammar kama 'adauna 'ammöt wasta haiwät
'asma näfaqqar bisana. wazassa 'iyäfaqqar biso wasta salmat
15 inabbar. — kulld zaisalla' biso qatäle nafs wa'^tü wata'am-
m^rü kama laqatäle nafs 'albö haiwät zala'älam 'anta tahellü
16 lä'^lehd. — wabazantd 'a'^marnähd latafäqarö 'asma wa'atü
mattäwa nafsö ba'anti'ana wanahnani idalawanna namattü
17 nafsäna ba'anta bisana. — wazabötd manbarta zantd 'älam
waire'i bi§ö sanndsa waya'ässü mahratö 'amannehd, 'afö inab-
18 bar faqra 'agzi'abaher lä'^lehd? — daqiq^ya 'inatfaqar baqal
19 wabalasän za'anbala bamagbar wabasadq. — wabazantd na'am-
mar kama 'am s6dq nahna. wanahnassa qadmehd nämak[k]arrö
20 lalabb^na. — wa'ammassa yärsahasahanna/) labbana 'am 'aba-
säna wayä'abayö 'agzi'abaher lalabbana waya'ammar kullö.
21 — 'ahawina 'ammassa 'iqalayanna labbana gassa b^na haba
22 'agzi'abaher. — wazahi sa'alnähd nanassa' 'am habehd 'asma
23 ta'^zäzö na'aqqab wanagabbar zai^'edamö qadmehd. — wazäti
ya'ati ta'®zäzd kama n^'^man bawaldd 'iyasds krastös wanat-
24 fäqar babainätina bakama wahabanna ta'^zäzö. — wazassa ya-
'äqqab ta'^zäzö bötd inabbar wawa'^tüai^) bötd. wabazantd
na'ammar kama inabbar maslena 'amanna manfasd qaddds za-
wahabanna.
1) L. yarsahasdhänna. 2) Im Text -m ohne Accent.
Ge'ez-Studien. III.
327
Einzelne Wörter ans den Leseübnngen.
S. 16 und 17 (mit zwei Buchstaben
<^^
mdrra
j-or
tau
n
nagg
Ä>
s5g-
Wo
sö'a
AM
Mi
•atx
k-äk-ä
ec
§dr
*Ä
qs'a
^z.
q^arra
CliA
talla
j?.;?-
ddd
U-A
hol
iry
höhe
üp
hebö
P-2
yögf
[\,R
bis
U4.
kefä
TVi
wäkd
17
gög
Art
hässa
9^
qänä
OÖ
'6§
flt-1^
tat
4,(3^
qöm
UTl
höka
Tn
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goäg^ä
FÄ.
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s§m
ÄU
'äh
^'A
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'öf
cpci»
möqa
"L""^
pTsä
A<I>
leqa
4:^
f^tt
jea
ibe
OiA
'ädt
S. 18 (mit drei Buchstaben).
^^i^ höh^t A^4^' saiyäf ÄJ?A sadäl H<^R, zamadd
TT^papTrä HOrÖ zäw^' Hin zagaba "K-fl^ '^bn
^^^ dalun ^Z^ 'örlt 7\H'$ '^zh ^U^f^ te'üm
S. 19 (mit vier Buchstaben).
VCn^ harbada ÄÜYIP 'abkäya P^A^^ maltän
IUZ7A saragala UfJ'P-^ säqäyit A^^A<^ lamlama
-fC^Pi tamaiyäna UA:^^:' hallatät Z.[\^^ rabbanat
mc^ J-^ simatät IfUJ^-r höheyät A^ÖA'E lualäwi
S. 20 (mit fünf Buchstaben),
'M-flAf
tanbalannä
A5-f^C^
'anämört
•J^ar"?^
hasäw^nt
Az.n^t-
'arabönät
iWXj»!
nasä'oyän
Ährfi^J»
'ashatyä
ii\":rt
nagastat
An^a'^
'asräbät
ifli-fi'n-a
natabtäb
^^A^J»^
q'el'eyät
f.HH.J>^
nüzäzeyät
g28 Enno Liitmann,
S. 21 (mit sechs Buchstaben).
Äil't'Tr^J? 'astawädäda <^jfl'l">if^C mastasäm^r
AilA^J^^ 'asfaredäta ^^J*JP^ tonqäqeyat
^arillilj'ft' t8iih8stät ^'?ÖC:^'1t• teg'ertdt
-^^ÄOrjP^ ' dansäw9yän ^-flÖ^W'A dab'enk^^l
Ö^CdC^/i,^ ma'är'Irän ^CW^W-J"^ derk-akHat
Ä^A*A^ 'adlaqldqü
Die Wochentage (S. 18).
'a/md!. sanüi. salus. rdbu. hamus. "'drb. qadäm.
Die vier Jahreszeiten (S. 19).
saddi. Icdrämt. masdu. hagdi. Oder: taivdn. samdna zar*\
samdna söge, mä^^rdr.
Die zwölf Monate (S. 20).
maskardm. teqdmt. hddär. tähsäs. tar. yalcättt. maggdhiL
miyäzyd, gdnhöt. sandi. hamU. naliase. — (wadlatät tarräfdta 'au~
rdh ydssammdya) päg^^me.
Die Evangelistenjahre (S. 21).
samdna mate'^ös. zamdna mdrqös'^). zamdna lüqäs. mmdna
yölidnds.
Einzelne Sätze') (S. 17).
hün liera Jidgga Mllü sdlli hahd ^dh
„Sei gnt, hüte das Gresetz, bete zum Yater^^
nd^a §ä^ hur hahd habt &a?[Z]ö qdla robbt
„Wohlan, geh hinaus^), geh zum Hauptmann, sage ihm daa
Wort des Meisters!"
qeha kamd ddm „Er war rot wie Blut".
sdd lötü S9gd ^dd „Bringe ihm das Fleisch des Armes (Vorder-
beines)". •
dihd mdi höra „Auf dem Wasser ging er".
mo'a sdr[r]a „Er besiegte den Feind".
1) Im Text mär^qös; wohl Druckfehler.
2) Diese Sätze haben die einzelnen Wortaccente wie beim Skandieren.
3) Der Druck hat }^^ („überwinde!"); es ist aber wohl ^^^ gemeint.
Ge'ez-Studien. III. 329
mit gd§sa ^om hdbd hdssa „Wende das Antlitz von dort, wo
wenig ist".
Mta rddü, hdbü sddü „Geht zum Haus hinab, gebt, bringt!*
""alle 16 la^a Mta hhbü qim hallo
„Wehe dem, in dessen Herz Eachedurst ist".
S. 22—24.
zaijäsdt\t\dt Jiddäta yähdgg^dl hdzuha
„Wer ein wenig vernachlässigt, verdirbt vieP. — Sirach 19 1.
hün fdtüna lasami wag**dndüya lanabib
„Sei schnell zum Hören und langsam zum Reden". — Jacob. I19.
'97n[m]d tabiba Jconka lara^'sdJca tabiba tdhduwdn lahlsaka.
„Wenn du weise bist für dich selbst, so wirst du auch weise
sein für deinen Nächsten".
'UdtMJiad ba'dntd sddq
;,Rede nicht wider die Wahrheit!" — Sir. 4:25.
0ayahd^[b]9^ "abasä ifdqqdd "ariqa ; zaisdlld''dssd ^) habia iUlll
^a"»rdUa
„Wer die Schuld verbirgt, wünscht die Versöhnung; wer [sie]
aber nicht verbergen will, trennt die Freunde". — Proverbia 179.
^ ^drh haddis wdin haddis
„Neuer Freund, neuer Wein". — Sir. 9 10.
htdhddg ^arkdJca satdhät ''dsmd ''ty^'kanwdnd'kha Tcamähü ^drlca gabt
„Gieb einen alten Freund nicht auf; denn wie er ist dir der
zufällige Freund nicht". — Sir. 9 10.
W9std ^dda kenyahü ydssamd* ^) gdbrü
„Durch die Hand seines Künstlers wird das Werk glänzend".
— Sir. 9 17.
^lyämsdtka 'arkdka *amd tdfs^litdka iva^iydthabd'^ka salaika *amä
mdndäbeka
„Dein Freund fliehe nicht vor dir zur Zeit deiner Freude, und
dein Feind bleibe dir nicht verborgen zur Zeit deiner Not''. —
(Sirach 12 s ; statt des Jussivs wäre besser der Indikativ zu lesen).
kullü ''dns9sä yäfdqqdr zamadö
„Jedes Tier liebt seine eigene Art". — Sir. 18 15.
^ttdhres Jiassdta laHa bisdka ivahtdgbar kamazb laHa ^arkaka
„Säe nicht Lüge auf deinen Nächsten, und tue nicht so gegen
deinen Freund!" — Sir. 7 12.
Id'ogzfabaher fdrdhö iva'^dkbdr zay9ssammad6
„Fürchte Gott und ehre den, der ihm dient!" — Sir. Tai.
1) Im Druck -sa ohne Accent. 2) So im Druck; 1. ydüämmä*.
330 Enno Littmann,
haJcullu hhhdha ^aJcharrö laahuka wcbiidrsoi h9mämä lä*9mm^ka
„Von ganzem Herzen ehre deinen Vater und vergiß nicht die
Wehen deiner Mutter!" — Sir. 727.
S9ruf zaigaddfo ladbühü warogum zayämd''d''a la9mmü
;,Ein Gotteslästerer ist, wer seinen Vater im Stiche läßt, und
verflucht ist, wer seine Mutter erzürnt. — Sir. Sie.
^akhdro ^db yäkähbdr iva^astahaqdro ^amm yähdssdr
„Den Vater ehren bringt Ehre, und die Matter verachten
bringt Schande«. — Vgl. Sir. 3ii.
zaikäm g^bba lablsü iwädddq wsstetu
„Wer seinem Nächsten eine Grrabe gräbt, fällt in sie hinein".
Sir. 2726; Prov. 2627; Eccles. 10 s. Vgl. auch die von mir heraus-
gegebenen Ardbic Proverbs, Cairo 1913, S. 42.
bdb^sJia^) fdntägü ibäz29h lahäu fdhnü
„Darch die Menge seiner Scheite mehrt sich des Feuers Grlut^.
— Sir. 11 32.
^dbd ^dmhöhdt iheuwds beta basd wdbd'dsissd'^) tdbtb iqduwdm ''af^d.
„Der Tor schaut durch die Tür in das Haus des Anderen;
der kluge Mann aber bleibt draußen stehen^. — Sir. 21 23.
madhdra ^db yäsdnnQ^ 'abyäta wamargdma ^amm iserrü masardta.
„Der Segen des Vaters festigt die Häuser, und der Fluch der
Mutter reißt das Fundament aus". — Sir. 89.
lanadäi sdfäli ^ddeka hamd fessamta tdkün barahüdka
„Dem Armen reiche deine Hand, damit dein Glück vollkommen
sei!" — Sir. 732.
^td'äbbds lahagardka wahtäsahet rd*^sdka^ bama'^kdla hdMka
„Sündige nicht gegen deine Mitbürger und führe dich nicht
selbst irre unter deinem Volke!" — Sir. 7?.
^amd ^dldta sannäit iras9^üwä laekkit toa*amd ^dldta ^dkkit ira-
sd'üwä lasann&it
„Am Tage des Glücks vergißt man das Unglück, und am Tage
des Unglücks vergißt man das Glück". — Sir. 11 25.
qöqdh tasdgra baq^^dsla ^) ^asrdqo
„Ein Rebhuhn wurde gefangen in geflochtener Schlinge (?)".
— Sir. 11 so: dieser Satz 'ist hier sehr wenig am Platze; er ist
unvollständig und unverständlich.
baWHa ^) wdlüdü yästarft lasdh'd nobratu
„An seinen Nachkommen erscheint des Menschen Art". —
Sir. 11 28.
1) Im Druck ohne Accent. 2) S. 329, A.nni. 1. 3) Besser rd*»sdka
ifio auch in Dillmann's Ausgabe.
Ge'ez-Studien. III.
331
^amhä wälidlydn yä^duwsr ^a^'yantlhomil latdblbdn
„Greschenke und Gaben blenden die Augen der Weisen". —
Sir. 20 29.
WHa gardhta bd^dsi hakdi haldfkü ivahahd ^asdda wdina hd'dst
naddya ""cL^mdro horkü; ivanähü baq**dla W'Wiü sök wayadbbdr sä-
^'rü fdssüma waßduwan bddwa wasaq^dna ^dbanlhu iridhdl.
„Am Acker eines faulen Mannes ging ich vorüber und zum
Weinberg eines Mannes von wenig Verstand ging ich. Und siehe
da, auf ihm sind Dornen gewachsen, und sein G-ras ist völlig ver-
dorrt und er ist wüste und sein Steinzaun zerfällt". — Prov.
24 80 f.
tabiba kün wdlddya kamd ydtfas[s]dhdnni hbbdya
„Sei weise, mein Sohn, damit mein Herz sich freue". — Vgl.
Prov. 23 15. 27 11.
B.
Formen und Paradigmata aus Mamhara bsnna gddz.
Verbalformen (S. 14-18).
Starkes dreiradikaliges Verbum.
Ox
Perfectum
qatdla qatdlü
qatdlat qatdlä
qatdlka qatalkdmü
qatdlkl qatdlkm
qatdlkü qatdlna
gdbra
gdbrat
Imperfectum
Indikativ Jussiv
Imperativ
ikdffdl y^kfdl
tdgdbbdr tagbar
kaßl (S. 12)
-saifäh (Malmade
S. 24).
0,
Perfectum Imperf. Indik. Jussiv
A,
A,
wad[d]dska t9wed[d\ds t9ivdd[d]9S
qad[d]dsä iqed[d]^sä iqad[d]9Sä
'aqad[d]dsa
yäqed[d]9S
yaqdd[d]9S
^äbärdka
yobdrrdk
yObdrsk
Imperativ wdd[d]9S
332
Enno Littmann,
Tx
•T,
T»
Perfectum
Perfectum
[taqdtla
[tagabra
taqad[d]dsa
taqad[d]dsü
tafäqdra
taqaä{d']dsat
taqad[d]dsa
tafäqdrat
Impf. Indik.
ydtqdttal
taqajA[d'\dsha
taqad[d]asJc9mü
tdtfdqqar
Impf. Jussiv
ydtqdtdl
taqad{d'\dslii
taqad[d]dskü
St,
taqad{d]ask9n
taqad[d]dsna
N.(?)
tdtfdqar
Perfectum
''astaqätdlna
''angal[l]dgg'i
ü
Impf.
Indik.
nästaqattdl
"angel[l]9g
Impf.
Jussiv
nästaqätdl
'angdl[l]9g
0,
Vierradikaliges Verbum.
Tx
Perfectum dangdsa
^amanddba
tamanddba tan
lähsdna
Impf. Indik. idandggds yamanddddb ydtmanddddb yotmaJidssan
Impf. Jussiv iddngds
yamdnddb
ydtmdndab ydtmdhsan
Imperativ ddngds
tamdndab
Verbnm mediae geminatae.
Verba mit einttnralen.
Ox
Tx
Ox
O3
Tx
Perfectum ndbba
tandbba
b9Ji9Ja
bälahkü
taUMa
ndbbü
tanabdbJca
hdMlJcl ,
bälahMmü
Impf. Indik. jndbbdb
t9tndhbab
tdbdhdll
'dbalM
inabbabü
tdbälldhü
Impf. Jussiv ydnbdb
tdtndbab
tdbhdll
'sbäUh
ydnbdbü
tQbäUhü
Imperativ
tandbab
balidll
baWiü
Die unregelmäßig
:eii Formen von "flUA:
jf)e
yohl
ydbdl
t9be
tm
tdbal
tdbe
tdbl
tdbal
hdl
tdbeli
tdbli
tdbdli
ball
'dbe
'9bl
'abal
ibelü
ydblü
ibdlü
ibelä
yMa
ibdlä
tdbelü
tdblü
tdbalü
bdlü
tdbelä
tdbU
tdbdlä
bdlä
ndbe
mbl
n^bal
Ge'ez-Studien. III. 333
Verbum mediae (D. Verbum mediae P.
A
Ol §6ra
Ol sema Perfectum ^asema
Ti ta§dura
Ti tasdima ^asemü
Impf. Indik. yäsdiyim
•
yäsaiyimü
Impf. Jussiv ydsim
yäsimü
Verbum secundae e.
Perfectum Uldina Impf. Indik. ndUlU Impf. Jussiv ndUll
Verbnm secundae ö.
Perfectum
Impf. Indik.
Ol Ai Sts
liöhdrat ^amögdsa ^astamwäqaha
höbarJcan ^astamwäqähna
tdJiohbdr yämöggds nästamwdqqah
toJiöbbarä ^)
Impf. Jussiv
tdhohdr yämögds nästamwdqdh
tdhöhdrä ^) TN
Imperativ
höbarä^) tantölfa
Doppelt sebwaches Verbum.
Ts taziyändwa (so im Druck, mit HL)«
Sts ^astawäddya, ^astasanadwa
Nomina, Pronomina, Partikeln.
(S. 19—26).
1. Einsilbige vokalisch auslautende Wörter : m ha M z^ ho,
2. Partikeln und Pronomina (in Pausa): 'asma ha^dntd haind
^dnhaind hdyantd Jiabd mangald wd'ddd Icamd hazd ^dmm söhd
"amd ''dsM ^dntd '9l[l]d ''dnhald dlhd.
Ausnahmen: ^^iika zdya tiq^q\a ''dna "dnta nohna
3. Enklitika. 1) An Partikeln angehängt: ha^dntassd zan%
^dm[m]aM söhahü, — 2) An andere Wörter angehängt: qdhssd^)
taghdrdni nahdhanü wB^dtümmd^) ma^'zemmd^).
4. Alle Wörter, die auf i ü ä e ö ausgehen, [mit Ausnahme
der suffixlosen Formen des Verbum finitum auf w, ä, t sowie ver-
1) Nach anderer Schulüberlieferung: idhobldra, tdhöhdrä, hobdrd*
2) Im Druck fehlt der Accent auf der letzten Silbe.
334 £nno Littmann,
schiedener Verbal- und Nominalformen mit Suffixen] haben den
Ton auf der letzten Silbe, bötü Jcullü Tcantu dä^^mü bäJitu, —
rab[b]i ^ädt kaist qatält mafqari äaJiärt. — q^al[l]d 'aZ[?]d ta-
hHä Tcawälä äabtarä — ibe gue bdrdl\l]e c^dnc^ne Äa?p]a
'aZ:[Ä;]o ^albo qafö dörho qad[d]9s6 bäroM degono höbdro dan-
gd§Ö masanqo mährdlw.
Ausnahmen : wd^Mü y9*dtl 'änti ^anUmü.
5. Konsonantisch auslautende Wörter.
a) Wörter mit zwei Konsonanten: läi ndd ddq{q] su Uq
qim qäl set ^dm[m] ldb[b] rös bok (1. bdhT).
b) Wörter mit drei Konsonanten, deren zweiter vokallos ist
oder d hat.
a) Mit a(ä) beim 1. Konsonanten: Idbh Idwh sdtn bdd^
wdr* wä\ lahm ba^s ddhn.
[Scheinbare] Ausnahmen : bagg9^ mä^ddd.
Wörter, die auf GX" und JB endigen: qähdti säMu mähatf^
bdkdi( sandi rä'di lähdi.
Nomina agentis: sädsq rätd bd^dl dägim Mlf säUs, u. s. w»
bis ^äsdr^).
[Scheinbare] Ausnahmen: bd^dd Wdlc,
Eine genauere Besprechung dieser Formen wird in Teil IV
gegeben werden. Hier sei nur bemerkt, daß bd''dd und Wdlc keine
/a'i/-Formen, sondern /a^Z-Formen sind, daher durchaus regelmäßig
den Ton auf dem a haben ; vgl. ba'd in den alten Inschriften. Da-
gegen würde man die Form dähon erwarten, da die Inschriften
dälidn haben, vgl. den Index zu Deutsche ATcsum-Expedition Bd. IV.
Die Wörter baggd^ und ma*ddd gehören natürlich nur dem abessini-
schen Schriftbilde nach mit den vorhergehenden Wörtern zusammen ;
die Verdoppelung des g in baggd^ zeigt sich auch im Tigrifia und
Tigre, und mä''ddd geht auf mä'ddt (*mäHdat) zurück.
ß) Mit üj % e beim ersten Konsonanten : qüst Uqt hert qeqah
(nach anderer Überlieferung: qeqdh).
y) Mit ö beim ersten Konsonanten: qöbf möqdh möga^ höhdL
d) Mit d beim ersten Konsonanten : hdlm mMh bdr sdru gdbr
^dzh,
Ausnahme : ^dhdt. Mit dT und J2 : ''dhd^ td*di Uhdi hetat^
'dSdU.
c) Wörter mit drei Konsonanten, deren zweiter einen anderen
Vokal als d hat: qabdr harür bürüJc Jcdfül balth baldh nabib
1) Druck: 'as^r.
Ge'ez-Studien. III. 385
sayim qatU hdhil saläm hasen qanöt hürdt müläd heran
qälät gdhbäb (1. g9ldb?) slhät mögds römän qöhdr,
d) Wörter mit vier oder mehr Konsonanten: masarät matqd*
'ar'üt §aräm maUlU räganät 7nar^dt malahöt §drnd^ manäf^q
^afbdt dahatdr uaräzut bürüMn qdd[d]üsdt naklrdn lalihdt masßh
maansdh ^alplis nag'^adg^dd ^asfared häimänot ^adbärdt masa-^
ratdt ddngü§dn mdhrülät ddFdnh^al mastahq^f mastagädü 'an-
sdlüul TcetrögäuUs mastagäddJdt mastaqätsldn. — qddddst Tcdh^rt
hürekt mantdft mdltdht Jionqart ddngdst mdhrakt maVdkt wa-
Mydzt 'ahJidrt kaläsdst mantöWH matar^9st mastagäddlt masta-
wädddd. — maslidt matMt mastaiväkdt naßst. — ^ant4n.
Wenn die Endung -a antritt, so bleibt der Accent wie vor-
her: Idya tad§fa. — qdrna ndfha — ralidba taaggdsa — feqro ka-
sdta (gehört nur hierher, weil fdqrö im Akkusativ steht). — nadä-
yäna "ab^dla.
Wörter im sogen, status constructus und Partikeln (mit Aus-
nahme derer, die auf ^ü, -i endigen, sowie 'a?[/]a) verlieren den
Ton im Kontext.
gdbra sdb\ — ^aqähe sdräj. — sab^a ^aganrnt — ''autära ^dnzirä,
^dsma ^a2\z\dza. — badnta sataivdkfa. — fddä sahdVa. — gize
tansd^a. — di^ba ^anlidst ^drgü. — beza säb^d mota.
Eigennamen.
Sie werden betont wie die Appellativa.
^lyäsu "aragäwt lalibalä }ian[n]d taklä nidnäse Htyöpydr
^9syd ^afräqyd sdr gdbs sänd tak[k'\azi tak[k]aze zäg^e däm&
^ak^süm hardn (d. i. Cheren) ^asmard. — newäya S9l\lYis. — ivdlda
märydm. — gdbra mikael. — it'alat[i\a qdddüsdn. — ^amata yöhands
(so ! Aber oben S. 323 yöhdnos ; die häufigere Aussprache ist aber
wohl yölmnnds).
Gekürzte Formen: ivaldä takla ^asgada gabrd (im Druck
mit dem 1. Vokal) taklü gabru kdbrd.
Fremde Eigennamen sollen wie in der Ursprache betont werden
[aber wenige Leute in Abessinien werden diese Ursprache kennen] ;
jedoch betont nur eine Schule in dieser Weise, die andere betont
nach abessinischer Weise, daher die Varianten
yäred : ydred, — yösef : yos^f. — röman : romän u. s. w.
336
Enno Littmann,
Verbnm mit Suffixen.
r
(S. 29—33).
3.
Pers. masc. sing. (HC'f-^)-
Jcafalo
ihafdlo
ydJcfdllö
Jcafalä
ikafdlä
ydkfdlU
Jcafaldka
jkafdldka
yeJcfüka
JcafaläJcl
iJcafaldkt
ydJifdllii
Jcafaldm
ikafdldm
ydkfoldnl
Jcafalomü
ikafdlömü
ydJcfollomü
Jcafalon
ikafdlön
ydJcfallön
JcafalaJcamü
ikafdlakimü
ydkfdlkamü
JcafaldJcdn
ikafaldkdn
ydkfdlkdn
Jcafaldna
ikafdldna
ydkfdldna
Anm.: Nach anderer Schulüberlieferung wird -kdn stets be-
tont; dann also Jcafalakan, ikafdlakan, ydkfdlJcdn; kafalatakan, tdkafdla-
Mn; Jcafalükan, ikafdlükan, yokfdlükm u. s. w.
Hier sind die Konsonanten nach dem Bindelaut nicht verdop-
'pelt; vgl. aber wahdbänna 1. Joh. 3i.23.24; hfatawdnna ib. 3i; yä^
nasdJidnna ib. I7.9; nezendwakkimü ib. li; I5; ''asaffawdnna 285;
imeJi9rakk^mü 2 27 ; idahwdnna 3 ig ; ^ly^Jcamvdndkka , oben S. 329,
.Z. 22; ydtfas[s\9hdnn% S. 331, Z. 12 u. a.
3.
Pers. fem. sing. (HCi^
P't).
kafdldtö
tdkafdlö
tdkfdllö
kafaldtä
tsJcafdlä
tdJcfdllä
hafalatdka
tdkafdldka
tdkfdlka
kafalatdJci
tdkafdldkl
tdkfdlM
kafalatdm
tdkafsldni
tdkfdldm
kafalatomü
tdkafdlömü
tdkfdllömü
Jcafaldtön
tdkafdlön
tdJcfdllön
kafalatakamü takafdlak^mü
tdkfdlJcdmü
kafalatdkdn
tdkafdldkdn
tdJcfdlJcdn
kafalatdna
tdkafdldna
tdkfdldna
2. Pers. masc. sing. (H*4.-fl).
Mfalkö
tdkafdlo tdkfdllö
kdfdllö
kafalJcä
tdkafdlä tdkfdllä
kdfdllä
Icafalkdnl
tdkafdldnl tdkfdldm
kdßldm
kafalkomü
tdkafdlömü tdkfdllömü
kdfdllömü
kafalkon
tdkafdlön tdkfMlön
kdfdllön
Jcafalkdna
tdkafdldna tdkfdldna
kdßldna
Ge'ez-Studien. III.
2. Per».
fem. sing. (H4>C-fl^).
kafaUiyö
tdka]
fdliyö tdkfdUyö
kdßliyö
hafalMyä
t'dkafdUyä tdkfdliyä
kdßliyä
hüfalkdni
tdkafdUm tdkfdUnl
kdßUni
kafalklyomü
tdkafsUyÖmü tdkfdliyomü kdßliyömü
kafalkiyön
tokafoliyön tdkfdUyön
kdßliyön
kafalkdna
t^kafdlhia tdkfsUna
hdßUna
1.
Pers. sing. (HÄf).
kafalküwö
"dkafdU
'okßllö
kafalküwä
'Qkafdlä
'dkßlla
kafalküka
^9kaf9ldka
'dkßlka
kafalkukl
'dkafdUkl
'dkßlki
kafalkuwömn
\
^dkafdlomü
'dkßllömü
kafalküwön
^dkafdlou
'dkßllön
kafalkükdmii
"'dkafdlakimü
^dkßlkdtnü
kafalkukdn
^dkofdldkdn
^dkßlkdn
3. Pers.
masc plur. [HO^^^).
kafaJüivö
ikafolmvö
ydkfdlüwö
knfalüwa
ikafdlüivä
ydkfdlüwä
kafalüka
ikafdluka
ydkfdluka
kafalükl
iJiofdlükl
ydkfdlüki
kafalünl
ikafdlünl
ydkfdlüm
hafaluwomü
ikafdluwömü
ydkfdlmvomü
kafaJüwön
ikafdlüwön
ydkfdlüwön
kafalükdmü
ikafdlükdmü
ydkfdlükdmü
hafalukdn
ikafdlukdn
ydkfolükdn
hafaluna
ikafolüna
ydkfdiüna
3. :
Perf
fem. plur. (HC'i-3'^).
kofalähu
ikafdläJiü
ydkfdWm
kafalähä
ikafdlähä
ydkfdlälid
kafaläka
ikofdläka
ydkfdldka
kafaläki
ikafdläkl
ydkfdldkl
kafalänl
ikafdlänl
ydkfdldm
kafaläJidmü
ikafdlähomü
ydkfdlälwmü
Jcafalähon
ikafdlähon
ydhfdlähdn
kafalakamü
ikafdlükdmü
ydkfdläkamu
kafaldkdn
ikafdläkdn
ydkfdldkdu
kafaläna
ikafdidna
ydkfdldna
887
Kgl. Oes. d. Wiss. Nachrichten. Phil.-hist. Klasse. 1918, Heft 3,
22
338
E»no Littmann,
2. Pers. masc.
plur. (H*4.a^).
hafalkdmüwö
tdkafdlüwö
tdkfdlüwö
kdfUüwo
JcafalJcQmüwa
takafdlüivä
tdkfdlüwä
kdßlüwä
kafalJcdmunl
tdkafdlünl
t9kfdlünl
kdßlunl
kafalhdmuwömü
tdkafdlnwomü tdkfdluwömü
kdßlüwomü
Jcafalkdmüwön
tdkafdlüwön
tdkfdluivon
kdßlüwön
kafalkdniüna
tdkafdlüna
tdkfdluna
kdfMna
2. Pers. fem. ]
plur. (H*4.a^).
kafalkdnähü
tdkafdlahü
tdkfdläJiü
kdßlähü
kafalkonähd
tskofdlähd
tdkfdiähä
kdßlaJid
kafdlkdnam
tskafoläni
tdkfdläm
ksßldnl
kafalkdnähömü
tdkafdlähomü Mf^lähomü
kdßlähomü
kafalkdnähon
tdkafdlähön
tdkf9lah6ii
kdßlähon
kafalkdnäna
tdkafdläna
tdkfdläna
kdßldna
.
1. Pers. p]
lur. (H^fhJ)
kafalnähü,
kafalnö
ndkafdlo
ndkßllö
kafalnäJid,
kafalnä
fidkafdlä
ndkßllä
kafalndka
ndkafdJdka
nolßlka
kafalnäkl
n9kafdldkl
ndkßlki ^
kafalnähomüj kafalnömü
ndkafdlömü
ndkfdllonm
kafalnähon,
, kafalnön
ndkafMon
ndkfdllön
kafalnäkdmü
ndkafdlakdmü
ndkfdikdmü
kafalnäkdn
ndkafdldkdn
ndkfükdn
Wenn ein
Verbum mit Suffix ein Objekt nach sich hat, werden
die Accente nicht verändert: sataqä labdhr waahlafomü ladsrael.
Nomina und Partikeln mit Suffixei
(S.
34 f.).
qälu
kafüötu
kafiU
'abühü
qalä
kafllötä
kafüd
'abühd
qäldka
kafllötdka
kafüäka
qäldki
kafllötdkl
kaftldM
qäUya
kafüötdya
kafüdya
qälomü
JcaftJötomü
kafllomü
^ahühomH
qälon
kaßlöton
kafilon
'ahühon
qaUkdmü
kafllötdkdmü
kafllakdmü
qählmi
kafilötskdn
kafllakan
qäldna
kafilötdfia
kafildna
Ge'ez-Studien. III. 339
Im Kontext bleiben die Accente: hBtü lahä^^l. — halföiü lahd-
J)9st. — qdddüsü ladgzfabdher. — kamähü lahrdstos kona. — ndbdra
dlbehü lasaragalä. — mdslehomü laglgüyän tah**alläq*'a.
Wörter, die nur darch diakritische Zeichen unterschieden wer-
den können (S. 36), sind Ä-JH!, mCTf:, ^^l , Ü^IA.". D. i.
^dha^ (wohl = Arfl*H) „ich möge fließen", V?a^ „nimm!". — setü
„sie verkauften", setü „sein Preis". — ddq „falle!", ddqq „Kind".
— Jcdfdlä „teilet!" (fem.), hdfdllä „teile siel", kdflä „ihr Teil". —
Dazu vgl. auf S. 12: IJf^^O^ und 5l4:A : setdBmü „euer
Preis", semmfi „ihr habt verkauft". — BfU „teile!", Bfl „Teil".
Die proklitischen Wörter wa-, ha-, 'f-, la- haben keinen Ac-
cent; wardd „und steig hinab!", — hanasi laivdhih. — hhafdla;
ly'kdffdl ; ^tydkfdl u. s.w. Vgl. aber w^iiahatltm 1. Joh. 1 5.
Wenn zwei Suffixe an dasselbe Verbum antreten, kommt nur
das erstere für den Ton in Betracht (S. 37): habdntyö ; sag[g']9wd-
ntyä; yäsmd^dnahä; ivahabkükdmüwä.
Als besondere Zeichen werden noch vorgeschlagen : ' zur Be-
zeichnung des Verbums, ' zur Bezeichnung des Substantivs, in
zweifelhaften Fällen, z.B. gabrä' lasddq bd'amän^) „er tat das
Rechte fürwahr" ; gabra lasddq ^) „Diener der Gerechtigkeit" ; ferner
ein kleines C über dem letzten Buchstaben eines Wortes, falls
dieser einen unbetonten Vokal hat.
Schlußbemerkung des Verfassers (S. 37): „So zweifle
nun niemand mehr an der Richtigkeit dieser Accentregeln , sofern
er es nicht mit denen hält, die sie im Gresang {zenia) anwenden;
denn wo sie nach Belieben abweichen, machen sie sich zantdl ^aqa-
mätü (d.i. „betone falsch, kokettire!") zur Regel, indem sie die
gewöhnlichen Accentgesetze außer Acht lassen; manchmal aber
auch geschieht es, weil ihnen die Stimme ausgeht und sie nicht
den Accent erfassen läßt".
1) Die Wortaccente fehlen im Druck.
22
Die Heimat des Linzer Entechrist.
Von
Edward Schröder.
Vorgelegt in der Sitzung vom 26. Juli 1918.
Den von Hoffmann v. Fallersleben in den Fundgruben II (1837)
S. 102 — 134 aus einer Pergament - Handschrift der Bibliothek zu
Linz veröffentlichen 'Entechrist' einer bestimmten Heimat zuzu-
weisen ist bisher nicht gelungen, obwohl es mit den durch Kraus
und besonders Zwierzina verfeinerten Mitteln der Reimforschung
nicht eben schwer fallen dürfte. Scheins, der in der Zs. f. d. Alt.
16, 157 ff. die Unmöglichkeit nachwies, das Werk mit einer ver-
lorenen Dichtung desselben Stoffs von Hartmann, dem Verfasser des
'Credo', gleichzusetzen, blieb doch bei mitteldeutscher Herkunft
des Autors stehn, obwohl diese bereits von Reißenberger, Über
Hartmanns Rede vom Glauben (Leipz. Diss. 1871) S. 17 Anm. ent-
schieden bestritten worden war. Wundrack, Der Linzer Entechrist
(Marb. Diss. 1886) S. 6 f. sprach sich, da ihm die Reime keine Ent-
scheidung gewährten, auf Grund des Wortschatzes für oberdeutsche
Heimat aus, und zwar für die Gegend in welcher das Gedicht
handschriftlich aufgefunden wurde, also für Ober Österreich.
Die dem Ausgang des 12. Jahrhunderts zuzuweisende Hand-
schrift stammt nämlich aus dem Benedictinerkloster Gleunk (ältere
Schreibung Gleink) im oberösterreichischen Trauntal. Aber eben
darauf hatte Scherer eine andersartige Vermutung gegründet, und
Kelle ist ihm darin gefolgt. Das um 1121 gegründete Kloster
(vgl. jetzt Hauck, Kirchengeschichte IV 973) ist eine Stiftung Otto-
kars IV von Steiermark und seines Sohnes Leopold, bei der aber
auch Bischof Otto I von Bamberg mit Gütern und Lehen beteiligt
Edward Schröder, Die Heimat des Linzer Entechrist. 341
war. Scherer Q.-F. 1 69 wies auf diese bambergischen Beziehungen
hin, die ihm auch für die litterarische Tendenz unseres Gredichtes
wegweisend schienen, und hat dieses dann Q.-F. XII 35 unter
Franken eingereiht. Kelle hat im II. Bande seiner Litteratur-
geschichte S. 164 diesen Hinweis erneuert, ohne Scherer zu nennen:
bei ihm sieht es fast so aus, als ob er die Handschrift zur ältesten
Ausstattung der Gleunker Klosterbibliothek rechne, was natürlich
ganz ausgeschlossen ist.
Zu einem ganz andern Ergebnis kam Reuschel, Untersuchungen
zu den deutschen Weltgerichts dich tungen des 11. bis 15. Jahr-
hunderts I (Leipz. Diss. 1896) S. 11 iF.: er meint, das Werk sei ale-
mannisch, und zwar eher schweizerisch als schwäbisch. 'Mindestens
zweimal wurde dann das Gedicht abgeschrieben, das erste Mal in
Mitteldeutschland (Moselfranken?), das zweite Mal in Bayern'.
Aber die Erörterungen von Reuschel sind unsicher tastend, und
die wichtigsten Dinge bleiben dabei unberührt. So erklärte denn
Zwierzina Anz. f. d. Alt. 23, 199 die Ausführungen R.s zu Dialekt
und Heimat für 'ziemlich problematisch', ohne eine eigene Meinung
zu verraten, und Vogt in Pauls Grundriß II 2, 166 Anm. 3 urteilt:
'Weder durch Wundracks noch durch Reuschels Untersuchungen
über die Sprache des Entechrist ist die Herkunft des Denkmals
festgestellt'.
Das Gedicht umfaßt 594 Reimpaare, zu deren Feststellung
ich meine Bemerkungen zur Textkritik Zs. f. d. Alt. 47, 289 f. heran-
ziehe; davon sind bei Berücksichtigung der dialektisch-reinen Bin-
dungen 15 % unrein, das Werk gehört mithin der Zeit zwischen
1160 und 1180 an, man mag es 'um 1170' datieren. Ich zähle
273 einsilbig stumpfe, 50 zweisilbig stumpfe Reime, sodaß also
271 Reimpaare d. i. fast 46 7o klingend sind. Die meisten und
stärksten Unreinheiten begegnen natürlich bei den klingenden, wo
die archaischen Reime des Typus nväre : ivcere (107,25 f.), hluote igüete
(124, 35 f.) und weiter meghicrefte :lnfte (116, 41 f.), töde : gnade (126,
16 f.), houcJien : zeichen (127,5—7), lande : Urkunde (123, 26 f.) ein
volles Drittel aller unreinen Bindungen darstellen. Um so bemerkens-
werter ist es, daß selbst hier nur das eine gesceiden : Itden 131, 42 f.,
kein Reim ü : ou und vor allem keiner der so überaus beliebten bai-
risch-österreichischen Reime wie worte: harte, v alt e : solle begegnet.
Die Reime dieser altertümlichen Technik sind also nur negativ
verwertbar, insofern sie nichts für bajuvarische Herkunft bieten.
Noch unergiebiger sind die konsonantischen Unreinheiten, auf die
einzugehen es sich hier so wenig lohnt als bei den zweisilbig
342 Edward Schröder,
stumpfen Reimen. Vokalisch unrein sind von den zweisilbig
stumpfen nur ligen : wege (107, 39 f.) und die Reime von e : e: ent-
svebet : lebet 111, 12 i., wonach ich gebessert habe strebint : *hebint
112, 5 f. ; ferner stete : tete 117, 1 f., ; anebete 123, 32 f.
Unter den einsilbig stumpfen Reimen treffen wir nur ganz
wenige konsonantische Freiheiten : -s : -z in Judas : äaz 107, 31 f.
Ms:{dar)üz 124, 21 f. 133, 32 f.; -t : -p in trat : gap 117, 5 f.; -c : -ch
creftic : gelich 109, 10 f. ; überschießendes n in verholn : sol 111, 22 f. ;
'ic i.'inc in ividirwerdic : dinc 108, 32 f. Die Qualität des Vokals diffe-
riert nur bei grdg-.muoz 128, 29 f. und bei den e- Reimen her: wer
132, 19 f., unwert lernert 121, 27 f. und *verfert : swert 120, 9 f., die
unter diesen Umständen entscheidend gegen Mitteldeutschland
sprechen würden, wenn es überhaupt eines derartigen Einwandes
bedürfte. Es fehlen alle dem Bajuvaren geläufigen Reime, wie
wort : vart, mir : tier, sun : tuon ! Die Qualität wird nicht berück-
sichtigt bei creftic : gelich 109, 10 f., was wieder gegen Österreich
spricht. Das alte Präsens und Partizipium Prät. der II. schw. Konj.
auf -dt duldet neben 5 Bindungen auf not (: eroffenöt 109, 32 f. : ver-
wandelöt 130, 12 f. : gesamenöt 134, 3 f.) und tot (: weigeröt 123, 34 f.
: gelonöt 125, 15 f.) eine auf got [: gebildot 116, 39 f.).
In der Behandlung von -age-, -ege- (vgl. Zwierzina Zs. f. d.
Alt. 44, 345 ff.) stellt sich das Denkmal deutlich zu H. Fischers
zweiter , der alemannischen Grruppe : d. h. es kennt neben treit
(: cristenheit 131, 27) auch seit (: leit 118, 12. : wärheit 108, 16. ; cristen-
heit 115,25), während irwagit : clagit (110,42.43) : sagint (120,31),
irzaget : gedagit (126, 2. 3) sowie magit : sagit (108, 20) der Kontraktion
widerstreben; beides hält der Schreiber fest.
Bei der großen Zahl der einsilbig stumpfen Bindungen mit
kurzem und mit langem a ist nun aber die Strenge, mit der die
Quantität im Reime geschieden wird, besonders beachtenswert.
Von Reimen, bei denen Konkurrenz der beiden Quantitäten in
unserm Denkmal möglich ist, zähl ich:
alial 5x (112, 19 f. 37 f.; 116,25f.; 121, 5f.; 125,29f.) -
dl :äl Ix (134, 33 f.) — kein al : all
an: an 6x (107,7f.; 109, 24 f.; 119, 9 f. 41 f.; 122, 36 f.; 123,
2 f.) — an: an 22 x (107, 7 f. 35 f. i); 108, 10 f. 44 f. 2); 110,
6 f. 14 f.; 111, 20 f. 36 f. 40 f.; 116, 43 f.; 118, 15 f.; 123, 6 f.;
124, 1 f.; 128, 25 f. 451; 129, 38 f.; 130, 4 f. 34 f.; 132, 39 f.;
133, 14 f. 36 f.) — kein an : an !
1) hän:Dän.
2) üzänilegän.
Die Heimat des Linzer Entechrist. 343
at :at ^x (113, 21 f. ; 127, 18 f. ; 132, 41 f.) -^ at : ap Ix (117,
5 f.) — ätiät 15 X (118, 29 f.; 119, 3 f. 27 f.; 122, 4 f.; 124,
40 f.; 125, 9 f. 39 f.; 130, 18 f. 20 f. 30 f.; 131, 6 f. 40 f.; 132,
9 f.; 133, 38 f.; 134, 7 f. — kein at : ät\
Daß sich neben diesen 15 und 38 Fällen kein einziger Reim
mit al : dl, an : an, at : ät einstellt, ist eine Erscheinung, die in einer
bairisch - österreichischen Dichtung nicht nur dieser sondern auch
die Folgezeit, der Zeit der reinen Reime, ganz unerhört wäre.
Die einzigen Abweichungen von dieser strengen Einhaltung der
Quantität finden wir je einmal bei ant und ar :
ant:ant ßx (iöd, 4:2 t', 110, 24 f.; 119, 13 f.; 121, 35 f.; 123,
38 f.; 132, 15 f.) — ant : änt 4x (112, 9 f.; 131, 14 f.; 132,
5 f. ; 133, 6 f.) — daneben stdnt : want 127, 10 f.
ar ; ar 7 X (110, 28 f.; 112, 27 f.; 115, 30 f.; 123, 14 f.; 130, 28 f.;
131, 22 f. 32 f.) — äriär 2x (113, 13 f.; 121, 21 f.) — da-
neben bluotvar : war 128, 35 f.
Nachdem dieses Zwierzinasche Kriterium (vgl. Zs. f. d. Alt.
45, 68) uns mit Sicherheit aus dem bajuvarischen Sprachgebiet
herausgeführt hat, werden die Anzeichen, welche deutlich für
Alemannien sprechen, besser gewürdigt werden. Da ist zunächst
die charakteristische Negation niut {:liut 128,24. 133,5); dann
weiter das mit seiner Länge gesicherte Adverb üzän (; begän 108,
44). Neben der einen Präsens- und den fünf Partizipialformen auf
-6t (s. 0.) fehlen auch volle Vokale in den Endungen des Nomens
nicht: 110, 34 f. reimt auf Oliveti : seti (mhd. scete, 'segetes'); der
Schreiber hat diese Form offenbar bewahrt und nicht mechanisch
eingestellt; und 132, 17 f. müssen wir den Reim gewiß lesen als
güeti :benedictt; man erinnere sich, daß noch Hugo von Langen-
stein derartige ^-Feminina (wie gchörsami) im Reime braucht.
Weniger beweisend ist die Reimform hit (: zU 106,2. 110,41.
126, 6), denn obwohl es richtig ist, daß die normale bairische Form
Jciut lauten muß (so chiiit : Hut bei Heinr. v. Melk, Erg. 109 f.),
drängt sich doch auch bei bairischen Dichtern das bequeme schrift-
sprachliche Mt (quU) vor : charakteristisch ist da das Anegenge, das
zwar echt bairisch cJiot (: gebot, got) reimt: 18,10. 18,43. 25,72;
aber daneben das Präsens chit (: wtp, sU) braucht : 16, 17. 33, 9, das
dann freilich derselbe Schreiber, der chot bewahrte, in seit um-
änderte (Q.-F. 44, 3).
Aus dem Wortschatz ist zunächst herauszuheben das st. Ntr.
wdsigeivitere 114,23 (Sturm auf dem Wasser), das ebenso in der
344 Edward Schröder,
Mainauer Naturlehre 14 begegnet und dessen Varianten {gewazgewiter^
gewaswiter, wasweter) sowie die Ableitung woswittrig die Wörter-
bücher ausschließlich aus alemann. Quellen belegen; imcgewüere im
obd. (Augsburger?) Servatius wird man davon trennen müssen.
Dann das zweimal (und das zweite Mal im Reime!) verwendete
Adv. vürdermdl 'hinfort' 184,3.33; es ist anderweit nur bei dem
Thurgauer Ulrich v. Zatzichoven Lanz. 5904 und dann vor allem
bei Hartmann von Aue bezeugt, bei dem es ganz gewiß zu den
bodenwüchsigen Idiotismen gehört, die ihm eben darum nur ganz
gelegentlich einmal unterlaufen : Erec 4265, Büchl. 1025, Gregor 2183,
Iwein 8080 (wozu Lachmanns Anmerkung, die deutlich zeigt, wie
fremdartig das Wort den meisten Schreibern erschien). Wörter
von landschaftlicher Beschränkung dürften ferner sein die selten
bezeugten : mune resp. müne (Plur. 107, 20 : süne) 'cogitationes' (bisher
nur bei dem Eßlinger Johann v. Würzburg nachgewiesen : dne mun
und dne sin 9346 u. ö.); sege st. F. (127, 17) vom Fallen resp. Tief-
stand des Wassers (zu sigan, vorläufig aitoE, £i)Qri^evov) ; foiim st. M.
(128, 34), das sich freilich über Bayern litterarisch bis nach Ost-
deutschland verfolgen läßt, findet sich auch wieder in der Mai-
nauer Naturlehre 8; gewaJit st. M. (134,6) ist mhd. nur noch in der
'Hochzeit' (Waag V. 750) bezeugt, und die Abfassung der aus Kärn-
ten überlieferten Gredichte 'Recht' und 'Hochzeit' läßt sich jetzt
auf Grund des Zwierzinaschen Kriteriums der a- Reime mit viel
größerer Bestimmtheit als früher (Kraus, Recht u, Hochzeit S. 6 f.,
dazu Anz. f. d. Alt. 17, 289 f.) nach Alemannien verlegen.
Der Nachweis, daß der Linzer Entechrist ein alemannisches
Werk ist (wie das Reuschel schon ausgesprochen hat, ohne es^
aber bewiesen zu haben), ist für die Litteraturgeschichte nicht
gleichgiltig. Man bedenke, wie dürftig unsere direkte Überlieferung
für Alemannien aus der ganzen Zeit zwischen Notker und Hart-
mann von Aue ist: bisher waren es eigentlich nur 'Memento Mori',
'Mariensequenz von Muri', 'Rheinauer Paulus' — und dann Heinrich
der Glichezare. Zwischen die beiden letztem stellt sich nun der
Entechrist, dem damit vorläufig freilich nur recht äußerlich ein
Platz angewiesen ist. Und vor ihm noch werden 'Recht' und 'Hoch-
zeit' einzureihen sein.
Wichtig ist die Feststellung auch für die Geschichte der Litte-
ratursprache in Alemannien, insofern uns das Werkchen neben
der Bewahrung einiger weniger vollen Endungen doch schon den
weit vorgeschrittenen Gebrauch des klingenden Reims mit ab-
geschwächtem e zeigt.
Die Heimat des Linzer Entechrist. 345
Wie steht es nun aber mit der Überlieferung des Gedichtes?
Die sich bisher darüber geäußert haben, waren der Meinung, es
sei durch die Hände dialektfremder Schreiber gegangen: Scheins,
der es für mitteldeutsch hielt, schob einem Schreiber die ober-
deutschen Elemente zu, Wundrack, der es als oberdeutsch er-
kannte, fand in der Handschrift 'oft Spuren mitteldeutscher Schreib-
weise', Eeuschel, dessen Blick auf Alemannien gerichtet war, wollte
eine mitteldeutsche und eine bairische Überlieferungsstation auf-
spüren.
In Wirklichkeit ist die Handschrift so gut alemannisch wie
das Gedicht! — und das scheint mir fast das wichtigste an meinem
Fund, daß wir nun zu den sehr wenigen bekannten alemannischen
Handschriften des 12. Jahrhunderts eine bisher unbeachtete ge-
winnen. Die charakteristischen Reimformen des Dichters sind von
dem Schreiber nur selten gestört: ich weise nochmals auf das
dreimalige Ä:iif, d^uiinnan vnt v^an 108,44, d^xxi seti 110,35, niut 128,
24. 133, 5 hin. Und, was wichtiger ist, die so gesicherten Formen
sind auch im Versinnern bewahrt: so chit 107,39, hit 109,30;
124, 27, hiet 124, 15 usw. — kein md. quit^ kein bair. cliivt; niut
steht 107,8.15; 108,20.23; 109,2; 111,41; 112,32; 117,40; 119.
28; 120,9.20.29.41 usw. als herrschende Form des Negations-
Adverbs (und -Substantivs, vgl. se nivte 120, 5) — das seltener
vorkommende tnlh 111,23; 114,32; 115,4 usw. kann recht wohl
auch in der Originalhs. daneben bestanden haben: braucht doch
auch der Dichter neben zweimaligem niut im Reim einmal 7iieht : lieht
(128, 16, geschrieben nit); und noch weniger widerspricht die dritte
Form niwit 109,39; 121,13. Auch da wo der Schreiber vom Reim-
gebrauch abweicht, bietet er entweder bekannte alemannische For-
men, wie etwa 123,16 rappin {: vnbegrahiot), oder er stellt uns doch
solche zur Erwägung, wie in der öftern Schreibung stein, gein
(121,4.5.13; 126,34.35; 129,29). Es ist schlechterdings unmöglich,
daß ein Werk wie dieses jemals einen mitteldeutschen Schreiber
passieren und dabei konstant für Ind. u. Konj. Präs. die Form
mege{n) {1^1,7-, 114,12; 116,44; 120,18; 122,31; 125,23; 131,13),
für den Konj. Prät. mehte (122,3.4 [me}iti\\] 124,24) bewahren
konnte. Ebenso ist die Festhaltuug der archaischen Formen cristan
(119,26; 121,15), achtodim (128,20), ^iveJftun (129,2), oheroste (131,
23) nur eben bei einem Alemannen natürlich, und nur aus alem.
Hss. ist bisher liowescrikil (111,39) bekannt. Mitteldeutsch mutet
gestirre (128, 13) an, das aber sogar durch den Reim gesichert scheint.
Unter diesen Umständen gewinnt die Orthographie der Hand-
schrift eine bisher nicht erkannte Bedeutung , was besonders
346 Edward Schröder, Die Heimat des Linzer Entechrist.
für die Schreibung der Dentale gilt. Daß sich beispielsweise im
Konj. Prät. lüde (122, 38) schon dieselbe Dehnung des Konsonanten
zeigt wie in hitdirn (122, 39), dritde (127, 15) (freilich auch soltde
(133,35), sandte Johannes {112, SS), hetvtde (127,29)), ist gerade
wieder für Alemannien und speziell Hochalemannien charakteri-
stisch; und anderseits darf hier doch auch die Schreibung d für
anlautendes t, die in unserer Handschrift sehr stark hervortritt
(dac, dot, divel, drutin, dut, dete, dbivin), keineswegs wunder nehmen.
Diese Anlauts-c? aber und allenfalls die Schreibung e für den Um-
laut des ä sind faktisch die einzigen, sehr trügerischen Anhalts-
3)unkte für diejenigen gewesen, welche bald das Gredicht bald die
Handschrift nach Mitteldeutschland setzen wollten.
Berichtigung zu oben S. 81 Anm. 2.
Die Vermutung, daß das im heutigen Hessisch fehlende lern ('link') dem Würz-
l3urger Schreiber von Herborts Trojanerkrieg angehöre, muß ich zurücknehmen,
nachdem ich es inzwischen auch in dem althessischen Athis A* 120 aufgefunden
habe. E. S.
Briefe des Historikers Heinrich Leo an Frau von Quast.
Von
N. Bonwetsch.
Vorgelegt in der Sitzung vom 18. Oktober 1918.
In seinen Briefen an Hengstenberg, den Herausgeber der Evan-
gelischen Kirchenzeitung (vgl. diese Nachrichten, Phil. -bist. Klasse
1917 Heft 3 und 4), gedenkt Heinrich Leo wiederholt mit beson-
derer Verehrung der Schwiegermutter desselben, Frau von Quast,
als einer Frau noch von altem Schlage und besseren Nerven als
der Nachwuchs (vgl. 522. 533. 548). Nach Hengstenbergs Tod (1869)
suchte sie ihn zur weiteren Mitarbeit an der Kirchenzeitung zu
bestimmen, auch für eine Biographie Hengstenbergs zu gewinnen.
Dies führte zu weiterer Correspondenz. Durch die Grüte der Enkelin
Hengstenbergs, Fräulein Therese Hengstenberg in Berlin, von der
die Königliche Bibliothek die Sammlung der Briefe an Hengsten-
berg erhalten, sind mir auch diese Briefe zur Verfügung gestellt
worden. Sie bieten eine wertvolle Ergänzung der an Hengsten-
berg selbst gerichteten. Sie zeigen Leo als einen schwer er-
Itrankten Mann. Aber die ganze Eigenart seines Wesens tritt in
ihnen noch unmittelbarer hervor, ja wohl nirgends läßt sie sich
in dem Maße erkennen, wie in diesen Briefen. Der Zeitraum, dem
sie angehören ist ein kurzer 1869—1871, aber eben 1869 — 71. Sie
zeigen daher sein in innerster Beteiligung erfolgtes Miterleben der
großen Vorgänge des Jahres 1870, so sehr auch da manches seinen
Wünschen nicht entsprach und so sehr er auch das Bedenkliche
der Entwicklung nach dem Krieg vorausschaute. Zur Wertung
der Briefe dürfte schon genügen, wie Le'o der Auseinandersetzung
mit England als einer viel ernsteren als der mit Frankreich ent-
gegensieht.
348 ^- Bonwetsch,
[6. 6. 1869]. Verwundert und erfreut zagleich habe ich, meine-
innig verehrte Grönnerin und Freundin! die fast blitzschnelle Ant-
wort auf meinen kurzen Brief erhalten — verwundert, daß es Ihnen
verehrteste Frau möglich geworden ist, in der ohne Zweifel co-
lossalen Unruhe der letzten Tage, auch Zeit zu finden für mich —
erfreut, weil ich daraus schließen darf, daß es wenigstens Ihnen
unter den so von allen Seiten zusammenbrechenden Verwandten
noch nicht an Lebenskräften mangelt, über allem diesen Jammer
oben zu bleiben und geistige Elasticität genug zu behalten, auch
an mich unbedeutenden Trabanten Ihres Hauses zu denken. Ich
wundere mich mit um so mehr Grund darüber meinerseits, als ich
in Folge eines Nervenleidens seit September voriges Jahres mit
einemmal um alle Elasticität des Körpers und Greistes gekommen
bin; wenn auch die Lähmung, die ich anfangs in den Füßen fühlte^
sich in hohem Grade gebessert hat, so daß ich wieder ohne Stock
sogar (was mir anfangs das schwerste war) auch Treppen herunter
gehen kann, und der anfangs mit solchen Versuchen verbundene
Schwindel sich fast ganz verzogen hat, bin ich doch noch immer
moralisch wie gelähmt; in meinen Vorlesungnn habe ich alle le-
bendige Heproductionskraft verloren und bin fast ganz auf meine
alten Hefte verwiesen, aller innere Antrieb ist wie ausgebrannt,
die Poesie ist fort, das Phlegma ist geblieben! — Daß
Sie diesen kläglichen Zustand, in dem ich mich befinde . . , noch nie-
persönlich an mir gekannt haben, dieses hilflose Versinken in eine
energielose Gleichgültigkeit und Interesselosigkeit, die mich fast
jeder Bethätigung unfähig macht, so daß ich auch meine Lehr-
thätigkeit nur wie ein matter Esel einen Karren mühsam fort-
schleppe — dies allein kann Sie, meine Hochverehrteste Gönnerin l
auf den Gedanken gebracht haben, ich sei der rechte Mann, un-
serem lieben, unvergeßlichen Hengstenberg auch ein öfiPentlichea
Denkmal zu stiften — mir dagegen erscheint es, wenn ich zu Ihrer
Aufi'oi'derung Ja sagen wollte , nur wie die ärgste Selbstverblen-
dung, deren ich doch nur in äußerster Geistesschwäche und Ver-
kennung meiner Kräfte fähig sein könnte. Vielleicht kehren meine
Gräfte noch einmal wider, zunächst aber erschiene es mir fast wie
ein Frevel an dem Andenken des Seligen, wenn ich mich in meiner
Liebe zu ihm hinreißen ließe, diese ßolle in meiner Dankbarkeit
zu übernehmen. Eine solche Schrift müßte ja vor allen Dingen
schlagend und in scharfen Umrissen die Verdienste des Seligen in
seinem wissenschaftlichen und kirchenpolitischen Thun hervorheben
— allein dazu fehlen mir sogar die Kenntnisse, denn wenn ich
auch einen großen Theil der Schriften Hengstenbergs gelesen und
Briefe des Historikers Heinrich Leo an Frau von Quast. 349
mehreren von ihnen erst das Verständniß einiger der Bücher der
Bibel zu verdanken habe, so daß Er sie mir gewissermaßen erst
-erobert und entdeckt hat (z. B. die Offenbarung Johannis und das
Hohe Lied, die mir früher unverständlich, ja! sogar unangenehm
waren) so fehlen mir doch so sehr weitere, umfassendere objective
Kenntnisse über diese Dinge, daß ich bei jeder Zeile zittern müßte,
ob ich nicht, wie es so häufig Schülern bei Aeußerungen über ihre
Lehrer geht, Dinge drucken ließe, die Hengstenbergs Andenken
eher compromittirten als feierten ; und so bin ich auch wohl seinen
Aeußerungen über die Stellung zur Kirche treu überall gefolgt,
habe mich auch den von ihm ausgesprochenen und verfochtenen
Ansichten fast überall angeschlossen, aber ich habe das nie mit einem
so geschäftsmäßigen Gredächtniß und mit der eindringenden Auf-
merksamkeit gethan, daß ich nicht auch da fürchten müste, zumal
bei dem in der letzten Zeit eingetretenen Taubwerden gewisser-
maßen meines Gedächtnisses für Einzelheiten, ungehöriges nider-
zuschreiben, was mich vielleicht in Kurzem furchtbar reuen würde.
Ich habe, seit ich der oben angedeuteten Nervenschwäche verfallen
bin, mich wohl gehütet, irgend etwas drucken zu lassen — nur
im Volksblatt habe ich ein Paarmal kleine, fast ganz auf von an-
deren gebrachtes Material sich beziehende Arbeiten gebracht —
und übrigens im Gefühl meiner Gebrechlichkeit und der dieselbe
notbwendig begleiten müssenden Lebensklugheit geschwiegen ; sollte
ich nun mit einemmale so aller Discretion gegen mich und gegen
das Andenken eines so verehrten Freundes vergessen und eine
solche Arbeit, wie Sie mir zudenken, in meine schwachgewordene
Hand nehmen? Das können Sie unmöglich — das können Sie in
Hengstenbergs Interesse nicht, das können Sie in dem Interesse,
was ich eitel genug bin, Ihnen auch noch für mich beizumessen,
nicht, das können Sie unmöglich wünschen.
Verzeihen Sie, wenn ich es also wage im Interesse der Sache
diesmal mich Ihren Wünschen unfügsam zu erweisen — das La-
zareth entbindet ja auch im übrigen Leben einen Ritter des
Dienstes seiner Dame — und im Lazareth bin ich, wenn ich auch
in freier Luft herumgehe und täglich meine Stunde Vorlesung im
Schweiße meines Angesichts und in innerer Beschämung herunter-
würge. In unverbrüchlicher Liebe und Treue der Ihrige H. Leo.
Halle den 6ten Juni 18ö9.
[13. 6. 1869]. Verzeihen Sie, meine gnädige ungnädige, dasz
ich mehrere tage habe vergehen lassen, ohne Ihnen zu antworten,
aber Sie gaben mir so fest und unumwunden auf den köpf hinauf
350 ^' Bonwetsch,
schuld, dasz ich flansen mache, gar nicht krank sei und gar nicht
wolle; so dasz die sache mir vollkommen imponirte, und ich wirk-
lich der meinung war, ich müsze doch genau mich prüfen, ob ich
denn krank sei oder nicht. Deshalb beschlosz ich also erst heute,.
Sonntag den 13ten jnni zu schreiben und die tage bis dahin mit
mir genaue rechnung zu halten. Das habe ich nun gethan und kann
doch nicht anders als wieder schreiben : ja ! ich bin zwar nicht in
einer fieber- oder sonstigen acuten krankheit, aber krauk und schwach,
an leib und seele bin ich doch — denn erstens ich trinke auf
befehl des arztes Eger-Franzensbrunnen was das zeug hält, zwei-
tens ich habe von vorigem September bis zu letzten Ostern ge-
hinkt wie ein vom schlage getroffener . . , drittens habe ich mich
auch geistig fast ohne alle productionsfähigkeit gefühlt und end-
lich viertens hat auch pastor Besser, der zu pfingsten bei mir
war, mir frischweg erklärt, als mich im juni 1866 der leichte
Schlaganfall getroffen gehabt habe und er mich kurz hernach be-
sucht habe, habe er mich lange nicht .so verändert gefunden, als
dieses jähr, wo ich durch mein zitteriges stehen und unruhiges
herumtrippeln ihm einen völlig greisenhaften eindruck mache, als
seie ich seit vorigem jähre nicht ein, sondern zehn jähre älter
geworden — summa summarum ich bin krank, ich musz, wenn
es eine lüge ist, wie Sie zu behaupten die gute haben, doch
alles respectes ungeachtet, den ich vor Ihrem urtheil habe, bei
dieser lüge bleiben. Körperlich allerdings bin ich fast ganz
wider hergestellt, aber geistig hängt mir noch gewaltige schwäche
an — hauptsächlich und mich am meisten und härtesten treffend,
le defaut de memoire — wenn ich mich noch so gut vorbereitet
habe und auf das catheder komme, ohne mein wohlausgearbeitetes
heft in der tasche, bin ich ein verlorener mann. Das beste zeugniS
darüber ertheilen mir die Studenten durch ihr ausbleiben — ia
meiner historischen Vorlesung sind nur 4 angemeldete Studenten,
und von diesen fehlen oft zwei, ja einmal schon dreie so dasz ich
vor einem lesen muste — und wirklichen fleisz und eifer finde
ich nur noch in einer sprachlichen Vorlesung über isländische
spräche, in der ich abschnitte aus der Edda erkläre. Ob ich je-
mals wider dazu kommen werde eine Vorlesung auf dem catheder
mit einer gewissen freiheit und frische zu reproduciren, das weisz
ich noch nicht — kurz! ich bin in einem ähnlichen zustande wie
unser theologischer College [Julius] Müller — nennen Sie das ge-
sundsein ? — nennen Sie das eine eingebildete krankheit ? Ich kann
es wahrhaftig nicht ? Ich bin ja auch zu diesem zustande gekommen
wie durch einen zweiten schlaganfall — ich gieng eines sonntag's
Briefe des Historikers Heinrich Leo an Frau von Quast. 351
im vorigen September gegen mittag aus, zu einem spatziergang
auf die buschige höhe hinter Kosen — gleich beim austritt aua
meiner wohnung begegnet mir ein kleines munteres mädchen, eine
tochter meines Schülers und freundes Vorreiters, der als lehrer
in Gütersloh gestorben ist; das kleine ding fragt mich, wo ich
hin will und ich sage ihr, ich wolle spatzieren gehn, da fragt sie,
ob sie mitgehen dürfte, ich erlaube es und sie läuft ins haus, um
von ihrer mutter, der doctorin Vorreiter, einer tochter des doctors
Eosenberger, bei dem ich wohnte, ebenfalls erlaubniß zu hohlen
— und nun kömmt sie wider, und schieszt wie ein pfeil vor mir
her, den berg in die höhe; da neben dem gebahnten wege eine
menge sehr steile stellen waren, und sie nach allen seiten herum-
quirlte, kam ich in die gröseste angst, sie möge einen bösen fall
thun, und so kam ich endlich auf der höhe ganz abgehetzt an, und
setzte mich in der Sonnenhitze, um auszuruhen auf einen stein in
pralle sonne; abwärts gieng es noch übler, denn sie hatte ein
kleines kind in einem wägeichen erblickt, wie es von einer Schwester
desselben gezogen war, und letztere rief sie, ob sie ihren kleinen,
bruder sehen wolle, er sähe so hübsch aus, da war kein halten
mehr und in einem stürm flog sie den berg abwärts, ich hinterher,
bis ich sie wider unten hatte, und so kam ich nicht wie von einem
spatziergang, sondern wie von einer hetzjagd unten an. Als ich
anderes morgens aufstehen wollte, war mein linkes bein gelähmt
— ich glaubte mir bei der jagd am vorigen tage den fusz oder
das knie verdehnt zu haben und rieb meine gelenke des linken
fusses stark mit kampferspiritus und arnica ein, aber nicht nur
half das nichts, sondern diese einreibungen hatten mich auch so
aufgeregt, dasz ich in der folgenden nacht nicht einen augenblick
schlafen konnte — ich setzte die einreibungen, aber nur mit ar-
nica, noch etwa 14 tage fort, aber sie halfen nichts; als ich dann
wider nach Halle kam, sagte mir mein arzt, diese einreibungen
würden mir überhaupt nichts helfen, denn es sei keine gelenkver-
dehnung sondern die lahmheit rühre von einer Irritation der rücken-
marksnerven her: er verschrieb mir ein pulver, dessen hauptbe-
standtheil schwefeleisen war, ich konnte bald wieder gehen aber
nur am stocke, und alles abwärtsgehen, namentlich auf treppen
war mit starkem schwinde! und groszer angst dasz ich fallen
möge verbunden , sogar das aussteigen aus einem wagen machte
mir angst, nur abends, wenn es dunkel war, gieng die sache ohne
fremde, hilfe und ohne Schwindel. In diesem zustande war ich
noch kurz vor weibnachten in Berlin im Herrenhause ; und dabei
wurde mir, wenn ich im zusammenhange sprach wie betrunken
352 N. Bonwetsch,
gewissermaszen nnd nachdem ich aufgehört hatte zu sprechen,
hatte ich beim gehen das gefühl, als hätte ich sand in den strumpfen.
Das hat sich nun alles wider gebeszert; ich kann wider gehen,
.auch ohne stock; der schwinde! ist weg und namentlich seit ich
seit etwa 3 wochen Eger Franzensbrunn trinke fühle ich mich täg-
lich wieder frischer und ich hoffe wenn die ferien kommen und
ich meine Vorlesungen, die mich fortwährend ängstigen, eine zeit
lang ganz los bin, wird alles wider in Ordnung kommen — aber
für's erste bin ich noch krank, Sie mögen' s glauben oder nicht,
und eine arbeit deren mislingen mich schmerzen, deren Vorsatz
trotz meiner inneren gelähmtheit, so lange er nicht ausgeführt
wäre, mich ängstigen würde, wäre das beste mittel, eine eigentliche
genesung unmöglich zu machen, und mich in einem zustande fest-
zuhalten, wie ihn der arme Wilke nun schon seit einigen zwanzig
Jahren trägt. Ich wundere mich übrigens über meinen zustand
nicht im mindesten. Ich kann nun seit 225 jähren rückwärts meine
familie urkundlich verfolgen — mein vater starb, wie er 42 jähre
alt war, am nervenschlage; mein groszvater, wie er 49 jähre alt
war, am nervenschlag : mein urgroszvater, wie er 42 jähr alt war,
am nervenschlag: mein ururgroszvater, wie er 56 jähre alt war,
am nervenschlag — ich bin der erste in dieser ganzen reihe, der
^as 60 te jähr erreicht hat und bin nun sogar volle 70 jähre alt,
so dasz ich in die wege meiner mutter und groszmütter einzubiegen
scheine; meine mutter starb im 75ten, meines vaters mutter im
75ten, meines groszvaters mutter im 80ten, meines urgroszvaters
mutter freilich im kindbett mit ihm, mit ihrem ersten kinde, also
jung.
Dasz ich so alt geworden bin, ist mir selbst ein blaues wunder
— als Student habe ich mehrere jähre tief in der demagogie ge-
steckt und in dieser zeit, wie viel botengänge mit wenig geld und
groszer anstrengung fast durch ganz Deutschland gemacht. Ich
bin einmal, wo mir das geld ausgieng und ich mit den letzten paar
groschen noch nach Grießen gelangen mußte, die ganze strecke von
Nassau an der Lahn bis Grießen, zehn meilen, wobei ich mich noch
zuletzt so verlief, daß ich auf das falsche Lahnufer kam, in einer
tagtour gelaufen^); und ähnliche märsche mehrfach; ebenso habe
ich dann als die demagogischen Untersuchungen begannen 4 jähre
von Ostern 1819 bis ostern 1823, wo ich meinen frieden mit herrn
von Kamptz machte, eigentlich in steter angst gelebt, denn nicht
■blosz Kamptz sagte mir, sie hätten mich für einen mittelpunct
1) Vgl. Heinrich Leo, Meine Jugendzeit, Gotha ISSO, S. 211.
Briefe des Historikers Heinrich Leo an Frau von Quast 353
der ganzen demagogie gehalten und doch nirgends, weder in Göt-
tingen, noch in Jena, sondern er^t in Rudolstadt faszen können
und da sei offenbar mein verhör ganz schlecht geführt worden,
weshalb sie mich nochmals in Erlangen hätten verhören laszen,
wo aber offenbar mein verhör ganz dumm geführt worden sei.
Es ist ganz richtig, wäre ich früher als in Rudolstadt und da
nicht so verhört worden, dasz mir das Mainzer requisitorium am
morgen vor dem verhör, was des nachmittags erfolgte, vorgelesen
worden und so gehalten worden, dasz ein vetter und alter freund
meiner familie es gehalten, der darauf hielt, dasz auch nicht
ein wort, woran man mich hätte faszen können, in das protokoll
kam, so wäre ich in die ganze Untersuchung verstrickt und am
ende, wie andere, die minder betheiligt waren als ich, zum tode
verurtheilt und auf 25 jähr festung begnadigt, vielleicht wie eben
diese anderen mit 10 jähren schon entlaszen worden — aber meine
ganze lebensbahn wäre doch zerstört worden — und diese besorgaiß
liat mich 4 jähre begleitet und ward, wenn ich sie einmal ein
wenig vergeszen hatte, immer in wanderbarster aber glücklich
immer rettender weise erneuert — so in Göttingen, wo ich einmal,
als ich früh 8 uhr aus der Vorlesung kam, an meiner thüre einen
Zettel befestigt fand, der mir andeutete, wenn mir an meiner
Sicherheit etwas liege, möge ich machen, dasz ich bis 11 uhr aus
der Stadt sei — so in Rudolstadt wo mich eines schönen morgens
(als ich schon in Erlangen privatdocent und während der ferien
zu hause war) der geheimrath von Beulwitz rufen liesz und mich
mit dem Mainzer requisitorium bekannt machte und für den nach-
mittag das verhör ankündigte ; so wider in Erlangen, als ich wider
dahin zurückgekehrt war, und mich eines schönen abends der stadt-
commissar (polizeichefj Wöhrnitz rufen liesz und dann ein wirklich
dummes verhör hielt, wobei er eine in Frankfurt mit tausenden
von Unterschriften versehene und abgegebene, in ganz Deutschland
colportirte petition — mit einer nie stattgehabten an den groß-
herzog von Darmstadt — verwechselte, so dasz ich ohne zu lügen,
alle seine fragen verneinend beantworten konnte, während ich
selbst einer der drei verfaszer, jener ersten eigentlich in den
Mainzer anfragen gemeinten petition gewesen war, und sie selbst
1818 auf dem Eulbacher markte im Odenwalde den beiden Colpor-
teuren, herrn von Mühlenfels, damals stattanwaltsgehülfe in Cöln,
und dem Advocat Heinrich Hofmann in Darmstadt übergeben hatte.
[Vgl. Meine Jugendzeit S. 206].
Und wie habe ich sonst bald in toller last, bald in toller angst
oder entschloszenheit auf meinen armen körper gewüthet, auch ab
Kgl. Ges. d. Wiss. Nachrichten. Phil.-hist. Klasse. 1918. Heft 3. 23
354 N. Bonwetsch,
und zn durch anstrengende arbeit auf meinen geist — und das
alles hat doch, o wunder gottes! sieben zig jähre gehalten! und
scheint noch länger halten zu wollen.
Nun also: trotz alledem: ich bin krank — verstehe Sie
aber aufrichtig gestanden, auch nicht recht, was Sie von mir wollen
— also: einen lebensabrisz nicht, und darin haben Sie jedenfalls
recht. Tauscher [der neue Herausgeber der Evang. Kirchenzeitung]
fordert mich eben zu einem solchen auf und verspricht mir von
Hengstenbergs Bruder material dazu, soviel ich brauche — ich
denke aber auch das macht beszer ein anderer, der auch einen
theologischen beruf und vorrath dazu hat. Aus Ihrem briefe
möchte ich schlieszen, dasz Sie sich eigentlich dächten, ich sollte
eine geistige rackete steigen laszen , zu des lieben Hengstenberg
todtenfeier — aber erstens könnte ich das doch nicht beszer machen,
auch nicht ernster und verehrender, als es Nathusius in der nr. 45
seines volksblattes es[!] schon gemacht hat — und sodann was
glauben Sie, dasz jetzt das nützen könne. Unsere zeit reitet so
schnell, wie die todten, denn sie ist selbst eine todte — es ist
weit beszer für Hengstenbergs andenken, und für das weiterfort-
wirken seines andenkens, wenn die evangel. Kirchenzeitung in der-
selben festen, klugen und unwankenden weise weiter getragen
wird , wie bisher. Sie ist doch sein schönstes und dauerndstes
monument, und sie zu hüten, ihr zu helfen, so viel jeder nur ir-
gend kann, das halte ich für etwas weit bedeutenderes und wich-
tigeres, als zehn racketen die ich losliesze. In diesem sinne werde
ich auch Tauscher antworten. ^
Vor allen dingen, ehe ich nach irgend einer seite etwas irgend
wie bedeutenderes thun kann mit der feder, muß die moralische
Seekrankheit, an der unsere zeit leidet wider soweit vorüber sein,
dasz ich sie selbst abgeschüttelt habe, dazu gehört aber auch vor
allem, dasz ich zunächst nichts mit der kreutzzeitung zu
thun bekomme. Wenn das irgend einen vernünftigen sinn hat,,
dasz Bismarck die prächtige zeit des krieges und sieges nicht nur
hat vorüber gehen laszen, ohne durch irgend einen schritt dem
parlamentarischen wesen einen tieferen knick zu geben, so kann
es doch nur der sinn sein, dasz er durch Überkröpfung der zeit-
genoszen mit parlamentarischen redeanstalten, mit reichstag, zoll-
Parlament, directen wählen etc. etc. gleich den äuszersten gipfel
all dieses unsinnes hat erreichen und die leute mit parlamenta-
rischer langeweile die kröpfe hat so voll laden wollen, dasz ihnen
übel und weh werden sollte — dazu hätte aber gehört, dasz die
conservativen Zeitungen nicht blosz das langweilige zeug abdruckten,.
Briefe des Historikers Heinrich Leo an Frau von Quast. 366
sondern auch von höhn und spott überfloszen auf die philiströse
eitelkeit und Phrasendrescherei und hundertmal wider holt hätten,
dasz sie ihr geld an solchen verdammten plunder von parlamen-
tarischen lumpenreden verschwenden müsten, die im publicum doch
kein einziger verständiger mensch vor purer langer weile
mehr lesen können. Davon aber ist sehr wenig zu lesen gewesen
sondern nur die weitschweifigst abgedroschenen philisterreden. Auch
hat Beutner [Redakteur der Kreuzzeitung] seinem muthe gar kein
groszes denkmahl errichtet, dasz er die schwächliche haltung der
regier ung der Usedomschen note und Lamamoraschen publication
gegenüber, gar nicht gestriechelt hat. Dasz unsere regierung
daran gedacht hat, Böhmen und Ungarn zu revolutioniren, ist
nach der proclamation mit der unsere truppen in Prag eingerückt
sind und nach der herstellung der ungarischen legion gar nicht zu
leugnen — warum hat man da nicht die courage, die Usedomsche
note, die ja doch nur den dreiklang mit jenen beiden thaten voll
macht, selbst auf sich zu nehmen ? und zu erklären, ja ! da wir
einmal krieg hatten mit Oestreich und zwar in nothwehr, weil
dies uns verderben wollte, waren wir auch entschloszen Oestreich
wo möglich zu gründe zu richten, wer will uns das übelnehmen?
Freilich hätten wir auf diesem wege auch wahrscheinlich krieg
mit Frankreich bekommen — aber, wenn das nur geschehen wäre ;
es wäre 1866 ein wahres glück gewesen — die Franzosen hätten
schlieszlich doch auch hiebe bekommen, wie unser volk bis auf den
kleinsten mann überzeugt und entschloszen war, und das rhein-
landevolk wäre durch die angst, die es durchgemacht hätte, uns
noch etwas beszer \serbunden worden als durch den sieg in Böhmen
allein.
[3. Juli 1869]. Meine hochverehrteste gönnerin und freundin f
Zweimal mahnen Sie mich, dasz mein letzter brief keinen
schluz gehabt. Ich kann das nur so verstehen, dasz der formale
schlusz gefehlt habe, was ich gern glaube, aber wenn Sie darauf
bestehen, Sie müsten den Schluß auch noch haben, so können Sie
doch unmöglich wünschen, dasz ich Ihnen einen formalen brief^
schlusz auf einen briefbogen schreibe, zu einem briefe, den Sie
schon vor drei wochen oder länger erhalten haben. Ich hatte eine
anzahl briefe zu schreiben, was für ein armes zerquältes gehim.
jetzt schon eine schwere arbeit ist. Sobald ich den einen im we-
sentlichen dem Inhalt nach fertig hatte, legte ich ihn hin, damit
er austrockne — als sie alle fertig waren, suchte ich die couverte,
fügte die formellen schlüsze hinzu couvertirte und siegelte — bei
23*
356 N. Bonwetsch,
solcliein verfahren könnte es auch gekommen sein, dasz Sie einen
ganzen falschen, an jemand andres gerichteten brief erhalten hätten.
Dies ist nun glücklicherweise, wie ich aus dem anderweitigen In-
halte Ihrer letzten briefe ersehe, nicht der fall gewesen, aber ich
habe offenbar bei dem an Sie gerichteten briefe den formalen
schlusz ganz vergeszen, und jetzt weisz ich nun auch das einzelne
des inhalts nicht mehr, kann also auch zu dem inhalte nichts er-
gänzendes mehr zufügen — bin überhaupt mit meinem gedächt-
nisse noch immer entsetzlich brouillirt — und wenn ich auch kör-
perlich durch den gebrauch des Eger-Franzensbrunn wider leidlich
bei wege bin, wider meine zwei stunden marschiren und nur noch
Dicht ohne schmerzen und ermattung längere zeit ruhig stehen
kann, so bin ich doch geistig noch lahm und es will nicht vor-
wärts ; ich kann nichts arbeiten, und habe, um die plage für mich
und meine zuhörer losz zu werden, meine Vorlesungen in diesem
Semester aufgegeben und nur ein privatissimum behalten, in dem
ich auf meiner stube mit einem zuhörer die Snorra-Edda lese —
ich habe offenbar mit meiner arbeit und namentlich mit meinem
gedächtnisse schlechte und unbedachte wirthschaft getrieben, habe
um überall selbst zusehen zu können und um mich nicht auf fremde
Übersetzungen verlaszen zu müszen, almälich 36 sprachen soweit
erlernt daß ich in ihnen verfaszte bücher selbständig lesen und
sicher verstehen konnte — die hälfte davon aber, die ich erst
nach dem 40 ten jähre gelernt, sitzen so locker in meinem gedächt-
nisse, also namentlich alle slawischen und keltischen, dasz ich alle
jähre einmal ein buch in ihnen lesen musz, soll ich sie nicht un-
versehens wie einen lumpigen thalerschein aus mHnem porte-monnaie,
so aus meinem porte-langage verlieren. Das nimmt mir schon eine
masse zeit von anderer ernsterer arbeit hinweg. . . Es ist . . [?]
wie eine leidliche bibliothek, die einen ja auch zwingt auf eine
menge Wohnungen zu verzichten , die man sonst wählen könnte,
und die man nur und allein nicht wählen kann, weil keine mög-
lichkeit ist, die dazu gehörigen dummen bücher alle in bequemer
weise unter zu bringen — also z. b. mich jetzt in einer wohnung
außerhalb Halle d. h. im' letzten hause gegen Giebichenstein hin
festhält, die zwar, in beziehung auf gute luft und hübsche aus-
sieht vortrefflich ist, aber nur unter den gröszesten Unbequemlich-
keiten einen logir-gast zuläszt und entsetzlich weite wege auf
schlechtestem pflaster zuläszt und auf tausend andere bequemKch-
keiten verzichten läszt — schon die wege zur post, die fast eine
halbe stunde entfernt liegt, läszt eine menge zeit verlottern und
reibt einen menschen, der wie ich sieben monate lang lahme beine
Briefe des Historikers Heinrich Leo an Frau von Quast. ; 357
hatte, schon körperlich mehr auf als mir gut war . . . Nun auch
dieses wird vorübergehen! Aber doch zunächst wahrscheinKch nur
dadurch, daß ich mich bei gelegenheit selbst auf die beine mache
und ausfliege — während reisen doch für mich auch eine art ratten-
gift ist und das sitzen in fremden hause und ...[?] an das eisen-
bahn und wirthshausgesindel die galle den ganzen tag in bewe-
gung hält , mir auch nicht dient. . . Nun ! ich mußte Ihnen aber
doch endlich auch antworten , schon weil Sie mir schrieben, ich
solle Tauscher und die ev. K. Z. im thätigen angedenken halten.
Ich habe ihm geschrieben, daß ich das in demselben masze will,
wie es bei unserm seligen freunde der fall war, und er hat mir
nicht geantwortet, so daß ich am ende fürchte es ist noch ein
brief von mir yerloren . . . und so tragen wir denn auf allen selten
folgen davon, daß . . . die postverbindung so wohlfeil geworden,
dasz gar keine Sicherheit mehr in derselben sein kann . . . Den kauf-
leuten zu gefallen wird das postgeld auf ein minimum reducirt,
so dasz wir ein deficit bekommen und dann hindert die canaille^
dasz wir eine börsensteuer bekommen, die das deficit decken hilft.
Kurz ! es wird alles miserabel. Bismark hat uns doch offenbar
mit reichstag und zollparlament überladen, um uns die politischen
Versammlungen und redeübungen zum brechmittel zu machen . . .
Das alles macht mir so übel, dasz ich nicht einmal mehr einen
krieg wünsche — denn dann feiert doch nur die freimaurerische
humanität (alles was international heiszt ist ja in unsrer zeit frei-
maurerisch und wird von den logen aus regirt) wider triumphe
und verdirbt und vergiftet unser gut deutsches — allem interna-
tionalen wesen abgekehrtes empfinden so scheußlich, dasz man am.
ende lieber ein Jude . . sein möchte als ein deutscher — wenn wir
Frankreich halb Frankreich absiegen, so kriegt Frankreich doch
alles wider, wie Oestreich Böhmen, die hochburg Deutschlands,
ohne die noch niemand in Deutschland eigentliche herrschende ge-
walt gehabt hat. Und wenn wir ja von dem eroberten etwas be-
halten, wird das sogleich mit vollem recht wie alle alten Preußen
in den preußischen landtag eingestellt — Grott behüte uns vor
solchen kriegen — zwischen Deutschland und Frankreich müste
eine 10 meilenbreite wüste geschafi'en werden, an deren grenzen
sogar die eisenbahnen ein ende hätten und die nur zum dienst der
regierungen von telegraphischen depeschen überschritten werden
dürfte. Im jähr 1848 hatten die guten bürger, von denen ja noch
ein rest übrig war, die gröste Sehnsucht nach neuer corporativer
Organisation und erlösung aus der auf blosze concurrenz der wohl-
feilen preise gestellten gewerbefreiheit. Als ich Grerlach auf dies
358 ^- Bonwetsch
wichtige antirevolutionäre moment aufmerksam machte, lachte er
mich aus — er mochte freilich beszer wiszen als ich, dasz die re-
gierungsweisheit unsrer behörden so ersoffen wäre in den neuen
theorieen, dasz daraus doch nichts ordentliches werden könne —
nun ja! es ist wahr, etwas theurere preise hielten die zünfte und
auch sonst war man durch sie genirt — aber sie hielten einen
ehrenfesten handwerks stand , und was wir noch mit dem s. g. ar-
beiterproletariat für erfahrungen zu machen und wie viel geld
wir, um es nider zu halten, zahlen müszen, weisz auch zur zeit
niemand — und wenn das zeug nidergehalten werden soll, wirds
auch nur der geschliffene degen und die kugel im laufe thun und
die liebe humanität sich als ehrliche metze an den arm hängen.
Gog und Magog werden heranziehen — aber nicht so wie man
sonst dachte, mit höllischen führern, sondern in der Form, dasz
sich alles lebendige in lause verwandelt und wir von diesen bei
lebendigem leibe gefreszen werden — und dennoch habe ich noch
lebenslust genug, um zu wünschen, das ding zu guter letzt noch
selbst mit ansehen zu dürfen — das ist dann zum schlusze
doch wirklich auch noch etwas neues.
Nun will ich aber doch diesmal den formalen schlusz nicht
wider vergeszen — also erlauben Sie mir, dasz ich mir die ehre
gebe mich zu unterzeichnen Ew. Hochwolgeboren, wenn nicht über-
all ganz unterthäniger — doch sicherlich überall mit treues tem
herzen ergebenster H. Leo.
Leider gottes darf ich nicht schreiben Dr. Leo, denn wenn
mein Dr. eine Wirklichkeit wäre, ich wollte die weit lehren mit
blut und eisen eine ganz andere wirthschaft herzustellen als mit
internationaler humanität. Die leute wollen jetzt alle nichts vom
ieufel wiszen, blosz offenbar, weil sie sich vor dem eszenkehrer
viel zu sehr fürchten — ich fürchte mich gar nicht, denn der kerl
soll und musz uns ja dienen — aber freilich dasz er uns wirklich
diene, dazu ist die erste bedingung, dasz wir selbst Grott recht
lieb haben von ganzem herzen, dann werden wir auch courage
genug haben, den herrn teufel Excellenz in unsrer küche mit un-
seren anderen dienstboten als kutscher oder velocipeder miteszen
zu laszen.
[11.8. 1869]. Meine verehrteste GrÖnnerin und Freundin! Ich
kann unmöglich von Halle scheiden, ohne Ihnen noch vorher auf
Ihren letzten Brief zu antworten. Ich will übermorgen Freitag
den 13ten August eine Reise antreten mit meinem Töchterchen
zusammen. Meine Frau geht inzwischen nuch Rudolstadt za meinen
Briefe des Historikers Heinrich Leo an Frau von Quast. 359
dortigen Verwandten; ich aber habe eine große Sehnsucht noch
einmal die Schweitz wieder zu sehen von demselben Platze von
dem ich sie zuerst sah, von der Hohe jenseits Tutlingen, wo man
den ganzen Hegau mit seinen Burgen, Hohentwiel, Hohenkrähen
u. s.w. unser sich hat, weiterhin den Bodensee und dann als Schluß
der Bühne die schweitzerischen Hochalpen von den Kuhfirsten und
dem Dödi bis zur Jungfrau — es machte damals vor nun 46^/2
Jahren^) den großartigsten Eindruck auf mich. Nun weiß ich
allerdings, daß das ein riskirtes Ding ist, es kömmt so viel auf
Wind, Wetter und Beleuchtung an, daß ich fast wollen kann, wenn
Grott nicht besonders gnädig sein wird, daß es ein ganz oder halb
verfehlter Versuch ist, doch wollte ich ihn meinem Töchterchen
gönnen, auf die Grefahr hin, damit Fiasco zu machen. Je älter
man wird, je mehr Courage bekömmt man zu solchen Dingen —
wirds nichts, nun so schaiets auch nicht ungeheuer und die Freude
einer gelungenen Repetition ist doch zu groß. Um mich besorgt
zu sein wegen meiner Kränklichkeit haben Sie keine Ursache; es
ist schon wider um vieles besser geworden; ich leide im Wesent-
lichen an Blutmangel, wie ein bleichsüchtiges Mädchen und mit
Hilfe von Stahlarzneien und Eger-Franzensbrunn habe ich schon
wieder einen leidlich Vorrath an Blut und jedenfalls wäre die
Sache schlimmer, wenn ich an Blutüberfluß litte, weil dann der
Erbfehler meiner Familie ein Grehirnschlag weit näher läge. In
die Schweitz selbst herein werde ich nicht gehen, sondern nur nach
Schaffhausen und von da nach Lindau, dann hoffe ich rasch zu-
rückzukommen, so daß ich zum Anfange Septembers schon wieder
in Halle bin, d. h. mit Grottes gnädiger Hilfe.
Im übrigen ist mir allerdings curios in der Welt zu Muthe
— ich komme mir oft vor, wie einer, der das Unglück hat, in ein
Narrenhaus gesteckt zu sein, während er selbst seine fünf Sinne
noch bei einander hat. Courage hat fast niemand mehr als der
Pabst, der aber auch mit seinem Concil in eine Greschichte herein
taumelt, von der er die Folgen schwerlich richtig taxirt hat.
Meines Erachtens wird die Sache 'mit einem Ende der römischen
Herrlichkeit enden und eine Trennung der romanischen und ger-
manischen Völker zur Folge haben. Villeicht, daß sich dadurch
auch die Erwerbung Süddeutschlands für uns erleichtert. Jeden-
falls wird dies Concil mehr Rumor machen, als alles andere was
gegenwärtig in der Luft liegt. Als ich vor etwa 10 Jahren ein-
mal dem Präsident Grerlach sagte, an Stelle des Königs von Preußen
1) Im Frühling 1823 bei Gelegenheit seiner Reise nach Italien.
360 N. Bonwetich,
würde ich dem Pabst eine preußische, katholische Besatzung für
Rom anbieten — er lachte mich damit aus, wie mit dem anderen
Gedanken, Preußen müsse Böhmen nehmen, denn nur wer Böhmen
fest in der Hand habe, sei Herr in Germanien. Es hat mir furchtbar
leid gethan, daß Bismarck 1866 Böhmen so leicht fahren ließ —
allein hätte er es behalten, so hätten wir allerdings einen Krieg
mit FraDkreich gehabt; es damals aber auch geschlagen und hätten
nun Luxemburg überdies, nnd alles wäre anders gekommen; auch
wäre dann an dies Concil wahrscheinlich nicht gedacht worden;
Oestreich wäre zu dem Ende gekommen, auf welches es jetzt
langsam zubrustet, und wir hätten Hannover und Hessen auch,
aber nicht annectirt, sondern in Personalunion, womit beide neue
Landestheile sehr zufrieden wären; sie hätten ihre Namen Hessen
und Hannover nicht verloren und ihre innere Einrichtung nicht
verloren; deren Verlust sie nun widerwärtig macht und täglich
mehr machen wird, denn die außerordentliche Fähigkeit unserer
preußischen Bureaukratie fremde Eigenthümlichkeit richtig zu fassen,
ist ja weltbekannt, und sie schicken alle Augenblicke Leute in die
neuen Landestheile die die Widerwärtigkeit noch vermehren werden.
Um den Verlust des Weifenkönigs und des Casselscben Dietrichs
allein, hätten sich die Leute nicht zwei Monate gekümmert — nun
sind wir im besten Zuge, uns Feinde im eigenen Lande zu ziehen.
Doch wo gerathe ich hin mit meinem Phantasien ? ich muß doch
auch schon eine kleine Anlage zur Verrücktheit, die in der Zeit
liegt, in mir haben, sonst käme ich nicht auf den Einfall mich um
Dinge zu kümmern*, die Gott in seiner Hand hält und wofür ich
gar nichts zu verantworten, also auch nichts zu kritisiren habe.
Jetzt sage ich auch schon: Gott behüte uns vor einem Kriege —
oder wenn's einer sein soll, dann wenigstens nicht ein ähnlicher
wie der Sommernachts-Siegestraum wie der östreichische. Nur so
viel weiß ich, das Concil macht uns die Verwirrung in der wir
leben, für einige Jahre noch toller, als sie schon ist.
Im October bin ich wider auf einige Zeit in Berlin, hoffent-
lich ist bis dahin einiges schon klarer, als in diesem Augenblicke.
Meine besten Empfehlungen an Frau von K . , und falls Sie
ihn sehen an Herrn Obristlieutenant von Senfft, der allerdings
voriges Jahr nicht glauben wollte, daß es mit der conservativen
Partei bei uns zu Ende sei, und meinte, als ich ihm sagte als
Partei hätten wir keine Grundsätze mehr als das Halten a'n der
Monarchie, wir hätten ja Mosen und die Propheten. Leider passen
aber die mosaischen Gebote und die Eathschläge der Propheten
nicht mehr recht zu der Politik unserer Tage, und das Anpassen
Briefe des Historikers Heinrich Leo an P'rau von Quast. 361
derselben wird in gut deutscher Weise in jedem Kopfe ein anderes
sein. Nun ! wir sind alle in Grottes Hand ! er wirds ja am Besten
machen — die Schlacht von Jena war 1806 auch ein großes Un-
glück und nun sehen wir ein, daß doch fast alles was wir gutes
und auch 'noch festes unter den Füßen haben, auf Jena gebaut
worden ist, oder doch von da seinen Auslauf genommen hat.
Der Brief ist zwei Tage liegen geblieben und füge nun hinzu:
Es ist doch wohl barmherzig vom lieben Grott, daß er Hengsten-
berg abgerufen hat. So daß er die Widersprüche und Narrheiten
unserer Tage nicht mehr in der beschränkten Weise unserer Tage,
sondern gleich in ihrer ewigen Bedeutung d. h. in der Lösung ihrer
Disharmonien sieht und vielleicht preist, vor dem wir erschrecken . .
Ich bin nun zur Reise fertig 13ten August 69.
In alter Liebe und Treue der Ihrige Dr. L.
[4. 4. 70]. Meine hochverehrteste Gönnerin und Freundin!
Sie haben mir mit ihrem Briefe eine außerordentliche Freude
gemacht, namentlich, daß Emma Ihnen so viel Freude gemacht
hat. Ich bin selbst ein Bischen in sie verliebt, lasse es ihr aber
natürlich nicht merken, denn sonst würde ich bald meinen Willen
nicht mehr zu finden wissen. ...
Was übrigens Tauschers Zeitung anbetrifft, so gefällt sie mir
ganz gut — nur fehlt ihr Eines, was ihr unser lieber Hengsten-
berg zubrachte, nämlich die weiten Augen, mit welchen dieser die
Dinge ansah, und eigentlich alle Zweige und Aste der sittlichen
Bildung bedachte und beachtete. Tauscher hält sich mehr im
engen kirchlichen, eigentlich kirchlichen Kreis. — Das mag
für's Erste sehr zweckmäßig sein ; aber mit der Zeit muß er doch
die Augen weiter aufthun und einen größeren, weiteren Kreis in
seine Theilnahme ziehen, wenn er der Zeitung ihre frühere Be-
deutung erhalten will.
Halle den 4ten März 70.
In alter Liebe und Treue Ihr H. Leo.
[27. 5. 70]. Meine hochverehrteste gönnerin und freundin!
Wie können Sie auch nur mit so groszen werten von meinem
s. g. jubileum reden ! [11. 5. 1870 vgl. M. Jugendzeit S. 235]. Ich
danke gott, dasz ich das ding im rücken haben. Hätte ich ge-
wust, an welchem tage es war, so wäre ich feig genug gewesen,
der geschichte aus dem wege zu gehen, so aber wüste ich nur den
monat und konnte doch unmöglich auf einen ganzen monat aus-
reiszen. Erst zwei tage vor dem eigentlichen tage kam der rector
^62 N. Bonwetsch,
zu meiner frau um sie zu avertiren, damit die sache uns nicht
ganz unerwartet über den hals käme, denn er hatte sich in Jena
nach dem tage erkundigt. Mit dem ausreis zen wer [I] ich die sache
doch nicht los geworden, ich hätte sie nur verschoben und ihr das
genommen, was mir nachträglich die hauptsache daran ist, dasz
ich nämlich — ohngeachtet ich in meinem leben genug menschen,
wenn auch nicht absichtlich doch durch mir einmal natürliche also
gottverliehene art, schwer genug geärgert und so lange ich in
Halle bin mir alle weit auf armslänge von halse gehalten habe,
also annehmen muste, dasz ich sehr wenig freunde hier hätte,
habe ich doch auszer der hergebrachten für die Voigtische theorie
sprechenden complimente , auch viel wirkliche freiindlichkeit er-
fahren, so daß mein stolztrotziger und störrischer sinn durch dies
jabileum einiger maszen gebeugt worden und mir vom lieben gotte
zu dieser vorfeier meines begräbnisses, was im gründe jedes ju-
bileum ist, auch eine milde lehre und zucht gewährt worden ist,
ohne mir in irgend einer weise wehe zu thun. Jedes jubileum ist
ja von gottes und rechts wegen zugleich oder vielmehr vor allem
ein buszfest — auch ein ehejubileum ist es. Hengstenbergs Wider-
willen gegen solche dinge begreife ich vollkommen — aber im
gründe ist solcher Widerwille grundlos — es ist einmal sitte der-
gleichen feiern zu begehen und ganz entziehen kann man sich
ihnen nur wenn man hart und scharf dagegen protestirt, was doch
manche Verletzungen im geleite hat und nur den meisten menschen
als eigensinn erscheint — da ist doch das beste den steifen
nacken zu beugen und den stolz der persönlichen gesinnung hier
wie in tausend fällen zum opfer zu bringen. Es giebt viele opfer
die weit schmerzlicher sind und doch gebracht werden müszen.
Dasz ich mich den arbeiten^ für die kirchenzeitung wegen
meiner angelsächsißchen arbeit auf einige zeit entziehe, haben Sie
mir wie es scheint sehr übel genommen und diese angelsächsischen
interessen als dummes zeug charakterisirt — worin ich Ihnen
freilich nach einer seite vollkommen recht geben musz, allein ganz
kann ich es doch nicht. Ich für mein theil halte das wachsen
und verändern der Wortbedeutungen für wichtigere dinge, als
schlachten und diplomatische vertrage — denn an jenen sieht man
den Wechsel des menschlichen denkens und das ist doch auch der
tiefere grund der schlachten und diplomatischen actionen. Nun
ist aber die angelsächsische spräche eine rein deutsche und zwar
plattdeutsche mundart und zeigt uns unser liebes plattdeutsch wie
es vor tausend jähren war — und wie tröstlich ist es das erbe
^es deutschen geistes in mancher hinsieht so uralt zu sehen. Der
Briefe des Historikers Heinrich Leo an Frau von Quast. 363
glaube an die Unsterblichkeit der seele, der jetzt der heutzutage
den meisten unseres gebildeten und leider auch des ungebildeten
pöbeis ziemlich auf gleicher linie steht mit dem gespensterglauben
war damals, wie man der ganzen spräche anfühlt fest wie ein
stahlblock in den herzen der menschen — ist das nicht mehr werth
dasz unsere vorfahren auch als deutsche beiden so fest diesen theil
des glaubens gehabt haben. Das wort pflicht ist auch damals
schon vorhanden als pliht, aber es bedeutet ursprünglich den
einsatz den jemand im hazardspiel in der plega macht, woraus
folgt dasz die menschen damals das leben als etwas betrachteten
worin jemand einen einsatz zu machen und diesen einsatz zu
zahlen hatten, die pflicht zu leisten hatten, wenn sie nicht ehrlos
werden wollten. Ist das nicht schön; muth zu haben und zu be-
weisen, war ein theil dieses einsatzes, den der mensch in diesem
hazardspiel des lebens zu machen hatte, und wer sich einmal als
feig oder als wortbrüchig ertappen liesz, hatte seine pflicht nicht
geleistet und seine ehre verloren — war das nicht beszer als das
gieren und haschen unserer männer nach purem geld und dafür
zu kaufender lust — und das und noch viel schönes anderes lernt
man aus diesen alten sprachen .unserer vorfahren — auch macht
die Umkehr der leute zum Christentum einen ganz anderen ein-
druck, als unsere neumodischen Judenbekehrungen. Da ist überall
metall in den leuten und das metall lernt man auch in ihren
Worten kennen — wir sehen neben diesen alten prächtigen kerlen
samt und sonders aus wie candidaten geistiger Schwindsucht.
Haben Sie herzlichen dank für Ihr treues angedenken — auch
für Ihren verspäteten glückwunsch zum jubileum — obwohl Sie
ihn mit etwas salzspeck spicken — ich bin aber eben schon von
selbst in sich ganz wohl dazu schickender buszstimmung. Ich
ursprünglich blutarmer pfarrersjunge bin vom lieben gott durch's
leben geführt worden so dasz ich allezeit gehabt habe was mir
noth war und auch immer etwas mehr. Ist das nicht über bitten
und verlangen? und was habe ich dafür meinem gotte grosz ge-
leistet? — Ursache zur demuth ! zur bescheidenheit, zur busze !
auf allen Seiten.
Halle den 27ten Mai 70.
In alter liebe und treue Ihr Dr. Leo.
[Aug. 1870]. Hochverehrteste Gönnerin und Freundin!
Daß Sie mitten in diesem Trouble der Freude und des Dankes
auch noch meiner gedenken, habe ich eigentlich gar nicht verdient
und nun wollen Sie gar von mir wie von einem Orakel allerhand
364 ^- Bonwetsch,
"Weihesprüche, haben: Was wird aus Frankreich, wenn Napoleon
abdanken muß? — Ja! fort wird er allerdings müssen; aber
gleich dem Louis Philipp wie ein überflüssig gewordener Barbier
fährt er nicht im Fiaker davon. Er hat erst noch großes zu voll-
bringen. Die Strafe für die Herzenshärtigkeit und Lüderlichkeit
des französischon Volkes für jenen infamen Königsmord ist noch
immer nicht einkassirt und der Herr will die Frevel der Väter
bis ins dritte Glied strafen — die dritte Greneration wird aber
erst in den 1890 er Jahren ausgehen, dafür scheint mir der Louis
Napoleon recht eigentlich als Büttel ausgewählt und erzogen zu
sein. ...
Ich habe immer nur Angst vor unserem Weichwerden, wenn es
zum Frieden geht, und Bismarck ist eigentlich für diesen letzten
Act meine einzige Hoffnung, der hat doch noch ein festes Rück-
grat und hoffentlich keine Thränen, wenn Alles um ihn zu heulen
anfängt. Daß die Süddeutschen Könige zu unserem, dann nicht
mehr norddeutschen sondern deutschen Bunde treten werden, sehe
ich als selbstverständlich an; und daß unser König dann Kaiser
werden muß, schon um den Süddeutschen das Eintreten in den
Bund zu erleichtern, sehe ich als selbstverständlich an ; aber auch
daß dann der Bund eine Etwas allgemeinere Haltung bekommen
muß. Einen Einheitsstaat erträgt unser Deutschland auf die
Dauer doch nimmermehr, nur in einer straffen Militärverfassung
und soweit sie damit zusammenhängt Finanzverfassung muß es
beim bisherigen bleiben. — Die Einerleimachung der ßechts-
bildung und der Recbtsverfassung hat nun von selbst eine Unter-
brechung erhalten, und man wird hoffentlich die scheusliche Gre-
setzmacherei nicht noch einmal anfangen, wenn man nach dem
Siege Deutschland nicht nachträglich ruiniren will. Der Rest von
Frankreich mag dann Republik werden, zum abschreckenden Exempel
aller Völker, und zu unserer Ruhe auf lange Zeit. Die Orleans
wenigstens werden dort nichts machen. Die früheren Zeitläufe
haben hoffentlich von ihnen hinlänglich zurückgeschreckt, so daß
auch die Franzosen ein Grrauen davor haben.
Mit unseren Siegen, scheint es, ist nun auch die Infallibili-
tätsnarrheit des Herrn Pabstes der Hauptsache nach in Brunnen
gefallen — in Deutschland wenigstens wird diese jesuitisch-ro-
manische abstracte Auffassung des Summepiscopates nicht durch-
dringen, uud unsere Kirchensachen wird hoffentlich auch ein deut-
scher Kaiser ihren eignen Weg gehen lassen und sich seinen Waffen-
sieg nicht durch das Bestreben, auch einen theologischen Federsieg
seinem Waffensieg beizugesellen, verderben.
Briefe des Historikers Heinrich Leo an Frau von Quast. 365
Ihr Rothenmoorer Malzahn gefällt mir, obwohl da auch einige
theatralische Buchmacherei mit unterläuft, — und daß der liebe
Gott endlich anfängt auch unserer Kronprincessin ein deutsches,
ein preußisches Herz zu geben, ist auch prächtig — obwohl das
noch manchen Kampf kosten wird , wenn es endlich darauf an-
kömmt, auch das englische Schlangengezisch vornehm ablaufen zu
lassen. Nur behüte uns Gott vor einem Frieden a la 1815, den
wir damals dem schlafmützigen Alexander verdankt haben. Jetzt
wird das slawische Gesindel wohl das Maul halten müssen, denn
durch die Bauernfreiheit ist ja nun der östliche Coloß bis tief in
das Innere so desorganisirt, daß es nichts in den nächsten Jahr-
zehnten wagen darf, zumal auch in seinem Rücken, das neue Slaven-
Volk, was in Sibirien erwachsen ist, die Siberaks, auch schon ein
hinlänglich trotziges Bewußtsein gewonnen hat.
Kurz! dieser Krieg ist der 5te Act des großen Dramas der
Freiheitskriege — und Gott gebe uns nur nicht zu leichte Siege,
sondern so daß auch die zu Hause gebliebenen Ernst und Trauer
genug erhalten; denn ein Krieg, der überall so glatt liefe, wie
der Sommernachtstraum von 1866, wäre der Anfang unseres Endes,
wenn es in Uebermuth und Luxus so fortgehen sollte, wie seit
1866. Dann könnte es noch kommen, daß man unsere jetzigen
Siege beklagen müste.
Traum ist das, was wir erleben, nicht, aber Poesie,
prächtige Thatenpoesie, Gott gebe nur, daß die elende Zerschlagen-
heit der Franzosen, und das Grauen unserer Diplomatie nicht
alles wider verderben, was das Blut und die Tapferkeit unserer
braven Leute gut gemacht haben. Amen! Amen! Amen!
In alter Liebe und Treue
Ihr 72 jähriger Junger —
denn dieser Sommer ist eine jungmachende Badekur — wer hätte
1815 einen solchen prächtigen Schlußact auch nur träumen können ! —
[Sept. 1870]. Mein Gott! mein Gott! was soll ich sagen. Mir
wird Angst vor soviel Glück ! Noch habe ich lebendig im Ge-
dächtniß, wie wir am Abend des 18ten Octobers 1814 aus der
Kirche, wo Dank-Gottesdienst gewesen war, traten, und an dem
herrlichen Abend alle Berge der Umgegend mit Ereudenfeuern
gekrönt fanden — • und wie viele langweilige Nörgeleien, Ver-
pfuschungen u. s. w. folgten hinter her. — Wirds nun besser gehen?
Wenn das Pestloch, das Metz, aufgeht und unsere durch die furcht-
baren Anstrengungen und Spannungen der letzten Wochen ange-
griffene Armee den Pesthauch aufnimmt — was wird dann be-
366 N- Bonwetsch,
ginnen. — Seit 40 Jahren ist das stete Schicksal gewesen, daß
man mit nichts zu wirklichem festen Abschlüsse gekommen ist —
Nichts, Nichts ist fertig, was. seitdem begonnen worden ist,
nicht einmal die Orleans sind wir entschieden und ganz los —
sie fahren immer noch in der Welt herum und vor England habe
ich größere Besorgniß als vor Frankreich. Bei allem Geschwätz
von E-eligion ist kein europäisches Volk innerlich religionsloser
und mammonistischer als das englische und dabei frecher und un-
verschämter. Wer sich als die Frucht unseres jetzigen Glückes
alsbaldigen Frieden träumt wird sich entsetzlich täuschen — das
eigentlich böse Eingen wird nun erst beginnen und dabei wird
sich zeigen, wer ein festes Herz hat — wer eigentlich an Gott
glaubt. Wir gehen einem tiefen, tiefen E,einigungsproce«se ent-
gegen — und nicht wegen des zeitherigen Glückes, sondern darum,
daß Gott uns solches Alles zu tragen geben wird — hebt sich
meine Hoffnung erfrischt — es ist mir als stünden wir in den
letzten Dingen mitten darin und ich sähe mit offnen Augen in die
Geheimnisse des Himmels hinein. Noch hat unser Herr und Gott
nie seinen Kindern größere Lasten auferlegt, als die er ihnen, zu
tragen, auch Kräfte gegeben hatte — also : Durch ! Durch ! und
mitten hinein!
Ich hatte gezögert auf Ihren letzten Brief zu antworten, und
muß deshalb um Verzeihung bitten — daß Sie auch schweres per-
sönliches Leid zu tragen hatten , wüste ich schon — aber wer
kann damit jetzt ein Leid verbinden, daß einer im Siege fällt und
des weiteren Ringens überhoben ist; er sieht nun schon klar den
letzten Sieg, während wir noch alle Zwischenstationen za fürchten
haben. Zuweilen möchte ich, ich wäre auch schon todt — aber
dann kömmt mir solcher Wunsch doch wieder wie purer Frevel
vor , wenn ich das Theater betrachte , dessen Vorhang der liebe
Gott eben noch in meinen alten Tagen vor meinen Augen aufrollt.
Wo keine Menschen Weisheit und Menschentapferkeit mehr ausreicht,
muß Er ja helfen und wird Er helfen — und das wäre doch
noch ein ganz andrer Triumph als die Capitulation von Sedan,
wenn unsere Fürsten endlich fest, d. h. lebendig in der Bewegung
jedes Blutstropfens fühlten und erkenneten, daß Er allein hilft
und helfen kann, wenn sie über alle jüdisch-menschliche Berech-
nung hinaus den Glauben gewönnen, daß er auch wirklich helfen
wird — und Etwas von solcher Einsicht dämmert doch schon —
Gott gebe uns, daß es Licht werde und vor aller Augen die Sonne
aufgehe.
Unsere gestrige Illumination brachte ein Transparent : Kaiser
Briefe des Historikers Heinrich Leo an Frau von Quast. 367
Napoleon ist gefangen — ach war er doch gehangen ! darin ist
auch ein Schimmer der Erkenntniß von Gottes Gerechtigkeit —
denn daß ein Mensch wie der, nachdem er sich auf das frevelhaf-
teste vermessen, nun nachdem er's so weit gebracht, daß er in
Paris zerrissen würde, noch die Juden gescheidigkeit hat, sich un-
serm Könige zu Füßen zu werfen, wo er weiß, daß er honett be-
handelt werden wird, das ist wirklich Etwas von dem alten Volks-
witz: lustig gelebt und selig gestorben das heißt: dem Teufel die
Rechnung verdorben. Ich finde es natürlich, daß Menschen, die
nicht innerlich so vornehm sind, wie unser König, den edlen Louis
lieber hängen ließen . . . , als ihn nach Wilhelmshöh schickten. —
Der liebe Gott ist aber innerlich noch weit vornehmer! damit
dürfen wir uns trösten, daß die Gerechtigkeit der Weltregiernng
oft noch eine viel andere ist als die unsrige.
Wir gehen dem 5ten Act in dem furchtbaren Drama, was mit
1806 anfing entgegen — und auch unsere Kraft — wo? fängt sie
an, wenn nicht bei Salfeld und Jena — damals schienen wir zer-
treten und nun wird einem Angst vor der Erhöhung. Mir ists
als sollte ich nun im allervornehmsten Saale der Welt nächstens
eintreten, und mir wird ängstlich dabei um mein hochzeitliches
Kleid — ich denke, ich werde ob meiner Lumpen vor die Thüre
geworfen.
Während mir Angst wird vor dem lieben Gott und seinen
Gerichten — schickt er mir einen Tropfen Balsam auf die Zunge
— Emma, die um Pfingsten an einer fast tödtlichen Lungenent-
zündung erkrankte, eben als ich im Begriff war, zu ihr zu reisen,
hat wie ich gestern erfuhr, endlich eben wider die ersten Zeichen
einer Neuerstarkung gegeben. Sie liegt in voller Einsamkeit in
Warnemünde, und kann endlich wider Etwas Fleischbrühe und
Fleisch genießen ohne sich zu erbrechen — nur die Brust ist noch
sehr angegriffen, doch hat ihr die kühle, rauhe Seeluft bisher nur
stärkend gedient.
In alter Liebe und Treue wie immer
der Ihrige Dr. Leo.
Der arme D. dauert mich von Herzen! Weiß doch keiner, wie
und wann ihn sein Schicksal ruft — doch Alles dergleichen ist
einem jetzt ja im Grunde irrelevant geworden — o wer doch noch
einmal 17 Jahre alt wäre — doch nicht um alle die Sünden noch
einmal aufzudecken, die nun im Rücken liegen? doch wer ist rein
bevor er als Todter gewaschen wird?
368 N. Bonwetsch,
Meine hochverehrteste gönnerin und frenndin!
Ich habe diesmal längere zeit auf antwort warten laszen, weil
ich zugleich an Tauscher, der mir auch geschrieben, antworten und
ihm und Ihnen dadurch einigermaszen den willen thun wollte.
Tauscher schreibt mir, ich möchte ihm nur einen ähnlichen aufsatz,
wie die letzten briefe an Sie schicken — da irrt er sich aber in
zweierlei, erstens darin, dasz er gleich Ihnen auf diese briefe einen
besonderen werth legt und zweitens darin, daß er meint aufsätze
schreibe man so bequem wie briefe. Einen [!] brief liegt in einem
anderen briefe in der regel eine veranlaszung, auf die er antwort
ist zu gründe, er ist gewissermaszen nur ein abglanz des vorher-
gehenden, und so mag es, wenn an meinen briefen etwas war, eben
nur der abglanz von Ihren vorhergehenden, auf die sie antwor-
teten, sein. Wenn ich einen brief schreibe, reflectire ich gar nicht,
sondern überlasze mich dem eindruck dessen was ich zu beant-
worten habe, und denke übrigens nur, wie fast mein leben lang
in bildern und ahnungen und drücke diese aus. Dagegen, so wie
ich einen aufsatz schreiben will, fange ich an zu reflectiren, zu
spindisiren, suche zweck und mittel zusammen zu bringen — kurz !
bin ein ganz anderer mensch und zwar ein viel unbehilflicherer,
pedantischerer. So ists mein lebelang gewesen — ich habe alle-
zeit etwas nur im unmittelbaren herausgeben wirksames gehabt —
und gar nichts, sobald reflexion und vermittelter entschlusz vor-
hergehen muste — in den ersten jähren nach 1848 habe ich mit
reden in Versammlungen etwas wirken können, weil ich durch zorn
und unmittelbar dazu getrieben war und mich gehen liesz und
gehen laszen konnte — im herrenhause tauge ich gar nichts, weil
ich da um nichts ganz ungehöriges zu reden am tage vorher die
Sache bedenken und das merken müste — das geht mir nicht —
ich musz ungenirt herausplatzen können ohne das gefühl einer
rücksicht, oder das maul halten. Nun sind aber gegenstände und
personen im herrenhause selten so , dasz ich einen zorn darüber
empfinde, und sitten und ausdrucksweisen der herren alle so ver-
schieden von denen ,- bei den ich aufgewachsen bin, dasz ich mich
nie ungenirt fühle. Das feine jüdchen Stahl war für diese herren
wie geschaffen, dasz man mich hinein geschickt hat, ist eigentlich
grundlos, zumal ich um nur meine meinung ausdrücken zu können,
zuerst mit einer polemik gegen Stahl anfangen müste, denn dessen
art von conservatismus habe ich nie von herzen theilen können.
Na! ich habe nun also doch eine art aufsatz an Tauscher ge-
Briefe des Historikers Heinrich Leo an Frau von Quast. 369
schrieben und zugleich mit diesem briefe abgesandt^). Ich an
seiner stelle liesze ihn aber nicht drucken, denn er ist zu persön-
lich gehalten und ohngeachtet er reflexiouen groszestheiles ver-
meidet und die sache historisch zu faszen sucht, doch zu trocken
und langweilig. Also — ich nähme, falls ich redacteur wäre,
den aufsatz nicht, und er hat ja nach dieser seite vollkommen
freiheit zu thun was er will. Aber wenn er ihn nimmt, bitte
ich um correcten abdruck, und Sie, dasz Sie diesem interesse
mütterlichen schütz gewähren. . .
Sie wollten noch wiszen, mit wem wir frieden schließen
sollten. Das denke ich ist unsere sorge gar nicht — wir brauchen
nur auszuhalten. Die Franzosen sind ja nicht bloß äuszerlich,
sondern auch innerlich, so geschlagen und auseinander gefahren,
dasz fast jede that und äuszerung derselben jetzt ein wahnsinns-
merkmal wird — Grott hat sie mit blindheit geschlagen, verblendet
— haben wir nur noch ein Vierteljahr geduld, so verlieren sie ent-
weder alle einheits punkte oder kommen auf ihren knieen gerutscht
und betteln um frieden, dann haben wir die wähl: zeit, ort und
personen zu bestimmen — laszen wir also getrost die sorge, wie
sie's anfangen wollen, frieden zu erhalten. Wer wird sich mit
fremden sorgen beladen — Bismarck scheint zu derselben ansieht
gekommen zu sein — wenn nur Majestät die geduld nicht verliert,
und nicht zu gutmüthig ist, das übrige wird sich alles finden.
In alter liebe und treue der Ihrige H. L.
[7. 11. 1870]. Ich habe lange, viel zu lange gezögert mit
meiner Antwort, aber ich dachte immer, ich wollte den Schlußact,
den Strafact für Paris erzögern, was der Welt soviel Leid zuge-
fügt hat, und eigentlich schon lange der rechte Blocksberg war,
wo alltäglich und allnächtlich Teufelsdienst gehalten wurde . . .
Ich denke mir auch die Verhandlung über den Waffenstillstand sei
ein Bismarckscher Humor — er weiß doch daß bei den verrückten
Menschen nichts draus wird, und schiebt damit den Franzosen alle
Schuld des weiteren Krieges in die Schuhe — oder wenn Etwas
daraus wird, so bricht der Wahnsinn den Waffenstillstand durch
irgend ein Attentat oder andere feindliche Handlung. Eine Haupt-
sorge von mir, daß durch die Pocken- und Typhuskranken und
Lazarethbrandkranken aus Metz nun auch neben der Viehseuche
-eine Menschenseuche über Deutschland ausgesäht werden möchte,
wie 1814 im Anfange des Jahres, die ja weit gräulicher war als
1) Offenbar Deutschland und Frankreich, Ev. K. Z. 1871.
Kgl. Ges. d. Wiss. Nachrichten. Phil.-hist. Klasse. 1918. Heft 3. 24
370 N. Bonwetsch,
die Cholera, ist ja nun auch beseitigt, dadurch, daß keiner der
Kranken dieser Art nach Deutschland gebracht werden darf. Daß
Sie von meiner Federthätigkeit noch so viel erwarten, ist zwar
für mich persönlich recht schmeichelhaft, aber es thuts halt nimmer-
mehr — es ist kein Anhalten mehr in meiner Thätigkeit, das Er-
lahmen des Alters liegt nicht sowohl im Wegfallen der Einfälle,
als im Aushalten bei deren Ausführung, trotz aller Lust noch am
Leben, bin ich müde, schlafmüde durch und durch, und eigentlich
immer halb im Traume, außer wo ich ganz trockne Sachen vor-
nehme. Lexiconarbeit, wobei ein Wort mühelos zum andern führt
kann ich noch machen, aber Sachen wobei Gredanken festgehalten
und ausgeführt werden wollen, geben nicht mehr. Ich fühle wie
ich almälich inwendig zusammenschrumpfe und in eine Grleichgül-
tigkeit hereinfalle, von der ich sonst keinen Begriff mehr hatte . . .
Ich halte in diesem Winter auch nur eine einstündige Vor-
lesung alle Woche — alle unsere einjährigen Freiwilligen sind fort
und bleiben fort bis zum Ende des Krieges. Was irgend noch
dienstlos da war und im Juni noch sein Abiturientenexamen unter
erleichterten Formen abmachen konnte ist im August freiwillig
eingetreten und Ende September der Armee nachgeschickt worden.
Alle meine Zuhörer vom vorigen Semester liegen vor Paris und
sehen ungeduldig dem Bombardement entgegen. Wir haben hier
wenig Studenten, großestheils nur Theologen und in irgend einer
Art Krüppel — sogar unsere Oekonomiestudirenden sind dünn ge-
worden, da eine so große Menge Inspectoren und Verwalter in die
Armee eingezogen sind, und also auch jüngere Landwirthe jetzt
sehr günstige Anstellungen finden. Zu meinen Privatvorlesungen
hatte sich als ich herein kam, sie anzufangen, noch nicht ein ein-
ziger gemeldet; ich gieng herein, da ich den Anfang einmal an-
gekündigt hatte und fand 14 Zuhörer, sagte ihnen aber rund heraus,
ich würde nicht anfangen, wenn sich nicht wenigstens 5 meldeten;
ob sie das verdrossen hat, weiß ich nicht, es hat sich aber nie-
mand weiter gemeldet als ein in Folge des böhmischen Krieges
zur Disposition gestellter, mit Orden decorirter ßitmeister, so daß
ich diese Vorlesung nicht anfangen konnte, und auf ein einstün-
diges Publicum über mittelaltrige Geographie reducirt bin, was
mir auch langweilig genug ist. Kurz ! in allem tragischen Tumult
wird mir die Welt täglich langweiliger. Dazu ist mir auch nun
das eine Bein durch rheumatische Schmerzen halb gelähmt, daß
ich bei dieser naßkalten Witterung nur mit Mühe meiae täglichen
Spatziergänge machen kann, und eine ganz stubensieche, aschfarbene
Couleur bekomme. -Immer noch bequemer als bei gleichem Wetter
Briefe des Historikers Heinrich Leo an Frau von Quast. 371
vor Paris Wache halten. Die ewige traurige Melodie der Wache
am Rheio, wird mir almälich auch langweilig.
In alter Treue und Liebe verehrungsvoll
Halle 7/11 70. H. Leo.
[Anfang 1871J. Hochverehrteste Gönnerin und Freundin!
. . . Tauschers Vorwort hat mir außerordentlich wohl ge-
fallen, wenn er auch nicht die gewissermassen wissenschaftlich-
fürstliche Stellung in demselben nimmt, die ungesucht und natürlich
Hengstenbergs Vorworte, in den letzten Jahren zumal, stets be-
gleitete — indessen glaube ich nicht , daß irgend jemand anders
die Sache zweckentsprechender eingerichtet und geschrieben hätte^
als Tauscher; Hengstenbergs Blick, der ihn zum Fortführer seine»
Werkes ausersehen, hat sich auch nach dieser Seite sehr gut be-
währt . . .
Ihrem Herrn Sohn, der wohl noch bei Ihnen weilt, bitte ich
mich allerbestens als einen alten Verehrer zu empfehlen — mich
aber Ihnen selbst als Weissager zu empfehlen trage ich große
Bedenken. Mir thut nur leid, wenn unser Kaiser die Grutmüthig-
keit so weit ausdehnt, daß er dies alte Satansnest, Paris, nicht in
der Wurzel zerstört, denn leider haben wir gute Deutsche (wobei
ich mir die Freiheit nehme, mein romanisches Herz diesmal aus-
zunehmen) so viel von gutmüthiger Schwäche in uns , daß unser
Haß allein uns nicht gegen den auch nun noch fortdauernden Ein-
fluß von Paris schützt, und da doch der liebe Gott in dem ganzen
Kriege offenbar den Kaiser so geführt hat, daß er seiner Aufgabe
gewissermaßen die Spitze abbricht, wenn er in Paris einen Stein
auf dem anderen läßt, so kömmt mir ein Schonen von Paris ge-
wissermaßen wie ein im Stichelassen der von Gott gestellten und
ermöglichten Aufgabe vor, und wie ein Unterlassen der Befreiung
Deutschlands von Satans Einfluß. Jedes falls bekommen wir in
einigen Jahren doch einen neuen Krieg mit Frankreich, und wer
wird aufschieben, was man augenblicklich rein und präcis abmachen
kann. Wer weiß ob wirs so schön wider in unsre Hände be-
kommen! Der liebe Gott wird sich hüten, uns noch einmal so in
die Hände zu arbeiten, wenn wir einmal unsre Pflicht versäumt
und seine Hoffnung auf uns getäuscht haben. . . [Aber siehe den
Br. V. 2. Pfingst. 71].
In alter Liebe und Treue der Ihrige Dr. Leo.
[April 1871 [. Ihr letzter eben erhaltener Brief, meine hoch-
verehrte Gönnerin und Freundin! erinnert mich lebhaft an meine:
24*
372 N. Bonwetsch,
Sünden, Ihnen so lange Antwort schuldig geblieben zu sein, da
aber zu wirklichen Sünden aber wesentlich auch gehört, daß man
auch anders hätte handeln können, und ich eben die ganze Zeit
über unfähig war, zu antworten, bin ich eben auch nicht an wirk-
liche Sünden, sondern an das erinnert worden, was Luther Puppen-
sünden nennt, denn ich bin schon seit Anfang dieses Jahres in
einem halben Krankheits zustande, in dem sich für die letzten 14:
Tage eine entsetzliche Grippe vorbereitete, die mich nun schon so
lange zu Stubenarrest verurteilt und auch zu der kleinsten Pro-
duction völlig unfähig gemacht hat. Die 72 Jahre ^) meines Alters
machen sich eben doch almälich sehr hartnäckig geltend und strafen
auch für jedes geringste Wagniß. Dazu ist nun zuletzt noch der
verhältnismäßig traurige Ausgang dieses Krieges gekommen, der
mich statt einer Trümmermasse, wie die von Babel und Ninive
an der Stelle von Paris sehen zu lassen einen traurigen Abzug
unseres Heeres sehen läßt, der uns mehr als genarrte Leute denn
als Sieger den kommenden Greschlechtern präsentirt, und das mo-
derne Babel in seinem Einfluß auf Frankreich und dadurch Frank-
reichs Einfluß auf die Welt in unveränderter Weise hinstellt. Der
Ausgang ist wirklich fürchterlich matt, so daß er mich auf das
lebhafteste an v. Arnims Worte im Wintergarten erinnert: „seit
Gott nun genialisch ist es die Welt nicht mehr" — und das geht
mir schwer ein . . . Natürlich denen, die bei der Stang waren,
ist alles nicht so langweilig gewesen, wie uns in den Winterquar-
tieren, die zum Ernst ermahnt, doch nirgends zu rechtem tiefen
Ernst kommen konnten, sondern immer von Neuem durch die Groß-
thaten unsrer Frauen unterhalten und zerstreut wurden, um am
Ende einer Großthat der Humanitäts- u. Freimaurerreligion zuzu-
schauen. Mich tröstet und erfrischt dieses Spiel der Humanität
nach keiner Seite, auch weiß ich nicht was uns diese Freude un-
serer altliberalen an dem humanen Schlüsse im Inneren helfen soll
— ja wenn man daraus auf ein inhumanes Finale gegen das
liberale Zeug im Lande selbst schließen dürfte — aber im Gegen-
theil, die Humanität wird da zuletzt auch den Vogel abschießen
Tind uns freudig mit langer Nase als die geprellten Söhne des
Conservatismus abziehen sehen. Ich habe mich, auch wenn ich
hätte ausgehen dürfen, diesmal auch grundsätzlich an keiner Art
Wahl betheiligt. Kein Conservativer giebt sich die mindeste Mühe
«ine Wahl aus sich zu ziehen oder für eine solche Wahl das min-
deste Vertrauen zu erwerben. Was soll man Zeit und Kräfte
1) Leo war geboren am 19. März 1799.
Briefe des Historikers Heinrich Leo an Frau von Quast. 373
daran wenden leeres Stroh zu dreschen und leere Nüsse aufzu-
beißen. Ich bleibe dabei, es hilft uns nichts, als wenn endlich
einmal alle ordentlichen Menschen dazu kommen, zu keiner Wahl
nur zu gehen, für keine auch nur eine Sylbe zu reden und da-
durch endlich den Beweis zu führen, daß dies ganze constitutionelle
Puppenspiel für Deutschland eine Narrheit ist, eine IJeerheit ohne
Fundament. Es kann sein meine Stimmung ist z. Theil nur das
Ergebniß meiner von lange her eingefädelten und durch diesen
tückischen Winter großgezogenen Grippe. Ich will mich deshalb
auch nicht zu sehr innerlich aufbringen lassen — aber ein Refrän
bleibt doch schließlich: Gott bessers, und mache seine Genialitäten
in Zukunft nicht so ganz alleine, wie diesmal, wo er den Menschen
doch eigentlich nur die strategischen Berechnungen und das sitt-
liche Ertragen überlassen hat , worin sie ihm hoffentlich leidlich
genug gethan haben, um in zwei Jahren (länger wirds doch nicht)
dieselben Leistungen noch einmal zu übernehmen.
Emma ist wohl und munter und die Freude an ihrem kleinen
Charlottchen ist so kindlich und hinreißend, daß sie sogar mich
alten Knasterbart damit ansteckt. Ich werde Ihre Grüße bestellen
und daß Charlotte Ihren Taufnamen trägt treulich berichten, wo-
mit ich gewiß große Freude anstelle. Und nun behüte Sie Gott
treulichst wie bisher, ich fürchte auf keinen Fall diesmal meinen
letzten Brief an Sie geschrieben zu haben. Meine besten Empfeh-
lungen an Ihren Herrn Sohn ... — auch an Tauscher, dem ich
aus gleichen Gründen , wie Ihnen die Antwort auf seinen letzten
Brief schuldig geblieben bin. Wie sehr ich mich auch an seiner
Zeitung freue, schicken kann ich ihm doch für dieselbe nichts. Ich
stehe mit meinen Gedanken und Phantasieen doch zu weit dabei
bei Seite. Um in dieser letzten langweiligen trüben Zeit nicht
gar zu sehr in langer Weile zu verkommen, habe ich mir Lübke's
histoire de la renaissance Fran9aise kommen lassen und erfreue
mich an den französischen Schloß- und Hotelbauten, die mich auck
in Zeiten Frankreichs zurückführen, wo von ihren heutigen Teu-
feleien noch viel weniger an den Franzosen hieng dagegen viel
Weltverstand und verständige Weltfreude. Um von diesen Dingen
einen Sprung in unsere protestantischen Kjrchenfreuden zu machen,
müsten aber meine Kniee allerdings noch eine größere Sprungkraft
besitzen, als in diesem Augenblicke meine Grippe noch gestattet;
nicht einmal an der Correctur meines angelsächsischen Wörter-
buches habe ich die volle Freude, die ich davon hoffte — dies gute
englische Volk ist doch auch durch sein constitutionelles Wesen
ein größeres Rindvieh geworden, als ich ihm zugetraut habe —
374 ^- Bonwetsch,
das Zeug verdummt jeden der sich damit einläßt — Gott sei Dank
daß uns kein Eid aufgelegt worden ist das Zeug zu lieben, sondern
nur es zu beobachten d. h. gründlich hassen zn lernen.
In alter Liebe und Treue der Ihrige H. Leo.
Der gute SeniFt schafft auch im treuen Dienst das Seine —
allerdings zuweilen in zu einfachen Reflexionen, für die unsre
Zeit nicht mehr geschaffen scheint. Warum ist nur unser guter,
braver, einfacher Wilhelm nicht auch einfach bei solcher Einfach-
heit geblieben, sondern hat sich von diesem überbürgerlichen Staats-
räsonnement imponiren lassen; jedermann fast . . . jubelt . . . wenn
wir einmal von der letzten Wahl hören, deren jede doch mit einem
Stück von altem preußischen Wesen zum Teufel fährt. G-ott er-
halte uns wenigstens unser Heer in alter Treue und Gehorsam, die
noch keine Wahl hat anfechten können.
[etwa Mai 1871]. Nach Berlin zum Herrenhause bin ich aller-
dings noch nicht gekommen, werde auch in diesem Jahre nicht
kommen, denn ich bin fast unmittelbar nach dem Ende der Ferien
wider in wunderbarer Weise erkrankt und während der ersten
Woche nach den Ferien etwa 9 mal auf der Straße der Länge nach
zu Boden gefallen und zwar zum Theil sehr gefährlich — das
eine Mal mit dem Kopf an ein Wagenrath, so daß nur der Zufall,
daß der Mann, der den Wagen leitete, neben demselben hergieng
und denselben unmittelbar anhalten konnte und nicht erst abzu-
steigen brauchte [!] Der Minister Mühler hat mich für dies Semester
von Vorlesungen dispensirt; ich war bei den engen Straßen und
dem miserablen Pflaster in Halle wenn ich in unseren Straßen zu
gehen wagte in der Regel sehr bald wie behext und kann nur,
wenn mich meine Frau führte und geleitete, es wagen auf der
Straße zu gehen. Erst in den letzten Tagen habe ich wider einiger-
maßen gehen können. Zu Hause geht es leidlich; doch nie ohne
Leitung und Aufrechthaltung. Etwas besser scheint es wider gehen
zu wollen — namentlich im Freien, wo ich noch nicht gefallen
bin; dagegen in den Straßen der Stadt geht es noch durchaus
nicht ; der Arzt macht mir Hoffnung nur, wenn ich gar keine Ex-
perimente mache, namentlich nur, wenn ich gar keine Versuche zu
gehen in der Stadt mache; jedes neu umfallen werde mir Schwindel
und Hinfallen verursachen; nur wenn ich mich sehr in Acht nehme
und viel im Freien gehe, macht er mir Hoffnung auf dauernde
Besserung . . . Ich selbst habe eigentlich wenig Hoffnung auf
gründliche Besserung, obwohl der Arzt die beste Hoffnung hat,
zumal es in den letzten Wochen besser geht, denn bei meinem
Briefe des Historikers Heinrich Leo an Frau von Quast. 375
Yater war das ebenso ; der ScElag rührte ihn plötzlich ; Präsident
V. Gerlach . . hat mich durch Tholuck warnen lassen. Ich möge
mich in Acht nehmen, es scheine zu Ende zu gehen. Nun, wie
Gott will ! ich bin auf Alles gefaßt. Wenn unsere Welt nur nicht
so sentimental zu werden anfienge. Daß unser Geschlecht keine
Courage mehr hat, zum Xode zu verurtheilen, ist doch ein sehr
bedenkliches Zeichen — am Ende wird man auch keine Courage
mehr haben, Krieg zu führen.
[2. Pfingstt. 1871]. Meine hochverehrte gönnerin und freundinl
Ich schreibe Ihnen heute nach langem schweigen in einer art
Zerknirschung ! Sie können sich denken, dasz ich meine aufregung,
daß die preußische armee in einer art einsiedlerischer demuth
Paris passirt ist, nicht blosz Ihnen, sondern allen freunden auch
bier laut genug ausgesprochen habe, dasz die plane gottes an
diesem der fauligen gährung anheimgefallenen Paris so ganz von
unseren leuten unbeachtet gelaszen sind, und nun zeigt sich dasz
die plane gottes doch weit gründlicher und ohne allen schaden für
uns ausgeführt worden sind, als wir sie hätten ausführen können.
Wenn wir Paris in einen trümmer- und aschenhaufen verwandelt
hätten, welch ein geschrei über die nordischen barbaren würde das
gegeben haben, nun wo die Franzosen das alles selbst weit gründ-
licher leisten, als wir es gekonnt hätten, werden die neutralen
tropfe, die herren engländer, beigier und Italiener belehrt, daß sie
zeither esel ohne alle einfalle gewesen sind und müszen uns nach-
träglich nach allen selten recht geben — ich bin durch die ge-
schichte belehrt, dasz ich auch ein esel war, dasz ich mir ein-
bildete, der liebe gott brauche unsre preußische armee, um zu
strafen, wie er es für recht findet, während er doch strafmittel
die hülle und fülle auszer der preußischen armee hat, wenn er
strafen will in seiner gerechtigkeit. Wenn man sich denken könnte,
Bismarck habe eine gottgleiche voraussieht gehabt und in dieser
Voraussicht den ganzen handel um den Präliminarfrieden ange-
fangen und ausgeführt, so müßte man ihm eine raffinirte bosheit
zutrauen, wie er sie entfernt nicht hat, denn so wie mit diesem
scheinbar so barmherzigen Präliminarfrieden ist noch, so lange
die weit steht kein volk hinters licht und in sein verderben ge-
führt worden, wie jetzt die franzosen, von denen nun auch die in
Deutschland auf sicherem boden sitzenden gefangenen noch zur
theilnahme an der strafe herbeigeholt werden und sie in dem Paris,
was sie von innen heraus in rauch aufgehen laszen, einen mittel-
punct aufgehen laszen, den weder sie, noch irgend ein Mensch
376 N. Bonwetsch,
ihnen zn ersetzen vermag, wie viel knnstwerke, wieviel einzig in
Paris vorhandene Schriftwerke werden in diesen tagen von feuer
verzehrt werden, und was gerettet wird, so viel es sein mag, wird
doch nur ein armseliger rest sein. . . und ehe Frankreich sich von
dieser strafe nur ein wenig erholt, werden dort ganz neue bil-
dungen und Schöpfungen erwachsen und städte wie Lyon und Tou-
louse werden Paris weit voran wachsen, neue mittelpuncte sich
bilden, keiner so herrschend wie Paris, keiner so gottlos und ver-
derbend wie Paris, und eine ganz andre weit wird dem Prank-
reich, was diesen dampf überdauert, in die äugen sehen, nicht der
krieg von 1870 sondern der brand von 1871 wird den Charakter
der neu entstehenden weit bezeichnen. . . Als ich gestern, als am
ersten pfingsttage, ohne in der kirche gewesen zu sein, ausgehen
wollte, traf ich an meiner hausthüre einen prediger, der mir sagte,
er passe eben auf mich, um mir eine predigt zu halten, und mich
zu fragen, wie ich dazu komme? unsres herrn Gottes göttliches
regiment zu tadeln, der uns doch gerade durch sein regiment so
endlos beschämt und gezeigt habe, was und wie es hätte geschehen
müszen, um seinen willen, auch seinen strafwillen, durchzuführen
und dennoch uns vor den vorwürfen heidnischer barbarei zu be-
wahren; ich thäte beszer, in sack und asche busze zu thun als
darüber zu eifern, dasz unsere leute Paris unberührt hinterlaszen
und esseinen eignen söhnen zur strafe und Zerstörung hinter-
laszen hätten. . .
In alter liebe und treue der Ihrige
Dr. Leo.
[Sommer 1871]. Leider, verehrteste Gönnerin und Freundini
bTn ich nicht wohl. Es geht mir allerdings besser, aber ich brauche
fortwährend den Stock zum Gehen und habe bei der geringsten
Anstrengung Zittern in den Beinen und mein Gedächtniß wird
immer weniger präsent, das heißt — namentlich Namen verlieren
sich mir oft auf Viertelstunden dann sind sie plötzlich wieder da.
Emma ist wohl und ihre kleine Charlotte gedeiht, die ich leider
noch nicht gesehen hatte. Ich dachte zu Pfingsten nach Rostock
zu reisen, aber meine Frau setzte sich mit Macht dagegen, wohl
auch mit Recht! denn da ich aus keinem gewöhnlichen Wagen
ohne die Hilfe eines Stockes aussteigen kann, und mir[!] das in
der Regel ungeschickte Helfen andrer Leute nicht leiden mag,
auch durch irgend Etwas, was mich reitzt sogleich in entsetzliche
Aufregung gebracht werde, hat meine Frau schon mehrfach Scenen
erlebt, wo wenig gefehlt hat, daß ich einen ungeschickten Kutscher
Briefe des Historikers Heinrich Leo an Frau von Quast.. 377
mit dem Stocke über den Kopf geschlagen hätte, stellte sie vor:
was soll daraus werden, wenn Du in solchem Zustande auf einem
fremden Bahnhofe einen Babnbeamten behandelst und doch ist
nichts wahrscheinlicher als das geschieht und dazu das überall
jetzt höchst aufgeregte und empfindliche Volk, was überall nur
Respect haben und sehen will, weil es uns wie sie meinen allein
vor den Franzosen bewahrt habe, daß das die Officiere in erster
Stelle mehr gethan haben, als es selbst, will ja niemand begreifen,
da man sogar dem Könige übelnimmt, daß er überall dem lieben
Gotte die Ehre giebt, die wie es meint dem deutschen Volke ganz
allein gebührt. Hoffentlich bin ich bis zum August wider so weit,
daß ich ohne Stock aus einem Wagen kommen kann — ich habe
jetzt wenigstens eine kräftige Stahlarznei, die auch augenscheinlich
Etwas hilft — mir mehr ßuhe schaft, das Zittern der unteren
Gliedmaßen mildert und mich ordentlich schlafen läßt. . .
Der Arzt hatte gewollt, ich sollte diesen Sommer nicht lesen.
Ich habe es aber doch durchgesetzt. Es war mir zu häßlich, daß
ich nachdem ich 70[!] Jahre gelesen, nun, bei gesunden Sinnen
mein Amt im Stiche lassen sollte . .
Die Zeit ist allerdings sehr confus — daß der jetzige Pabst
so große uimöthige ßumor macht am Gängelband der Jesuiten ist
wohl begreiflich, da er vom Bischöfe Malachias die Prophezeihung
bekommen hat : cruce de cruce ! ein Kreutz vom Kreutze ! — da-
gegen hat der nächste: lumen de coelo. Der jetzige also ein
Kreutz vom Kreutze, der nächste : ein Licht vom Himmel ! Da
finde ich auch noch Etwas, was Sie noch lernen müssen — nämlich
warten ! und Geduld ! — Warten Sie nur, das Licht vom Himmel
wird auch noch kommen — die katholische Kirche hat ja die
Wahrsagung, daß nur der letzte Pabst wider Petri Priesterjahre
erreichen werde : Petrus war nach der katholischen Tradition über
25 Jahre Haupt der Kirche, und Leo IX[!] ist in den letzten
Wochen auch über das 25. Jahr hinausgekommen — es scheint also,
er wird der letzte sein. — Daß das gerade mit dem neuen Kaier-
thum zusammen trifft — der erste protestantische Kaiser — wenn
nun der nächste Pabst auch der erste protestantische Pabst würde?
was dann? Wo wäre dann die Infallibilität? . .
ßeimstudien L
Von
Edward Schröder.
Vorgelegt in der Sitzung vom 18. Oktober 1918.
Das Adverbium zu hoch.
Die vorstehnde Studie und in engem Zusammenhang mit ihr
auch die zweite sind erwachsen aus Erwägungen über die Text-
gestalt von ein paar Versen des 'Helmbrecht' (210. 605 f. 1391 f.),
auf die ich S. 379. 381 zu sprechen komme, und ihre Entstehung liegt
schon eine Reihe von Jahren zurück. Für die Form aber in der
ich sie jetzt zum Druck bringe, ist das Material nicht nur neu
überprüft , sondern bedeutend vermehrt worden : alles in allem
hab ich nach meiner Zählung über 700,000 Verse altdeutscher
Dichter auf die in Frage kommenden Reime exzerpiert^), annä-
hernd ebenso viele flüchtig durchgesehen. Es gilt das namentlich
für die zweite Studie, aber ich erwähn es schon hier, um Behaup-
tungen größern Nachdruck zu geben, die ich hier aufstellen muß,
ohne den Raum für das Beweismaterial zur Verfügung zu haben.
Unsere mittelhochdeutschen Wörterbücher (Mhd. Wb. I 696 f.,
Lexer 1 1323) notieren zu hoch das Adverbium mit den Formen
hohe und hö^ Lexer schaltet zwar dazwischen noch hoch ein: aber
indem er nur zwei späte Belege anführt, verrät er, daß er dies
hoch für eine apokopierte Form hält ^}. Die Grrammatiken schweigen
1) wobei ich mich freilich überall wo Reimlexika existieren (für etwas mehr
als 100,000 Verse), au^ diese rerlassen habe.
2) Die verhängnisvolle Nachwirkung der Wörterbücher zeigt z. B, das Glossar
von Singer zu seiner- Ausgabe des Heinrich von Neustadt, wo geradezu angesetzt
«wird: 'ho Adv.' — 'hoch Adj.'
Reimstudien I. 379
demgemäß von der Form und betrachten das Adv. ho als Kontrak-
tion aus höhe > höe : so Wilmanns § 90 Anm. 1, der die Erklärung
von Kögel aus einer Form mit gw (Idg. Forsch. 3, 295) als ge-
künstelt ablehnt, und Paul, Mhd. Gr. §72, der in der Anm. hö = hoch
('wahrscheinlich') auf solche Formen zurückführt, 'wo h im Inlaut
zwischen Vokalen stehn würde'. Nur Michels, Mhd. Elementar-
buch §118 wirft die Frage auf: 'Oder ist in einem Teil der mhd.
Dialekte ch im Auslaut nach langem Vokal lautgesetzlich geschwun-
den?' — von dem Adverbium speziell sagt er nichts, er würde aber
jedenfalls nichts dagegen haben, auch das Adv. hö aus einer Form
hoch abzuleiten , wenn sich eine solche nachweisen und morpholo-
logisch begründen läßt.
Dem im Ahd. unbedingt vorherrschenden hoho (Graff I 777),
der alten Ablativform des Adverbs, entspricht im Mhd. natürlich
zunächst höhe. Es fehlt aber dafür fast ganz an Reimbelegen:
denn der vlöh springt zwar 'hoch', kommt aber in der Poesie wenig
vor (und gar im Dativ !) ; bleibt also nur der (NGAkk.) Plural des
Mask. loh und der Dat. Sg. des gleichen Wortes (als Mask. u.
Ntr.): tatsächlich beschränken sich die Reimzeugnisse auf höhe:
(in dem) lohe Neidh. 29, 35 : 37, wo Überlieferung und Strophenform
die Form sichern, und ähnlich Helmbr. 605. 1391, wo die Ausgaben
seit Haupt der Hs. A folgen — wie sich unten zeigen wird, mit
Unrecht.
In der Zäsur und im Versinnern ist die zweisilbige Form höhe
überreich belegt. In der Zäsur z. B. Nib. B 207, 2. 462, 2. 826, 1
u. s. w. ; Kudr. 59, 2. 253, 4. 366, 2. 863, 3 u. s. w. ; im Versinnern
einerseits da0 ez im höhe stät Nib. 330, 3, ir dinc in beiden höhe stät
Nib. 546, 4 ; vil höhe man die ivac Kudr. 605, 2, ich ivil dich höhe
mieten Kudr. 1296, 3; so höhe stet des Mneges dinc Bit. 4994, dö hete
höhe üf erwegen Bit. 10843 u. s. w. — anderseits si sint vil hohe ge-
muot u. ähnl. Nib. 390, 4. 955, 4. 1171, 4. 1669, 4. Für Wolfram
sind sichere Belege z. B. höhe oh den werden Parz. 254, 25 , swie un-
höhe iuch daz wigt Parz. 287, 24. Bei Walther steht höhe als takt-
füllend sechsmal, das nähere s. u. S. 390 f.
Nun zeigt aber die Überlieferung mhd. Dichter nicht selten
im Vers die Adverbialform A o c Ä , aber hier pflegen unsere Heraus-
geber einzugreifen und sie durch höhe zu ersetzen, so oft dies ir-
gend möglich erscheint. Ein solcher Fall ist Helmbr. 210, wo
beide Hss. bieten {daz ich hi dem selben hnaben) den wiben hei u ti-
li och erhaben, und weiter a. Heinr. 386 dajs hoch offen stuont sin
tor, wo es vor Gierach gleichfalls alle Herausgeber für nötig ge-
halten haben, gegen die (hier einzige) Hs. A zu schreiben höh.
380 Edward Schröder,
Diese Adverbialform hoch ist jedoch auch in guten alten Hss.
überliefert, so in der Milst. Exodus 162,9 sin haut er hoch 6f
hup, 11 f. sa besinnt er sich 6f tele hoch als ein ynore. Reichlich
so alt ißt aber auch mein frühster Reimbeleg, Rol. 109, 12 {die
füren gegen dem himele) in die lüfte vil hoch (: enzöch). Aus der
Blütezeit führ ich hier an: K. Fleck 6824 {als ez sich darzuo
ge^öch) niht ze nidere noch ze hoch, Wolfr. Parz. 740,23 der heiden
warf daz swert üf hoch {: gezöch), Will. 88, 27 Jcastänen homne ein
schache da stuont mit winrehen hoch {: enpfloch)- aus den Epigonen:
Reinmar v. Zweter 159, 5 ; Ulrich v. Licht. Lied m 58, 30 ; Ulrich v. d.
Türlin 140, 17. 152,18; Ulrich v. Eschenbach Alex. 4855. 7375;
Heinr. v. Fr eib. Trist. 5208; Lohengr. 275,4. 326,1. 551,1; Boner
42,49. 49,1. Ich habe mich auf Autoren beschränkt, für die das
-ch im Reimwort feststeht, und Fälle fortgelassen wie Pass. I (Hahn)
30,4, wo man für hoch: zöch allenfalls auch ho: z6 erwägen könnte.
Allzu zahlreich sind die Belege natürlich auch hier nicht, da {ge)zöch
und {en)flöch fast die einzigen Reimwörter sind und diese sich
schlecht zu hoch gesellen.
Eigentlich hätte es solcher Reimbelege auch gar nicht bedurft,
um die Adverbialform hoch zu erkennen ; wir besitzen eine ganze
Reihe adjektivischer Zusammensetzungen oder Zusammenrückungen,
in denen hoch schlechterdings nichts anderes als das Adverbium sein
kann. Daß man das jemals verkannt hat, erscheint merkwürdig
und doch ist es so : in dem oben zitierten Glossar von Singer wird
höchgehorn ausdrücklich beim Adj. hoch eingestellt. Aber die
entsprechende Form bei guot lautet nicht *guotgeborn, sondern wol-
gehorn, wie es ebenso wolgemtwt und wolgezogen heißt ! So sind denn
all die Bildungen wie hoch gel oh et, höchgoneit, höchg emuot^
hoch genant^ hochheschorn u. s. w. als mit dem Adverbium zusammen-
gesetzt anzugehen und trotz ihrer äußern Zugehörigkeit zu höchvart
{höchvertic), höchgemüete, höchgerihte, höchgezit von diesen formell zu
scheiden. Besonders lehrreich ist in dieser Beziehung das Nibelungen-
lied. Zu den zahlreichen Stellen, in denen höhe gemüot (besonders für
die letzte Halbzeile) gesichert ist, treten ebenso zahlreiche mit
höchgemüot (s. Bartschs Wb. *) ; man vgl. z. B. die Halbverse
si sint vil höhe gemuot 390,4
und si sint vil höchgennwt 1721, 3.
Die im vorhergehnden aus dem Reim, der Wortbildung und der
Überlieferung gesicherte Adverbialform hoch ist nun auch mit der
1) natürlich weichen die Lesarten hier vielfach ab.
Reimstudien I. 381
Handschrift B an den beiden Stellen des Helmbrecht in den
Reim einzusetzen. 605 f. ist im genauen Anschluß an diese Hs.
zu lesen
wie du soldest fliegen hoch:
über velt und über loch,
velt und loch geben hier ein besseres Paar als walt und loch oder
gar walt und lohe, wie A überlieferte, so daß von den Herausgebern
erst in weide und lohe geändert werden mußte. — Ebenso schließ
ich mich, und hier hab ich einen Vorgänger an Kraus, Zs. f. d. Alt.
47,308, an B an 13911:
derselbe ritter sie gevienCy
1390 dö sie den äbent späte gienc
suochen Jcelber in den loch:
des stät QU ch mir min muot hoch.
Die Mutter war in das Wäldchen gegangen, die dort weidenden
Kälber heimzuholen ^) : der Akkusativ ist es der hier verlangt wird,
nicht der Dativ; und das ouch mir ist kaum zu entbehren, denn
die Schwester sagt zu dem Bruder 'du hast nichts vor mir voraus'.
Was aber zuletzt bei Panzer steht: suochen helber in dem lohe: des
stät min muot so höhe ist überhaupt ein abscheuliches E-eimpaar
(kl. 4: 3 Hebungen), wie es so wenig bei Werner dem Gärtner
wie sonst in dieser Zeit vorkommt.
Wie ist nun dies Adverbium hoch aufzufassen? Keinesfalls
als Apokope von höhe — also muß es eine ganz andere Form sein.
Es bieten sich zwei Möglichkeiten : 'hoch' ist unter allen Umständen
ein relativer Begriff, somit würde der Komparativ des Adver-
biums leicht an die Stelle des Positivs treten können : es könnte
dann hoch sich zu hoeher verhalten wie ba^ zu be^jser, d. h. auf ein
german. *hauhi;^ zurückgeführt werden, das in lautgesetzlicher Ent-
wickelung zu ahd. hoch wurde. Gregen diese Auffassung wird man
vielleicht einwenden, daß die Adverbialform hoch vorläufig im Ahd.
nicht belegt sei; mir scheint dieser Einwand nicht stichhaltig,
aber ich glaube selbst, daß eine andere Erklärung näher liegt.
Wir wissen daß neben dem Ablativ, der in höhe wie in lat.
merito vorliegt, bei vielen Adjektiven auch der Akkusativ des Neu-
trums als Adverbium gebraucht wird, bei uns wie im Lateinischen
{multum, satis, facile). Wilmanns II 602 f. hat dafür eine sehr lehr-
reiche Sammlung geboten; er zeigt auch, daß in einzelnen Fällen
von demselben Adjektiv beide Bildungsweisen, die akkusativische
1) vgl. den niederdeutschen Ortsnamen Kalverlah (bei Gifhorn) und die Fa-
miliennamen Kdlberldh und Kälberloh im Berliner Adreßbuch.
382 Edward Schröder,
und die ablativische vorkommen (so garo — garaivo, näh — näho), hat
aber kaum erkannt, daß diese Erscheinung eine größere Ausdeh-
nung besitzt. So ist ihm nicht nur das Paar höch-höhe entgangen^
sondern noch eine Reihe weiterer Fälle, wo wir eben gewohnt waren
mit Apokope zu rechnen. Ich greife davon nur einige heraus.
Da ist zunächst die weit verbreitete Adverbialform auf -lieh {'Uch)y
besonders auch in der Zusammenrückung beliebt : jämerlich gevar^
Jcumberlich gemuot. Weiterhin lanc neben lange. Sodann rechne
ich hierher unsere neuhochdeutschen 'schon' und 'fast', die adver-
bial schon um 1300 in ostmd. Quellen bezeugt sind denen Apokope
keineswegs geläufig ist (s. Weinhold § 318): es sind das die nach
dem Sieversschen Synkopierungsgesetz regulär entwickelten Formen
der adjektiv. i- Stämme ; neben vast und schön ist auch hart sa
anzusetzen, vgl. Pass. ed. Hahn 65, 3 die suche traf in also hart,
— Auf oberdeutschem Boden haben wir dieselbe Erscheinung, wenn
neben schiere auch schier als Adverbium schon früh erscheint, und
zwar durch den Reim belegt in alten Quellen die noch keine Apo- .
kope aufweisen, so z. ß. in Albers Tundalus 659. 995 schier: {ein)
tier. In allen diesen Fällen liegt nicht ein veiskürztes Ablativad-
verb vor, sondern vielmehr die Akkusativform des Neutrums, die
daneben die gleiche Verwendung hatte und offenbar in historischer
Zeit mehr und mehr Raum gewann.
Eine reichere Bezeugung im Reim als hoch findet naturgemäß^
die Form ho, für die sich bequemere ßindungsmöglichkeiten bieten.
Es sei mir gestattet, meine Auffassung des Gutturalschwunds hier
voranzustellen, eh ich das Alter und die Ausbreitung der Erschei-
nung in den mhd. Quellen beleuchte. Die vorwiegende Meinung,,
wie sie Wilmanns und Paul vertreten, geht dahin, daß dies h zu-
nächst lautgesetzlich im Inlaut geschwunden sei und die Ao-Form
des Adverbs also durch Kontraktion, die des Adjektivs durch
Formübertragung ihre Erklärung finde. Nachdem wir ein Adver-
bium hoch festgelegt haben, muß die Möglichkeit, daß ho direkt
aus hoch entstanden sei, zunächst für die Adverbialform ins Auge
gefaßt werden; wir können davon freilich das unflektierte (prädi-
kative) Adjektiv nicht trennen.
Man sieht eigentlich nicht ein, warum für das auslautende -h
so hartnäckig die Analogie verantwortlich gemacht und der Um-
weg über die Formen mit Schwund im Inlaut gesucht wird. Bei
zöQi) z. B., wo dieser Abfall weit verbreitet ist, kann er nicht aus
dem Prät. stammen und müßte also aus dem Präs. zien abgeleitet
werden, dem die Präteri talformen ziigen, mge, gezogen doch wahr-
Reimstudien I. 3g^
lieh ein Gegengewicht boten ; eher könnte man schon aus der Form
mit enkliniertem Pronomen wie söher den Ausfall herleiten. Warum
soll aber nicht ebensogut der Abfall des -h {-cli) nach langem Vokal
möglich gewesen sein, wie der Abfall des -r, der sich in dar, war,
sär vor unsem Augen vollzieht ? Haben wir doch in den heutigen
Dialekten auf weitausgedehntem Gebiete den Schwund des -ch nicht
nur in hoch, sondern auch in auch und gleich, wo das ch sogar einem
germanischen h entspricht ! auch hat seinen auslautenden Guttural,
wie der Sprachatlas erweist, nahezu auf dem gesamten hochdeut-
schen Sprachgebiet verloren, glei statt gleich herrscht in zwei aus-
gedehnten Territorien : Schwaben und Obersachsen.
Über den Schwund des -ch beim prädikativen Adjektiv hoch
gibt der Bericht Wredes im Anz. f. d. Alt. 22, 101 genaue Auskunft^
das betr. Blatt des Sprachatlas, das ich in Marburg selbst einge-
sehen habe, weist zwei getrennte Hauptgebiete auf, Mittelfranken
und Schwaben : dort hü, hier hö mit Neigung zur Diphthongierung.
Die schwäbische Grenze muß dann in die Nordostschweiz fortge-
führt werden (wofür ich gegenwärtig nur auf das Schweizer Idio-
tikon II 972 verweisen kann), und anderseits erstreckt sich die
Erscheinung bald in dichten Ortsgruppen, bald mehr vereinzelt tief
nach Bayern hinein. Was hier für das prädikative Adjektiv fest-
gestellt ist, gilt natürlich ebenso für das Adverbium hoch.
Ein paar Belege für das Adv. h ö finden wir schon bei Notker :
Boeth. I 2 (Piper I 9, 26) So si daz houbet hö üferlüreta, Ps. 130, 1
Noh miniu öugen nesint hö irhduen (vgl. 9, 15 Du mich hoho irheiiesf,
72, 9 Uf hoho huöben sie iro münt). Ich bin nicht sicher , ob für
diese Fälle bereits die Erklärung durch Abfall des -h zutrifi't: ha
steht hier beidemal im Satzinnern vor Vokalanlaut, und so war
zunächst Elision (Apokope) gegeben (wie bei Otfrid an Hartm. 63
Höh ^) er oba mdnnon suebeta) und weiterhin innerer Ausfall des
h möglich, den ich darum keineswegs aus der Berechnung ganz
ausschalten will.
Auf Reimbelege, bei denen ich gleichmäßig das Adv. und das
unflektierte Adj. beachte, sie aber in meiner Sammlung geschieden
habe, hab ich zunächst die gesamte Dichtung von ca. 1050 bis 1200
durchgelesen und glaube versichern zu können, daß bis um 1150
nicht ein einziges Beispiel vorkommt. Das kann freilich auch mit
dem merkwürdigen Zurückbleiben der d -Heime zusammenhängen,
das ich in Studie II erörtere. Nicht nur die großen bayrisch-
1) Da diesem einen höh siebenmaliges hoho bei Otfrid gegenübersteht, hab
ich es bestimmt nicht als Beleg für die Adverbialform hoch angesehen.
"384: Edward Schröder,
osterreichisclien Werke von der Wiener Grenesis bis zum Rolands-
lied und der Kaiserchronik ermangeln der Belege, auch was wir
von rheinischer Litteratur aus dieser Zeit besitzen: beim E-other
konstatier ich freilich die merkwürdige Tatsache, daß er übh.
keinen Reim auf -o bietet. Die Dichter bajuvarischen Stammes
meiden den Reim zunächst auch weiterhin, z. Tl. mit großer Strenge,
wie wir unten sehen werden : im 12. Jh. fehlt er auch bei Heinrich
V. Melk, in der Litanei, in Anegenge, in Werners Marienleben, in
Albers Tundalus, im obd. Servatius; in Alemannien fehlt er dem
Linzer Entechrist, in Mitteldeutschland dem Credo Hartmanns, was
bei 3800 Versen immerhin aufiällig ist, und der alten (erschließbaren)
Fassung des Brandanus; s. u. S. 408.
Die frühsten Belege entfallen auf mitteldeutsche Dichter.
Wild. Mann, Christi. Lehre 136 vrö: ho Adv.; Werner v. Nieder-
rhein, Vier Scheiben 132 also: ho Adv.; Werner v. Elmen-
dorf 713 ho Adv.: Cicero. Während die Form im Vorauer Text
fehlt, stehn im Straßburger Alexander drei Belege auf engem
Räume: Adj. ho: 6101. 6466. 6854. Bei allen vier Dichtern ist
der Fortfall der auslautenden -h auch für andere Wörter gesichert,
der Reim also sicher bodenständig. Dasselbe trifft für das älteste
alemannische Zeugnis zu: aus dem alten Reinhart hat die deutsch-
böhmische Umarbeitung den Reim ho: fro 797 f. ebenso beseitigt
wie an 5 Stellen (795 f. 969 f. 1689 f. 1699 f. 1729 f.) die Bindung
gä(ch): sd resp. da. Es sei schon hier betont, daß der elsässische
Landsmann Heinrichs des Gleißners Gottfried v. Straßburg keine
Spur derartiger Reime aufweist.
In der Sprache des Autors begründet ist das Reimwort ho
ferner im Lanzelet des Ulrich v. Zatzichoven: Belege für das
Adverb 2912. 3729. 4793. 5931. 6429; Adj. 765. 6573.
Auch bei Hartmann von Aue entstammt das Reim wort
ho sicherlich der Heim^tsmundart. Ich finde es im Erec als
Adverb 1432. 7341. 7661. 10040, als Adj. 9015, darüber hinaus
aber nur noch je einen Beleg im Gregorius 734 (Adj.) und im
Iwein 7081 (Adv.), was dafür spricht daß H. die Form später
gemieden hat ; weniger wahrscheinlich ist, daß er sie einem andern
Sprachgebiet litter arisch entlehnte und später aufgab.
Ebenso Sprech ich die Form der Mundart des Schwaben Frei-
dank zu: Adv. 43,2 (unhö). 103,27. 118,24. 123,22; Adj. 9, 10.
Sie gehört sicher zu eigen dem Hadlaub, für den ich (in
2220 Versen) 5 Fälle des Adv. ho notiere: 6,23. 20, 10. 24,9. 32,3.
39,3, undnoch später dem Konrad V. Ammenhausen: Adj. ho:
3917. 8821. 18140 — der Dichter reimt auch dö: empflö 9558,
Reimstadien I. 335
rintsclmo: mo 11751. 19315. Ulrich Boner, für den ich oben
zwei Fälle von hoch (Adv.) im Reim verzeichnete (dazu Adj. 16, 11),
der aber den vlö immer ohne -h reimt (48, 1. 35. 130. 137), hat auch
zweimal hö (Adv.) : 49, 44. 82, 14. Welche Form seiner Mundart
entstammt, müssen die Schweizer feststellen.
Im rechten Gregensatz zu Gottfried steht 125 Jahre später
der Eappoltsteiner, oder wie man wohl besser sagen sollte, Straß-
burgerParzival, für den ich in 3000 Versen 5 Beispiele des Ad-
jektivs hö im Reime verzeichne : 92, 25. 95, 17. 95, 37. 102, 7. 111, 24 ;
dabei schreibt Henselin im Versinnern 79, 2 die worent tief und
hoch erhaben.
Bei den übrigen Alemannen fehlt die Form entweder ganz,
wie bei den Elsässern Grottfried von Straßburg und Egenolf
von Staufenberg und ihren nördlichen Nachbarn, dem Dichter des
Moriz von Craon und dem von Tristan als Mönch, ferner in der
G-uten Frau, in Ulrichs von Türheim Tristan, bei Heinrich von Be-
ringen, bei Johann von Würzburg und im Friedrich von
Schwaben — oder sie tritt nur ganz vereinzelt auf, und dann ist
es nicht immer leicht zu entscheiden, ob sie als Dialektform unter-
drückt wurde, oder aber als litterarische Reminiszenz eingeschlüpft ist.
Fest steht, daß sie dem Churrätier Rudolf von Ems fremd
war: im Guten Gerhard hab ich kein Beispiel gefunden, und für
die ganze Weltchronik weist Wegeners Reimregister nur den einen
Beleg 32189 auf. Konrad v. Würzburg, der das Adj. immer
auf flöch, zoch reimt, hat im Engelhard, den ich allein ausgezogen
habe, einmal Adv. ho {:do) 2594. Konrad Fleck, der hoch als Adj.
4174. 4229, als Adv. 6824 im Reim bietet, braucht dem gegenüber
einmal das Adv. hö (:fro) 5304. Ebenso findet sich ein Beleg bei
Konrad von Stoffeln (1746). Von den Lyrikern verdient Reinmar
d. A. Beachtung: zweimal Adv. hö: 174, 15. 185, 18; sodann haben
Gottfried v. Neifen (4, 1) und Ulrich von Winterstetten (Leich
IV 30) je einmal adverbiales hö im Reime. Im Reinfried von Braun-
schweig hab ich in 9000 Versen nur frö: hö (Adj.) 8794 gefunden,
bei Hugo V. Langenstein in ebenso viel nur (Adj.) hö: Patdö 96,58.
An die Grenze des bairisch-schwäbischen Gebiets gehört Konrad
von Heimesfurt: ohne Beleg; Südfranken und Österreich teilen
sich in den Stricker, dessen Daniel gleichfalls kein Beispiel
aufweist. Auch den Barlaam des Otto II von Freising schließ
ich hier an, der in mehr als 16000 Versen nur das eine Adv. ho
{:do) 12487' ergibt.
Wir wenden uns wieder nach Mitteldeutschland und be-
ginnen mit dem mittelfränkischen Gebiet, in welchem heute hü
Kgl. Ges. d. Wiss. Nachrichten. Phil.-hist. Klasse. 1918. Heft 3. 25
386 Edward Schröder,
herrscht. Das starke Hervortreten des Reimworts M im Herzog
Erns t B (808. 2125. 2835. 2935. 3848) geht gewiß auf das mfrk. oder
rhfrk. Original zurück, dessen Fragmente zu wenig umfangreich sind,
um es zu bestätigen. Dem Heimatsdialekt entspricht deutlich das
Marienlob aus dem Ahrtal (Zs. f. d. alt. 10) : hier ist nicht nur das
Adv. 46, 38f., sondern auch das Adj. als ho: bezeugt, und gerade
dies recht reichlich: 3, 9. 9, 9. 13, 16. 70, 28. 71, 38. 80, 20. 91, 35.
125, 1. 131,35 — im ganzen 10 mal auf 5140 Verse. Ebenso steht
die Sache inMorant undGralie (Karlmeinet), wo auch das hier
häufige zöQi) zu den Reimen auf -6 tritt ; ho : als Adv. 260, 6.
274,25 und bes. als Adj. 223,26. 247,60. 272,24. 278,4. 285,55.
291,57. Für Hermann v. Luxemburg notier ich Adj. unho
1609, Adv. ho 807. 5823; hier reimen vloich: zoich ausschließlich
untereinander. — Auffällig ist der völlige Ausfall der Reimform
bei Gottfried Hagen (6292 Verse), wo Dornfeld § 102 den
Schwund des -h immerhin für nä (5x), geve (2x), vlö (1 x) notiert.
Für sich mag Heinrich v. Veldeke behandelt werden.
Die 21 Äo-Reime der Eneide zählt v. Kraus § 63 auf, auf das Ad-
verb fällt nur ein gutes Drittel: 594. 2147. 4756. 6833. 10834.
11926. 12466. 13263. Im Servatius hab ich im ganzen 9 Fälle
gezählt ; in den Liedern einen (63, 6).
Von den rheinfränkischen und hessischen Dichtern
weist der Pilatus (in nur 445 Versen) zwei Beispiele auf: Adv. 291,
Adj. 41, daneben das Adjektiv hoch: zöch 183. Die Athis-Frag-
mente dagegen (ca. 1590 Verse) bleiben ohne Beleg, den der Reim
tröste: hoste F 99 allenfalls erwarten ließe. In Ottes Eraclius ein
Fall: Adj. ho: strö 2199. Für Herbort von Fritzlar stellt
Brachmann § 92 5 Belege fest, die durch zahlreiche nä : da u. s. w.
gestützt werden. Sparsam damit ist die Elisabeth, wo in
10534 Versen 3x das Adjektiv ho: begegnet (1307. 3783. 3852),
anderseits hoch: Äntioch die Erhaltung des Gutturals sichert; in
der Erlösung (6593 VV.) dagegen zähl ich das Adverb 5 x (307.
1772. 1966. 3100. 4751), das Adj. 2x (4031. 6179). Die gleich-
falls rheinfränkische Marien Himmelfahrt Zs. f. d. Alt. 5 (1844 VV.)
ergibt wieder nur ein Beispiel für das Adverb sungen ho : deö 1454.
In Thüringen haben wir zunächst Ebernand von Er-
furt (4752 VV.), bei dem hantschuoch: enruoch 3759, ^och: vlöch unter
sich oder gar auf den 'KigennamenlGundelöch 4070 reimen, dagegen
nä ^prope' {:dd) Sx und hößx: Adj. 75. 1467. 1799; Adv. ,143L
3530. 4126. Noch zahlreicher sind die Fälle bei Heinrich v.
Morungen (ca. 900VV.): 122,12. 132,30. 133,25. 143,12, durch-
weg Adverb, und fünfzig Jahre später bei Heinrich v. KröU-
Reimstudien I. 387
Witz (4889 VV.): Adj. 3315. 4713. 4725, Adv. 824. 3719. 4340.
4415.
Weiter nördlich gehört das Reimwort ho zur Litteratursprache
Eilards v. Oberg (Gierach § 53, 2), Bertholds v. Holle, der
im Demantin (11760 YV.) ho: als Adj. Ix (6938), als .Adv. 2x
(7572. 7957) verwendet und Bruns ron Schönebeck, bei dem
ich es in den ersten 3000 Versen 5 x gefunden habe. Auch in der
ßraunschweig. Reimchronik taucht es gelegentlich auf (2446 f.) und
noch viel später bei Eberhard von Zersen (231. 935).
Von D eut schordensdichtern hab ich 6000 Verse des
Passionais (Hahn 1—33,63; Köpke 53 — 84,78) ohne Ergebnis
gelesen, in Heinrichs v. Hesler Evangelium Nicodemi (5392 V V.)
nur einmal das Adv. ho : gefunden 3779.
Bei den Ostfranken, die kein nä im Reime kennen, ist als
bodenständig auch kein hö zu erwarten: in der Tat sind die ver-
einzelten Beispiele bei Wirnt (Adv. 87,27. 150,22) als Litte-
raturreime anzusehen, denen Belege für das viel schwerer zu rei-
mende hoch gegenüberstehen (Adj. 175, 29. 245, 7). Im Renner des
Hugo vonTrimberg V. 1 — 6000 hab ich nur das eine Adv. hö
1208 gefunden.
Für Ulrich von dem Türlin, Ulrich von Es chenbach
und Heinrich von Freiberg hab ich oben S. 380 Reimbelege zu
dem Adv. hoch gegeben : wenn sich bei allen dreien daneben die
Doppelform hö : findet, ist dies ein Zeugnis für die ähnliche Sprach-
mischung dieser deutschböhmischen Dichter : U. v. d. Türlin
140, 22 (Adj.), 154, 31 (Adj.) ; U. v. Eschenbach Alex. 5622. 6356.
6899 (immer Adv.); H. v. Freiberg Trist. 2074 (Adv.).
Auch der Schlesier Johann v. Frankenstein hat beides: Adv.
hoch: 9214, Adv. hö 3466. In Ludwigs Kreuzfahrt aber ist zwar
Adj. hoch: 1418 und hö: 275, aber als Adv. nur hö zu finden 734.
2239.
Die Bayern und Österreicher , zu denen wir nun kommen,
lassen von vornherein keine Verwendung von hö im Reim erwarten.
In der Tat fehlt die Form vollständig bei Wolfram von Eschen-
bach, im Nibelungenlied, in der Klage, in der Kudrun,
imBiterolf, weiter bei Konrad von Fußesbrunnen, Rein-
bot v. Dürne, in der Warnung, bei dem Fleier (in 9000
von mir ausgezogenen Versen), bei Herrant von Wildon, Werner
dem Gärtner, Konrad von Haslau, Rüdiger von Hunkhofen, im
Lohengrin und bei dem sog. Seifried Helbeling. Wir dürfen
also da wo wir sie trotzdem antreffen, wieder auf unbewußte Re-
388 Edward Schröder,
miniszenz oder bewußte litterarische Entlelinung schließen. Das
erstere gilt ohne weiteres für die Fälle vereinzelten Vorkommens,
z.B. Neidhart 63,5 (Adv.), Wigamur 1213. 5727 (Adj.), Enikel
(Wehr. 4936), Ottokar 13456. 68024, Gundacker (4630), Tho-
masin, der einmal ivundern ho 8249 und ein anderes Mal sogar
das Abstractum in der Form (weder sin tiefe noch sin) ho 8990
braucht. Nur wenig zahlreicher sind die Belege bei Heinrich
V. d. Türlin, der in V. 1—10000 vier Fälle bietet (1424. 3750.
4164. 4568), und bei Heinrich von Neustadt, wo ich zwar in
V. 1 — 6000 des Apollonius nur ein Beispiel für das Adv. hö no-
tierte (5330), nachträglich aber in Singers Glossar unter '7iö Adv.' noch
10 Stellen aus andern Partieen der Werke finde, von denen 5 freilich
als adjektivisch zu fassen sind. Der Dichter von Mai und Bea-
f lor braucht das Adv. ho: nur zweimal im Eingang seines Werkes :
13, 10. 18, 36.
Zahlreicher (im Verhältnis sind die Belege bei Liutwin
(3942 VV.), den Zwierzina Zs. f. d. Alt. 44, 252 (wie Steinmeyer Anz.
f. d. Alt. 8, 230) nach Österreich setzt: Adv. 1857. 3835, Adj. 3073.
3822.
Es bleiben nun noch zwei österreichische Dichter zu besprechen,
Yon denen der eine, Ulrich von Lichtenstein eine merkwürdige Wuche-
rung des Reimbrauchs aufweist, der andere, Walther von der Vogel-
weide uns durch die Frage nach der Herkunft der Erscheinung
besonders interessiert.
Daß Ulrich von Lichtenstein 'das Adv. hö als gefüges
Reimwort sehr häufig anwende' , bemerkt Beckstein gleich zu 1, 8
des Frauendienstes. In der Tat erstreckt sich diese massenhafte
Verwendung über alle Teile des Frauendienstes und obendrein
über das Frauenbuch. Ulrich kennt und braucht auch die beiden
andern Formen: höhe freilich nur innerhalb des Verses, z. B. Man
loht si höhe: daz ivas reht 5, 5, Min miiot von iviben höhe stät 424, 7
= 429,9, oder gar min muot der stuont mir höhe hö 60,16; hoch
sowohl im Versinnern : si ist ze hoch gar uns geborn 5, 27 (wo Bech-
stein fälschlich höhe einführt), wie gelegentlich einmal im Reime:
Höher muot du twingest tnir den Up ze hoch: flöch 58, 30 (Lied iii).
Die eigentliche Reimform für diesen echten Dichter des hohen Mutes
ist indessen hö: es findet sich im erzählenden Text des Frauen-
dienstes (14800 VV.) : 70 x, in den kleinen Zwischenstücken (95 VV.):
0 X, in den drei Büchlein (1155 VV.) : 3 X, in den Liedern (2339 VV.) :
14 X, schließlich im Frauenbuche (2136 VV.): 10 x, alles in allem
in 20525 Versen 97 x, d. h. nahezu ein Prozent aller Reimpaare
Reimstudien I. 389
(die Lieder mögen einmal als paarig gereimt gelten) enthält das
Reimwort ho. Das klingt an sich schon erstaunlich, wird es aber
noch mehr, wenn man erwägt, daß di<5 Form der Heimatsprache
Ulrichs unbedingt fremd war. Sein Freund Herrant von Wildon
hat in 1702 Versen kein Beispiel, sein jüngerer Landsmann Ottokar
läßt sich die litterarische Form nur ganz vereinzelt entschlüpfen,
auch in den 5320 Versen des Steiermärkers Gundacker von Juden-
burg begegnet sie nur ein einziges Mal. Und bei Ulrich kommt
ein Fall auf 100 Reimpaare!
Es handelt sich so gut wie ausschließlich um das Adverbium,
und das Eeimwort ist in der Mehrzahl der Fälle fro: in den
Liedern frö 9 x ^), unfrö 1 x ^), so 4 X ^). Damit haben wir deut-
liche Hinweise auf die litterarische Quelle des Reimes , denn fro
ist (wie die IL Studie zeigen wird) ein Reimwort, das erst mit
der Lyrik hochkommt, und ebenso entstammen dem Minnesang die
sämtlichen Wendungen, in denen das Adverb M bei Ulrich er-
scheint. Für die Lieder ist das selbstverständlich, ich will daher
zum Zeugnis die 10 Belege des Frauenbuchs vorführen, in dem sich
der Dichter gewiß am meisten von der lyrischen Ausdrucksweise
entfernt. Hier reimen
auf also : des stet mtn muot von schulden ho 595, 4 ;
auf fro : und unser gmüete tragen ho ? 598, 32
und ir fjemüete tragen ho 625, 14. 655, 4
und diu ir gemüete ho (. . . treit) 626, 18
(ir gemüete) von ivibes güete stiget hö 637, 11 ; ferner
der muot uns stet vil ofte unhö 596, 14
e^ hüebe uns all von rehte unhö 516,4;
auf ?m/Vo; und stiget ir gemüete hö 623,11
und uns der muot niht stiget //o 651, 32.
Nun ist die Phraseologie dieser 7iö-Verse allerdings hier in Ulrichs
spätestem Werke noch mehr zusammengeschrumpft, aber sehr reich
ist sie nie gewesen: als Subjekt und Objekt wechseln ich (resp. mich),
mtn muot, gemüete, sin, herze, das Verbum ist stdn, Icomen, stigen,
heben, tragen. Die Variationen dieser Floskel sind es nun aber,
denen wir auch vor Ulrich überall im Minnesang verstreut be-
gegnen, wo das hö im Reime sich einstellt. Ich notiere
Reinmar d. A. 177, 15 sin herze stdt, ob irz gebietent, iemer hö (: frö)
185, 30 und inin gemüete tragen hö (; frö)
1) 97,24. 400,3. 410,25. 423,12. 457,7. 507,26. 536,12. 549,22. 556,21.
2) 556, 9.
3) 110, 12 {unU). 553, 27. 554, 16 (: also). 580, 26.
390 Edward Schröder
H. V. Morungen 182,30 so stuont ir daz herze Jiö (:fr6: do)
"Walther 41,15 tougenliche stdt min herze ho [:fr6)
4A^ 5f. und tragen gemüete ze mdze nider tinde ho
(:frö)
76, 13 mm herze sweht in sunnen ho (Yokalspiel)
117,2 min herze st an fröiden ho {idlsö: fro)
Neidhart 63, 5 des trüret manic herze des gemüete stuont
e ho {:frd: do)
Gr. V. Neifen 4, 1 min herze stüende ho (: fro)
U. V. Winterstetten
Lied IV 30 reht so stüende min gemüete ho (:frd: so).
Bei Reinmar, Neidhart, Neifen und Winterstetten sind die aufge-
führten die einzigen Verse mit dem Ausgang ho und überhaupt
mit Fortfall des -h: ein deutlicher Beweis, daß es sich hier um
eine beliebte, leichten Modifikationen unterliegende Wanderzeile
handelt. Einen weiteren Beleg dafür bietet auch Wirnt von Grrafen-
berg mit den beiden einzigen Versen mit Abwurf des -hj die er
seinem Dialekt entgegen zuläßt: 87, 17 sttgent diu herzen ho und
150, 21 deistvär, gestuont din herze ie ho ?
So deutlich nun auch die Verbreitung des Versausgangs ho
in Verbindung mit einer bestimmten lyrischen Floskel ist*), zu
einer Wucherung wie wir sie bei Ulrich von Lichtenstein antreffen,
war in dem Minnesang der vorausgehenden Zeit kein Anlaß ge-
boten: das ist des Steiermärkers eigenste Leistung, und es gibt
keine Vermutung darüber, von welcher Seite er überhaupt die
Anregung dafür erhielt. Nach unserer Überlieferung kämen nur
Reinmar mit den obigen beiden Beispielen, Morungen (dessen 3
übrige Beispiele ganz abliegen) und Walther in Betracht.
Walther von der Vogelweide, dem ich mich am Schlüsse
zuwende, hat außer den oben angeführten noch zwei Belege :
17,37 er ist guot nider unde ho {ifrö: stro)
85, 31 daz iuwer top da enzwischen stiget unde sweibef ho {: fro: also).
Ich fasse alle 6 Fälle adverbiell auf, auch 117, 2, wejin nicht
gar hier gegen die Überlieferung (CE) zu ändern ist 7mn herze ste
an fröiden ho.
Im Versinnern laßt sich bei Walther ausschließlich die zwei-
silbige Form nachweisen, denn wenn wir finden das Adverbium
taktfüllend :
17, 12 Sit ez in also höhe ste
43, 22 daz ir so höhe tiuret minen Up
1) Ein zweiter Träger der Verbreitung war die feste Formel nider und ho.
Reimstudien I. 391
47, 3 nu hin ich aber ze höhe siech
58, 16 als einen der vil höhe springet
101, 16 daz ich dich ie so höhe wac
111, 20 diti ir swarxen nac vil höhe blecken lät,
so ist natürlich auch die zweisilbige Form mit Elision unanfechtbar :
28, 13 sU geivis, tvenn ir uns körnet, ir werdet höhe enpfangen
47, 1 wirhe ich nidere wirbe ich höhe, ich bin verseret.
Der Dichter hat also die Form Jiö ausschließlich um des Reimes willen
verwendet: er hatte dafür einen Anhalt an seinen beiden Vor-
bildern Reinmar und Morungen — weiter braucht man nicht zu
suchen. In seiner eigenen Sprache bot sich ihm keine Unterlage:
W. hat bei häufigem ßeim auf d kein nä und gä, bei massenhaften
e-Reimen kein geve und verxe, und das einzige Mal wo er sich über
das ganz isolierte litterarische hö hinauswagt, geschieht es in dem
am meißnischen Hofe gedichteten und vorgetragenen Vokalspiel:
hier hat er beim ö außer hoQi) auch noch lö{h), beim ü rü(Ji) und
drüQi) verwendet: vor einem Publikum, vor dem er sich dies ge-
statten durfte, ja dessen Sprache mit den vielen Langvokalen im
Auslaut ihn wohl direkt zu dieser Spielerei ermuntert haben mag.
Ich bin mir durchaus darüber klar, daß ich nicht alle Fragen
gelöst habe, die uns bei diesem winzigen Ausschnitt aus dem
Reimgebrauch der mhd. Dichtung entgegentraten. Ich habe zwar
meist angedeutet und in den meisten Fällen, denk ich, dem Leser
darüber Klarheit gegeben, ob ein Autor mit dem Grebrauche der
Form hö seinem Heimatsdialekt folgte oder litterarischem Brauch
resp. einer Erinnerung seiner Lektüre nachgab. Aber nicht immer
war ich in der Lage, diese Frage zu entscheiden. Einmal hab ich
nicht die Zeit aufwenden mögen, mich über den heutigen Stand der
Mundarten genau zu unterrichten, und dann steh ich nicht dem ver-
gleichenden Studium der heutigen Dialekte und der alten Schrift-
sprache, wohl aber der augenblicklich geübten Methode und den
durch sie gewonnenen Schlüssen mit starker Skepsis gegenüber.
Unter allen Lokalisierungsversuchen der letzten dreißig Jahre hat
auch nicht einer entfernt ein so reinliches Resultat erzielt wie
Nörrenbergs köstliche Festlegung des niederrheinischen Marienlobs
im Ahrtal. In den thüringischen Bialekten von heute eine genaue
Widerspiegelung der mittelalterlichen Verhältnisse zu sehen, halte
ich z.B. für grund verkehrt : hier haben sich (wie weiter östlich)
Verschiebungen in der Bevölkerung vollzogen, die sprachlich ihre
392 Edward Schröder, Reimstudien I.
volle Wirkung erst ausgeübt haben viele Generationen nachdem
die Bewegung selbst zum Abschluß gekommen war. Man halte
sich nur einmal den Fall des Dialekts von Merseburg vor Augen:
dort sprach und schrieb man zur Zeit Thietmars eine anglofrie-
sische Mundart — und kaum 300 Jahre später ist mit dem Auftauchen
deutscher Urkunden auch die letzte Spur davon verschwunden.
Drei Zentren haben wir im Laufe unserer Wanderung durch
die Litteratur der deutschen Landschaften erkannt, wo das ho
bodenständig gewesen sein muß : Schwaben mit der Nordostschweiz,
Mittelfranken mit Teilen von E-heinfranken (aber ohne Südfranken)
und Thüringen mit Meißen. Aber in Schwaben, wo wir bisher
keinen der älteren Autoren genauer lokalisieren können, trafen
wir die merkwürdigste Verschiedenheit; im Elsaß, wo Grottfried
von Straßburg unserer Erwartung entsprechend kein Beispiel bot,
stand der Dichter des Eeinhart dazu in auffälligem Gegensatz. In
Köln ist Gottfried Hagen von einer Erscheinung ganz frei in über
6000 Versen, für die das Fragment des wahrscheinlich hessischen
Pilatus in knapp einem Zwölftel davon gleich zwei Beispiele bringt^).
Die Dichter die wir sonst als Hessen anzusehen gewohnt sind,
verhalten sich darin ganz verschieden, und nur die thüringische
Gruppe erscheint einheitlich — aber nicht in Übereinstimmung mit
der heutigen Mundart. Volle Klarheit gewannen wir für die
Eajuvaren und die meisten ostdeutschen Dichter: sie alle kennen
das liö nur als Entlehnung aus dem Reimgebrauch anderer Land-
schaften ; inwieweit hierfür aber Mittel- und Niederfranken, Schwaben
oder Thüringen in Betracht kommen, läßt sich nur in einzelnen
Fällen vermuten: so bei Walther v. d. Vogelweide, wo der Aufent-
halt in Thüringen und Meißen jedenfalls Voraussetzung ist. Aber
auch ihm konnte schon in Wien Reinmar ein Vorbild abgeben —
und woher dieser sein liö hat, wissen wir wieder nicht.
1) Einen Versuch, solche Fälle reimpsychologisch zu erklären, macht die
II. Studie.
Die Scholien zu Horaz Od. 1 14.
Von
B. ßeitzenstein.-
Vorgelegt in der Sitzung vom 15. November 1918.
Die Aufschriften des Gedichtes geben zwei, bzw. drei ver-
schiedene Deutungen; eine vierte fügt der sogenannte Acro-Com-
mentar hinzu. Sondern wir zunächst den Bestand.
1) FV überschreiben: Poraenetice tetracolos ad Brufum. Die
gleiche Deutung bietet bekanntlich Porphyrie und bewahrt sie
durch die ganze Erklärung des Gedichtes ; es ist nach ihm (zu v. 1)
Warnung vor der zweiten Schlacht. Polemik gegen eine
andere Deutung scheint er zu verraten zu 3: manifestae allegoriae,
per quas significat ex parte iam dehüitatum exercihim Bruti et vires
partium eins minutas esse und zu 17: ecce hie manifeste ostendit se
poeta partium Bruti fuisse e. q. s. Die Aufschriften der Klasse F
stehen in diesem ganzen Teil in nahem Verhältnis zu Porphyrie;
auch hier entspricht bei diesem : in hac ode ad M. Brutum loquitur.
2) AB (und wahrscheinlich auch zwei Blandinii) überschreiben :
Ad rem publicum tetracolos. Ebenso deutet bekanntlich Quin-
tilian VIII 6, 44 : navem pro re publica, fluctus et tempestates pro bellis
civilihus, portum pro pace atque concordia dicit. Zu der gleichen
Deutung gehören aus Acro (AFacp) die Scholien zu 2. 3: (fluctus}
bellum civile vocavit^ (portum) pacem ut Terentius: „in portu navigo^j
ferner zu 6. 9 : (sine funibus) aut sine administrationibus^)
intellegendum aut sine expensis et pecunia. (integra lintea) integer
1) So cp ; administratoribus Keller mit Ary. Vgl. zu 1 : metaphoram autem
sumpsit a navi ex cuius armamentis et milites, et divei'sas völuit administrationes
intellegi (vgl. das Folgende oben).
Kgl. Ges. d. Wiss. Nachrichten. Phil.-hist. Klasse, 1918. Heft 3. 26
394 ^' Reitzenstein,
cursus sine exercitu vel auxiliis. Jintea vero vela dixit ut „dare lintea
retro"j ferner zu 10 {qiws itenmi) siciit sxib Gaio Caesare oppressa
maus rogaveratj wahrscheinlich also auch : in Jioc deos vidt iratos in-
tellegi, quod denuo de hello civili cogitetur^ endlich zu 17 : id est ^) ; navis
sive res publica^ quae sollicitudinem ex suis maus induxerit, ne iterum
sicut süb Caesare trepidaret. Es ist eine einheitlich bis ins kleinste
durchgeführte Deutung ; leider darf die auffällige Übereinstimmung
mit Quintilian für die chronologische Festlegung kaum verwendet
werden. EsJ.st offenbar die Vulgaterklärung der Schule.
3) E», der auch sonst in diesen Überschriften einen einheit-
lichen und festen Stil hat und sich weit von F entfernt, über-
schreibt : De Bruto reparante ^) bellum civile in navi. Mit ihm
berührt sich eng CDa : In navem^) de Bruto reparante^) bellum ci-
vile I Ad rem publicam tetracolos ^). Die letzten vier Worte stammen
offenbar aus einer zweiten Vorlage, die mit AB übereinstimmte.
Zwei gesonderte Überlieferungen sind hier kontaminiert. Es wäre
an sich möglich, dem entsprechend die Aufschrift in R ebenfalls
schon aus Kontamination zu erklären: In navem (navim) könnte
ein ^ Schreiber als Aufschrift gewählt haben, der wie Muretus und
Tanaquil Faber oder in neuerer Zeit Ernest Ensor ^) eine Allegorie
nicht anerkennen wollte ') ; die erste Vorlage von C Da böte dann
die gleiche Mischung zweier Überlieferungsformen in anderer Reihen-
folge. Allein möglich ist an sich auch eine andere Deutung, daß
nämlich der Verfasser der in R erhaltenen Überschrift an den
Ausbruch dieses Bürgerkrieges, nämlich an die Abfahrt des
Brutus und Cassius nach dem Osten dachte und den Dichter dabei
1) Eingeschoben ist das auf mihi bezügliche Scholion se posuit pro navi<ta>^
Die Form ist wegen v. 14 gewählt. Ähnlich eingeschoben ist in das ebenfalls
wohl zu diesem Teil gehörige Scholion Ordo est: tu cave, nisi debes ludibrium
ventis, id est eris ezercitium ventorum ein anderes : cave pro caveas (Fcp zu 15. 16).
2) reparentem R ursprünglich.
3) navim Da.
4) reparantem C.
5) tetralocos C, fehlt a. — Ich nehme die deteriores, deren Analyse hier
nichts ergibt, in andern Gedichten freilich recht lehrreich ist, mit hinzu, nämlich
du: Paraenetice tetracolos (soweit aus F) | allegorice Bruto \ vel ad rem publicam
(Ursprüngliche Benutzung der F-Klasse ist auch nach der Variante actus africo wahr-
scheinlich), ferner u: Pragmatice dicolos{l) ad navem Bruti, endlich y : ad navem M.
Bruti reparantem . bellum civile (man könnte versucht sein, hier repetentem zu
schreiben, doch widerspräche das Acro-Scholion zu 1, vgl. unten S. 895). Ebenso,
doch mit dem Zusatz seu <ad?> rem publicam ein Blandinius.
6) Classical Review XVII 1903 S. 158.
7) Die Polemik des Porphyrio zu 3 (oben S. 393) könnte darauf bezogen
werden, braucht es aber natürlich nicht.
Die Schollen zu Horaz Od. I U. 395
das Schiff anreden ließ*). Auch auf diese Deutung des Gedichtes
weisen nämlich einzelne Schollen, so zu 19 sis alienus a helli
consiliis und zu 15 hoc est ne victtis tiirpitudini ludihnoque suhiaceas,
und wenn man sie lediglich mit einer Deutung auf S. Pompeius
in Verbindung bringen wollte, würde das Scholion zu 11 wider-
sprechen : mit rem publicam adloqiiitur aut Cassium ^) — vel Fompeium^
cuius pater de Mitridate Pontico triumphavit. Für Cassius ist nur
bei dieser Auffassung des Gedichtes auf den Ausbruch des Krieges
Platz. Eine volle Allegorie liegt dann nicht vor; es handelt sich
um den zweiten Krieg, nicht um die zweite Schlacht.
Für diese Auffassung scheint mir nun der Eingang des Kom-
mentars zu sprechen, der freilich stark verdorben ist ; Kellers Ap-
parat gibt über die Tradition zu wenig Aufschluß, um die Worte
sicher herstellen zu lassen, nur den Sinn kann man einigermaßen
erkennen: Fer allegor iam öden istam civile bellum secundum^)
(designare certum est), in qua volunt (alii Brutum moneri) ^ dlii rem
pid)licam. Der Verfasser sollte fortfahren secundum autem civile
bellum, schiebt aber vorher eine eigene Deutung ein, die gegen die
Beziehung auf Brutus und den zweiten Bürgerkrieg polemisiert
certius tarnen est quod Sextum Pompeium fiUum Ponipei moneat, qui
. . . bellum civile reparare denuo voluit ^). Ich glaube aus dem Wort-
1) Hart wäre dabei allerdings die Verbindung Yon in navi mit reparante
bellum civile] man würde eher ein Verbum des Bewegens, also etwa auch hier
repetente erwarten oder einsetzen wollen und die Schreibung reparentem vielleicht
dafür anführen können. Allein reparare scheint durch die Überlieferung von CDay
und die Wiederholung in der abweichenden Deutung auf S. Pompeius (Acro zu 1,
siehe oben den Text) gesichert. Die Plärte wäre durch die in der Aufschrift erfor-
derliche Kürze entschuldigt. Der Erfinder derselben will zum Ausdruck bringen,
daß Brutus schon auf dem Schiff ist und dies statt seiner angesprochen wird,
und will daneben den Plan des Brutus angeben, nicht aber ausdrücken, daß das
Schiff zur Verwirklichung des Planes dient.
2) Ich vermute <Brutum et> Cassium.
3) In quodam Hss. Nur nach Erwähnung der Zahl schließt richtig an
secundum autem civile bellum inter Augustum Caesarein et Cassium et Brutum erat:
qui fuerunt interfectores Grai Caesaris. Natürlich darf nicht, wie bei Kellers
ohne Rücksicht auf die Hss. aus Hauthal entnommenem Text civile bellum der res
publica entgegengesetzt werden. Die Bezeichnung des zweiten Bürgerkrieges
kehrt fast mit den gleichen Worten in dem zweiten Scholion FbV zu Epod. 16, 1
wieder: Execratur autem bella civilia, quia post bellum commissum a Caesare et
Pompeio alterum parabatur ab Augusto Caesare (fehlt br, ist aber zu
halten) contra Brutum et Cassium interfectores Caesaris. Das erste
dem widersprechende Scholion von FbV stammt aus Porphyrie. Vergleiche auch
das Scholion AV zu Epod. 17,1. Sie gehören einem Autor.
4) In ähnlicher Weise ist an die Deutung von v. 11 ac si diceret: magnae
originis et nobilitatis, sed per metaphm'am aut rem publicam adloquUur aut
396 ^' Reitzenstein, Die Schollen zu Horaz Od. 114.
laut entnehmen zu dürfen, daß er für die Deutung auf Brutus
schon die Form fand: de Brnto reparante bellum eivile, ja vielleicht
selbst die Worte in nuvi, die ihn am leichtesten auf seinen eigenen
Versuch führen konnten. Die Sachlage ist m. E. so : der Verfasser
benutzte zwei schon recht ärmliche Schulkommentare, deren einer
das Lied auf die res publica, der andere auf Brutus deutete, der
den zweiten Bürgerkrieg beginnt. Die aus beiden entnommenen
Glossen schob er einfach in einander^) und fügte ein paar eigene
Zusätze (aus Nebenquellen?) hinzu. Dazu mag auch das einzige
Scholion gehören, daß sich in der Auffassung mit Porphyrio be-
rührt, ohne doch aus ihm stammen zu können, zu 4: nudatum latus
fuga Cassi et amissione exercitus, vgl. Porphyrio: manifestae alle-
goriae , ^er quas significat ex parte iam debilitatum exercitum Bruti
et vires partium eius minutas esse ^).
Den drei Grundtypen der Aufschrift entsprechen also drei
Erklärungen, die des Porphyrio und die der beiden Hauptquellen
des sogenannten Acro; daneben findet sich bei diesem noch ver-
sprengtes Gut.
Ist es nun wirklich denkbar, daß der ganz einheitliche Text
des Porphyrio und der sich mit ihm hier kaum berührende Text
dieser Sammlung erst in karolingischer Zeit aus demselben Arche-
typus abgeleitet sind ? Oder daß die Verschiedenheit der Aufschriften
damals entstand? Jedenfalls könnte man erwarten, daß Vollmer,
der dies annimmt, versuchte den Hergang irgendwie zu erklären
und zu veranschaulichen, sei es auch nur für dies Gedicht. Für
die wirkliche Erkenntnis der Horaz-Überlieferung wäre es wichtig,
zu untersuchen, ob in jüngeren mit Scholien versehenen Hand-
schriften eine der beiden bei dem sogenannten Acron vereinigten
Erklärungen etwa noch allein erscheint. Vielleicht regen diese
Zeilen dazu an.
—7
<Brutum et> Cassium nachträglich angefügt : vel Pompeium, cuius pater de Mitri-
date Pontico triumpJiavit. Schon weil dies offenbar Zusatz ist, sind die Scholien
zu 19 und 15 (zu denen man noch das zu 14 gehörige zufügen kann) schwerlich
ursprünglich auf S. Pompeius gemünzt.
1) So ist zu erklären , daß in der Einleitung der Satz metaphoram autem
sumpsit a navi, ex cuius armamentis et milites et diversas administrationes voluit
intellegi (vgl. oben S. 393 A. 1) von dem ursprünglich vorausstehenden in qua volunt . .
<.moneri> . . rem puhlicam durch die Worte der zweiten Hauptquelle getrennt
wurden.
2) Vgl. zu 1 suh quibus Horatius müitaverat mit Porphyrio': quoniam sub
ipso militaverat.
Nachrichten von der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen.
Phil.-hist. Klasse 1918, Heft 3 (Sethe).
Demotisches Ostrakon Strassburg D. 1845.
^A nat. Gr.
(Zu den Zeilen 9 und 16 s. die Anmerkung auf Seite 292)
^7
^8
Zur Kenntnis der griechischen Dialekte.
Von
Friedricli Bechtel,
auswärtigem Mitgliede.
Vorgelegt in der Sitzung vom 12. Dezember 1918.
1. Lokrische Conjunctive auf -EEI.
Auf dem Epökengesetze von Naupaktos erscheinen drei Con-
junctive, die man mit liTtoxeliäi^ ccvxöqesi, doxssi umschreibt. Bei
diesem Verfahren kommt man den Formen äv%ÖQElv^ z^arstv, Tca^o-
TocpaystöiaL der selben Bronze gegenüber in das größte Gedränge,
da man* nicht erklären kann, warum die Hiaten hier beseitigt, dort
offen gelassen werden. Wen die übliche Ausrede nicht befriedigt,
der sucht nach einer andren Auffassung.
Man gewinnt diese, wenn man sich der thessalischen Con-
junctivform TcatotzsCovvd'i erinnert. Überträgt man sie in das Lo-
krische, so erhält man xatoLxricovn. Und wenn man nach der
Singularform sucht, die zu diesem Plurale gefordert wird, so ge-
langt man zu xatoLxrjrji,. Umschreibt man nach dieser Anleitung
die lokrischen Conjunctivformen mit XiitoTsltEiy dvxÖQssi, doxssi,
so ist die Schwierigkeit, die sich der bisherigen Auffassung ent-
gegenstellte, beseitigt: in diesen Grebilden fällt der Hiatus nicht
auf, denn sie sind erst dann in das Leben getreten, als das Wirken
der Contraction zu Ende gekommen war.
In der Gruppe der nordwestgriechischen Dialekte sind die Zeug-
nisse für die Umbildung der Verba auf -scj, die in den besprochnen
Formen zu Tage kommt, nicht selten; parallel mit den neuen
Präsentien auf -tjco gehn Präsentia auf -60.
Aus dem Atolischen stammt die Form
Ttoujsits Ditt. Syll.3 622 B 10
Kgl. Oes. d. Wiss. Nachrichten. Phil.-hist. Klasse, 1918. Heft 4. 27
398 ' Friedrich B echt el,
in einem Briefe der Vaxier an die Ätoler, der zusammen mit einem
Dekret der Ätoler in Delphoi eingehauen worden ist. Sie stimmt
zu den delphischen
Tcoi'^ovöcc Rüsch Grramm. d. delph. Dial. I 328 no. 27 5,
ucoLYJOLöav BGH 22. 60 no. 56 8,
die eben darum anders erklärt werden müssen , als bei Rüscli 61
gescbielit. Es ist dabei gleickgiltig/'ob das Präsens noiTJco in Delpkoi
bodenständig oder erst durch die ätolische Kanzleisprache nach
Phokis gelangt ist. Von der gleichen Art sind die bekannten,
fast sämmtlich auf delphischen Freilassungsurkunden erscheinenden
Formen
aTtaXlotQicooirj Coli. 1718 13, ccjtaXkotQLcoovöa 1684:8;
ßi6ri 18517, 19524, 1967 10;
üXaQasiv Ditt. Syll.^ 64783;
Iia6xiy6(xiv Coli. 2261 15;
örecpccvoEtca 177021, 1801 5.
Sie haben in Orchomenos Parallelen:
da^icos^sv BCH 19. 157 II 7,
da^i6ovtsg ebd. I4, IGr VII 31986, 3199i2, 3200i4, 3201 10,
3203 12, 3204 17;
daß diese aus Atollen eingedrungen sind, hat Sadee richtig bemerkt
(De Boeotiae titul. dial. 29).
Hier wird nun auch die delphische Form
övXTJovtsg Coli. 2 100 10, 2107 12
verständlich, die wiederholt behandelt worden ist. Wenn ein Formen-
paar ^oLsco und Ttoiiqco neben einander lief, so war es unausbleib-
lich, daß neben övXsol, övXecdv, övXsovzsg, (3vXEOV(3a mit ri vokali-
sierte Formen in das Leben traten. Eine davon ist eben öv^ovrsg.
Es bleiben noch die delphischen Conjunctive
ddizsT] Coli. 2088 23,
TtoiET] Rüsch 316 no. 2 s,
die in schneidendem Gegensatze zu TcatayoQfji auf dem Labyaden-
gesetze(B5i) nnd doKrjc auf dem Amphiktyonengesetze von 380/79
(Ditt. Sy 11.^ 14525) stehn, durch ihren Hiatus aber zu den west-
lokrischen Formen stimmen, von denen die Untersuchung ausge-
gangen ist. Ich betrachte sie, als Nachkommen von adtxt^'r^t, Ttoiririi.
Es ist bekannt, daß die Längen ä, ?^, co in einem Teile der grie-
chischen Dialekte vor «, o und vokalischem i verkürzt werden
können. So sind auf Kreta aus vä6g, 'iXrjog, 'Hgcatdag die Formen
vaog, iXsog, 'Hgotdag hervorgegangen (Brause Lautl. d. kret. Dial. 66 ff.).
Die delphischen Karaigelc^ai, xataxQsC0d'(D6av, %QSi[isvog (Ditt. Syll.^
67232.53, 438 11) werden verständlich, wenn es ein Präsens %QBoiiaL
Zur Kenntnis der griechischen Dialekte. 399
gab, das auf dem gleichen Weg aus xQ7]o^aL geflossen war wie
kret. XQBog aus xQfjog. Betrachtet man die Conjunctivformen delph.
^^ercod^mvn (Coli. 2034 17), rhod. iyQua^aoovtL (Coli. 41 10 7), kret.
nsid^d'iCDvtL (Coli. 50225), herakl. ^yJ^rilri^Ccovri (Coli. 4629 1 152), so
nimmt man wahr, daß in dieser Kategorie die Verkürzung des ri
vor CO den westgriechischen Dialekten gemeinsam ist und daß sie
im Kretischen und Herakleotischen in ein hohes Alter hinaufreicht,
da der verkürzte Vokal noch von dem Wandel des s zu t getroffen
wird. Hierauf gestützt darf man behaupten, daß auch das ri der'
Conjunctivformen «dtxijco, aduTiricoiisg, adLxrjcovri,, die auf Grrund des
thessalischen KatoiKsCovvd'i angesetzt sind, der Grefahr der Verkür-
zung ausgesetzt war. Erlag es ihr, so entstanden die neaen Con-
junctivformen aöixsGJ, ädixeco^sg, ccdLxscovtt, die nun mit ccdiKtjrjig,
ccöiKrji]i, ccdiXYJrjrs zum Systeme verbunden waren. Dieses System
konnte in zweifacher Weise einheitlich gemacht werden. Die, auf
die es hier ankommt, bestand in der Ersetzung von ädLK7]riLg, ddi-
xririL, döixririts durch äYiixerjcg, ddivJrji, ccdixstive. In den delphischen
Conjunctiven ddi%8i], Ttoisr} sehe ich Zeugnisse dafür, daß dieser
Weg in Wahrheit eingeschlagen worden ist.
2. Lokr. telsog = TtvQiog.
Die letzte Bestimmung des Epökengesetzes lautet:
Kai ro d'ed'^iov tolg HvTtoxva^idloig AoqQolg ravzä teXsov
sln&v Xaksiioig tolg övv 'Avxicpdxai fOLTCEtalg.
Sie verwendet also reksov in Sinne des attischen xvqlov.
Den gleichen Sprachgebrauch beobachtet man auf dem Bundes-
vertrage der Ätoler mit den Akarnanen, der Ditt. Syll.^ 421 be-
handelt ist. Hier erscheinen xvqlov und reXsiov neben einander.
Während Z. 8 f. festgesetzt wird
V7C6Q dh xcbv xsQiiovcov xov IlQavvög^ st ^sy xa ^XQaxiOL ;cal
^ÄQyaioi 6vy%(x)QBaivxi avtol itox^ avtovg^ xovxo xvqlov sota),
schließt der nächste Punkt der övvd'iJKa mit dem Satze
Tcad'cjg ds xa xsQ^d^cjvxc^ xeXslov söxo.
Aus dieser Übereinstimmung muß man schließen, daß es Eigen-
tümlichkeit der nordwestgriechischen Dialektgruppe war den Begriff
von xvQiog mit xiXsiog auszudrücken.
Es ist nun von hohem Interesse wahrzunehmen , daß sich die
Eleer an dieser Eigentümlichkeit beteiligen. Auf der 7. Olym-
pischen Bronze findet man die Bestimmung (Z. 2 f.) :
al ds xig itaQ xb ygdcpog dixdöoL, dtsXsg x' sls d dbxa, d ds
xa fQaxQa d da^oöCa xsXsCa sls 8ixdöö6a.
27*
400 Friedrich Bechtel,
Also ats^ijg in dem Sinne, den man sehr oft in Delphoi (z. B. Ditt.
Syll.^672i8 t6 ijjaqjiöd'ev ^ diaivsd-lv axvgov aal dteXhg sötm), aber
auch bei Piaton {ätsXrj xal ccxvqov ylyvEG^ai tijv dlxriv Ges. 954 e)
antrifft, taXsLog jedoch in einer Weise gebraucht, die bisher nur
aus dem Nordwesten ^) bekannt geworden ist. Man darf diese Er-
scheinung unter die Züge aufnehmen, die auf ein engres Ver-
hältnis der Eleer zu den Nordwestgriechen hinweisen.
3. Delph. ig.
Daß die Präposition i^ im Phokischen vor Consonanten die
Grestalt ig annehmen konnte, weiß man, seit die Lesung xricyovcav
für das Laby ad engesetz gesichert ist (Rüsch Gramm, d. delph. Dial.
I 271 Anm.). Es gibt aber noch ein zweites Beispiel für diese Erschei-
nung. Die erste Bestimmung der Inschrift an der Stützmauer des
delphischen Stadions lautet nach der Lesung ihres Herausgebers
Homolle (BCH 23. 611):
Thv J^otvov ^E (paQEv ig xh [^E\vdQ6\iiov.
Ihren Inhalt gibt Ziehen Leges sacrae II 217 mit den Worten wieder :
Lex de vino ah Eudromi fano proMÖendo. Der sonst nicht bekannte
fleros EvÖQo^og ist durch KEgaiioitovllog {^E(p. äQ%. 1906. 157 ff.)
beseitigt, der durch neue Untersuchung des Steins festgestellt hat,
daß an der Stelle, an der Homolle E einsetzt, niemals ein Zeichen
eingehauen gewesen ist. So kommt man notwendig auf die Lesung
ig xov dQÖ^ov. KsQa^ÖTtovlXog, der diese selbst vorschlägt, wird
alsbald dadurch in Verlegenheit geführt, daß er ig als Vertreter
von slg nimmt; denn so wird der Genetiv unbegreiflich. Diese
Schwierigkeit tritt nicht ein, wenn man dem Dialekte keine Gewalt
antut, sondern ig so nimmt, wie es in einem nordwestgriechischen
Texte genommen werden muß: als Vertreter von i^. Denn nuij
spricht der Satz das Verbot aus, den zu einem bestimmten Zweck
in den ÖQÖ^og gebrachten Wein (es heißt rbv fotvov, nicht folvov)
aus ihm zu tragen, um ihn anderwärts zu gebrauchen. Ahnliche
Bestimmungen sind aus Kos bekannt; der für Delphoi behaupteten
kommt am nächsten der Satz: tovtcov ovk iiC(poQä ix tov vaöv
Ditt, Syll.2 617io.
4. Delph. xQixtsva xrjva.
Die Analyse dieser beiden Wörter, die zweimal auf dem Am-
phiktyonengesetze von 380/79 (Ditt. Syll.^ 14534) erscheinen, ist
bisher nicht geglückt. Für das zweite hoffe ich zu einem annehm-
baren Vorschlage gelangt zu sein. Zur Erklärung des ersten habe
1) Wegen arg. aXiaicc tslsia verweise ich auf Dittenbergers Bemerkung zu
Syll.3 594, 1.
Zur Kenntnis der griechischen Dialekte. 401
icli nur einen Einfall, den ich aber laut werden lassen will, weil
er vielleicht Andre zu einem bessren anregt.
Daß Ki]va mit xfl^ai im Zusammenhange steht und Brandopfer
bedeutet, ist eine sichre Erkenntnis, zu der Böckh (CIGr I 811)
durch Heraaziehung der Hesychglosse Tcrita- Ka^uQ^iara den Weg
gewiesen hat. Aber die Bildung des Wortes ist auch von Prell-
witz (Beitr. 17. 167 f.) nicht ins fleine gebracht. Ich sehe in xriva
eine Form der gleichen Art wie äyvia, also den Nachkomman einer
Participialform hevusja, die sich, wie ^tijfv^ zu x}]v^, über xrjfvLu
zu K^via entwickelt hat. Ob die historisch gegebne Form hyjvu
mit oder ohne Hiatus gesprochen worden, ob t mit dem voraus-
gehenden V zur Länge verschmolzen (vgl. att. xatsayva und ähn-
liche Formen bei Meisterhans^ 54) oder zum Consonanten geworden
und so geschwunden sei, läßt sich nicht feststellen, ist auch für die
Analyse gleichgiltig.
Das an erster Stelle erscheinende Wort tQiyctsva ist schon von
Ahrens (De dial. dor. 491) als 'mira forma' bezeichnet worden.
In der Tat bietet es Schwierigkeiten, die auch von den beiden
Gelehrten, die sich zuletzt mit ihm beschäftigt haben, nicht be-
seitigt worden sind.
Das Abstractum vQiictvq ist für Sophron bezeugt : tqizxv^ ccXe^l-
(paQ^iccxav Fragm. 3. Neben ihm hat XQmtva bestanden. Diese
Grestalt des VVortes ist bei Hesychios überliefert : xqixxvdc ' %'v6Ca
TcccTtQOVy xQLov, tccvQov, hergestellt ist sie für Epicharmos von Kaibel
(Fragm. 187), für Kallimachos von Schneider (zu Fragm. 403). Das
Verhältnis der beiden Bildungen ist klar: es ist das gleiche, das
zwischen iyvvg: iyvvi] und ähnlichen Paaren besteht. Auf Attica
ist die Form tQittoia beschränkt (Ditt. Syll.^ 833?); sie läßt sich
als Umbildung eines alten Abstractums xQi%tofCa betrachten (Fränkel
Nom. ag. I 205). Wie aber soll man sich die Geschichte des histo-
rischen XQiKxsvcc denken?
Brugmann (Grundr.^ II 1, 447) lehrt, indem er von der Vocalbe-
wegung handelt, die in 7]iit(3vg : ruiCxeia waltet, sie sei der in xgiKtvg,
delph. XQixxsva und att. xQixxoia in Erscheinung tretenden zu ver-
gleichen. Dabei bleibt, von andrem abgesehen, gerade die Haupt-
schwierigkeit unberührt : die Differenz der Ausgänge -sia und -sva.
Fränkel spricht sich dahin aus, daß >xQtxxsva .... speciali-
sierende Apposition von xriva< sei, und hält im Gefolge dieser Auf-
fassung yxQiKXBva .... für eine von XQtxxva nur durch den Ablaut
verschiedene Parallelform < (208 unten). Hier vermißt man den
Nachweis, daß es Abstractbildungen auf -sva gegeben hat, die mit
Abstracten auf -SLa parallel liefen.
402 Friedrich Bechtel,
Denkt man sich, daß neben dem durch att. XQitroia angedeu-
teten Abstractum xQixxofCa ein mit s vocalisiertes bestand, so
würde sein lautgesetzlicher Nachfolger die Gestalt tQLXtsCa auf-
weisen. Das ist die Form, der Ahrens den Vorzug vor tQixtsva
geben wollte, von der aber der jetzt besser bekannten Überliefe-
rung gegenüber nicht mehr die Eede sein kann. Aber vielleicht
ist sie erst nachträglich aus dem Felde geschlagen worden: viel-
leicht ist dadurch , daß xQizreLa mit Ktjva zu enger Gemeinschaft
verbunden war, bewirkt worden, daß tQixtsCcc in seinem Ausgang
an ;«7yva angeglichen ward. Warum die Beeinflussung stecken ge-
blieben ist, nur einen Teil der Endung getroffen hat, weiß ich freilich
nicht zu sagen. Ich wollte ja aber auch nur einen Einfall vortragen.
5. Arkad. Msilixcav, MsXi%Log.
Der arkadische Name MsiXC^cov, den ein Tegeate des 4. oder
3. Jahrhunderts führt (IG V2 no. 38 ei), beweist durch den Gegen-
satz, in dem sein sl zu dem r} in KXriviag 61 &i, ^arivcc 26621,
lyTtsxrjQTJTcoL und q)d'YJQcov 612. 17 steht, daß im Arkadischen die Folge
sXl eine ähnliche Entwicklung wie in Attica genommen hat, indem
in Arkadien der offne e-Laut vor U zur geschlossnen, mit sl ge-
schriebnen, Länge geführt worden ist, in Attica aber die geschlossne
Länge, die in ion. MlUiiog^ %sXiol bewahrt ist, nach dem Nach-
weise Wackernagels (Idg. Forsch. 25. 328 f.) schon in der ältesten
Periode des Dialekts bei ^ angekommen ist.
Nun aber ist im höchsten Grad auffällig, daß neben MslXCxcov
n Arkadien MsXtxiog erscheint: z/u MsXlxicol auf der Weihin-
schrift 90 1. Daß die Kürze nicht angelastet werden darf, machen
die parallel gehenden Kürzen von (pd^eQai, ös und VgLTticovog 271 15
gewiß. Damit aber ist ein Gegensatz in der Behandlung der Liquida-
gruppen constatiert, den man nur unter der Annahme begreifen
kann, daß das Arkadische ein Mischdialect sei. Diese Annahme
wird auch durch das gleichzeitige Erscheinen von xs und äv in
dem gleichen Dialekte nötig: ich fahre nämlich fort die Gruppe
EIKAN in si! 71^ äv aufzulösen, wie ich ßeitr. YIII 305 zuerst vor-
geschlagen habe.
Der Gegensatz, der soeben zwischen MeXCxt'Og^ 'OQiTtiovog, (pd'BQao
und den mit iyxexfjQrj^oL gleich vocalisierten Formen festgestellt
worden ist , besteht auch im Lakonischen. Zu ^OgiitCcov stimmt
"OginTcCdag IG V 1 no. 964. Aus der Zahl der lakonischen Seiten-
stücke zu ark. lyTcsxrjQTjxoi führe ich zwei an, die Hesychglossen
©TjQkag' ^EvvdXiog, nagä Ad^cnöiv.
IlYiQ£(p6vsLa' nsQ0£(p6v£ia. Adxcovsg,
Zur Kenntnis der griechischen Dialekte. 403
deren erste zuerst von W. Schulze (Ztschr. f. Gymnasial w. 1893.
162) richtig beurteilt worden ist. Daß im Lakonischen Erschei-
nungen zweier verschiedner Dialekte mit einander verbunden sind,
ist längst beobachtet; zu denen, die man als vordorische Züge
betrachtet, tritt jetzt das Auftreten von altem rz als q.
6. Arkad. svd'voQfLa.
Die Kenntnis dieses Wortes verdanke ich der Güte des Herrn
Hiller von Gärtringen, der mir seine Abschrift einer Grenzbe-
schreibung aus dem arkadischen Orchomenos zur Verfügung ge-
stellt hat, die in dem mir nicht zugänglichen 39. Bande des Bull,
de corr. hell. (1915) veröffentlicht worden ist. Das Compositum
erscheint in der Bestimmung (Z. 14)
ccTtv xCbivv 6v&voQfiav Ttbg dsQfäv :rög X6(pov.
Man sagt sich sofort, daß man hier eine Wortform vor sich hat,
die auf die Geschichte von att. svd-vcoQCa (z. B. ov xat' ev^vcogCav
äXkä naxä xvKXovg Kvisioi. UsqI ^colov ^oq. 654 ai?), herakl. svd'vcoQSLa
{tovTCjg Tcdvtag ctv svd'vcDQslav ö^oXöyGyg äXXdXoig Coli. 4629 1 es) helles
Licht wirft. Denn es wird durch sie bewiesen, daß evd'voDQ^a,
ev&vcDQSLa aus avd-vcoQficc, sv&vcoQfsCa hervorgegangen sind. Haben
diese Formen aber bestanden, so sind sie, wie äXXrjXav und hom.
67C7]y}csvCdsg, aus der Periode der Sprache übrig geblieben, in der
auch solche Kürzen von der Compositionsdehnung betroffen wurden,
die durch zwei Consonanten beschwert waren (vgl. Wackernagel
Dehnungsgesetz 33 f.). Ihnen gegenüber zeigt ark. avQ'voQfCa den
Bau, der zur Norm erhoben worden ist. «
Das Adjectivum , zu dem evd^voQfCa Abstractum ist , hat man
sich als svd^voQfog zu denken. Bei Xenophon hat es die Gestalt
sv&vcoQog (svd'vcDQov aycov Anab. II 2, 16), die auf sv^vcjgfog zurück-
weist.
Die Etymologie ist nun nicht mehr zu verfehlen. Das Element
'OQfog ist Laut für Laut identisch mit ar. arva- in avest. aurva-
(schnell) und germ. arva- in altisl. grr, ags. earu, alts. aru (schnell,
bereit). Die Zusammensetzung £v%voQfog^ sv^voQfog bedeutet also
'geradeaus eilend'.
Die Urkunde, der ich svd-ogfLa entnommen habe, gibt dem
Grammatiker und dem Etymologen manches Rätsel auf. Von den
neuen Wörtern bringe ich noch eines zur Sprache, weil es eine
interessante Parallele zu einem homerischen Worte bildet. Z. 20
wird eine Örtlichkeit TQiayHda genannt. Das ist die 'Dreitäler-
404 Friedrich Bechtel,
schaff, die Stelle, an der drei ccyKscc zusammenstoßen. Das home-
rische [iKfyciyxeLa drängt sich dabei jedem auf.
7. Arkad. navdyoQCSLg.
Von dem oq in navayÖQöc, TQiicavayoQöiog des Tempelgesetzes
von Alea (IG- V 2 no. 3) lehrt Hoffmann (Griech. Dial. 1 173) , daß
es silbebildendes r vorstelle. Mustert man die übrigen Zeugnisse,
die diese G-eltung der Verbindung oq für Arkadien erwägenswert
erscheinen lassen, so sind sie von mehr oder weniger zweifelhafter
Beweiskraft. Es kommen in Betracht:
BQ6ivg la V2no. 500;
ZtOQTtalog in /liog ZtoQTcdö 64;
tstÖQtav 6 104, 7 8,' [tsr]6Qra 33 ii;
6q)d'0QXG)g 6 10.
Von diesen vier Beispielen ist das letzte schon von Spitzer
beseitigt, der das o des x-Perfects aus dem starken Perfect über-
nommen sein läßt (Lautl. d. arkad. Dial. 12). Von den drei andren
wäre BQÖxvg entscheidend, wenn Arkadien die Heimat des Toten
wäre; aber die Herkunft des Steins ist unbekannt. Die arkadische
Form etoQTid muß mit dem kyprischen ötQOTcd, das durch die
Hesychglosse ötgoTtd' detQuitTJ. Udcpioi geboten wird, zu dreisil-
bigem ötoQOTcd zusammengesetzt werden, dessen ötoQOJt- die gleiche
Vocalisation zeigt wie ötcoXoz- in 6k6Xoi{j und ^oXo%- in syrak.
kret. ^oXo^d; die drei Nomina beruhen auf den Elementen öteqstc-
(vgl. öTSQ07C7f)j. ö/sXsjt-, ^8X6%- uud enthalten die in den o- und ä-
Stämmen regelmäßige Ablautung s : o, also keine silbebildende Li-
quida. Die Form rsroQtog endlich, neben der tstaQtog in dem Namen
des Tegeaten Tetagrog (IG V 2 no. 32 6) erscheint, ist auf die gleiche
Weise zu seinem o gekommen wie dsnotog und eKotöv, die Vorbilder
von Tts^Ttorog (Tts^TCÖta 33 13), zu dem ihrigen: durch Assimilation
des unbetonten Vocals der zweiten Silbe an den der dritten (Joh.
Schmidt KZ 32. 371).
Da es also um die Geltung des arkadischen oq als Nachkommen
des silbebildenden r mislich steht, so empfiehlt es sich, das Ver-
ständnis der Vocalisation auf andrem Wege zu suchen. Und dieser
Weg liegt nicht weit ab. Es sind jetzt gerade vierzig Jahre, daß
Fick mir seine Theorie von 0 als dem zu e ablautenden Vocale
des Nachtons vorgetragen hat , die von ihm später (GGA 1880.
421 ff.) ausführlicher entwickelt worden ist und die so glänzende
Combinationen wie die von e^l^Ca und ijtoilJLog (Beitr. 14. 316) mög-
lich gemacht hat. Indem ich mich von ihr leiten lasse, behaupte
ich, daß 'äyoQöLg die Gestalt des aus Milet bekannten Nomens
Zur Kenntnis der griechischen Dialekte. 405
aysQfiig (Coli. 54983.1?) vorstellt, die im zweiten Gliede des Com-
positums einzutreten hatte.
8. Lesb. evvsxa.
Auf einer Anzahl lesbischer Inschriften, als deren älteste ver-
mutlich die Ehrung der Adobogiona, der Tochter des Galaters
Deiotaros (IG- XII 2 no. 516) , zu gelten hat , die also der ersten
Hälfte des ersten vorchristlichen Jahrhunderts angehört (vgl.
Haussoullier Etudes sur Thistoire de Milet 222 f.) , begegnet die
Form ^'vvsxa. Daß die doppelte Nasalis, die sie aufweist, nicht
Assimilationsproduct von vf vorstellen kann, weiß man lange, steht
vollends seit dem Bekanntwerden der Form sjcegog fest, die lehrt,
daß in der lesbischen Sprache des 3. Jahrhunderts / hinter Con-
sonant spurlos verschwunden war. Aber wie kommen Leute, die
sich des künstlichen Dialekts befleißigen, dazu svvBxa zu schreiben?
Darauf kann man jetzt mit Sicherheit antworten.
Auf einem der neuen Alkaiosfragmente aus Oxyrhynchos OP
1233 Fr. 2 heißt es (Z. 17)
Will man wissen, welcher Wert dem doppelten v zukomme, so
braucht man nur in zwei Versen eines andren Bruchstücks, OP 1234
Col. IIg.t
cDvrjQ sjtsidri tcqCoxov övetgoTCS,
Ttaiöaig yccQ dvvcoQivs vvxtag,
auf den Gegensatz zwischen ovstgoTts und övvaQivs zu achten, um
Bescheid zu erhalten : die Gelehrten, die den Text der lesbischen
Lyriker constituiert haben, schrieben doppelte Nasalis, wo der
Vers Längung des kurzen Vocales verlangte. Genau nun wie Bal-
billa den lesbischen Dialekt, in dem sie dichten wollte, aus den
Ausgaben der lesbischen Dichter kennen lernte, denen sie auch
falsche Formen entnahm (vgl. Drenkhahn KZ 46. 300 f.) , so griffen
die Schriftkundigen, die eine Prosaurkunde in dem ausgestorbnen
Dialekte herzustellen wünschten, nach den Ausgaben des Alkaios
und der Sappho und orientierten sich aus ihnen über die Gestalt
der Formen, die sie anwenden wollten. So sind sie zu ihrem svvsxcc
gelangt.
9. Lesb. XaQQcov.
In einem Gedichte des Alkaios, in dem die Hochzeit des Peleus
mit Thetis beschrieben war, erscheint der Name des Chiron in der
Gestalt XsQQCDv: OP 1233 Fr. 2 Col. IIa
ig do^ov XsQQCJvog.
406 Friedrich Bechtel, Zur Kenntnis der griechischen Dialekte.
Angesichts des Zeugnisses einer hocharchaischen Felseninschrift
aus Thera (IGr XJI 3 no. 360) und einer Anzahl attischer Yasen
(Kretschmer Yaseninschr. 131 f.), die übereinstimmend^ X/^()cov ge-
währen, fällt XsQQCJv in hohem Grad auf. Denn daß der Name in
zweifach vocalisierter Gestalt lebendig gewesen sei, deren eine
sich bei den Aolern erhalten habe, während die andre auf Thera
und in Athen herrschend geworden sei, wird niemand für möglich
halten, der Ausweg aber XCqov durch lautliche Entwicklung aus
XsQQcov hervorgehn zu lassen ist abgeschnitten, weil diese nur zu
X£Q(Dv hätte führen können. Ich sehe daher in Xeqqcov keine selbst-
ständig in die Zeit der Lyriker hinaufreichende Überlieferung
sondern das Ergebnis grammatischer Speculation. Die Gelehrten,
denen die Lyrikerausgaben verdankt werden, sind von der Namen-
foTm XsLQcjv ausgegangen, sei es daß sie diese als Umdeutung der
undurchsichtigen ursprünglichen Form schon in der Bildungssprache
vorfanden, sei es daß sie die Umdeutung selbst vornahmen. Sie
verstanden den Namen also so, wie ihn die heutigen Gelehrten
bis zum Bekanntwerden der genuinen Form XCqcov ebenfalls ver-
standen haben, als Benennung des xsiQi6og)og, und setzten ihn in
der Gestalt Xsqqodv in das Lesbische um, weil sie wußten, daß dem
attischen xslq- bei den Lesbiem xsqq- entsprach.
Eeimstüdien IL
Von
Edward Schröder.
Vorgelegt in der Sitzung vom 18. Oktober 1918.
Die Reime auf -o in der mhd. Litteratur.
Wie ich dazu gekommen bin, auf den in der Überschrift an-
gekündigten Ausschnitt aus dem Reimbestand der mhd. Zeit eine
nicht unbeträchtliche Zeit und Mühe zu verwenden , ergibt sich
aus der I. Studie. Die Untersuchung über die Reime auf -6 mußte
den Hintergrund aufhellen, auf dem die Reime mit M und ihr
ungleichmäßiges Auftreten verständlich würden; was sie darüber
hinaus ergeben hat , ist begreiflicherweise nichts abgeschlossenes :
es sind kleine Ergebnisse für die Grrammatik, wichtigere Gesichts-
punkte für die Reim Statistik und Reimpsychologie.
Wer sich einmal mit der jungen Überlieferung von Dichtungen
des 12. Jahrhunderts beschäftigt hat, erinnert sich des bald ver-
einzelten bald häufigen Vorkommens 'von Kotreimen, die in der
bequemsten Weise dadurch zu Stande gebracht sind, daß hinter
die ursprünglichen Träger der archaischen Bindung kleine Flick-
wörtchen angeklebt wurden, wie da: sd und besonders cJö: so.
Bei der Arbeit sehen wir so einen Reimflicker in den Nürnberg-
Ermlitzer Bruchstücken des Rother, wo ein Korrektor hinzuge-
schrieben hat 1086 f. ivcegene] do : ze saniene] fo und 1387 f.
lange] do : manne] fo. In der Deutschordenshs. von Werners
Maria finden wir gegenüber der Berliner die plumpen Retuschen
engel do: ivandel so (681 f. = 156,31) und sere (st. harte) do:
ivorte(n) so (1665 f. = 170, 40). So hat denn Bartsch (Beitr. 8, 496)
im Anegenge 3, 35 f. guote do: rate also gewiß richtig den 9, 67 f.
überlieferten altertümlichen Reim guote: rate erkannt, und gegen-
^Qg Edward Schröder,
über einem ähnlichen Falle bei Eilard v. Oberg 4585 war Grierach
S. 114 gewiß nicht gut beraten, als er dem gcnoch: zöcli DB die
Lesart genüg so: zoch jo H vorzog. Das Reimpaar im Herzog Ernst
B 3927 f. ist vermutlich bei Bartsch (nach Hs. b) her nider in daz
schif dö: ruofte er den recken so ebenso unecht wie in a mit da: sä.
Besonders kraß liegen die Dinge in der uns überlieferten Fas-
sung des B.randanus, wo alle 8 Eeime mit dö: so (immer' in
dieser Folge: 29 f. 567 f. 859 f. 1011 f. 1117 f. 1441 f. 1457 f. 1903 f.)
und obendrein noch do: ho 187 f., so: jö 41 f. auf Rechnung des
Überarbeiters kommen, vgl. bes. 187 f. daz sie den Jciel g eivunnen
dö: des gotes lop sie sungenhö, 1011 f. um daz ez gerou mich harte
dö: ich gab ez mit siner vorhte so, 1457 f. karten sie ze lande dö:
wider in die winde so, 1903 f. do sprach diu gotes stimme do: zu
dem heiligen manne so. — Auch im jungen Reinhart ist nicht
nur dö: so 907 f. eine gesicherte Änderung, sondern auch 1925 f. ist
der Reim unecht: statt ergän so: dannen dö stand im alten Text
ergän: dannän, genau wie im Fragment 775, wo der Bearbeiter
gleichfalls das alemannische dannän aus dem Reim herausschaffte ;
wenn wir sehen, wie 1871 f. der Reim also : dö eingeschwärzt wird,
erkennen wir leicht, daß er auch 1947 f. sekundär ist für ergie:
die{h), und nicht minder verdächtig erscheint er dann in dem ein-
zigen Falle der noch übrig bleibt : 1457 f. — In der Yoraner Über-
lieferung der Gredichte der A v a steht kein, einziges dö im Reime ; die
Görlitzer Fassung hat 1395 f. aus sciere > schiere dö gemacht und ß
ivaren vil unvrö in die augenscheinliche Lücke gesetzt, ihr wird
auch der Reim frö: dö im Johannes 429 f. zuzusprechen sein. Auf
die Überlieferung eines späteren Gedichtes, des Wigamur, komme
ich weiter unten (S. 414) zu sprechen.
Aus allen diesen Zutaten einer Jüngern und im Reime zwar
auf Reinheit hinstrebenden, aber sonst wenig feinfühligen Über-
lieferung wird man zunächst die Vorstellung gewinnen, daß ein
Reim wie dö: so an sich zu den Kennzeichen niederer Kunst ge-
höre. Und wenn wir aus späterer Zeit einen elenden Reimer
herausgreifen wie etwa den schlesischen Verfasser der Kreuzfahrt
Ludwigs, der diese Bindung massenhaft verwendet (etwa in V. 1
—1000 5x dö: so, 2x dö: also), so scheint sich das zu bestä-
tigen. Und doch ist die Vermutung keineswegs allgemein zutref-
fend: das vulgäre Paar wird weder von allen Dichtern die etwas
auf ihre Kunst halten, gemieden, noch stellt es sich bei jedem be-
quemen Reimschmied ohne weiteres ein.
Bei Gottfried von Straß bürg haben wir in 19552 Versen
151 Reime auf ö, in annähernd gleicher Verteilung über das ganze
Reimstudien II. 409
Grediclit (79 in der ersten, 72 in der zweiten Hälfte), also 1:65
Reimpaare ; davon zählen 136 dö als das eine Reimwort, und nicht
weniger als 80 Reimpaare bringen dö: so (31) resp. do: also (49)
d. i. 1: 122 Rpp.. Von seinen Schülern hat Konrad von Würz-
burg im Engelhard auf 6504 Verse 42 o-Reime, also 1 : 77 Rpp.,
dabei 39 mit dö, und 22 x dö: {cd)sö d. i. 1:148 Rpp.; Rudolf
V 0 n E m s im Guten Grerhard auf 6928 Verse 62 o-Reime, 1 : 56
Rpp., davon 48 mit dö, 15 x dö: {al)s6 d.i. 1:231 Rpp. In der
Weltcbronik, die entschieden lässiger gereimt ist, haben wir nach
Wegener 319 o-Reime in 33064 Versen, d. i. 1 : 52 Rpp., darunter
278 mit dö und 175 X do: (al)sd d.i. 1 : 94 Rpp. Zu bemerken ist
bei den Epigonen die starke Zunahme des also gegenüber so: im
Engelhard do: tö 5x, dö: also 17 x ; im G. Gerhard dö : so 4 x,
dö: also 11 x, in der Weltchr. gar dö: so 18 x, do: also 157 X/
Der Grund ist natürlich die bequeme Taktfüllung im jambischen
Vers dieser Dichter. Von irgend einer Neigung, den ö-Reim und
insbesondere das Reimpaar dö : (al)sö zu meiden, ist bei keinem der
drei etwas zu spüren; die Verhältniszahlen liegen nicht allzuweit
von einander.
Ganz anders steht es schon mit Hartmann und Wolfram. In
Hartmanns von Aue epischen Werken, auf die ich mich hier
beschränke, kommen auf 23828 Verse 143 o-Reime, d. i. 1 : 83 Rpp.,
davon 85 mit dö, aber nur 12 x dö: (al)söj also 1 : 1000 Reimpaare;
bei Gottfried bilden diese Reime 53 ^/o, bei Hartmann nur 8 ^/o der
O-Reime. Von der Gesamtzahl entfallen auf den Erec (10135 VV.)
68 d. i. 1 : 74 Rpp., auf den Iwein (8166) 38 d. i. 1 : 108 Rpp., was
eine sehr deutliche Abnahme bedeutet; daran sind beteiligt die
Reimwörter fjö und unfrö (Erec 53 X, Iwein 25 x), hö (Erec 5x,
Iwein Ix) und vor allem dö (Erec 46 x, Iwein 17 x)^); die Zahl
der Bindungen dö: (aT)sö ist in beiden Dichtungen die gleiche (4),
nur scheint bei Hartmann selbst die Verdrängung von so durch
also hervorzutreten:
dö: so
dö: also
Erec 3
1
Gregorius 1
1
a. Heinrich —
2
Iwein 1
3
1) Unter dö: so u. s. w. versteh ich, wenn nicht ausdrücklich das Gegenteil
bemerkt ist, stets auch die umgekehrte Stellung so: do mit.
2) Diesen Rückgang der tZd-Reime bei Hartmann hat schon beobachtet und
sehr gut erklärt Zwierzina Zs. 45, 28 1.
410 Edward Schröder
Bei Wolfram von Eschenbach scheidet der Titurel wegen
seiner ausschließlich klingenden Versausgänge aus. Auf die 38738
Verse von Parzival und Willehalm entfallen i. g. 96 o-Reime, d. i.
1 : 202 Epp. , davon nur 47, also die knappe Hälfte mit dö (bei
Gottfried waren es Vio, bei Hartmann immer noch ^/lo), und gar
nur 16 (12 + 4) Reime dö: so resp. also, also 1 : 1210 Rpp. — mithin
nur ein Zehntel des Grebrauchs den Gottfried von dieser bequemen
Bindung macht.
Bei Hartmann ist es gewiß der Reichtum der Bindungen, die
Sorgfalt der Reimwahl und die Freiheit der Wortstellung, die ihn
so weit von Gottfried abrücken lassen, bei Wolfram hat die Sache
einen andern Grund : er schwankte zwischen den beiden Formen
dö und duo, wenn er auch die letztere nur 3 x anwendet : fruo
P. 166,8; :^uo 368,14. 752,8.
Wolframs fränkischer Nachbar Wirnt von Grafenberg
kennt dies duo nicht. Bei ihm entfällt zunächst auf 240 Drei reime
ein einziger mit -6: 61,13 — 15 frö: also: dro. Unter Fortlassung
dieser Abschnittschlüsse fallen auf 10088 Verse 80 o-Reime, d. i. :
1 : 68 Rpp. , also genau soviel wie bei Hartmann im Erec , und
darunter 7 (3 + 4) x dö : so resp. also. Daß die Verhältniszahl in
der ersten Hälfte, die ganz unter Hartmanns Einfluß steht, etwas
günstiger ist als in der zweiten , wo der Einfluß Wolframs vor-
wiegt (46^+ 1 Dreireim gegen 34), halte ich für einen Zufall.
Bayrische und fränkische Elemente in einer ganz persönlichen
Mischung weist die Sprache Lamprechts von Regensburg
auf, der im S. Franciscus 30:5049 d.i. 1:84 Rpp. hat; darunter
19 X frö; 4x Fremdwörter, 5x dö: {cd)sö.
Das österreichische Nibelungenlied hat in 2379 Strophen
(B) mit ausschließlich stumpfen Reimen nur 13 o-Reime, d.h. genau
so viele wie der arme Heinrich: dabei zählte der a. Heinrich 510
stumpfe Reimpaare, das Nibl. 4758 — Hartmann hat hier also fast
das Zehnfache! Obendrein handelt es sich im Nibl. ausschließlich
um den Reim dö: frö — alle andern Bindungen fehlen, vor allem
dö: so!
Und noch merkwürdiger ist die bairischeKudrun: sie kennt
in 1705 Strophen , d. h. (mit den 98 Nibelungenstrophen) in 1803
stumpfen Reimpaaren überhaupt keinen o-Reim! Das ist um
so auffälliger, als sich Versausgänge auf Langvokal im ganzen
recht häufig finden: -ä 6, -e 44, -t 15, 4e 30, -uo 19, zusammen 114.
In der Klage entfallen auf 4360 Verse 3 o-Reime {vrö: dö
1147 f. 2455 f.; so: vrÖ 3031 f.), d.i. 1:726 Rpp., auf einen ent-
sprechenden Abschnitt des Biterolf (V. 1—4360) 8, auf das
Reimstudieu IL 4-11
ganze Werk 16 (1 : 422 Rpp.) sämtlich Eeime mit frö : nämlich
; cid 6, : so 9, : drö 1.
Von weitern bajuvarischen Dichtungen haben je drei Reime
mit frö der Servatius ^) auf 3548 VV. und die Warnung auf
3889 VV., je einen der Helmbrecht (50; /tö 1025 f.) auf 1934 VV.,
und Konrad von Haslau {frö: drÖ 817 f.) auf 1264 VV.; Rü-
digervonHünkhofenim Schlegel bringt keinen einzigen o-Reim
in 1200 VV. —
Ich mache hier einmal Halt, um die durchaus verwandte Lage
in den angeführten Werken und insbesondere in den Gedichten aus
der Heldensage zu erläutern. Wir sahen bei Grottfried von Straß-
burg, daß unter 151 Reimpaaren auf -0 nicht weniger als 136 den
Komponenten dö aufwiesen: das ist offenbar bei einem gewandten
Erzähler, der durch keinerlei .lautliche Bedenken behindert wird,
das gegebene ; es folgen nach dem Gerade der Häufigkeit : also (58)
+ s6 (37) 95 X, frö (48) + tmfrö (4) 52 x, Marjodö 11 x, zivö 7 X,
strö 1 X. Nun fällt für den größten Teil der bairischen Dichter
dö als duo fort, und wenn nun frö aus irgend einem Grrunde, der
im Stoffe sogut wie in der Psyche des Dichters liegen kann, zurück-
tritt oder im Untergrunde des Bewußtseins bleibt, dann kann es
eintreten, daß der o-Reim vollständig ausfällt, wie bei dem Dichter
der Kudrun, der ganz gewiß nicht mit Absicht diese Bindung
gemieden hat. Merkwürdig ist dabei, daß er auch das duo im.
Reime verschmäht: er hat 11 X moituo (149. 258. 489. 691. 758.
779. 1052. 1061. 1209. 1612. 1625), 7x suo: fruo (267. 438. 1106.
1185. 1229. 1270. 1692) und nur einmal duo: fruo {S27). Mit dieser
doppelten Abneigung gegen dö und duo und dem gleichzeitigen
Fehlen des frö steht die Kudrun unter den größern Dichtungen
isoliert streng da: eine komplizierte Überlieferung, wie sie Müllen-
hoff und gar Wilmanns angenommen haben, ist dadurch ganz aus-
geschlossen, die Einheitlichkeit des Gedichtes erhält eine neue
Stütze.
Klage und Biterolf stehn sich wie in so vielem auch im
Punkte der d-Reime und speziell des dö näher. Der Träger des
o-Reimes ist bei beiden durchweg das in der Kudrun ganz aus-
fallende frö: es reimt in Kl. : so 3031, : dö 1147. 2455; in Bit.
:{ai:}sÖ 121. 1291. 1385. 2173. 3345. 5715. 6735. 7305 (^m/^ro). 12435;
:o'ol853. 3817. 3879. 10057. 12993. 13169; :drÖ 9851; den Reimen
dö : frö stehen aber gleichzeitig in überwiegender Zahl Reime auf
duo gegenüber, denn dies wird gebunden : in der Klage ; ^uo 663.
1) dabei erscheint mir 1075 f. verdächtig, ursprünglich albe : Walhe .
^12 Edward Schröder,
2399. 3851. 4013; im Bit.: mo 1193. 3395. 3513. 5309. 7107. 7291.
7325. 8505. 8555. 9297. 11589. 11785. 12723. 13363; : tuo 2461.
2487. 5489. 9931; friw 1013. 4855. 4861. 7579. 9567; es verhält
sich also die Gesamtzahl der ö-Reime zu den duo-'ReimGn allein
wie 3 : 4 in der Klage, wie 16 : 23 im Biterolf.
Wieder anders liegt die Sache im Nibelungenlied mit seinen
13 Reimen do : fr 6. Dies umfaßt in B 4758 stumpfe Reimpaare, das
sind mehr als in der Gesamtsumme des Erec enthalten sind, der
im ganzen 65 ö-Reime und darunter do: frd 30 x bringt, die An-
gabe 'sehr oft' für das Nibl. (Zwierzina Zs. 44, 88) bedarf also einer
Einschränkung. Das Reimwort duo (; vriio) findet sich nur zweimal
auf engem Räume: 1819. 1830 (30. Aventüre).
Ich schalte hier zunächst die Lyriker Walther und Neidhart
ein. Walther von der Vagelweide hat in rund 4800 Versen,
wenn ich das Vokalspiel abziehe, 34 ö-Reime, d.h. 1:141 Verse
(nicht Reimpaare); darunter sind 2 Dreireime und 1 Vierreim. Ein-
mal so: dö (64, 8/12), in allen andern Reimen ist frd enthalten,
zumeist als Reimträger. Von den 6 Reimen mit ho entfallen nur
zwei auf ein Reimpaar, die übrigen auf Mehrreim, sodaß man deut-
lich sieht: die fremde Form wird hier herangeholt. — Neidhart
von Reuental ist der echte Bajuvare auch in der spärlichen
Anwendung des o-Reims : in ca. 3800 VV. braucht er ihn 6 x^
d. i. 1 : 633 Verse ; das einzige hö steckt in dem einzigen Dreireim
(63,6).
Von den spätem österreichischen Dichtungen nehmen die Sa-
tiren des sog. Seifried Helbeling eine eigentümliche Stellung
ein. In seinem Vokalspiel (XII) reimt der Dichter unter A nur
reine a-Reime, unter 0 aber sieht die Reihe in gutes Mhd. umge-
schrieben so aus:
bid: Jcrä: jswö: ougenhrä: da: nä{h): wd: also: ö,
also 6 d und nur 3 6. Danach sollte man erwarten, daß die Bin-
dung -d: '6 und in der Schreibung der Hs. etwa übh. die Reime
auf '6 stark hervorträten. Das Gegenteil von beidem ist der Fall:
ich zähle 15 reine Reime auf -d (8 durch Eigennamen verursacht,
kein da: sd), zwei Kompromißreitne {also: da VIII 713 f. Md: frd
VII 399 f.) ^), aber auch nur 6 reine Reime auf -o: also: hohohdf
XIV 27 f., :^w6 II 479 f. : deö VII 1125 f.; stro: fro IX 89 f., dÖ: sd
I 816 f. VII 987 f., d. i. (bei über 8000 Versen mit überwältigend
1) weitere Reime a: 6 und o s. bei Seemüller S. LXX f.
Keimstudien II. 413
stumpfem Eeim) 1 : 667 Rpp. Der bequeme Reim dö : sd findet
sich also nur einmal auf 2000 Rpp., obwohl der Verf. kein duo:
kennt.
Bei Ottokar fallen auf V. 1 — 6000 11 unserer Reime (9 mit
fro resp. tinfro) d.i. 1 : 273 Rpp., darunter ein do: also 49C3 f. Bei
Gundacker von Judenburg wird der Versausgang -6 durch
die vielen latein. Formen (Egipto, Pilato, heremo, evangelio) ange-
zogen und liegt dem Dichter schon deshalb nahe, er verwendet ihn
in 5320 Versen 41 x, d. i. 1 : 65 Rpp. , etwas häufiger als Wirnt
und Hartmann im Erec ; dö : sd nur einmal (1591 f.). Dem altern
Herrant vonWildon Hegt er vielleicht von der Lyrik her: in
seinen Erzählungen (1630 VV.) kommen 8 Fälle (1 : 102 Rpp.) vor,
aber kein do : so, 7 X fr 6, unfrö.
Für UlrichvonLichtenstein hab ich oben S. 388 f. die emi-
nente Häufigkeit des ho : konstatiert ; daraus ergibt sich ohne wei-
teres die starke Verwendung des Versausgangs auf -ö überhaupt :
für das Gesamtwerk des Dichters stellt er mit 296 auf 20525 VV.
fast 3 ^/o aller Reime , in den erzählenden Strophen des Frauen-
dienstes wird diese Zahl gut erreicht, 230 auf 14800 Verse, also
1 : 32 Rpp., ein Verhältnis das im 12. und 13. Jh. nirgends annä-
hernd wiederkehrt; auch im Frauenbuche (29 auf 2136) sind es
noch 1 : 37 Rpp. Dabei kann man das Anwachsen der ö-Reime im
Frd. gut beobachten : auf die ersten 3000 Verse (Bechstein Str. 1—375)
fallen deren 31 {hd: 10), auf die letzten 3000 (Bechst. Str. 1476—
1850) 55 {hd: 19). Die Häufigkeit der Reimglieder ist: fro (unfrö)
168 X, {al)s6 157 X, hd79x, do 55 X, drö Ix. Also do, das bei
Gottfried an erster Stelle steht, tritt hier ganz «urück, und man
kann beobachten, wie der Dichter mit dessen Gebrauch anfangs
zögert und dann, nachdem er das Reimwort vorher nur einmal
(12,71) in über 1900 Versen angewendet hat, mit einemmale die
Zurückhaltung aufgibt (79, 3. 11. 22). Später entschließt er sich
dann auch, das seiner Heimatssprache gemäße duo (; vruo) zu brauchen :
206,3. 211,5. 464,23. 484,26. 495,-19. 496,28.
Ulrichs auffällige Vorliebe für den d-Reim stammt unzweifel-
haft aus der Lyrik: in den 2136 Versen seiner Lieder finden sich
30 derartige Reimpaare (1 : 71 Verse) : darin erscheint frd 25 x,
hd 14 X, {al)s6 19 X, drö Ix, dö Ix) frö und hö sind in der
Lyrik die Träger des Reims und werden von da in die Erzählung
und in das Lehrgedicht übernommen.
Thomasin vonZircleere hat, wenn ich das fünfmalige
Auftreten des Paars Batio - Imaginatio abrechne, 15 o-Reime auf
Kgl. Oes. d. Wiss. Nachrichten. Phil.-hist. Klasse. 1918. Heft 4. 28
414 Edward Schröder,
14752 Verse, also 1:492 Rpp. — das völlige Fehlen von do: s6
kann hier so wenig auffallen wie bei Freidank.
Konrad von Fußesbrunnen hat auf 3026 VV. 20 o-Reime,
d. i. 1 : 75 Rpp. ; 7 X ist der Reim durch ein Fremdwort herbei-
geführt, 8x steht dö:, darunter 4x do: (al)sd; kein duo:.
In der Wolfenbüttler Bearbeitung des Wigamur kommen
(nach Abzug der sieben rein graphischen Reimbilder mit -o) 30
Fälle auf 6106 Verse, also rund 1:100 Rpp.; für das Original
aber gehn davon einige dö: sd ab, die sich aus Vergleichung mit
dem Fragment M (S gibt keine Grelegenheit) und aus andern Er-
wägungen (z.B. 1932 f. darumhe do: ze stunde so) als Zusätze
oder auch als einfache Schreibung für da: sä (so 792 f.) ergeben.
Das Paar duo: fruo ist für den Dichter durch M 988 und W 712
gesichert — wie bei vielen Dichtern die zwischen do und duo schwan-
ken, spielt dies Adverbium im Versausgang eine unbedeutende
Rolle.
Heinrich von demTürlin hat im Mantel auf 994 VV. nur
den einen Fall fr 6 : zwo 792 f. ; auch in der Krone geht er mit dem
ö-Reim sehr sparsam um: ich zähle auf V. 1 — 3000: 5, auf V. 3001
—6000: 6, auf V. 6001—10000: 9 Fälle, darunter kein einziges
dö: so! Im Durchschnitt nur 1 : 250 Reimpaare ; später tritt noch
eine leichte Zunahme ein, die sich vor allem in den Dreireimen
offenbart : auf die größere erste Hälfte des Werkes entfallen davon
nur 2 mit dem Ausgang -ö (2742 ff. 8427 ff.), das ist ein Verhältnis
wie im Wigalois, auf die kleinere zweite dagegen 8 (17269 ff. 19226 ff.
21774ff. 22330ff. 23716 ff. 25010ff. 28769 ff. 29870ff.), also im ganzen
10:1008, nicht ganz 1%; do: (al)sd wird erst in 4 von den 5
letzten Dreireimen eingeschlossen. Die ausgesprochene Abneigung
gegen diesen Reim erklärt sich natürlich wieder aus der dem Autor
geläufigen Form duo, von der er freilich nicht gern Grebrauch
macht.
Im Lohengrin (wo auch die kurze thüringische Partie des
Eingangs ohne -o bleibt) ist die Enthaltsamkeit womöglich noch
strenger: in 7670 Versen (60 Vo stumpf) haben wir nur 8 Fälle,
also 1:470 Rpp., nur 2x dö, kein dö: so!
Vom Pleier hab ich ausgezogen Garel V. 6001 — 9000, Tan-
darois V. 3001—6000, Meleranz V. 1—3000; Resultat 20-1-19 +
34 = 73 : 9000, d. i. im Durchschnitt 1 : 62 Rpp. , mehr als bei
Hartmann im Erec. Darunter dö : frö 13 + 12 + 25 = 50 x^
{aT)sö: frö 7 + 6 + 6 = 19 X, deö: dö Ix, (al)sö: dö (nur im Me-
leranz) 3x. duo ist für den Pleier durch den Reim gesichert:
duo: fruo z.B. Garel 12297. Tand. 2027. Mel. 1529; der häufige
Reimstudien U. 415
Gebrauch der Bindung do : frö geht also auf litterarische Übung
zurück.
Ziemlich ähnlich wie im Meleranz steht es mit Mai und B ea-
flor: in V. 1 — 3000 finde ich 30 ö-Reime d.i. 1 : 50 E-pp., darunter
aber 6 x dd: {al)sö und anscheinend kein duo ; die Reim wähl hat
wie beim Pleier durchaus den Charakter der Litteratur spräche.
In Enikels Weltchronik V. 1—6000 zähl ich 32 o-Reime, d.i.
1:94 Rpp., wovon aber allein 6 auf Pharao fallen; 4x also: dd,
das also nicht gemieden wird. — Bei Heinrich vonNeustadt
V. 1—6000 sind es 47, d. i. 1 : 64 Rpp., dabei 12 Fremdnamen,
2x ho (5181. 5330), aber nur ein einziges also: dd (265 f.). — In
Liutwins Adam und Eva 19 : 3942 VV., also 1 : 104 Rpp., davon
aber mehr als ein Drittel (7) dd: so (also).
Von den deutsch - böhmischen Dichtern haben Ulrich von
demTürlin im Wilhelm 1 — 3100 (so gezählt wegen der Dreireime)
13 Ö-Reime (1 : 119 Rpp.), darunter 1 x dd: sd (106, 15 f.); Ulrich
V. Es chenbach im Alexander V. 3001-9000 deren 18 (1 : 167Rpp.),
'kein dö : (al)sö ! ] Heinrich von Freiberg in den 6890 Versen des
Tristan 17 (1:203 Rpp.) > wovon aber 11 mit dd und 4x dd: so
(1829 f. 2109 f. 2391 f. 2267 f.).
Auf der Grenze zwischen Bayern und Schwaben steht Konrad
von Heimesfurt (M. Himmelfahrt 1130 4- Ürstende 2160 VV.),
zusammen 19 ^-Reime auf 2290 Verse, d. i. 1 : 86 Rpp. ; davon 6 x
: Fremdwörter, 11 x dd:, 4x dd : alsd — und Otto II vonFrei-
sing: V. 1 — 3000 des Barlaam weisen 18 ö-Reime auf, d.i. 1:83
Rpp., davon 14 mit dd, 5 dö: {al)sÖ (347 f. 1154f. 1358 f. 1968 f.
2258 f.).
Ein ähnliches Interesse wie die bayrisch-österreichischen Dichter
erregen die Mittelfranken, da auch bei ihnen mit dem dm
gerechnet werden muß. Dieser Umstand drückt von vornhereia
die Zahl der ö-Reime herab, die man im Hinblick auf den hier zu
erwartenden Abfall des h nach 6 als hoch vermuten könnte. Die
5140 Verse des Marienlobes (Zs. f. d. Alt. 10) bieten 18 ö-Reime,
d. i. 1 : 142 Rpp. ; Komponenten sind : {aT)s6 13 x, hdQi) : und vrö '
je 10 X, Magdald Ix und schließlich vld{1i): zdQi) 106, 31 f.; dd
kommt also überhaupt nicht vor, aber ebensowenig diio] das wird
nicht ausschließlich *an der lyrischen Natur des Werkes liegen.
Die Seltenheit des Versausgangs uo (ich habe nur zwei Beispiele
29, 1 f. 111, 31 f. notiert) hängt allerdings damit zusammen.
Ganz anders steht es bei Morant und Galie (im Karl-
meinet): auf 5200 Verse entfallen 32 Reimpaare, 1:81 Rpp.,
28*
416 Edward Schröder,
darunter 8 auf äo(ä), 8 auf zoQi)) do stellt nie im ö-Reim, wohl
aber 14 x als duo im Reim auf zuo, vruo.
Die Praxis Gottfried Hagen s stell ich vorläufig hin, ohne
sie zu erklären: er hat überhaupt in 6292 Versen nur 4 ö-Reime,
d. i. 1 : 786 Rpp. , und zwar alle in der zweiten Hälfte seines
Werkes: vrö: also 3107. : s6 5063. : do 5117; vloQi): also 4909; er
meidet aber auch das duo durchaus , das der Dichter von Morant
und Galie so häufig verwendet.
Hermann von Luxemburg hat in 5962 Versen 38 ö-Reime,
d.i. 1:78 Rpp., davon 33 x (un)vr6: (aT)s6, 2x hö: also, 2x
strd : also resp. : unvro, 1 X unJid : tmvrö, — niemals dd, aber eben-
sowenig dafür duo. Von Hagen unterscheidet sich der Dichter
dadurch, daß seine wenigen (5) «o-Reime sich ganz auf zu: vrü
beschränken, während jener (ebenso oft) ausschließlich zu: tu bindet.
Auch die niedrige Reimkunst P h i 1 i p p s des Karthäusers
weist keine hohen Zahlen auf, wohl aber größere Unsicherheit. In
V. 1—6000 hab ich 17 echte ö-Reime gezählt , d. i. 1 : 176 Rpp.,
darunter 4x UQi): (2217. 2796. 3246. 3727) und 3x z6{h): (141.
652. 4322). Zweimaligem do: also (4774 f. 3800 f.) steht duo: zuo
3 X, duo: vruo 1 x gegenüber, auch zwuo: duo 2764 les ich so.
Unreine Reime sind also: hantschuo 3642 f., : Jesu 3660 f., darzuo:
z6{h) 4328 f. 1).
In der Eneide Heinrichs von Veldeke gestaltet sich
das Verhältnis der Reime auf -ö sehr verschieden innerhalb des
Gedichtes ; ich teile ein :
a) V. 1—3000: 45 d.i. 1:33 Rpp., b) 3001—6000: 13 d.i.
1:231 Rpp., c) 6001—9000: 5 d.i. 1:300 Rpp., d) 9001—12000:
16 d. i. 1 : 94 Rpp., e) 12001—13528 : 7 d. i. 1 : 109 Rpp.' Im ganzen
also 86 d. i. im Durchschnitt 1 : 79 Rpp. Daß auf den ersten Ab-
schnitt weit mehr als die Hälfte entfällt, erklärt sich aus dem
starken Vorwiegen der Fremdnamen, von denen hier allein Bido
31 X im Reim erscheint ; der Abschnitt c) , in dem dies Material
ganz ausfällt, hat auch die kleinste Zahl. Nach ihrer Häufigkeit
ordnen sich die Reimwörter so ; Fremdnamen 53 x {Bido 34, an-
dere 19); also (25) und so (21) 46 x; frö (25) und unfro (20) 45 x;
U{]i) 22 x; z6Qi) 3x; floQi) 2x; strö Ix., do: fällt also ganz
aus, wie schon v. Kraus S. 75 bemerkt hat, indem er zugleich
. . 1) Eher rheinfränkisch als mittelfränkisch ist die Erzälilung vom Junker
und dem treuen Heinrich : 10 d-Reime auf 2185 Versr, d. i. 1 : 109 Rpp., Reim-
träger durchweg frö, kein do: so, kein duo.
Reimstudien II. 417
nachwies, daß der Dichter auch duo: keineswegs ohne Anstoß ge-
braucht: die 11 Belege^) verteilen sich obendrein derart, daß 10
auf V. 3155—7187, der elfte auf V. 13113 fallen. — Im Ser-
vatius (27: 6224 VV., d.i. 1:115 Rpp.), wo das dö gleichfaUs
fehlt, wird'c?wo; sogar nur einmal verwendet: 1,1729.
Die noch übrigen Alemannen sowie die Binnendeutschen und
Ostdeutschen mit der gleichen Ausführlichkeit wie die Bayern und
Mittelfranken zu behandeln verbietet mir gleichmäßig die Rück-
sicht auf den Leser und auf das Papier. Ich werde mich also
auf eine Aufzählung in losen druppen beschränken und nur be-
sonders eigenartige Erscheinungen hervorheben.
Wenn wir uns vor Augen halten, daß das Verhältnis der ö-
Reime zur Gesamtzahl der Reimpaare bei Gottfried 1 : 65 , bei
Hartmann (im Durchschnitt der epischen Gesamtproduktion) 1 : 83
war, bei Konrad von Würzburg zwischen beiden in der Mitte
stand, bei Rudolf von Ems nocb über Gottfried hinaufstieg, dann
überraschen die niedrigen Zahlen nahezu aller ihrer alemannischen
Zeitgenossen zwischen 1190 und 1300. ülrichvonZatzichoven
hat 28 ö-Reime in 9444 VV., d. i. 1 : 168 Rpp., obwohl der Sprache
des Dichters ho, ^ö, vlö gemäß sind (s. Be3rwls Reimregister) ; nur
ein einziges dö: sd 485 f., und dies kein Flickreim, da so in der
Frage steht. — Im auffälligsten Abstand von Gottfried bietet
Konrad Fleck nur 21: 8006 VV., d.i. 1:190 Rpp., SxdÖ:alsd,
alle andern Reime beherrscht durch fro, unfrd. — Auch der Dichter
der Guten Frau mit 12: 3058 VV., d.i. 1:127 Rpp. — wobei
kein do : so — entfernt sich weit von seinem Lehrer Hartmann. —
Gottfrieds Fortsetzer Ulrich vonTürheim: 11 : 3728 VV., d.i.
1:169 Rpp., 2x dö: also.
Bei dem Spruchdichter Freidank darf das Fehlen des dö
nicht Wunder nehmen, er hat 12 Fälle in ca. 4800 VV., d. i. 1 : 182 Rpp.,
davon 7 mit fro, 5 mit hö.
Spätere Epiker : beiKonradvonStoffeln find ich in Khulls
Text 14: 4172 VV., d. i. 1 : 149 Rpp., kein dö : so, im übrigen 13 X
fro :, 1 X hö :. Auch in den ca. 2000 Versen aus I oder D, welche
der Herausgeber in die Lesarten verwiesen hat, bleibt das Ver-
hältnis ähnlich und fehlt dö: so durchaus. — Noch spröder der
jüngere Friedrich von Schwaben: 14: 8064 VV., d.i. 1:288
1) Zu den von v. Kraus aufgezählten tritt noch 3757, wo Behaghel ohne
Nötigung doen (; toe) gegen das do aller Hss. eingesetzt hat.
418 Edward Schröder,
Rpp., alle bedingt durch /ro, also auch kein do: so! Aus Hugo
vonLangenstein hab ich zwei Proben mit recht verschiedenem
Ergebnis entnommen: V. 1 — 6000 mit sehr vielen (12) Fremd-
wörtern und Eigennamen im ßeim hat 22 o-Reime, d. i. 1 : 136 Rpp.,
V. 9001—12000, wo diese fortfallen, nur 3, also 1 : 500 Rpp. Der
Reim d6: so kommt in diesen 9000 Versen nur einmal vor: 31, 13 f.
— Reinfried von Braunschweig Y. 1—6000: 27, d.i. 1:167
Rpp., aber mit recht ungleichmäßiger Verteilung, sodaß auf V. 4001
— 6000 17 Fälle kommen, darunter 5 von den 7 dö: {al)s6. —
Walther von Rheinau, Buch II Bl. 49—101», 3000 Verse mit
15 Fällen, d. i. 1:100 Rpp.; 10 x do: {un)fr6j 5x dö: (al)sd. —
Egenolf von Staufenberg: 8:1174 VV., 1:73 Rpp., 3x
dö: also — und dem wieder entgegen vom Nordrand Schwabens
Johann von Würz bürg der in V. 1 — 6000 nur 9 o-Reime
bringt, 1:333 Rpp., 5 mit frö:^ 3 mit Fremdwörtern, ein dö: so
3425 f.
Jüngere Didaktiker : Heinrich von Beringen in V. 1 — 3000:
16 d. i. 1 : 94 Rpp. , aber darunter 7 mit fremden Eigennamen^
ein dö: also (1530f.). - Minnelehre 9:2250 VV., 1:142 Rpp.|
ein dö: also 499 f. — Konrad von Ammenhausen V. 1 — 3000:
25 d. i. 1 : 60 Rpp., gut die Hälfte (13) dö: {aT)sö. — Ulrich Boner
Nr. 1—56, 3000 VV. mit 31 Fällen, d.i. 1:48 Rpp.; Qx dÖ: (al)sÖ,
Mit diesen Dichtern des 14. Jahrhunderts und ihrer lässigen
Reimkunst haben wir den Zahlenstand Gottfrieds nicht nur wieder
erreicht, sondern überschritten. Übertroffen werden sie noch von
den Fortsetzern des Straßburger Parzival, in deren Sprache
freilich ä und ö bereits zusammengefallen sind: V. 3001 — 6000
ergeben zunächst 27 reine o-Reime (1 : 56 Rpp.) und davon 18 dö :
(al)sö, dazu noch 12 Kompromißreime d : o, also im ganzen 39, d. i.
1 : 38 Rpp. —
Von den Lyrikern hatReinmar d. A. in annähernd 2000
Versen 19 solche Reime, d. i. 1 : gut 100 Verse ; ein dö : so (185, 23 f.),
sonst steckt in allen frö, zweimal auf M reimend. — Ulrich
von Winterstetten, ca. 2220 VV. (mit vielen Binnenreimen),
12 O-Reime, d.i. 1:^00 Verse, sämtlich frö (unfrö): so (also). —
Gottfried von Neifen, rund 1800 Verse, 6 o-Reime (alle mit
frö), d.i. 1:300 Verse. — Hadlaub, 2220 Verse mit 23 Fällen,
also 1 : rund 100 Verse ; in 22 Reimen steckt frö (inkl. 1 unfrö), in
5 ho, dies immer :frö.
Keimstudien IL 419
Den Übergang von den Alemannen zu den Südfranken
stellen dar: Moriz von Craon: 8 auf 1784 VV., d. i. 1 : 124 Epp.,
7x frö: (unfrö), kein ho, kein dö: so, und Tristan als Mönch:
18 auf 2705 VV., d. i. 1 : 75 Rpp., kein ho, Sx dö: so. —
Auifallend gering ist die Zahl der o-Reime bei dem Hessen
HerbortvonFritzlar, sobald wir wenigstens die Fremdnamen
abziehen (Juno, Priamo, Frothesilao u. s. w.): mit ihnen enthalten
Y. 1—6000 30 o-Reime, d.i. 1:100 Rpp., ohne sie nur 10 d.i.
1 :300 Rpp., und das obwohl der Dichter flö{h): frö 2047 f. reimt,
ich also unbedenklich auch ho: enphlö 1785 hingenommen habe, dö
kommt in dieser Partie 7 X im o-Reim vor: 1848. 2422. 3339. 3399.
3970. 4899. 5243, aber nur einmal findet sich also: do 3969 f.;
Herbort hat diesen Reim also offenbar gemieden — dafür aber
verwendet er, anfangs zögernd, dann häufig das ihm gewiß nicht
eigene duo im Reim auf ^uo 701. 4251. 4600. 4724. 5525. 5683.
Hier liegt zweifellos Einfluß mittelfränkischer Dichtung vor, und
gewiß nicht nur von Seiten Veldekes. — Nach Hessen setzt man
auch den Athis, der in 1570 Versen der erhaltenen Fragmente
keinen o-Reim aufweist, und Ottes Eraclius mit 14 auf 5392
Verse, d.i. 1 : 192 Rpp.; 9 werden durch frö getragen, 3 durch
Fremdwörter, einmal steht ho (:strö) im Reim 2199 und einmal
dö : so 4201 f., wo aber so die Frage schließt, also kein Flickreim
vorliegt, duo: fehlt hier wie bei dem folgenden.
Aus dem Ende des Jahrhunderts hat die E 1 i s a b e t h in 10534
Versen 33 Fälle, also 1: 160 Rpp,, 9 mit Fremdwörtern, 3 mit hö:
(immer Adjektiv, und daneben 3x hoch:), Qx dö: also] frö ist
14 X Reimträger, je 2 x mit hö und mit Fremdwörtern gebunden.
— Fast doppelt so stark ist die Zahl in der Erlösung: 37 auf
6593 VV., d.i. 1 auf 89 Rpp.; dabei ist der Reim herbeigeführt
15 X durch frö, 7x durch hö, 12 x durch Fremdwörter; bis über
V. 4000 hinaus sind diese drei Gfruppen alleinherrschend, dann
taucht im letzten Drittel der Flickreim iedö : also auf (4428 f.
4652 f. 5014f.). — In Marien Himmelfahrt (Zs. f. d. Alt. 5)
haben wir 14 : 1844 Verse, 1 : 66 Rpp. ; 12 sind durch frö, je einer
durch h6{: deo 1454 f.) und durch ein Fremdwort {Effeso : also 747 f.)
bedingt; kein dö: so.
Von den Thüringern hat Ebernand von Erfurt nur
18:4752 VV., d.i. 1:132 Rpp., obwohl er hÖ : fast so oft (6x)
im Reime verwendet wie frö (7x); ein einziges dö: also (349 f.).
Bei Heinrich von Kröllwitz (4889 VV.) liegen die Verhält-
nisse noch einfacher: 7x reimt hö: also {so), 3x frö: also, dem-
nach nur 1:244 Rpp.; kein dö: (al)sö, — Der Meißner Hein-
420 Edward Schröder,
rieh von Mtigeln hat in der Meide Kranz bei 2592 ausschließ-
lich stumpfen Reimen nur 7 o-Reime mit Fremdwörtern und außer-
dem hö : ivö 83 f. — also überhaupt keines der altgewohnten Reim-
paare, vor allem auch kein dö: so.
Der Lyriker Heinrich vonMorungen hat in rund 900 YV.
6 o-Reime, d.i. 1 auf 150 Verse, wobei je ein Binnenreim, ein
Dreireim und ein Vierreim, fro (5 x) und hö (4 x) sind Reim-
träger, dazu kommt Ix dö: also 130,21/24.
Ich mache einen Abstecher nach Norden. Von den Nieder-
sachsen hat Albrecht von Haiberstadt in den 424 Versen
der alten Fragmente 2x vro(iinvro): d.i. 1 : 106 Rpp. — Eilard
von Oberg in der Überlieferung der Fragmente (wozu jetzt
Fragm. X Pßßeitr. 41, 513 ff. tritt) von echten o-Reimen 4 : 1070 VV.,
d. i. 1 : 134 Rpp. ; sie kehren sämtlich im Jüngern Text wieder :
vrö: dö X136f. = L. 7199 f. X276f. = L. 7343 f. X438f. =
L. 7501 f., dazu ^w6: dö VIII 34 f. = L. 3061 f. Während ein Reim
dö: so fehlt, kommt dö im Reim auf vro = vriio III 50 = 1778
und auf darsu X337 = L. 7404 vor, ohne daß eine Entscheidung
möglich ist, ob hier eine heimatliche Bindung :-ö oder aber litte-
rarischer Einfluß vom Rheine : -uo vorliegt. In Lichtensteins Text
fallen auf V. 1—3000 14 echte o-Reime, d. i. 1 : 107 Rpp., wovon
4x dö: so. — Berthold von Holle hat nur 13 Fälle auf den
ganzen Demantin (11760 VV.), d. i. 1 : 452 VV., also auffälligste
Zurückhaltung : kein dö : so ! Reimträger ist 10 x frö, Sx hö, zur
Füllung dient 10 x dö, Sx {al)sö ; es ist mithin keine Abneigung
gegen (?o an sich vorhanden. — Brun von Schönebeck V. 1 — 3177^)
ergibt 17 hochdeutsche o-Reime und dazu 4, in denen ßö = zuo
auf ö gebunden wird, im ganzen 1 : 71 Rpp., darunter 2 x dö: (al)sö.
— In der Braun seh weigis che n Reimchronik kommen auf
V. 1 — 3000 zwar 11 reine o-Reime, aber davon sind 10 durch
Namen herbeigeführt, dazu nur das eine vro: dho 1912 f.
Bei dem Schlesier Johann von Frankenstein ist be-
reits der Zusammenfall des -ä mit -o vollzogen, der auch vor dem
Latein nicht Halt macht : so : pascJia 389 f. 1193 f. : materia 3835 f.
Rechnet man zu den reinen o-Reimen die Bindungen zwischen
'ä: -0 hinzu, so ergeben sich 36: 1—6000, d.i. 1:83 Rpp., 13 X
dö: so, wovon aber der erste Beleg 2905 f. — Der ärgste Reim-
stümper ist der Verfasser von Ludwigs Kreuzfahrt, wobei
1) das sind 3000 deutsche Verse, nach Abzug der lateinischen Zeüen.
Reimstudien II. 421
freilich die vielen Namensformen auf -o einwirken: in den ersten
1000 Versen sind es 33 Fälle , d. i. 1 : 15 Reimpaare ! (davon 7
dö : (al)sÖ), in V. 1 -3000 ^) ; 68, d. i. 1 : 22 Rpp.
Aus der Deutschordenslitteratur hab ich zunächst vom
Passional Buch I V. 1—3000 (Hahn 1 — 33,'63) and dann noch
3000 Verse aus dem III. Buch (Köpke 53—84,78) geprüft: ich
fand dort 17, hier 27 Fälle, wobei die größere Anzahl der Fremd-
wörter (dort 7, hier 14) mitwirkt — im ganzen 44 : 6000 d. i.
1 : 68 Reimpaare^) — aber nur einmal dö: also (Köpke 71, 5 f.). —
Sodann Heinrichvongesler, Evangelium Nicodemi: 5392 VV.
mit 10 Fällen, d. i. 1 : 270 Rpp., ein also : dö 49 f., also ganz am
Eingang, während dö als Reimfüllsel noch 5x erscheint; littera-
rischer Reim ist daneben vriio: dö 2645 f. (s. Helm s. XL VI).
Die Wanderung durch die deutsche Litteratur, die uns vom Elsaß
bis nach Westpreußen, von den Alpen bis zum niedersächsischen
Tiefland geführt hat, umspannte nur die Zeit von etwa 1180
bis 1350 — hier mußte sie Halt machen, weil mit der wach-
senden Vermischung von ä und 6, die insbesondere da und dö
betrifft, neue und für die Beurteilung schwierige Verhältnisse ein-
treten.
Wenn wir beim Eintritt in die Blütezeit, speziell bei Gottfried
von Straßburg, den ö-Reim stark entwickelt und in reicher Ver-
wendung antreffen wie etwas selbstverständliches, so liegt es, da
in ihm doch keinerlei jüngere Formen zu Tage treten können,
nahe, ihm ein hohes Alter und eine lange Tradition zuzuschreiben.
Die Betrachtung der vorausliegenden Zeit, der drei Jahrhunderte
von Otfried bis zum Anbruch der mhd. Blüteperiode erweist das
Gegenteil und stellt neue Fragen, die wir nicht ohne weiteres be-
antworten können.
Unter den 7426 'Versen' d. i. Reimpaaren Otfrids finden
sich rund 530 auf -o, d. i. 1 : 14 Rpp., das sind aber zu fast 95 °/o
Bindungen von tieftonigera -o beiderseits, sodaß für unsere Betrach-
tung streng genommen nur 6 (1 : 1238 Rpp.) und allenfalls 27 Fälle
(1 : 275 Rpp.) übrig bleiben, nämlich
frö: thö 5 x: (I 2, 9. II 8, 9. III 2, 29. 20, 174. [unfrö] V 15, 30).
frö: so Ix (Vll,28).
1) resp. 3004 in y. d. Hagens falschen Zählung.
2) wie im Erec.
422 Edward Schröder,
thö: -0 8 X {lirlolgono 14, 56. ; eino II 14, 13. iredino II 14, 35^
gidougno III 15, 35. Judono III 23, 27. Y 11, 1. :Mmo
III 24, 50. ; ferro IV 18, 1).
sö:-o 13 X {: gewisso 10 x, s. Ingenbleck S. 83. '.ivasso 11,84.
; egiso V 4, 22. 39).
Resultate : /"ro, das einzige Vollwort auf -o, reimt auf die Partikeln
thö und so, aber niemals auf tieftoniges -o; diese Partikeln findet
man nie unter sich gereimt; im Reim auf -o scheinen sie derart
beschränkt, daß so nur auf -so gebunden wird, thö nur auf -nb^
-mb, -rb (-Ib mag zufällig fehlen); so erscheinen alle Zahlen über-
raschend niedrig.
Bei den kleinern ahd. Denkmälern "zu verweilen, lohnt sich
nicht. Ich will gleich erwähnen, daß in unserer Überlieferung das
letzte Beispiel für die ahd. Reimtechnik die Exodus (spätestens
1120) mit dem einen Reim dö : erchomenlicho 543 f. bietet. Bei
Ezzo (1064) haben wir duo: brunno 15, 10; 0uo: eino 3, 10. -.geloiibo
29,8; im Lob Salomonis (ed. Waag) außer scöno: Lyhano 151 f.
Lyhano : dö 107 f. und vrö : eingilo 213 f., im Nabuchodonosor
Äbdenago : dö 37 f.
Die Reimtechnik der Wiener Genesis (Fundgruben II) ist
noch durchaus althochdeutsch, aber im einzelnen von Otfrid gründ-
lich verschieden. Vollwörter reimen zunächst untereinander, aber
naturgemäß selten : unvrö ; drö 40, 71. ; strö 46, 10, dann die Par-
tikeln ; dö : also 42, 4. : so 62, 44. Weiter reimt dann vrö: ant-
wurto 34,41. : worto 37,41. : undurfto 43,13. ihelido 70,4; geheiszo
37, 17, also nur auf Gren. Plur. ; dö hingegen außer : lieho 32, 4.
'.brunno 32,35. : rehto 39,41. : worto 45,45 auch auf mute 40,17.
48, 5. 68, 10. ; unmüte 51, 6. : liute 74, 20 und namentlich 9x auf Ad-
verbien mit -Z«o 20, 4. 39,28.38. 48,34.40. 53,18.31. 57,43. 64,32.
Der Form dö steht aber die der Heimatsprache der Dichtung ge-
mäße Form duo: zuo gegenüber 11,27. 19,1. 22,4. 37,9.38,7.
39, 24. 43, 31. 44, 3. 49, 9. 15. 63, 2. 66, 10, und anderseits reimt
auch ^uo : -0 sowohl als : -b: vrö {unvrö) : suo 38,41. 57, 39; Fharao:
2U0 61,19; <so: fröUcho 71,17 u.a. Gegenüber dem häufigen und
geschmeidigen dö-duo, das ich im ganzen 37 x im Reime gezählt
habe, wird {al)sö gemieden; von den beiden Reimen auf dö (s. o.)
scheint der eine (42,4) als Dreireim dö: also: gerno aufzufassen.
Die Praxis ist keineswegs in allen Teilen der Dichtung gleich: in
den ersten Partieen fehlen die Reime -o; -ö ebensogut wie die
Reime -ö: -o; ich mag aber hier auf die Verfasserfrage nicht ein-
gehen, obwohl ich sie keineswegs für gelöst halte.
Die Milstäter Bearbeitung hat Anstoß genommen an den
Reimstudien II. 423
Reimen vrö : geJieiz^o, : undurfto, : helido (die bei Otfrid ganz fehlen)
und hier in vro: dö geändert, ohne aber konsequent zu verfahren.
Ziehen wir die Reime mit tieftonigem -o ab, so bleiben in den
6063 Versen der Genesis nur 4 Fälle, d. i. 1 : 758 Rpp. Mit diesem
Eindruck treten wir ins 12. Jh. und in die mittelhochdeutsche
Litteratur ein, und er findet hier seine Fortsetzung und Bestäti-
gung.
Die Gründe dafür liegen klar zu Tage: 1) fro ist, wie schon
früher bemerkt wurde, ein Reimwort, das erst durch die Lyrik
zu häufigem Brauche kam und dem Gedächtnis der Dichter dann
allzeit bereit lag, die übrigen Vollwörter {strö, drö, zwo) kommen
naturgemäß noch weit seltener zur Verwendung, M ist landschaft-
lich beschränkt und findet erst später litterarische Verbreitung;
2) die Formwörter db und {al)s6 werden zunächst wie bei Otfrid
und in der Genesis im Reime von Dichtern, die etwas auf sich
halten, gemieden; 3) dö ist obendrein für die Bayern und Mittel-
franken als duo kein Reimträger und nur allenfalls Reimfüllsel
für den o-Reim; 4) so bleiben vorwiegend die lateinischen Wort-
formen und Eigennamen als Träger übrig, die besonders bei den
Dichtern der Übergangszeit und bei den geistlichen Dichtern auch
weiterhin (wie wir schon gesehen haben) den o-Reim fordern und
anziehen, sei es daß sie untereinander reimen oder mit dö, so
(selten vrö) gebunden werden.
Indem ich Gedichte, die weniger als 250 Verse haben, über-
geh, geb ich nun eine Übersicht zunächst über die geistliche
Dichtung.
Ohne jeden echten o-Reim bleiben das Anno -Lied (876 VV.),
das mittelfränkische Legendär (764 VV.) '), die Gedichte
vom Recht (549 VV.) und von der Hochzeit (1088 VV.), das
Himmlische Jerusalem (473 VV.), die Vorauer Sünden-
klage (858 VV.), der ganze Heinrich von Melk (1788 VV.);
ferner die Gedichte d^r Ava (ed. Piper) in der Vorauer Hs.
(2942 VV.) ^) ; im Johannes der Görlitzer Hs. begegnet freilich 429 f.
ein frö : dö, das aber zweifellos dem Bearbeiter gehört, sodaß also
für die sämtlichen 3388 Verse kein o-Reim übrig bliebe ; du reimt
ausschließlich auf zu und dieses wieder auf Fremdwörter (: Jericho
679 f. : meditacio 2381 f.) ; während dö ganz fehlt, haben wir du : zu
Jesus 849 f. 1031 f. 1039 f. 1471 f. 1523 f.
1) unreine Reime Petrö: zö (= zuo) 207 f., gez6{h): sco (= scuoh) 676 f.
2) wobei ich ratio : meditatio im Jüngst. Gericht 331 f. nicht als o-Reim
ansehe.
A24: Edward Schröder,
Die Litanei S (1468 VV.) liat zweimal frö im Reim auf
Fremdwörter (: virgo 1035. : Magdalo 1097), der Linz er Ente-
christ (1188 VV.) ebenso also {: discessio 109,28) resp. so {: facio
134, 22) und dazu einmal Reim von Fremdwörtern unter sicli (evan-
gelio: agro 24, 13f.); Arnold in der Siebenzahl (1044 VV.) im
Reim auf Fremdwörter 3 x so (336, 18. 346, 7. 379, 9) und je 1 x vrö
(349,11) und dö (349,23)^).
In der Exodus (3316 VV.) reimen Vollwörter drö: unvro
1821 f., Formwörter dd:sö 1517 f., ein Fremdwort Jetro : dö 377 f.,
die Endung dö : erchomenlicho 543 f. ; diesen drei Beispielen mit dö
als Notbehelf steht sechsmaliges diio: ^uo gegenüber 245 f. 1569 f.
1793 f. 2301 f. 2359 f. 2427 f. — In der etwa gleichzeitigen jun-
gem Judith (1820 VV.) werden drei Reime durch ein Fremd-
wort bedingt : dö : Jericho 141, 1. : mirto 161, 8 f. ; also ; Carmelo
132, 6; dazu tritt frö: dö 170, 4 und anderseits du: m 133, 5t. 27 f.
— Fünfzig Jahre nachher noch hat Werners Marienleben
(Berliner Hs. ca. 5280 VV.) auf Fremdwörter 5 Reime von also
(; Leucio 149, 34) resp. dö (: templo 164, 17. : Jericho 166, 40. : concilio
188, 4. ; deo 199, 7) und daneben ein frö : dö 155, 16, so: frö 205, 32;
und \Yenig später das Anegenge^) (3240 VV.) zwar ein dö: virago
16, 18 f., ein dö: frö 24, 43 f., aber daneben 11 X den bayrischen
Reim duo: 2uo.
Auch die mitteldeutschen Dichter der Zeit von 1150 bis
1175 bieten kein wesentlich anderes Bild, obwohl man hier doch
den Abfall des h in hö{h)^ zöQi), (vlö(li) erwarten darf und in der
Tat auch findet. Der rheinische Tundalus (505 VV.), für
den duo : zuo 108 f. 324 f. die gegebene Bindung ist , hat darüber
hinaus nur zöQi): angelo 128 f. :unvrö 395 f. — Der wilde Mann
(im ganzen 1584 VV.) hat nur drei Reime mit vrö (imvrö): hö
Christi. Lehre 135 f.; : Syon Ver. 307 f. 475 f.; bei Werner vom
Niederrhein (690 VV.) haben wir nur also: hö 131 f. — Werner
von Elmendorf (1200 VV.) meidet ebenso dö im Reim und be-
schränkt sich auf also: frö 430 f., hö : Cicero 713 f.
Ein eigenes Interesse bietet für uns, was dem Scharfblick
Bruchs entgangen ist, HartmannsCredo (3800' V V.). Es gewährt
nur einen einzigen reindeutschen o-Reim, der übrigens in der Hs.
entstellt ist, ohne daß man bisher daran Anstoß genommen hat,
1) Auch der Milstäter Physiologus, unbedingt die elendeste Reimerei
der altdeutschen Litteratur (ca. 1220 Verse), hat nur 4 Beispiele von o-Reim mit
so : Fremdwort.
2) aus dem wir oben s. 407 den Reim dö : also 3, 35 f. beseitigt haben.
Reimstudien 11. 425
denn Y. 2801 f. ist natürlicli zu lesen iveder sus noch so — du ne-
weist seihe ivo (st. sivo,' das im Fragesatz jeder Art undenkbar
ist) ^). Dazu treten dann 9 Reime mit Fremdwörtern : 3 x
binden solche untereinander (387 f. 2101 f. 8627 f.), A:X : also (596.
792. 2347. 2688), 2x :fr6 (1317. 2779). Es fehlt also voll-
ständig do im Versausgang, dagegen steht duo : zuo 1880 f. 2750 f. ;
: getuo{n) 579 f. : tuo(ri) 2252 f. — das widerspricht den thüringischen
Dichtern, stimmt aber aufs beste zu Heinrich von Veldeke und
den Mittel franken.
Granz besonders merkwürdig ist der König Rother: er ent-
hält in 5200 Versen der Heidelberger Hs. keinen einzigen o-
Reim, und auch das in ihm zu erwartende duo : 2uo erscheint
nur ein einziges Mal ganz gegen Ende des Werkes, V. 5146 f.
Allerdings zeigt der Dichter überhaupt eine merkwürdige Abnei-
gung gegen die Versausgänge auf Langvokal : ich zähle nur 2 x
-a, 3 X -e, 2 X -^, 2 x -ie, 2 x -uo^ und dazu noch höchstens 13
Fälle mit überschießenden Konsonanten (w, r, t) auf einer Seite.
Für die Frage nach der Überlieferung des Gedichtes sind diese
Beobachtungen keineswegs gleichgiltig : ich bin längst zu der Über-
zeugung gelangt, daß es zwar stark interpoliert ist, aber immer
durch den Autor selbst.
Für den Vorauer Alexander hat Zwierzina die rich-
tige Bemerkung gemacht, daß im Versausgang 'eine gewisse Ab-
neigung gegen die Verwendung einsilbiger Partikeln, Pronomina,
Adverbien bestehe, die hingegen der Straßburger Bearbeiter sicht-
lich bevorzuge (Verhandl. d. Straßb. Phil.-Vers. 1901, S. 133, s. jetzt
die Dissertation von J. Kuhnt S. 59). Für unseren Beobachtungs-
ausschnitt will das besagen, daß in den 1533 Versen nur 2 X
also : {un)frd 503 f. 1003 f. und dann 2 x duo : 0uo 437 f. 953 f.
vorkommt ^) : diesen Bestand hat S in dem entsprechenden Ab-
schnitt um 5 X do : Fremdwort {Nicoiao, Dario, Alexandro) 762 f.
1557 f. 1643 f. 1651 f. 1673 f. (und 2x ^uo: Fremdwort -o 1781 f.
2011 f.) vermehrt, sodaß das Verhältnis bei ihm im ersten Teil
9 : 2037 d. i. 1:113 Rpp. wird ; und dem entspricht nun auch die
Fortsetzung des Straß burger Alexanders , in dem ich bei
5265 Versen 31 reine o-Reime d.i. 1:85 Rpp., zähle, d.h. bei
diesem Dichter begegnen wir zuerst einer Praxis, die sich der der
1) Dies wo 'wie' (as. hwö, mnd. ivo, ahd. hwuo, wuo) ist in mhd. Quellen
ziemlich selten und auf Mitteldeutschland beschränkt, z. B. Floyris V. 252.
2) Die inzwischen aufgefundenen Tobias -Fragmente Lamprechts (274 VV.)
bieten nur den Reim also: hö 211 f.
426 Edward Schröder,
höfischen Epikern zu nähern scheint, von welcher unsere Betrach-
tungen ausgingen. Die Sichtung der Reime ergibt allerdings :
8 X Fremdwort : Fremdwort {Alexandro : Dario u. ä.), 2 x dö : BariOj
6 X dö : Alexandro, 2 x so : Alexandro, 3 X frö : Candaulo , sodaß
nur 10 Fälle ohne Fremdwort übrig bleiben, getragen 6 x durch
{im)frÖ (: also 3316 f. 5283 f. ; : dÖ 3204 f. 5391 f. 6281 f. 6583 f.) ; weiter
durch h6{h) {lalsö 6101 f. :dö 6465 f. -AmfrÖ 6853 f.), flö{li) (idö 5379 f.).
dö :{al)sd wird auch hier gemieden, und anderseits reimt diio: fruo
6079 f., :^uo 3184 f. 3490 f. 4744 f. 5055 f., 5713 f., allerdings auch
0uo: Alexandro 2045 f., Dario 2968 f. 3768 f., ja :frd 2167 f.
Dem moselfränkischen Pfaffen Lambrecht und seinem rhein-
fränkischen Fortse^tzer stell ich den Pfaffen Konrad von
Regensburg gegenüber, zunächst mit dem Rolandslied, das
die einfachsten Verhältnisse aufweist. In 9094 VV. haben wir
hier nur 11 reine ö- Reime, d. i. nur 1 : 413 Rpp. 1 x reimen Eigen-
namen untereinander AUo : Ivo 116, 12 f., 2x steht ein Fremdwort
im Reim deo: frÖ 187, 2 f. 243, 22 f. ^); 3x frÖ: dÖ 64:, Ul 90, 23 f.
122, 22 f. 129, 5 f. ; 2 x drö : dÖ 53, 9 f. 150, li.) 2x dÖ : so 132, 17 f.
242, 27 f.
In der Kaiserchronik stand der gleiche Dichter einem
Quellenmaterial gegenüber, das sich aus deutscher Dichtung und
lateinischer Prosa zusammensetzte, und bei der langjährigen Arbeit
und unter wechselnden Einflüssen unterlag seine Praxis deutlichen
Verschiebungen. Man kann also unmöglich die Gesamtverhält-
nisse (74 ö-Reime auf 17240 VV. d. i. 1 : 115 Rpp.) mit denen des
Rolandsliedes vergleichen, auch nicht nach Abzug der Reime mit
lateinischen Namensformen^ die mehr als die Hälfte (38) der Fälle
ergeben^) und zu denen das aus dem Französischen übersetzte
Rolandslied keinen Anlaß gab. Die grammat. Reimbedingungen
sind dieselben, d.h. es fehlen Wörter mit A- Abfall: f'röidö 19 X,
:{aT)sö 3x; drö: unfrö 2x, sodann döisöV^x, aber in höchst
ungleichmäßiger Verteilung: — 1732 f. 2192 f.
9209 f. 9442 f. 9448 f. 9542 f. 10343 f. 10730 f. 11286f. — 13257f. —
15988 f. — 17230 f.; man beachte, daß nach 2192 f. auf über 7000
Verse kein einziges Beispiel fällt, und das ist gerade auch eine
der Partieen, in denen der Anteil Konrads am wenigsten gemischt
1) Man erwartet so etwas öfter nach der Angabe des Dichters, daß er den
französischen Text zunächst ins Latein übertragen habe — auch sonst hab ich
zur Bestätigung dieser Aussage niemals einen Anhalt gefunden.
2) es würden dann 1 : 240 Rpp. herauskommen.
Reimstudien IL 427
erscheint '). Anderseits sind aber doch auch fremde Bestandteile
der großen Komposition arm an o- Reimen : so hat die Crescentia
(V. 11352 — 12808) nur einen einzigen: unfrö: drö 12199 f. und dazu
6 unreine Reime iio : 6 {friw. dö 11974 f.; ^uo: dö 11827 f.; :s6
11396 f. 12024 f. 12665 f.; : drÖ 12214 f.).
Wie die Reime mit dö, bes. auch dö: so, so sind in der Kaiser-
chronik auch die bayrischen Reime dtw: suo, fruo, die das Rolands-
lied noch zu meiden scheint^), zahlreicher.
Jedenfalls nähern wir uns mit der Kaiserchronik und noch
mehr freilich mit dem Straßburger Alexander den Verhältnissen,
wie wir sie in der höfischen Epik der Blütezeit vorfanden.
So treffen wir denn auch in den epischen Dichtungen der 70 er
und 80 er Jahre regelmäßig vorgeschrittene Verhältniszahlen, die
ich hier noch rasch anführe: Graf Rudolf (ca. 1400 Verse)
8 Belege d.i. 1 : 88 Rpp., alle mit {un)frö: dö 6x, ; so 2 x. —
Trierer Aegidius (1720 VV.) 7 Fälle d.i. 1:123 Rpp., aus-
schließlich {un)fr6 : dö — im merkwürdigen Gegensatz zu dem
Floyris (368 VV.) der gleichen Herkunft, der nur diio im Reime
kennt (11 f. 146 f. 212 f. 273 f.) und sonst keinen o-Reim hat. — Der
alte Reinhart (690 VV): 4 o-Reime, d.i. 1 : 86 Rpp., nämlich
{un)frÖ: hö 797 f. 1795 f. :sÖ 1665 f.; oho: so 155b f. — Die Frag-
mente des Herzog Ernst (400 V V.) : Frgm. A II 60 f. unfrö : dö,
Könneckes Fragm. Bl. 2 vrö ; dö ^), also 1 : 100 Rpp. — Schließlich
der Pilatus (445f.): Äo;a/5d 41 f. : Payno 2911'-, ; Tyro : also 107 1,
also 1 : 74 Rpp.
So deutlich nun auch die Zunahme der o-Reime im ganzen
ist, merkwürdig bleibt noch immer die unzweifelhafte Meidung des
Reimes dö : {aT)sö. Daß er vorhanden war und bequem lag, zeigt
ein Stümper wie der Pfaffe Adelbrecht um die Mitte des Jahr-
hunderts, der ihn in 267 VV. der erhaltenen Fragmente seines
Johannes Baptista gleich zweimal anwendet : 43 f. 79 f. Aber sonst
haben wir ihn in der ganzen frühmittelhochdeutschen Litteratur vor
Hartmann von Aue zunächst nur verschwindend selten gefunden,
nämlich in der Genesis 2 X, Exodus 1 X, Rolandslied 2 X, Kaiser-
1) Der umfassende persönliche Anteil Konrads an der Kaiserchronik wird
durch die Verschiebungen im Reimgebrauch ebensowenig erschüttert wie durch
die ganz äußerliche Wortliste Leitzmanns Beitr. 43, 28 ff. , die gleich höchst un-
glücklich beginnt mit ageleize: das fehlt freilich im Rolandslied und steht in der
Kaiserchronik "5 mal — aber 4 mal in der Crescentia und dann noch einmal
1000 Verse später!
2) aus dem Gedächtnis — der betr. Notizenzettel ist mir abhanden gekommen.
3 was schon gegen Mittelfranken als Heimat zu sprechen scheint.
428 Edward Schröder, ßeimstudien IL
Chronik 12 X. Man erinnere sich, daß er in umfangreichen "Werken
(von über 5000 Versen) ganz fehlte: im Rother nm 1150, in Werners
Marienleben 1172, im Straßburger Alexander um dieselbe Zeit,
daß ihn Veldeke (wie überhaupt das dö im Reime) gemieden hat,
— daß ihn aber anderseits ein kümmerlicher Reimschmied auf
engem Räume zweimal verwendet. Und an dieser Bindung, die
wenig Tradition und gar keinen Adel hat, nehmen die großen
Künstler der Blütezeit keinen Anstoß, ja Gottfried von Straßburg
erhebt sie zu einem seiner Lieblingsreime.
Jatakastudien.
Von
H. Oldenlberg.
Vorgelegt in der Sitzung vom 7. Februar 1919.
1. Zur Verteilung von Prosa und Versen in den Jätakas.
Frühere Untersuchungen, insonderheit über die Entwicklung
der buddhistischen kanonischen Literatur und über die prosaisch-
poetische Form der Erzählung, haben mir wiederholt Grelegenheit
gegeben, mich mit der Kunstform und dem Stil der Jätakas zu
beschäftigen ^). Indem ich hier auf diese Erzählungen zurückkomme,
möchte ich versuchen, ihnen nach einigen Richtungen bestimmtere
Aufschlüsse, als bis jetzt erreicht sind, über die Geschichte der
älteren indischen Erzählungskunst abzugewinnen. Wir haben hier
einen recht ausgeprägten Stil vor uns, den zu beschreiben und
dessen so zu sagen kunstgeschichtliches Verhältnis zu dem in den
großen Epen herrschenden Stil festzustellen mir eine lohnende
Aufgabe scheint.
Ich beschäftige mich zunächst mit dem Verhältnis von Prosa
und Versen in den Jätakas^).
1) Ich verweise auf meine „Litteratur des alten Indien" 103 ff. (wo, wie ich
jetzt glaube, die Authentizität der vom Kommentar gegebenen Prosaerzählungen
überschätzt ist) ; weiter NGGW. 1911, 441 ff. ; 1912, 183 ff. 214 ff. ; „Zur Geschichte
der altindischen Prosa" 79 ft\
2) Eine wünschenswerte, gegenwärtig aber aus naheliegenden Gründen mir
unausführbare Vorarbeit würde hier sein, den Umfang des Versbestandes, wie er
in den allein die kanonischen Verse enthaltenden Handschriften erscheint (vgl.
NGGW. 1911, 447 f.), genau festzustellen. Daß im Text, den FausböU veröf-
fentlicht hat, viele jenem Bestand nicht zugehörige Verse erscheinen, ist zAveifel-
los. Beispielsweise ist es vollkommen klar, daß Nr. 547 v. 627. 628 (Bd. VI, 570)^
Kgl. Oes. d. Wiss. Nachrichten. Phil.-hist. Klasse. 1918. Heft 4. 29
430 H. Oldenberg,
Ein Ergebnis früherer Untersuchungen, das ich erneuter Er-
örterung nicht für bedürftig halte ^), ist, daß in Indien der rein
metrischen Form des Erzählens eine andre voranging, die bei pro-
saischer Grrundlage zu bald spärlicherer bald reichlicher Einfügung
von Versen neigte. Eine der vielen Fragen nun, über die uns das
so unerschöpflich bedeutsame Jätakabuch Belehrung gibt, scheint
mir die nach dem Übergang von jener älteren Erzählungsform zur
rein metrischen zu sein. Das Jätaka veranschaulicht schön das
schrittweise Vordringen des metrischen Elements : wobei kaum
ausdrücklich bemerkt zu werden braucht, daß — wie ja oft in
analogen Fällen — zu dem hier aufzustellenden idealen Entwick-
lungsschema die tatsäcblichen Altersverhältnisse der in Frage kom-
menden Texte im Einzelnen keineswegs überall zu stimmen brauchen.
Bekanntlich sind die in die Prosa eingelegten Verse älterer
indischer Erzählungen überwiegend Reden auftretender Personen.
Die Entwicklung des Ganzen zur rein metrischen Form aber voll-
zieht sich, indem sich neben diesen Reden auch die Erzählung der
Begebenheiten immer mehr in Versform kleidet. Daher soll im
Folgenden vorzugsweise von den Jätakaversen erzählenden und
verwandten Inhalts die Rede sein, das Anwachsen ihrer Geltung
durch eine Reihe von Typen hindurch beschrieben werden.
Diese Typen zu veranschaulichen wähle ich vorzugsweise Ja-
takas mit einer größeren Anzahl von Versen^), wie sie in den
von Fausb. als Textverse gezählt und in der englischen Übersetzung mit den
vorangehenden Versen als ihnen gleichberechtigt zusammengeschlossen, nicht in
den Text gehören, sondern vom Kommentar als Parallele zu jenem aus dem Ca-
riyäpit. (I, 9, 52. 53) angeführt sind.
1) Ich daif aber wohl glauben, daß, wenn es im Folgenden gelingen sollte,
auf jenem Fundament haltbare weitere Bauten aufzuführen, dies eine neue, frei-
lich m. E. kaum mehr erforderliche Bestätigung dafür bringen wird, daß das
Fundament richtig gelegt war. — Hier bemerke ich noch, daß bei der Unter-
suchung über das Verhältnis von Prosa und Versen selbstverständlich das Kunä-
lajätaka (Nr. 536), das eine eigenartige Sonderstellung einnimmt (NGGW. 1911,
448 A. 1), unberücksichtigt gelassen -ist.
2) Ich werde mehrfach davon zu sprechen haben, daß entgegen einer ver-
breiteten Ansicht nicht nur die für Buddha in der Vergangenheit liegenden Haupt-
erzählungen, sondern auch die jedesmal dazu gehörigen Rahmenerzählungen aus
seiner eigenen Zeit einen wesentlichen Bestandteil der einzelnen Jätakas bilden.
Es bedarf wohl nicht der Rechtfertigung, wenn ich im Folgenden trotzdem der
Einfachheit wegen, sofern nicht ausdrücklich auf die Rahmenerzählung Bezug
genommen wird, immer nur die Haupterzählung kurzweg als das und das Jätaka
bezeichne. — Weiter ist es nicht überflüssig daran zu erinnern, daß den viel-
versigen Jätakas, mit denen wir es überwiegend zu tun haben werden, als große
Mehrzahl die mit nur wenigen Versen gegenüberstehen : über die Hälfte aller Jä-
takas enthalten nur 1—3 Verse.
Jätakastudien. 431
drei letzten Bänden Fausbölls enthalten sind: da ist am besten
die Möglichkeit gegeben, daß sich die erzählenden Verse gegenüber
den Redeversen in der ihnen eignen Rolle anschaulich abheben.
Mit einer Häufigkeit nun, die über die typische Natur der betref-
fenden Erscheinung keinen Zweifel läßt, treten da Fälle wie die
folgenden auf.
Yuvanjayajätaka (Nr. 460). Der Königssohn Yuvaojaya
wünscht Asket zu werden. In zehn Versen Grespräch zwischen
ihm und seinen Eltern, die seinem Entschluß widerstreben ^) ; Klagen,
wie es scheint, seiner Mutter. Zum Schluß ein elfter Vers: „Beide
Jünglinge wurden zu Asketen, Yuvafijaya und Yudhitthilaj Mutter
und Vater verlassend, des Todes Band zerreißend". Vom zweiten
dieser beiden zeigen die vorangehenden Verse, die immer nur Yu-
vafijaya nennen, keine Spur. Die Prosa muß berichtet haben, wie
der uns vorliegende Kommentar in der Tat tut, daß noch ein
Jüngling sich jenem anschloß. Man empfängt, freilich nicht mit
unbedingter Sicherheit (oder wird es durch v. 10 bewiesen?), den
Eindruck, daß das Resultat, die xmhhajjä der beiden, nicht erst in
diesem Vers berichtet wird. Sondern davon wird die Prosa er-
zählt haben; der Vers faßt nur noch einmal das Ergebnis zusam-
men, feiert es gleichsam.
Mahämorajätaka (Nr. 491). Der Jäger hat den Pfauen-
könig gefangen. 16 Verse, Gespräch beider : dem Jäger wird Er-
kenntnis zuteil; er gibt allen gefangenen Vögeln die Freiheit.
Dahinter Schlußvers: „Der Jäger ging mit der Schlinge im Walde
den herrlichen Pfauenkönig zu fangen. Als er den herrlichen
Pfauenkönig gefangen hatte, wurde er (selbst) vom Leid erlöst
wie ich erlöst bin" ^). Auch hier abschließende, verherrlichende
Zusammenfassung.
Samkhajätaka (Nr. 442). Ein Wohltäter hat einem hei-
ligen Mann Schuhe geschenkt. Zum Lohn nimmt sich , wie er
Schiffbruch leidet, eine Göttin seiner an. Reden in neun Versen
von ihm, seinem Diener, der rettenden Göttin. Zehnter Vers zum
1) Wenn die Überlieferung den vierten Vers nur zur zweiten Hälfte diesem
Gespräch zurechnet, die erste Hälfte aber als Erzählung auffaßt, ist das irrig;
der ganze Vers ist Rede des Vaters.
2) Statt xmmuncl scheint mir pamuccl zu lesen (anders M. und W. Geiger,
Die zweite Dekade der Rasavähini, S. 5 f. ; ich möchte doch an einen öfter wie-
derkehrenden Fehler der Hss. glauben). Das „ich", offenbar auf Buddha bezüg-
lich, gehört zu den Anzeichen dafür, daß die Jätakas nicht gleichsam in der Luft
schwebende Erzählungen, sondern, eben wie die Überlieferung es auffaßt, mit be-
stimmten Situationen des Lebens Buddhas verknüpft sind, der sie vorträgt.
29*
432 H. Oldenberg,
Schluß : Die Göttin befriedigt über ihn schuf ein Schiff und führte
ihn sammt dem Diener zum Ziel seiner Reise. Der Wortlaut {sä
im Eingang des Verses an das vorangehende Versgespräch an^
schließend) macht den Eindruck, daß der glückliche Ausgang, auf
den das Ganze hinzielt, hier zuerst erzählt wird, nicht etwa in
Prosa erzählt war. So liegt hier nicht, wie in den vorigen Fällen,
verherrlichende Wiederholung vor, sondern der Vers führt die Er-
zählung weiter.
Dütajätaka (Nr. 478). In 12 Versen Gespräch des Schülers,
der Gold zur Honorierung seines Lehrers zu erlangen wünscht,
mit dem König, von dem er dies Gold erhofft. Dahinter Schluß-
vers : ihm gab der König reichlich Gold — wohl die Erzählung
zum Abschluß führend wie im vorangehenden Fall.
Sälikedärajätaka (Nr. 484). Der Papagei holt Reis vom
Feld des Brahmanen für seine Eltern und Jungen. Gespräch des
Feldhüters mit dem Brahmanen; dann, als der Papagei gefangen
ist, des Brahmanen mit diesem. Tugendliche Belehrung seitens
des Vogels. Nach 16 Gesprächs versen Schluß vers : der Brahmane
erfreut wandte sich dem zu, Speise und Trank geistlichen Männern
zu geben. Dieser Vers offenbar erzählend wie in den beiden voran-
gehenden Fällen.
Mahäsukajätaka (Nr. 429). Gespräch zwischen dem Pa-
pagei, der dem verdorrten Baum treu bleibt, und dem Gott in der
Gestalt eines Schwans. Auf des Papageien Bitte wird der Baum
wiederbelebt. Nach 9 Gesprächsversen erzählender Schlußvers :
nachdem der Gott diesen Wunsch gewährt, kehrte er mit seiner
göttlichen Gemahlin zum Himmel zurück.
Dasarathajätaka (Nr. 461). Räma hat dem Vater Dasa-
ratha die letzten Ehren erweisen lassen und an seinen Tod erha-
bene Betrachtungen geknüpft. Nach 12 Rede- oder Predigtversen
Schlußvers (vgl. Lüders NGGW. 1897, 130 f.): 16000 Jahre wal-
tete Räma der Herrschaft. —
Diese Materialien ließen sich leicht vermehren; beispielsweise
sei noch Nr. 282. 286 erwähnt. Das Beigebrachte aber wird hin-
reichend erweisen, daß hier ein fester Typus vorliegt. Neben
vielen Redeversen ein Erzählungsvers oder ein Vers, der Erzähltes
resümiert, und dieser stehend am Ende. Wenn die wichtigeren
Reden in ihrer vergleichsweise kunstreichen, pointierten metrischen
Geformtheit sich aus dem nackten Bericht über die Vorgänge (ein-
schließlich der unerheblicheren Gespräche) hervorheben, so kann
an dieser Vorzugsstellung teilnehmen auch der gehobene, vielleicht
epigrammatischer Zuspitzung sich nähernde Ausdruck für das Hin-
Jatakastudien. 433
gelangen der Vorgänge zum Ziel, dem sie zustreben, für ihre "Wich-
tigkeit und ihren Wert. Da ergibt sich die Schlußstellung eines
solchen erzählenden — in manchen Fällen genauer : wertenden oder
resümierenden — Verses von selbst. Das hohe Alter dieses Typus
bezeugt das Veda. Man sehe, wie Rv. I, 179 nach den Wechsel-
reden zwischen Agastya und Lopämudrä und dem Sühnspruch für
den Bruch des Grelübdes schließlich der Erzählungsvers über Aga-
styas Hingelangen zum Ziel folgt. Oder wie in der Sunah^epa-
erzählung nach einer Masse von Versen, die durchweg Rede bez.
Wechselrede sind, zum Schluß zwei Verse in einem Ton7 welcher
dem des eben erwähnten Rgverses ganz ähnlich ist *) , das segens-
volle Ergebnis der Vorgänge für Sunahsepa zusammenfassen.
Wenn nun hier ein Vers paar erscheint, so führt uns dies
weiter zu einer Reihe von Fällen der Jätakas, wo anstatt des
einen Schluß verses irgendwelche erweiterte Formen der Schluß-
verserzählung auftreten. Ich hebe folgende Fälle hervor.
Khantivädijätaka (Nr. 313): nach zwei Dialogversen
fassen am Schluß zwei erzählende Verse den Inhalt des Ganzen
und das Ergebnis zusammen.
Cetiyajätaka (Nr. 422): nach 13 Redeversen am Schluß 2)
zwei zusammenfassende Verse : der erste erzählt den abschließenden
Vorgang; der zweite spricht die Moral aus. Mir scheint, daß
prinzipiell solche moralisierende Verse mit denen, welche erzäh-
lend oder Tatsachen konstatierend das Wesentliche der Handlung
zum Ausdruck bringen, auf eine Linie zu stellen sind ^). In beiden
Fällen handelt es sich eben gleichermaßen darum, Sinn und Essenz
des Granzen dem Hörer vorzuführen.
Dipijätaka (Nr. 426): ganz ähnlich; nach 6 Dialogversen
zwei Schlußverse: der erste erzählt auch hier den abschließenden
Vorgang; er geht dann zur Moral über, die im zweiten Verse
voller entwickelt wird
Nandiyamigajätaka (Nr. 385) : nach 5 Dialogversen wird
in drei Schluß versen die Handlung rekapituliert*).
1) Man vergleiche einerseits uhhau vämäv fsilb . . . puposa, anderseits adhi-
yata . . . riküiayor uhhayor rsijj,.
2) Der Kommentar erzählt allerdings noch weiter. Ich glaube, daß die Er-
zählung vielmehr mit diesen Versen endet.
3) Darum hätten zu der oben gegebenen Reihe von Jätakas mit erzählendem
Schlußvers streng genommen auch solche mit moralisierendem gestellt werden
können.
4) Und zwar hebt dabei Buddha als Redender ausdrücklich seine Identität
mit dem Gazellenkönig, dem Helden der Geschichte, hervor. Vgl. oben S. 431
Anm. 2.
434 H. Oldenberg,
Cullasukajätaka (Nr. 430): nach 7 Dialogversen ein Vers,
Erzählung wie das Hauptziel der Handlung (Belebung des ver-
dorrten Baumes) erreicht vdrd. Dann wieder ein Redevers; end-
lich erzählender Schlußvers : Rückblick auf das Ergebnis und Aus-
klingen — Grott und Göttin kehren nach vollbrachtem Greschäft
zum Himmel zurück. Das Granze ist Variante zu Nr. 429 (oben
S. 432); der Schlußvers ist, wie ein Teil der Gresprächsverse, auf
beiden Seiten identisch. Es ist bezeichnend, wie neben jenem
Exemplar mit dem einen Schlußvers hier eines mit der eben be-
schriebenen Erweiterung steht.
Dhammajätaka (Nr. 457): wieder 7 Verse mit Reden und
Entgegnungen. Dann Schluß von vier Versen, die beiden ersten
den Ausgang der Begebenheit erzählend ; die folgenden moralische
Nutzanwendung. Dem früher Aufgeführten gegenüber ist der
Umfang des Schlusses gewachsen.
Phandanajätaka (Nr. 475): 6 Gresprächsverse. Dann tritt
ein neuer unerwarteter Redner auf, und der siebente Vers hebt
an mit dem Bericht, daß dieser jetzt spricht : iti phandanaruJMo
pi tävade ajjhabhasatha, worauf im zweiten Hemistich und dem
nächsten Vers die betreiFende Rede folgt. Auf diese häufige Tei-
lung eines Verses in den Bericht darüber, daß der und der redet,
und die Rede selbst komme ich noch zurück. Die letzten fünf
Verse enthalten Rückblick auf den Vorgang und Moral ; daß hinter
dem ersten davon der in diesem Verse angedeutete abschließende
Vorgang noch ausdrücklicher in Prosa berichtet wurde — so wie
es im vorliegenden Kommentar in der Tat geschieht — , ist mög-
lich. Wieder ist verglichen mit dem früher Besprochenen das
Schlußstück gewachsen. —
Ist nun in den bisher erörterten Fällen Sitz der Erzählungs-
strophen der Schluß des Jätaka, was nach der Häufigkeit und nach
der inneren Begreiflichkeit als Normalfall angesehen werden muß,
so fehlt es doch auch nicht an Fällen, wo inmitten des Verlaufs
etwa eine besonders pathetische Situation oder ein Abschnitt der
Handlung Anlaß gibt, erzählende oder den Vorgang konstatierende,
resümierende Verse einzufügen. Ich gebe einige Beispiele.
Mahäukkusa jätaka (Nr. 486). Außer Gesprächs versen
und der am Schluß gegebenen versifizierten Moral ein erzählender
oder besser konstatierender Vers (6) in der Mitte. Der Meeradler
hat mit eigner Lebensgefahr die jungen Vögel vor dem Flammen-
tod geschützt. Jetzt kann er nicht mehr; Ablösung muß kommen.
Bei diesem Abschnitt ein Vers : eine schwere Tat hat der eige-
Jätakastudicn. 435
borene Vogel getan, daß er bis gegen Mitternacht die kleinen Vögel
rettete.
Ähnlich Rohantamigajätaka (Nr. 501). 29 Gresprächs-
verse. Aber in der Mitte der Greschichte in einer besonders pathe-
tischen Situation (die Hindin will den gefangenen Bruder nicht
verlassen und setzt ihr eignes Leben aufs Spiel) ein Vers genau
wie der zuletzt besprochene : das furchtsame Tier hat eine schwere
Tat getan (dasselbe Wort suduklaram wie in Nr. 486), daß es sich
dem Tod aussetzte.
Somanassajätaka (Nr. 505). Über 20 Gesprächsverse bz.
Moralpredigt einer der handelnden Personen in den Mund gelegt.
Aber an einer besonders aufgeregten Stelle (der König will seinen
verleumdeten Sohn toten lassen) Erzählungsverse bz. erzählende
Einführung der Reden (v. 4 —6). Die Boten sprachen zum Prinzen :
der König hat deinen Tod befohlen. Da jammerte der Königs-
sohn, faltete die Hände und bat: führt mich zum König. Sie
brachten ihn zum König. Und wie der Sohn den Vater sah, re-
dete er ihn aus der Ferne an usw. Hier also vollständige Erzäh-
lung, die Reden umgebend, während im Übrigen die Verse nur
die Reden enthalten und deren Umhüllung der Prosa zufällt.
Mätiposakajätaka (Nr. 455). Der edle Elefant ist ge-
fangen zur Stadt geführt. Er will nichts fressen, denn seine blinde
Mutter ist hilflos zurückgeblieben. Da läßt der König ihn frei.
Und nun, auf dem Höhepunkt der Geschichte, zwei erzählende
Verse (gegenüber zehn Gesprächsversen) : der Elefant von Banden
befreit ging ins Gebirge. Und im Teich schöpfte er mit seinem
Rüssel Wasser und bespritzte die Mutter. — Die Erzählung geht
dann in Prosa mit Redeversen noch ein Stück weiter.
Es kann etwa noch auf das Campeyyajätaka (Nr. 506)
V. 24ff., das Su vannakakkatakajätaka (Nr. 389) v. 2, das
Samuggajätaka (Nr. 436) v. 4, das Hatthipälajätaka (Nr.
509) V. 20 verwiesen werden. An der letzten Stelle zeigt das
idam vatväj daß der Erzählungsvers unmittelbar an die vorange-
henden Reden anschließt, nicht etwa dazwischenstehende Prosa
resümiert. Das Mätangajätaka (Nr. 497) hat zugleich erzäh-
lenden Vers in der Mitte und Schluß vers. Außer 22 Dialog versen
tritt zuerst ein Erzählungsvers (v. 10) so zu sagen als Aktschluß
ein: der Weise, den man mißhandeln und töten lassen will, fliegt
in die Luft auf und entzieht sich seinen Feinden. Dann am Ende
des Ganzen, hier wohl mehr resümierend als eigentlich erzählend :
für den Tod des herrlichen Mätanga ist das ganze Mejjhareich
ausgerottet worden. —
436 H« Oldenberg,
Bei einem nunmehr sich anschließenden Typus tritt, wie in
den letztbesprochenen Fällen, irgendwo im Lauf der Greschichte
Versform der Erzählung ein; hier aber wird sie bis zum Schluß
mit höchstens geringfügiger prosaischer Unterbrechung festgehalten.
Man hat den Eindruck, daß der Erzähler, einmal in metrisches
Fahrwasser geraten, darin festgehalten wird; vielleicht auch, daß
er auf diese Weise eine Steigerang hervorbringen, den zweiten Teil
des Ganzen über den ersten erheben will.
Ein Beispiel gibt das Chaddantajätaka (Nr. 514). Woher
der Haß der Königin gegen den sechszähnigen Elefanten stammt ^),
wie sie nach seinen Zähnen begehrt, die Jäger sich versammeln,
sie einem von ihnen den Auftrag und die nötigen Instruktionen
gibt, wird in Prosa, teilweise mit eingelegten Redeversen (1 — 17)
berichtet. Nun macht sich der Jäger zur verhängnisvollen Expe-
dition auf: und wie die Handlung in dies neue Stadium tritt, er-
scheinen Erzählangsverse. Von da an ist die Greschichte, Begeben-
heiten wie Reden, vollständig in den Versen enthalten^).
Auch das Sämajätaka (Nr. 540), von dem weiter unten
noch eingehender gesprochen werden soll, gerät nach 31 Rede-
versen, die umgebende Prosa verlangen, mit v. 32 (wo die Kata-
strophe eintritt, Säma visanfa samapajjatha) in metrisches Erzählen.
Nur ganz unbedeutende prosaische Zwischenbemerkungen werden
dann noch anzunehmen sein^).
Culla- und Mahähamsaj ätaka (Nr. 533. 534): zwei
Exemplare (I und II) derselben Erzählung (vgl. auch Nr. 502;
Jätakamälä Nr. XXII), gegenseitig die an ihnen zu machenden
Beobachtungen bestätigend. Im Eingang beider ist die Prosazutat
unentbehrlich: wie die eine goldne Grans gefangen wird, die andre
anhänglich sich bei ihr einfindet. Die Anspielung in II, 57 ff. be-
stätigt, daß ein in den Versen nicht enthaltenes Stück Erzählung
hier vorhanden war. Zwischen den Gränsen entspinnt sich nun ein
Versdialog: da kommt der Jäger (I, 13, teilweise = II, 10), und
hier gleitet aus den Gresprächsversen auch die Erzählung in metri-
sche Form hinüber. Nunmehr geben die Verse im Wesentlichen
alles vollständig. Allerdings könnten hier und da bei den Reden
1) Daß für den Verfasser der Verse auch dieser Teü der Geschichte da
war, ist zweifellos, geht auch ausdrücklich aus v. 36 hervor.
2) Nur bei der Episode mit dem Mönchsgewand des Jägers entsteht Zweifel;
ich komme darauf S. 446 Anm. 2 zurück.
3) Man kommt allerdings leicht in Versuchung, über Stellen, an die eine
solche Zwischenbemerkung gehört, wegzulesen. So setzt v. 38 sä devatä (vgl.
V. 102) offenbar voraus, daß von dieser Gottheit irgendwie die Rede gewesen ist.
Jätakastudien. ' 437
Angaben, wer der Redende ist, erwünscht sein^). Hinter II, 19
— 20 muß eine Erklärung des Jägers auf die in diesen Versen
enthaltene Alternative (hat er die Gans auf eignen Antrieb oder
in fremdem Auftrag gefangen?) angenommen werden. Und auch
im Übrigen schließt die Möglichkeit, mit den Versen allein auszu-
reichen, doch anderseits nicht aus, daß kurze prosaische Zwischen-
bemerkungen anzunehmen wären, wie die Fassung der Jätakamälä
sie in der Tat gibt. Daß aber wenigstens der Hauptsache nach
in beiden Fassungen vom Erscheinen des Jägers an Verse an Stelle
der Prosa getreten sind, ist unverkennbar.
Noch manche weitere Jätakas lassen sich mit größerer oder
geringerer Sicherheit diesem Typus des Hineingeratens in metri-
sche Erzählung zurechnen. Über manche Fälle wird man schwanken.
Ich möchte hierher beispielsweise Nr. 51B (doch mit einer durch
Prosa auszufüllenden Lücke) und Nr. 523 stellen, auch Nr. 529.
531. 538. 545, sowie das längste aller Jätakas, das von Vessan-
tara (Nr. 547) : auch bei diesen werden nur ganz unbedeutende
Prosasätze erforderlich scheinen, sobald die Darstellung einmal in
das metrische Fahrwasser sich hineingefunden hat. Auf dem Ge-
biet der außerbuddhistischen Literatur läßt sich unter den alten
prosaisch-poetischen Stücken des Mahäbhärata die Geschichte von
den Rossen des Vämadeva (III cp. 192) mit den hier aufgeführten
Jätakas vergleichen.
Ist in diesen Fällen eine gewisse Regelmäßigkeit nicht zu ver-
kennen, so kann es nicht befremden, wenn gelegentlich ein pro-
saisch anhebendes Jätaka auch mehr oder minder regellos bald in
metrische Erzählungsform gerät, bald wiederum seine Verse auf
weitere Strecken Lücken lassen, die, wie es jetzt der Kommentar
veranschaulicht, offenbar auch von Anfang an durch Prosa aus-
gefüllt waren : man prüfe etwa das umfängliche Bhüridatta-
jätaka (Nr. 543). —
Nun aber, im Gegensatz zu allen diesen Jätakas mit Prosa -
anfang, findet sich auf der andern Seite auch eine Anzahl von
Jätakas, bei denen gleich der Eingang metrische Form hat. Zu-
vörderst solche, bei denen dann die Versdarstellung größere oder
geringere Lücken läßt, die durch Prosa ausgefüllt gewesen sein
müssen.
Ein Beispiel gibt das Sattigumba jätaka (Nr. 503) von
den beiden Papageienbrüdern, die durch schlechte und gute Gesell-
1) Über Setzung und Nichtsetzung derartiger Angaben bei den Buddhisten
s. „Zur Geschichte der altind. Prosa" 76 A. 1 ; 77.
438 H. Oldenberg,
Schaft selber schlecht und gut geworden sind. Der erste Vers
„Auf die Jagd ging der große König der Paficälas'' usw. sieht
entschieden nach Anfang des Ganzen aus; was der Kommentar
vorausschickt, ist teils bequem entbehrlich, teils kann es an spä-
terer Stelle gestanden haben. Ganz ohne Prosazutaten — wohl
von geringem Umfang — sind die Verse doch nicht denkbar. Es
wird erklärt sein, wer Patikolamba (v. 7) war; auch über Pup-
phaka, den allein im Kommentar enthaltenen, aber doch wohl authen-
tischen Namen des guten Papageien, wurde offenbar Aufklärung
gegeben. Vor v. 12 war unzweifelhaft erzählt, wie der König von
der sündigen Stätte zu der der Tugend gelangt. Auch ein Prosa-
schluß war vermutlich vorhanden. Immerhin ist der hauptsächliche
Bestand des Jätaka von Anfang an in den Versen gegeben.
Das folgende Jätaka (ßhallätiyajätaka Nr. 504) hat
ganz ähnlich wie dieses einen ersten Vers, der nach Eingang des
Ganzen aussieht: „Es war ein König Bhallätiya mit Namen". Im
weiteren Verlauf geben die Verse — freilich weit überwiegend
Reden enthaltend — vollständigen Zusammenhang. Schließlich
greifen unter drei durch gleiche Anfangsreihe zusammengehaltenen
Strophen die beiden letzten aus der Haupterzählung in die Rah-
menerzählung hinüber: ein recht bemerkenswerter Sachverhalt,
der in einen schon berührten (S. 431 A. 2) , unten noch weiter zu
beleuchtenden Zusammenhang hineingehört. Ein Stück Rahmen-
erzählung ist auch die dann noch folgende Strophe (der dem Buddha
zuhörenden Königin). Mit Athetese in diese Vermischung von
Haupt- und Rahmenerzählung hineinzugreifen wäre offenbar ver-
fehlt. Das Hauptstück der Rahmenerzählung muß natürlich in
Prosa gegeben gewesen sein. Sehen wir — wie das in diesen Er-
örterungen durchgehend geschieht (S. 430 Anm. 2) — von ihr ab,
so haben wir hier ein Jätaka, das wie mehrere später aufzufüh-
rende ganz in Versen verfaßt ist. Ich' habe es hierher gestellt
nur weil in der eben besprochenen Hinsicht Prosa und Verse in
einander verlaufen^).
Ahnliche Anfangsverse finden sich im Nimijätaka (Nr. 541 :
„Ein Wunder ist es, was für verständige Männer in der Welt er-
1) Zur ersten Strophe dieses Jätaka bemerke ich im Vorübergehen, daß
FausböU mit Unrecht abteilt:
rajjam paJiäya migavam acäri so,
agamä girivaram Gandhawädanam.
Das so gehört zur zweiten Zeile. F.s Änderungsvorschlag girivaram agamä ist
nicht am Platz.
Jätakastudien. 439
scheinen, wie der König Nimi war" usw.) und im Khandahä-
lajätaka (Nr. 542: „Ein König, der wilde Taten vollbrachte,
war alleiniger Herrscher in Pupphavati"): beidemal verlangen dann
die Verse nur unerhebliche Prosazutat. Vielleicht hierher auch
das Mahänäradakassapajätaka (Nr. 544: „Es war ein
König der Videhas, ein Fürst Angati mit Namen"), von dem schwer
ist zu entscheiden, ob Prosazutat anzunehmen ist: hinter v. 190
möchte man eine solche, berichtend etwa. über das Verschwinden
des Weisen und den Erfolg seiner Predigt, wahrscheinlich finden *).
Zweifel dieser Art kehren öfter wieder : der Natur der Sache
nach ist ja über die Möglichkeit, daß die Verserzählung an irgend
einer Stelle — es pflegt sich für uns um den Schluß zu handeln —
durch eine vielleicht wenig wesentliche prosaische Hinzufügung
ergänzt war, sichere Entscheidung vielfach unerreichbar. So sehe
ich es an beim Akittijätaka (Nr. 480), das übrigens fast ganz
aus Reden besteht,^) ; am Schluß kann, wie der Kommentar es in
der Tat hat, erzählt gewesen sein, daß der Gott verschwand und
der Weise das Ziel seiner Askese erreichte. Ahnlich das Mahä-
vänijajätaka (Nr. 493); vielleicht nach v. 21 Erzählung,
wie die Nägas die Kaufleute außer ihrem tugendhaften Führer
töteten. Das Dasabrähmanajätaka (Nr. 495): alles außer
der ersten Zeile ist Gespräch zwischen Yudhitthila und dem weisen
Vidhura, natürlich dem Yudhisthira und Vidura des Epos ; auch
hier kann ein Prosaschlußwort fehlen. Das Mahäkapijätaka
(Nr. 516), ganz ähnlich anfangend wie mehrere der eben erwähnten
Jätakas: „In Benares war ein König, ein Mehrer des Käsireichs" ;
die Geschichte von undankbaren Brahmanen und dem Affen ; wieder
bleibt fraglich, ob prosaisches Schlußwort da war^). .
Man sieht, wie wir Schritt für Schritt bis zu Jätakas gelangt
sind, bei denen von Prosa nur ein geringfügiger Rest, vielleicht
nicht einmal ein solcher geblieben ist. Schließlich sind einige an-
zuführen, die m. E. als durchaus metrisch angesehen werden kön-
nen^). So das Gijjhajätaka (Nr. 427), das mit dem Ausgang
1) Doch für diese upd ähnliche Fälle vgl. A. 3.
2) Erzählend nur die erste Zeüe, die natürlich zu lesen ist Ahittim disvä
sammantam (nicht sammataiii) SoMo thütapati hravi.
3) Wenn unsrer Empfindung vielleicht ein solches erwünscht ist, kann die
darin doch fehlgehen. Es verdient Beachtung, daß in der Jätakamälä (Nr. XXIV)
die Geschichte mit der Rede des Aussätzigen schließt; denn was dahinter noch
folgt, kommt nicht in Betracht.
4) Ich möchte hierher nicht das Vakaj ätaka (Nr. 300; in v. 1 lies samä-
däya) und das Bäverujätaka (Nr. 339) stellen. Bei beiden scheinen mir die
440 H- Oldenberg,
der Erzählung und der Moral einen Abschluß erreicht, der eine
noch folgende Prosazutat ausschließt. Das Kälingabodhijä-
taka (Nr. 479; vgl. Lüders NaaW. 1897, 126 A. 2), bei dem
allerdings ein Prosasatz vor v. 15 nicht undenkbar ist. Das Ma-
häpalobhanajätaka (Nr. 507): hier geben die Verse vollstän-
digen Abschluß^). —
Ein besonderer, für sich stehender Typus metrischen Erzählens
muß hier schließlich noch erwähnt werden: die Einführung der
Versrede durch die Angabe in Versform „da sagte N. N." — diese
Angabe oft ein erstes Hemistich (oder ersten Päda) füllend, wäh-
rend die E,ede im zweiten steht oder darin beginnt. Z. B. die
schon erwähnte Stelle Nr. 475 v. 7:
iti phandanaruWio pi tävade ajjhabhäsatha:
mayJiam pi vacanam atthi, Bhäraäväja sunolii me.
Entsprechendes findet sich Nr. 449 v. 4; Nr. 506 v. 14; Nr. 522
V. 13; Nr. 529 v. 2. 9 und sonst häufig. Ähnliche Einführung der
Rede zugleich mit kurzer Angabe der Situation: Nr. 537 v. 8. 39.
Ebenso, doch was an jenen Stellen Einführung ist, der Rede viel-
mehr nachgestellt : Nr. 378 v. 6 ; Nr. 547 v. 13. Mit diesen Fällen
ist es wohl verwandt, wenn in Nr. 454 zwischen zwei in nächster
Beziehung zu einander stehenden Reden (v. 1. 3) der Vorgang, in
dem diese Beziehung sich ausdrückt, gleichfalls in Versform be-
richtet wird: auch hier hat die Versrede eng damit zusammen-
gehöriges Greschehen an der metrischen Form teilnähmen lassen. —
So glaube ich die wesentlichen Erscheinungsformen versmäßiger
Erzählung in den Jätakas beschrieben zu haben. Man hat aus dem
Gesagten gesehen, in wie mannigfachen Gestalten, mit wie ver-
schiedener Intensität in diesen Massen teils echtbuddhistischer teils
von den Buddhisten adaptierter Geschichten jene Tendenz gewirkt
hat, die von prosaischem Erzählen mit eingelegten Versen, haupt-
sächlich Rede- und Dialogversen, zu metrischem Erzählen führte.
Um hier in der Kürze auf die Vorgeschichte dieser Entwicklung
zurückzugreifen, so gab es ursprünglich, scheint es, Prosaerzählung
eventuell mit Einlegung von 'Versen da „wo auch außerhalb er-
zählenden Zusammenhangs die Primitiven gern zur poetischen
Form greifen : wo ein Gott angerufen, ein Zauberwort gesprochen,
feierliches Gebot, Segen oder Fluch verhängt wird, wo Gefühl
kurzen Versstücke nicht als die eigentliche Erzählung, sondern als Rekapitulation
von ihr aufzufassen.
1) Man beachte, daß, was Fausböll zwischen den Hälften von v. 7 als
Prosa gibt {tarn tathävädinirn räjä kumärim etad ahravi), vielmehr Vers ist.
Jätakastudien. 441
sich Luft macht, wo der Stimmungsgehalt einer Situation, die ihr
innewohnende Absonderlichkeit oder Bedeutsamkeit hervorgehoben
wird, oder wo Scharfsinn in pointierter Sprache ßätsel aufgibt
und löst" ^). Bald aber bildet sich ein Gefühl dafür, daß es am
Platz ist, die Erzählung nicht nur, wenn sich das zufällig so fügt,
mit Versen auszustatten. Ich vermute, wie ich hier in Ergänzung
meiner früheren Erörterungen bemerke, daß dabei neben dem
ästhetischen Moment auch ein rituell-zauberisches im Spiel gewesen
ist. Wird am Ende des Suparnädhyäya dessen Studium zur Er-
langung der Himmelswelt, von Söhnen usw. empfohlen, so dachte
man diese Erfolge doch wohl speziell an den mantra-Siviigen Stoff
geknüpft, der allein in fester Form da überliefert ist: an die
Verse, nicht aber an die in keinen bestimmten Wortlaut gefaßte
Prosa, die zur Ausübung von Zauberwirkungen in Ermangelung
jeder solennen Formuliertheit doch wohl nicht im Stande war —
an die Verse, die auch beim Vortrag der Sunah^epageschichte, je
nachdem sie rcah oder gäthäh waren, durch om oder tathä hervor-
gehoben wurden, offenbar als etwas besonders Heiliges d.h. zau-
berisch Wirksames. Das Verlangen eben nach solcher Wirkens-
kraft wird mit dazu getrieben haben, Geschichten mit Versen aus-
zustatten: es ist ja bekannt — das große Epos bezeugt es fort-
während — , wie allgemein die erzählenden Dichter für das An-
hören ihrer Produktionen zauberische Läuterungskraft und solche
Wirkungen, wie sie der Suparnädhyäya von sich rühmt, in An-
spruch nehmen. Kam nun auch für die buddhistische Erzählungs-
kunst derartiges nicht direkt in Frage, so stand die doch selbst-
verständlich unter dem Einfluß der anderweitig herausgebildeten
Darstellungsform. Danach werden wir es begreifen, daß für die
Jätakas die eingelegten Verse wesentlich waren 2), das einzelne
Jätaka nach den Anfaugsworten des ersten Verses benannt werden
konnte, die ganze Sammlung den Verszahlen nach geordnet war.
Was alsdann das so natürliche weitere Vordringen des Vers-
elements anbelangt, so lassen, scheint mir, die obigen Untersu-
chungen wohl etwa die Erscheinungen erkennen, die man auch im
voraus erwarten würde. Einige ziemlich bestimmt ausgeprägte,
auf begreiflichen Motiven beruhende Typen stellen sich heraus, als
solche durch häufige Wiederkehr charakterisiert. Um sie herum
1) Ich wiederhole diese Formulierung aus meiner Schrift „Zur Geschichte
der altind. Prosa" 97.
2) Die Einschränkungen, die das erleidet („Zur Geschichte der altindischen
Prosa" 82 A. 1), sind unerheblich.
442 H. Oldenberg,
liegen dann regellosere Bildungen. Daß es an denen nicht fehlt,
kann ja nicht befremden ; vielmehr wäre es seltsam, wenn in einer
Entwicklung wie dieser nicht auch zerstreute Wirkungen singu-
lärer Ursachen, dazu Launen und Zufälle, vielleicht die Folgen
sekundärer Überarbeitung und dgl. sich geltend machten. So gleitet
auf dieser Entwicklungsbahn — eine andre ist ja die, welche
z. ß. durch die Jätakamälä veranschaulicht wird — die Bewegung
bis dicht an die rein metrische Form heran, so daß die in allem
Wesentlichen herrscht, von Prosa nur geringe Reste, mehr oder
minder selbstverständlichen Inhalt erledigend, übrig bleiben. Und
wie sollten nicht dann schließlich auch solche R-este verschwinden,
die volle Einheitlichkeit der Form im Siege des Metrums über die
Prosa sich nicht herstellen?
2. Zum Stil der Jatakaverse.
Nach diesen Bemerkungen über das Verhältnis der Jataka-
verse zur Prosa versuche ich nun den in den Versen, insonderheit
in den Erzählungsversen erscheinenden Stil zu beschreiben ^). Als
Unterlage wähle ich zuvörderst das schon oben (S. 436) erwähnte
Jätaka, an dem Foucher (Melanges Levi 231 ff.) so erfolgreich
die inhaltlichen Wandlungen der Erzählung vom Altertum zur
Spätzeit aufgewiesen hat: das Chaddanta Jätaka (Nr. 514).
Dieses eignet sich gut für meinen Zweck, da es zum verhältnis-
mäßig großen Teil in Erzählungsversen verläuft, welche viele
— freilich, wie wir sehen werden, nicht alle — Charakteristika
des hier herrschenden Stils recht deutlich aufweisen.
Die , ersten 17 Verse sind Gespräche: die Königin drückt ihr
Verlangen nach den Zähnen des sechszähnigen Elefanten aus und
instruiert den Jäger, der sie ihr verschaffen soll. Ich übersetze
vom 18. Verse an^).
18. „Da diese Rede entgegennehmend | ergriff der Jäger Köcher
und Bogen. || Er überschreitet sieben hohe Berge ] zum herrlichen
Berg mit Namen Suvannapassa.
1) Es wird eine lockende und wichtige Aufgabe sein, stilgeschichtliche Un-
tersuchungen wie die hier unternommenen auch auf jainistische Texte aus-
zudehnen. Ich fühle mich den hier entstehenden Schwierigkeiten, wie ich schon
bei früherer ähnlicher Gelegenheit ausgesprochen, für jetzt nicht gewachsen und
behalte es der Zukunft vor dieser Arbeit näher zu treten.
2) Und zwar ohne Rücksicht auf die Lesbarkeit der deutschen Sätze mit
möglichst genauer Wiedergabe auch der Wortverteilung auf die Teile des Verses.
Ich sondere diese Teile durch Teilstriche.
Jätakastudien. 443
19. Besteigend den Berg, der Kinnaras Wohnung | blickte er
herab auf des Bergfußes Wurzel. || Da sah er von wolkengleicher
Farbe | einen königlichen Nyagrodha, achttausendmal gewurzelt.
20. Da sah er den sechszähnigen Elefanten, | ganz weiß, schwer
zu bezwingen von andern. || Ihn schützen achttausend Elefanten |
bezahnt wie mit Deichseln, stoßend gleich Sturmgewalt.
21. Da sah er den Lotosteich') nicht fern, | angenehm, mit
schönen Badeplätzen und vielem Wasser, || blütenreich, von Bienen-
scharen umschwärmt, | wo jener Elefantenkönig badet.
22. Sehend des Elefanten Gehen und Stehen, | was sein Pfad
beim Badegang ist, || ging zu einer Grube der unedel Geartete, |
angetrieben von der ihrem Gelüst Gehorchenden (der Königin).
23. Einen Graben bereitend deckte er ihn mit Brettern, | der
Jäger sich selbst verbergend und den Bogen. |j Den dicht heran-
gekommenen Elefanten mit mächtigem Pfeil | traf er, der Täter
böser Tat.
24. Und der Elefant getroffen stieß furchtbares Gebrüll aus.' |
Die Elefanten alle brüllten in furchtbarer Art. || Gras und Holz
zermalmend | liefen sie nach den acht Himmelsgegenden rings.
28. ^) Getroffen vom mächtigen Pfeil der Elefant | von Bösem
unberührten Sinnes sprach zum Jäger: || „Zu welchem Zweck,
Freund, oder aus welchem Grunde | hast du mich geschossen, oder
von wem kommt der Antrieb ?"
29. „Des Käsikönigs Gemahlin, Herr, | Subhaddä im Königs-
hause geehrt : | sie hat dich gesehen und mir von dir gesagt, | und
'die Zähne will ich haben', so hat sie zu mir gesprochen".
30. „Viele herrliche Zähnepaare habe ich, | die von meinen
Vätern und Großvätern (stammen)^). || Das weiß jene zornmütige
Königstochter. | Meinen Tod begehrend hat die Törin Feindschaft
geübt.
31. „Stehe auf, Jäger, nimm ein Messer | und schneide diese
Zähne ab, ehe ich sterbe. || Sagen sollst du der zornmütigen Kö-
nigstochter: I ^Getötet ist der Elefant. Sieh, da sind seine Zähne!'"
32. Aufstand der Jäger, nahm ein Messer | und schnitt die
Zähne des edelsten Elefanten ab, || die schönen, schmucken, unver-
gleichlichen auf Erden. | Er nahm sie und ging schnell von dannen.
1) Von dem hatte die Königin ihm gesprochen.
2) Ich lasse Vers 25—27 (vgl. Milindapanha p. 221) fort: der Elefant will
den Jäger töten, sieht aber, daß er ein Asketengewand (oder ein dem Asketen-
gewand ähnliches Kleid?) trägt. So ist er unverletzlich. Verse über berechtigtes
und unberechtigtes Tragen des Asketenkleides (aus dem Dhammapada).
3) Diese Wendung unter dem Einfluß von Vers 7?
I
444 H. Oldenberg,
33. Furchtbefallen, durch des Elefanten Tötung bekümmert |
die Elefanten, die nach den acht Himmelsgegenden gelaufen wa-
ren, II als sie keinen Mann, des Elefanten Feind, sahen, | kehrten
sie dahin um, wo jener Elefantenkönig war.
34. Dort klagten und weinten die Elefanten, | streuten Staub
auf ihr Haupt || und gingen alle nach Hause, | voran die Königin,
die sehr herrliche^).
35. Nehmend die Zähne des edelsten Elefanten, [ die schönen,
schmucken, unvergleichlichen auf Erden, | mit Goldstreifen rundum
in ihrem Innern, || ging der Jäger nach der Käsistadt. j Er brachte
der Königstochter die Zähne: | „Gretötet ist der Elefant. Sieh, da
sind seine Zähne !^
36. Wie sie die Zähne sah des edelsten Elefanten, j ihres
lieben Gatten in früherer Geburt, || da zersprang ihr das Herz. |
So fand sie den Tod, die Törin« 2). —
Liest man diese Verse, so fühlt man, wer die gewesen sind,
die sich an ihnen rührten und erbauten: die Stillen, Sanften, die
aus mönchischer Abgeschiedenheit voll Schrecken auf das Treiben
der Welt mit ihren Begierden und Grausamkeiten hinsahen, schau-
dernd vor all der Bosheit und vor den Höllenstrafen, die ihr sicher
sind. In kindlicher Handgreiflichkeit stellt man Gut und BÖse
gegenüber; zum Guten gehört vor allem unbedingtes Nachgeben,
Dulden, unerschütterlicher Gleichmut. An dieser Tugendlichkeit
nimmt das Getier ganz wie die Menschenwelt teil. Der Wunder-
1) Die Elefantenkönigin. Im Text hätte Fausböll für mahesim sdbha-
hhaddam nicht sabbabJiaddani mahesim vermuten sollen, mahesi „Königin" ist sehr
oft (nicht überall, s. Nr. 281 v. 2; Nr. 547 v. 11) uu_ zu messen, offenbar durch
mahesi „der große Rsi" beeinflußte falsche Schreibung für *mahisi. — Ebenso
ist Fausbölls katvä pure für purakkhatvä überflüssig; das Metrum begründet kein*
Bedenken.
2) Es folgen noch einige Verse, in denen ßuddha zu den Jüngern spricht:
er war damals der Elefant, Devadatta der Jäger usw. Diese Verse, unmittelbar
an das Vorangehende anschließend, einen Teil von Vers 35 wörtlich wiederholend,
unterliegen nicht dem Verdacht jüngerer Herkunft. Sie stellen sich zu den Ma-
terialien, die der Abtrennung der umrahmenden Erzählungen aus Buddhas eigner
Zeit als späterer Zutaten widersprechen (vgl. NGGW. 1912, 186 f.). Man be-
merke besonders v. 38 yam addasätha daharim Icumärim häsäyavattham anagä-
riyan carantim: Bezugnahme auf die daharabhikkhunl, von der die Umrahmungs-
erzählung handelt. Andre Stellen, die die Beseitigung des Rahmens als unzulässig
erweisen, sind uns oben begegnet (S. 431.433.438). Hier mache ich noch auf das
ie Nr. 423 v. 6 aufmerksam, das in einem mitten in der Hauptgeschichte stehenden
Vers sich an eine Person der Rahmenerzählung wendet. Warum hat sowohl die
deutsche wie die englische Übersetzung dies für den Aufbau des Ganzen so be-
sonders charakteristische Wörtchen unübersetzt gelassen?
Jätakastudien. 445
elefant ist in Wahrheit kein Elefant ; er ist buddhistischer Weiser,
als Elefant verkleidet . . .
Aber wir haben die Erzählung ja nicht von der moralischen,
sondern von ästhetisch-stilistischer Seite zu betrachten.
Wer etwa von der Lektüre der Epen oder vollends der Kunst-
dichtung herkommt, dem fällt zunächst die große Schlichtheit der
Darstellung in die Augen. Mit wie einfachen Mitteln wird, was
groß oder schön sein soll, als groß und schön geschildert! Grroße
Zahlen : der Elefant hat sechs Zähne ; achttausend Elefanten folgen
ihm; ebensoviele Wurzeln hat der Baum. Vergleiche kurz und
einfach: der Baum ist wolkengleich; die Elefanten können mit
Sturmgewalt stoßen. Das alles hebt sich von der späteren Weise
sehr deutlich ab. Hier kommt der Jäger heran, nicht etwa, wie
ein jüngerer Poet vielleicht gesagt hätte, gleich dem Todesgott ^).
Der Wunderelefant ist ;,ganz weiß, schwer zu bezwingen von"
andern". Wie viel schwungvoller Asvaghosa (Süträlamkära, Übers.
Huber, 403) : da ist dasselbe Tier „gigantesque. Comme la Kau-
mudini aux fleurs blanches, comme le lait ou la neige, tel est son
aspect. n les egale tous en blancheur; il est pareil ä une grande
montagne blanche qui aurait des pieds et qui mar eher ait. Ce grand
roi des elephants egale par sa couleur la lune" usw. Der Lotus-
teich in der Jätakadichtung ist „angenehm, mit schönen Bade-
plätzen und vielem Wasser, blütenreich, von Bienenscharen um-
schwärmt" ; von der bunten Blütenpracht der Lotusse und all dem
vielen, was sonst spätere Dichter von diesem Lotusteich zu ver-
melden gewußt hätten, ist nicht die Rede. Der Jäger schießt den
Elefanten: „er traf ihn mit mächtigem Pfeil". Man halte gegen
diese nackte Angabe des Tatsächlichen etwa, wie es im Mahäbhä-
rata (XIV, 2206 ff.) aussieht, wenn ein Elefant geschossen wird :
„Darauf wehrte der Päncjuide zornig den Elefanten mit einem
Netz von Pfeilen ab, wie das Gestade das Heim der Delphine ^).
Der vorzüglichste der Elefanten, der schöne, stand da, von Arjuna
abgewehrt, mit pfeilzerschossenem Körper wie ein stachliges Sta-
chelschwein . . .» Als er ihn (Arjuna den Elefanten) anstürmen
sah, entsandte des Päkazüchtigers Sohn^) machtvoll einen feuer-
gleich anzuschauenden wäräca-Pfeil wider den Elefanten. Von dem
■
1) Doch in der Tat tritt auch im Jätaka 533 (v. 13) der Jäger auf ä^wr«-
nam iv' antdko.
2) Wie das Meeresgestade dem Meer das Vordringen verwehrt. Diese Ver-
gleicbung findet sich übrigens auch im Jätaka (Nr. 535, 93, vgl. 544, 45).
3) Arjuna ist von Indra, dem Töter des Päka, erzeugt.
Kgl. Oes. d. Wiss. Nachrichten. PhU.-hist. Klasse. 1918. Heft 4. 30
446 H- Oldenberg,
an seinen Gelenken schwer getroffen stürzte der Elefant gewaltig
zu Boden, einem donnerkeilzerschlagenen Berg gleich". Die nä-
heren Umstände dieser Elefantentötung sind ja andre als im Jä-
taka. Aber man wird nicht zweifeln, daß auch den Vorgang des
Jätaka der epische Dichter mit andrer Wucht, andrer Fülle der
Bilder, der Farben dargestellt hätte, als der Buddhist, der von
der tragischen Katastrophe eben nur zu berichten weiß, daß der
Jäger das Tier „mit mächtigem Pfeil traf".
Ebenso einfach läßt der Dichter den Jäger zum Elefanten
sagen: „die Königin hat dich gesehen ^^: daß sie ihn im Traum ge-
sehen hat^), mag sich der Hörer, wenn er will, dazu denken'^).
Nicht weniger einfach sagt die Königin : „die Zähne will ich haben",
und verhalten sich die Elefanten, als sie genug geklagt haben:
„sie gingen alle nach Hause". Aus dem Teil, der dem hier Über-
setzten vorangeht, hebe ich als ähnlich im Ton die Frage des
Jägers an die Königin hervor : „Vier Weltgegenden, vier Zwischen-
gegenden, I oben, unten : das (sind) die zehn Weltgegenden. || In
welcher Weltgegend weilt der Elefantenkönig, | den du im Traum
gesehen hast, der sechszähnige?" Streift die Weise, in der hier
der Jäger die Weltgegenden aufzählt, nicht ans Kindliche?
All dem entspricht ganz der sprachliche Charakter der Verse.
Ein kleiner Hauptsatz von einfachstem Bau schließt sich an den
andern. Selten enthalten sie viel mehr als Subjekt, Prädikat,
Objekt, so daß unter den auftretenden Kasus die Nominative und
Akkusative weit vorherrschen ^). Relativsätze oder überhaupt Ne-
bensätze sind nicht häufig ; Konjunktionen, die die Richtung der
Gedankenbewegung nuancieren könnten, fehlen fast ganz; Neben-
handlungen auszudrücken treten immer wieder nur Partizipien und
Absolutive ein. Zu einem Fluß der Diktion, der in rascher Energie
die vom Metrum gegebenen Grenzen überströmte, kommt es nicht ;
wie in der obigen Übersetzung die Angabe der Reihenteilung in
den meist vierreihigen Strophen zu verfolgen erlaubt, pflegen nicht
1) Wie das mehrere Verse an früherer Stelle des Jätaka zeigen.
2) Dieser Ungeschicklichkeit ähnlich ist vielleicht eine, die das Asketen-
gewand des Jägers zu betreffen scheint (oben S. 443 A. 2). Daß er ein solches
trug, ist nirgends erwähnt; und doch scheint in dieser ganzen Partie die voll-
ständige Erzählung in den Versen enthalten. Oder täuscht dieser Eindruck?
Möglich bleibt auch, daß an früherer Stelle des Jätaka. die Prosa die nötige Er-
klärung gab.
3) In der Übersetzung läßt sich das nicht ganz wiedergeben, da die geringe
Fähigkeit des Deutschen zur Bildung possessiver Komposita hier Abweichungen
bedingt.
Jätakastudien. 447
nur zwischen den Strophen, sondern auch im Innern der einzelnen
Strophe die Abschnitte des Vorstellungslaufs und die der gram-
matischen Konstruktion sich durchaus der Herrschaft des Metrums
und seiner Abschnitte zu unterwerfen. Im Ganzen ist das freilich
auch noch im Epos der Fall, doch, scheint mir, dort mit deutlich
fühlbarem Nachlassen der Strenge').
Hier möchte ich noch den eben aus diesem Jätaka beigebrachten
Beispielen naiver Schlichtheit einige weitere aus andern Jätakas
anreihen. Sie zeigen immer dasselbe typische Aussehen: dieselbe
Überdeutlichkeit, die unbefangen auch Selbstverständliches auszu-
sprechen nicht unterläßt; dasselbe geradlinige, nuancenlose Kund-
geben von Eindrücken und Empfiudungen, die feiner durchzu-
arbeiten, über das Nächstliegende hinaus mit reicherem «Enhalt zu
erfüllen man nicht die Fähigkeit besitzt, nicht das Bedürfnis fühlt.
Da sind Mahnungen zur Tugend. Der Grott hat die tugend-
reiche Fürstin Sumedhä besucht und verabschiedet sich von ihr:
„Bewahre lange, Sumedhä, freudig in dir die Tagend. Jetzt gehe
ich in den Dreihimmel. Es war mir lieb dich zu sehen^^ (Nr. 489,
25). — Des Königs Leben ist dem Menschenfresser verfallen. Er
nimmt von seinem Sohn Abschied: „Laß dich heute zur königlichen
Würde salben. Übe Recht unter den Deinen und den Fremden.
Laß keinen Übeltäter in deinem Königreich sein. Jetzt gehe ich
zum Menschenfresser!" (Nr. 513, 9). — Ein Weiser ist in ein ähn-
liches Verhängnis geraten. Er verabschiedet sich vom König. Der
schlägt vor, den Feind zu beseitigen; so würde der Weise bleiben
können. Das lehnt dieser ab: „Richte deinen Greist nicht aufs
Unrecht. Auf Nutzen und Recht sei bedacht. Pfui über böse,
unedle Tat, die vollbringend man dann zur Hölle eingeht!" (Nr.
545, 178).
Gefühlsäußerungen von kindlicher Greradheit. Der König Sivi
hat sich in die schöne Grattin des Ahipäraka verliebt. Er spricht
seinen Herzenswunsch aus: „Wenn Sakka (Gott Indra) mir einen
Wunsch gewährte und mir der Wunsch zu Teil würde, so möchte
1) Verse wie Sävitr. 5, 105 (ich zitiere nach Calands Ausgabe), wo die Zä-
sur das bhartuli sal-äse, 5, 108, wo sie das gaccha panthänam zerschneidet, Nala
4, 31, wo zwischen udälij'tam und mayä das Zeilenende steht, Nala 14, 4, wo
das uväca, zur ersten Zeile gehörig auf die zweite hinüberhängt, werden sich im
Jät. wohl nur ganz selten finden. Es wird eine interessante Aufgabe sein, diese
Verschiebungen des Verhältnisses von Satzabschnitten und Vers ab schnitten in der
indischen poetischen Technik zu verfolgen. Im Kathasaritsägara z. JB. ist die Sach-
lage dem Altertum gegenüber stark verändert. Für die Psychologie des kimst-
lerischen Formens ist derartiges nicht unwichtig. — Vgl. Hopkins, Gr. Ep. 198.
30*
448 H. Oldenberg,
ich eine Nacht oder zwei Nächte Ahipäraka sein. Habe ich mich
dann an TJmmadanti erfreut, möchte ich wieder der König Sivi
sein ')" (Nr. 527, 14). — Der Weise ist von Gefahr befreit -glück-
lich heimgekehrt. Alle freuen sich und bringen ihm viel zu essen
und zu trinken. „Viele Leute waren froh, als sie den zurück-
gekehrten Weisen sahen. Als der Weise angelangt war, schwenkte
man die Gewänder" (Nr. 545, 312; 546, 195). — Der Sohn bietet
sich an statt des Vaters zu sterben. Der Unhold sagt zu ihm:
„Ich sehe, du bist des Jayaddisa Sohn, denn so sieht das Gesicht
von euch beiden aus. Da hast du eine sehr schwere Tat getan,
daß du den Tod suchst den Vater zu befreien" (Nr. 513, 22).
Endlich eine Stelle, die das selbstverständliche Ergebnis einer
Handlung mit kindlicher Ausdrücklichkeit beschreibt. Der König
läßt sich vom Arzt die Augen herausnehmen um sie dem bettelnden
Brahmanen zu geben. „Des Königs Augen herausnehmend bot er
sie dem Brahmanen dar. So hatte der Brahmane Augen; blind
setzte der König sich nieder" (Nr. 499, 16).
Zeigt sich nicht in alldem deutlich die Außerungsweise eines
Zeitalters, für das die einfachsten Effekte ihr Interesse noch nicht
verloren haben — Effekte, unbelastet mit alldem, was die Folge-
zeit von Verfeinerungen in sie hineintragen wird?
Mit den betrachteten Eigenschaften der Jätakapoesie steht
nicht in Widerspruch, daß sich an manchen Stellen doch auch eine
gewisse, im Grunde freilich von Primitivheit nicht sehr weit ent-
fernte Üppigkeit entwickelt in Schilderungen von Schönheit, Reich-
tum, Machtentfaltung u. dgl. : worin sich deutlich die Überladen-
heit der späteren Dichtung mit derartigem ankündigt. So wird
einmal (Nr. 546, 165 ff.) die Reizesfülle einer schönen Erau mit
einem Strom von mehr als zwei Dutzend Beiworten bedacht, zum
Teil langen Zusammensetzungen („saflBorplattenfgleichJschönhüftig,
schwanengesang[gleich]redend" usw.) : ein Beiwort neben dem an-
dern in fortlaufender Reihe % die nur hier und da von Vergleichen
unterbrochen wird (schöngeboren jungem Reh gleich, winterlicher
Feuerflamme gleich")^). Die Waldumgebung, in der Vessantara
1) Vermutlich sii/an ti für siyä ti zu lesen.
2) Vgl. auch die Beschreibung der Scheußlichkeit des Jüjaka, Nr. 547, 474 ff.
Solche Beiwortreihen — Anfänge davon schon im Rgveda — werden immer mehr
zu einem Charakteristikum des indischen poetischen Stils, bezeichnend für dessen
Neigung zu unorganisierter Fülle. Man sehe die Übertreibungen dieser Rede-
weise in der Prosa des lumälajätaka.
3) Auf den besondern Fall der großen Beiwortreihe von Nr. 544, 181 ff., in
der Wort für Wort Komposita die Bestandteile einer komplizierten Vergleichung
Jätakastiidien. 449
als Einsiedler haust, wird beschrieben (Nr. 547, 370 if.) : endlose
Namenreihe der dort wachsenden Bäume, der Schlinggewächse,
der im Walde herumlaufenden Tiere, der Vögel und Wassertiere,
weite Strecken hindurch mehr Register, Nummer für Nummer, als
wirkliche Schilderung eines Ganzen; aber doch heben sich aus
jenen Aufzählungen hier und da kleine Bilder voll anmutigen Lebens
spärlich heraus (v. 395: „zu beiden Seiten des Mucalindasees stehen
schöne Blumen ; mit blauen Lotusblüten ist der schmuckreiche Wald
bedeckt ; trägt man sie einen halben Monat, verlieren sie doch nicht
ihren Duft" u. dgl. mehr). Es ist bezeichnend, daß Schilderungen
dieser Art überwiegend in Reden enthalten sind und diese mit
ihrer Pracht, ihrem Reichtum füllen. Wo dagegen Handlung in
Versen berichtet wird, pflegt das, wie die oben mitgeteilten und
weiter noch mitzuteilenden Proben veranschaulichen, knapp und
schmucklos zu geschehen. Nur schüchtern entwickeln diese Teile
der Dichtung sich über die Grenzen hinaus, die ihnen durch die
alten Gewohnheiten der prosaisch-poetischen Erzählungsform ge-
zogen sind ').
Ich werde weiter unten einige Jätakaabschnitte epischen Pa-
rallelen gegenüberstellen um so noch näher zu veranschaulichen,
wie die Figuren des Jätaka, anders als die epischen mit ihren
wenigstens vergleichsweise freien und mannigfaltig nuancierten
Haltungen, in unbehilflicher Geradheit und Steifheit dazustehen
pflegen, wie ihre Bewegungen und Äußerungen weniger von den
s
I
enthalten (ähnliches nicht selten im Epos), weise ich hier nur hin ohne näher
darauf einzugehen.
1) Ganz ausnahmslos ist das freilich nicht. Eine bemerkenswerte Ausnahme
liefert der Ausgang des Vessantarajätaka (547) : die Beschreibung des Heeres-
zugs, der sich nach der Einsiedelei des Vess. hinausbewegt, und der Vorgänge
dort. Weiter weise ich auf Nr. 535 hin. Soll man diesen Ausnahmen auch die
doch nur kurze Beschreibung der Umgebungen zurechnen, in denen der Chad-
danta-Elefant lebt, und des Elefanten selbst (514, 19flf.)? Dieselbe Beschrei-
bung war vorher in einer Rede gegeben, und die Absicht ging offenbar dahin
auszuführen, daß Alles in Wirklichkeit so war, wie jene Rede es angezeigt
hatte. — Aus dem hier Gesagten scheinen sich mir manche Erscheinungen,
die sonst auffallen würden, zu erklären. Beispielsweise daß man im Alam-
busaj. (Nr. 523) von der Schönheit der Apsaras eingehender erst hört, als der
Asket Gelegenheit hat in seiner Rede diese zu schüdern (v. 14 ff.). Oder daß
im Vidhurapaijditaj. (Nr. 545) die üppige Pracht von Varupas Wohnung und die
Schönheit der Vimalä nicht im Zusammenhang der ersten Szene zwischen diesem
Gattenpaar (v. 1 ff.) beschrieben wird, sondern erst v. 25ff. : da erst findet sich
bequeme Möglichkeit, diese Beschreibung in einer Rede (des Punijiaka an Kuvera)
zu geben.
450 H. Oldenberg,
besonderen Motiven der jedesmaligen Situation regiert und zu
deren charakteristischem Ausdruck gestaltet werden, als sie viel-
mehr in jedem Einzelfall eben nur das allgemeine Schema wieder-
holen. Hier möchte ich noch, was das gegenseitige Verhältnis
dieser einzelnen Elemente des Ganzen zu einander anlangt, etwas
näher auf den schon bei Gelegenheit der eben erwähnten Waldes-
schilderungen (S. 449) berührten Zug eingehen, daß man — wofür
ja Parallelen aus der Geschichte der bildenden Künste nah liegen
— jetzt in vielen Beziehungen^) noch nicht darüber hinausgekom-
men ist, jene Elemente in primitiver Unabgestuftheit gleichberech-
tigt neben einander aufzureihen, ohne Unterscheidung von Vorder-
grund und Hintergrund, von Bedeutsamem und Unwesentlichem.
Wie Jüjaka (in Nr. 547) dazu kommt, Vessantaras Kinder haben
zu wollen, und was ihm beim Suchen nach dessen Wohnsitz be-
gegnet, wird, obwohl es nach unsern Maßstäben durchaus Neben-
handlung ist, doch mit derselben eingehenden Sorgfalt dem Hörer
vorgeführt, wie dann die entscheidenden Ereignisse in der Ein-
siedelei ''). Dasselbe gilt im Bhüridattajätaka (Nr. 543) von den
verwickelten Wegen, auf denen der Held der Geschichte ins Da-
sein kommt ^), oder auf denen der schlangenbändigende Brahmane
in den Besitz des zauberkräftigen Steines gelangt. Ein Vorgang,
der so ganz und gar nicht zu den wirklichen Faktoren der Hand-
lung gehört wie der Austausch der Höflichkeitsformeln zwischen
zwei einander begegnenden Personen, wird, genau wie in der
hieratischen Prosa der Buddhisten, immer wieder mit derselben
Sorgfalt verzeichnet, so ausführlich, als handelte es sich um die
Kundgebung bedeutsamsten, folgenreichsten Empfindens. Immer
wieder, wenn ein König angeredet wird, die Frage, ob sein Reich
in Blüte steht und gerecht regiert wird, ob die Beamten sich
tadellos benehmen, ob die königliche Gemahlin freundlich redend
und folgsam, reich an Kindern und Schönheit ist; wenn es sich
um einen Waldein siedler handelt, ob er hinreichende Nahrung an
Wurzeln und Früchten findet, ob Fliegen und Mücken ihn nicht
belästigen, die wilden Waldtiere ihm keinen Schaden tun. Ja
1) Ohne solche Einschränkung kann eine derartige Behauptung, wie man be-
greifen wird, nicht ausgesprochen werden. Schon die Verwendung der Verse
neben und zwischen der Prosa schließt ja unvermeidlich eine gewisse Hervor-
hebung des einen vor dem andern ein.
2) Man betrachte etwa die Reden der Weiber gegen Jüjakas Gattin (Nr. 547,
V. 267—279), oder J.s Suchen im Walde (das. v. 304—314).
3) Vollends wenn man das allein im Kommentar Erzählte, durch die Verse
nicht Gewährleistete mitrechnet.
Jätakastudien. 451
sogar wie Papagei und Starenweibchen sich begegnen, fehlen die
entsprechenden Fragen nicht (Kr. 546, 27 f. ; vol. VI, p. 418). Auch
das Epos geht an der Verzeichnung solcher Höflichkeitsbezeigungen
nicht vorüber. Aber gegenüber der starren, unerbittlichen Aus-
führlichkeit des Jätaka hat es doch merkliche und bezeichnende
Fortschritte in freierer und zugleich zurückhaltenderer Behand-
lung dieser Dinge gemacht ^).
1) Ich füge hier noch einige Bemerkungen die Komposition der Jätakas be-
treffend an, die nur rein vorläufig an weitere Probleme rühren mögen.
Die Fähigkeit, eine lange, komplizierte Reihe von Vorgängen festzuhalten, hat
schon jetzt eine bemerkenswerte Höhe erreicht. Man darf bezweifeln, daß in der
Brähmanazeit Ähnliches unternommen worden und gelungen wäre, wie in dieser Hin-
sicht im Vidhurapai;i(litaj. (Nr. 545) oder im Mahäummaggaj. (546) geleistet ist. Daß
dabei Nebenhandlungen sich leicht unverhältnismäßig vordrängen, wurde eben be-
merkt ; ein gewisser wenn auch oft lockerer Zusammenhang der Teile unter einander
bleibt doch wohl immer gewahrt. Als Ausnahme könnte man das Sudhäbhojanaj.
(535) anführen, wo die Bekehrung des Geizhalses und das Parisurteil zwischen
den vier Göttinnen in der Tat nichts mit einander zu tun haben. Aber wie die
Anfangsworte des Kommentars zu Nr. 535 ergeben, fing dies Jätaka erst mit v. 22
an. Der vorangehende Teil bildete das Kosiyaj. (Nr. 470, vgl. Dutoit, Kuhn-
Festschrift 351) : womit jene beiden Geschichten reinlich aus einander ge-
schnitten sind.
Anfänge der Einschachtelung einer Geschichte — oder, auf bekannte jüngere
Gebilde hindeutend, ganzer Geschichtenreihen — in eine andre finden sich schon
jetzt, worin sich die spätere Technik freilich erst vorbereitet. So im Indriyaj.
(Nr. 423), dem Padakusalamänavaj. (Nr. 432), dem Takkäriyaj. (Nr. 481), dem
Mahäsutasomaj. (Nr. 537), wobei es für uns gleichgiltig ist, ob Watanabe mit
Recht in seiner wertvollen Studie über dies Jätaka die betreffenden Partien dessen
ursprünglicher Gestalt abspricht (JPTS. 1909, 257. 264); schon in der Versschicht
der Pälifassung erweisen sie sich jedenfalls als vollberechtigt. Anders im Ma-
häummaggaj. (546): wie wieder die Anfangsworte des Kommentars ergeben, ge-
hören die eingelegten Geschichten so wenig wie die ganze Vorgeschichte der
kanonischen Fassung an (richtig darüber Dutoit a. a. 0. 352; danach ist es be-
greiflich, daß die Inschrift von Bharhut das ymmmajhakiyam als besonderes J.
nennt). Im Kuriälajätaka (536) sind die ausführlichen Geschichten von schlechten
Frauen Kommentar, nicht Text. Dem eigentlichen Text gehören nur kurze Hin-
weise auf die betreffenden Vorfälle an; von eingelegten Gescliicbten kann man da
nicht sprechen. Ich verzeichne bei dieser Gelegenheit, was in dem in Betracht
kommenden Teil des Jätaka (vol. V p. 424—444 der Ausgabe) Text ist : 424, 15 —
425, 25; 432, 31—435, 25; 440, 12-15; 444, 3—6; 25—28.
„Einsträngigkeit" der Erzählung liegt keineswegs immer vor. Ich erinnere
aus dem Bhüridattaj. an das Hinüberspringen von den Erlebnissen Bhüridattas,
seiner Gefangennahme, zu den Vorgängen in seiner Familie (Nr. 543, v. 64. 65),
aus dem Vessantaraj. an die Erzählung aus dem häuslichen Leben des Jüjaka
(Nr. 547, v. 265 ff.).
Auch das Gesetz, das man für die Volksepik aufgestellt hat, daß höchstens
zwei Personen zugleich auftreten, gilt hier nicht.
452 H- Oldenberg,
Refrain und Verwandtes. Ein wichtiges, meist sehr
hervortretendes stilistisches Charakteristikum der Jätakaverse zu
beobachten gibt uns gerade das Chaddantajätaka, von dem wir
ausgingen, zufälligerweise wenig Gelegenheit: die oft durch lange
Versreihen gehende Wiederholung des gleichen Wortlauts im Aus-
gang oder Eingang der Strophe, den Refrain und Gegenrefrain.
Es wäre von Interesse, die vedische Vorgeschichte der bud-
dhistischen Refraintechnik einmal im Zusammenhang zu verfolgen.
Im Rgveda spielt das samänodarka bz. das samänaprahkrti keine
sehr große Rolle. Eine weit erheblichere im Atharvaveda: inwie-
weit das auf dem Streben nach magischer Wirkung des immer
wiederholten Wortlauts beruht, inwieweit auf zunehmender Ge-
wöhnung das Lied als Ganzes, beim einen Vers den andern be-
rücksichtigend zu gestalten, soll hier nicht untersucht werden.
In den Dialogversen der Sunahsepaerzählung findet sich der
Refrain nicht ^). Dagegen spielt er und auch der Gegenrefrain
eine nicht unbedeutende Rolle im Suparnädhyäya : ich hebe hervor,
wie auf diese Weise dem Gebot der Schonung gegen den Brah-
manen {sa hrähmanas tarn sma mä han garutman 17, 1 f.) , dem ent-
rüsteten Erstaunen Indras, daß ihm der Soma hat entführt werden
können {yan ma indum haraü Vainateyah 23, 3 ff.), Kachdruck ver-
liehen wird. Aus den alten Resten des prosaisch-poetischen Ma-
häbhärata erwähne ich, von Unerheblicherem absehend, die nach-
drückliche Wiederholung des Pada hhUam prapannam yo hi dadäti
satrave in der Szene von König, Falk und Taube (III, 13 284 ff.):
jedesmal der dritte Päda der vierreihigen Strophe, also ein Mittel-
refrain.
Man sieht aus alldem, daß — was ja auch ohnedies in Anbe-
tracht der uralten, weltweiten Verbreitung des Refrains selbst-
verständlich ist^j — diese Vers Verzierung im alten Indien keines-
wegs nur den Buddhisten ^) angehört. Aber allerdings erscheint
sie wohl kaum irgendwo in der indischen Literatur so überhäufig
Weiteres Eingehen auf Fragen die Kompositionstechnik der Jätakas be-
treffend muß künftigen Untersuchungen vorbehalten werden.
1) Das upehi putratäm mit dem dann zweimal folgenden iipeyäm tava pu-
tratäm Ait. Br. VII, 17, 5f. wird man kaum als solchen ansehn.
2) Man vergleiche hierüber Rieh. M, Meyer, Über den Refrain, Zschr. f.
vgl. Literatur ges eh. I, 34 ff.
3) Noch weniger speziell der Pälitradition des Buddhismus. An Beschrän-
kung der Erscheinung auf diese wird ein Einsichtiger kaum denken. Die Ver-
weisung etwa auf das Kusajätaka in seiner nordbuddhistischen Gestalt (Mahävastu)
würde zur Widerlegung genügen.
Jätakastudien. 453
wie eben hier. Ihr Auftreten in buddhistischen Äkhyänaversen gehört
offenbar zusammen mit ihrem allgemeinen Gebrauch in der buddhi-
stischen Poesie, in der dogmatischen und moralisierenden so gut wie
in der erzählenden oder dialogischen. Und weiter: daß in dieser
Poesie jene Figur zu so besonderer Greltung gelangt ist, kann
kaum außer Zusammenhang mit der Eigenart auch der altbuddhi-
stischen hieratischen Prosa stehen. Diese Prosa und ihren Zu-
sammenhang mit dem Gesammthabitus des buddhistischen geistlichen
Lebens zu beschreiben habe ich anderwärts versucht ^) : diese in
unabänderlich festen Bahnen sich bewegende Diktion, die beständig
genau parallele Sätze oder Satzgruppen an einander reiht, oft so,
daß mehrere derartige Systeme auf einander folgen, jedes in sich
durch dieselbe starre Einerleiheit seiner Glieder zusammenge-
schlossen. Wo der einzelne Prosasatz — ähnlich wie der einzelne
buddhistische Mönch — so ganz und gar nicht seine eigene, frei
seiner Natur gehorchende Individualität besitzt, sondern genau wie
der Satz vor ihm und wie der Satz nach ihm das ihnen allen ge-
meinsame, unabänderliche Schema zu verwirklichen verpflichtet
wird, da ist es begreiflich, daß auch die Poesie auf das stärkste
dazu neigt, eine, wie wir sahen, ohnehin vorhandene Tendenz stei-
gernd, in Versreihen voll Wiederholungen je nach dem Zusammen-
hang bald des Eingangs, bald des Ausgangs, oft von mehr als
nur dem einen oder dem andern, sich zu ergehen. Der Refrain
wirkt hier also keineswegs allein als lyrisches oder musikalisches
oder der Erzählung, der Schilderung, dem Didaktischen Akzente
mitteilendes Element; mindestens ein Teil seiner Geltung ist von
andrer Natur und Herkunft.
Im eben Gesagten ist nun schon auf die weitgehende Ver-
schiedenheit der Formen hingedeutet, in welchen die refrainartigen
Wiederholungen erscheinen. Zuweilen ist das wiederholte Glied
ganz kurz : so das vers- oder halbverseröffnende tatW addasäj mit
dem im Chaddantajätaka (v. 19. 20. 21) beschrieben wird, wie der
Jäger alles das sieht, was ihm die Königin vorher angegeben hat.
Vielfach umfaßt die Wiederholung einen Päda des Metrums oder
auch ein Hemistich. Nicht selten aber sind ganze Verse reihen-
weise mit einander identisch — bis eben auf einen wie auch immer
gestellten Ausdruck, auf dem die Verschiedenheit von Vers und
Vers beruht. Ahnlich der eben inbezug auf die Prosa hervorge-
hobenen Besonderheit lösen sich inmitten längerer Abschnitte oft
I
1) „Zur Geschichte der altindischen Prosa" 39 ff. Dort S. 32 über die Vor-
stufe des betreffenden Stils in den Upanisaden.
454 H. Oldenberg,
mehrere durch K-efrains oder solche Identitäten zusammengehaltene
Systeme ab, wobei deren Struktur, wenn man das eine System
mit dem andern vergleicht, keineswegs symmetrisch zu sein braucht.
Zuu Veranschaulichung davon, wie viele verschiedene Figuren sich
hier durch einander wirren können, analysiere ich aus dem Ves-
santarajätaka v. 108 — 133 die Klagen der Königin darüber, daß
Vessantara mit der Grattin in den Wald verbannt werden soll (ich
bezeichne die vier Pädas des Verses mit a, h, c, d). v. 108 — 109
unter einander gleich bis auf kleine Variante in h. v. 110—111 =
108 — 109, doch kleine Variante jenen gegenüber in a, in welchem
Päda diese Verse immer zu je zweien unter einander gleich sind.
v. 112 ah neu und für sich alleinstehend, cd den vorangehenden Versen
gleich; im Übrigen dann die Verse bis 117 nur durch ungefähre
Ähnlichkeiten zusammengehalten. 118 — 120, 121—123 je drei Verse,
von denen immer der letzte ein überschüssiges Hemistich hat; die
zweite Triade auch durch das eröffnende yässu in sich zusammen-
gehalten; im Übrigen innerhalb jeder Triade verschiedene, teil-
weise weitgehende Entsprechungen in wechselnden Piguren ^). 124
—126 in ah gleich; 125 und 126 auch in d. 127—129 die Ver-
gleichung von 124* — 126* durch andre Vergleichung ersetzend,
sonst die vorangehenden drei Verse mit ihren Grleichheiten und
Ungleichheiten genau wiederholend. 130-132 wieder neue Ver-
gleichung, diesmal das ganze erste in den drei Versen identische
Hemistich umfassend; die drei zweiten Hemistiche wiederholen die
der vorangehenden beiden Verstriaden. Endlich 133 für sich
stehender Schlußvers. Man sieht, daß, wenn der Gebrauch von
Refrains und dgl., insonderheit in solchem Umfang wie hier, eine
Tendenz starker Stilisierung der Rede in sich schließt, doch ander-
seits wieder diese Symmetrien mit recht naturwüchsiger Unsym-
metrie gehandhabt werden : ein für die Charakteristik dieser Künst-
lichkeiten nicht unwesentlicher Zug ^). Besondere Beachtung scheint
1) Im Vorübergeben ein Wort über den Text von v. 123 yässu Indassa
gottassa ulukassa pavassato sutväna nadato bhltä . . . pavedhati. Es handelt sich
darum, daß die Fürstin sogar ein.en Eulenschrei nicht hören kann ohne zu er-
schrecken. Was soll da Indassa gottassa? Die Cambridger Übersetzung „she who
of Indra's royal race'^ geht offenbar fehl. Nicht die Fürstin , sondern die Eule
(als Kausika) ist Indras Geschlechtsgenossin. Daß dies die Pointe ist, hat schon
Dutoit als möglich erkannt. Nur ist es nicht blos möglich, sondern evident.
Weiter aber ist evident, daß dann zu lesen ist indasagottassa ; vgl. Nr. 535 v. 95.
In JPTS. 1909, 20 ist der Sachverhalt offenbar erkannt.
2) Als bezeichnende Beispiele von Unregelmäßigkeit hebe ich noch hervor
Nr. 532, 118 ff. (Setzung und Nichtsetzung des Refrains Tco eti siriyä jalani); Nr.
531, 37 ff. (desgl. von gayhä valco gacchati yenakämam).
Jatakastudien. 455
mir die hier deutlich erkennbare Neigung zur Trcabildung zu ver-
dienen. Anderwärts wiederum zeigt sich die nicht; wo etwa das
zwischen den zusammengehörigen Versen wechselnde Element seiner
Natur nach auf eine andre Zahl führt, doch oft auch ohne der-
artige Nötigung finden sich statt der Dreiheiten andre Gruppie-
rungen. Im vorliegenden Fall aber kann die deutliche Charakte-
risierung von V. 118 — 132 als fünf Triaden unmöglich Zufall sein ^).
Man wird an den Aufbau vedischer Trcalieder erinnert ; und wenn
dann auf die Trcareihe ein einzelner Schlußvers folgt, stimmt auch
dies zu weitverbreitetem vedischem Gebrauch^).
Man durchblättere irgend ein versreicheres Jätaka wie z. B.
das von Vessantara : man gewinnt leicht eine Vorstellung von der
außerordentlich starken Vorliebe, mit der die hier beschriebenen
Figuren verwandt werden. Die leiseste Möglichkeit, eine Vor-
stellung durch mehrere Synonyma oder ungefähre Synonyma aus-
zudrücken und ähnliche Sachlagen genügen den Poeten als Anlaß
zu ermüdend inhaltsarmer Aneinanderreihung verschiedener Verse,
die im Übrigen identisch sich nur durch die Setzung jetzt des
einen, jetzt des andern jener Ausdrücke unterscheiden : so Nr. 547
V. 39. 40 zwei Verse aus je drei Hemistichen, in denen nur das
Schlußwort oraso bz. atrajo wechselt; manches derartige in der
langen Rede das. v. 76 ff. und öfter. Derartige Stellen lassen
empfinden, wie ganz diese Variationen zur Manier geworden sind.
Von der Wucht und Tiefe der Wirkung, die dem Refrain eigen
sein kann, ist da nichts zu spüren.
Wiederholungen der beschriebenen Art finden sich nicht nur
im Innern derselben Rede, sondern auch im Dialog zwischen Rede
und Gegenrede (z. B. Nr. 443 v. 4. 5 ; man berücksichtige auch
das Verhältnis zu v. 2. Weiter Nr. 455 v. 5. 6; Nr. 458 v. 11.
12 und sonst häufig). Ebenso in erzählenden u. dgl. Verspartien
(z. B. Nr. 457 v. 10. 11; Nr. 538 v. 50. 53; Nr. 539 v. 116 ff.;
Nr. 545 V. 181 ff. usw.), oder auch zwischen Rede und Erzählung
(Nr. 530 V. 8. 10). Ja sogar verschiedene einversige Jätakas
können durch derartige Entsprechung ihrer Verse auf einander
bezogen werden (Nr. 51. 52; 59. 60).
Zu den Umständen, welche die Anwendung dieser,. Figur be-
günstigten, gehört, neben der schon oben hervorgehobenen allge-
1) Als andre Beispiele in die Augen fallender Trcabildung führe ich an Nr.
504 Y. 5—7; 22—24: der zweite Fall der oben S. 438 besprochene, wo der Trca
aus der Haupterzählung in die Rahmenerzählung hinüberreicht. Weiter Nr. 539,
Y. 116—118; 119—121.
2) Siehe meine Prolegomena 134 f.
456 H. Oldenberg,
meinen Tendenz der buddhistisclien literarischen Formgebung,
speziell wohl auch der prosaisch-poetische Aufbau dieser Erzäh-
lungen. Indem Reden, in diesen enthaltene Beschreibungen u. dgl.
nicht in den Gesammtfluß der Erzählung aufgelöst wurden, be-
günstigte die Sonderstellung dieser Schmuckstücke, daß man sie
in sich zu besonders scharf ausgeprägten selbständigen Einheiten
zusammenschloß: und eben solchen Zusammenschluß verwirklichte
der Refrain in sichtbarster Weise. Über das alles aber scheint
mir ein bedeutsamer Faktor in der altertümlichen Unfreiheit des
künstlerischen Empfindens zu liegen, die sich hier verrät. Wie
auf so vielen Denkmälern archaischer bildender Kunst die Einzel-
figur noch nicht ihre eigene Wesenheit besitzt, sondern unver-
ändert die Haltung der umgebenden Figuren wiederholt, so ist es
auch hier. Die Bewegung, in strenge Form eingehend, ist in dieser
Form versteinert, und in starrer Einerleiheit reihen sich so die
Grebilde an einander, die mit freiem, wechselreichem Leben zu
durchdringen diese Kunstübung noch nicht gelernt hat.
Gregenüberstellung von Jätakas und Abschnitten
der Epen: die Sy ämaerzählung. Ich versuche die im OT)igen
beschriebenen stilistischen Charakteristika der Jatakas weiter zu
veranschaulichen an den Kontrasten zwischen diesem Stil und dem
in der großen Hauptmasse der beiden Epen herrschenden. Dazu
wähle ich zunächst eine Erzählung, die sich auf beiden Seiten in-
haltlich im Wesentlichen identisch findet: die Greschichte vom As-
ketenknaben, den der königliche Jäger versehentlich getroffen hat,
Jät. Nr. 540 und Räm^yana II, cp. 63. 64 ed. Bombay ^).
Gleich die ersten Jätakaverse sind charakterisch. Der ver-
wundete Asketenknabe spricht :
„Wer hat mich mit dem Pfeil getroffen, den sorglosen Wasser-
holer? Ein Ksatriya, ein Brahmane, ein Vai^ya? Wer bist du,
der du mich aus dem Versteck getroffen hast?
„Mein Fleisch ist nicht eßbar. Meine Haut ist nicht zu brau-
chen. Aus welchem Grunde hast du denn gedacht, daß du mich
treffen willst?
1) Die Gestalt der Geschichte im Mahäbhärata III, 14 054 ff. und im 9. Ka-
pitel des Raghuvaqisa liegt weiter ab. Im Rämäya];ia (R.) tritt nicht selten noch
Zusammenhang mit den Gäthäs des Jätaka (J.) deutlich hervor. Vgl. J. 29 ayam
ekapadi räjä, R. 63, 44 iyam ekapadl räjan; J. 39 adüsaJcä pitäputtä tayo ekü-
sunä hatä , R. 63, 32 vrddhau ca mätäpitaräv aham caikesunä hatali ; J. 76 ff.
ha kincim ahhibhäsasi, R. 64, 30 na ca mäm dbhihhäsase ; J. 85 ho däni bhunja-
yissati vanamülaphaläni ca, R. 64, 34 kandamülaphalam hrtvä yo mäm . . . hho-
jayisyati. — Die Fassung des Mahävastu II p. 209 ff. 219 ff. heranzuziehen ist
unnötig.
Jätakastudien. 457
„Wer bist du und wessen Sohn? Wie sollen wir dich kennen?
Ich frage dich, Freund, sag es mir: was willst du, daß du mich
aus dem Versteck getroffen hast?" —
Worauf der König in ganz ähnlichem Ton antwortet ^).
Wie gleichmütig klingt das alles ! Der jählings zum Tode
Verwundete schreit nicht auf, macht keiner schreckensvollen Er-
regtheit Luft, oder wenn vielleicht seine seelische Erhabenheit die
ausschließt, keiner Betrachtung über den Weltlauf, über das Herr-
schen der Gewalt u. dgl. In ruhigster, sachlichster Sprache er-
kundigt er sich, wer geschossen hat, ob ein Ksatriya oder welcher
Kaste er angehört. Ebenso sachlich legt er die Zwecklosigkeit
solches Schusses dar. Er braucht genau die auch sonst, in sehr
anders gearteten Situationen, geläufigen Wendungen der Erkundi-
gung : ho vä tvam Icassa vä piitto, Mtham jänemu tarn mayam^ puttJio
me samma alcJchähi.
Wie ganz anders das Rämäyana (63, 25 ff.). Zuerst ein Schrei:
Ha! ha! Und dann ein Erguß pathetischer Beredsamkeit. Auch
hier sagt der Verwundete wie im Jätaka, daß er dabei war Wasser
zu holen. Aber die Situation wird reich und anschaulich ausge-
malt: zum einsamen Fluß war ich in der Nacht gekommen Wasser
zu holen. Und weiter: wem habe ich nur etwas zu Leide getan?
Bin ich doch Asket — und eine Menge von Beiworten beschreibt
die Erscheinung des Asketen und sein Wesen, das Niemandem
Schaden bringen kann: nyastadandasya vane vanyena jtvatah . . , ja-
tähhäradharasyaita valkaläjinaväsasah. Mit einem gurutalpaga wird
der Täter verglichen. Und schon hier drängt sich der Gedanke
an die hilflosen Eltern in den Vordergrund: durch einen Schuß
1) In dieser Antwort ist das dalhadhammo (so bezeichnet sich der König
selbst) zwar nicht vom Kommentar, der das Richtige hat, aber von beiden Über-
setzern mißverstanden worden („stout is my heart nor given to change", ^,als
starker Mann bin ich bekannt"). Im vorangehenden wie im folgenden Satz rühmt
der König seine Bogenkunst; offenbar liegt also, wie auch Franke, Päli u. Skt.
97 erkannt hat, Entsprechung von Skt. drdhadhanvan- vor. Nach Geiger, Päli,
65 (vgl. auch Pischel, Gramm, der Prak.-Sprachen 205) wäre dafür *dalhadhanno
zu erwarten, was wegen der Ähnlichkeit mit dhamma leicht entstellt werden
konnte , wie ja in der Überlieferung des Päli nichts häufiger ist als Verschie-
bungen der Wortgestalt auf Grund derartiger Ähnlichkeiten. Doch scheint mir
dialektisches Eintreten von mm infolge der labialen Natur des v immerhin nicht
undenkbar. Ungefähr vergleichbar wäre das dialektische Nebeneinanderstehen
von atta- und appa- = ätman-. Wie verhält es sich nun mit Bhammantarl (Jät.
IV p. 496) = Dhanvantarih'^ Daß der in Rede stehende fragliche Lautwandel
beidemal gerade auf das geläufige dhamma- führt, bleibt doch verdächtig. — Der
Vers mit dalhadhammo kehrt in diesem Jätaka noch mehrfach wieder.
45S H- Oldenberg,
sind wir alle drei getroffen — welcher Tor, dessen Ich die Leiden-
schaften nicht bezwungen hat, hat das getan?
Ich berühre nur in der Kürze noch Folgendes : gegenüber der
immer sich gleichbleibenden Schlichtheit der Jätakaverse die Klagen
desb Knaben im Rämäyana, daß Tapas und Gelehrsamkeit keinen
Lohn finden — daß der Vater ihn nicht liegen sieht: doch wüßte
der von meinem Unglück, könnte er ja doch nicht helfen, so wenig
wie der Baum dem Baum, der umgebrochen wird, helfen kann.
Im Jätaka die Botschaft des Knaben an seine Eltern: ^, Meiner
Mutter und meinem Vater richte, wie ich es dir auftrage, meine
Ehrfurcht aus." Im Rämäyana wie viel effektvoller: „Grehe hin
und erwirke seine (des Vaters) Gnade, damit er nicht im Zorn
dich verfluche!" Und dann im Jätaka kurz und einfach: „Als
Säma so gesprochen, der Jüngling schön anzuschauen, betäubte
ihn des Gifts Gewalt, und ihm schwanden die Sinne." Dagegen
im Rämäyana wortreiche Beschreibung, wie dem am Boden sich
Windenden der Pfeil herausgezogen wird, wie er zitternd den
König anblickt und aus dem Leben scheidet.
Nur eine Verspartie auf beiden Seiten, ein Hauptstück des
Ganzen, stelle ich noch gegenüber, ehe ich diese Erzählung ver-
lasse: die Klagen der Eltern, die der König zum Körper Syämas
geführt hat (J. 72ff., R. 64, 30 ff.). Im Jätaka 14 Strophen, zer-
fallend in drei Gruppen, jede in der oben beschriebenen Weise
bis auf den Wechsel eines Worts oder eines Versteils Strophe für
Strophe sich wörtlich wiederholend, z.B.: „Gewiß bist du einge-
schlafen (dafür in den folgenden Versen: gestört, verwirrt, erzürnt
usw.), Säma schön anzuschauen, daß du heut, wie die Zeit hinge-
gangen ist, nicht zu uns redest ^^ ^). Und dann : „Wer wird jetzt
den Besen nehmen und die Einsiedelei kehren? (dafür im Fol-
genden: Wer wird uns jetzt mit kaltem. Wasser und mit warmem
waschen? Wer wird uns jetzt mit den Wurzeln und Früchten
das Waldes speisen?). Unser Säma ist hingegangen, der für uns
Blinde sorgte!" Auch hier alles schlicht und kindlich, die Ge-
schäfte des alltäglichen Kleinlebens mit eingehender Sorglichkeit
bedenkend. Welch' andern Flug nimmt die Beredsamkeit des Rä-
mäyana ! Manche der eben aufgeführten Motive des Jätaka kehren
auch hier wieder ^), aber in wie andrer Form ! So die Vorstellung,
1) Die englische Übersetzung zieht die 14 Strophen in vier zusammen, „as
they are füll of repetitions". Vom echten Aussehen des Originals, zu dem nun
einmal eben diese Wiederholungen gehören, geht dadurch doch Wesentliches ver-
loren.
2) Baß dem Epos in irgend einer Fassung die altertümlichen Verse vorge-
i
Jätakastudien. 459
der Sohn könnte erzürnt sein: „Was bist du denn erzürnt? Bin
ich dir vielleicht nicht lieb , mein Sohn ? So sieh doch deine
Mutter an, die gute! Warum umarmst du sie nicht, mein Sohn?
So sprich doch ein freundliches Wort!" Oder die Sorge, wer sich
nun um das Mahl kümmern wird: „(Wer ist es,) der Knollen,
Wurzeln und Früchte nehmen und wie einen lieben Gast mich
speisen wird, der ich zu allem Tun ungeschickt bin, lenkerlos und
führerlos?" Man sieht, wie die einfache Vorstellung des andern
Textes hier bereichert, nuanciert^ mit Akzenten versehen ist. Dazu
kommt nun aber in K. weiter eine Fülle mannigfacher neuer Fi-
guren von Gedanken und Ausdruck. Wessen Stimme zu Herzen
gehend werde ich beim Kommen des Morgens hören, wenn er ein
Lehrbuch oder sonstige Weisheit vorträgt ? Bleib hier, geh nicht, geh
nicht, mein Sohn, in des Todes Reich! Morgen wirst du mit uns gehen,
wenn du dich erholt hast, mit mir und mit deiner Mutter ! Von
dir verlassen werden wir beide in Yamas Reich hinabsteigen —
und weiter, was dann der Vater zum Totengott sagen wird, und
zu welchen Himmeln der Sohn eingehen soll, welche berühmten
Könige dort wohnen, welche Guttäter dort den Lohn ihrer Werke
empfangen. Jetzt Frage, jetzt Mahnung, jetzt phantastisches
Voraussagen kommenden Geschehens, jetzt Gebet — fortwährend
bunter Wechsel der einander drängenden Motive, der Stellungen,
die der Redende einnimmt. Hält man das neben die eintönige
Stilisiertheit des Jätaka, sein unentwegtes Feststehen auf dem-
selben Punkt und Wiederholen derselben abgezirkelten Bewegungen,
so wird man empfinden, wie jene Rede in diesem, diese in jenem
Text schlechterdings undenkbar sein würde ^). —
Zur Bestätigung, daß wir uns nicht durch zufälliges Aussehen
willkürlich gewählter Probestücke täuschen lassen, stelle ich noch
einen andern Jätakaabschnitt einem epischen gegenüber. Die Si-
tuation auf beiden Seiten ist nicht dieselbe, aber doch, scheint
mir, verwandt genug, um Vergleichung zuzulassen. Maddi kommt
zur Waldeinsiedelei zurück ; ihre beiden Kinder sind verschwunden ;
sie bricht in Klagen aus (Nr. 547, v. 546 if.). Damayanti erwacht
im Walde; ihr Gatte ist verschwunden; sie 'bricht in Klagen aus
(Nala Kap. 11).
legen haben, die wir aus dem Jätaka kennen lernen, ist wahrscheinlich; vgl. oben
S. 456 Anm. 1.
1) Daß speziell der Refrain, dessen Auftreten und Nichtauftreten hier als
ein unterscheidendes Charakteristikum zwischen den beiderseitigen Reden hervor-
gehoben wurde, im Übrigen dem Epos keineswegs prinzipiell fremd ist, übersehe
ich natürlich nicht. Aber wie gering ist dort seine Geltung verglichen mit der
im Jätaka!
460 H. Oldenborg,
„An dieser Stelle'', sagt MaddT, stehen sonst die Kinder staub-
bedeckt. Sie sind mir entgegengekommen, wie junge Kälber der
Mutter.
„An dieser Stelle stehen sonst die Kinder staubbedeckt. Sie
sind mir entgegengekommen, wie Schwäne über den Teich.
„An dieser Stelle stehen sonst die Kinder staubbedeckt. Sie
sind mir entgegengekommen nicht weit von der Einsiedelei. ''
Solche Wiederholungen, wenn auch größtenteils nicht so weit
getrieben, gehen auch durch das Folgende durch. Die nächsten
zehn Strophen schließen sämmtlich mit der Zeile: ,, Heute sehe ich
die Kinder nicht, Jäli und Kanhajinä beide'', oder mit den Worten :
„Ich sehe die Kleinen nicht" ^) — Strophe für Strophe einfache,
anmutig zarte Bilder aus dem Kleinleben von Mutter und Kindern,
von Kindern und Matter ; immer nur wenige Worte, öfter dieselben
Motive wiederholend, jedes kleine Bild unabhängig neben dem andern,
durch den umrahmenden Schlußsatz vom andern getrennt. Wie
Rehe mit gespitzten Ohren laufen die Kinder sonst fröhlich um-
her; wie einer Ziege ihre Jungen kommen sie mir aus der Ein-
siedelei entgegen, sehen mich von weitem; hier liegt ihr Spielzeug
von gelbem Bilvaholz; auf meinem Schoß suchen sie umher, die
Eine hängt sich an meine Brust . . . Zum Schluß drei Strophen
voll von der Angst des Mutterherzens :
„Sonst wie ein Festplatz erscheint mir die Einsiedelei; heute
wo ich die Kinder nicht sehe, dreht sich mir die Einsiedelei vor
den Augen.
„Wie so lautlos erscheint mir die Einsiedelei! !N"icht einmal
die Haben schreien. Gewiß sind meine Kleinen tot!
„Wie so lautlos erscheint mir die Einsiedelei! Nicht einmal
die Vögel schreien. Gewiß sind meine Kleinen tot!"
Sehr anders das Epos. Als die verlassene Damayanti erwacht
und den Gatten nicht sieht, „laut schrie sie zitternd zum Nishadher :
Großer König ! Ha , mein Hort ! Ha , mein König ! Ha , mein Ge-
bieter! Was verläßt du mich? Ach, ich bin erschlagen! Ich bin
vernichtet! Die Furcht faßt mich im einsamen Walde!" Und so
strömt sie ihren Jammer aus : Wie konntest du deine treue Gattin
verlassen und von ihr gehen! Wirst du mir nicht wahr machen,
was du vor den welthütenden Göttern mir gelobt hast ? Ich sehe,
daß vor der Zeit, die bestimmt ist, kein Sterblicher hinscheiden
kann, wenn dein geliebtes Weib, von dir verlassen, auch nur einen
1) Die beiden Refrains gehen regellos durch einander, vgl. das oben S. 454
über solche Regellosigkeiten Bemerkte.
Jätakastudien. 461
Augenblick am Leben bleibt. Genug deines Scherzes ! Ich fürchte
mich! Zeige dich mir, König! Ich sehe dich! Ich sehe dich!
Hinter den Büschen hast du dich verborgen! Warum sprichst du
nicht zu mir '? Welche Untat begehst du, der du in diesem Elend
mich, die Klagende, nicht tröstet, nicht zu mir kommst ! Ich jam-
mere ja nicht um mich selbst, um nichts sonst. Nur um dich,
mein Fürst, jammere ich: wie wird es dir ergehen, wenn du allein
bist? Abends zwischen den Baumwurzeln, wenn du durstest,
hungerst, ermattet bist und mich nicht siehst!
Über Damayanti ist ja das Leid schon gewisser herein-
gebrochen als über Maddi, die für jetzt nur erst schwerste Sorge
vor sich sieht. Aber auch solche Sorge hätte der Verfasser des
Nalagedichts gewiß sehr anders als der buddhistische Poet, den
Klagen Damayantis ähnlich geschildert. Vielleicht mag man die
Schlichtheit des buddhistischen Gedichts als echter, als tiefer zu
Herzen gehend, den Erguß Damayantis als allzu beredt empfinden.
Aber darüber, wie viel weiter es der Epiker in der freien Herr-
schaft über die poetische Form gebracht hat, kann keine Frage
sein : was ich nach dem oben zu den beiden Fassungen des Syäma-
gedichts Bemerkten näher auszuführen unterlasse.
Ahnliche Beobachtungen kann man machen, vergleicht man,
wie im Jätaka und anderseits in den Epen etwa der bunte Wald,
der Gebirgswald, die schöne Frau geschildert wird^, oder auch
wie verschiedene philosophische Weltanschauungen einander gegen-
übertreten (aus dem Jät. vgl. besonders Nr. 544): das Ergebnis
ist immer das gleiche.
Soll man nun die hier vorliegenden Unterschiede vielmehr auf
die Verschiedenheit zweier neben einander stehender poetischer
Gattungen — wie man auf andern geschichtlichen Gebieten das
Lied mit seiner Neigung zu Wiederholungen und das Epos za
unterscheiden hat — als auf das zeit- und entwicklungsgeschicht-
liche Verhältnis zurückführen?
Mit Rücksicht auf die speziell indischen Verhältnisse scheint
hinsichtlich dieser Frage Folgendes zu bemerken.
In der Vedenzeit finden wir als alleinigen Vorgänger der uns
beschäftigenden literarischen Typen den der äunahsepadichtung
1) Ein bezeichnender Zug : wo in den Jätakas von schönen Frauen die Rede
ist — ein ja auch dort geläufiges Thema — , spielen in der poetischen Maschinerie
die Lotus entfernt nicht die Rolle wie in den Epen. Die literarische Lebens-
geschichte des Lotus und einiger andrer dieser den Indern so teuren poetischen
Requisiten zu verfolgen wäre, auch für chronologische Fragen, von Interesse.
Einiges über den Lotus gibt jetzt Macdonell ERE. VIII, 142 f.
Kgl. Ges. d. Wiss. Nachrichten. PhU.-hist. Klasse. 1918. Heft 4. 31
462 H. Oldenberg,
und des Suparnädhyäya (mit den dort hinzuzudenkenden Prosa-
ergänzungen). Dies ist eben der eigenartige Grrundzug dieser in-
dischen Entwicklungen, daß hier durchaus vom prosaisch-poetischen
Typus auszugehen ist^). Für die Zeit der eben genannten Texte
liegt kein Grund zur Annahme vor, daß es neben ihrem Typus
noch einen von ihnen verschiedenen des höheren , eigentlichen
„Epos" gegeben habe. Das Gredicht von Sunahsepa veranschaulicht
vielmehr offenbar den höchsten, feierlichsten Stil des Erzählens,
den man damals kannte. Jüngere, weiter entwickelte, in mancher
Hinsicht variierte, minder feierlich gehaltene Exemplare dieses
Typus liegen dann in den Jätakas vor. Und auch das Bhärata
und die Rämadichtung sind durch eben dies prosaisch -poetische
Stadium hindurchgegangen^); wir werden sie uns da, wie die er-
haltenen Reste des Urbhärata zu bestätigen scheinen, von ihrem
größeren Umfang abgesehen, vielen Jätakas ähnlich vorzustellen
haben. Für das Problem, wie sich dann das Herauswachsen der
rein poetischen Epen aus dieser Vorstufe vollzogen hat, geben
uns die oben dargelegten Beobachtungen über das Vordringen der
poetischen Form in den Jätakas Fingerzeige, die man freilich nicht
überschätzen, denen man nicht allzu unbedingt folgen wird. Denn
statt um die massenhaften, leicht veränderlichen Produktionen
dieser Erzählungsliteratur handelt es sich ja auf der andern Seite
um wenige, umfängliche; allem Anschein nach schwerer wandelbare
literarische Schöpfungen. Daß die etwa der Reihe nach durch die
Stadien hätten hindurchgehen müssen, die sich an den kleinen Er-
zählungen beobachten lassen, wäre natürlich eine gewagte Annahme.
Von einer andern Seite geben uns dann einen in mancher Hinsicht
bestimmteren Anhalt dafür, uns den Übergang von der älteren
zur jüngeren Erzählweise vorzustellen, solche Beispiele wie die
Geschichte von König Sibi mit Falk und Taube, die im Epos so-
wohl in der altertümlichen prosaisch-poetischen wie, an zwei Stellen,
in der gewöhnlichen epischen Erzählweise vorliegt, und weiter
vor allem die Suparnageschichte, von der wir so glücklich sind
das prosaisch-poetische Exemplar zu besitzen, welches — oder ein
ihm ganz ähnliches — einer der Mitarbeiter am Mahäbhärata be-
nutzt hat, als er die dort vorliegende rein poetische Fassung ge-
1) Die in vedischen Texten für gewisse rituelle Gelegenheiten erwähnten
kurzen, eventuell mit Instrumentalbegleitung gesungenen Strophen preisenden In-
halts zu Ehren von Königen liegen von den hier zur Betrachtung stehenden Ge-
' bilden durchaus ab.
2) Vgl. meine Abhandlung „Zur Geschichte der altindischen Prosa", S. 68.
Jätakastudien. 463
staltete: auf die höchst lehrreichen an diesem konkreten JTall zu
machenden Beobachtungen über die Wandlung der alten in die
neue Form denke ich demnächst zurückzukommen.
Ich nehme also an, um es noch einmal möglichst bestimmt
auszudrücken 5 daß der Erzählungstypus des Jätaka einst auch in
Werken geherrscht hat, denen man schon für jene Zeit gewiß
nicht das volle Recht bestreiten wird als Epen zu gelten. Fort-
schritte des künstlerischen WoUens und Könnens — vermutlich
daneben auch solche des Schriftgebrauchs — haben dann zu der
neuen, in den Epen herrschend gewordenen Form geführt, welche
die früher in einer gewissen Selbständigkeit einzeln dastehenden
metrischen Einlagen in den großen Fluß der nunmehr ausschließ-
lich metrischen Gesammtdarstellung auflöste und entsprechend die
durch jene Einzelstücke durchgehenden Wiederholungen zurück-
drängte. Wie daneben in andern Entwicklungslinien (Pancatantra,
Jätakamälä) der alte prosaisch-poetische Typus festgehalten und
auch hier wieder eigenartig weiter entwickelt wurde, werde ich
hinsichtlich einer der da entstandenen Formen, derjenigen der Jä-
takamälä, alsbald zu berühren haben.
Was noch speziell das chronologische Verhältnis zwischen Jä-
takas und Epen anlangt, so ist natürlich nicht vollkommen gewiß,
daß wir dieses kurzweg nach dem entwicklungsgeschichtlichen zu
beurteilen haben. Die Möglichkeit läßt sich nicht abweisen, daß
die literarische Praxis der altbuddhistischen Mönche noch auf pri-
mitiverer Stufe verblieb, als die raschere Beweglichkeit weltlicher,
höfischer Kreise schon darüber hinausgeschritten war. Solches
Bedenken wird dadurch nicht beseitigt, daß ähnliche Gegenüber-
stellungen des älteren und jüngeren Stils, wie sie hier zwischen
Jätakas und Epos vorgenommen wurden, wesentlich in der gleichen
Weise auch zwischen der Hauptmasse des Epos und einigen älteren
in das Mahäbhärata selbst eingesprengten Partien ausführbar sind.
Daß sich hier etwa dasselbe Bild fortschreitender Bewegung er-
gibt, wie zwischen den Jätakas und der Hauptmasse des Epos,
würde über die chronologische Frage natürlich nur dann entschei-
den, wenn eben das feststände, was nicht feststeht : daß das inner-
lich Gleichartige auf beiden Seiten immer auch gleichzeitig ge-
wesen sein muß. Vollkommene Sicherheit wird sich hier schwer-
lich erreichen lassen. Immerhin sind doch wohl die Indizien, die
der Jätakapoesie das höhere Alter zuzuweisen scheinen, auf dem
hier betrachteten Gebiet des Stils wie übereinstimmend damit auf
manchen andern Gebieten so breit gelagert, daß man jener zu-
31*
464 H. Oldenberg,
nächstliegenden Ansicht des Zeitverhältnisses die weitaus über-
wiegende Wahrscheinlichkeit unbedenklich zusprechen wird^).
Zum Verhältnis der Jätakas und der Jätakamälä.
Unsre Beobachtungen über den Stil der Jätakas zu stützen scheint
es endlich noch zweckmäßig, an einigen Stellen die spätere, kunst-
mäßige Ausgestaltung ihres alten Textes in der Jätakamälä^)
zu vergleichen. Man beachte, daß die Jm. nicht an sich selbst den
Gegenstand der folgenden Bemerkungen bilden soll, beispielsweise
nicht etwa die Praxis ihres Verfassers der Theorie des Alaipkära
gegenübergestellt werden wird. Vielmehr geht die Absicht allein
dahin, durch ihren Kontrast verstärktes Licht auf die Eigenart
der Jätakas zu werfen.
Es handelt sich zunächst um die ßolle, die im Ganzen der
Erzählungen den Versen zufällt. Sodann um deren stilistisches
Aussehen.
In der Jm. sind die Geschichten ungefähr — was natürlich
mit einiger Weite verstanden werden muß — gleichmäßig mit
Versen durchsetzt. Hat das zu Grunde liegende Jätaka wenige
Verse, wie das einversige 40 oder das vier versige 316, so fügt
Jm. (IV bz. VI) massenhaft Verse hinzu. Anderseits bei einem
ausnahmsweise ganz in Versen verfaßten J. (516) setzt Jm. (XXIV)
an vielen Stellen Prosa ein, um das allgemein geltende Verhältnis
auch hier aufrecht zu erhalten. In der Diktion der Verse und
der Prosa zeigt die Jm. die gleiche Künstlichkeit. Die Verse
aber kann ein mit dem J. Vertrauter nicht lesen, ohne zu emp-
finden, daß da neben den Bearbeitungen der alten J.verse fort-
während Verse und Versmassen erscheinen, die auch wenn man
1) Wenn in den vorstehenden Untersuchungen unternommen ist, dem Stil
der Jätakas verglichen mit dem jüngeren, dem epischen, seine Stelle anzuweisen^
entstände nun die Aufgabe, entsprechende stilistische Vergleichungen mit dem
älteren, vedischen Erzählungsmaterial vorzunehmen, das natürlich viel spärlicher
zur Verfügung steht. Viel wird sich da freilich kaum ergeben. Halten wir uns
etwa an die Sunahsepageschichte, so scheidet deren Prosa für unsern Zweck im
Wesentlichen aus, da wir alte Prosa der Jätakas (bekannte Ausnahmen abge-
rechnet) ihr ja nicht gegenüberstellen können. Und die Verse liegen inhaltlich
von denen der Jätakas so weit ab, daß von Vergleichungen nicht allzu viel die
Rede sein kann. Trotzdem, meine ich, wird man die — in rein chronologischer
Hinsicht ja ohnehin über jeden Zweifel feststehende — höhere Altertümlichkeit des
Saunahsepam deutlich empfinden, wenn man etwa die dortige Behandlung des
Themas vom Vater, der seinen Sohn töten will, mit Analogem aus den Jätakas
vergleicht (so Nr. 531. 538. 542, vol. V p. 301 ff.; VI p. 11 ff. 133 ff.).
2) Ich bezeichne diese als Jm. gegenüber Jätaka = J., die Nummern von
Jm. mit lateinischen, die von J. mit arabischen Ziffern.
Jätakastudien. 4Q5
sie sich in den schlichteren Stil von J. übertragen denkt, dort
nicht leicht stehen würden. So die den edlen Charakter des
Helden schildernden Verse, welche die Jm. gern in den Eingang
ihrer Geschichten setzt; Schilderungen von Naturszenerie oder
einem Naturvorgang, wie dem Lotusteich XXII, 8fF., dem Seesturm
XIV, 3fF., weiter von weiblicher Schönheit XIII, 4 ff., u. dgl.
mehr. Das J. hat die Grrenzen für die Verwendung von Versen
eben enger gezogen. Im Eingang des Ummadantijätaka (527, vgl.
XIII) sagte gewiß auch in alter Zeit die Prosa, wie die Attha-
vannanä es tut, daß jene Frau schon war: das wird in diesem
Kommentar kurz in allgemeinen Ausdrücken konstatiert, und für
das höhere Altertum von J. mögen wir uns solche Konstatierung
in Worte gekleidet denken, wie die kanonischen Texte sie von
einer schönen Frau zu brauchen pflegen: sie war abhirüpä dassa-
niyä päsädikä paramäya vannapolcJcharatäya samannägatä. Spricht
dann eine im J. auftretende Person ihre Bewunderung der SdiÖn-
heit aus, so kann deren Rede wohl eine Beschreibung, sogar eine
ausführliche Beschreibung enthalten. Im unpersönlichen Zusam-
menhang der Erzählung aber wird derartiges — gewisse Aus-
nahmen abgerechnet, vgl. oben S. 449 — vermieden. Oder rich-
tiger, nicht eigens vermieden; es liegt von selbst fern. Das J.
greift eben noch nicht wie die Jm. nach völligem Belieben zur
metrischen Form um sich über irgend ein Thema, das dazu einlädt,
in verherrlichender Rhetorik zu verbreiten. Sondern noch wird
die Darstellungstechnik von alt überkommenen, mit den Ursprüngen
der prosaisch-poetischen Form zusammenhängenden Begrenzungen
des Versgebrauchs beherrscht. Und wenn, wie wir gesehen haben,
doch auch Tendenzen einer Lockerung und Überwindung dieser
Grrenzen an manchen Stellen wirksam sind ^), so richten sich die
ganz überwiegend anderswohin als auf jenen später in Jm. ver-
wirklichten Zustand : es handelt sich vielmehr um Entwicklung der
Prosaerzählung mit Verseinlagen in der Richtung auf reine Vers-
erzählung, als darum, Verseinlagen, die in früherer Weise und mit
der früheren Greltung Verseinlagen inmitten von Prosa bleiben,
auf jedes beliebige Thema auszudehnen. So deutlich, was ja nicht
erst ausgeführt zu werden braucht, geschichtlicher Zusammenhang
zwischen der alten und der modernen Gestalt der Jätakas auch
in der Stellungnahme zur Alternative von Poesie und Prosa her-
1) Es ist nochmals daran zu erinnern, daß diese Tendenzen sich nur bei
einer verhältnismäßig kleinen Zahl von Jätakas zeigen. Eine Besprechung, die
eben auf diese Fälle gerichtet ist, läßt das leicht vergessen.
466 ^ H. Oldenberg,
vortritt, so entschieden zeigt sich eben hinsichtlich solcher Aus-
dehnung die ältere Technik als vor einem TJmwandlungsprozeß
liegend, der sich in der jüngeren als vollzogen, als vielleicht längst
vollzogen erweist. —
Die Verse der Jm. zerfallen von Natur in drei Kategorien:
zuerst die nicht sehr häufigen, die aus J. im Wesentlichen unver-
ändert herübergenommen sind und infolgedessen begreiflicherweise
von den übrigen sich merklich abzuheben pflegen^); sodann aus
dem J. stammende, aber umgearbeitete Verse; endlich solche, die
vom J. unabhängig sind.
Uns interessiert hier natürlich die zweite Gruppe. Ich stelle
für einige charakteristische Fälle die Übersetzung von Vorbild
und Nachbild neben einander.
Der Gratte der schönen Frau bietet sie dem König an. Jm.
XIII, 29. „0 Wunschspender, freilich (kämada Mmam: nicht wieder-
geblfkres Wortspiel) ist sie mir lieb. Und eben darum wünsche
ich sie dir zu geben. Denn wer Liebes gibt, der Mensch emp-
fängt in jener Welt (als Lohn) Liebes, das hoch beglückt." J. 527,
29: „Männerbeherrscher, du weißt, sie ist mir lieb. Nicht ist sie
mir unlieb, o Erdbehüter. Um Liebes gebe ich dir die Liebe,
Männerbeherrscher. Die Greber von Liebem, König, empfangen
Liebes. ^^ Der jüngere Dichter hat die altertümliche, kindliche
Figur ;,lieb, nicht unlieb" (derartiges findet sich in der kanonischen
Sprache des Buddhismus häufig) getilgt. Auch die Beseitigung
der unbefangenen zweimaligen Setzung von „ Männer beherrscher"
ist gewiß kein Zufall. Dafür Hinzufügung des Ornaments in Jcä-
mada Jcämam, und bestimmtere Ausmalung der Zukunftshoifnung.
Der König hat dem bettelnden Brahmanen seine eignen Außjen
1) Es kehrt also hier, wie nicht anders zu erwarten, dieselbe Diskrepanz
wieder, die auf dem Gebiet der buddhistischen Kunstdichtung bei einer andern
Gelegenheit (NGGW. 1912, 208 A.) von mir für Asvaghosa, und vielfältig für die
jüngere kanonische Literatur aufgewiesen ist. Es braucht kaum noch eigens dar-
auf hingewiesen zu werden, daß wenn die festgewurzelte Geltung der alten Jä-
takaverse, unbeschadet redaktioneller und gelegentlich auch mehr als nur redak-
tioneller Textverschiedenheiten, sich beständig in der Jm. kundgibt, das eben nur
ein Spezialfall eines allgemeinen für die nördliche Literatur geltenden Verhält-
nisses ist. Zahlreiche Beispiele liefert das Mahavastu. Aus andern Texten greife
ich zunächst den Widerschein heraus, den Verse der Mittavindakagescbichten im
Norden gefunden haben: J. 369 v. 2 (vgl. 82 v. 1) vgl. Avadänasataka Nr. 36;
J. 439 v. 5. 9 vgl. Avadänasataka ebend., Divyävadäna p. 607 Z. II f. "Weiter
J. 316 V. 4 vgl. Avadän. Nr. 37. Das sind wenige Fälle, die ich eben zur Hand
habe. Eine planmäßige Durcharbeitung der nördlichen Jätakaparallelen wäre
höchst erwünscht.
Jätakastudien. 457
gegeben. Jm. 11,29: „Darauf der König, als er seine Augen hin-
gegeben hatte, sein Antlitz lotuslosem Lotusteich ähnlich, empfand
Befriedigung, die nicht geteilt ward von den Bürgern. Doch in
vollem Besitz der Augen sah man den ßrahmanen". Gegenüber-
steht der schon oben S. 448 berührte Vers J. 499, 16 (vol. IV
p. 408), in der Erzählung der Begebenheit etwas weiter zurück-
reichend: „Auf des Sivikönigs Befehl (der Arzt) Sivaka, seinem
Wort gehorsam, des Königs Augen herausnehmend bot sie dem
Brahmanen dar. So hatte der Brahmane Augen; blind setzte der
König sich nieder". Der jüngere Dichter hat die Naivetät der
letzten Worte beseitigt, dafür durch den preziösen Vergleich vom
Lotusteich — dabei ein pomphaft langes, deutsch nicht wieder-
gebbares Kompositum — und durch die Hervorhebung der ent-
gegengesetzen Empfindung von König und Bürgern den Vers in
seiner Weise ausgeschmückt. Der Schlichtheit des alten Poeten
lag dergleichen fern.
Der verirrte Wanderer findet einen Baum mit Früchten. Er
klettert auf einem Ast des Baumes entlang. Jm. XXIV, 2 (mit
einigen dem Vers vorangehenden Prosaworten): „und aus Begier
nach den Früchten drang er bis zu seinem (des Astes) Ende vor.
Darauf fiel jener Ast dieses erderwachsenen (Baumes), durch das
Grewichtsübermaß gebeugt und durch seine Dünnheit, wie vom
Beil wurzeldurchhauen, mit Getöse zerbrechend plötzlich nieder."
J. 516, 13 f.: „Ungesättigt erstieg ich den Baum: 'Dort werde ich
mich satt essen'. Eine (Frucht) hatte ich gegessen; nach der
zweiten verlangte mich. Da zerbrach der Ast wie mit einem Beil
zerhauen." In Jm. viele Abstrakta : „aus Begier nach den Fruch-
tend^, wörtl. „aus Fruchtbegier", wogegen J. sehr konkret „da
werde ich mich satt essen"; dann: „durch das Gewichtsübermaß ^S
„durch Dünnheit". Viele erklärende, ausmalende Züge ; in J. nicht
mehr als der schlichte Umriß des Vorgangs.
Schließlich ein Gleichnis des Königs, der die ihm angebotene
schöne Frau (oben S. 447) ablehnt, die königliche Pflicht des Recht-
handelns betont. Jm. XIII, 39: „Wie des Stieres verkehrtem oder
geradem Vorgang die nachwandelnden Kühe nachfolgen, so die
Untertanen, ungestoßen vom Haken ^) des Zweifels , den sie von
sich geworfen haben, dem Wandel des Landbehüters (Königs)."
Diesem einen Vers liegen vier des J. 527, 48 — 51 zu Grunde:
„Wenn Kühe (einen Fluß) überschreiten und der Stier ver-
kehrt geht, dann gehen sie alle verkehrt, da ihr Führer verkehrten
Gang nimmt.
1) Es scheint an den Haken gedaeht, mit dem der Elefant gelenkt wird.
463 H. Oldenberg, Jätakastudien,
„Ebenso unter den Menschen wer am höchsten angesehen ist:
wenn der ungerecht wandelt, um so viel mehr das übrige Volk.
„Wenn Kühe (einen Fluß) überschreiten und der Stier richtig
geht, dann gehen sie alle richtig, da ihr Führer richtigen Grang
nimmt.
„Ebenso unter den Menschen wer am höchsten angesehen ist:
wenn der gerecht wandelt, um so viel mehr das übrige Volk."
Hier die Altertümlichkeit der endlosen Wiederholungen zwi-
schen den vier Versen; dort sind die weggeschnitten ^) 2). Dazu
hier im Innern des ersten und dritten Verses die Wiederholung:
„wenn der Stier verkehrt (richtig) geht", und „da der Führer
verkehrten (richtigen) G^ang nimmt". Auch das ist weggeschnitten.
So ist in dem einen Verse anstelle der vier Raum gewonnen,
den Seelenzustand der Untertanen zu schildern, die von Skrupeln
geplagt waren, bis sie sahen, wie der Fürst handelt; nun sind sie
von dem inneren Stachel befreit. Solche Subtilität liegt dem J.
fern. —
Auch aus diesen Vergleichungen wieder, die ich nicht weiter
ausdehne, tritt, scheint mir, dieselbe schlichte Altertümlichkeit von
J., die wir so vielfach beobachteten, anschaulich hervor.
1) Beseitigung von Refrains und dgl. des J. läßt sich in Jm. öfter beobachten.
So bei den Reden der vier Tiere in J. 316 = Jm. VI, bei den Eiden über die
gestohlenen Lotusfasern J. 488 = Jm. XIX; statt des immer gleichen "Wortlauts
ist wechselnder eingeführt.
2) Begegnet es infolge dieser Wiederholungen des Schemas dem Verfasser
Ton J. nicht, etwas zu sagen, das er eigentlich nicht hatte sagen wollen? Daß
wenn der König sündigt, die Untertanen erst recht sündigen, ist verständlich.
Aber daß wenn der König gut handelt, die Untertanen das erst recht tun?
Der Argonautenkatalog in Hygins Fabelbiich.
Von
Carl Robert.
Vorgelegt in der Sitzung vom 21. Februar 1919.
Die dunkle und verwickelte Textgeschichte der fabulae Hygini
läßt sich wie ich glaube wenigstens für die letzten vor dem Frisin-
gensis liegenden Phasen durch eine genaue Analyse der die Liste
der Argonauten enthaltenden 14. Fabel bis zu einem gewissen
G-rade aufhellen. Daß hier im wesentlichen ApoUonios zu Grrunde
liegt, ist bereits dem ersten Herausgeber Jacobus Micyllus klar
gewesen. Wir dürfen heute von vorne herein vermuten und werden
es unten bestätigt finden, daß neben dem Dichtertext auch die
Schollen benutzt worden sind. Aber der Katalog ist reichhaltiger
als der des alexandrinischen Epikers. Hinter den Boreaden werden
als Teilnehmer an der Fahrt eine Anzahl Heroen, darunter z.B.
der Pelopide Hippalkimos, Asklepios, Neleus, lolaos und Philoktet,
aufgezählt, die bei jenem fehlen. Gegen die Athetese dieser Liste,
die Moritz Schmidt vorgenommen hat, ist von Otto Jessen in der
trefflichen Berliner Dissertation Prolegomena in Argonautarum
catalogum p. 21 mit Recht Einspruch erhoben worden. Wir haben
es hier mit einer von ApoUonios unabhängigen und darum be-
sonders wertvollen Überlieferung zu tun, von der es dahingestellt
bleiben mag, ob sie der Mythograph aus vollständigeren Schollen
oder aus einer Nebenquelle entnommen hat. Außerdem aber hat Hygin
über die Abstammung und Heimat einzelner Argonauten Angaben,
die nicht nur dem ApoUonios unbekannt, sondern neu und über-
raschend, ja zum Teil befremdend sind. So soll nicht nur der
Opuntier Eurytion, sondern auch der Doloper Eurydamas ein Sohn
des Iros und der Demonassa gewesen sein, und doch werden beide
nicht zusammen, sondern an verschiedenen Stellen genannt. Der
470 CarlRobert,-
Steuermann Tiphys, nach übereinstimmender Sagenüberlieferung
ein Boeoter, erscheint als Sohn des Phorbas und der Hyrmine,
wäre also ein Eleer. Als Vater des SchifFbaumeisters Argos wird
außer Polybos auch Danaos, an einer späteren Stelle sogar nur
dieser allein genannt. Nun gehört es aber zum Wesen der alten
Danaossage, daß der Nachkomme derlo nur Töchter und keine Söhne
hat, so daß diese Angabe an Ptolemaios Hephaistion erinnert.
Beruht auch dergleichen auf wertvoller Nebenüberlieferung oder
auf Textverderbnis? Denn daß das Capitel durch Namenscor-
ruptelen, Umstellungen und Lücken stark entstellt ist, hat man
schon längst erkannt.
Wir wollen mit dem schon früher festgestellten beginnen.
Als Heimat des Eurytion, der wie gesagt ein Doloper ist, wird
die euböische Stadt Kerinthos angegeben ab oppido Gerintho. Dazu
bemerkt Micyllus: Canthus, iit ApolloniusJ Die Verse des Apol-
lonios lauten I 77 f. avtäQ a% EvßoLYjg Kdvd^og ms, töv ga Kdvrjd'og
7ts^7t£v 'Aßavxiddrig ^shrnndvov^ ov fisv e^aXlsv vo<3xri^aiv Kyiqlv^'ov
vjtötQOTtog. Mit Recht hat daher Muncker vor diesen Worten den
Ausfall von Canthus Canethi filius statuiert. Gleich darauf heißt es von
Oileus, nachdem als seine Heirat nach allgemeiner mythischer Tra-
dition die opuntische Stadt Naryx angegeben worden ist : alii aiunt
ex Euboea. Hierzu bemerkt Micyllus: ApoUonümi non hunc sed
CantJmm ex Euhoea venisse ait, videtur ergo haec clausula tran^osita
esse a librario. Da aber Oileus bei Apollonios unmittelbar nach
Eurytion genannt wird, so ist es unwahrscheinlich, daß der My-
thograph den Kanthos zwischen beide eingeschoben haben sollte.
Nicht also sind die Worte ex Euboea, sondern ab oppido Gerintho
umzustellen. Mit Recht hat daher M. Schmidt angenommen,
daß die Erwähnung des Kanthos hinter Oileus und vor den fol-
genden Eurytos-Söhnen ausgefallen ist und dorthin vor alii^iunt
ex Euboea die verschlagenen Worte ah oppido Gerintho gestellt
Nur durfte er das alii uiunt nicht stehen lassen. Diese Worte
sind von einem Interpolator hinzugefügt worden, der nun das ex
Euboea auf Oileus beziehen mußte und den Widerspruch mit ex
urbe JSaryce überkleistern wollte. Hygin hat also geschrieben
Canthus Canethi filio ab oppido Gerintho ex Euboea.
Von Aethalides, dem Herold der Argonauten heißt es: hie
ostendit nullo modo centauros ferro se posse vulnerare, sed truncis ar-
borum in cuneum adactis. Hierzu sagt Micyllus: videntur haec cor-
rupte legi et ad sequentem potius Gaeneum referri debere. Sic enim
Apollonius [I 59 if.], ex quo huc multa ad verbum etiam translata
reperias: Kaivia yccQ JöcV :i£q hi "aUIovCiv äoidol KsvtavQoiöiv
Der Argouautenkatalog in Hygins Fabelbuch. 471
dXEö&at. otB 6(fsag olog ccti' akXcov i]Xtc6' äQL6t7]C3v' ot d' e^:taXiv 6q-
^Tid'SVTSg ovrs ^lv äyKXtvca JtgoTEQCo öd^evov ovts öai%aL aXV äggriKtog
aTtanTCtog idvösro veiod-t yaCr^g, d^sivö^svog örißaQri^L Tcatatydrjv iXä-
Tr;6Lv. Et de eoc/em in ccmmentario fere eadem verba seqimntur, quae
hie de Neptuno et munere eins citantiir. Quamqucüu ApoUonius non
ipsum Caenca, sed filitmi Coronum cum Ärgonaiäis profectmn dicit.
Über Kaineus also schreibt Hygin nach den oben ausgehobenen
Worten: Caeneus Elati fiUus, Magnesins. hunc nonnulli feminam
fuisse dicunt. cid petenti Nejßtumim propter conmdjium optatum de-
disse, ut in iuvenilem speciem conversus mdlo ictu interßci posset. Das
zu Grunde liegende Apollonios-Scholion aber lautet : I 57 ^£(iv-
d'svrai de b Kaivsvg Ttgörsgov ysyovavat yvvTJ' slta UoöSLÖ&vog avxfi
7cXr]6td6avtog ^staßXr]d-rlvca eig avöga' tovxo yäg rjtrjös xal ätgaGiav.
Aber mit einer einfachen Umstellung der Sätze des überlieferten
Hygintextes ist es nicht getan. Denn zwei auf dieselbe Person
bezügliche Sätze können wohl in einem Scholion, das verschiedene
Quellen benutzt, jeder durch das Demonstrativpronomen eingeleitet
asyndetisch neben einander stehen, nicht aber bei Hygin, der zwar
auch contaminiert, aber die verschiedenen Versionen entweder zu
einer einheitlichen Erzählung verarbeitet oder sie ausdrücklich als
Varianten bezeichnet. Daher wollte Muncker den ganzen in die
Besprechung des Aethalides verschlagenen Satz als eine auf Apol-
lonios beruhende Interpolation tilgen; kein glücklicher Ausweg,
da ja Hygin selbst, wie gesagt, in dem ganzen Capitel im wesent-
lichen den ApoUonios paraphrasiert. Sollte er in diesem Falle nur
das Scholion ausschreiben und nicht auch die Verse, zu denen es
gehört? Es muß also bei der Umstellung bleiben. Aber unmög-
lich kann der Satz vor: hanc nonnidli feminam fuisse dictint etc.
gehören, wohin ihn Bunte und M. Schmidt verweisen; nicht nur
weil der Tod des Kaineus nicht vor seiner Verwandlung erzählt
werden darf, sondern auch weil die ihm von Poseidon verliehene
Unverwundbarkeit die Voraussetzung für seine Todesart ist. An
ut in iuvenilem speciem conversus mdlo ictu interfici posset kann nun
freilich hie ostendit nullo modo Centauros ferro se i^osse vidnerare nicht
anschließen, weil das Asyndeton sowohl aus dem eben angeführten
Grrunde als wegen des Causalnexus unerträglich ist. Aber es
genügt schon itoque für hie zu schreiben, um diesem Übelstand ab-
zuhelfen. Allerdings würde man auch ein neues Praedicat für den
zweiten Satzteil wünschen und es ist zu erwägen, ob nicht necatus
est hinter adactis einzusetzen ist. Nun leuchtet es ein, daß es
sich hier nicht um eine einfache Corruptel und um eine Satzver-
I
472 •» Carl Robert,
Stellung durch ein Sclireiberversehen ^) handelt. Vielmehr ist der
Tatbestand der, daß, wie in dem zuerst besprochenen Fall, im
Archetypus des Frisingensis ein Satz ausgefallen, diesmal aber am
Rand nachgetragen war. Er ist dann an eine falsche Stelle ein-
gesetzt worden, und da dort die Causalpartikel keine Beziehung mehr
hatte, ist sie durch das Demonstrativpronomen ersetzt worden,
das Hygin nach dem Vorbild der Scholiasten zur Anknüpfung mit
Vorliebe verwendete^). Hier haben wir es also mit einer will-
kürlichen Änderung zu tun. Der Ausfall scheint schon erfolgt
gewesen zu sein, als hinter nullo ictu interßci possef die rationa-
listische Bemerkung interpoliert wurde: quod est nunquam factum
neque fieri potest ut qiiisquam mortalis non posset ferro necari mit ex
mutiere in virum converti. Ob dieser Interpolator derselbe war,
der den Satz vom Tod des Kaineus an falsche Stelle eingefügt
hat, lassen wir dahingestellt.
Aber auch die im Frisingensis dem verstellten Satz unmittelbar
vorausgehenden Worte urhe Gyrtone können sich, wie bereits
Scheffer gesehen hat, nicht auf Aethalides beziehen. Hygin konnte
wohl schreiben Thessdlus ex Larissa oder Thessatus ex Gyrtone^ aber
nun und nimmer Larissaeus ex Gyrtone, wenn auch beide Städte
einander benachbart waren. Vielmehr ist Gryrton die Heimat des
Kaineus und seines Sohnes Koronos, Apollon. I 57 f. ^Xvd^e d'
ä(pvBiriv TCQoliTthv FvQtSiva KÖQcovog Kcavsiörjg, Auf diese Worte
gestützt nahm Scheffer an, daß zwischen Larissaeus und urhe Gyrtone
der Name Koronos ausgefallen sein, und Bunte und M. Schmidt
sind ihm hierin gefolgt. Aber daß Hygin Vater und Sohn un-
mittelbar hinter einander als Argonauten aufgezählt haben sollte,
ohne auf das verwandtschaftliche Verhältnis ausdrücklich hinzu-
weisen, ist nicht sehr wahrscheinlich^). Vielmehr folgt er hier
1) Hingegen scheint ein ßolches in dem Satz über Admet vorzuliegen, der
mit den Worten schließt monte Chalcodonio, unde oppidum et flumen nomen traxit.
Der Name des Berges ist dem Apollonios entnommen I 50 vrto a-aomriv ögsog
Xal-noScovCoLO, aber eine Stadt und ein Fluß dieses Namens sind sonst nicht be-
zeugt und ihre Existenz ist nicht gerade wahrscheinlich. Nun sagen aber die
Scholien ai ^sqccI diVOfjLccßd'riaccv ccno ^BQriTOi xov Kgrid'icogf tov 'Adinfixov tov
nccTQog. Also gehört der Relativsatz hinter Pheretis filium, und wenn auch ein
Flüßchen Pheres sonst nicht vorkommt, so kann man doch eher an es glauben,
als an einen Chalkodon.
2) So durchgehend im zweiten Buch der Astronomica.
3) Anders liegt der Fall weiter unten, wo Hygin die Liste des Apollonios aus
verschiedenen Nebenquellen, vielleicht aus vollständigeren Scholien ergänzt, und
zwei weitere Söhne des Kaineus, Focus und Priasus (die Namen sind noch nicht
geheilt) nennt. Beachtenswert ist, daß er auch als deren Heimat Magnesia be-
zeichnet.
i
Der Argonautenkatalog in Hygins Fabelbuch. 473
nicht dem Apollonios, sondern dessen Scholiasten, bei dem wir
lesen tivhg de (paöi Kaivia 0v(i:t?,sv6aL tolg ^AQyovavtaig^ ov Köqcovov.
Di6 Worte urhe Gyrtone oder wie man nach dem festen Sprach-
gebrauch Hygins schreiben muß , (ex) urhe Gyrtone beziehen sich
also auf Kaineus und gehören hinter Caeneus Elati filius Mag-
nesius. Sie sind dort ausgefallen, am Rande nachgetragen und
später an falscher Stelle eingefügt worden. Schwierigkeit macht
dann nur noch der angefügte Relativsatz quae est in Thessalia.
Ihn in die Umstellung mit hineinzuziehen geht nicht wohl an;
denn Magnesius ex urhe Gyrtone quae est in Thessalia wird Hygin
schwerlich geschrieben haben. ' Läßt man ihn aber an seinem alten
Platz, so erhält man Larissaeus, quae est in Thessalia, was ebenso
unmöglich ist. Vielleicht liegt aber hier derselbe Fall vor, wie wir
ihn unten an einer anderen Stelle bei den Dioskuren finden werden,
wo der Interpolator Spartanos aus ex urhe Sparta gemacht hat.
Nach einer anderen Version hieß der Vater des Kaineus nicht
Elatos, sondern, wie sein Enkel, Koronos, ApoUodor. I 9, 16, 8.
Diese Angabe fand Hygin in einer seiner Nebenquellen, nahm
daher unter den Argonauten einen doppelten Kaineus an und
schrieb' weiter unten: Caeneus alter, Coroni filius, {ex) Gyrtone.
Noch eine Bemerkung zu den mit Recht beanständeten Worten
truncis arhorum in cuneum adactis. Daß sich die Kentauren der
Baumstämme bedienen, um den gegen Eisen gefeiten Kaineus zu
töten, versteht man; aber was soll es heißen, daß sie diese Stämme
zu einem Keil aufschichten? Scheffer wollte in cumulum adiectis
nach Ovid. Met. XII 514 f. ohrutus immani cumulo sub pondere Cae-
neus aestuat arboreo, Muncker in eum coniectis (oder congestis) nach
Lactant. arg. Met. XII 4. congestisque in eum arhorum truncis
schreiben ; diesen Gedanken griff Bunte auf, indem er annahm, daß
cuneum aus einer übergeschriebenen Grlosse Caeneum verderbt sei.
Aber Hygin hat die in den Schollen citierte Pindar stelle (fr. 167
Sehr.) im Auge: Ö dh x^^Q^^S i^cctai^L tvTCslg fp%B^^ vno yß-ovoc
Kaivsvg 6xi&aig ögd-a Tcodl yäv. Auf den unverwundbaren Kaineus
kommen die Kentauren mit ihren Fichtenstämmen los, bis sie ihn
in die Erde hineingetrieben haben — wie einen eisernen Keil. So
stellen auch die zahlreichen Bildwerke die Sache dar, nur daß
sich dort die Kentauren außer den Stämmen auch mächtiger Fels-
blöcke bedienen. Ovid hat den Vorgang mißverstanden, wenn er
Kaineus unter den Stämmen ersticken läßt. Hygin hat also ge-
schrieben: truncis^ arhorum (tit) in cuneum adactis.
Eine ähnliche Satzumstellung, die ebenfalls auf Auslassung,
Nachtragen am Rand und Einsetzen an falscher Stelle zurückzu-
474 <^'arl Robert,
führen sein wird, hat Berkel in dem Abschnitt erkannt, der von
den Plätzen, die den vornehmsten Helden in der Argo einnahmen,
handelt, der] jedoch nicht dem Apollonios, sondern einem Autor
entnommen ist, den sicher auch Valerius Flaccus ^), vielleicht auch
Philostrat ^) benutzt hat. Am Vorderteil sitzt der scharfblickende
Lynkeus; das Commando über die beiden Ruderreihen führen die
Boreaden, die beiden ersten Plätze unter den Rudern nehmen die
Aeakiden, die letzten Herakles und Idas ein. Orpheus gab durch
Gesang und Spiel den Tact an: proreta navigavit Lynceus Äpharei
films^ qui multum videbat, toecharcln^) aiitem fuerunt Zetes et Calais
Aquilonis filii, qui pennas et in capite et in pedibus hdbuerunt. ad
prorae {prora ei Fr.) renios sederimt Peleus et Telamon, ad pitultim ^)
1) Argonaut. I 353 ff. hinc laevom Telamon pelagus tenet, altior inde oecupat
Aleides aliud mar e. 403 ff. nee Peleus fretus soeeris et eoniuge diva defuit, ac
prora splendet tua euspis ah alta, Aeaeide. 460 ff. breviore petit iam caerula remo
oecupat et longe sua transtra nqvissimus Idas. at frater magnos Lyneeus
servatur in usus, quem tulit Arene, possit qui rumpere terras et Styga trans-
misso tacitam deprendere visu, fluctibus e mediis terras dabit ille magistro et
dabit astra rati, cumque aethera luppiter umbra perdiderit, solus transibit nubila
Lyneeus. quin et Ceropiae proles vaeat Oritliyiae, temperet uftremulos
Zetes fraterque eeruehos (vgl. Artemid. II 23, unten A. 3j. nee vero Odrysius
transtris impenditur Orpheus aut pontum remo subigit, sed earmine tonsas
ire doeet, summo passim ne gurgite pugnent. S. 0. Jessen a. a. O. 21; Maria Goetz
de scholiastis graecis poetarum romanorum auctoribus quaest sei. (Diss. Jen. 1918)68.
2) Imag. II 15, 1 ticcl ^sXysL rrjv %'dXattav 'O Qcp £ v$ adcov, i) ds ccytovEL
xal vTtb tfj adfi TiSLtaL ö Ilövros, rä ^sv drj aycoyiiLU tfig vs^s ^LoanovQOi v.ceX
^Hgu-üXris Ala%ld ai ts -accl Bogscid a l %cd 060v tfi<s rjpud'EOv q)OQ&g ijvQ'SL.
3 "ncil TiQpvg (liv, co nccL, v.v§EQvä, Xsysrca Sl ovtoöl TtQöbtos ävd-QOjncov äniatov-
liivr\v Q'dQQfiGai xr]v xE%vr]v, AvynEvg 8e 6 'Aq}aQEcog ETtitEtccyiTUL ty Ttgöoga,
dsLvbg wv sk tioXXov xe löelv v.al ig noXv KccxccßXsipaL xov ßdd-ovg xal Ttg&xog fiEV
v7CO'ii£L}i£vcov SQiidroDV ul6%'E6%'ai, nQ&xog ÖE VTCocpULVovaav yfjv a.GTtdaaad'cii.
Abgesehen von den selbstverständlichen Dioskuren sind das dieselben Argonauten,
die Hygin an der fraglichen Stelle nennt, auch Tiphys, s. u. S. 475.
3) So Muncker für das tutarehi des Fris. Vgl. Artemid. I 35 aQXEi 6e tve-
QLVEov [lEv 6 xoLxccQXog. II 23 -Kccl xb nEQug xbv xoC%aQ%ov (ari(icctv£L). PoU. I 95
6 8s xoL%aQ%og övoficc^oiiEvog X6y<p av XEyoito xoC%oiv icQ^ög. Luk. dial. meretr.
14, 3 vvv yag r^87\ xoC%ov a.Q%oa xov ds^iov.
4) Dies Wort hat Hygin offenbar aus seiner griechischen Vorlage beibehalten ;
es bezeichnet eigentlich den Ruderschlag, erhält aber bei den Dichtern auch die
Bedeutung „Schiff", Eur. Tr. 1123 vEoig (iev ntxvXog stg XsXsLiiEvog und dazu
Schol. avxl xov fiia vavg. nCxvXog yccQ 7} HcoTCi^XccaLCc, vgl. Tr. 817 f. 8ig de dvoiv
mxvXoiv XELXT} TtEQlJaQdaviugjiCpoLVLcc kdcxeXvgev alx^d. I. T. 1050 hccI [ir}v vsojg
ys nCxvXog Evriqrig ndgcc. Durch ad pitylum wird also, abgesehen von der un-
passenden Praeposition, der Platz des Herakles und Idas in der Argo, der, wie
wir aus Valer. Fl. I 461 (oben A. 1) entnehmen, der letzte in jeder Reihe war
nicht näher bezeichnet. Es wird zu schreiben sein: ad pitu<U gubernacu>lum.
Der Argonaiitenkatalog in Hygins Fabelbuch. 475
sederimt Hercules et Idas. ceteri ordinem servaverimt. celeiima dixit
Orpheus Oeagri filius. Hier stört die Bemerkung, daß die übrigen
Argonauten die Reihe beibehalten hatten; man würde erwarten
ceteri reliqua transtra occupaverunt^ wenn dies nicht selbstverständlich
wäre. Nun fährt aber Hygin fort: post relicto ab (eis)^) Herade
loco eins sedit Peleiis. Also nachdem der den geraubten H3^1as
suchende Herakles von den Argonauten in Mysien zurückgelassen
worden war, nahm Peleus seinen Platz ein, d. h. er rückte von der
ersten Stelle seiner Reihe an die noch wichtigere letzte. Danach
ist die Bemerkung, daß die übrigen Argonauten ihre Plätze be-
hielten, durchaus angemessen, und der Satz ceteri ordinem servaverunt
gehört also hinter Peleus.
Auch am Anfang dieses Abschnitt« ist, wie Muncker gesehen
hat, ein Sätzchen ausgefallen, aber diesmal nicht am Rande nach-
getragen worden. Überliefert ist: faber Argus Danai filiuSj cuius
post mortem rexit navem Ancaeiis Neptuni füius. Danach würde
Argos nicht nur der Erbauer der Argo, sondern auch ihr erster
Steuermann gewesen sein, aber davon weiß weder Apollonios etwas
noch die sonstige Überlieferung. Hygin selbst hat vorher in Über-
einstimmung mit der feststehenden Anschauung des gesammten
Altertums Tiphys als den Steuermann bezeichnet, Tiphys Phorhantis
et Hyrmines fdius^) Boeotiiis, is fuit gubernator navis Argo, und
etwas weiter unten erzählt, daß nach dessen Tode Ankaios an seine
Stelle trat : Tiphys autem morho ahstimptus est in Maryandinis in
Propontide apud Lycum regem, pro ([uo navem rexit Colchos Ancaeus
Neptuni filius: dasselbe wiederholt er fab. 18: Tiphys Phorhantis
filius moritur, tunc Argonautae Ancaeo, Neptuni filio, navem Argo
guhernandam dedere. Die Quelle ist Apollonios II 850 ff., _aus dem
auch Apollodor I 9, 23, 1 schöpft. Also hat Muncker mit Recht
vor ciiitts post mortem die Worte ' gidternator fuit Tiphys einge-
schoben^). Auch in dem den Schluß des Capitels bildenden Citat
aus Ciceros Phaenomena sind drei Verse ausgefallen, ohne am
Rand nachgetragen zu sein.
Von ' dem Thestiaden Iphiklos heißt es : Iphiclus alter, Thestii
filius, matre Leucippe, Althaeae frater ex eadem matre, Lacedaemonius.
Hier müssen die Worte ex eadem matre befremden, zumal kurz
vorher matre Leucippe steht. Bei Apollonios findet sich nichts
1) Durch den einfachen Einschub dieses Wörtchens hat Perizonius die Stellt
geheilt.
2) Über diese unmögliche Genealogie s. u. S. 476 f.
3) Vgl. Philostr. a. a. 0. S. 474, A. 2.
476 Carl Robert,
ähnliches, wohl aber heißt es bei diesem von dem unmittelbar
vorher genannten Oheim des Meleager, Laokoon, I 191 s. ^aoxdcoi/
OlvYiQis dd£Xq:£6g' ov ^ihv Irjg ye^rjtSQog, äXXd e d^7}66a yvvri ths.
Mit Kecht hat daher M. Schmidt die fraglichen Worte auf Laokoon
bezogen und sie mit hinzugefügter Negation zwischen Oenei filius
und Calydonius gestellt; auch sed hätte er noch hinzufügen sollen.
"Wieder waren diese Worte sed non ex . eadem matre im Archetypos
ausgefallen, sind dann am Rande nachgetragen, an falscher Stelle
von einem Abschreiber eingesetzt und durch Tilgung der bei
Iphiklos nicht passenden Negation in ihr Gegenteil verkehrt
worden. Dagegen hat Schmidt entschieden geirrt, wenn er auch
die folgende Charakteristik des Iphiklos hie fuit acer^)] Cursor,
iaculator an eine frühere Stelle unter den Arkader Ankaios gestellt
hat ; denn eben von Iphiklos sagt Apollonios I 199 f. ev ^sv aKovtCj
£v Ö£ Kai iv öraöCri dsdarj^evog ävncpsQsöd^ai^), welche Worte Hygin
paraphrasiert. Otto Jessen, der dies richtig bemerkt, hätte aber
nicht so weit gehen dürfen, auch die Notwendigkeit der Um-
stellung der Worte ex eadem matre zu bestreiten.
Das sind die bisher erkannten Fälle. Es sind ihrer aber viel
mehr, und welche Verwüstung die Einfügung der ausgelassenen
Worte an falscher Stelle angerichtet, welch unmögliche Genea-
logien sie geschaffen hat, welche Interpolationen sich die Ab-
schreiber erlaubt haben, ist noch lange nicht im ganzen Um-
fange beobachtet worden.
Ich beginne mit einem Falle, auf den ich schon in den ein-
leitenden Worten hingewiesen habe: Von dem berühmten Steuer-
mann der Argo heißt es: Tiphys, Phorhantis et Hyrmines filius,
Boeotius. Hyrmine ist die Eponyme einer eleischen Stadt (IL B
616. Str^b. Vni 341. Paus. I 5, 1 s.) und demgemäß nach Paus,
a. a. 0. eine Tochter des Epeios, nach Schol. ApoUon. I 172 des
Neleus. Phorbas ist allerdings ein verbreiteter Heroenname,
sein berühmtester Träger aber ist gleichfalls ein Eleer oder ein
nach Elis eingewanderter Lapithe (Diod. IV 69), Großvater des
Kaukon und Urgroßvater des Lepreus (Zenodot bei Athen. X 412
A; Aelian v. bist. I 24), Vater des Aktor, den er nach Paus. a.a.O.
mit derselben Hyrmine erzeugt, die ihm nach Hygin den Tiphys
geboren haben soll. Um so mehr befremdet es, daß der Mytho-
1) So wird für Areas zu lesen sein {acris Muncker) ; aber auch Lacedaemonius
ist verdächtig.
2) Das Vorbild ist II. O. 282 s, wo es von einem anderen Aetoler, dem
Thoas, heißt iTtiatdfisvog (isv &%ovxi, icd'Xbg d' iv GtadCri.
Der Argonautenkatalog in Hygins Fabelbuch. 477
graph diesen nicht als Eleer, sondern als Boeotier bezeichnet ^).
Sonst heißt der Vater des Tiphys nach einstimmiger Überlieferung
Hagnios, so daß man erwarten dürfte, diese Abstammung von
Hygin wenigstens als Variante angeführt zu sehen und wieder an
einen Ausfall denken wird. Nun ist aber Phorbas auch Vater des
Augeias (Apollod. II 5, 5, 1) und von diesem heißt es Schol.
Apollon. I 172 ovtog yovco ^Iv riv 7/Atov, kTtUkYiaiv ds Oögßavtos
6z TTjg NrjXscog 'Tq^lvtjs. Den Anfang dieses Satzes liest man auch
bei Hygin, und zwar auch mit Angabe der Mutter; also nach
einer vollständigeren Fassung des Scholions: Ätigeas Solis et Nau-
sidames {Naupiäames FRIS), Ämphidamantis fiUae filius. Kein
Zweifel, daß ursprünglich auch der zweite Teil folgte alü aiunt
Fhorbantis et Hijrmines, Diese Worte sind ausgefallen, am Rand
nachgetragen und an einer früheren Stelle hinter Thiphys einge-
setzt worden, wo sie das richtige Hagniae^)^ vielleicht auch den
sonst nirgend überlieferten Namen der Mutter, verdrängt haben.
Auf ähnliche Weise wird auch die ganz unmögliche Angabe
entstanden sein, daß Argos ein Sohn des Danaos gewesen sei,
zumal sie nur als Variante auftritt: Argus Folyhi et Argiae filiuSj
alü aiunt JDanai filium, hie fuit Argivus. Nun kann freilich aus
den schon oben dargelegten Gründen kein Argonaut, wie über-
haupt kein griechischer Heros als Sohn des Danaos bezeichnet
werden, wohl aber als sein Enkel Danai (filiae) filius. Und in der
Tat lesen wir bald darauf: Natiplius Neptuni et Amymones Danai
filiae filius, Argivus; das entspricht den Worten des Apollonios
I 133 f. ra <5' £7tL drj d'sCoLO xCsv zlavaoto yivEd'lov NccvTtXios und
dem Scholion dazu: vlbg nodstd&vog nal ^J^v^6vrjg' tilg Javaov,
Die Worte Danai filiae filius waren ausgefallen und am Rande
nachgetragen worden. Sie sind dann an zwei verschiedenen Stellen
in den Text eingefügt worden, an der richtigen bei Nauplius und
an einer falschen, bei Argus, hier als Variante mit Zufügung
von alii aiunt und Weglassung von filius, so daß Danaos nun einen
Sohn erhielt. Als Grund für diese doppelte Einfügung wird man
vermuten dürfen, daß der Randnachtrag nach dem von Brinkmann
erläuterten Schreiberbrauch ^) mit dem Stichwort Argivus, dem Wort
1) Den Erklärungsversuch C. O. Müllers (Orchom. 264) wird heute Niemand
mehr vertreten wollen.
2) Daß dabei die sehr entfernte Ähnlichkeit der Buchstaben hagni und
HYRMIN mitgewirkt hat, ist möglich, aber nicht gerade wahrscheinlich.
3) Rhein. Mus. LVU 1902 S. 481 ff. S. auch Praechter Herrn. L 1915 S.
626 ff. LI 1916 S. 316 ff. LH 1917 S. 156 f.
Kgl. Ges. d. Wiss. Nachrichten. Phil.-hist. Klasse. 1918. Heft 4. 32
478 Carl Robert
■>». •
vor dem er einzufügen war, bezeichnet war. Da nun aber kurz
vorher auch unter Argus das Ethnikon Argivus steht, wurde ein
Abschreiber zweifelhaft, wohin der Nachtrag gehörte und setzte
ihn an beiden Stellen ein, das eine mal mit den durch den Zu-
sammenhang gebotenen Änderungen. Aber auch die Abstammung
von Arestor, der bei Apollonios und überhaupt nach allgemeiner
Überlieferung Vater des Argos ist, kann nicht gefehlt haben.
Mindestens als Variante wird man sie erwarten. Wahrscheinlicher
aber ist daß der Name wegen der gleichen Anfangsbuchstaben
ausgefallen ist und daß Hygin geschrieben hatte Argus Arestoris et
Argiae Folybi filiae filius.
In einem anderen diesem sehr ähnlichen Fall war der Aus-
gangspunkt nicht eine Lücke, sondern eine schwere Textverderbnis.
Vor den im Anfang besprochenen an falsche Stelle verschlagenen
Worten ab oppido CerintJio stand im Frisingensis : Eiirytion Iri et
JDemonassae fiUus. Ixition. Die Quelle ist Apollonios I 74 "Iqov
d' 'EvQvrCcDv. Die Mutter Demonassa wird Hygin einem vollstän-
digeren Scholion entnommen haben. Das Wortungetüm Ixition
aber ist nichts anderes als das verstümmelte Iri et Demonassae,
wobei vielleicht mitwirkte, daß das Auge des Schreibers auf das kurz
vorher (unter Pirithous) stehende Ixionis filius abgeirrt ist. Neben
der vom Rande in den Text eingetragenen Correctur ist dann die
Corruptel stehen geblieben. Aber diesmal war der Randcorrectur
als Stichwort nicht das folgende, sondern das vorhergehende Wort,
der Name Eurytion und zwar offenbar in der Abkürzung Eury
beigeschrieben. Dies Stichwort bezog ein Abschreiber statt auf
Eurytion, auf den kurz vorher genannten Eurydamas, von dem
Hygin ursprünglich bemerkt hatte Eurydamas Gtimeni filius, qui
iuxta lamm Xyniwn ^) Dolopeidem urbem inJiahitabat entsprechend
den ApoUoniosversen I 67 f. rjds xal EvQvdd^ag Kzi(jLevov Ttdig ' ay%v
de XL^vi]g Swidöog Ktiiiivriv /loXonriida vcastdaöKsv. Nachdem dann
die Worte Iri et Demonassae filius eingesetzt waren, mußte diese
richtige G-enealogie zur Variante herabsinken, und so schrieb denn
der Interpolator alii aiunt Gtimeni filium etc. Ahnlich ist es auch
zu beurteilen, wenn der samische Ankaios Sohn der Thestiostochter
Althaea heißt (Althaea Thestii Nie. Heinsius; der Frisingensis mit
falscher Wortabteilung Atta CatJiesti), während er bei Apollonios
II 866 SS., nach den Schollen I 185, II 866 und Pausanias VII 4, 1
Sohn der Phoinixtochter Astypalaia ist, eine Grenealogie, die Hygin
1) Bunte wollte hier aus Apollonios Ctimenen einsetzen; unbedingt not-
-vrendig ist das nicht.
Der Argoiiautenkatalog in Hygins Fabelbucb. 479
selbst an einer späteren Stelle anführt und auch auf Klymenos
oder wie er ihn auch dort nennt Periiklymenos ausdehnt '). Aller-
dings kennt die Ilias einen Pleuronier Ankaios W 635 (danach
Quint. Smyrn. IV 311 f.) und nennt Asios als Mutter der Asty-
palaia und Gremahlin des Phoinix eine Tochter des Oineus Perimede.
Aber zwischen Pleuron und Samos besteht sonst keine Verbindung,
und Oineus wird bei dem samischen Epiker wohl nicht der König
von Kalydon, sondern Kurzform für den Oinopion von Chios ge-
wesen sein. Auch kennt die Sage Althaia wohl als Geliebte des
Dionysos und des Ares, aber nicht als solche des Poseidon. Da
nun bei Hygin unmittelbar darauf unter Meleager die Worte
Althaeae Thestii filiae folgen, so wird es sich wohl wieder um Aus-
lassung und Randnachtrag handeln, den ein Abschreiber als Cor-
rectur des ihm ungewohnten ÜSTamens Astypalaea mißverstand.
Derselbe Fall liegt bei Mopsos vor. Im Frisingensis stand:
Mopsus Ampyci et ChloricUs fiUus. hie augurio doctus ab Apolline,
ex Oechalia vel, ut quidam ptutant, Lyparensis. Die paraphrasierten
Apollonios-Verse lauten I 65 f. : ^'Av'9'f d' av M64fog TituQYi6iog^ ov
7C£qI TtdvTcov Ar]toid7]g edida^s dso^QOJtCag olcovcjv, wonach schon Mi-
cyllus das unsinnige L^jparensis in Tltaresius, Muncker in Tilarensis
verbessert hat. Die Eltern entnahm Hygin den Scholien : ^A^tcvxov
vLog 6 Möijjog tov Tixagovog, iirirgog de XXcoQLÖog. Aber daß nach
einer anderen Tradition der Seher in Oichalia — sei es dem thes-
salischen oder dem euböischen (das messenisch-arkadische kommt
nicht in Frage) — zu Hause gewesen sei, davon steht weder in
den Scholien noch sonst wo etwas zu lesen. Nun folgen aber im
Katalog bald darauf zwei Argonauten, die wirklich aus Oechalia
sind, Klytios und Iphitos, die Söhne des aus der Heraklessage be-
kannten Eurytos: Clytius et Iphitus, Euryti et Antiopes Pylonis
filiae fdius, reges O.echaliae. hie concessa ab ApolUne sagittarum scientia
cum aiictore mimeris contendisse dicitur. Das entspricht den Apol-
lonios-Versen I 86 ff. toj d' ccq stcl KkvtCog ts aal "Icpitog riysQe-
d'ovto, Ol%aUi]g i^tlovQOi^), äm^vsog EvQvtov vUg, Evqvtov, cj Ttöge
TÖlov 'EzYißöXog' ovd' aTtövrjto dcotCvr^g ' uvt(p yäg ixav iQLÖrjvs doTi}Qi.
1) Fab. 157 Neptuni filii .... Periclymmus (Erictymenm Fr., verb. v.
Muncker) et Ancaem ex Astypalaea (Äntheus ex Ästyphüe Fr., verb. v. Scheffer)
Phoenicis fiUa.
2) Diese "Worte, die Hygin- durch reges Oechaliae wiedergibt, verbieten es
bei ihm regis Oechaliae zu schreiben, wodurch sowohl der Anschhiß des nächsten
Satzes hie concessa ah Apolline etc. als der des übernächsten huius filius Clytius.
ah<hoc> Aretus (Aeeta Fr.) interfectus est. (s. über die Lesung Arch. Jahrb. III
1888 S. 53) besser werden würde.
32*-
480 Carl Robert,
Die Mutter fand der My thograph in dem Scholion : :tatdsg ^Avtioitrig ;
er muß es aber nocli vollständiger mit dem Namen des mütterliclien
Großvaters Pylon gelesen haben, der auf Hesiods Kataloge zu-
rückgebt (fr. 110, Schol. Laur. Soph. Trach. 266), wo er aber zu
TtaXaiov verderbt und erst von Bentley aus Hygin wieder herge-
stellt worden ist. Nun scheint Oechaliae im Text ausgefallen und
am Rand nachgetragen worden zu sein, diesmal mit längerem
Stichwort: hie concessa ab Apolline^)] das ist aber den von Mopsos
gebrauchten Worten Mc augurio doctus ab Äpolline ähnlich; und
so fügte ein Abschreiber es auch dort in der Form ex Oeelialia
ein. Nun mußte aber die wirkliche Heimat Titaron wiederum zur
Variante herabsinken und wurde durch vel ut quidem putant ange-
knüpft. Endlich haben wir schon oben (S. 470) denselben Fall
bei Oileus constatiert, zu dem die auf den ausgefallenen Kanthos
bezüglichen Worte ex Euboea, durch alü ahmt als Variante ange-
knüpft, verschlagen worden sind.
Ein anderer Fall entbehrt nicht eines gewissen Humors. Im
Frisingensis stand Äncaeiis Lycurgi filitis, alii nepotem dicunt, Te-
geates. Nun ist es gewiß denkbar, daß in einer arkadischen Kö-
nigsliste Ankaios eine Generation tiefer gerückt worden war ; aber
in unserer sonstigen Überlieferung ist niemals Lykurgos, sondern
stets Aleos sein Großvater^). So auch bei ApoUonios, der ihm
seinen beiden Oheimen Amphidamas und Kepheus anreiht und seine
Teilnahme damit begründet, daß sein Vater Lykurgos ihn an seiner
Stelle mitgeschickt habe, weil er selbst zur Pflege des greisen Aleos
zu Hause bleiben wollte; I 161 ff. 'aal ^ijv 'J^cpidcc^iag Kricpsvg z
Yöav 'AQxadCri^ev, ot Tayiriv xaX TilfJQOV 'AcpSiddvrsLov svaiov, vis ovo
'AXsov' tQkatög ye iiev eönex' lovdiv Hynaiog^ xhv ^ev ga TtatijQ
jivaooQyog sitenTtsv, tg)v c)C[i(pco yvcotbg %Qoysv86teQog, äXX'' o iiev
i^örj yr]QK67covr AXebv XCjtst cc^ nokiv 0(pQcc xoiiCt,OL, Ttatda d' ibv
6(pstBQ0L6i y.a6iyvrixoi0iv oTcaöösv. Danach Hygin Ampidamas et
Cepheus Alei^) et Cleobules filii de Arcadia. Die Mutter Kleobule
hat Hygin wieder aus einem vollständigeren Scholion; in derTele-
1) Vielleicht auch nur Mc — ah ApolUne.
2) Vgl. die Zusammenstellung der Listen bei Hiller von Gaertringen IG
V 2 p. XXX.
3) Egei Fris. ; schon von Micyllus verbessert. Der Schreiber dachte an
Aegeus, den Vater des Theseus. Der Fall gehört zu den im Arch. Jahrb. a. a. O.
erörterten, wo ein entlegener Heroennamen durch einen bekannteren ersetzt wird.
Auf ähnliche Weise ist bei dem Apollonsohn Idmon als Mutter die berühmte
Kyrene eingeschmuggelt; Hygin hatte geschrieben Ästeries Coroni fiUae filius, s.
Pherckydes Schol. Apollon. I 139.
Der Argonautenkatalog in Hygins Fabelbuch. 481
phossage heißt sie Neaira, Apollod. III 9, 1,2, Hyg. fab. 243
(Megera FR., verbessert von M.Schmidt); bei Apollod. III 9, 2, 1
heißt die Gattin des Lykurgos Kleophyle. Nach dem Gesagten
wird man nicht bezweifeln, daß Hygin Ancaeus Lycurgi fäius, Alei
nepos geschrieben hat. Die beiden letzten Worte waren ausge-
lassen und am Eand nachgetragen worden. Ein Abschreiber hielt
Älei für alii und setzte als Variante in den Text alü nepotem dicunt.
Nur auf solche Weise erklärt sich auch die unglaubliche Tau-
tologie in dem Satz über die Dioskuren: Castor et Pollux lovis ei
Ledae Thestü fdiae filnis Lacedaemonü, alii Spartanos dicunt» Dadurch
daß man die letzten Worte mit Muncker als ein nimis putidiim
glossema bezeichnet, ist ihre Herkunft noch nicht erklärt. Bei
Apollonios steht I 146 ff. }ial uriv AltcoXlg kqccxbqov IIoXvdevzEa
Arjdr} KddtOQcc t cjxvTtödcov agösv dsdai]^svov iJtTtcov UTtaQtrid-sv.
Also hat Hygin geschrieben Lacedaemonü ex Sparta. Die beiden
letzten Worte sind ausgefallen, am Rand nachgetragen und in der
Fassung alii Spartanos dicunt von einem Abschreiber als Variante
wieder in den Text gesetzt worden.
Bei Eurytion haben wir einen Fall gefunden, wo Corruptel
und Correctur neben einander im Text stehen. Dasselbe beobach-
ten wir bei dem unmittelbar vorhergenannten Argonauten Eri-
hoteSj Teleontis filius. Ameleon. Vgl. Apollonios I 73 i]toi o ^sv
Tsleovtog ivxXsu^g 'EQvßarrjg. Hier ist Ameleon nichts weiter, als
das schwer verderbte Teleontis.
An anderen Stellen erscheint die Corre6tur als Variante.
Über das achaeische Brüderpaar stand im Frisingensis : Aster ion et
Ampliion Ypetacli filii, alii aiunt Hlpasi, ex Pellene. Apollonios sagt
I 176 f. ^AöXBQLog de xal AiKpCov ^Titegaßiov vlsg IIsXh]vrig acpiKavov
'Axocudog. Hyperasii war zu Ypetacli verderbt, Hlpasi ist die Cor-
rectur, die aber diesmal nicht an den Rand, sondern darüber ge-
HIP R SI
schrieben war YPETACLI. Ein Abschreiber hat aus diesen Buch-
staben Hipasi gemacht und dies mit alii aiunt als Variante in
den Text gesetzt.
Fast dieselben Worte alii Hippasi filium .... fuisse dicunt
kehren bei dem Nauboliden Iphitos wieder; hier sind sie aber
anderen Ursprungs. Die Stelle lautet im Frisingensis: Iphitus
Nauholi filius, Fhocensis, alii Hippasi filium ex Peloponneso fuisse
dicunt. Also scheinbar nicht nur ein anderer Vater, sondern auch
eine andere Heimat. Bei Apollonios steht I 207 f. ex d' aga Oca-
^Yicov Tcisv 'IfpLtog 'ÖQvvvCöao Navßolov ky.ysya^g. Dazu bemerken
ergänzend die Scholien röi/ de "Icpirov ysvealoyel Navßolov vm! Hs-
482 Carl Robert,
Qivscxrjg trjg 'l7t%oiid%ov. Also hat Hygin geschrieben : Iphitus Naii-
holi filius ex Ferinice HippomacM filia PJiocensis. Die beiden Namen
sind im Archetypus schwer verderbt gewesen, so daß ein Ab-
schreiber den des Grroßvaters als Hippasi, den der Mutter als ex Fe-
loponneso verlesen konnte. Da sich dies mit der phokischen Heimat
des Iphitos nicht vertrug, glaubte er es mit einer Variante zu
tun zu haben, und schrieb alii Hippasi filium ex Feloponneso fuisse
dicunt.
In einem anderen Fall, wo die Correctur als Variante in den
Text eingedrungen ist, hat dies auf die ganze Umgebung verheerend
gewirkt, zumal auch noch Lücken da waren. Wir müssen daher die
ganze Stelle im Zusammenhang betrachten; sie steht in dem Ab-
schnitt, der von den Argonauten handelt, die sich erst während
der Hinfahrt angeschlossen haben: item accesserunt ex insiila Dia
Fhrixi et Chalciopes Medeae sororis filih Argus, Melas, Fhrontides,
Cylindrus, ut alii aiunf, vocitatos Fhronius, Demoleon, Autolycus,
Fhlogius, quos Hercules cum eduxisset hahitunis comites, dum Äma-
zonum halteum petit, reliquit terrore perpulsos a Dascylo, qui reyis
Mansuaden ßUa. Danach hätten es also für die vier Söhne des
Phrixos zwei verschiedene Namenreihen gegeben, und Herakles
hätte diese Phrixossöhne auf seinem Zug ins Amazonenland mit-
genommen. Sie wären aber aus Furcht vor Daskylos zurückge-
blieben, und zwar wie man nach dem überlieferten Wortlaut an-
nehmen müßte, auf der Insel Dia^), wo sie dann von dem Argo-
nauten gefunden werden und mit ihnen nach Kolchis weiterfahren.
Die Söhne des Phrixos heißen bei Apollonios II 1030 if. Argos,
Melas, Phrontis und Kytisoros, und dieselben Namen sind durch
Apollodor I 9, 1, 4, Valerius Flaccus V 460 ss. und Hygin fab. 3
(der vierte Namen dort ebenso corrumpiert wie im Argonauten-
katalog) bezeugt. Es kann daher nicht zweifelhaft sein, daß bei
Hygin Cytisorus statt Cylindrus und Fhronüs statt Fhrontides zu
schreiben ist. Die von Herakles auf seine Fahrt ins Amazonenland
mitgenommenen und zurückgelassenen Gefährten sind bei Apollonios
nicht Söhne des Phrixos, sondern des Deimachos von Trikka; es
sind ihrer nicht vier, sondern nur drei, mit Namen Deileon, Au-
tolykos und Phlogios II 955 ff. svd-a dh TgiK^aCoio äyavov z/^^t/tta-
%OLo vhg, Jriikscov ts xal AvtöXvxog ^loyCog te ZTJ^og £^\ 'HgaTtXrjog
äjcoTtXaQx^evtsg, evaiov %tX. Sie haben sich am Halys niedergelassen,
rufen die vorüberfahrende Argo an und werden von ihr aufge-
1) Bei Apollonios II 1031 heißt die Insel 'AgritLccg, daher M. Schmidt viel-
leicht mit Recht bei Hygin Aria lesen will, während Bunte Aretiade schreibt.
Der Argonautenkatalog in llygins Fabelbuch. 483
nommen. Es leuchtet ein , daß Hygin hier wieder den Apol-
lonios ausschreibt, zumal auch die Reihenfolge der Namen die-
selbe ist wie bei ihm. Demoleon ist ganz gewiß mit' Muncker in
Beileon zu verbessern. Nun bleibt aber Phronius übrig. Dies ist
aber sicherlich nichts anderes als die wiederum verderbte Cor-
rectur von PJirontides, die abermals als Variante mit ut alü u'mnt
vocitatus in den Text gesetzt ist. Diesmal aber haben wir es mit
mehreren Stadien der Verderbnis zu tun. Ein späterer hielt
nämlich auch die Namen der drei Deimachossöhne für Varianten
der Namen der drei übrigen Phrixossöhne und änderte vocitatus in
vocitatos, so daß nun die oben dargelegte unmögliche Geschichte
herauskam. Streicht man nun aber die interpolierten Worte ut
alü .... Phronius, so fehlt zu den Deimachos-Söhnen das Prae-
dicat. Daher wollte Bunte item accesserimt Deimachi filii ein-
setzen, was dem Sinne nach gewiß richtig ist. Jedenfalls muß
man sich hüten mit ScheiFer und M. Schmidt einen Gegensatz
zwischen dieser Geschichte und der von den Phrixossöhnen hinein-
zubringen. Das Schicksal der Deimachos-Söhne aber erzählt Hygin
nicht nur nach Apollonios, der es nur änvch' HQccTcXfjog ajcoTtXayx^tvteg
andeutet, sondern auch nach den Schollen : ovzol xataXsLcpd'evteg vno
'HQaxXsovg sjtl xov tilg 'A^a^övog ^(DötrJQU xsxcoQTjKÖTog KtX., wonach
man für das unpassende Amasonum halieiim mit Muncker Amazonium
halteum zu lesen haben wird. Daß Schrecken die Ursache war,
weshalb sie zurückblieben, könnte Hygin wieder aus einer vollstän-
digeren Fassung des Scholions haben, aber gänzlich ausgeschlossen
ist es, daß es Daskylos ist, der den Gefährten des Herakles diesen
Schrecken einjagt; denn dieser ist mit seinem Vater Lykos dem
Herakles in Freundschaft verbunden und^ihm zum Dank verpflichtet.
Vielmehr ist die Geschichte der Söhne des Deimachos mit terrore
perculsos, wofür man errore propidsos {äTtoTtXayxd-evzeg) zu lesen hat,
zu Ende, und es folgt etwas neues. Daskylos gehört nämlich
selbst zu denen, die sich den Argonauten angeschlossen haben,
oder genauer gesagt, er wird ihnen von seinem Vater Lykos als
Führer mitgegeben ; dieser sagt II 802 f. ^vvfi ^av Ttävtsööcv 6^6-
Gxolov vi-i^LV BTceG^ai /Ida^vlov otQvvecD, e^bv vtsa und 813 f. heißt
es : ocal d' ccvrbg <3vv toi(5i Avxog xCs, iivgC 6%d66ag d&ga (psQSLV '
diia d' via ödyLGiv ex jcs^tcs vesö^cu. Also haben wir vor a Bascylo
eine Lücke anzunehmen, in der etwa gestanden haben mag: in
Colchos aiitem deducti sunt. Die verderbten Schlußworte hat schon
Micyllus in regis Mariandyni filio emendiert, aber erst Muncker
hat erkannt, daß in qui das unentbehrliche Lycl steckt.
Der ausgehobene Abschnitt beginnt mit den Worten item
484 Carl Robert,
accesseriinf. Also müßte schon vorher von einem oder mehreren
Argonauten die Rede gewesen sein, die erst auf der Fahrt hinzu-
gekommen sind; in der Tat ist das nach der Textgestaltung des
Frisingensis der Fall. Da heißt es von dem Seher Mopsos, daß
er nach der Ermordung seines Vaters sich angeschlossen habe;
derselbe Mopsos, von dem es unmittelbar vorher heißt, daß er in
Afrika an einem Schlangenbiß gestorben sei. Er schließt also
zugleich die Liste derer, die auf dem Rückwege umgekommen sind
{in reversione aiitem perierunt etc.)j und eröffnet die der auf der
Hinfahrt hinzugekommenen. Der Tod des Mopsos in Africa wird
von Apollonios IV 1502 ff. erzählt und auch von Lykophron 881 ff.
(vgl. SchoL), Seneca Med. 654 ff. und Ammianus Marcellinus
XIV 8, 3 bezeugt. Aber daß er erst nach Ermordung seines Vaters
— unklar ist ob durch ihn selbst oder einen andern — sich den
Argonauten angeschlossen habe, liest man nur hier, und das ist
um so bedenklicher, als er nicht nur bei Apollonios die Fahrt von
Anfang an mitmacht, sondern auch vorher von Hygin unter den
Argonauten ohne jede nähere Bemerkung an derselben Stelle wie
bei Apollonios verzeichnet wird. Mit Recht hat daher M. Schmidt
die sonderbare Angabe athetiert, aber damit ist ihre Herkunft
noch nicht erklärt. Nun lautet aber die Stelle im Frisingensis
folgendermaßen: Mopsus mitem Amyci fiUus ab serpentis morsu in
Africa ohüt. is autem in itinere accesserat comes Ärgonautis, Äniyco
patre occiso. Wie man sieht, ist der Name des Vaters des Mopsos,
Ampykos. hier zu Amykos verderbt, während er an der früheren
Stelle des Katalogs richtig überliefert ist. Ein denkender Ab-
schreiber — und das sind die schlimmsten — identifizierte diesen
Amykos, mit dem bekannten von Polydeukes überwundenen und
getöteten Bebryker und zog daraus den unglaublichen Schluß, daß
dessen Sohn nach dem Tod seines Vaters sich den Argonauten zu-
gesellt habe. Streicht man aber die Worte is— patre occiso, so hat
das item accesserunt, mit dem die Phrixossöhne eingeführt werden,
keine Beziehung mehr. Man wird an Stelle von item das aus dem
interpolierten Satz entlehnte in itinere (als Gegensatz zu dem vor-
hergehenden in reversione) setzen und itetn accessenmt oder auch
bloß item dort einfügen, wo es auch Bunte ohne den Sachverhalt
zu durchschauen eingesetzt hat, vor die Erwähnung der Söhne des
Deimachos ^).
1) Vergleichen läßt sich eine willkürliche Änderung in fab. 15, die in ihrer
ursprünglichen Fassung in den Statin s-Scholien V29 erhalten ist. Im Archetypus
des Frisingensis war hier der Name des Königs von Nemea, bei dem Hypsipyle
als Sclavin dient, zu Lyco verderbt, während die Statius-Scholien das richtige
Der Argonautenkatalog in Hygins Fabelbuch. 485
Eine ähnliche, wenn auch nicht so krasse Interpolation, findet
sich noch an einer anderen Stelle. Von den Hermessöhnen Eurytos
und Echion heißt es: Eurytus et Echion, Mercurii et Antianirae
Meneti (Änfreatae Mereti Fr., verb. von SchefFer) filiae filiiis ex
urbe Alope, quae nunc vocatur Ephesiis {Ehesus Fr., verb. von SchefFer),
quidam aiictores Thessalos piäant. Die paraphrasierte Apollonios-
stelle lautet I 51 ff. ov8' 'AX6%ri ^t^vov TtokvXrjLoc ^Equeluo vUeg
SV dsÖKats döXovg 'EQvtog ^iol 'ExCcov. Dazu bemerken die Scholien
0£00ahag TCoUg r) Mayvi]6iag. Der Interpolator hat aus Plinius
V 115 die Identificierung mit Ephesos eingesetzt und mußte nun
die thessalische Herkunft der beiden als Variante bezeichnen.
Hygin wird etwa geschrieben haben: ex urbe Alope, Tliessali.
Sehr verwickelt liegt die Sache bei dem Thessaler Asterion.
Überliefert ist: Asterion Fyremi filius, matre Antigona Pheretis filia,
ex urbe Feline. alii aiunt Priscl filium, urbe Firesia, quae est in
radicibus Fhyllaei montis, qui est in Thessalia. quo loco duo fliimina,
Apidanus et Enipeus, separatini proiecta, in unum conveniunt. Die
zu Grrunde liegende Apollonios-Stelle lautet I 35 ff. i]lv^s ö' ^Aats-
QiGdv avro(j%sd6v, ov Qa Koii7]tYjg ysivato- dLV7]6vtog i(p^ vda0iv ^A^ti-
öavoto, TLsigeöiäg ogsog ^vklr^Cov äy%6Q-i vaCcjv, svd-a ^uhv ATtidavög
TS ^Eyag xal ötog 'EviTtsvg a^(pc3 6vii(pOQeovxca, ccTtÖTCgod-sv sig ^v
lövTsg. Die letzten drei Verse gibt Hygin correct wieder, aber
wo bleibt der Vater Kometes ? Man darf erwarten, daß er sich ent-
weder in Fyremus oder in Frisciis versteckt; aber wie den Namen
ohne äußerste Gewaltsamkeit wieder herstellen? Versuchen wir
es also auf einem anderen Wege. Nicht nur einen doppelten Vater,
auch eine doppelte Heimat gibt Hygin für Asterion an; neben
Firesiay das dem ITsLQSöLaC des ApoUonios entspricht, nennt er Feline,
worin schon Muncker das achaeische Pellene erkannt hat. Nun
gibt es tatsächlich einen Achaeer Asterion, der mit seinem Bruder
Amphion an der Argofahrt teilnimmt, und den Hygin an einer spä-
teren Stelle nennt. Wie wir oben (S. 481) sahen, ist dort der Name
seines Vaters Hyperasios zu YpetacJus verderbt gewesen, das dann
durch übergeschriebene Buchstaben verbessert worden ist, die als die
Variante Hipasus in den Text gesetzt worden sind. Wiederum ist
es Muncker gewesen, der erkannt hat, daß an der früheren Stelle
der Thessaler Asterion mit seinem achaeischen Namensvetter, der
übrigens bei Apollonios selbst 'Aötegiog heißt, während die Scholien
ihn ^AötegCcov nennen, verwechselt wird. Nur darin irrte er, daß
Lycurgo haben. Der Interpolator, der Lykos aus fab. 7 als König von Theben
kannte, setzte nun für Nemeam, wie richtig in den Statius-Scholien steht, Tliebas ein^
486 ^a^l Robert,
er den Vaternamen Hyperasii in Frisci suchte ; er steckt viel-
mehr in Pyremi, während Priscus dem Ko^yjrrjg entsprechen muß.
Um eine einfache Buchstaben-Corruptel kann es sich aber nicht
handeln, wohl aber um eine Übertragung in das Lateinische. Das
nächstliegende wäre Crinitus gewesen, aber auch Crispus, womit
die Glossare ovlog wiederzugeben pflegen, war nicht übel. Aus
Crispus ist dann durch leichte Buchstabenverstellung Priscus ge-
worden. Antigene die Tochter des Pheres, die Hygin als Mutter
des Asterion nennt, wird weder von Apollonios noch in unsem
Schollen erwähnt, stammt also wiederum aus einem vollständi-
geren Scholion. Nach dem Text des Frisingensis wäre sie die
Mutter des achaeischen Asterion und Gremahlin des Hyperasios;
da sie aber an der späteren diesem gewidmeten Stelle nicht ge-
nannt wird und eine Tochter des Pheres als Gattin besser für
einen Thessaler paßt, als für einen Achaeer, wird sie wohl die
Frau des Ko^yjtrjg-CAsi^xis sein. Also hatte Hygin geschrieben:
Ästerion Crispi filius, matre Anügona Pheretis filia, urhe Piresia,
Denn die Verwechslung mit dem gleichnamigen Achaeer wird man
nicht ihm selbst, sondern* einem Abschreiber oder Leser zur Last
legen, wenn es sich überhaupt um eine Verwechslung und nicht
um eine am Rand notierte Parallele handelt ; denn mit einer Rand-
glosse haben wir es auf jeden Fall zu tun. Ein Leser notierte
sich aus dem folgenden : Ast. Pyremi (CorruJ)tel von Hyperasii) filius
ex urhe Pellene. Ein Abschreiber setzte die Genealogie an erster Stelle
in den Text, so daß die richtige wieder zur Variante wurde und
Crispus sogar seine Gemahlin Antigone an Pyremus abtreten mußte.
Noch an einer anderen Stelle ist eine ähnliche Randglosse in
den Text eingedrungen und hat dort noch größeren Schaden an-
gerichtet. Im Frisingensis stand : in reversione autem perierunt Eu-
rihates Teleontis filius, et Cantus Geriontis filius interfecti sunt in
Lyhia a pastore Cephalione Nasamonis fratre^ filio Tritonidis nymphae
et AmpMtemidis, cuius fuste pecus depopulabantur. Um mit Selbst-
verständlichem zu beginnen, so ist die richtige Orthographie Libya
von Commelinus, Canthus und Amphithemidis von Bunte hergestellt,
Geriontis von M. Schmidt in Gerinthius Canethi verbessert worden;
daß hinter perierunt zu interpungieren und vorher hi einzuschieben
ist, hat Scheifer gesehen; was in fuste steckt, ist noch nicht er-
mittelt worden ^). Die zu Grunde liegenden Apolloniosverse lauten
IV 1485 ff. Kdvd^s, 0£ d' ovXo^svat Aißvri evi Kfigsg elovto, jccosefc
(peQßoiiivoiöi övvi^vtssg* siitexo d' ävriQ avXCt7]g, o ö' i&v fjir^Xcov itigt^
1) furtis Mimck,, fuse Toll, forte Heins,, fuste citws Scheff. ; vielleicht iniuste.
Der Argonautenkatalog in Ilygins Fabelbuch. 487
t6q)Q^ it(XQ0i6LV devo^evotg Tto^Löstag, ccXs^öuavog xate^tscpvev lui ßalcov
BTtel oi) [i£v äcpcivQÖreQÖg y' sthvxto, vCcovbg ^oißoio AvKaQEioio
KccqjccvQog xovQrig t aldoCrjg läTcccxaXXcdog, r^v ütots Mivcog ig Aißvriv
cc7tEvaö(3s &eov ßaQV zv^cc g)£QOv0av, d-vyatega öcpsreQriv ' rj d' ccyXabv
vCea 0oiß<p XLictsv, ov 'A^cpCd-s^Lv rccgäucivrcc re xlxXtjöxov^lv.
A^cpld' s^tg d' «(>' £7C£ira fiiyrj Tqlxcov C8i vv^q)rj' ?j d' äga
Naöd^cova xi%sv icgaregöv rs Kdcpav gov , ög rdrc Kdvd-ov sjtscpvsv
ijtl QTiVEööiv EotöLv. Wie man sieht, weiß Apollonios nur vom Tod
des Kanthos, nicht auch von dem des Erybates; und doch ist es
bei der wörtlichen Übereinstimmung ausgeschlossen, daß Hygin
eine andere Quelle, oder auch nur eine Nebenquelle benutzt haben
sollte. Denn wenn der Kaphauros des Apollonios bei ihm Ceplia-
lion heißt, so wird man nach den Erfahrungen, die wir mit den
Namenscorruptelen im Frisingensis gemacht haben, kein Bedenken
tragen, dafür Capha(uro ÄpoT)li(nis) ne(pote) herzustellen. Wie
kommt nun der Sohn des Teleon Eurihates wie hier steht, während
an den früheren Stellen Erihotes überliefert ist, wie er auch bei
Valerius 1402 und III 478 heißt, obgleich bei Apollonios 171.73
'EQvßavrig steht, in diesen Zusammenhang? Wiederum aus einer
Randglosse, wie bereits oben angedeutet ist. Unmittelbar vorher
ist das Schicksal des Butes erzählt, der gleichfalls Sohn eines
Teleon, freilich eines ganz andern ist. Dazu hat sich ein Leser
den Erihotes Teleontis ßius notiert, ohne daß sich entscheiden läßt,
ob er beide für Brüder^) hielt. Später ist die Glosse an falscher
Stelle in den Text geraten und der Interpolator hat für interfedus
est und depopulabatur den Plural hergestellt.
Wir lernen also, daß der Archetypus des Frisingensis durch
zahlreiche Namenscorruptele und Lücken entstellt^) war. Die
Corruptelen sind zuweilen corrigiert und diese Correcturen für
Varianten gehalten , die ausgefallenen Worte häufig, aber nicht
immer am Rande nachgetragen und an falscher Stelle in den Text
eingefügt worden. Ebenso ist es mit Randglossen gegangen. Dabei
hat es auch an gewaltsamen Änderungen nicht gefehlt. Kurz wir
dürfen den Text des Frisingensis als stark interpoliert bezeichnen.
Um die Stadien der Verderbnis zu veranschaulichen, drucke ich
auf S. 488 ff. den ersten Teil des Capitels, bis zu den einer Neben-
quelle entnommenen Argonauten, in drei Columnen ab, von denen
1) Vgl. Schol. ApoUon. I 95 stsgos ds kxiv o TsXiOiv ovzog 6 Bovtov TtarriQ
nuQci xov TtQotegov slgri^Bvov, tbv 'EQvßcotov Ttaxbqu.
2) Auch daß zwischen Phlias und Hercules die Söhne des Bias und der
Pero fehlen (Apollon. I 118 ff.), fällt gewiß den Abschreibern und nicht dem Autor
zur Last.
488
Carl Robert,
die eine den gereinigten*), die zweite den verstümmelten und am
Eand corrigierten Text, die letzte den des Frisingensis mit allen
seinen orthographischen Unarten zeigt. In einer weiteren Columne
setze ich die Vorlage, also ApoUonios und seine Schollen. Damit
will ich aber keineswegs gesagt haben, daß sich die Verderbnis
und Interpolation nur in zwei Stadien abgespielt hat, so daß
zwischen dem unverderbten und unverfälschten Text und dem des
Frisingensis nur eine Zwischenstufe läge. Haben wir doch in
1) Einige selbstverständliche Verbesserungen habe ich stillschweigend in
diesen eingesetzt.
APOLLONIUS C. SCHOL.
1 230 f. 'I^ <> 0 V 05 , ysLvccto (i'^triQ 'Al-
kl^eSt] KXv^svris MivvriCdog inysyavLa,
cf. Schol. I 23 ff. TtQcbxa vvv 'Ogcpfios
fivria mfi s&a f rov qa nov ccvtr} KaX-
XioTcri ©Q^LY-L (pati^stai svvrid'SLßcc Old-
ygm ßyiOTCiiig TJi^nXriidog ay%i ts-asöd'cci-.
ScHOL. UiiinlsLag %(oqCov v,atcc IIlsqlccv
81 d'sXyo^svos (poQiiiyyi. I 35 ff. ijXvd^E
^' 'AarsQLov avtoo%E86v, ov qcc Ko-
in]tr}g yeivaro öiv^swog icp'' vdaaiv "ÄTti-
Savoto, UstQEöiag oQSog ^vXXtilov ciy%6%'i
vccicov, sv&a H8V 'ArCLdccvog t£ fiEyag kuI
dcog 'EvLTtevg a^cpco ov^(pOQ£ovraL, ano-
TtQodev stg sV lovxsg. I 40 ff. Adgiaccv
d'inl tOLüi XiTtcöv IJoXvcprifio g tyicivsv,
EtXatLdr]g. 43 f. tot ccv ßccQvd'SG^E ot
i]dr} yvicc. I 45 ff. ov dl fiEv"Iq) i-nXog
^vXccar] evl driQov ^Xeltixo , iiiJTQmg
AtoovLdcco. xccaiyvtjtrjv yäg on^iEv Al'-
ccov 'AXm^ed7}v ^vXccKYiLdcc. ScHoL. eotl
Ss viog ^vXocyiov yial KXvfiEvri^ rjjg
Mlvvov. I 49 ovÖE ^EQULg "Adfiriro g
BVQQTivEaaiv ävdaaoiv (lifivEv vTtb ov.o-
Ttirjv ÖQEog XaXucodovLOLO. ScHoL. at
^EQal oivoiidod^riGav ccnb ^iqrixog tov
Kgrid'Ecog, tov 'Adfnjtov rov Ttatgog
ÖQOg VTtSQdvO) ^EQOiV tb XttXY,(o86viOV.
I 51 ff. ov8' 'AXoTtTj [i^fivov TCoXvXriLOL
^EQiLBCao ViEsg ev öeScc&te doXovg, "E q v-
tog yiccL 'E%CGi v. totöi 8' etil tgCtatog
yvcotbg v,le viaao^EvoiGLV Al%- aXCdrig.
KCcl tbv [lEV h% 'AflCpQVOÖOLO QOfJGLV
MvQ(iid6vog 'KOVQri ^&idg xe-uev Evtco-
XEfiEicc ' reo d' ccvT EHysyatriv MevettiC-
TEXTUS INTEGIER.
lason Aesonis filius et Alci-
medes Clymenes filiae et Thes-
salorum dux. Orpheus Oeagri
et Calliopes Musae filius, Thrax,
urbe Pimpleia, quae est in
Olympo monte ad fluvium Eni-
peum, acris citharista. Aste-
rion Crispi filius matre Anti-
gona Pheretis filia, urbe Pi-
resia, quae est in radicibus
Phyllaei montis, qui est in Thes-
salia. quo loco duo flumina, Api-
danus et Enipeus, separatim pro-
iecta, in unum conveniunt. Poly-
p h e mu s Elati filius matre Hippe
Anthippi filia, Thessalus ex urbe
Larissa, pedibus tardus. Iphi-
clus Phylaci filius matre Cly-
mene Minyae filia, ex Thessa-
lia, avunculus lasonis. Adme-
tus Pheretis filius, unde op-
pidum et flumen nomen tra-
xit, matre Periclymene Minyae
filia ex Thessalia, monte Chalco-
donio. Erytus et EchionMer-
curii et Antianirae Meneti filiae
filii ex urbe Alope, Thessali. A e-
thalides Mercurii et Eupole-
miae Myrmidonis filiae filius. hie
Der Argonautenkatalog in Hygins Fabelbuch.
489
einem Falle deren mindestens zwei constatieren können. Ebenso
wenig bilde ich mir ein den ursprünglichen Text des Hygin her-
gestellt zu haben. Welche Wandlungen dieser durchgemacht hat,
zeigen der Niebuhrsche Palimpsest und die von unserer Überlie-
ferung unabhängigen Excerpte in den Germanicus- ^) und Statius-
Scholien^). Meine Textgestaltung stellt nur die frühste für uns
erreichbare Stufe dar.
1) Robert Eratosthen. cataster. rel. p. 211 fF.
2) Em. Bieber Hygini fab. supplementum (Diss. Marp.) 1904.
TEXTUS LACUNOSUS.
I a s 0 n Aesonis filius et
Alcimedes Clymeni filiae
et Thessalorum dux. Or-
pheus Oeagri et Calliopes
Musae filius, Thrax, urbe
Flevia quae est in Olympo
monte, ad fluvium Enipeum
Martis cytharista. Aste-
Pyremi filius rionPriscifilius,matreAn-
?eline^ tigona Pheretis filia, urbe
Piresia, quae est in radici-
busPhyllaei montis, quiest
in Thessalia. quo loco duo
flumina Apidanus et Eni-
peus, sepäratim proiecta in
unum conveniunt. Poly-
p h e m u s Elati filius, matre
Hippea Antippi filia, Thes-
salus ex urbe Larissa, pedi-
bustardus. IphiclusPhy-
laci filius matre Pericly-
mene Minyae filia ex Thes-
salia, avunculus lasonis,
A d m e t u s Pheretis filius
huius Apolli- matre Periclymene Minois
nem pecus fi^a ex Thessalia, monte
ferunt. Calcodonio, unde oppidum
et flumen nomen traxit.
Eurytus et Echion,
FRISINaENSIS.
I a s on Aesonis filius et Al-
cimedes Clymeni filiae et Thes-
salorum dux. Orpheus Oeagri
et Calliopes Musae filius, Thrax,
urbe Flevia, quae est in Olympo
monte, ad fluvium Enipeum Mar-
tis cytharista. Asterion Py-
remi filius, matre Antigona Phe-
retis filia, ex urbe Peline. alii
aiunt Prisci filium urbe Piresia,
quae est in radicibus Phyllaei mon-
tis, qui est in Thessalia, quo loco
duo flumina Apidanus et Enipeus
sepäratim proiecta in unum con-
veniunt. Pol^^phemus Elati
filius matre Hippea Antippi filia,
Thessalus ex urbe Larissa, pe-
dibus tardus. Iphiclus Phy-
laci filius matre Periclymene,
Minyae filia, ex Thessalia, avun-
culus lasonis. Admetus Phe-
retis filius matre Periclymene
Minois filia ex Thessalia, monte
Calcodonio, unde oppidum et
flumen nomen traxit. huius Apol-
linem pecus pavisse ferunt. E u-
rytus et Echion, Mercurii
et Antreaj:ae Mereti filiae filius,
ex urbe Alope, quae nunc vo-
490
Carl Robert,
dos 'Avtiuvstgrig. SciiOL. ^AXoTtri Gbg-
cuXias Ttohg i) MayvriGiag. I 57 ff.
?;/Lv'9'£ ^' iccpvBir\v Ttqolincov rvQrmva
KoQcovog Kaivsidrig. ScHOL
rivtg ÖS cpaot Kaivia Gv^TtXsvaai totg
'AQyovavTccL^, ov Koqcovov ju-a/iv-
&£vtcii, 08 6 Kccivevg tcqotbqov yeyovsvai
yvvi], slra Uoosid&vog ccvtfj itlriGiä-
accvTog ^sraßXrid'fivu stg avdga • xovto
yaQ TjxriaB %(x\ cctQcoGLCcv. I 59 ff. Kaivia
ya.Q t^ov 7t£Q hl "aXbCovglv aoidol Ksv-
ruvQoiaiv olBcQ'ai ccQQri'HTog
cxy.a(x.7ttog iSvasto vblo&l yatrig, d^BLVO-
fiBvog 6tißaQj)at, Kcctcctydriv iXdtrjGbv.
I 65 f. ijXvd-B d'' ccv M 6 ijj 0 g TitaQr\6iog,
ov TiBQL TtdvTojv ÄTitot'drig EdiSa^s Q-so-
TCQOTtiag otcov&v. ScilOL. 'J^Ttv-Kov vibg
6 Moipog tov TitccQOivogj lAritQog Sb XXm-
Qidog. 1 67 &. TjÖB ncclEvQV da ^ag Kr L-
fiBvov Ttäig • ay%i ÖBXLfivrig ^widdog Kti-
flBVTlV JoXoTCTiida vaiBtäcc6v.Bv . I 101 ft\
©TIC 8 a S\ . . didriXog vTtb %Q'6va dBOfibg
BQVKBv , IJbiq CQ'oy BGTtofiBvov. Contra
catalog. Sclioliorum etApoUodor. 1 9, 16,8
GriOBvg AiyBcog. I 69 f. xojI firjv "A'ktcoq
vtcc Mbvolx lov i^ 'OnoBvxog wqöbv.
I 7 1 ff. BL'TtBXO 8'EvQVXiOiV XB Y.CU CcX-
•KifiBig ^Egvßmxrig, "^^^S o (isv TBXsovxog,
0 8' "Iqov 'AnxoQLÖao ■ ijxoi o fiBv TBXBOvtog
ivuXBirjg ^EQvßmxrig, "Iqov 8' Evqvxlcov '
€vv '/.al XQLXogjjBv 'OiXBvg. 1 77 ff. avxug
an' EvßoCrig KdvQ'og ms, xov qu Kdvri-
^og TtB^iUBv 'Aßavxid8rig XbXlthievov '
ov fiBv b^bXXbv voanjasiv KriQivQ'ov V7t6-
xQOTtog. I 86 SS- xü 8' ccq Biti KXvx Co g
XB Kai "icp IX 0 g TjyBQBd-ovxo, Oi%aXCr]g
iniovQOL, ditrivBog Evqvxov vlBg, Evqvxov,
^ TtoQB xo^ov ''Ey.rißoXog ' ov8' an6v7]xo
8(oxLvr\g • avxä) yäg Bncov iQt8riv8 8oxf]QL.
SciiOL. TtaidBg'AvxLOTtrig. II 114 ff. a^rmg
S^'Agrixog ^£VE8riiov Evqvxov vibv"[cpixov
a^aXBrj'/KOQvvT] öxvcfiXih^sv hdcaag, o^Ttco
-ktiqI %ayiji 7tB7tQco[iBvov T] yaQ b(ibXXbv
ttvxbg 8'rjmOB6d'aL vnb ^tcpB'C KXvtCoio.
1 90 ff. X0L61 8' B7t' AlaKiSai ^BXByiLa&ov '
ov fisv afi' d^tpa, ov 8^ ofiod'Bv • voocpiv
yccQ aXBvd^BvoL %axBvao%'Bv AlyCvrig,
ort ^&v.ov dSBXcpBbv s^BvdQi^av acpQa8i'r).
TBXafiav (ibv sv Ax^iSi vaffaaxo v^ao) '
fuit ex urbe Larissa, quae est in
Thessalia. Caeneus Elati filius
Magnesius ex urbe Gryrtone.
hunc nonnulli feminam fuisse di-
cunt. cui petenti Neptunum prop-
ter connubium optatum dedisse,
ut in iuvenilem speciem con-
versus nullo ictu interfici pos-
set. itaque ostendit nullo modo
centauros ferro se posse vulne-
rare, sed truncis arborum ut
in euneum adactis necatus est.
Mop SU s Ampyci et Chloridis
filius. hie augurio doctus ab
Apolline, Titaresius. Eury-
damasCtimeni filius, qui iuxta
lacuni Xynium Dolopeidem ur-
bem inbabitabat. T h e s e u s
Aegei et Aethrae Pitthei filiae
filius a Troezene, alii aiunt ab
Athenis. Pirithous Ixionis
filius frater Centaurorum, Thes-
salus Menoetius Actoris
filius Opuntius. Erybotes Te-
leontis filius. Earytion Iri
et Demonassae filius. Oileus
Hodoedoci et Laonomes Per-
seonis filiae filius ex urbe Na-
ryce. Cantbus Canethi filius
ab oppido Cerintbo ex Euboea.
Clytius et Iphitus Euryti
et Antiopes Pylonis filiae filii,
reges Oecbaliae. hie concessa.
ab Apolline sagittarum scientia
cum auctore muneris conten-
disse dicitur. huius filius Cly-
tius ; ab hoc Aretus interfec-
tus est. Peleus et Tela-
mon, Aeaci et Endeidos Chi-
ronis filiae filii, ab Aegina in-
sula. qui ob caedem Phoci
fratris relictis sedibus suis di-
Der Argonautenkatalog in Hygins Fabelbuch.
491
quae nunc
vocatur
Ephesus,
lex urbe Gyr-
tone.
itaque hie
lostendit nullo
modo Centau-
ros ferro se
posse vulne-
rare,sedtrun-
cis arborum
ut in cuneum
I adactis.
Teleontis
filius.
Eury: Iri et
Demonassae
filius.
Canthus ab
oppido Ce-
rintho ex
Euboea.
Oechaliae :
hie conc. ab
Apolline.
Mercurii et Antreatae Me-
reti filiae filius , ex urbe
Alope, Thessali. Ethali-
d e s Mercurii et Eupolemiae
Myrmidonis filiae filius. hie
fuit ex urbe Larissa, quae
est in Thessalia. Caeneus
Elati filius Magnesius. hunc
nonnulli foeminam fuisse
dicunt. cui petenti Neptu-
num propter connubium
optatum dedisse ut in iu-
venilem speciera conver-
sus nullo ictu interfici pos-
set. M 0 p s u s Ampyci et
Chloridis filius. hie au-
gurio doctus ab Apol-
line, L3rparensis. Eury-
damas Ctimeni filius, qui
iuxta lacum Xynium Do-
lopeidem urbem inhabi-
tabat. T h e s e u s Aegei
et Aethrae Pytthei filiae
filius a Troezene, alii aiunt
ab Athenis. Pirythous
Ixionis filius, frater Cen-
taurorum, Thessalus. Me-
n 0 e t i u s Actoris filius,
Amponitus. Eribotes
Ameleon, E u r y t i o n Ixi-
tion. 0 Ileus Leodaci et
Agrianomes Perseonis fi-
liae filius ex urbe Naricea.
Clytius et Iphitus
Euryti et Antiopes Py-
lonis filiae filius, reges,
hie concessa ab Apolline
sagittarum scientia cum
autore muneris conten-
disse dicitur. huius filius
Clytius ab Aeeta inter-
fectus est. Paeleus et
catur Ehesus. quidam autores
Thessalos putant. Ethalides
Mercurii et Eupolemiae Mirmy-
donis filiae filius. hie fuit La-
risseus ex urbe Gryrtone, quae
est in Thessalia. hie ostendit
nullo modo Centauros ferro se
posse vulnerare, sed truncis
arborum in cuneum adactis. Cae-
neus Elati filius, Magnesius.
hunc nonnulli foeminam fuisse
dicunt. cui petenti Neptunum
propter connubium optatum de-
disse, ut in iuvenilem speciem
conversus nullo ictu interfici
posset. quod est nunquam factum
nee fieri potest, ut quisquam
mortalis non posset ferro necari
aut ex muliere in virum con-
verti. M 0 p s u s Ampyci et
Chloridis filius. hie augurio
doctus ab Apolline, ex Oechalia,
vel ut quidam putant, Lypa-
rensis. Eurydamas Iri et
Demonassae filius, alii aiunt Cti-
meni filium, qui iuxta lacum
Xynium Dolopeidem urbem in-
habitabat. Theseus Aegei et
Aethrae Pytthei filiae filius a
Troezene, alii aiunt ab Athenis.
Pirythous Ixionis filius, frater
Centaurorum, Thes Salus. Men oe-
tius Actoris filius, Amponitus.
Eribotes Teleontis filius. Ame-
leon. Eurytion Iri et Demo-
nassae filius. Ixition^ab oppido
Cerintho. Oileus Leodaci et
Agrianomes Perseonis filiae filius,
ex urbe Naricea. alii aiunt ex Eu-
boea. Clytius et Iphitus Euryti
et Antiopes Pylonis filiae filius,
reges Oechaliae. hie concessa ab
492
Carl Robert
TIriXsvg 8s ^d'LT] hi Sw^ccrcc vaie haod'st'g.
I 95 ff. Totg d' im KsyiQOTCLrid'Ev ägriiog
7]Xv&£ Bovtrig, ncctg ayaO-ov TsXsov-
tog, iv[i{iBXCrig xb ^ccXr]Qog- "AX%cov {iiv
TCQoeri'ns natriQ sog. 1 105 f. Ticpvg
d' "Ayvidörig Zicpa^a v.dXXnts öTj^iov @S6-
Ttiiav. I 324 f. dsQ^ia d'' o (isv xavqoio
nodrivsnsg ccfKpsxsr aiiovg"A Q y 0 g'JQSöTO-
QiSrig Xcc^vT] fisXav. 111 f. 6vv ds ot {Ti-
phy) "Jgyog rsv^s (narem) 'jQseroQidrig
yi,sivr]g {3Iinervae) vno%'ri[ioavv7i6iv.
I 115 ff. 4*Xiag 8' avr' iTtlroLGLv'AQdL-
d'VQsrid'SV iticcvsv , fW acpvsibg svccls
diGivvüOio 'iv-rixi, TCuxQog sov, TtiqyfiGLV
i(p86XLog 'JöcoTtOLO. SCHOL. noXig UsXo-
•JtOVVl]60V 7} 'AQCiL&VQSa, 7} VVV 6vOH'4-
^0(i8vri 4>XL0vg .... ^Aöanbg Ttoxa^bg 0rj-
ßä>v, Bxav rag nrjyccg iv "'AqciiQ-vqBcc.
1122 ff. ov8b ^Ev ovSb ßi'riv yiQaxBQocpQOvog
^H QatiXrjog 7tBvQ-6[i£d'' AiGovCddO Xi-
Xaio[iBvov ad'BQL^ai
AvQ%riLOv "Agyog dfiBLipug .... aQ^i'^d-ri '
Gvv yiaC of'TXag msv iöQ'Xbg drcdav,
nga^rißrig. ScHOL. ovxog 'Hga-AXBog
BQ&liBvog, vibg ds ©siodd^avxog xov
jQvoTtog. I 133 ff. xä d' BTti di] Q-blolo
%Cbv /JavaoLO yEVB%^Xr\, NavnXiog
TIoGBiSdcovi dl "AovQri tiqCv tcox
'A^v^mvT] /^avdXg xbv.bv EVTri^BiGcc Nav-
nXiOv. I 1§9 ff. "Id^mv 8' voxdxLog
HSxsmccd'Bv, 06601 BvuLOv "Agyog, insl
8sSad)g xbv ibv ^oqov oicovoL6iv r'iLB,
OV flBV
0 y TjBv'Aßavxog ix'^xv^og, dXXd (ilv avxbg
yBLvaxo v-vSaXC^oig EvaQiQ-^iov AloXi-
8rj6LV Arixotdrig. ScuOh. 6 8b "18 (lav, ag
L6X0QBL ^BQB-Kv8rig, syivBxo 'jtaig'A6XBQCag
xfig KoQoavov -nal 'ATtoXXcavog. I 146 ff.
-Aal /xrjv AlxGiXlg hqccxbqov UoXv 8 bv-
Ti E a A'^St] Kd 6x o gd r' 6mv':i68(ov
a}Q6£v 8E8ariiiBvov i'Ttitcov S-jtdgxriQ-Ev.
SCHOL. 1^ 8e AriScc riv
@£6XL0v d^vydxriQ. I 151 ff. oi' x 'Acpa-
QTixidSaL AvyyiBvg -nal v7tBQßLog"l8ag
'AQ7]V7ld'EV BßcCV, (ISydXr] 7tEQld'aQ6£Eg
aX-Kj] &iiq)6xBQ0L • AvynEvg 8b yial 6|v-
rccxog ev,£v.u6xo ö^^aaiv, bI exeov ys
tceXbi "üXiog^ dvEqa %elvov griiStcog v-al
VEQ&E y,ccxci x^ovbg avyd^sG&ccL. SCHoL.
versas petierunt domos, Peleus
Phthiain , Telamon Salamina,
quam Apollonius Rhodius in-
sulam Atthida vocat. Butes
Teleontis et Zeuxippes Eridani
fluminis filiae filius. Phaleros
Alconis filius ab Athenis. Ti-
phys Hagniae filius. Boeotius.
is fuit gubernator navis Argo.
Argus Arestoris et Argiae
Polybi filiae filius. hie fuit
Argivus, pelle taurina lanu-
ginis nigrae adopertus. is fuit
fabricator navis Argo. P k 1 i a s
Liberi patris et Ariadnes Mi-
nois filiae filius, ex urbe Phli-
unte, quae est in Peloponneso.
alii aiunt Thebanum. Her-
cules lovis et Alcumenae
Electryonis filiae filius, Theba-
nus. Hylas Theodamantis et
Mecionices nymphae Orionis filiae
filius, ephebus ex Oechalia, alii
aiunt ex Argis comitem Her-
culis. Nauplius Neptuni et
Amymones Danai filiae filius
Argivus. I d m 0 n Apollinis et
Asteries Coroni filiae filius,
quidam Abantis dicunt, Ar-
givus. hie augurio prudens
quamvis praedicentibus avibus
mortem sibi destinari intel-
lexit, fatali tamen militiae
non defuit. Castor et Pol-
lux lovis et Ledae Thestii
filiae filii, Lacedamonii ex Sparta,
uterque imberbis. bis eodem
quoque tempore stellae in ca-
pitibus ut viderentur accidisse
scribitur. Lynceus et Idas
Apharei et Arenae Oebali filiae
filii, Messenii ex Peloponneso.
Der Argonautenkatalog in Hygins Fabelbuch.
493
Telamon, Aeaci et Pae-
neidos Ceptionis filiae filii,
ab Aegyna insula. qui ob
caedem Phoci fratris re-
lictis sedibus suis diversas
petierunt domos, Pelaeus
Phthiam , Telamon Sala-
minam, quam ApoUonius
Rhodius Atthida vocat.
Butes Teleontis et Zeu-
xippes Eridani fluminis
filiae filius. Phaleros
Alcontis filius ab Athenis.
T i p h y s Hagniae filius,
Boetius. is fuit gubernator
navis Argo. Argus Po-
lybi et Argiae filius, hie
fuit Argivus, pelle taurina
lanugine adopertus. is fuit
fabricator navis Argo.
P h 1 i a s u s Liberi patris et
Ariadnes Minois filiae filius,
ex urbe Phliunte, quae est
inPeloponneso. alii aiunt
Thebanum. Hercules lo-
vis et Alcimenae Electryo-
nis filiae filius, Thebanus.
Hylas Theodainantis et
Menodices nymphae Oreo-
nis filiae filius, ephoebus,
ex Oechalia, alii aiunt ex,
Argis comitem Herculis.
Nauplius Neptuni et
Danai filiae Amymones Argivus. I d-
ArgTvus. ^^^ Apollinis et Cyrenes
nymphae filius , quidam
Abantis dieunt, Argivus.
hie augurio prudens quam-
vis praedicentibus avibus
mortem sibi destinari in-
tellexit, fatali tarnen mili-
tiae non defuit. Castor
Apolline sagittarum scientia cum
autore muneris contendisse dici-
tur. huius filius Cly tius ab Aeeta
interfectus est. Paeleus etTe-
1 a m 0 n , Aeaci et Paeneidos Cep-
tionis filiae filii, ab Aegyna insu-
la, qui ob caedem Phoci fratris re-
lictis sedibus suis diversas petie-
runt domos, Pelaeus Phthiam, Te-
lamon Salamina, quam ApoUonius
Bhodius Atthida vocat. Butes
Teleontis et Zeuxippes Eridani
fluminis filiae filius. Phaleros
Alcontis filius ab Athenis. Ti-
phys Phorbantis et Hymanes
filius, Boetius. is fuit gubernator
navis Argo. Argus Polybi et
Argiae filius, alii aiunt Danai
filium. hie fuit Argivus, pelle la-
nugine adopertus. is fuit fabri-
cator navis Argo. Phliasus
Liberi patris et Ariadnes Minois
filiae filius, ex urbe Phliunte,
quae est in Peloponneso. alii
aiunt Thebanum. Hercules
lovis et Alcimenae Electryonis
filiae filius, Thebanus. Hylas
Theodamantis et Menodices nym-
phae Oreonis filiae filius, Ephoe-
bus, ex Oechalia, alii aiunt ex
Argis comitem Herculis. Nau-
plius Neptuni et Amymones
Danai filiae filius, Argivus. Id-
m 0 n Apollinis et Cyrenae nym-
phae filius, quidem Abantis di-
eunt, Argivus. hie augurio pru-
dens quamvis praedicentibus avi-
bus mortem sibi destinari intel-
lexit, fatali tarnen militiae non
defuit. Castor etPollux lovis
et Ledae Thesti filiae filius, La-
cedaemonii, alii Spartanos di-
Kgl. Ges. d. Wiss. Nachrichten. Phil.-hist. Klasse. 1918. Heft 4.
33
494
Carl Robert
^egSHvöris tr]V firitSQa tmv Ttsgl "I8av
^jQTJvriv cpr\6Lv I 156 ff.
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TlvXqi e^sysvovto NriX^og &slolo. Schol.
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I 161 ff. %al iiBv 'Aii(pidcc(iccg Ärj-
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Avv.6oQyog STtsiiTtev , r&v ä^cpco yvco-
rbg 7r-Qoysv£6tSQog. I 172 f. ßf^ Ss yiccl
AvysiTigi ov dr] cpdxig 'HsXloio E^i^svaL •
HXelolgi d'o y^ icvdQccGiv Sfißa6LXsvsv.
SCHOL. ovtog y6v(p (isv jjv'^HXLOVf ini-
kXtiglv da ^^OQßccvtog , sv, tTJg NriXacog
'TQfiLvrig. I 176 f. ^AötsQiog dl nccl
'AncpCav 'TTtsgaßLOV vtsg IlsXXrivrig cccpi-
y,avov 'AxccLLÖog. I 179 ff. Tatvagov avt*
inl rot6L Xinmv E^cpriiiog lhocvsv^ xov
QCcno6H8d(üvi'ito8o3V.riä6taxov aXXav Ev-
QoiTtri Tltvolo (isyao&svsog ths kovqti.
v,Bivog ävriQ xal Ttovtov sjrl yXavv,oto
^s£6%£v ol'dfiaTog ovSs d'oovg ßdictsv
nodag. I 185 ff. -acu S' äXXco 8vo Ttcttds
IJocsLÖdcovog ihovto' Tqtoi o {ilv rcto-
Xisd'QOv ccyccvov MiXtjtOLO voGcpiod'slg
^Egytvog, o d' 'I^ißgccGtrig sdog "Hgrig,
naQ&£VLif]v 'Ayuatog vnsgßiog. SCHOL.
"'Ayv.atog vtbg ^AotvTcaXaCag xfig ^oCviY.og
v,aX TIo6si8&vog, ^Egyivog Ös KXvfisvov
xov TlQS6ß(ovog yial Bov^vyrig xfjg Avv,ov.
IlaQd'SVLa 8s fj 2d[iog dnb IIccq-
%svCag XTJg Edfiov yvvciiY.bg covofidö&ri.
1 190 ff. OlvsCSrig 8' S7t) xolülv dtpogfirj-
^slg KaXvS&vog ccX^T^sig MsXsaygog
ccv7]Xvd's AccoKO G)v xs, Aao-KOcovOtvriog
cc8£X(p£6g ' oh fisv Ifig ys ^rixsQog. 1 199 ff.
ticil (i7]v ot fiT^xQcog avxriv d8bv sv (isv
aKOvxi, St 8s %al sv gxccSlt] 8s8arnisvog
ccvxKfSQSßd'Cii, @S6xid87\g "Icp iY,Xog scpca-
fidgxrias movxi. SCHOL. 'AXQ'aia. v-aVlcpi-
v.Xog d8sX(pol Ix driiSufiSLag x^g TlsQiri-
Qovg. I 207 f. s-A 8^ agce ^cox^cov -a^sv
^'I cpixog 'OQvvxi8cco NccvßoXov sytys-
y ccdig. SCHOL. xbv 8s"I(pLX0v ysvsaXoyst
NavßoXov Kccl TLsQivsCv.rig xf]g "iTtnoiidxov.
ex his Lynceus sub terra quae-
que latentia vidisse dicitur.
Item Idas acer, f erox. P e r i-
clymenus Nelei et Chlori-
dis Amphionis et Niobae filiae
filius. hie fuit Pylius. A m-
phidamas etCepheus, Alei
et Cleobules filii de Arcadia.
Ancaeus Lycurgi filius, Alei
nepos, Tegeates. A u g e a s Solls
et Nausidames Amphidamantis
filiae filius, alii dicunt Phor-
bautis et Hyrmines filium. hie
fuit Eleus. Asterion et Am-
phion Hyperasii filii, ex Pel-
lene. Euphemus Neptuni et
Europes Tityi filiae filius, Tae-
narius. hie super aquas sicco
pede cucurrisse dicitur. An-
caeus alter, Neptuni filius,
matreAstypalaeaPhoenicis filia,
ab Imbraso insula, quae Par-
thenia appellata est, nunc autem
Samos dicitur. Erginus Nep-
tuni filius, a Mileto, quidam
Clymeni dicunt, Orcbomenius.
Meleager Oenei et Althaeae
Thestii filiae filius, quidam Mar-
tis putant, Calydonius. Lao-
co'on Porthaonis filius Oenei
frater, sed non ex eadem matre,
Calydonius . I p h i c 1 u s alter,
Thestii filius, matre Leucippe,
Althaeae frater, Lacedaemonius.
hie fuit acer, Cursor, iaculator.
Iphitus Nauboli filius ex Pe-
rinice Hippomachi filia, Phocen-
sis. Zetes et Calais Aqui-
lonis venti et Orithyiae Erech-
thei filiae filii. hi capita pedes-
que pennatos habuisse ferun-
tur crinesque caeruleos, qui
Der Argonautenkatalog in Hygins Fabelbuch.
495
et Pollux lovis et Ledae
Thestii filiae filiius, Lace-
ex Sparta. claemonii,uterqueimberbis.
bis eodem quoque tempore
stellae in capitibus ut vide-
rentur accidisse scribitur.
Lynceus et Idas Apha-
rei et Arenae Bibali liliae
filii, Messenii ex Pelopon-
neso. ex bis Lynceus sub
terra quaeque latentia vi-
disse dicitur. Item Idas
acer, ferox. Periciime-
nus Nilei et Chloridis
Ampbinois et Niobes fi-
liae filius. hie fuit Py-
lius. Amphidamus et
Cepheus Egei et Cleo-
bules filii de Arcadia. An-
Alei nepos. caeus Lycurgi filius, Te-
geates. Augeas Solis et
alii dicunt Naupidames Amphidaman-
IPhorbantiset^ig filiae
I Hyrmmes
filium.
filius. bic fuit
Asterion et
Hip
electus.
Amphion Yeptacli filii,
ex Pellene. Eupbemus
Neptuni et Europes Tityi
filiae filius, Taenarius. bic
super aquas sicco pede
cucurrisse dicitur. A n-
caeus alter, Neptuni fi-
lius , matre Astypalaea
Pboenicis filia, ab Imbraso
insula, quae Parthenia ap-
pellata est, nunc autem
Samos dicitur. Erginus
Neptuni filius a Mileto,
quidam Periclimeni dicunt,
Orcbomenius. Meleager
Althaeae Oenei filius, quidam Martis
^^^^^^^•putant, Calydonius. Lao-
c 0 0 n Portbaonis filius,
cunt, uterque imberbis. bis eodem
quoque tempore stellae in capi-
tibus ut viderentur accidisse scri-
bitur. Lynceus etldasApba-
rei et Arenae Bibali filiae filii,
Messenii ex Peloponneso. ex bis
Lynceus sub terra quaeque la-
tentia vidisse dicitur, neque uUa
caligine inbibebatur, alii aiunt
Lynceum noctu nullum vidisse.
idem sub terra solitus cernere
dictus est, ideo quod aurifodinas
norat : is cum descendebat et au-
rum subito ostendebat, ita rumor
sublatus, eum sub terra solitum
videre. Item Idas acer, ferox,
Periclimenus Nilei et Chlo-
ridis Amphinois et Niobes fiJiae
filius. bic fuit Pylius. Amphi-
damus et Cepheus Egei et
Cleobules filii de Arcadia. An-
caeus Lycurgi filius, aliinepotem
dicunt. Tegeates. Augeas SoHs
et Naupidames Amphidamantis
filiae filius. bic fuit electus. Aste-
rion etAmphion Ypetaclifilii,
alii aiunt Hipasi, ex Pellene. Eu-
pbemus Neptuni et Europes Ti-
tyi filiae filius, Taenarius. hie
super aquas sicco pede cucurrisse
dicitur. An caeus alter, Nep-
tuni filius, matre Alta Cathesti
filia, ab Imbraso insula, quae
Parthenia appellata est, nunc
autem Samos dicitur. Erginus
Neptuni filius, a Mileto, quidam
Periclimeni dicunt, Orcbomenius.
Meleager Oenei et Aitheae
Thestii filiae filius, quidam Mar-
tis putant, Calydonius. Lao-
coon Portbaonis filius, Oenei
f rater, Calydonius. Iphiclus
33*
496
Carl Robert,
1211 if. Zr}tr]gccvKdlatg rs Boq-^lol
vhg t^ovTO, ovg not'' 'Epf^'O'Tjis BoQsrj
ti^Bv 'Slgsid^via iöxatL^ QQjjv.rig dvcxsi-
flSQOV . ... TOD flEV 87t' CCHgOTCCTOLÖl, TloS&V
SHccTSQd'Sv SQSnväg 6B10V ccELQOiiivco nti-
Qvyag, (isya d-ccvfia idsü&ai, XQvcsCaig
(poXidsoGL ÖLccvysag, cc^tpl ds vwToig KQcca-
Tog i^ vndtoio ^). v.cd av^ivog svd'ci -nal
ivd^cc -avccvsoL doviovto iistä tcvoijjgiv
t&SLQai, II 296 f. ZtQO-
tfädag 8s (iBtayiXsL'ovö' dvd-QcoTtoi vri6ovg
roLO y' EKTiTL, Tcdgog nXcaräg HaXsovrBg.
1 1302 iF. t] ts Gcpiv aTvysgi] zCeig BTcXst'
önLößco ;u£(Kytv vqp' ^HQa-iiXf]og, o fiLv Sl-
^£6d'ca eQvnov (post Hylae raptum per
Mysiam errantem). äd'Xav yuQ UsXiao
SsdovnoTog atp äviovtag Trivcp sv afi-
tpiQvtrj 7t£(pv£Vf yiccl Scfi'^aato yaiccv cciicp'
ccvtoCg, GxrjXag ts Svco y.ad'vnsgd^sv stsv-
|f V, a>v stSQr}, d-dfißog nsgiaioiov &vdQd6t,
Xsv66SLv, y.LvvtaL Tjxiisvtog vnb Ttvoiy
BoQsao.
pervio aere usi sunt, hi aves
Harpyias fugaverunt a Phineo
Agenoris filio, eodem tempore
quo lasoni comites ad Colchos
proficiscebantur , quae inhabi-
tabant insulas Stropbadas in
Aegaeo mari, quae Plotae ap-
pellantur. hi autem, Zetes et
Calais, ab Hercule Teni occisi
sunt, quorum in tumulis super-
positi lapides flatibus paternis
moventur. hi autem ex Thracia
esse dicuntur.
1) So hat Hygin interpun giert, indem er dfi(pl ds vmtoig Tigdatog f| vndtoio
auf die Flügel bezog. In Wahrheit bezieht es sich auf die Nackenhaare, gehört
zum folgenden, und yigdatog steht zu avxsvog parallel.
Nun muß ich aber auf den Einwurf gefaßt sein, daß drei der
von mir dem Interpolator zugeschriebenen und als unmöglich be-
zeichneten Genealogien auch an späteren Stellen des Fabelbuchs
wiederkehren ; Argos wird in demselben Capitel, wo von dem Ver-
hältnis der einzelnen Argonauten zu ihrem Schiff die Rede ist,
als Sohn des Danaos, Tiphys in Fab. 18 als Sohn des Phorbas,
Mopsos in Fab. 173 als der des Amykos bezeichnet. Diese Er-
scheinung müssen wir in größerem Zusammenhang betrachten. Denn
zwei ähnliche Corruptelen des Argonautenkatalogs finden sich schon
an früheren Stellen der kleinen Schrift. So heißt, worauf schon
hingewiesen wurde, der Phrixossohn Kytisoros auch bereits in Fab. 3
Cylindrus, und dieselbe Corruptel kehrt auch in Fab. 21 wieder.
Lehrreicher ist der zweite Fall. Unter den Argonauten, die Hygin
aus einer Nebenquelle hinzufügt, erscheint ein Mileus Uippocoontis
ßlius Fylius. Schon Muncker hat es erkannt, daß damit Neleus
gemeint ist, dessen Name vorher, wo er als Vater des Perikly-
menos erwähnt wird, zu Nileus verderbt ist. Dieselbe befremd-
Der Argonautenkatalog in Hygins Fabelbuch.
497
sed non ex
eadem matre
ex Perinice
Hippomachi
filia.
tres Thau-
mantis et
Ozomenes
filias, Alo-
pienAcheloen
Ocypeten.
hae fuisse di-
cuntur capiti-
bus gallina-
ceis, penna-
tae, alasqueet
brachia hu-
mana, ungui-
bus magnis,
pedibusque
gallinaceis,
pectus album
foeminaque
humana.
Oenei frater, Calydonins.
Iphiclus alter, Thestii
filius, matre Leucippe, Al-
thaeae frater, Lacedaemo-
nius. hie fuit Areas, eur-
sor, iaculator. I p h i t u s
Nauboli filius, Phocensis.
Zetes et Calais Aqui-
lonis venti et Orithyiae
Erichthei filiae filii. hi
capita pedesque pennatos
habuisse feruntur crines-
que ceruleos, qui pervio
aere usi sunt, hi aves Har-
pyas fugaverunt a Phineo
Agenoris filio eodem tem-
pore, quo lasoni comites
ad Colchos proficisceban-
tur. quae inhabitabant in-
sulas Strophadas in Aegeo
mari, quae Plotae appel-
lantur. hi autem, Zethes
et Calais, ab Hercule telis
occisi sunt, quorum in tu-
mulis superpositi lapides
flatibus paternis mo ventur.
hi autem ex Thracia esse
dieuntur.
alter, Thestii filius, matre Leu-
cippe, Altheae frater ex eadem
matre, Lacedaemonius. hie fuit
Areas, Cursor, iaculator. Iphi-
tus Nauboli filius, Phocensis. alii
Hippasi filium ex Peloponneso
fuisse dicunt. Zetes et Calais
Aquilonis venti et Orithyiae
Erichthei filiae filii. hi capita pe-
desque pennatos habuisse fe-
runtur crinesque ceruleos, qui
pervio aere usi sunt, hi aves
Harpyas tres Thaumantis et
Ozomenes filias Alopien, Ache-
Joen, Ocypeten fugaverunt a Phi-
neo Agenoris filio eodem tem-
pore, quo lasoni comites ad Col-
chos proficiscebantur. quae in-
habitabant insulas Strophadas in
Aegeo mari, quae Plotae, appel-
lantur. hae fuisse dieuntur capi-
tibus gallinaceis, pennatae, alas-
que et brachia humana, unguibus
magnis, pedibusque gallinaceis,
pectus album foeminaque humana.
hi autem, Zethes et Calais, ab
Hercule telis occisi sunt, quorum
in tumulis superpositi lapides
flatibus paternis raoventur, hi
autem ex Thracia esse dieuntur.
liehe Genealogie liest man auch in Fab. 10, die ich zum größten
Teil hersetzen muß: Chloris Nlohes et {in nrbe Seil Fß,, verb. von
Salmasius) et Amphionis filia, quae ex Septem superaterat. hanc hahuit
in coniugem Neleus Hippocoontis filius. ex qua procreuvit liberos
masculos XII. Hercules cum Fylum expugnaret, Keleum intei'fecit et
filios eius decem, unclecimus autem Fericlymenus heneficio Neptuni avi
in aquilae effigiem commutatus, mortem effugit. nam duodecimus Nestor
in exilio (II io FR, verb. von Barth) erat. Auch in Fab. 31, wo
die Veranlassung vom Haß des Herakles auf Neleus angegeben
wird, heißt dieser ein Sohn des Hippokoon: Neleum Hippocoontis
■
498 Carl Robert,
fiUum cum decem fdüs occidit, quoniam is eum purgare sive lustrare
noluit, Gresetzt nun, diese dreimal wiederholte Genealogie wäre
richtig und Neleus wäre wirklich ein Sohn des Hippokoon und
Enkel des Oibalos gewesen, wie kommt es dann, daß er nicht als
Lakedaemonier, sondern als Pylier bezeichnet wird? Höchstens
könnte er nach Pylos ausgewandert sein, wovon aber weder Hygin
noch eine andere mythographische Quelle etwas zu berichten weiß.
Aber die 10. Fabel enthält auch einen direkten Widerspruch gegen
diese Abstammung, wenn sie den Neliden Periklymenos als Enkel
des Poseidon bezeichnet. "Wie sollte das möglich sein, da weder
Hippokoon noch die Niobide Chloris von diesem Grotte abstammen ?
Wohl aber kennt die ganze mythologische Überlieferung schon von
der Odyssee her den Neleus als Sohn des Poseidon und der Tyro,
und diese Grenealogie befolgt Hygin später selbst, wo er in der
Liste der Neptuni filii Fab. 157 Neleus et Pelias ex Tyro, Salmonei
filia nennt. Also ist die Angabe Hippocoontis filius ohne Zweifel
falsch, aber um eine einfache Namenscorruptel kann es sich nicht
handeln. Die Aufklärung bringt Apollodor, der von Herakles II 7,
3, 2 sagt : ikcjv ös ttjv Ilvlov 66tQcctev6sv enl AanedaCiiova^ fisreld^atv
tovg 'IjCTtoKocovrog italdag ^sXcov dtQyC^sco ^hv yäg avtolg zat ölötl
Nr^Xst 6vvsiidxriöav xtX. Dieser Zug, daß die Hippokoontiden dem
Neleus gegen Herakles beizustehen versuchten, wird auch bei Hygin
nicht gefehlt haben, der etwa geschrieben haben mochte : Hercules
cum Pylmn expugnaref, Neleum, cui Hippocoontis filii auxilio vener ant,
interfecit. Auf welchem Wege dann die Verderbnis oder, wie wir
vielleicht richtiger sagen werden, das Mißverständnis entstanden
ist, kann nach den beim Argonauten - Katalog gemachten Erfah-
rungen nicht zweifelhaft sein. Das kurze Relativsatz chen war
ausgefallen und am Rande nachgetragen worden. Ein Abschreiber,
der den Randnachtrag nur flüchtig ansah, bezog Hippocoontis fil,
auf Neleus und fügte die Worte an falscher Stelle ein, wo sie die
richtige Genealogie Neptuni et Tyrus filius verdrängt haben, ein
Vorgang, für den uns ebenfalls der Argonauten-Katalog Beispiele
geliefert hat. Der Fehler ist also in Fab. 10 entstanden und
dann in Fab. 14 und 31 hineingetragen worden. Daraus ersehen
wir, daß einmal das Fabelbuch systematisch, wenn auch nicht kon-
sequent, so durchcorrigiert worden ist, daß die an erster Stelle
auftretende Genealogie, um Einheit herzustellen, in die späteren
Stellen hineingetragen worden ist, und so erklärt es sich auch,
daß die Fehler, die in den interpolierten Stellen des Argonauten-
Katalogs ihre Wurzel haben, weiter fortgepflanzt worden sind.
Es wäre leicht, noch eine ganze Reihe analoger Fälle anzu-
Der Argonautenkatalog in Hygins Fabelbuch. 499
.führen^), doch mag es an einem genügen. In Fab. 79 steht:
oh {ad FR., verb. v. Muncker) Helenam Castor et Pollux fratres
helligerarunt et Aethram Thesei matrem et Flnsadiem Pirithoi soro-
rem ceperunt et in Servitut em sorori dederunt. Daß mit der
Schwester des Peirithoos, die in der Ilias F 144 (daraus Ov. Epist.
XVI 267) neben Aethra als Dienerin der Helena genannte Kly-
mene gemeint ist, liegt auf der Hand^), aber ebenso daß Fhisadie
nicht aus Clymene verderbt sein kann. Wenn wir uns aber er-
innern, daß im Argonauten-Katalog Teleontis fdius zu Ameleon und
Iri et Demonassae filius zu Ixition verstümmelt ist, werden wir
uns nicht bedenken, in dem Namensungetüm Phisidie die Trümmer
von pMlia (d. i. filia) Diae zu erkennen. Hygin hatte chiastisch
geschrieben Clymenen filiam Diae (oder vielleicht lovis et Diae), Peri-
thoi sororem, Nach dem Ausfall des Eigennamens suchte man
diesen in dem verstümmelten filiam Diae, Dieselbe Corruptel ist
dann auch mit einer leichten Variante in Fab. 92 hineingetragen
worden : Alexander Veneria impulsit Helenam a Lacedaemone ab hospite
Menelao Troiam ahduxit eamque in coniugio habuit cum ancillis duabus
Aethra et Thisadie, quas Castor et Pollux captivas ei assignarant,
aliquando reginas.
Es ist nun aber nicht gesagt, daß in den Fällen, wo es sich
um Grenealogie handelt, immer der falsche Vatername den rich-
tigen verdrängt hat. Es könnte auch sein, daß erst der Interpolator
überhaupt die Angabe des Vaters hinzugefügt hat. Es muß nem-
lich auffallen, daß in dem Fabelbuch die Abstammung der einzelnen
Heroen immer und immer wieder mit geflissentlicher Weitläufigkeit
angegeben wird, mag dies vorher auch noch so oft geschehen sein.
Ohne Zweifel geschieht das in der Absicht, dem Leser diese Daten
immer wieder in das Gedächtnis zu rufen, damit er sie sich mög-
lichst fest einpräge, mit anderen Worten zum Zweck des Unter-
richts. Dem gleichen Zweck dient die Kürze der meisten Capitel,
bei denen man sich des Eindrucks nicht erwehren kannn, daß sie
zum Auswendiglernen bestimmt sind. Allerdings soll nicht be-
stritten werden, daß die Schrift im Gegensatz zu Apollodors
Bibliothek von Anfang an in Capitel eingeteilt war, nicht nur
wegen der Analogie der Astronomica, bei denen diese Einteilung
1) So hat der Interpolator die falsche Lesart Lycus (oben S. 484 A. 1) aus
Fab. 15 in Fab. 74 und 273 eingeschmuggelt, während er Nemea dort unangetaset
ließ. Auch der famose König Desmontes (fab. 186), der aus dem Euripideischen
Tragödientitel MBlavCnnr] i] Ssaii&ris entstanden ist, gehört in diesen Zusammen-
hang.
2) Vgl. V. Wilamowitz Homer. Unters. 221 f. A. 15.
500 Carl Robert, Der Argonautenkatalog in Hygins Fabelbuch.
durch den Stoff geboten war, sondern auch weil die von dem Ma-
gister Dositheos benutzte griechische Übersetzung diese Gliederung
in Capitel aufwies. Aber noch der Redactor der Scholia Strozziana
des Germanicus las unsere Fab. 2 und 3 als eine fortlaufende Er-
zählung ^). Es hat also einmal eine Zerlegung in noch kleinere
Capitel stattgefunden , d. h. das mythologische Handbuch ist zu
einem mythologischen Schulbuch umgearbeitet worden, und zwar
zu einer Zeit, als der Text bereits sowohl lückenhaft als interpoliert
war. Da aber eine solche Umarbeitung nur im späteren Alter-
tum stattgefunden haben kann, muß der Archetypus des Frisin-
gensis, dessen Zustand unsere dritte Columne zu veranschaulichen
versucht, in sehr frühe Zeit zurückreichen.
1) Germanicus ed. Breysig p. 142 s ; vgl.' Robert Eratosthenis catasterism.
rel. p. 2 SS.
Nachtrag.
"Während der Drucklegung bin ich noch auf eine weitere an falsche Stelle
verschlagene Argonauten-Mutter gestoßen. Hylas heißt Tlieodamantis et Mecionices
nymphae Orionis filiae films (oben S. 492). Da der Name der Mutter des schönen
Knaben sonst nirgends überliefert ist, liest man zunächst hierüber hinweg. Geht
man aber der literarischen Überlieferung über diese verschollene Heroine nach, so
wird man stutzig. Die älteste für uns faßbare Erwähnung steht in einem von den
Pindarscholien (Pyth. IV 35) zitierten Fragment der Hesiodeischen Eöeen (143 Rz.) :
7] ol'j] 'Tqlt] TtvmvöcpQcov Mri-KiovLyiri,
7] tE-K8v E^q)rifiov yairi6%cp 'EwoaiyaCai
(islx^slg' iv (piXotriti 7toXvxQv6ov 'AcpQodLtrig.
Auch für das Altertum scheint diese Stelle die einzige Quelle gewesen zu sein. In
der erhaltenen Literatur begegnet sie uns, von Hygin abgesehen, erst wieder bei
Tzetzes in den Chiliaden II 613 ff. und in einer fast gleichlautenden Stelle der Lyko-
phronscholien 887. In den Chiliaden heißt es:
E^cprinog natg tfig"SlQi8os {Jagidog Th. Kießling) -^v ticcl tov UoGEidmvog
sI't' ovv EvQmTtrig Tltvov sl'ts MriKLOVL'urig
tfjg &vYaTQbg 'SlQicovog,
worauf das erwähnte Pindarscholion, nicht ohne ein grobes Mißverständnis, para-
phrasiert wird. Aber auch in den ausgeschriebenen Worten erkennt man auf den
ersten Blick ein versifiziertes Scholion, offenbar dasselbe, das uns verkürzt zu Apol-
lonios 1 179 vorliegt : EvQmnri Tltvov tov 'EXcigrig naidog. Da es nun kaum glaub-
lich ist, daß man eine obskure Orionstochter außer dem Euphemos auch dem Hylas
zur Mutter gegeben haben sollte, so wird Hygin geschrieben haben: Euphemus
Neptuni et Europes Tityi filiae (s, S. 494), alii aiunt Mecionices nymphae Orionis
filiae filius. Die Variante ist wieder ausgelassen und am Rand mit dem Stichwort
^filius nachgetragen worden, worauf sie vor das filius hinter Theodamantis, wo man
die Angabe der Mutter vermißte, eingesetzt wurde.
Ein manichäisches Gedicht.
Von
Mark Lidzbarski,
Vorgelegt in der Sitzung vom 21. Februar 1919.
Unter den in Turfan gefundenen manichäischen Texten in per-
sischer Sprache verdient ein Gedicht besondere Beachtung. Es
wurde von F. "W. K. Müller in Handschriften- Reste in Esrangelo-
Schrift aus Turfan, Chinesisch- Turhistan, II (Abhandlungen der Berl.
Akademie 1904), p. 51 veröffentlicht. C. Salemann gab davon
eine berichtigte Transkription in Manichäische Studien I (Zapiski
der Petersburger Akademie, Serie VIII, histor.-phil. Klasse, Bd.
VIII, n. 10), p. 4, und diese Transkription gebe ich hier wieder:
V3S3 :i^or ys n^n näiiD
Hr. Andreas stellte mir eine neue Übersetzung des Stückes
zur Verfügung, die ich hier mitteile:
502 Mark Lidzbarski,
Ein dankbarer Schüler bin ich,
der aus Babel dem Lande entsprossen ich bin.'
Entsprossen bin ich aus dem Lande Babel,
und an der Wahrheit Pforte hab ich gestanden.
Ein verkündender Schüler bin ich,
der aus Babel dem Lande fortgezogen ich bin.
Eortgezogen bin ich aus dem Lande Babel,
auf daß ich einen Schrei schreie in der auf Erden gewor-
denen (Welt) ').
Euch, (ihr) Götter, will ich anflehen,
ihr Götter alle, erlasset (mir)
meine Sünde durch (eure) Verzeihung.
In der Einleitung zu den 3IandäiscJien Liturgien (Ergänzungs-
heft zum laufenden Jahrgange) suche ich zu zeigen, daß die man-
däischen Hymnen in ihrer Form auf kurze Gedichte von vier
Zeilen zu drei Hebungen zurückgehen. In den erhaltenen poeti-
schen Stücken erscheinen je zwei kurze Verse zu einem Doppel-
verse vereinigt, und der zweite Halbvers wird gewöhnlich mit ^
(pron. relat. oder „auf daß") oder ) „und" eingeführt. Ferner
wird sehr oft der zweite Halbvers mit umgekehrter Wortfolge
als 'erster Halbvers des folgenden Verses wiederholt. Alle diese
Eigentümlichkeiten haben auch die beiden ersten Strophen des ma-
nichäischen Gedichtes, und wie Hr. Andreas mir mitteilt, sind diese
Eigentümlichkeiten der persischen Poesie ganz fremd. Ich fragte
mich daher, ob das Gedicht nicht ursprünglich in aramäischer
Sprache abgefaßt war. In der mandäischen, wie auch in der
älteren syrischen Poesie hat der kurze Vers drei Hebungen. Um
zu sehen, wie die manichäischen Verse sich aramäisch ausnehmen,
übersetzte ich sie ins babylonische Aramäisch. Ich habe für die
Übersetzung die mandäische Schreibweise genommen, da das Man-
däische hier am ehesten als aramäischer Dialekt in Betracht kommt.
n^Un^J KpiK S'^Sa pi KJKniND KJS Nl^OINn
n^pB^j NpnK Vasn |o*t ni^oinh njn Nnnsp
K:^^N3 N'HKbK JID^KJ^O
])ysh)D s\nNbs (pD'Kj^o)
NnnN^n^ ^K^KtoNn s^biput:?
1) Oder „zuschreie dem auf Erden gewordenen".
Ein manichäisches Gedicht. 503
Es zeigt sich nun, daß die Verse je drei Tonwörter enthalten.
Nur beim zweiten Verse der dritten Strophe ist es unsicher, aber
bei dieser ist es überhaupt fraglich, ob sie zum Gedichte gehört.
Im vorliegenden persischen Text haben die Verse nach Andreas
je acht Silben, doch kann dies der Übersetzer hineingebracht haben.
Die hervorgehobenen Momente sprechen an sich noch nicht
bindend für das Aramäische als Ursprache. Die besonderen Eigen-
tümlichkeiten der mandäischen und aramäischen Poesie lassen sich
ja auch in anderen Sprachen nachbilden. Aber eines scheint mir
zu zeigen, daß das Gedicht ursprünglich aramäisch abgefaßt war.
Die erste Strophe enthält ein Wortspiel: „der Wahrheit Pforte'*
spielt auf h^2S2 „Grottes Pforte" an. Nur im Aramäischen ist
das Wortspiel vorhanden, im Persischen nicht. Für den Aramäer
war die Bedeutung von ^^3^3 durchsichtig, zumal in Kreisen, in
denen man künstlich viele Namen mit ausgehendem V bildete; dem
Perser war die Bedeutung unbekannt. In einem persisch geschrie-
benen Gedichte durfte auf die Bedeutung von ^3^3 überhaupt
nicht angespielt oder es mußte eine Erklärung von b^3K3 beige-
fügt werden.
Es sei mir verstattet, ein Beispiel aus der neueren deutschen
Literatur anzuführen. Theodor Fontane fügte in den Roman „Vor
dem Sturm'' ein Gedicht auf Seydlitz ein. Er spielt darin auf
Calcar als Geburtsort des Reitergenerals an und sagt:
Zu Calcar war er geboren
Und Calcar, das ist Sporn.
Der Dichter mußte annehmen, daß die meisten deutschen Leser
die Bedeutung des lateinischen calcar nicht kennen, daher gab er
eine Erklärung des Wortes. Wäre das Gedicht lateinisch abge-
faßt, so brauchte, ja durfte eine solche Erklärung nicht stehen.
Ebenso verhält es sich mit dem manichäischen Gedichte : aramäisch
geschrieben brauchte es nicht zu sagen, was b'3J«^3 bedeutet, per-
sisch geschrieben mußte es eine Erklärung geben.
In der Liturgie, in der das Stück steht, werden vielfach nur
die Anfänge von Hymnen gegeben. Daß die beiden Strophen zu-
sammengehören und nicht etwa die Anfänge zweier Gedichte sind,
ist klar. Sie zeigen völlig gleichen Bau, und die zweite Strophe
schließt sich inhaltlich an die erste an. Babel ist die Heimat des
Dichters, von dort zieht er als Herold des wahren Glaubens in
die Welt hinaus. Durch die künstliche Umstellung der Worte im
ersten Halbvers der zweiten Strophe ist diese zum Gegenstück
der ersten gemacht, wie wir innerhalb der Strophe Vers und Ge-
genvers haben. Doch können die Strophen eine Fortsetzung ge-
504 Mark Lidzbarski,
habt haben, die hier weggelassen ist. Unsicher ist es auch, ob
die dritte Strophe von vornherein zum Gedichte gehörte und ob
auch sie ursprünglich aramäisch abgefaßt war. Andreas hält die
Strophe für eine Responsion zum vorhergehenden Gedichte. In
der mandäischen Liturgie für die Tage der Woche in der Oxforder
Sammlung ^) folgt auf ein erzählendes Stück mit strengerem Metrum
als Responsion ein Stück in freierem Metrum, gewöhnlich mit
einem Gebete. Andererseits sehen wir bei Qolastä 31 und 57,
daß in demselben Stücke auf Verse ein Gebet um Sündenvergebung
in Prosa folgt.
Zur aramäischen Übersetzung sei bemerkt. Auch das Gedicht
Qolastä 90 beginnt mit kJN Kl^ronND- — NJNniNtD tat den Sinn
„bekennend" und „dankend'*. ;iirnJt!^Jf bedeutet nach Andreas
nur „dankbar". Es ist aber möglich, daß ursprünglich der Sinn
„bekennend" gemeint ist. — Statt N^nNp könnte es auch KJNtibDNö
heißen, das aber schlecht voranstehen würde, nicht aber Ntl'jND»
das „Stimme, Ruf" bedeutet. Andreas sagte mir, daß persisch
ÜMD „laut schreien" nicht ,, rufen" bedeute. Man darf daher den
Halbvers nicht mit KD^K^ S^Sp N^pj/T übersetzen, woran man
nach Ginzä rechts, p. 64, 14 ff., worauf Müller nach Brandt schon
hingewiesen hat, denken könnte. ^K^NtOKn heißt ,, meine Sünde"
und „mein Sünden". Letzteres würde für die Stelle besser passen.
Die Anknüpfung an das Schrifttum der babylonischen Täufer
kann nur in den Anfängen des Manichäismus stattgefunden haben.
Einer unserer zuverlässigsten Gewährsmänner für Mäni, der Araber
En-Nadim, sagt, daß Mäni seine Jugendjahre bei den babylonischen
Täufern verbracht habe^). Derselbe En-Nadim sagt bei der Auf-
zählung der Schriften Mäni's, eine sei in persischer, sechs in syri-
scher (aramäischer) Sprache verfaßt {Fihrist, p. 336). Nach einem
Zitat aus Mänis Schrift Säpüragän bei Alberüni (Chronologie,
p. 207, 17) sagte Mäni, die Prophetie sei durch ihn, den Gesandten
des Gottes der Wahrheit, ins Land Babel gekommen. Daher
vermute ich, daß das Gedicht, oder wenigstens die beiden ersten
Strophen von Mäni selber herrühren. Ich stieß mich anfangs am
Ausdruck „Schüler". Mäni, der Religionsstifter, war der Meister,
kein Jünger. Aber Hr. Andreas sagte mir, daß JIJNIIV^K ii^i^ den
Schüler als Lernenden, nicht den Jünger in seinem Verhältnis zum
Meister bezeichne.
1) In den Mandäischen Liturgien als Teil II veröffentlicht.
2) Fihrist, p. 32^, siehe dazu Sitzungsberichte der Berliner Akademie 1916,
p. 1220.
Ein manichäisches Gedicht. 505
Das Interesse an der hier erörterten Frage geht über das
kleine Gedicht hinaas. Ich habe auf die Angabe En-Nadims hin-
gewiesen, daß Mäni die meisten seiner Schriften aramäisch ge-
schrieben habe. Wir dürfen auch hier En-Nadim als zuverlässigen
Gewährsmann ansehen. Von den Schriften wurden nun Bruch-
stücke in persischer Sprache gefunden. Man wird bei der Unter-
suchung dieser auch an die aramäische Grundlage denken müssen.
In Müllers „Resten'' und Übersetzungen von Andreas, die ich ein-
sehen durfte, stieß ich öfter auf Stellen, bei denen meiner Ansicht
nach der Text erst nach Rückübersetzung ins Aramäische ver-
ständlich wird.
Zur Überlieferung und Textkritik der Kudrun II.
Von
Edward Schröder.
Vorgelegt in der Sitzung vom 21. Februar 1919.
Indem ich nach mehr als Jahresfrist mit der Veröffentlichung
meiner Vorstudien für eine neue Kudrun- Ausgabe (vgl. diese Nach-
richten 1917 S. 21 ff.) fortfahre, muß ich ein Bekenntnis ablegen.
Ich habe früher den verschiedenen Ausgaben des Gedichtes von
Bartsch (bei Brockhaus 1865, 4. Aufl. 1880, und bei Spemann 1885)
und den Vorarbeiten, die er in der Germania Bd. 10 veröffentlicht
hat, nicht die Aufmerksamkeit geschenkt die sie verdienen ; indem
ich mich auf die beiden Ausgaben von Martin und Symons be-
schränkte, war ich der Meinung, daß in sie aufgegangen sein
müßte, was etwa die Ausgabe von Bartsch gutes bieten konnte.
Ich gesteh zugleich, daß ich das nicht allzu hoch einschätzte: in
Erinnerung an die in der gleichen Brockhausschen Sammlung er-
schienene Ausgabe des Parzival.
Ich habe mich gründlich geirrt ! Bartschs Ausgaben der Kudrun,
in erster Linie die alte Brockhaussche, von der mir die 2. Auflage
(1867) jetzt dauernd zur Hand liegt, haben für die Kritik reichlich
soviel geleistet, wie alle übrigen Ausgaben vor und nach ihm zu-
sammengenommen. Vor allem ist er der einzige Herausgeber ge-
wesen der die Kudrunverse wirklich gelesen und nicht etwa bloß
wie Martin und Symons skandiert hat ^). In mehreren hundert Fällen
hat Bartsch als Erster die metrischen Mängel der Überlieferung
erkannt, und in der guten Mehrzahl hat er dann auch die richtige
1) Von Bartschs Nachfolger in der Kürschnerschen Sammlung, Piper,
schweigt man lieber.
Edward Schröder, Zur Überlieferung u. Textkritik der Kudrun II. 507
Verbesserung gefunden. Das wird in der Folge dieser Studien
immer wieder zu Tage treten, die sich bei der Ausarbeitung öfter
zu einer Verteidigung Bartschs gestaltet haben, während ich bei
den Vorarbeiten glaubte durchaus Eigenes bieten zu können.
Die Grründe für diese ganz unzweifelhafte Überlegenheit Bartschs
und seine Fruchtbarkeit in der 'niedern' Kritik sind zweierlei Art.
Einmal ist B. niemals durch die Vorstellung von Aufgaben der
höhern Kritik der Kudrundichtung gegenüber gehemmt gewesen:
er sah in dem Gredichte stets eine Einheit und traute seinem Ver-
fasser eine ausgeglichene formelhafte Sprache und eine ziemlich
glatte Metrik zu ; damit hat er Recht behalten. Dann aber kannte
er das Nibelungenlied und seine Handschriften, auch die Ambraser
Hs. d, die von demselben Schreiber herrührt, gründlich, und diese
Kenntnis ist die erste Vorbedingung für die kritische Arbeit am
Kudruntext: das Nibelungenlied muß man im Kopfe haben und
mit der Arbeitsweise Hans Rieds muß man durchaus vertraut sein.
Außer Bartsch hat m. W. bisher nur einer unserer Fach-
genossen den Schreiber der Ambraser Hs. seiner Aufmerksamkeit
gewürdigt: Moriz Haupt, von dem sich nachweisen läßt, daß er
für die zweite Auflage des Erec alle Texte die in der Überlieferung
Rieds vorliegen, sorgsam gelesen hat.
II. Die stumpfe Zäsur.
Für die ungeraden Halbverse der Nibelungenstrophe gilt die
Regel : dreihebig klingend ! ausnahmsweise vierhebig stumpf, haupt-
sächlich zu Gunsten der Personennamen, denen in beschränktem
Umfang andere Fälle sich anschließen: alles in allem ca. 650, d. i.
nicht ganz 7 Prozent. Ausführlich behandelt ist die stumpfe Zäsur,
unter Heranziehung der Handschriften, von Bartsch in seinen
Untersuchungen über das Nibelungenlied (1865) S. 163—174; für
mich genügt Bartschs Text der Vulgata, gegen den ich in diesem
Punkte nur unbedeutende Einwände zu erheben hätte.
Personennamen erscheinen in der stumpfen Zäsur des
Nibelungenliedes (2379 Strophen) nach meiner Zählung 548 x,
d. h. etwa einmal auf je 4 Strophen. In der Kudrun (1705 Stro-
phen) zählt man 275 Fälle, d. h. einen auf etwa 6 Strophen, näm-
lich Härtmüot 56, Küdrün 45, Herivic 41, Lüdetvic 24, Ortwin 19,
Gerünt 17, Höränt 14, Hildelürc 13, Möranc 11, Irolt 7, OrtrünTj
Sigehänt 7, Sifrlt 5, Eer{e)gärt 3; den Rest bildet 6 maliges Wate,
das aber, wie sich zeigen wird, durchweg verdächtig ist. Das
verhältnismäßig häufigere Vorkommen im Nibelungenliede erklärt
508 Edward Schröder,
sich leicht: es sind daran 40 Namen beteiligt gegenüber 15 resp.
14 in der Kudrun, wo die Zahl der handelnden Personen über-
haupt viel kleiner ist; hier ist in der Zäsur Hartm^jot mit 56 Vor-
kommen, dort Stfrit mit 112 der häufigste Name, und Hartmuot fügt
sich 33 x, Sifrit nur 13 x zum Endreim.
Dagegen zeigt sich ein Unterschied bei den Ländernamen:
zwar ist deren Zahl und Vorkommen in der Kudrun an sich größer,
aber doch muß es auifallen, daß dem einzigen Llbid Mb. 429, 3 ^)
in der Kudrun 12 Fälle gegenüberstehn, nämlich Ähabe 667, 4.
698,42); Bäljän 161,2; Gdradi (so zu lesen!) 126,1. 150,4;
Wdlels 208, 2 ; ferner Irlant Dat. 183, 1. 1680, 2 (1. Hüdeburc üs Irlant) ;
OrÜant Nom. 204, 4; Tenelant Dat. 571, 4. 1549, 4. 1612, 4. Es
bleibt immerhin bemerkenswert, daß dem 12 maligen Vorkommen
des Dat. Mderlant in den Reimen des Nibelungenliedes kein ein-
ziger Zäsurfall gegenübertritt; daß der Nibelungendichter diese
Möglichkeit gemieden hat, scheint mir zweifellos: in der Kudrun
haben wir bei dem etwa gleichhäufigen Tenelant das Verhältnis 15 : 3.
Von den Eigennamen abgesehen hat das Nibelungenlied in
Bartschs Text noch rund hundert Fälle von stumpfer Zäsur bei vier
Hebungen ; nirgends zwingt uns die Überlieferung, in solchem Falle
Dreihebigkeit zu dulden, wie das in unsern K u d r u n - Ausgaben
so oft geschieht und noch neuerdings besonders für den Ausgang
^ u von Panzer, Hilde- Gudrun S. 17 ausdrücklich aufrecht erhalten
worden ist. Nun ist die Praxis des Kudrundichters freilich, wie
wir bald sehen werden, im einzelnen nicht die gleiche wie im
Nibl., aber sie darf im ganzen eher als die strengere bezeichnet
werden, und daß sie in den Ausgaben nicht so erscheint, liegt
eben an der Unsicherheit und Nachgiebigkeit der Herausgeber
gegenüber der Überlieferung. Würden wir für das Nibl. allein
auf die Ambraser Hs. d angewiesen sein, so stünde unser Text
dem Kudruntext wesentlich näher.
Was uns hier gar nicht berührt, ist die Frage nach der Ent-
stehung der Nibelungenstrophe und der Vorstufe der dreihebig
klingenden ungeraden Halbzeilen. Der Kudrundichter schrieb im
zweiten Viertel des 13. Jahrhunderts: er kannte nur das fest-
stehende Prinzip und die erlaubten Ausnahmen. Aber auch für
den Wiener Nibelungendichter, der etwa ein Menschenalter älter
war, lag die Sache schon nicht viel anders. Einerlei ob er die
1) Wormez 1025,4 nehm ich klingend, zumal es ebensogut Wormze gelesen
werden kann.
2) dagegen lies 706, 2 mit Bartsch an den von Älsahte ; über diesen Wechsel
der Form vgl. die IV. Studie.
Zur Überlieferung und Textkritik der Kudrun II.
509
Personennamen von der Form xx resp. xxx noch zahlreich als
Reste einer altern Praxis in der Zäsur vorfand, oder sich selbst
genötigt iühlte, sie so zu verwenden, zunächst waren sie es für
ihn, die das Prinzip der klingenden Zäsur zu durchbrechen ge-
statteten, und wenn er sich dann noch in bescheidenem Umfang
weitere Freiheiten erlaubte, so wird es vornehmlich im Anschluß au
die Personennamen geschehen sein, die ihm hier die Bahn wiesen:
was für Dänewärt und ,Bloeäelin erlaubt war, konnte doch unmöcr-
lieh für hervart undi Jcünegin verboten sein.
Ich stelle nun den Bestand derartiger Zäsuren in beiden
Dichtungen einander gegenüber, wobei es genügen wird, einfach
die Zäsurwörter zu verzeichnen ; die Übereinstimmungen im Wort-
bestande, die beim Kudrundichter wenigstens teilweise auf Remi-
niszenz an den Brauch seines Vorbildes zurückgehn, zeichne ich
durch Sperrdruck aus.
Nominalkomposita^).
Nibl. Kudrun.
bürg et or 1457,3; hochvart 998,3;
hdch(ge)zit 172,4. 190,4. 1667,3;
kintspü 858, 2; mar schale 553, 1 ;
merJcint 109, 4 ; oehei m 492, 4 ; schif-
man 111, 1; sinewel 649,2; über-
muot 203,2; west&rwint 1134,4.
magezogen 53, 3; willeJcometi
152,1. 236,2.
bürgetor 582, 2 ; halpful 935, 3 ; her-
vart 68,B\ höch(ge)zit 6GA,3. 565,4.
689,4. 1412,2. 1484,2.2119,4; mar-
sclialch 11, 1. 800,3. 1645, 3. 1647, 1.
1870,1. 1922,2; merewip 1535,1.
1539.1. 1588,1; ceheim 716,2.
1628, 1. 2271, 1; segelseil 381, 1;
swestersun^) 119,2; tarnhüt 338,1;
übermuot 1865, 4 ; urloup 1705, 4 ;
fiwerstat 950, 3 ; widerspei 2272, 4.
magezoge 1962,1; vriihove 1857,2;
tüillelcomen 126, i. 789,3. 1167,1.
1183.2. 1739,1. 1810,1.
Sicherheit 315, 4 ; wdrheit 191,4. 1043, 4.
2015,2; werdeJceit 12,2. —
boteschaft 746,1. 1193,4. 1421,1; her-
schaft 993,4. 1334,1. 1494,2; mei-
sterschaft 423,3; uentschaft 1552,4;
mww/sc7ia/'n739, 2. 2160,4. 2191,4.—
vorhtUch 1665,4. — billich 1693,3, unbillich 636,2; aller-
tägelich 1041,3 3). _
1) htnaht Nib. 651, 2, dem gleich hinte 653, 1 u. ö. gegenübersteht, mag hier
in der Anmerkung einen Platz finden; hinte auch Kudr. 1346, 2.
2) der Streit, ob swester sun zu lesen sei (Bartsch, Untersuchungen S. 166),
mag hier auf sich beruhen.
3) wo Ettmüllers Änderung tegeliche von B. S. zu Unrecht aufgenommen ist.
Kgl. Ges. d. Wis». Nachrichten. Phil.-hist. Klasse. 1Q18. Heft 4. 34
510 Edward Schröder,
Schwere Ableitung und Flexion^).
vdlant 1394, 1 ; vient 1704, 4. —
[arheit U, 4 C. 17 U, IC] — arheü 77,4. 217,4. 247,3. 1069,4.
' 1321, 3. 1652, 4. 1655, 4. ~
Jcünegtn 616,4:. 1327,2. -- Tcünegin 990,4. 1206,4. 1253,4.
1681,3. —
magedin 1249,4. —
guldin 1784, 2 ; härmin 1826, 1 ; sidin
429, 1. — % .
vaterlin 386,4; vingerlin 299,4; vogel-
lin 1195,4. —
leidiu 735,1. 825,2; deliemiu65,2. — armiu 929,4. 1209,1. 1277,2. 1359,3;
einiu 81, 1. 484, 4. 1237, 3. 1242, 1;
gröziu 159,3; iegelichiu 105,4; sal-
wiu 1269,3; schoßniu 211,3. —
Fremdwörter.
ferrans 576, 3 ; jaspes 1783, 3 ; palas haldekm 301, 3 ; pilgerin 149, 1. 933, 2. —
602,3; Icappelän 1542,3. 1574,4. —
Ich habe die Vergleichung soweit geführt, wie es einerseits
die Übereinstimmung der beiden Dichtwerke und anderseits die
Zuverlässigkeit der Überlieferung für die Kudrun gestattete. Von
hier ab empfiehlt es sich, die Kudrun für sich zu behandeln und
das Nibl. nur zur Aufhellung und zum Kontrast heranzuziehen;
im übrigen verweis ich dafür auf Bartsch, Untersuchungen
S. 163-174.
Unter den Fällen, wo sich die beiden letzten Hebungen der
vierhebigen ungeraden Halbzeile auf zwei Wörter verteilen, sind
zunächst ein paar, die dem Kompositum recht nahe kommen: da0
er als einhegozzen bränt 3^4,2; des möhte die värnde dlet 4B,S
(wo Symons ohne Not mit C. Hof mann umstellt); weiterhin des
vil riehen Jcüneges sün 161,4; diu wären eines vdter Jclnt 414,4;
daz ich rnmen besten vrlunt 534, 3 und die sich gegenseitig
stützenden Fälle: {si sprach) Wate, lieber vrlunt 239,4. 531,1.
1490, 3; si sprach Hrütgespil m'n' 1^2^,3] getörste ich vor dem
vdter min 407, 4 ; dan Ludewic der vdter min 964, 4. In allen
diesen Fällen setz ich fallende Betonung voraus, denn ich habe
keinen gesicherten Fall von steigender Betonung in der Zäsur
1) Nicht hier eingestellt, sondern unbedenklich als klingend gerechnet hab
ich die Zahlwörter, tüsent (1615, 4), sweinzic 108, 1, sehzic 1300, 1 ; und die in der
Kudrun besonders zahlreichen Adjektiva auf -ic : gencedic 158,1. 557,4. 626,3.
1699,2, ungen(Bdic\Q^7,2; gewaUicU,4:. 119,4. 163,4. 1663,3; hochvertic 387,3',
müezic 1429, 1, unmüezic 180, 4. 264, 2. 268, 4. 785, 1. 1146, 3. 1347, 1. 1515, 4;
sweizic 875, 2. 1514, 3 ; sivertmcezic 940, 3 ; ubermüetic 238, 3 ; willic 1578, 2.
Zur Überlieferung und Textkritik der Kudrun II. 511
gefunden, wie etwa Nibl. 999, 2 si leiten hi üf einen schilt, 2053, 1
Irinc der vil Jcuene en schilt, 2196, 1 vil gerne wwre ich dir guot,
1012, 4 und wesse ich wer iz het getan, 1220, 4 ob ir anders mht ge-
tüot, 2005, 2 deich vor dem degen \e gesdz. So les ich denn Kudr.
761,2 die hrähte er mit im ubermer und halte damit die Überlie-
ferung gegen B. M. übere ; ich glaube aber auch, daß sich 959, 3
im enivcer ez von dem vdter g es Iaht halten läßt. Gegenseitig
stützen sich ferner stva^ er iu genömen hat 316,4^), ivie sl mit
dir geträgen hat 1586,2^), swaz ich von im verl6r(e)n hau
1406, 3 ; vgl. dazu Nibl. 422, 4 möht ich es im geweigert hän, 2236, 2
swaz ich noch her gelebet hän. Zu halten ist ferner mit Bartschs
allerdings notwendiger Ergänzung min vater ir (den) vdter slicoc
1016,4 gegen M.'s Umstellung. Mit Recht ändern dagegen alle neuem
Herausgeber fie^e/m ^höher miiof 585,1 in höchgemüete (V. B.M.)
resp. muot der höhe (CHofm. S.); richtig stellte Martin um der
ritter guot und edele 654, 4; CHofm. Bi im gevriesch Hagene
509, 1. 654, 3 bleib ich bei Martins Küdrün enphienc in (schöne),
1655,3 stell ich um Waten bat er rite n mit in unde Fruoten.
Mit diesen 65 (49 + 16) Fällen glaub ich allerdings das ge-
sicherte Vorkommen der stumpfen Zäsur in der Kudrun (von den
Eigennamen abgesehen) erschöpft zu haben; ihnen stehen in
Bartschs Nibelungentext 100 Fälle gegenüber, von denen ich aber
(außer 651, 2 noch) 6, 4. 376,2. 886,1. 1812,3. 2117,4 zu streichen
geneigt bin, sodaß nur 95 (69 + 26) blieben ; das wäre fast das
gleiche Verhältnis : 4 > Nib., 3,8 % Kudrun.
Nachdem wir bisher die gleichen Freiheiten der Zäsur, in
ähnlicher Ausnutzung (resp. Zurückhaltung) und mit nahestehenden
Verhältniszahlen gefunden haben, muß der für die Kudrun allein
verbleibende Rest doppelt überraschen: ich meine die dreihebig
stumpfen Halbverse mit der Zäsur ^ u. Ich zähle bei Martin, die
Fälle mit Wate abgerechnet, 30, und M. nimmt so wenig daran
Anstoß, daß er diesen Ausgang des ungeraden Halbverses einige-
male erst durch Ergänzung {inaget 211, 2. 543, 1) oder durch Um-
stellung {vater 1016, 4) herbeigeführt hat. Auch Symons zeigt nur
hier und da ein Widerstreben (das er PBBeitr. 9, 89 überhaupt
nicht eingestehn wollte) und hat dann im Anschluß an Bartsch
geändert, gelegentlich führt aber auch er eine solche Zäsur ganz
neu ein, besonders schlimm in dem Vers 851,4 da ze siben tagen»
1) ich hatte früher ändern wollen swaz er iu <ie> gename und tvie sie mit dir
getrüege.
512 Edward Schröder,
Wie ängstlich der Dichter einem Worte wie tage{n) in der Zäsur
aus dem Wege geht, zeigt die Wortstellung:
137, 3 tage sihen^eJiene
164, 1 Nach tagen vierzeJienen
216, 4 inner tagen sibenen.
Der Schreiber aber begeht den gleichen Fehler in Nibl. 762, 3,
wo er für inner tagen zwelven schreibt inner zwelf tagen!
Dahingegen hat Bartsch Grerm. 10, 74 ff. den ungeraden drei-
hebigen Halbversen mit dem Ausgang ^ u scharfe Fehde angesagt
und sie in seiner Ausgabe überall beseitigt: in der Mehrzahl der
Fälle durch Umstellung (innerhalb des Halbverses oder über die
Zäsur hinweg) oder Wortersatz, einigemal durch graphische resp.
lautliche Änderung des Wortbildes (nerjen für neren, bitten für
biten) ; in andern Fällen aber, indem er den dreihebigen Vers vier-
hebig las oder so gestaltete — dies jedenfalls eine recht unglück-
liche Prozedur, denn sie schafft einen neuen Verstypus, den ander-
weit weder das Nibelungenlied noch die Kudrun überliefert hat
und der mit seiner steigenden Betonung aus der Melodie unserer
Strophe heraustritt. Es handelt sich um Halbverse (mit B.s Skan-
dierung) wie
397, 4 dämite diende ze hove
1015, 4 ddz si dich und dtnen väter
1167, 3 ich bin ein böte {dir) von göte
1281, 3 mit mir (JiSr) ze hove tragen
1482, 3 ich {en)we%z niht ivie ich miige.
Recht übel ist die Versmelodie namentlich im letzten Falle:
müge (das übrigens erst durch v. d. Hagen aus dem zweiten Halb-
vers in die Zäsur gebracht wurde), wird man getrost mit Martin
in möhte ändern dürfen, wie der Schreiber auch im Nibl. gelegent-
lich das Präs. mag für das Prät. möhte einsetzt (1261, 8). 1167, 3
schlag ich vor (ich bin ein böte von göte {gesänt) oder besser) ich
bin ein böte von himele; 1015,4 empfiehlt sich die einfache Um-
stellung das sie dich und den vdter dln^ vgl. vater min in der
Zäsur 407,4. 964,4; 1281,3 ändere ich mit mir ze hove füeren;
397, 4 etwa da mite diente Hörant ze hove {woT) der snelle degen guote.
Dagegen behält Bartsch Recht in der Mehrzahl der Fälle,
wo er die anstößige Zäsur einfach durch Umstellung innerhalb
der Halbzeile beseitigt; es liegt hier meist so, daß der Schreiber
unwillkürlich die prosaische Wortfolge eingeführt hatte. Ich lese
also mit Bartsch:
400,1 sivaz (so) im büte diu frouwe
637,3 ich hdn des jehen hceren
Zur Überlieferung und Textkritik der Kudrun II. 513
815,2 ^en hoten ungern uoten
887, 1 Do er (den) neven sinen
1044, 3 ir sult mit siten guoten (vgl. mit siten ellentJiaften 580, 2)
1346,4 e ez tage morgen
1639.2 gehen hie ze tvibe
1699.3 drt stunt sehen des järes.
Die Berechtigung dieses Verfahrens an sich ist natürlich
keinem Gelehrten zweifelhaft : in einzelnen Fällen ist es früh
geübt (wie 244, 3 daz si ze hove sotten, umgestellt von Ziemann)
und dann von keinem späteren Herausgeber beanstandet worden:
so hat denn auch ein weiterer Vorschlag B.s
1032,4 ivaz schaden iuiver reellen (für ivaz iuicer recJcen scMden)
den Beifall von M. S. gefunden, die seine übrigen Umstellungen
nicht mitmachen. Woher diese Inkonsequenz ? Offenbar aus keinem
andern Grunde, als daß die Zahl der Fälle zu groß erscheint, um
ein radikales Durchgreifen zu gestatten. Dies Bedenken müßte
also beseitigt werden; zuvor aber will ich meine Vorschläge zu
Ende führen.
39,4 körnen heim {hin M.) ze ^hove\ 1. heim ze hüse, vgl. Kudr.
103, 2 ze hüse \ heim, Nib. B. 256, 1 henv ze h'iUe ' ; B. stellt
um dar ze hove Mmen
82,2 si tüolten M in hieren' (nerjen B,), 1. ziehen
93,2 dem grifen einen h'etech\ 1. vetechen B.
211, 2 1. ich iveiz eine (frouwen) V. S.
387,4 daz uns hie ze 'hove\ l. hüse?
436,3 ja scheide tvir, wir ^mugen\ 1. muozen
440, 4 1. hie mite riten (dannen) {(schöne) B.)
460,1 Den boten hiez er ^geben^ {gäben B.), 1. teilen
543, 1 1. Dö ivolten si die mage{de) resp. meide, s. GGX. 1917, S. 26
825,3 des müge wir uns ^erholen\ 1. ergetzen Z. V. B.
905, 3 und heizet die 'bestaten\ l.bevelhenB. (besser als beserken M.)
1055,3 dar zuo 'bringen müge\ 1. müge bringen (besser als fcnw^rew
Jcünne B.).
Zweimal erscheint biten in der Zäsur, in dichter Folge 409, 2.
410, 2 ; zufälliger Weise begegnen auch im Nibl. zwei Fälle : 559, 3
wes iuch der Ulnic bitet, 1253, 1 Vil minnecUche Uten, und da hier
die Überlieferung gesichert ist, hat Bartsch die Zäsur durch Ein-
führung des tt klingend gestaltet. In der Kudrun verfährt er
ebenso, aber hier taucht mir doch ein Zweifel auf : Hans Ried hat
nämlich beim Abschreiben des Nibelungenliedes wiederholt ein
flegen seiner Vorlage durch biten ersetzt, so 1081,2. 1112,4, und
514 Edward Schröder
zum mindesten Kudr. 409, 2 (wo ich früher umgestellt hatte so
sult ir hiten Hagenen) könnte man auch lesen Hagenen flegen.
Zwei Wörter des Typus ^ u, nämlich hote{n) und Wate{n),
erscheinen in der Überlieferung der Kudrun so oft, daß man ver-
sucht sein könnte, gegen ihre grundsätzliche Ausschaltung aus der
Zäsur Bedenken zu erheben und hier etwa bereits Silbendehnung
durch Verschärfung des Konsonanten anzunehmen, die dann wohl
auch für vetech und hestaten gelten dürfte. Bei jenen muß ich daher
etwas verweilen, um zu zeigen, wie das fehlerhafte Aufkommen
solcher Zäsurbilder sich vollzieht.
734, 1 hat die Hs. Do sprach der pote, einen unmöglichen Halb-
vers, und außerdem ist vorher (733) nur von der Mehrzahl die
Bede gewesen : so hat denn schon Z. genau nach 771, 1 geändert
Do sprach der boten einer, und alle Späteren sind ihm gefolgt.
Umgekehrt wird der Halbvers 229, 2 hdhet er mir einen ^boten'
durch das unnötig erläuternde boten überladen, das darum von V.
gestrichen wurde und von M. nicht wieder hätte aufgenommen
werden sollen. 616, 3 hab ich oben Bartsch zugestimmt, indem
ich hin als hinnen zur ersten Halbzeile zog, was also kaum eine
Textänderung bedeutet ; bei 815, 3 die ungemuoten boten hab ich
Bartschs Umstellung ^en boten ungemuoten gebilligt ; auch in diesen
beiden Fällen liegt die Entstehung der stumpfen Zäsur klar zu
Tage. Es bleibt nur noch übrig 835, 2 wa^ er von stnen boten
leider mcere ervant, und hier wird man unbedenklich die Umstellung
von B. M. gut heißen: waz er leider mcere von smen boten ervant.
Wie böte eines der allerhäufigsten Appellativa, so ist Wate
einer der häufigsten Eigennamen des Gedichtes: mit 210 Vor-
kommen folgt er auf Hartmuot (233 x) und übertrifft Hilte (201 x)
und Küdrün (188 x). Aber er begegnet niemals im Beime, und
in der Zäsur bietet ihn die Überlieferung nur 6 x, d. i. kaum
2V2 %, während etwa bei Herivic die Zäsur 50 %, bei Hartmuot
die Zäsur 42 7o, Zäsur + Endreim 58^2 ^/o der Belege liefern. Von
vorn herein zeigt das, daß das Wort in der Zäsur gemieden wird,
und da überdies alle von der Überlieferung gebotenen Halbverse
mit dem Schluß Wate{n) nur dreihebig gelesen werden können,
bietet sich jedenfalls keine Stütze für Bartschs Annahme un-
gerader vierhebiger Halbverse mit dem Ausgang ^ u. Gleichwohl
bringt es B. fertig, mit kleinen Zutätchen auch zwei der Wate-
Verse für den von ihm erfundenen Verstypus zurechtzumachen:
235, 4 er (ge)dähte wie er Waten
1512, 3 {nu) ivis wiUeJcömen, Wate.
Mein Urteil über diese Konstruktion brauch ich nicht "zu wiederholen.
Zur Überlieferung und Textkritik der Kudrun II. 615
Ich geh aus von dem verkrüppelten Halbvers 451, 3 sich hete
^der' Wate ; dies der vor dem Personennamen, der richtige Artikel,
ist eine dutzendfach bezeugte Unart Rieds und darf nicht in dö her
'aufgelöst' werden (M. S.), wir haben also für die notwendige Er-
gänzung hinter dem Namen freie Hand und schaffen mit B.s sich
hete Wate {der alte) einen Vers, der zahlreiche Parallelen hat. Die
gleiche Ergänzung heiß ich gut 574, 2 den enphalch er Waten (dem
alten)] Wate der alte steht 30 x in der Zäsur! Die in ähnlicher
Knappheit nicht wiederkehrende Grrußform willekomen, Wate!
1512, 3 ändere ich in Wate, {nü wis) tvillekomen, was ins intimere
übersetzt die Parallele bietet zu her Wate, {nii) sit tvillekomen^)
236, 2. Da allein der Nom. Hörant 12 x in der Zäsur steht,
empfiehlt sich 300, 4 die Umstellung Wate unde Hörant. Die Um-
stellung von 945, 1 Bö sprach Wate mit listen (B.) wird durch das
20 malige (!) Dö sprach Wate der alte (s. Studie III) gegen metrische
Bedenken gestützt; zugleich aber beweist dies konstante
Dö sprach Weite der alte [gegenüber ebenso festem Dö
sprach diu alte (übele) CrerZ^w^ u. s. w.], neben dem sich kein
einziges Dö sprach der alte Wate findet, daß der Dich-
ter in der Tat gegen Wate in der Zäsur höchst
empfindlich war. Und schließlich erkenn ich in 235,4 der
Überlieferung wieder nur die ganz besonders im letzten Vers
überaus häufige Einführung der prosaischen Wortfolge und ändere
er dähte tvie er solle Waten sinen alten friunt emphdhen.
So hab ich mit durchweg leichten Eingriffen auch die sämt-
lichen Fälle von Wate aus der Zäsur fortgeschafft. Daß ich dazu
wie überhaupt zu meinem ganzen Verfahren berechtigt war und
es durchführen mußte selbst auf die natürlich unbestreitbare Mög-
lichkeit hin, daß dem Dichter trotz prinzipieller Abneigung gegen
diesen Zäsurtypus der eine und andere Fall durchgeschlüpft sein
könnte, wird man kaum bestreiten. Den Bedenken aber, welche
etwa noch bleiben, möcht ich mit der schließenden Ausführung
begegnen.
Schon mehrfach hab ich im vorausgehenden zur Stütze von
Änderungen am Texte der Ambraser Hs. auf gleiche oder ähnliche
Entstellungen hingewiesen, die sich Hans Ried gegenüber dem
Nibelungenliede zu Schulden kommen läßt, wo wir in der Lage
sind, sie ihm unfehlbar nachzuweisen. Ich zähle in den Lesarten
von d bei Bartsch annähernd hundert Fälle, in denen die Zäsur
geändert, gestört oder völlig verwischt ist, und alle Arten solcher
1) das von Bartsch eingefügte nu ist metrisch notwendig; darüber später.
516 Edward Schröder, Zur Überlieferung u. Textkritik der Kudrun IL
Textverderbnis, die wir dort antreffen, begegnen in der Kudrun
wieder; selbstverständlich hat man auch hier die gröblichen früh-
zeitig erkannt und gewiß die Mehrheit längst beseitigt oder doch
zu beseitigen versucht. In der kleinern Zahl der Fälle handelt es
sich — im Nibelungenliede, bei dem ich hier bleiben will — um
eine Umstellung, welche auch den zweiten Halbvers berührt und
dann vielfach die Zäsur unkenntlich gemacht hat (vgl. 134, 2. 529, 1.
759,4. 896,2. 1024,2. 1151,2. 1168,2. 1459,2. 1510,3. 1679,1.
1690, 3/4. 1693, 1. 1867, 3. 2049, 4). In einer andern Gruppe ist
das Zäsurwort (oder zwei Wörter) ausgefallen (so 204, 2. 226, 4.
452,3. 524.1. 870,1. 1561,4. 1563,3. 1891,4. 1916,1). Entstand
schon hierdurch gelegentlich eine meist ohne weiteres als fehler-
haft erkennbare stumpfe Zäsur, so ist dies noch häufiger der Fall,
wo Wortumstellung oder Wortersatz eintritt, etwa liiez er holde]
er holde hieß 98, 2, niht anders] anders nicht 1223, 1, heinliche] haym-
lichait 1255, 2, geiviz^en] ivissenlich 1459, 1, unforhten] unforchtsam
1 785, 4. Besonders aber interessieren uns die Fälle, wo durch
Verlustj Austausch oder Umstellung ein zweisilbig stumpfer Zäsur-
ausgang des dreihebigen Halbverses entsteht: habe von rehte] von
reche hahe 109, 3, dö sprach der böte (sciere) 226, 4, valde] wale 263, 4,
inner tagen zwelven] inner zwelf tagen 762, 3, soehe] sehen 795, 3,
gehlutet] gepüret 1056, 3, viegen] piten 1081, 2, poiige] poge 1634, 2.
1662, 4, Mnne] Jcunig 1915, 1 u.s.w.
Wenn die Zahl solcher Entstellungen in der Kudrun größer
ist als im Nibelungenliede, so hängt das hauptsächlich mit der
zunehmenden Lässigkeit des Schreibers zusammen: es ist kein Zu-
fall, daß in den oben aufgeführten Beispielreihen die bei weitem
größere Mehrzahl auf die zweite Hälfte des Nibl. fällt, und in
der Kudrun, die sich in der Hs. anschließt, tritt die Abstumpfung
Rieds noch deutlicher zu Tage. Allerdings ist auch die Unüber-
sichtlichkeit der Strophe in Eieds dreispaltiger Vorlage daran mit-
schuldig, und diese steigerte sich noch bei der Kudrun mit ihrer
überlangen Schlußzeile; die reimpaarigen Texte der Klage, die
zwischen beiden steht, und besonders des Biterolf, der auf die
Kudrun folgt, sind bei ihm unvergleichlich besser überliefert.
AS Akademie der Wissenschaften,
182 G'öttingen. Philologisch-
G8122 ^^istorische Klasse
1918 Nachrichten
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