Skip to main content

Full text of "Nachts"

See other formats


NACHTS 

VON 

KARL    KRAUS 


LEIPZIG 

VERLAG  DER  SCHRIFTEN  VON  KARL  KRAUS 

(KURT  WOLFF) 


i  1  4  1973       i| 


pr 


Zweite  Auflage. 

Gedruckt  bei  Jahoda  &  Siegel,  Wien  III, 

im  Herbst  1918. 


DEM  ANDENKEN  DER  FREUNDIN 
ELISABETH  REITLER 


Eros 


/ 


Er  mit  dem  Geist  und  sie  mit  der  Sciiönheit 
mußten  auseinander  und  hinaus.  Es  mit  der  Technik 
schafft  da  und  dort  Ersatz. 


Die  Lust  des  Mannes  wäre  nur  ein  gottloser 
Zeitvertreib  und  nie  erschaffen  worden,  wenn  sie 
nicht  das  Zubehör  der  weiblichen  Lust  wäre.  Die 
Umkehrung  dieses  Verhältnisses  zu  einer  Ordnung, 
in  der  sich  eine  ärmliche  Pointe  als  Hauptsache 
aufspielt  und  nachdem  sie  verpufft  ist,  das  reiche 
Epos  der  Natur  tyrannisch  abbricht,  bedeutet  den 
Weltuntergang:  auch  wenn  ihn  die  Welt  bei  tech- 
nischer, intellektueller  und  sportlicher  Entschädigung 
durch  ein  paar  Generationen  nicht  spürt  und  nicht 
mehr   Phantasie    genug   hat,    sich    ihn    vorzustellen. 


Es  ist  gut,  daß  es  der  Gesellschaft,  die  daran 
ist,  die  weibhche  Lust  trocken  zu  legen,  zuerst  mit 
der  männlichen  Phantasie  gelingt.  Sie  wäre  sonst 
durch  die  Vorstellung  ihres  Endes  behindert. 


Der  Mann  hat  keinen  persönlicheren  Anteil  au 
der  Lust,  als  der  Anlaß  an  der  Kanst.  Und  wie  jeder 


10 


Anlaß  überschätzt  er  sich   und  bezieht  es  auf  sich. 

Der  einzelne  Lump    sagt    auch,    ich   hätte    über  ilin 

geschrieben,    und    hält    seinen  Auteil    für    wichtiger 

als  den  meinen.  Nun  könnte  er  noch  verlangen,  daß 

ich  ihm  treu  bleibe.  Aber  die  Wollust  meint  alle  und 

gehört  keinem. 

* 

Das  Weib  nimmt  einen  für  alle,  der  Mann  alle 

für  eine. 

* 

Die  Lust  hat  es  nur  mit  dem  Ersatzmann  zu 
tun.  Er  steht  für  den  andern,  für  alle  oder  für  sich 
selbst.  Der  ganze  Mann  in  der  Lust  ist  ein  Greuel 
vor  Gott.  Hierin  dürfte  die  Wedekindsche  Welt 
begrenzt  sein:  vor  dem  tief  erkannten  Naturbestand 
des  Weibes  die  tief  gefühlte  Sehnsucht  des  Rivalen. 
Weibliche  Genußfähigkeit  als  Ziel  des  Mannes,  nicht 
als  geistige  Wurzel.  Anspruch  einer  physischen 
Wertigkeit,  mit  der  sich's  in  Schanden  bestehen 
ließe.  Nicht  Kräfte,  die  einander  erschaffen,  sondern 
Lust  um  der  Lust  willen.  Tragisch  das  Weib  erfaJßt, 
weil  es  anders  sein  muß  als  von  Natur,  und  damit 
eine  Tragik  des  Mannes  gepaart,  weil  er  anders  von  i 
Natur  ist.  Aber  tragisch  wird  nur  das  weibHch  Un- 
begrenzte an  einer  Ordnung,  die  sich  die  männliche 
Begrenztheit  erfunden  hat.  Diese  ist  nicht  tragisch, 
sondern  nur  traurig  von  Natur,  und  hassenswert, 
weil  sie  die  Freiheit  des  Weibes  in  das  Joch  ihrer 
Eitelkeit  spannt,  den  eigenen  Defekt  an  der  Fülle 
rächt  und  etwas  beraubt,  um  es  zu  besitzen.  Hier 
ist    nicht    Schicksal,    sondern    ein    Zustand,    dessen 


LI 


Verlängerung,  ja  Verewigung  selbst  keine  Schöpfer- 
kraft gewährte.  Denn  in  nichts  wird  die  Hemmungs- 
losigkeit des  Mannes  umgesetzt.  Sie  bleibt  irdisch. 
Die  Lust  aber,  die  der  Erdgeist  genannt  wird,  braucht 
ihi'en  Zunder,  doch  auf  den  Funken  kommt  es  an, 
den  sie  in  eine  Seele  wirft.  Dieser  Dichter  hat  Luiu 
erkannt;  aber  er  beneidet  ihren  Rodrigo.  Dieses  Genie 
der  Begrenztheit  —  in  der  genialen  Hälfte  genialer 
als  irgendein  Ganzer  im  heutigen  Deutschland  — 
sehe  ich  in  den  Anblick  des  Fremisr'schen  Gorilla 
vertieft.  Um  die  Ohnmacht  der  Frau  —  ihr  Anblick 
gibt  den  Engeln  Stärke,  wenn  keiner  sie  ergründen 
mag  —  weiß  er.  Aber  die  Kraft  des  Tieres  scheint 
ihm  zu  imponieren. 


»Bei  mir  besteht  die  intimste  Wechselwirkung 
zwischen  meiner  Sinnlichkeit  und  meinem  geistigen 
Schaffen«,  bekennt  Lulus  Aiwa  mit  der  seinem  Dichter 
eigentümlichen  großartigen  Sachlichkeit.  Aber  da  ist 
jene,  die  Sinnlichkeit,  im  Vorsprung.  Es  heiße  so: 
»Bei  mir  besteht  die  intimste  Wechselwirkung  zwischen 
deiner  Sinnlichkeit  und  meinem  geistigen  Schaffen!« 


Sein  Dichten  bot  einen  zentaurenhaften  Anblick : 
unten  war  die  Lust  eines  Hengstes,  die  sich  zum 
Geist  eines  Mannes  fortsetzte. 


Er,    der    genug   Kraft  hat,    um  seine  Welt  aus 
dem    Geschlecht    zu    erschaffen,    aber    nicht    genug 


12 


Geist,  um  sie  daraus  zu  erlösen,  schrieb  den  Satz: 
»Zwischen  ihm  und  zwischen  ihr  hat  sich 
etwas  abgespielt.«  Damit  hatte  er  unbedingt  seine 
bedingte  Wahrheit  gesag-t  und  dem  Erdgeist  alles 
gegeben,  w-as  notwendig  ist,  damit  auch  zwischen 
ihm  und  ihr  sich  etwas  abspiele  und  damit  sich 
auch  etwas  abspiele,  was  nicht  nur  jedem  eigen- 
tümlich ist  wie  das  Geschlecht,  sondern  beiden  gemein- 
sam wie  der  Geist. 


Dieser  Dichter  war  nur  schamlos  aus  lauter 
Schamgefühl,  Er  schämte  sich  so  sehr  seiner  Sittlich- 
keit, daß  er  sich  Stoffe  umhing,  an  denen  das 
Publikum  Anstoß  nahm. 


Wenn  man  nur  beizeiten  den  Kindern  verboten 
hätte,  sich  zu  schneuzen,  die  Erwachsenen  würden 
schon  rot  werden  dabei. 


Sexuelle  Aufklärung  ist  jenes  hartherzige  Ver- 
fahren, wodurch  es  der  Jugend  aus  hygienischen 
Gründen  versagt  wird,  ihre  Neugierde  selbst  zu 
befriedigen. 


Sexuelle  Aufklärung  ist  insoweit  berechtigt,  als 
die  Mädchen  nicht  früh  genug  erfahren  können,  wie 
die  Kinder  nicht  zur  Welt  kommen. 


13 


Es  gibt  eine  Pädagogik,  die  sich  sciion  zu  Ostern 
entschließt,  die  Jugend  schonend  darauf  vorzubereiten, 
was  im  geheimnisvollen  Zimmer  am  Christbaum  hängt. 

* 

Die  Tragik  des  Gedankens,  Meinung  zu  werden, 

erlebt  sich  am  schmerzlichsten  in  den  Problemen  des 

erotischen  Lebens.  Das  geistige  Erlebnis  läßt  hier  Reue 

zurück,  wenn  es  jene  ermuntert,  die  bestenfalls  recht 

haben  können.    Und  so  mag  es   gesagt  sein:    Jedes 

Frauenzimmer,  das  vom  Weg  des  Geschlechts  in  den 

männlichen  Beruf  abirrt,    ist   im  Weiblichen    echter, 

im     Männlichen     kultivierter     als     die     Horde     von 

Schwächlingen,    die    es    im  aufgeschnappten  Tonfall 

neuer    Erkenntnisse    begrinsen    und    die    darin    nur 

den  eigenen  Mißwachs  erleben.    Das  Frauenzimmer, 

das  Psychologie  studiert,  hat  am  Geschlecht  weniger 

gefehlt,  als  der  Psycholog,  der  ein  Frauenzimmer  ist, 

am  Beruf. 

* 

Wenn  eine  Frau  ein  Genie  ist,  dann  ist  sie  es 

höchstens  die  paar  Tage,    die  eine  Frau  dafür  büßt, 

daß    sie    ein    Weib    ist.     All    die    andere    Zeit    aber 

dürfte  sie  dafür  büßen,    daß    sie    ein  Weib    und  ein 

Genie  ist. 

* 

WeibHche  Juristen?  Juris  uterusque  doctor? 
Blutiger  Dilettantismus ! 

* 

Weibliche  Doktoren  —  warum  denn  eigentlich 
nicht?     Warum     sollen     sie's     nicht     treffen?      Ich 


14 


kenne  so  wenige  männliche  Doktoren,  daß  ich  mir 
oft  denke,  hier  muß  ein  starker  Bedai-f  sein,  und  da 
die  Weiber  doch  eben  das  Zeug  haben,  das  den 
Mihmern  fehlt,  so  werden  sie's  schon  machen.  Männer 
fürchten  sich  nicht  vor  Weibern.  Somit  kann  der 
Widerstand  gegen  die  Frauenbewegung  nur  die 
Furcht  der  Weiber  vor  den  Männern  sein. 


Das  Kleid  macht  nicht  den  Mann.  Das  gilt 
jetzt  nicht  mehr  in  sozialer,  sondern  nur  noch  in 
sexueller  Beziehung.  Das  Kleid  macht  nicht  das 
Weib.     Das  gilt  erst  jetzt. 

Ich  lasse  mich  durch  keinen  Vollbart  mehr 
täuschen.  Ich  weiß  schon,  welches  Geschlecht  hier 
im  Haus  die  Hosen  anhat. 


Meine  Eroberungen  sind  Halbmänner ;  denn  die 
Halbweiber  halten  es  mit  diesen. 


Das  Weib  ist  von  der  Geste  betäubt ;  der  Mann 
habe  Achtung  vor  dem  Inhalt.  Da  es  die  beiden 
Typen  nicht  mehr  gibt,  so  bin  ich  auf  jenen  trüb- 
seligen Mischmasch  angewiesen,  der  in  die  Hosen 
gefahren  ist  und  mich  in  Liebe  und  Haß  umgeilt.  Ich 
muß  immer  neun  Zehntel  der  Verehrung  abziehen,  um 
auf  den  brauchbaren  Rest  zu  kommen.  Wie  wenig 
Menschentum  bleibt,  wenn  sich  das  Femininum  ver- 
flüchtigt hat! 


15 


Meine  Wirkung  ist  nur  die  des  Spielers  auf 
das  Weib.  Im  Zwischenakt  sind  alle  gegen  mich, 
je  mehr  sie  im  Akt  bei  der  Sache  waren. 

* 

Weibersachen  kann  ich  höchstens  in  meinen 
Vorlesungen  brauchen.  Dort  unterstützen  sie  die 
Wirkung  und  machen  an  meinen  Nerven  gut,  was 
sie  in  der  Literatur  an  ihnen  gesündigt  haben.  Mit 
Händen  soll  man  applaudieren  und  nicht  schreiben. 
Ich  mit  den  meinen  möchte  lieber  ohrfeigen  als 
schreiben,  wenn  nicht  die  Gefahr  bestünde,  daß  es 
als  Gewährung  empfunden  wird  und  eine  zärtliche 
Stimme  bebend  flüstert :    Noch  ! 

* 

Den  tiefsten  und  echtesten  Beweis  ihrer  Ver- 
ehi'ung  sind  sie  mir  schuldig  geblieben :  die  eigene 
Überflüssigkeit  zu  erkennen  und  bei  meinen  Leb- 
zeiten wenigstens  literarisch  abzudanken.  Solange 
ich  diese  Wirkung  nicht  erzielt  habe,  glaube  ich 
nicht  an  die  Nachhaltigkeit  meines  Einflusses. 
Oderint,  dum  metuant.     Mögen  sie  lieben,  wenn  sie 

nur  nicht  schreiben ! 

* 

Viele  Herren,  denen  ich  den  Laufpaß  gegeben 
habe,  haben  sich  dadurch  in  ihren  weiblichsten 
Empfindungen  verletzt  gefühlt. 

* 

Ich  bin  vorsichtig  geworden.  Als  ich  einmal 
einen  Anbeter  hinauswarf,  wollte  er  mich  wegen 
Religionsstörung  anzeigen. 


16 


Der  Mann  muß  die  Weiber  totschweigen,  weil 
sie  von  ihm  genannt  werden  wollen.  Sie  sollen  ihn 
totschweigen;  denn  er  will  Ruhe  haben. 


Wenn  mich  einer  eitel  und  gemein  nennt,  so 
weiß  ich,  daß  er  mir  vertraut  und  mir  etwas  zu 
beichten  hätte. 

Aufregen  kann  ich  sie  alle.  Jeden  einzelnen  zu 
beruhigen,  geht  über  meine  Kraft. 


Männlichkeit  beweist  sich  jetzt  nur  an  jenen, 
die  ihr  erliegen.  Denn  der  Mann,  der  mich  achtet, 
könnte  sich  irren.  Das  Weibliche  irrt  nie,  weil  es 
nicht  durch  Urteil  spricht,  sondern  durch  Unruhe. 
Warum  mache  ich  doch  Wesen  unruhig,  die 
schmutzige  Finger  haben! 


Ihr  wart  nicht  hübsch  genug  und  nicht  genug 
mutig,  junge  Kastraten,  in  einem  bestimmten  Punkt 
eurer  Entwicklung,  da  ihr  zum  Mann  eure  Blicke 
aufzuschlagen  begännet,  euch  vom  erstbesten  mit- 
nehmen zu  lassen.  So  hat  sich  euer  Trieb  in  die 
Büsche  des  Intellekts  geschlagen  und  tobt  nun  in  einem 
Dschungel  von  Sperma  und  Druckerschwärze.  Und 
so  ist  das  Inferno  dieser  letzten  Literatur  entstanden. 
Und  ich,  auf  den  alle  Fliegen  fliegen,  bin  das 
Opfer.  Fragt  man  so  einen,  warum  er  mich  hasse, 
so  antwortet  er :  Er  hat  mich  nicht  angesehn !  Oder : 


17 


Er  ist  da  und  man  sieht  mich  nicht!  Oder:  Ich 
spreche  wie  er  und  man  hört  ihn  !  Journalisten  waren 
ehedem  eine  verlorene  Abart  von  Mann.  Ich  weiß 
schon,   welchen   Beruf   die   heutigen  verfehlt   haben. 


Ich  vielgeliebter,  schöner,  grausamer  Mann, 
was  habe  ich  ihnen  nur  angetan?  Nichts,  und  das 
ist  es  eben.  Wie  sehne  ich  mich  aus  dieser  Position 
einer  Einsamkeit,  die  von  so  vielen  geteilt  wird ! 
Wenn  ich  Gefangene  gemacht  habe  und  sie  mich 
nicht  mehr  loslassen,  so  will  ich  auf  die  Gefangenen 
verzichten,  und  tue  ich  das,  so  werde  ich  erst  recht 
das  Opfer  der  Beute.  Schafft  denn  Ruhe  nicht  Ruhe? 
Wird  denn  das  erotische  Gesetz,  daß  Entfernung 
nähert,  bei  mir  nie  eine  Ausnahme  machen?  Wenn 
ich  Selbstmord  begehe,  sind  sie  erschossen! 


Eine  der  verkehrungswürdigsten  Redensarten 
ist  die  von  den  schlechten  Beispielen,  die  gute  Sitten 
verderben.  In  einem  vaginalen  Zeitalter  kann  das  nur 
von  den  guten  Beispielen  behauptet  werden.  Denn 
das  Frauenzimmer,  das  in  einem  Burschen  von  heute 
herumrumort,  hat  den  fatalen  Hang  zur  Ich-Behauptung. 
Daß  sein  Ich  weniger  ist  als  Hundedreck,  sieht  es 
nicht  ein ;  im  Gegenteil  wird  es  immer  das  Gegenteil 
von  dem  tun  wollen,  ivas  der  männliche  Verstand 
für  gut  erkannt  hat.  Ich  habe  Burschen  neben  mir 
herumwetzen  gesehn,  die  mir  nicht  allein  wider- 
sprachen, wiewohl  ich  recht  hatte,  sondern  eben  des- 
halb. Das  waren  sicher  nicht  werdende  Männer.  Denn 


18 


für  den  Mann  ist  das  Rechthaben  keine  erotische 
Angelegenheit  und  er  zieht  das  fremde  Recht  dem 
eigenen  Unrecht  gut  und  gern  vor.  Tut  er  das 
aber,  so  sagt  der  andere,  der  kein  Mann  ist,  er 
habe  es  nur  mir  zuliebe  getan.  Es  ist  das  deutliche 
Kennzeichen  einer  hysterisch  verwirrten  Umgebung, 
daß  das,  was  in  Erfüllung  einer  ethischen  Forderung 
geschehen  muß,  auf  Rechnung  der  Abhängigkeit  von 
mir  gesetzt  wird.  Ist  meine  Ansicht  mit  jener 
Forderung  eben  identisch  —  was  wohl  öfter  der  Fall 
sein  wird,  weil  ich  sonst  solchen  Einfluß  nicht  erlangt 
hätte  — ,  so  werden  die  meisten  jungen  Leute  lieber 
unanständig  handeln,  als  daß  sie  in  einen  Schein  der 
Abhängigkeit  von  mir  kommen  wollten.  Es  sind  die 
Ich-Behaupter.  Vom  Ich  ist  dann  freilich  nur  eine 
Gemeinheit  zu  sehen,  und  die  Abhängigkeit,  deren 
Schein  vermieden  werden  sollte,  ist  durch  die  strikte 
Befolgung  des  Gegenteils  bewiesen.  Mit  Anstand 
unter  mir  zu  leiden,  das  verstehen  wenige.  Mit  mir, 
noch  weniger.  Wenn  ich  unter  hundert  fünf  kennen 
gelernt  hätte,  die  darum,  weil  sie  jünger  oder 
schwächer  waren  als  ich,  nicht  unglücklich,  unruhig, 
geisteskrank  oder  schuftig  wurden,  sondern  harmo- 
nisch, still,  normal  und  anständig  blieben,  so  könnte 
ich  sagen,  daß  ich  ein  geselliges  Leben  geführt  habe. 

* 

Heute  kann  es  vorkommen,  daß  man  ausrufen 
hört:  »Er  hat  so  etwas  Männliches  an  sich!«  Und 
es  ruft  ein  Herr.  Gleich  daneben :  '>Sie  hat  etwas. 
Weibliches!«  Und  es  ruft  eine  Dame. 


19 


Das  eine  Geschlechtsmerkmal  reicht  wieder 
vollständig  aus.  Man  kann  eine  Suffragette  von 
einem  Ballettänzer  unterscheiden. 


Ob  der  Mann  bühnenfähig  ist,  bedarf  erst  einer 

Probe.     Die    Frau    ist    immer    auf    der   Probe    und 

bühnenfähig   von  Natur.     Sie   lebt   vor   Zuschauern. 

Sie    fühlt    sich   als  Mittelpunkt,    wenn   sie   über  die 

Straße  geht,    und  begrüßten   die  Statisten  auch  den 

Einzug  Napoleons.  Und   alle   Blicke   bezieht   sie   auf 

den  Mittelpunkt. 

* 

Der  Mann    bildet   sich    ein,    daß    er    das  Weib 
ausfülle.    Aber  er  ist  nur  ein  Lückenbüßer. 


Tragische  Sendung  der  Natur !  Warum  ist  diese 

lange   Lust   des   Weibes    nicht    feststellbar  wie   der 

männliche  Augenblick ! 

* 

Der  Zustand  der  Geschlechter  ist  so  beschämend 
wie  das  Resultat  der  einzelnen  Liebeshandlung:  Die 
Frau  hat  weniger  an  Lust  gewonnen,  als  der  Mann 
an  Kraft  verloren  hat.  Hier  ist  Differenz  statt  Summe. 
Ein  schnödes  Minus,  froh,  sich  in  Sicherheit  zu 
bringen,  macht  aus  einem  Plus  ein  Minus.  Hier  ist 
der  wahre  Betrug.  Denn  nichts  paßt  zu  einer  Lust, 
die  erst  beginnt,  schlechter  als  eine  Kraft,  die  schon 
zu  Ende  ist;  keine  Situation,  in  der  Menschen  zu 
einander  geraten  können,  ist  erbarmungsloser  und 
keine   erbarmungswürdiger.    In   dieser  Lücke   wohnt 

2* 


20 


die  ganze  Krankheit  der  Welt.  Eine  soziale  Ordnung, 
die  das  nicht  erkennt  und  sich  nicht  entschließt,  das 
Maß  der  Freiheit  zu  vertauschen,  hat  die  Menschheit 
preisgegeben. 

Perversität  ist  die  haushälterische  Fähigkeit, 
die  Frauen  auch  in  den  Pausen  genießbar  zu  finden, 
zu  denen  sie  die  männliche  Norm  verurteilt  hat. 


Perversität  ist  entweder  ein  Zustand  oder  eine 
Fähigkeit.  Die  Gesellschaft  wird  eher  dazu  gelangen, 
den  Zustand  zu  schonen  als  die  Fähigkeit  zu  achten. 
Auf  dem  Weg  des  Fortschritts  wird  sie  so  weit  kommen, 
auch  hier  der  Geburt  den  Vorzug  zu  geben  vor  dem 
Verdienst.  Aber  wenigstens  wird  sich  die  Norm  dann 
nur  mehr  über  das  Genie  entrüsten,  das  heute  diese 
Ehre  mit  dem  Monstrum  teilen  muß. 


Ein  perverser  Kopf  kann  an  der  Frau  gutmachen, 
was  zehn  gesunde  Leiber  an  ihr  nicht  gesündigt  haben. 

* 

Liebe  und  Kunst  umarmen  nicht,  was  schön  ist, 
sondern  was  eben  dadurch  schön  wird. 

Erotik  macht  aus  einem  Trotzdem  ein  Weil. 

Wand  vor  der  Lust:  Vorwand  der  Lust. 


21 


Erotik  ist  immer  ein  Wiedersehen.  Sie  zieht  es 
sogar  der  ersten  Begegnung  vor. 


Der  schöpferische  Mensch  sieht  Helenen  in  jedem 
Weibe.  Er  hat  aber  die  Rechnung  ohne  den  Analytiker 
gemacht,  der  ihn  erst  darüber  aufklärt,  was  er 
eigentlich  in  Helenen  zu  sehen  habe. 


Wie  Schönheit  zustandekommt  —  das  weiß  die 

Nachbarin.  Wie  Genie  entsteht  —  das  weiß  sie  auch, 

die  Analyse. 

* 

Die  Kultur  hat  nur  ein  vorgeschriebenes  Maß 
von  Schönheit  nötig.  Sie  macht  sich  alles  selbst,  sie 
hat    ihre    Kosmetik   und    braucht   nichts   mehr   vom 

Kosmos  zu  borgen. 

* 

Bestimmung  führt  die  Frau  dem  ersten  zu. 
Zufall  dem  besten.  Wahl  dem  ersten  besten. 


Alle  Memoirenliteratur  ist  voll  der  erotischen 
Unbedenklichkeit  hochgestellter  Frauen,  die  sich  die 
Natur  durch  die  Würze  ihi^es  Falles  versüßt  haben. 
Mit  Neugier  oder  Entrüstung  —  die  Welt  hat  es  zur 
Kenntnis  genommen,  daß  der  Diener  seiner  Herrin 
oft  mehr  zu  sagen  hatte  als  ihr  Herr.  Mit  Staunen, 
daß  sie  doch  die  Herrin  blieb.  Denn  die  Natur,  die 
der  Würde  etwas  vergeben  kann,  ersetzt  den  Ausfall 
durch   Persönlichkeit.    Die  Befremdung  jener  Kreise 


22 

aber,  in  denen  der  Beischlaf  eine  Haupt-  und  Staats- 
aktion ist,  wird  begreiflich.  Die  Bürgerin,  die  sich  dem 
Fürsten  überläßt,  kann  sich  etwas  für  ihren  Ruf 
erhoffen;  aber  ein  letzter  Instinkt,  den  sie  sich  er- 
halten hat,  sagt  ihr,  daß  sie  sich  im  Verkehr  mit  dem 
Pöbel  seelisch  verlieren  könnte,  und  das  möchte 
einem  Parvenü  schlecht  anstehn.  »Sich  wegwerfen« 
heißt  nur  dort  ankommen,  wohin  man  gehört. 


Die  Ehe  ist  eine  Mesalhance. 
* 

Das  eheliche  Schlafzimmer   ist   das  Zusammen- 
leben von  Roheit  und  Martyrium. 


Vieles,  was  bei  Tisch  geschmacklos  ist,  ist  im 
Bett  eine  Würze.  Und  umgekehrt.  Die  meisten  Ver- 
bindungen sind  darum  so  unglücklich,  weil  diese 
Trennung  von  Tisch  und  Bett  nicht  vorgenommen 
wird. 

Erröten,  Herzklopfen,  ein  schlechtes  Gewissen  — 
das  kommt  davon,    wenn   man   nicht  gesündigt   hat. 


In  diesem  Vergleich  müssen  sie's  verstehen: 
Wie  legen  die  Bürger  die  Liebe  an?  Sie  essen  vom 
Kapital  und  haben  es  in  der  eisernen  Kasse  liegen. 


23 


Eifersüchtige  sind  Wucherer,    die  vom   eigenen 
Pfund  die  höchsten  Zinsen  nehmen. 


Die  wahre  Eifersucht  will  nicht  nur  Treue, 
sondern  den  Beweis  der  Treue  als  eines  vorstell- 
baren Zustands.  Dem  Eifersüchtigen  genügt  nicht, 
daß  die  Geliebte  nicht  untreu  ist.  Eben  das,  was  sie 
nicht  tut,  läßt  ihn  nicht  zur  Ruhe  kommen.  Da  es 
aber  für  Unterlassung  keinen  Beweis  gibt  und  der 
Eifersüchtige  auf  einen  Beweis  dringt,  so  nimmt  er 
schließlich  auch  mit  dem  Beweis  der  Untreue  vorlieb. 


Eifersucht  ist  immer  unberechtigt,  finden  die 
Frauen.  Denn  entweder  ist  sie  berechtigt  oder 
unberechtigt.  Ist  sie  unberechtigt,  so  ist  sie  doch 
nicht  berechtigt.  Ist  sie  aber  berechtigt,  so  ist  sie 
nicht  berechtigt.  Nun  also.  Und  so  bleibt  nichts  übrig 
als  der  Wunsch,  einmal  doch  den  Augenblick  zu 
erwischen,  wo  sie  berechtigt  ist! 


In  der  Liebe   ist  jener  der  Hausherr,    der  dem 
andern  den  Vortritt  läßt. 


Der  Erotiker  wird  der  Frau  jeden  gönnen,  dem 

er  sie  nicht  gönnt. 

* 

Der  Sklave !  Sie  macht  mit  ihm  rein  was  er  will. 


24 

Er  zwang  sie,  ihr  zu  willen  zu  sein. 


* 


Ich  habe  von  Monistenklöstern  gehört.  Bei 
ihrem  Gott,  keine  der  dort  internierten  Nonnen  hat 
etwas  von  mir  zu  fürchten! 


Wiewohl  es  nicht  reizlos  wäre,  einer  Bekennerin 
auf  dem  Höhepunkt  der  Sinnenlust  »Sag:  Synerge- 
tische  Funktion  der  organischen  Systeme!«  zuzurufen. 


Die  gebildete  Frau  ist  unaufhörlich  mit  dem 
Vorsatz  befaßt,  keinen  Geschlechtsverkehr  einzu- 
gehen, und  ist  auch  imstande,  ihn,  nämlich  den 
Vorsatz,  auszuführen. 

Der  gebildete  Mann  ist  nie  mit  dem  Vorsatz 
befaßt,  keinen  Gedanken  zu  haben,  sondern  es 
gelingt  ihm,  ehe  er  sich  dazu  entschließt. 


Es  ist  nicht  wahr,  daß  ich  immer  nur  zerstören 
und  nicht  aufbauen  kann.  Es  ist  eine  Lüge,  daß  ich 
zu  positiven  Bestrebungen  unfähig  bin.  Nichts  möchte 
ich  lieber  erreichen,  nichts  interessiert  mich  mehr, 
nichts  ist  mir  wichtiger  zu  wissen,  als  was  übers 
Jahr  heiauskommt,  wenn  ich  in  einem  abgesperrten 
finstern  Raum  eine  Anhängerin  des  allgemeinen 
Wahlrechts  und  einen  Monisten  über  vergleichende 
Menschenökonomie  und  die  synergetische  Funktion 
der     organischen    Systeme     sowie     auch     über    die 


25 


Stellung  des  Selektionsprinzips  in  der  Entwicklungs 
theorie  zusammen  nachdenken  lasse. 


Nietzsche  soll  gesagt  haben :  »Weiber  werden 
aus  Liebe  ganz  zu  dem,  als  was  sie  in  der  Vor- 
stellung der  Männer,  von  denen  sie  geliebt  werden, 
leben.«  Aber  da  möchte  ich  mich  doch  lieber  auf 
die  Vorstellung  verlassen. 

* 

Eine  Frau  soll  nicht  einmal  meiner  Meinung 
sein,  geschweige  denn  ihrer. 


Eine  Frau  muß  so  gescheit  aussehen,  daß  ihre 
Dummheit    eine    angenehme  Überraschung  bedeutet. 


Wo  ist  das  Weib  hin,  dessen  Fehler  ein  Ganzes 
bilden ! 

Genie  ist  die  freie  Verfügung  über  alle  jene  Eigen- 
schaften, die  jede  für  sich  einen  Krüppel  beherrschen. 

* 

Sinnlichkeit  weiß  nichts  von  dem, was  sie  getan  hat. 
Hysterie  erinnert  sich  an  alles,  was  sie  nicht  getan  hat. 

Die  Huren  auf  der  Straße  benehmen  sich  so 
schlecht,  daß  man  daraus  auf  das  Benehmen  der 
Bürger  im  Hause  schließen  kann. 


26 


Daß  eine  einen  Bürger  ruiniert,  ist  eine 
schwache  Entschädigung  dafür,  daß  sie  einen  Dichter 

nicht  anregt. 

* 

Es  ist  peinlich,  wenn  sich  ein  Geschenk  für  den 
Geber  als  Danaergeschenk  herausstellt. 

* 

Eine  Dame  scheint  wohl  wie  die  Sonne,  darf 
aber  mit  ihr  schon  darum  nicht  verwechselt  werden, 
weil  sich  die  Sonne  mit  so  vielen  an  einem  Tage 
abgibt,  während  die  Dame  von  Gott  geschaffen  ist,  um 
einem  einzigen  ßankdirektor  warm  zu  machen, 
womit  sie  auch  alle  Hände  voll  zu  tun  hat,  so  daß 
sie  sich  gar  nichts  anderes  verlangt,  indem  sie  weiß, 
daß  es  ihr  solange  zugute  kommt,  bis  sie  kalt  wird 
und  bis  auch  der  Bankdirektor  das  Bedürfnis  fühlt, 
zur  Sonne  zu  gehen,  die  sich  mit  so  vielen  an 
einem  Tage  abgibt,  amen. 

* 

Die  Jüdin  lügt  noch  zum  Weib  dazu.  Sie 
bereichert  die  Jahrtausendlüge  des  Geschlechts  aus 
der  Gnade  der  Rasse  und  durch  die  Fleißaufgabe 
des  persönlichen  Ehrgeizes. 

* 

Es  gibt  Frauen,  die  auf  ihrem  Gesicht  mehr 
Lügen  aufgelegt  haben  als  Platz  ist:  die  des 
Geschlechts,  die  der  Moral,  der  Rasse,  der  Gesell- 
schaft, des  Staates,  der  Stadt,  und  wenn  es  gar 
Wienerinnen  sind,  die  des  Bezirkes  und  die  der  Gasse. 


27 


Mit  den  Rechnerinnen  der  Liebe  kommt  man 
schwer  zum  Resultat.  Sie  fürchten  entweder,  daß 
eins  und  eins  null  gibt,  oder  hoffen,  daß  es  drei 
geben  wird. 

Es  gibt  Weiber,  die  so  stolz  sind,  daß  sie  sich 
nicht    einmal    durch    Verachtung    zu    einem    Manne 

hingezogen  fühlen. 

* 

Ich  hab'  einmal  eine  gekannt,  die  hat  zum 
Teufel  »Sie  Schlimmer«  gesagt  und  nachher:  »Was 
werden  Sie  von  mir  denken«.  Da  mußte  der  Teufel 
mit  seiner  Wissenschaft  einpacken.  Sein  Trost  war, 
daß  sie  immerhin  beim  Gebet  auch  nicht  an  Gott 
glaubte. 

Auf  lautes  Herzklopfen  nicht  Herein !  zu  sagen 
—  dazu  ist  wahrlich  die  beste  nicht  gut  genug. 


Er  war  so  unvorsichtig,    ihr   vor  jedem  Schritt 

die  Steine  aus  dem  Weg  zu  räumen.  Da  holte  er  sich 

einen  Fußtritt. 

* 

Das  Weib  läßt  sich  keinen  Beschützer  gefallen , 
der  nicht  zugleich  eine  Gefahr  ist. 

* 

Der  Lebemann  steht  unter  dem  Philister,  weil 
er  als  Beteiligter  die  Frau  dem  unbeteiligten  Philister 
zur  Verachtung  zutreibt. 


28 


Was  ist  meine  Liebe?  Daß  ich  die  schlechten 
Züge  am  Weib  zum  guten  Bild  vereine.  Was  ist 
mein  Haß?  Daß  ich  am  schlechten  Bild  des  Manns 
die  schlechten  Züge  sehe. 


Man    kann    eine  Frau    nicht   hoch  genug  über- 
schätzen. 

* 

Der  Mann    ist    der  Anlaß    der  Lust,    das  Weib 
die  Ursache  des  Geistes. 


An  der  schönen  Herrin  sprangen  ihre  Hunde 
empor  wie  seine  Gedanken  und  legten  sich  ihr  zu 
Füßen  wie  seine  Wünsche. 


Sie  sagte,  sie  lebe  so  dahin.  Dahin  möchte  ich 
sie  begleiten! 


n 
Kunst 


31 


Trauer  und  Scham  sollten  alle  Pausen  wahrer 
Männlichkeit  bedecken.  Der  Künstler  hat  außerhalb 
des  Schaffens  nur  seine  Nichtswih'digkeit  zu  erleben. 


Die  Eifersucht  auf  die  ungestaltete  Materie, 
die  mir  täglich  um  die  Nase  wippt  und  wetzt, 
schwippt  und  schwätzt,  auf  Menschen,  die  leider  noch 
existent,  aber  noch  nicht  erschaffen  sind,  läßt  sich 
schwer  einem  solchen  begreiflich  machen. 


Wer  sich  durch  eine  Satire  gekränkt  fühlt, 
benimmt  sich  nicht  anders  als  der  zufällige  Bei- 
schläfer, der  am  andern  Tage  daherkommt,  um 
seine  Persönlichkeit  zu  reklamieren.  Längst  ist  ein 
anderes  Beispiel  an  seine  Stelle  getreten,  und  wo 
schon  ein  neues  Vergessen  beginnt,  erscheint  jener 
mit  der  Erinnerung  und  wird  eifersüchtig.  Er  ist 
imstande,  die  Frau  zu  kompromittieren. 


Alle  sind  von  mir  beleidigt,  nicht  einzelne. 
Und  was  die  Liebe  betrifft,  sollen  alle  rabiat  werden 
und  nicht  die,  die  betrogen  wurden. 


32 


Was  mir  und  jedem  Schätzer  von  Distanzen 
einen  tätlichen  Überfall  auf  mich  peinlich  macht, 
ist  die  Verstofflichimg  der  Satire,  die  er  bedeutet. 
Anstatt  dankbar  zu  sein,  reinkarniert  sich  das, 
was  mir  mit  Mühe  zu  vergeistigen  gelang,  wieder 
zu  leiblichster  Stofflichkeit,  und  der  dürftige  Anlaß 
schiebt  sich  vor,  damit  mein  Werk  nur  ja  auf  ihn 
reduziert  bleibe.  Darum  müßte  mich  in  einer  Gesell- 
schaft, der  es  an  Respekt  fehlt,  ein  Spazierstock 
schützen,  in  welchem  ein  Degen  steckt.  Mir  fehlt  es 
nicht  an  Respekt  vor  den  kleinen  Leuten,  die  mich 
zu  etwas  anregen,  was  ihnen  längst  nicht  mehr  gilt, 
wenn's  fertig  ist.  Ich  nehme  jede  nur  mögliche 
Rücksicht.  Denn  lähmte  mich  nicht  die  Furcht,  mit 
ihnen  zusammengespannt  zu  werden,  so  würde  ich 
sie  doch  selbst  überfallen.  Was  mir  nicht  nur  Genuß, 
sondern  auch  Erleichterung  der  satirischen  Mühe 
brächte.  Anbinden  —  mit  jedem !  Aber  nur  an  keinen 
angebunden  werden ! 

Man  muß  dazu  gelangen,  die  erschlagen  zu 
wollen,  die  man  nicht  mehr  verarbeiten  kann,  und 
im  weiteren  Verlauf  sich  von  denen  erschlagen  zu 
lassen,  von  denen  man  nicht  mehr  verstanden  wird. 


Meine  Angriffe  sind  so  unpopulär,  daß  erst  die 
Schurken,  die  da  kommen  werden,  mich  verstehen 
werden. 

Das  Verständnis  meiner  Arbeit  ist  erschwert 
durch   die  Kenntnis    meines  Stoffes.     Daß   das,    was 


33 


da  ist,  erst  erfunden  werden  muß  und  daß  es  sich 
lohnt,  es  zu  erfinden,  sehen  sie  nicht  ein.  Und  auch 
nicht,  daß  ein  Satiriker,  dem  die  Personen  so  vor- 
handen sind,  als  hätte  er  sie  erfunden,  mehr  Kraft 
braucht,  als  der,  der  die  Personen  so  erfindet,  als 
wären  sie  vorhanden. 

Dieser  Wettlauf  mit  den  unaufhörlichen  Anlässen! 
Und  dieser  ewige  Distanzlauf  vom  Anlaß  zur  Kunst ! 
Keuchend  am  Ziel  —  zurückgezerrt  zum  Start,  der 
sich  erreicht  fühlt. 

Man  kennt  meine  Anlässe  persönlich.  Darum 
glaubt  man,  es  sei  mit  meiner  Kunst  nicht  weit  her. 

* 

Ein  alter  Idiotenglaube  räumt  dem  »Satiriker« 
das  Recht  ein,  die  Schwächen  des  Starken  zu  geißeln. 
Nun  ist  aber  die  schwächste  Schwäche  des  Starken 
noch  immer  stärker  als  die  stärkste  Stärke  des 
Schwachen,  und  darum  ist  der  Satiriker,  der  auf 
der  Höhe  jener  Auffassung  steht,  ein  schmieriges 
Subjekt  und  seine  Duldung  ein  rechtes  Stigma  der 
Gesellschaft.  Aus  dem  infamen  Bedürfnis  der  Gesell- 
schaft, die  Persönlichkeiten  als  ihresgleichen  zu 
behandeln  und  durch  deren  Herabsetzung  auf  das 
eigene  Niveau  sich  über  dessen  Niedrigkeit  zu  beruhigen, 
sind  die  Witzblätter  entstanden,  x^lle  Glatzköpfe 
glänzen,  weil  Bismarck  auch  nicht  mehr  als  drei 
Haare  hatte.  Diese  lästige  Bosheit,  aus  der  das 
Witzblatt  dem  Rachebedürfnis  der  Gesellschaft  bei- 
springt, nennt  sie  »harmlos«.   Verabscheut  aber  den 


34 


Positiven,  der  eine  entgötterte  Welt  in  Trümmer 
schlägt.  Ahnt  nicht,  daß  der  Satiriker  einer  ist, 
der  nur  die  Schwächen  der  Schwachen  geißelt  und 
die  der  Starken  nicht  sieht,  weil  es  solche  nicht  gibt, 
und  wenn  es  sie  gäbe,  sie  ehrfürchtig  bedeckte. 
Satire  ist  für  die  Leute  etwas,  was  einer  im  Nebenamt 
betreiben  kann,  zum  Beispiel,  wenn  er  öffentlich 
Offizier  ist  und  heimlich  Humor  hat.  Echter  ist 
wohl,  öffentlich  Satire  zu  üben  und  ein  heimlicher 
Krieger  zu  sein.  Denn  Satire  ist  in  Wahrheit  nur 
mit  einer  Funktion :  mit  der  des  Mannes  vereinbar, 
ja  sie  scheint  sie  geradezu  zu  bedingen.  Daß  der 
Satiriker  ein  Mann  ist,  beweist  allein  schon  die 
satirische  Zudringlichkeit,  deren  er  sich  selbst  zu 
erwehren  hat.  Der  Satiriker  versteht  nämlich  keinen 
Spaß.  Macht  er  aber  das  Insekt,  das  es  auf  seine 
»Schwächen«  abgesehen  hat,  kaputt,  so  wundern 
sich  alle  und  fragen,  ja  warum  denn,  und  sagen, 
daß  einer,  der  doch  selbst  Satiriker  sei,  es  sich  auch 
gefallen  lassen  müsse,  daß  ein  anderer  —  und  so  weiter 
in  infinitum  der  menschlichen  Banalität. 


Polemik  ist  Mut,  Verrat  oder  Feigheit.  Entweder 
es  geht  einer  gegen  die  vielen  los  oder  einer  von 
den  vielen  gegen  die  vielen  oder  einer  von  den 
vielen  gegen  den  einen.  So  mutig  der  Starke  ist, 
der  den  Schwachen,  so  feig  ist  der  Schwache,  der 
den  Starken  angreift.  Denn  der  Schwache  hat 
hinter  sich  eine  Armee  von  Schwachen.  Kehrt  er 
sich,  aufgehetzt  von  einem  mißverstandenen  Vorbild, 
gegen    seinesgleichen,     so    wird     er    zum    Verräter. 


35 


Alle  Freibeuter  der  modernen  Meinung  handeln  so 
schimpflich.  Es  sind  Spießbürger,  die  aus  der  Reihe 
treten. 

Ich  mache  kleine  Leute  durch  meine  Satire  so 
groß,  daß  sie  nachher  würdige  Objekte  für  meine 
Satire  sind  und  mir  kein  Mensch  mehr  einen  Vorwurf 

machen  kann. 

* 

Die  Leute,  die  mir  die  irdischen  Anlässe  vor- 
werfen, dürften  die  Astronomie   für   eine  kosmische 

Angelegenheit  halten. 

* 

Es  gibt  Leute,  die  sich  schlechter  als  es  not- 
wendig ist  benehmen,  damit  mir  übel  werde,  ehe 
ich  sie  angreife.  Doch  sie  geben  sich  einer  falschen 
Hoffnung  hin,  da  sie  zwar  jenes  bewirken,  aber 
d.eses  nicht  verhindern  können.  So  unappetitlich 
kann  gar  keiner  sein,  daß  ich  ihn  nicht  angreife. 


Ich  bin  schon  so  populär,   daß  einer,  der  mich 
beschimpft,  populärer  wird  als  ich. 


Welch  ein  Rinnsal  braust  an  meinem  Riff! 
Und  solche  Brandung  beweist  mich.  Die  Leistung 
könnte  nicht  für  sich  selbst  sprechen  —  dazu  ist 
nicht  die  Zeit.  Erst  im  Lärm  der  andern  macht  sie 
sich  vernehmlich. 


36 


Nichts  ist  scheußlicher  als  mein  Ich  im  Spiegel 
der  Hysterie.  Nichts  ist  gemeiner  als  mein  Stil 
in    der    Hand    des    andern.    Mich    nachahmen    heißt 

mich  strafen. 

* 

Ich  habe  zweierlei  Verehrung  erfahren.  Solche, 
deren  letzter  Schluß  lautet:  Ich  kann  es  nicht, 
er  tuts  für  mich.  Und  solche,  deren  letzter  Schluß 
lautet :  Ich  könnte  es  auch,  er  tuts  an  meiner  Stelle. 


Tadler  und  Lober  sind  unerwünschte  Zeugen. 
Die  am  Ufer  stecken  ihre  Füße  ins  Wasser,  um  zu 
beweisen,  daß  es  schmutzig  sei.  Die  am  Ufer 
nehmen    eine    hohle  Hand    voll,    um    die    Schönheit 

des  Elements  darzutun. 

* 

Vor  jedem  Kunstgenuß  stehe  die  Warnung: 
Das  Publikum  wird  ersucht,  die  ausgestellten  Gegen- 
stände nur  anzusehen,  nicht  zu  begreifen. 


Wenn  der  Leser  den  Autor  fragt,  was  er  sich 
dabei  gedacht  habe,  so  beweist  das  nichts  gegen  den 
Gedanken.  Aber  er  ist  sicher  gut,  wenn  der  Autor 
es  nicht  mehr  weiß  und  den  Leser  fragt,  was  er  sich 
dabei  gedacht  habe. 

Logik  ist  die  Feindin  der  Kunst.  Aber  Kunst 
darf  nicht  die  Feindin  der  Logik  sein.  Logik  muß 
r\e,v  Kunst    einmal   geschmeckt   haben   und    von    ihr 


37 


vollständig  verdaut  worden  sein.  Um  zu  behaupten, 
daß  zweimal  zwei  fünf  ist,  hat  man  zu  wissen,  daß 
zweimal  zwei  vier  ist.  Wer  freilich  nur  dieses  weiß, 
wird  sagen,  jenes  sei  falsch. 


Zwischen  den  Zeilen  kann  höchstens  ein  Sinn 
verborgen  sein.  Zwischen  den  Worten  ist  Platz 
für  mehr:  für  den  Gedanken. 


Daß  die  Sprache  den  Gedanken  nicht  bekleidet, 
sondern  der  Gedanke  in  die  Sprache  hineinwächst, 
das  wird  der  bescheidene  Schöpfer  den  frechen 
Schneidern  nie  weismachen  können. 


Ich    beherrsche    nur    die  Sprache    der   andern. 
Die  meinige  macht  mit  mir,  was  sie  will. 


Wenn  ich  der  Vollendung  nahe  bin,  beginne 
ich  erst  zu  zweifeln  und  da  brauche  ich  dann  einen, 
dem  ich  alle  meine  Fragen  beantworte. 

* 

In  keiner  Sprache  kann  man  sich  so  schwer 
verständigen  wie  in  der  Sprache. 


Jeder  Satz  müßte  so  oft  gelesen  werden,  als 
Korrekturen  sein  Wachstum  von  der  Handschi'ifc 
bis    zur  Lektüre    begleitet    haben.     Doch    um    dem 


38 


Leser  zu  ersparen,  was  ihm  über  Kraft  und 
Glauben  geht,  möchte  ich  jeden  Satz  in  den  zehn 
Verwandlungen  erscheinen  lassen,  damit  das  Ganze 
endlich  immer  noch  weniger  gelesen  als  verstanden 
werde.  Dies  wäre  ein  in  der  Literatur  seltener  Fall. 
Es  könnte  aber  von  einem  Nutzen  sein,  der  den 
Schaden  eines  Jahrhunderts  leicht  kapierter  Meinung 
und  Unterhaltung  aufwiegt. 


Wenn  ich  nicht  weiter  komme,  bin  ich  an  die 
Sprachwand  gestoßen.  Dann  ziehe  ich  mich  mit 
blutigem  Kopf  zurück.     Und  möchte  weiter. 


Meine  Hilflosigkeit  wächst  mit  der  Vollendung 
des  Geschriebenen.  Je  näher  ich  an  das  Wort  heran- 
trete, desto  mehr  blutet  es  wie  der  Leichnam  vor 
dem  Mörder.  Dieses  Bahrgericht  erspare  ich  mir  nicht, 
und  bedecke  die  Ränder  einer  Korrektur,  der  fünf- 
zehn sorglose  voraufgegangen  sein  mögen,  mit 
Zeichen,  die  wie  Wundmale  sind.  Ich  habe  immer 
mindestens  zwei  Wege,  und  es  wäre  am  besten, 
beide  und  alle  zu  gehen.  Ich  werde  es  wohl  auch 
noch  über  mich  bringen,  den  Satz  in  verschiedenen 
Fassungen  hinzusetzen,  zum  Nutzen  des  Lesers, 
der  so  gezwungen  wird,  einen  Satz  einige  Male 
zu  lesen,  und  zur  weitesten  Entfernung  von  jenen, 
die  nur  nach  der  Meinung  schnappen.  Bis  dahin 
muß  ich  die  Verantwortung  für  den  besten  von 
allen  guten  Wegen  immer  dem  überlassen,  den  ich 
frage.     Seine   mechanische  Entscheidung   würde  mir 


39 


genügen,  aber  da  ich  ihm  aus  ähnlicher  Lage 
viel  besser  helfen  könnte  als  er  mir,  so  mache  ichs 
uns  nicht  so  einfach  und  stürze  ihn  so  tief  in  den 
Abgrund  meiner  Zweifel,  daß  ich  an  seinem  Zustand 
sicher  werde,  ihn  rette  und  so  auch  mich. 


Kein  Mensch,  der  eine  meiner  gedruckten 
Arbeiten  absucht,  wird  eine  Naht  erkennen.  Und 
doch  war  alles  hundertmal  aufgerissen,  und  aus 
einer  Seite,  die  in  Druck  ging,  mußten  sieben  werden. 
Am  Ende,  wenns  ein  Ende  gibt,  ist  die  Gliederung 
so  einleuchtend,  daß  man  die  Klitterung  nicht  sieht 
und  an  sie  nicht  glaubt.  Schreiber,  die  ohnedies 
alles  im 'Kopf  haben  und  beim  Schreiben  nur  mit 
der  Hand  beteiligt  sind,  sind  ruchlose  Manipulanten, 
mit  denen  ich  nichts  außer  dem  Alphabet  gemeinsam 
habe,  und  auch  das  nur  widerstrebend.  Sie  essen 
nicht,  sondern  sie  halten  schon  weiter,  weil  sie 
ohnedies  alles  im  Bauch  haben. 


Der  Journalist  hat  das  Wort  bei  der  Hand. 
Ich  bin  oft  in  Verlegenheit.  Hätt'  ich  nur  einen 
Journahsten  bei  der  Hand!  Ich  nahm'  ihm  das 
Wort  aus  der  Hand  und  gab'  ihm  dafür  einen 
Schlag  auf  die  Hand. 

* 

Und  pflanzt'  es  wieder  am  stillen  Ort,  nun 
zweigt  es  immer  und  blüht  so  fort. 


40 


Er  wollt'  es  brechen,  da  sagt'  es  fein:  Soll  ich 
zum  Welken  gebrochen  sein?  Ich  grub's  mit  allen 
den  Würzlein  aus  .  .  .  Aber  selbst  verwelkt,  läßt  sich 
das  Wort  noch  zum  Fortblühen  bringen. 


Das    alte  Wort    gehört    allen.     Keiner  kann  es 
nehmen. 

Am  Ursprung  gibts  kein  Plagiat. 


Die  Sprache  hat  in  Wahrheit  der,  der  nicht 
das  Wort,  sondern  nur  den  Schimmer  hat,  aus  dem 
er  das  Wort  ersehnt,  erlöst  und  empfängt. 


Dem  von  der  Natur  kultivierten  Menschen  wird 
das  Spracherlebnis  umso  näher  gerückt  sein,  je  weiter 
er  von  der  Fertigkeit  lebt,  sich  der  Sprache  als  eines 
Verkehrsmittels  zu  bedienen.  Schlechtes  Sprechen 
auf  solcher  menschlichen  Höhe  läßt  sprachschöpferi- 
schen Kräften  Raum.  Das  Kind  und  die  natürliche 
Frau  teilen  mit  dem  Genie  den  Vorzug,  sich  vom 
Talent  in  der  Fähigkeit  des  Ausdrucks  und  der 
Verständigung  beschämen  zu  lassen.  Eine  Frau,  die 
auf  eine  so  außerordentliche  Art  schlecht  deutsch 
sprach,  bewies  die  reinste  Anschauung  der  Wort- 
inhalte, indem  sie  etwa:  Zweige,  die  abzuschneiden 
waren,  »abzweigen«  wollte,  einen  Brief,  den  man  ihr 
aufsetzen  und  niederschreiben  sollte,  »niedersetzen« 
ließ,  eine  Angelegenheit,    die    verschlechtert    wurde 


41 


und  nunmehr  Ärger  schuf,  »verärgert«  fand,  und 
eine  solche,  hmter  der  man  stehen  müsse,  um  sie  zu 
betreiben,  zu  »hintertreiben«  empfahl.  Sie  erkannte 
den  Zweck  des  Schöntuns  als  »Schmeichelleckerei« 
und  sagte  von  einem  Advokaten,  der  nur  mit 
geringern  Streitsachen  betraut  war,  daß  er  »dazu 
da  sei,  die  kleinen  Metzeleien  auszuraufen«.  Am 
Automobil  wünschte  sie  einen  »Gleitrutsch«  ange'- 
bracht  und  die  Wahrnehmung,  daß  bei  einer  Fahrt 
eine  Wegwende,  die  nach  dem  Ort  Bremgarten  wies, 
überfahren  sei,  ließ  sie  den  Namen  und  die 
Nötigung,  zurückzufahren,  schnell  in  den  Ausruf: 
»Halt,  Bremsgarten!«  zusammenpacken.  Kinder  er- 
fassen noch  diese  wortbildnerische  Gelegenheit, 
erleben  die  schöne  Sprachnähe  undSprechentferntheit ; 
wenn  sie  nicht  zufällig  in  Berlin  geboren  sind,  wo 
die  Jugend  schnell  fertig  ist  mit  dem  Wort,  nachdem 
sie  wie  dieses  als  Fertigware  zur  Welt  gekommen  ist. 

* 

Wenn  die  Sprache  nur  ein  Gewand  ist,  so  wird 
sie  schäbig  oder  unmodern.  Bis  dahin  mag  man 
unter  Leute  gehen.  Ein  Smoking  macht  nicht  unsterb- 
lich, aber  behebt.  Doch  was  haben  nur  neuestens 
die  jungen  Herren  an  ?  Eine  Sprache,  die  aus  lauter 
Epitheta  besteht!  Ein  Gewand  ohne  Stoff,  aber  ganz 

aus  Knöpfen! 

* 

Das  Hauptwort  ist  der  Kopf,  das  Zeitwort  ist 
der  Fuß,  das  Beiwort  sind  die  Hände.  Die  Journalisten 
schreiben  mit  den  Händen. 


42 


Der  Erzähler  unterscheidet  sich  vom  Politiker 
nur  dadurch,  daß  er  Zeit  hat.  Gemeinsam  ist  beiden, 
daß  die  Zeit  sie  hat. 

Autoren,  die  es  zuerst  erleben  und  dann 
beschreiben,  sind  Berichterstatter,  auf  die  man  sich 
verlassen  kann.  Dichter  erschreiben  es  nur. 


Ich  hab's  noch  nicht  versucht,  aber  ich  glaube, 
ich  müßte  mir  erst  zureden  und  dann  fest  die  Augen 
schließen,  um  einen  Roman  zu  lesen. 


Die  Phrase  ist  manchmal  doch  einer  gewissen 
Plastik  fähig.  Von  einem  Buch,  das  als  Reiselektüre 
empfohlen  wurde,  hieß  es :  »Und  wer  das  Buch  zu 
lesen  beginnt,  liest  es  in  einem  Zuge  durch«. 


Den  Werken  des  Dichters  Seh.  wird  ein 
längeres  Leben  vorausgesagt  als  den  meinen.  Das 
mag  im  allgemeinen  zutreffen.  Nur  die  eine  Schrift, 
in  der  ich  zum  Ableben  der  Werke  des  Dichters  Seh. 
beigetragen  habe  und  der  sie  deshalb  ein  Fortleben 
verdanken,  wird  sich  wohl  so  lange  am  Leben  erhalten 
wie  diese  Werke  und  sie  hierauf  überleben,  was 
dann  vielleicht  auch  meinen  andern  Schriften  zugute 
kommen  wird,  die  am  Ende  den  Werken  des 
Dichters  Seh.  ein  längeres  Leben  verdanken  könnten, 


43 


als  diesen  selbst  vorausgesagt  wurde.  Ich  glaube 
also,  daß  wir  es  uns  ganz  gut  einteilen  und  keinen 
Richter  nicht  brauchen  werden. 


Ein  X.  sagte  geringschätzig,  daß  von  mir  nicht 
mehr  bleiben  werde  als  ein  paar  gute  Witze.  Das 
wäre  immerhin  etwas,  aber  leider  bleibt  auch  das 
nicht,  weil  mir  die  paar  guten  Witze  längst  gestohlen 
wurden  und  zwar  vom  X. 


Ein  Künstler,  der  Erfolg  hat,  muß  den  Kopf 
nicht  hängen  lassen.  Er  soll  erst  dann  an  sich 
verzweifeln,  wenn  ein  Schwindler  durchfällt. 


Nicht  jeder,  der  kein  Künstler  ist,  muß  deshalb 
auch  schon  Erfolg  haben.  Man  kann  auch  so 
zwischen  zwei  Stühlen  sitzen,  daß  man  von  dem 
einen  hinuntergestoßen  und  zu  dem  andern  nicht 
hinaufgelassen  wurde. 

* 

In  mancher  Beziehung  war  die  Ähnlichkeit 
Bahrs  mit  Goethe  auffallend.  Wenn  man  zum  Beispiel 
geglaubt  hat,  er  sei  noch  in  Linz,  war  er  schon 
längst  in  Urfahr. 

* 

Die  eigenen  Lorbeern  ließen  Herrn  v.  H.  nicht 
schlafen,  aber  auf  fremden  ruhte  er  gern  aus. 


44 


Ich  weiß  nicht,  wie  er  zur  Welt  kam.  Wenn 
durch  Geburt,  so  muß  eine  Zange  geholfen  haben,  und 
wenn  sie  half,  so  war  sie  aus  Amethyst.  Zur  Amme 
fand  er  erst  Zutrauen,  als  er  sah,  sie  sei  wie 
Alabaster. 

Zwei  Sorten  hat  der  deutsche  Geist  ausgespien : 
die  Tänzerischen  und  die  Nachdenklichen.  Für  diese 
ist  mehr  Heine,  für  jene  mehr  Nietzsche  verantwort- 
lich. Man  wird  auch  im  zweiten  Fall  dem  Vorläufer 

dahinterkommen. 

* 

Die  Literatur   von  heute  sind  Rezepte,   die   die 

Kranken  schreiben. 

* 

Die  meisten  Kritiker  schreiben  Kritiken,  die  von 
den  Autoren  sind,  über  die  sie  die  Kritiken  schreiben. 
Das  wäre  noch  nicht  das  Schlimmste.  Aber  die 
meisten  Autoren  schreiben  dann  auch  die  Werke, 
ilie  von  den  Kj'itikern  sind,  die  über  sie  Kritiken 
schreiben. 

Der  Scheinmensch  kann  alles,  er  kann  sündigen 
und  er  kann  auch  bereuen.  Aber  er  wird  durch  die 
Sünde  nicht  schlechter  und  durch  die  Reue  nicht 
besser. 

* 

Der  Schmutz  verlieh  ihm  noch  Haltbarkeit. 
Was  blieb  von  ihm,  da  er  sich  reinwusch  ? 
Ein  Schwamm. 


45 


Manche   Talente    bewahren    ihre   Frühreife    bis 

ins  späte  Alter. 

* 

Ein  Gedicht    ist    so   lange   gut,    bis   man  weiß, 

von  wem  es  ist. 

* 

Dieser  Autor  ist  so  tief,  daß  ich  als  Leser 
lange  gebraucht  habe,  um  ihm  auf  die  Oberfläche 
zu  kommen. 

Die  Hemmungslosigkeit  eines  Peter  Altenberg 
schließt  mehr  Menschlichkeit  auf,  als  zehn  gebundene 
Jahrgänge  der  Wiener  Literatur  zurückhalten. 

Es  wird  jetzt  viel  über  Ekstase  gesprochen, 
von  solchen,  die  eben  noch  um  die  Vorteile  ihres 
schäbigen  Bewußtseins  Bescheid  wissen.  Ich  war 
aber  dabei,  als  Peter  Altenberg,  dessen  hundert- 
faches Leben  sein  einfaches  Werk  ersäuft,  vor  einer 
deutsch  lallenden  Tänzerin  ausrief:  »Und  wie  sie 
deutsch  spricht !  Alleredelste  ! !  Goethe  ist  ein  Tier 
gegen  Dich  ! ! !«  Goethe  war  einverstanden.  Gott  selbst 
stimmte  zu.  Und  wenn  sich  die  lebende  deutsche 
Literatur  von  der  Kraft  dieses  Augenblicks  bedienen 
könnte,  so  würden  Werke  hervorkommen,  die  noch 
besser  wären  als  das  Deutsch  der  kleinen  Tänzerin. 
Aber  da  sie  alle  als  Bettler  neben  diesem  Bettler 
stehen,  der  durch  alle  zeitliche  Erniedrigung  auf- 
steigen wird  in  das  Reich  des  Geistes  und  der  Gnade, 
so  ist  jedes  Tier  ein  Goethe  gegen  sie. 


46 


Ein  Literatlirprofessor  meinte,  daß  meine 
Aphorismen  nur  die  mechanische  Umdrehung  von 
Redensarten  seien.  Das  ist  ganz  zutreffend.  Nur  hat 
er  den  Gedanken  nicht  erfaßt,  der  die  Mechanik 
treibt:  daß  bei  der  mechanischen  Umdrehung  der 
Redensarten  mehr  herauskommt  als  bei  der  mecha- 
nischen Wiederholung.  Das  ist  das  Geheimnis  des 
Heutzutag,  und  man  muß  es  erlebt  haben.  Dabei 
unterscheidet  sich  aber  die  Redensart  noch  immer  zu 
ilirem  Vorteil  von  einem  Literaturprofessor,  bei  dem 
nichts  herauskommt,  wenn  ich  ihn  auf  sich  beruhen 
lasse,  und  wieder  nichts,  wenn  ich  ihn  mechanisch 
umdrehe. 


Der  Dichter  schreibt  Sätze,  die  kein  schöpfe- 
rischer Schauspieler  sprechen  kann,  und  ein  schöpfe- 
rischer Schauspieler  spricht  Sätze,  die  kein  Dichter 
schreiben  konnte.  Die  Wortkunst  wendet  sich  an 
Einen,  an  den  Mann,  an  den  idealen  Leser.  Die 
Sprechkunst  an  viele,  an  das  Weib,  an  die  realen 
Hörer.  Zwei  Wirkungsströme,  die  einander  aus- 
schalten. Der  jahrhundertalte  Wahnsinn,  daß  der 
Dichter  auf  die  Bühne  gehöre,  bleibt  dennoch  auf 
dem  Repertoire  und  wird  jeden  Abend  vor  ausver- 
kauftem Haus  ad  absurdum  geführt. 


Ich  weiß  nicht,  ob  der  Dichter  etwas  geträumt 
hat ;  aber  von  der  Wirkung,  die  der  Schauspieler 
mit  der  Umbiegung  seines  Wortes  erzielen  kann,  hat 
er    sich   gewiß    nichts    träumen    lassen.    Und    solche 


47 


Leute  sind  so  schamlos,   das  Geld  einzustecken,  das 
andere  gegen  sie  verdient  haben. 


Wenn  der  Autor,  ein  ungeschminkter  Zivilist, 
sich  an  der  Hand  des  Schauspielers  verbeugen  kommt, 
so    wird    er    zum  Akteur    einer  Komödie,    die    auch 

nicht  von  ihm  ist. 

* 

Daß  sich  ein  Autor  verbeugt,  ist  nicht  Er- 
niedrigung, sondern  Überhebung.  Was  will  das  Bleich- 
gesicht nach  Schluß  auf  der  Bühne?  Aber  vorher 
hatte  er  dort  noch  weniger  zu  tun,  und  es  ist  ein 
Betrug    an  den  Schauspielern,   daß    man  jenem    die 

Tantiemen  zahlt. 

* 

Die  Viechsarbeit,  neunhundert  Menschen,  die 
aus  dem  Bureau  kommen,  zur  Empfänglichkeit  für 
das  Wort  zusammenzuschließen,  hat  nicht  das  Wort, 
sondern  die  Musik  zu  besorgen.  Theaterdirektoren, 
die    das   Orchester    abschaffen    wollen,    sollen    sich 

selber  hinaufstellen. 

* 

Es  gibt  jetzt  literarisch  beflissene  Theater- 
direktoren, die  den  Ehrgeiz  haben,  intelligente  Leute 
ins  Theater  zu  bekommen.  Um  die  zu  einer  Wh-kung 
zusammenzuschließen,  müßte  schon  den  ganzen 
Abend  das  Orchester  spielen.  Und  dann  noch  die 
ganze  Nacht  und  überhaupt  das  ganze  Leben 
hindurch ! 


48 


Wenn  sich  einer  von  den  neunhundert  schneuzt, 

setzt    der  Wirkungsstrom    aus.    Und    die   Ästhetiker 

glauben  dennoch,  daß  ein  Shakespearescher  Gedanke 

hinüberkommt. 

* 

Die  deutschen  Bühnen  sollten  bei  den 
Naturalisten  bleiben.  Mit  dem  in  Deutschland 
naturalisierten  Shakespeare  ist's  nichts. 


Das  Verhältnis  der  Bühne  zum  Dichter  ist,  daß 
sie  eben  noch  seine  szenische  Bemerkung  realisieren 

kann. 

* 

Ich  bin  vielleicht  der  erste  Fall  eines  Schreibers, 
der  sein  Schreiben  zugleich  schauspielerisch  erlebt. 
Würde  ich  darum  einem  andern  Schauspieler  meinen 
Text  anvertrauen?  Nestroys  Geistigkeit  ist  unbühnen- 
haft.  Der  Schauspieler  Nestroy  wirkte,  weil  er  etwas, 
was  kein  Hörer  verstanden  hätte,  so  schnell  herunter- 
sprach, daß  es  kein  Hörer  verstand. 


Im  Halbschlaf  erledige  ich  viel  Arbeit.  Eine 
Phrase  erscheint,  setzt  sich  auf  die  Bettkante  und 
spricht  mir  zu.  Die  Situation,  die  sie  herbeigerufen 
hat,  ist  die  denkbar  unpassendste.  Einer  etwa  speit 
und  sagt  hinterher:  »Kommentar  überflüssig«.  Wenn 
Gesichter  im  Raum  sind,  weiß  ich,  daß  ich  schlafen 
werde.  Vorher  treiben  sie  Allotria.  Nichts  ist  ihnen 
heilig.  Sie  sprechen  und  gestikulieren  in  einer  Art, 
daß    mir    bald    Hören    und    Sehen    vergehen    wird. 


49 


Einer  hat  Lippen,  von  denen  ihm  beim  Sprechen 
die  Bildung  herunterrinnt.  Und  so  etwas  wagt 
Goethe  zu  zitieren.  Halb  erinnere  ich  mich,  womit 
ich  mich  am  Schreibtisch  beschäftigt  habe.  Halb  an 
ein  Abenteuer  in  Czernowitz,  wo  einer  beim  Karten- 
verkauf gut  abschnitt.  Den  Widerstand  der  Zeit  gegen 
die  neue  Lyrik  begriff  ich  nunmehr  in  dem  Wort,  das 
die  Stimme  eines  alten  ehrlichen  Juden,  dem  man 
nichts  beweisen  kann,  neben  mir  sagte :  »Ich  hab 
gern  über  allen  Gipfeln  Ruh«. 


0.  K.  malt  bis  ins  dritte  und  vierte  Geschlecht. 
Er  macht  Fleisch  zum  Gallert,  er  verhilft  dort,  wo 
Gemüt    ist,    dem  Schlangendreck    zu  seinem  Rechte. 


Ein  Bild,  das  sich  noch  vom  Betrachter 
getroffen  fühlt. 

Das  Futurum  der  Futuristen  ist  ein  Imperfektum 
exaktum. 

Der  Wissenschaftler  bringt  nichts  neues.  Er 
erfindet  nur,  was  gebraucht  wird.  Der  Künstler 
entdeckt,     was     nicht     gebraucht    wird.     Er    bringt 

das  Neue. 

* 

Der  Ästhet  verhält  sich  zur  Schönheit  wie  der 
Pornograph  zur  Liebe  und  wie  der  Politiker  zum 
Leben. 


50 


Der  Ästhet  ist  der  rechte  Realpolitiker  im 
Reich  der  Schönheit. 

Die  meisten  Autoren  haben  keine  andere  Qualität 
als  der  Leser :  Geschmack.  Aber  der  hat  den  bessern, 
weil  er  nicht  schreibt,  und  den  besten,  wenn  er 
nicht  liest. 

Die  Bildungslüge  hat  die  Entfernung  des  Publi- 
kums von  der  Wortkunst  noch  größer  gemacht  als 
die  von  den  anderen  Künsten,  weil  es  zwar  nicht 
die  Farben,  die  einer  malt,  klecksen  zu  können, 
nicht  die  Töne,  die  einer  komponiert,  pfeifen  zu 
können,  wohl  aber  die  Sprache,  die  einer  schreibt, 
sprechen  zu  können  behauptet.  Und  doch  könnte 
es,  und  eben  darum,  noch  eher  klecksen  und 
pfeifen.  Man  lebt  so  entfernt  von  der  Sprache  und 
glaubt,  weil  man  sprechen  kann,  sprechen  zu 
können.  Der  Respekt  vor  ihr  wäre  größer,  wenn's 
auch  eine  Umgangsmalerei  und  eine  Umgangsmusik 
gäbe,  so  daß  die  Leute  einander  mit  Pfeifen  oder 
Klecksen  erzählen  könnten,  was  sie  heute  gegessen 
haben. 

* 

Solange  die  Malerei  nicht  den  Leuten  was  malt 
und  die  Musik  ihnen  nicht  heimgeigt,  halte  ichs  mit 
der  Literatur;  da  kann  man  mit  ihnen  deutsch  reden. 


Die  liberale  Presse  hausiert  jetzt  mit   neu  auf- 
gefundenen Bemerkungen  Lichtenbergs  :    gegen  den 


51 


Katholizismus  und:  »wenn  noch  ein  Messias  geboren 
würde,  so  könnte  er  kaum  so  viel  Gutes  stiften,  als 
•die   Buchdruckerei«.     Um    sich    aber    mit   Fug    auf 
Lichtenberg  zu  berufen,  wäre  der  Beweis  nötig,  daß 
er  auch  nach  125  Jahren  noch  derselben  Ansicht  ist. 
Wäre  er's,  er  wäre  nicht  derselbe  Mann.  Den  wahren 
Segen  der  Buchdruckerei  hat  er  nicht  erlebt.    Denn 
er    hat    nicht   nur    nicht   die  Presse  erlebt,    sondern 
nicht    einmal    eine  Drucklegung    seiner  Tagebücher, 
deren  Tiefe    dort,    wo    sie    unverständlich    ist,    auf 
ihrem     Grund     Druckfehler     hat,     die     die     literar- 
historischen Tölpel  in  Ehren  halten,  weitergeben  und 
fortpflanzen.     Darüber  ließen  sich  ergötzliche  Dinge 
erzählen,   wenn   nicht   die  Wehrlosigkeit  des  Geistes 
vor  dem  Druck  eine  so  tragische  Angelegenheit  wäre 
wie  die  Ahnungslosigkeit  einer  Bildung,    welche  die 
»Freigabe«  ihrer  Klassiker  an  das  Geschäft  der  Nach- 
drucker,   diese  Vogelfreigabe  des  Wortes,   als   einen 
Triumph  des  Fortschritts  bejubelt.  Was  muß  aus  den 
Gedanken  Lichtenbergs  geworden  sein,   wenn  selbst 
Eigennamen,  die  er  niederschreibt,  verhunzt  wurden, 
und  in  Stellen,  deren  Nachprüfung  den  Herausgebern 
nicht  nur  geboten,  sondern  auch  möglich  war.  Keines 
dieser  Subjekte   aber   hat   sich   auch   nur  die  Mühe 
genommen,  die  von  Lichtenberg  gepriesene  Stelle  aus 
Jean  Paul  zu  lesen.  »Haben  Sie  wohl  die  Stelle  in  dem 
,Kampaner  Tal'  gelesen,  wo  Chiaur  in  einem  Luftball 
aufsteigt  ?«     Nein,    sie    haben    es    nicht  getan ;    sie, 
Lichtenbergs  bezahlte  Herausgeber,  haben,  was  jeder 
seiner  Leser  zu  tun  verpflichtet  ist,  unterlassen  —  denn 
sonst  hätten  sie  eine  solche  Stelle  nicht  gefunden.  Wie 
das?  Steigt  Chiaur  nicht  auf?  Im  ganzen  Buch  nicht. 


52 


Wohl  aber  eine  Gione.  Die  sonderbare  Tatsache, 
daß  Lichtenberg  einen  Chiaur  und  Jean  Paul  eine 
Gione  aufsteigen  läßt,  gestattet  vielleicht  die  Rekon- 
struierung der  Handschrift  Lichtenbergs,  die  ich 
nicht  gesehen  habe : 


Es  läßt  die  Möglichkeit  zu,  daß  jedes  zweite  Wort 
verdruckt  wurde.  Denn  die  Herausgeber  dürften  dort, 
wo  sie  nur  auf  die  Handschrift  Lichtenbergs  und 
jeweils  auf  die  vorhergehende  fehlerhafte  Ausgabe 
angewiesen  waren,  sich  kaum  findiger  gezeigt 
haben  als  dort,  wo  ihnen  ein  Vergleich  mit  dem 
Jean  Paul'schen  Druck  möglich  war.  Und  dafür, 
daß  dieselbe  Schande,  nur  immer  in  anderer  Ein- 
teilung und  mit  anderem  Umschlag,  wiederholt  wird, 
zahlen  Verleger  Honorare,  die  ein  Jahrgehalt  der 
Lichtenbergschen  Professur  übersteigen  dürften. 
Nein,  die  Erwartung  des  Messias  dürfte  —  gegen  und 
für  Lichtenberg  —  dem  Glauben  an  die  Buchdruckerei 
noch  immer  vorzuziehen  sein.  Kaum  ein  Autor  ist 
gTÖbHcher  mißhandelt  worden ;  nicht  nur  durch  eine 
wahllose  Zitierung,  die  den  aus  Vernunftgläubigkeit, 
Laune  oder  Andacht  entstandenen  Notizen  den  gleichen 
Bekenntniswert  beimißt.  Man  könnte,  wenn  eine  von 
Natur  meineidige  Presse  Lichtenberg  zum  Eidhelfer 
beruft,  ihr  auch  mit  dem  Gegenteil  dienen,  und  vor 
allem  mit  jenem  Gegenteil,  zu  dem  eine  Menschlichkeit 
seiner  Art  vor  der  heutigen  Ordnung  der  Dinge 
ausschließlich     fähig     wäre.     Der    Liberalismus     ist, 


I 


53 


wenn  alle  Stricke  reißen,  imstande,  sich  auf  Gott 
zu  berufen,  der  einmal  gesehen  haben  soll,  daß  es 
gut  war.  Aber  heute,  nach  5673  Jahren,  ist  er  gewiß 
auch  nicht  mehr  derselben  Ansicht.  Wäre  er's, 
er  wäre  nicht  derselbe  Gott. 


In  mir  verbindet  sich  eine  gi'oße  Fähigkeit  zur 
Psychologie  mit  der  größeren,  über  einen  psycho- 
logischen Bestand  hinwegzusehen. 

* 

Künstler  ist  nur  einer,  der  aus  der  Lösung  ein 

Rätsel  machen  kann. 

* 

Die  Sprache  tastet  wie  die  Liebe  im  Dunkel 
der  Welt  einem  verlorenen  Urbild  nach.  Man  macht 
nicht,  man  ahnt  ein  Gedicht. 

* 

Mir  scheint  alle  Kunst  nur  Kunst  für  heute  zu 
sein,  wenn  sie  nicht  Kunst  gegen  heute  ist.  Sie  ver- 
treibt die  Zeit  —  sie  vertreibt  sie  nicht!  Der  wahre  Feind 
der  Zeit  ist  die  Sprache.  Sie  lebt  in  unmittelbarer 
Verständigung  mit  dem  durch  die  Zeit  empörten  Geist. 
Hier  kann  jene  Verschwörung  Zustandekommen,  die 
Kunst  ist.  Die  Gefälligkeit,  die  von  der  Sprache  die 
Worte  stiehlt,  lebt  in  der  Gnade  der  Zeit.  Kunst 
kann  nur  von  der  Absage  kommen.  Nur  vom  Aufschrei, 
nicht  von  der  Beruhigung.  Die  Kunst,  zum  Tröste 
gerufen,  verläßt  mit  einem  Fluch  das  Sterbezimmer 
der  Menschheit.  Sie  geht  durch  Hoffnungsloses  zur 
Erfüllung. 


ni 
Zeit 


57 


Die  Ärzte  wissen  noch  nicht,  ob  es  humaner- 
sei,  die  Leiden  des  sterbenden  Menschen  zu  ver- 
längern oder  zu  verkürzen.  Ich  aber  weiß,  daß  es 
am  humansten  ist,  die  Leiden  der  sterbenden 
Menschheit  zu  verkürzen.  Eines  der  besten  Gifte 
ist  das  Gefühl  der  geschlechtlichen  Unsicherheit, 
Es  ist  vom  Stoff  der  Krankheit  bezogen.  An  welcher 
Krankheit  denn  leiden  sie?  Daß  sie  sich  ihrer 
Gesundheit  schämen.  Die  Menschheit  stirbt  heimlich 
an  dem,  wovon  zu  leben  sie  sich  verbietet : 
am  Geschlecht.  Hier  läßt  sich  nachhelfen,  indem 
man  an  das,  was  sie  wie  einen  Diebstahl  ausführen 
und  hinterdrein  Liebe  nennen,  noch  etliche  Zentner 
jener  Vorstellung  einer  Zeugenschaft  hängt,  die  das 
Vergnügen  versalzt.  Ein  Alpdruck,  schwerer  als  das 
Gewicht  der  Sünde.  Und  dies  Gift  wird  die  Männer 
umso  gewisser  bleich  machen,  als  es  für  die  Kon- 
kubinen ein  Verschönerungsmittel  ist.  Es  geht  nicht 
länger  an,  den  Frieden  denaturierter  Bürger  ungestört 
zu  lassen,  und  tausend  Casanovas  sind  Stümper 
neben  dem  Gespenst,  das  ein  Gedanke  hinter  die 
Gardine  schickt.  Ist  denn  solche  Vorstellung  schlimmer 
als  die,  mit  der  der  Anblick  der  Zufriedenheit 
unsereinen  peinigt?  Soll  es  wirklich  noch  Augen- 
blicke geben  dürfen,  in  denen  ein  Wucherer 
unbewußt   wird?     Dem  Verstände    der  Gesellschaft, 


58 


die  das  heutige  Leben  innehat,  läßt  sich  mit  nichts 
mehr  beikommen.  Will  man  die  Heutigen  treffen, 
so  muß  man  warten,  bis  sie  unzurechnuugsfähig 
sind.  Nicht  im  Rausch:  denn  was  hätten  sie  dabei 
zu  fürchten,  und  wüßten  sie  dort  Gefahr,  so  würden 
sie  enthaltsam.  Nicht  im  Schlaf:  denn  nicht  im 
Traum  fällt  es  ihnen  ein,  unzurechnungsfähig  zu  sein. 
Aber  manchmal  liegen  sie  im  Bett  und  wissen  von 
nichts.     Da  sollen  sie  es  erfahren ! 


An  die  Achtzigerjahre  mit  einem  kulturellen 
Heimweh  sich  erinnern,  is-t  ein  Stigma  in  den 
Augen  der  besser  entwickelten  Jugend.  Und  doch 
könnte  man  mit  Recht  die  Natur  selbst  als  Zeugin 
gegen  die  Entartung  ins  zwanzigste  Jahrhundert 
anrufen  und  sagen,  daß  etwa  der  Frühling  in  den 
Achtzigerjahren  noch  eine  Jahreszeit  war  und  nicht 
bloß  ein  Tag,  den  Sonnenglut  erschlug.  Denn  man 
kann  sich  auch  an  einen  Frühling  erinnern,  wie  an 
alles,  was  die  Menschheit  nicht  mehr  hat. 


Die  Verluste  an  Sinnlichkeit  und  Phantasie, 
die  Ausfallserscheinungen  der  Menschheit,  sind 
kinodramatisch. 

* 

Die  Technik  ist  ein  Dienstbote,  der  nebenan 
so  geräuschvoll  Ordnung  macht,  daß  die  Herrschaft 
nicht  Musik  machen  kann. 


59 


In  keiner  Zeit  war  das  Bedürfnis  so  elementar 
wie  in  der  heutigen,  sich  für  das  Genie  zu  ent- 
schädigen. 

* 

Das  sind  die  wahren  Wunder  der  Technik, 
daß    sie    das,    wofür    sie    entschädigt,    auch   ehrlich 

kaputt  macht. 

* 

Was  an  einem  einzigen  Tage  der  letzten 
fünfzig  Jahre  gedruckt  wurde,  hat  mehr  Macht 
gegen     die     Kultur     gehabt     als    sämtliche     Werke 

Goethes  für  eine  solche. 

•     * 

Schwarz  auf  weiß:   so  hat  man  jetzt  die  Lüge. 
* 

Ich    habe   eine    schwer    leserliche    Handschrift. 

Der    Setzer    muß    mich    erraten.    Einer,    der's    traf, 

setzte  anstatt  »das  ist  ihnen  heilig« :    »das  ist  ihnen 

Zeitung«. 

* 

Schmerzlichstes  Abbild  der  Zivilisation:  ein 
Löwe,  der  die  Gefangenschaft  gewohnt  war  und, 
der   Wildnis   zurückgegeben,    dort  auf  und  ab  geht 

wie  vor  Gitterstäben. 

* 

Kultur    ist    die    Pflege    der    Vernachlässigung 

einer  Naturanlage. 

* 

Es  gibt  keine  Dankbarkeit  vor  der  Technik. 
Es  hat  erfunden  zu  werden. 


60 


Wenn  ich  nur  ein  Telephon  habe,  der  Wald 
wird  sich  finden!  Ohne  Telephon  kann  man  nur 
deshalb  nicht  leben,  weil  es  das  Telephon  gibt. 
Ohne  Wald  wird  man  nicht  leben  können,  auch 
wenn's  längst  keinen  Wald  mehr  geben  wird.  Dies 
gilt  für  die  Menschheit.  Wer  über  ihren  Idealen 
lebt,  wird  doch  ein  Sklave  ihrer  Bedürfnisse  sein 
und  leichter  Ersatz  für  den  Wald  als  für  das 
Telephon  finden.  Die  Phantasie  hat  ein  Surrogat 
an  der  Technik  gefunden;  die  Technik  ist  ein 
Surrogat,  für  das  es  keines  gibt.  Die  Andern,  die 
nicht  den  Wald,  wohl  aber  das  Telephon  in  sich 
haben,  werden  daran  verarmen,  daß  es  außen  keine 
Wälder  gibt.  Die  gibt  es  nicht,  weil  es  innen  und 
außen  Telephone  gibt.  Aber  weil  es  sie  gibt,  kann 
man  ohne  sie  nicht  leben.  Denn  die  technischen 
Dinge  hängen  mit  dem  Geist  so  zusammen,  daß 
eine  Leere  entsteht,  weil  sie  da  sind,  und  ein 
Vakuum,  wenn  sie  nicht  da  sind.  Was  sich  innerhalb 
de!'  Zeit  begibt,  ist  das  unentbehrliche  Nichts. 

* 

Adolf  Loos  und  ich,  er  wörtlich,  ich  sprachlich, 
haben  nichts  weiter  getan  als  gezeigt,  daß  zwischen 
einer  Urne  und  einem  Nachttopf  ein  Unterschied  ist 
und  daß  in  diesem  Unterschied  erst  die  Kultur 
Spielraum  hat.  Die  andern  aber,  die  Positiven,  teilen 
sich  in  solche,  die  die  Urne  als  Nachttopf,  und  die 
den  Nachttopf  als  Urne  gebrauchen. 

* 

Kein  Zweifel,  der  Lazzaroni  steht  über  dem 
Venvaltungsrat.    Jener   stiehlt    ehrlich,    was    er  zum 


61 


Leben   braucht,    dann   pfeift    er    sich    was.     Solches 

Betragen     liegt      dem     Verwaltungsrat     fern.      Der 

Lazzaroni  stört  mich  durch  sein  Pfeifen.  Aber  meine 

Nervosität  hat  der  Verwaltungsrat  durch  sein  Dasein 

verschuldet. 

* 

Frische  muß  erfrischen.  Es  gibt  eine  Frische, 
die  ermüdet.  Es  gibt  muntere  Seemannsnaturelle, 
die  immer  dann  wie  eine  Brise  hereinwehen,  wenn 
man  gerade  das  Denken  der  Abhärtung  vorzieht, 
und  die  einem,  der  gern  schweigt,  ein  Leck  in  den 
Bauch  reden.  Iimner  wollen  sie  einen  untertauchen. 
Allen  tuts  nicht  gut.  Dem  Rheumatiker  nicht  und 
nicht  dem  Philosophen.  Man  ist  gerade  auch  kein 
Weichling;  aber  wer  ohnedies  auf  Festland  steht, 
muß    sich   nicht  zur  Seekrankheit   überreden  lassen. 


Nichts  ist  verdrießlicher  für  den  Lebemann, 
als  um  fünf  Uhr  früh  auf  dem  Heimweg  einem 
ausrückenden  Touristen  zu  begegnen.  Nun  gibt  es 
aber  auch  Menschen,  die  bei  Nacht  denken,  und 
solche,  die  zu  jeder  Tagesstunde  schon  munter  sind. 
Es  ist  nicht  der  richtige  Humor.  Seitdem  mir  einst 
ein  Coupegenosse  nach  einstündigem  Schlaf  »Auf, 
auf!«  zurief,  habe  ich  eine  Aversion  gegen  die 
muntern  Naturburschen.  Ich  glaube,  ich  könnte  sie, 
wenn  sie  mich  nur  noch  eine  Weile  schlafen  ließen, 
mit  dem  kleinen  Finger  umwerfen. 

* 
»Nicht  wahr,    Sie    sind  der  Herr  Karl  Kraus?« 
fragte    mich    ein    Coupegenosse,    der    meine    Wehr- 


62 


losigkeit  überschätzt  hatte.  Ich  sagte  :  »Nein.«  Womit 
ich's  allerdings  zugegeben  habe.  Denn  wäre  ich  ein 
anderer  gewesen,  so  hätte  ich  mich  ja  mit  dem 
Trottel  in  ein  Gespräch  eingelassen. 


Was  haben  Sie  gegen  den  X.?     Fragen  in  der 
Regel  solche,  die  vom  X.  was  haben. 


Wir  leben  in  einer  Übergangszeit  von  oben 
nach  unten.  Die  Ware  vermitteln  die  Zwischen- 
händler, das  Wissen  die  Zwischenträger  und  die 
Wollust  die  Zwischenstufen. 


Die  Rache  der  Molluske  am  Mann,  des  Händlers 
am  Helden,  des  Shaw  an  Shakespeare,  des  Ghetto 
an  Gott  macht  jenen  rapiden  Fortschritt,  gegen  den 
aufzutreten  rückschrittlich  heißt. 


Wenn    Herr    Shaw    Shakespeare    angreift,     so 
handelt  er  in  berechtigter  Notwehr. 


Impotenz  ist :  das  Geheimnis  der  Zeugung 
ergründen  wollen.  Das  kann  sie  noch  weniger  und 
möchte  es  noch  mehr.  Damit  liabe  ich  das  Geheim- 
nis der  Impotenz  ergründet. 


63 

Der  Analytiker  macht  Staub  aus  dem  Menschen. 

* 

Vor  dem  Heiligtum,  in  dem  ein  Künstler  träumt, 
stehen  jetzt  schmutzige  Stiefel.  Die  gehören  dem 
Psychologen,  der  drin  wie  zuhause  ist. 


»Gottvoll«  ist  in  mancher  Gegend  ein  Superlativ 
von  »komisch«.  Ein  Berliner,  der  eine  Moschee 
betrat,  fand  diese  gottvoll. 


Es  gibt  eine  Lebensart,  die  so  tüchtig  ist, 
daß  sie  jede  Bahnstation  in  einen  Knotenpunkt 
verwandelt. 


»Wer  sein  Geld  liebt,  aber  auch  sein  Vater- 
land, muß  möglichst  viel  Kriegsanleihe  zeichnen.« 
Dort  geht  der  dicke  X.,  von  dem  man  allerlei 
unsaubere  Geschichten  erzählt.  Was  denn  zum  Bei- 
spiel? Nun,  er  soll  auch  sein  Vaterland  lieben. 


Am  Opfertod  eines  japanischen  Generals  haben 
hunderttausend  abendländische  Kulis  Honorar  ver- 
dient. Teils  durch  Kopfschütteln,  teils  durch  An- 
erkennung. Ein  ebenbürtiger  Beweis  publizistischer 
Gefolgschaft  wäre  nur  durch  jenen  Zeitungsartikel 
erbracht  worden,  dem  man  die  Fähigkeit  des 
Verfassers  abzulesen  vermocht  hätte,  unter  Um- 
ständen    das     zu    tun,     worüber    er    schreibt.     Die 


64 


abendländische  Kultur  hatte  einen  solchen  Zeitungs- 
artikel nicht  aufzuweisen.  Daß  sie  zum  Opfertod 
nicht  fähig  ist,  glaubt  man  ihr.  Aber  daß  sie  dazu 
verurteilt  werden  muß,  wird  man  noch  einsehen 
lernen.  Denn  ihre  Wortführer  haben  eine  Million 
an  einem  Fall  verdient,  wo  honorarloses  Schweigen 
die  geringste  Pflicht  war.  Da  jener  starb,  hatten 
diese  stumm  und  mißmutig  an  die  Arbeit  zu  gehen, 
erschrocken  über  ihr  Weiterleben,  verwirrt  sich  dem 
Leben  überlassend,  um  zu  allem  was  es  gibt  Stellung 
zu  nehmen,  nur  nicht  zu  jener  Tat. 


Alle  Naturwissenschaft  beruht  auf  der  zu- 
treffenden Erkenntnis,  daß  ein  Zyklop  nur  ein  Auge 
im  Kopf  hat,  aber  ein  Privatdozent  zwei. 


Zeitgenossen  leben  aus  zweiter  Hand  in  den 
Mund. 

* 

Manche  teilen  meine  Ansichten  mit  mir.  Aber 
ich  nicht  mit  ihnen. 

* 

»Sie  tun  ihm  Unrecht.  Er  ist  in  allem  Ihrer 
Meinung!«  »Nur  nicht  darin,  daß  ich  ihn  für  einen 
Esel  halte.« 

Wenn  einer  alle  meine  Ansichten  hat,  so  dürfte 
die  Addition  noch  immer  kein  Ganzes  ergeben.  Wenn 
ich  selbst  keine  einzige   meiner  Ansichten   hätte,   so 


65 


wäre  ich  immer  noch  mehr  als  ein  anderer,  der  alle 
meine  Ansichten  hat. 

Der  Liberalismus  beruft  immer,  wenn  einer 
der  Seinen  stirbt,  das  Schicksal  Grillparzers  und 
beschuldigt  Österreich.  Als  ob  heute  der  Dichter 
am  Staat  und  nicht  an  der  Welt  litte.  Und  als  ob 
Grillparzer,  wäre  er  heute  gestorben,  sich  durch 
Lieferung  von  Feuilletons  für  die  vaterländische 
Unbill  entschädigt  hätte. 


Der  Bibliophile  hat  annähernd  dieselbe  Beziehung 
zur  Literatur  wie  der  Briefmarkensammler  zur  Geo- 
graphie. 

* 

Die  Schule  ohne  Noten  muß  einer  ausgeheckt 
haben,  der  von   alkoholfreiem  Wein  betrunken  war. 


Was  ist  denn  das  nur,  daß  die  Zeit  sich  ein- 
bildet, die  Entwicklung  habe  es  auf  sie  abgesehen 
gehabt  und  ihr  zuliebe  müßten  nun  Leben  und  Schule 
auf  den  Kopf  gestellt  werden?  Die  Daseinsbedin- 
gungen, die  das  Entstehen  von  Leuten  wie  Goethe, 
Jean  Paul  und  Herder  nicht  gehindert  haben, 
werden  verworfen,  wenn  der  Sohn  eines  Kommerzial- 
rats  herangebildet  werden  soll,  um  dereinst  die 
Firma  zu  übernehmen,  und  ein  Geschlecht  von 
Kröten  spottet  der  Mühsal,  durch  die  einst  die 
Genies  hindurchmußten.  Was  einen  immer  wieder 
verwundert,    ist    die    Atonie    dieser    Zeit,    die    sich 


66 


keinen  Augenblick  bewußt  wird,  daß  all  die  gott- 
losen Erleichterungen,  die  ihr  gegönnt  sind,  nichts 
als  eine  Entschädigung  bedeuten.  Sie  scheint  sich 
bei  der  Henkermahlzeit  besoffen  zu  haben. 


Jetzt  haben  die  Kinder  in  dem  Alter,  in  welchem 
sie  ehedem  die  Masern  hatten,  Symphonien.  Ich 
glaube  nicht,  daß  sie  davonkommen  werden. 

* 

Alle  Stände  neigen  zum  Fall.  Aber  wenn  ein 
Bürger  verkommt,  so  besteht  Aussicht,  daß  aus  ihm 
noch  etwas  wird,  während,  wenn  ein  Aristokrat  auf 
dem  Weg  ist,  ein  nützliches  Mitglied  der  mensch- 
lichen    Gesellschaft     zu     werden,     der     Familienrat 

zusammentreten  sollte. 

* 

Aristokraten,  die  Schlepper  für  Großindustrielle 

sind,    sollten    von    ihren  Kammerdienern    geohrfeigt 

werden  dürfen. 

* 

Was  hat  man  denn  nur  gegen  die  Konvikte ! 
Ist  es  denn  schöner,  das  Zusammenleben  im  Pferch 
der  Freiheit,  wo  die  jungen  Leute  mutuelle  Psycho- 
logie treiben? 

Eine  Wissenschaft,  die  vom  Geschlecht  so  wenig 
weiß  wie  von  der  Kunst,  verbreitet  das  Gerücht, 
daß  im  Kunstwerk  die  Sexualität  des  Künstlers 
»sublimiert«  werde.  Eine  saubere  Bestimmung  der 
Kunst,  das  Bordell  zu  ersparen!  Da  ist  es  doch  eine 
viel  feinere  Bestimmung  des  Bordells,  die  Sublimierung 


67 


durch  ein  Kunstwerk  zu  ersparen.  Wie  bedenklich  das 
von  den  Künstlern  geübte  Verfahren,  abgesehen  von 
seiner  Weitschweifigkeit,  in  seiner  Wirkung  auf  die 
Empfangenden  bleibt,  beweist  gerade  der  Fall  des 
bedeutenden  Tonkünstlers,  der  von  jener  Wissen- 
schaft gern  als  Beispiel  gelungener  Sublimierung 
herangezogen  wird.  Die  Hörer  seiner  Musik  fühlen 
sich  von  der  darin  sublimierten  Sexualität  dermaßen 
angeregt,  daß  ihnen  oft  kein  anderer  Ausweg  als 
jener  bleibt,  den  der  Künstler  gemieden  hat,  es 
wäre  denn,  daß  sie  selbst  imstande  sind,  rechtzeitig 
eine  Sublimierung  vorzunehmen.  Hätte  der  Künstler 
den  einfacheren  Weg  gewählt,  so  wäre  diese  Wirkung 
den  Hörern  erspart  geblieben.  So  geschieht  es,  daß 
durch  die  üble  Gewohnheit  der  Künstler,  die  Sexu- 
alität zu  sublimieren,  diese  erst  frei  wird  und  daß 
eine  Angelegenheit,  die  so  recht  eine  Privat- 
angelegenheit   des    Künstlers    zu    bleiben    hätte,    zu 

einem  öffentlichen  Skandal  ausartet. 

* 

Ein  Psycholog  weiß  um  die  Entstehung  des 
»Fliegenden  Holländers«  Bescheid  :  »aus  einer  Kinder- 
phantasie Richard  Wagners,  die  dem  Größenwunsch 
des  Knaben  entsprang,  es  seinem  Vater  gleich  zu 
tun,  sich  an  Stelle  des  Vaters  zu  setzen,  groß  zu 
sein  wie  er.  .  .  .«  Da  aber  nach  den  Versicherungen 
der  Psychologen  dies  der  seelische  Habitus  aller 
Knaben  ist  —  ganz  abgesehen  von  der  erotischen 
Eifersucht  und  den  Inzestgedanken,  die  das  Kind 
mit  der  Muttermilch  einsaugt  und  die  nur  bei  Soxhlet 
nicht  die  Oberhand  behalten  — ,  so  müßte  die 
Psychologie    bloß  noch  die  eine  Frage  beantworten: 


68 


welche  spezifischen  Anlagen  oder  Eindrücke  bei 
Wagner  die  Entstehung  des  »Fliegenden  Holländers« 
vorbereitet  haben.  Denn  Wagner  ist  von  allen 
Geschlechtsgenossen  der  einzige,  dem  die  Autorschaft 
des  »Fliegenden  Holländers«  zugeschrieben  werden 
kann,  während  die  meisten  andern  dem  Größenwunsch, 
es  dem  Vater  gleich  zu  tun,  eine  Karriere  als  Börseaner, 
Advokaten,  Tramwaykondukteure  oder  Musikkritiker 
verdanken,  und  nur  die,  die  davon  geträumt  haben, 
Heroen  zu  werden,  Psychologen  geworden  sind. 

* 
Der  Wille  der  Psychoanalyse  ist:  die  Unkraft 
von  dem  Punkt,  wohin  der  Künstler  gekommen  ist, 
den  Weg  zurückzuführen  bis  zu  dem  Punkt,  von  wo 
er  nach  analytischem  Dafürhalten  ausgegangen  sein 
muß :  bis  zum  Abort.  Die  Aussicht  ist  lohnend,  aber 
die  Partie  ist  kostspiehg.  Man  fährt  mit  dem  Retour- 
billett der  Phantasie.  Ist  der  Schwache  dort  angelangt, 
von  wo  der  Starke  hergekommen  ist,  so  darf  er 
sich  selbständig  machen.  Er  darf  mit  besseren 
Chancen  weiter  onanieren,  seitdem  er  gehört  hat, 
daß  Goethes  Zauberlehrling  aus  diesem  Punkte  zu 
kurieren  sei.  Solche  Beruhigung  hat  viel  für  sich, 
aber  der  Außenstehende  weiß  nicht,  was  gemeiner 
ist:  die  Reduzierung  des  Kunstwerkes  auf  den 
physiologischen  Rest  oder  die  Reduzierung  der  Erotik 
auf  das  pathologische  Maß.  Denn  die  Wissen- 
schaftler wissen  nur  eines  nicht :  daß  von  allem, 
was  das  Geschlecht  angeht,  und  selbst  von  der 
Onanie  das  si  duo  faciunt  idem  gilt.  Und  daß  die 
Kunst  in  jedem  Falle  non  est  idem. 


69 


Den  Weg  zurück  ins  Kinderland  möchte  ich, 
nach  reiflicher  Überlegung,  doch  lieber  mit  Jean  Paul 
als  mit  S.  Freud  machen. 

* 

Der  Psychoanalytiker  ist  ein  Beichtvater,  den 
es  gelüstet,  auch  die   Sünden   der  Väter  abzuhören. 


Die  Psychoanalytiker  ahnden  die  Sünden  der 
Väter  bis  ins  dritte  Geschlecht,  indem  sie  dieses 
heilen  wollen. 

Ich  bin  der  Rationalist  jenes  Wunderglaubens, 
den  sich  die  Psychoanalyse  teuer  bezahlen  läßt. 


Was  hat  denn  diese  neue  Jugend  für  einen 
Lehrmeister  der  Liebe?  Einst  gab's  Schutzmittel; 
jetzt  soll  sie  hemmungslos  leben.  Es  scheint,  daß  sie 
den  Sigi  Ernst  mit  dem  Sigi  Freud  überwunden  hat. 


Analyse  ist  der  Hang  des  Schnorrers,  das  Zu- 
standekommen von  Reichtümern  zu  erklären.  Immer 
ist  das,  was  er  nicht  besitzt,  durch  Schwindel 
erworben.  Der  andere  hat's  nur;  er  aber  ist  zum 
Glück  eingeweiht. 

Das  Unterbewußtsein  scheint  nach  den  neuesten 
Forschungen  so  eine  Art  Ghetto  der  Gedanken  zu 
sein.  Viele  haben  jetzt  Heimweh. 


70 


Der  Handelsgeist  soll  sich  im  Pferch  der  Juden- 
gasse entwickelt  haben.  In  der  Freiheit  treiben  sie 
Psychologie.  Sie  scheint  aber  wie  ein  Heimweh  jenes 
enge  Zusammenleben  zurückzurufen,  unter  dem  die 
Ansprache  zur  Betastung  wird.  Was  nun  vollends 
eine  Verbindung  von  Handelsgeist  und  Psychologie 
für  Wunder  wirken  kann,  sehen  wir  alle  Tage. 


Das  Unbewußte  zu  erklären,  ist  eine  schöne 
Aufgabe  für  das  Bewußtsein.  Das  Unbewußte  gibt 
sich  keine  Mühe  und  bringt  es  höchstens  fertig, 
das  Bewußtsein  zu  verwirren. 


Die  Nervenärzte  haben  es  jetzt  mit  den 
Dichtern  zu  schaffen,  die  nach  ihrem  Tode  in  die 
Ordination  kommen.  Es  geschieht  ihnen  insofern 
recht,  als  sie  tatsächlich  nicht  imstande  waren,  die 
Menschheit  auf  einen  Stand  zu  bringen,  der  die 
Entstehung  von  Nervenärzten  ausschließt. 


Psychologie  ist  der  Omnibus,  der  ein  Luftschiff 
begleitet. 

* 

Man  sagt  mir  oft,  daß  manches,  was  ich 
gefunden  habe,  ohne  es  zu  suchen,  wahi'  sein 
müsse,  weil  es  auch  F.  gesucht  und  gefunden  habe. 
Solche  Wahrheit  wäre  wohl  ein  trostloses  Wertmaß. 
Denn  nur  dem,  der  sucht,  ist  das  Ziel  wichtig. 
Dem,  der  findet,    aber  der  Weg.    Die  beiden  treffen 


71 


sich  nicht.  Der  eine  geht  schneller,  als  der  andere 
zum  Ziel  kommt.  Irgendetwas  ist  ihnen  gemeinsam. 
Aber  der  Prophet  ist  immer  da   und   verkündet  den 

apokalyptischen  Reiter. 

* 

Euer  Bewußtes  dürfte  mit  meinem  Unbewußten 
nicht  viel  anfangen  können.  Aber  auf  mein  Unbe- 
wußtes vertraue  ich  blind,  es  wird  mit  eurem 
Bewußten  schon  fertig. 

Psychoanalyse :  Ein  Kaninchen,  das  von  der 
Boa  constrictor  geschluckt  wird,  wollte  nur  unter- 
suchen, wie's  drin  aussehe. 


Psychoanalyse  ist  mehr  eine  Leidenschaft 
als  eine  Wissenschaft :  weil  ihr  die  ruhige  Hand 
bei  der  Untersuchung  fehlt,  ja  weil  dieser  Mangel 
die  einzige  Fähigkeit  zur  Psychoanalyse  ausmacht. 
Der  Psychoanalytiker  liebt  und  haßt  sein  Objekt, 
neidet  ihm  Freiheit  oder  Kraft  und  führt  diese  auf 
seine  eigenen  Defekte  zurück.  Er  analysiert  nur, 
weil  er  selbst  aus  Teilen  besteht,  die  keine  Synthese 
ergeben.  Er  meint,  der  Künstler  sublimiere  ein 
Gebreste,  weil  er  selbst  es  noch  hat.  Psycho- 
analyse ist  ein  Racheakt,  durch  den  die  Inferiorität 
sich  Haltung,  wenn  nicht  Überlegenheit  verschafft 
und  die  Disharmonie  aufs  gleiche  zu  kommen  sucht. 
Ai'zt  sein  ist  mehr  als  Patient  sein  und  darum  sucht 
heute  jeder  Flachkopf  jedes  Genie  zu  behandeln. 
Die  Krankheit  ist  hier  das,  was  dem  Arzte  fehlt. 
Wie    er  sich  immer  anstelle,    er  wird  zur  Erklärung 


72 


des  Genies  nichts  weiter  vorbringen,  als  den  Beweis, 
daß  er  es  nicht  hat.  Da  aber  das  Genie  eine 
Erklärung  nicht  braucht  und  eine,  die  die  Mittel- 
mäßigkeit gegen  das  Genie  verteidigt,  vom  Übel  ist, 
so  bleibt  der  Psychoanalyse  nur  eine  einzige  Recht- 
fertigung ihres  Daseins:  sie  läßt  sich  mit  genauer 
Not   zur   Entlarvung    der   Psychoanalyse   anwenden. 

Krank  sind  die  meisten.  Aber  nur  wenige 
wissen,  daß  sie  sich  etwas  darauf  einbilden  können. 
Das  sind  die  Psychoanalytiker. 

* 

Psychoanalyse  ist  jene  Geisteskrankheit,  für 
deren  Therapie  sie  sich  hält. 

Man  kehrt  nur  dann  vor  fremder  Bewußtseins- 
schwelle, wenn  man's  zuhause  schmutzig  hat. 

* 
Wie  der  Schelm  ist,  so  denkt  der  Psycholog. 

* 

Ein  guter  Psycholog  ist  imstande,  dich  ohne- 
weiters  in  seine  Lage  zu  versetzen. 

Infantile,  die  seit  damals  nur  das  Beten  ver- 
lernt haben,  werden  von  Analytikern  ins  Gebet 
genommen.  Am  Ende  können  sie  wieder  beten : 
Erlöse  uns  von  der  Analyse  ! 


73 


Eröffnung  am  Schluß  einer  psychoanalytischen 

Kur:    Ja,    Sie  können  ja  nicht  geheilt  werden.     Sie 

sind  ja  krank  ! 

* 

Mein  Bewußtsein  hat  einen  Hausknecht,  der 
immer  acht  gibt,  daß  kein  ungebetener  Gast  über 
die  Schwelle  komme.  Psychoanalytiker  haben  auch 
unter  ihr  nichts  zu  suchen.  Erwischt  er  einen,  der 
ins  Archiv  will,  so  führt  er  ihn  in  den  Empfangs- 
raum, wo  ich  persönlich  ihm  mit  seiner  Diebslaterne 

ins  Gresicht  leuchte. 

* 

Wo  man  Fremdwörter  vermeiden  kann,  soll 
man's  bekanntlich  tun.  Da  hört  man  immer  von 
»Psychoanalytikern«.  Als  ich  einmal  einen  auch  zu 
sehen  bekam,  fiel  mir  sofort  die  glückliche  Ver- 
deutschung »Seelenschlieferl«  ein. 


Sie  greifen  in  unsern  Traum,  als  ob  es  unsere 

Tasche  v/äre. 

* 

Nein,  es  spukt  nicht  mehr.  Es  spuckt. 


Psychologie  ist  die  stärkere  Religion,  die  selig 
im  Zweifel  macht.  Indem  die  Schwäche  nicht  zur 
Demut,  sondern  zur  Frechheit  bekehrt  wird,  geht  es 
ihr  schon  auf  Erden  gut.  Die  neue  Lehre  ist  über 
ieden  Glauben  erhaben. 


74 


Was  fängt  man  doch  mit  dieser  Jugend  an? 
Sie  ist  mißgestalt  und  reagiert  nur  psychisch. 
Nichts  als  Freudknaben. 


Was  man  so  Männer  nennt,  läßt  sich  jetzt  psycho- 
analytisch auskratzen. 


Ich  stelle  mir  vor,  daß  die  jungen  Leute  Briefe 
mit  meiner  Adresse  an  sich  schreiben,  und  da  sie 
sie  nicht  erhalten,  bei  der  Post  reklamieren. 


Viele    haben    schon    meine   Eigenschaften.    Da- 
durch kann  man  sie  von  mir  unterscheiden. 


Wenn  ich  einem  Hysteriker  nachweise,  daß  er 
ein  Dieb  ist,  so  wird  er  zwar  das  Stehlen  nicht  auf- 
geben, aber  den  Vorwurf  des  Diebstahls  annektieren 
und  gelegentlich  mich   damit  bedenken. 


Ich  mache  sie  alle  unbewußt.  Ich  tadelte  einen 

Adjektivkünstler:    sogleich    rühmte  er  einem  andern 

Adjektivkünstler    einen    knappen,  von     Adjektiven 
freien  Stil  nach. 


Hysterie  macht  dem  Gesunden  das  zum  Vorwurf, 
was  er  haßt:  sie  selbst. 


75 


Die  Literaten,  die  jetzt  geboren  werden,  sind 
weniger  konsistent  als  ehedem  die  Gerüchte  waren. 
Ich  habe  noch  Gerüchte  gekannt,  an  denen  etwas 
dran  war.  Dem,  was  heute  aus  Schreibmaschinen 
zur   Menschheit    spricht,    würde   ich   nicht    über   die 

Gasse  trauen. 

* 

Sie  machen  alles  mit.  Der  Kommis  gegen  Gott 
gibt  sich  jetzt  schon  als  Kommis  Gottes.  Ich  weiß 
einen  in  Prag,  den  ich,  wenn  er  im  Gebet  liegt,  nicht 
stören  und  wenn  er  auf  den  »Stufenfolgen,  die  bis 
vor  Gottes  Thron  führen«,  herumklettert,  nicht  auf- 
halten möchte.  Denn  es  besteht  Gefahr,  daß  mich 
solche  Inbrunst  nüchtern  macht,  das  Firmament  mir 
als  ein  Gewölbe  erscheint,  in  das  man  von  der 
Gasse  eintreten  kann,  und  ich  eine  Stimme  höre: 
»Brod,  machen  Sie  keine  Ekstasen,  lassen  Sie  das 
Ethos  liegen  und  geben  Sie  herunter  die  Ewigkeit!« 


»Gut,  daß  ich  Sie  treffe.  Sie  verkehren  nicht 
mehr  mit  Kohner?«  »Nein,  denn  ich  habe  nie  mit 
ihm  verkehrt,  ich  habe  ihn  nie  gesehen,  ich  weiß 
nicht,  daß  er  lebt.«  »Wie  ist  denn  das  möghch,  Sie 
müssen  Kohner  gekannt  haben,  Sie  erinnern  sich 
vielleicht  nur  nicht.«  »Mein  Gedächtnis  ist  gut,  aber 
der  Name  ist  mir  unbekannt,  ich  hätte  mir  ihn 
gemerkt,  da  ich  Kohn  kenne,  aber  auch  mit  diesem 
nicht  verkehre.  Was  ist's  mit  Kohner?«  »Er  erzählt, 
er  sei  mit  Ihnen  täglich  beisammen  gewesen, 
Sie  waren  intim  befreundet,  nur  einmal  widersprach 
er,  da  er  Ihre  Schätzung  der  Dichterin  L.  nicht  mit- 


76 


machen  konnte.  Da  haben  Sie  sich  erhoben  und 
ihm  gesagt,  daß  Sie  unter  solchen  Umständen  nicht 
länger  mit  ihm  verkehren  können,  und  haben  ihm 
am  nächsten  Tag  das  Abonnementgeld  der  Fackel 
zurückschicken  lassen.  Etwas  muß  doch  an  der 
Geschichte  wahr  sein !«  »Alles.  Ich  habe  oft  Abonnement- 
gelder zurückschicken  lassen.  Das  weiß  Kohner.  Ich 
schätze  die  Dichterin  L.  Damit  dürfte  Kohner  nicht 
einverstanden  sein.  Ich  habe  ihn  hinausgeworfen  — * 
»Nun  also  — «  »Aber  ich  habe  ihn  nicht  gekannt.« 
»Ich  verstehe  nicht  — «  »Die  Bekanntschaft  bestand 
im  Hinauswurf.«  »Wie  ist  das  möglich?«  »Kohner 
nimmt  mit  Recht  an,  daß  ich  ihn  hinausgeworfen 
hätte,  wenn  ich  ihn  gekannt  hätte.  Da  ich  ihn  aber 
nicht  gekannt  habe,  so  will  er  sich  wenigstens  den 
Hinauswurf  sichern.«  »Warum?«  »Weil  ihm  das  nützt.« 
»Wieso?«  »Es  ist  eine  Beziehung  in  den  Augen  der 
Anhänger  und  es  macht  bei  den  Gegnern  beliebt.« 
»Sie  haben  ihn  aber  nicht  hinausgeworfen?«  »Doch, 
metaphysisch.«  »Das  verstehe  ich  nicht.«  »Wissen 
Sie,  wie  Gerüchte  entstehen?«  »Nein.«  »Genau  so 
entstehen  die  Menschen  meiner  Bekanntschaft.« 


Früher  ging  die  Krankheit  zum  Arzt.  Jetzt,  da 
er  krank  ist,  schmiert  sie  sich  Druckerschwärze  auf. 


Das  vertrackteste  Problem  dieser  Zeit  ist:  daß 
sie  Papier  hat  und,  was  gedruckt  wird,  käme  es  auch 
aus  dem  Mastdarm,  als  Urteil  wirkt  und  als  Humor. 


77 


Nicht  die  Gewalttätigkeit,  nur  die  Schwäche 
macht  mich  fürchten. 

Als  ich,  der  nie  Psycholog  an  einem  ist,  nur 
an  allen,  vor  einem  von  der  Sorte  das  Problem 
erörterte,  flüsterte  er  errötend,  auch  er  fühle  sich 
oft  als  Weib  und  welches  Mittel  ich  dagegen  wüßte. 
Ich  bereute  das  Gespräch  und  gab  den  Trost,  das 
Bewußtsein  um  den  Zustand  sei  schon  ein  Mittel. 
Später  prahlte  derselbe,  er  sei  der  Mann,  mich  an- 
zugreifen. . .  Da  aber  diese  Geschichte  viele,  darunter 
solche,  die  ich  gar  nicht  kenne,  auf  sich  beziehen 
dürften,  so  versichere  ich,  daß  sie  erfunden  ist.  Von 
mir  erfunden,  wie  die  meisten  jungen  Leute,  die  ich, 
statt  sie  zu  entdecken,  nur  erfunden  habe. 


Ich  schleppe  das  furchtbare  Geheimnis  der  Zeit 
mit  mir,  das  meine  Erkenntnis  auf  Kosten  meiner 
Nerven  nährt.  Nur  in  Sätzen  darf  ich  verraten,  daß 
alles,  was  die  Gegenwart  dem  Druck  verdankt,  die 
Kultur  verschlagener  Homosexualität  ist.  Würde  ich 
meine  Erlebnisse  der  fünfzehn  Jahre  in  einen  Zu- 
sammenhang zu  stellen  wagen,  sie  würden  sich 
vertausendfachen  durch  den  Reiz  der  Beachtung,  der 
den  Einzelfall  so  üppig  macht.  Hier  weiche  ich  zurück. 
Höchste  Aktivität,  die  sich  dem  Ansturm  der  passiven 
Naturen  preisgegeben  sieht,  kann  zur  Pathologie  des 
Zeitalters  sich  iiire  Gedanken  machen,  aber  nicht 
ihre  Beweise  vorbringen.  Die  im  Traum  meines 
Wiener  Lebens  gefundene  Devise  »Eine  Deichsel  im 
Rücken    und     Quallen    an     den     Füßen«    wird     so 


78 


verständlich.  Zwischen  den  Hindernissen  der  Mechanik 
und  den  Fesseln  der  Gefühlsverwirrung  ging  es 
hindurch.  Aber  schlimmer,  am  schlimmsten  war  diese! 


Wogegen  ich  wehrlos  bin,  das  sind  Gerüchte, 
Hysteriker,  Fliegen,  Schleim  und  Psychologie.  Mit 
dem  Zufall  nehme  ichs  schon  auf.  Und  was  die 
intriganten  anlangt  —  was  die  können,  habe  ich 
längst  verschwitzt. 

Daß  ich  gichtisch  bin,  will  ich  denen,  die  an 
meiner  Gesundheit  zweifeln,  zugeben.  Aber  daß  ich 
dann  auch  das  kommende  Gewitter  spüre,  das  lasse 
ich  mir  nicht  in  Abrede  stellen! 


Seit  einigen  Jahren  ist  die  Welt  schon  ganz 
mondän.  Wer  nur  diese  große  Entschädigung:  zu 
können,  was  man  nicht  ist,  in  die  Welt  gebracht 
hat!  Woher  haben  sie  es,  die  Weiber  und  die 
Schreiber? 

Die  Beziehungen,  die  ich  zwischen  den  Seelen 
der  Menschen,  und  stäken  sie  hinter  den  unähn- 
lichsten Vorwänden,  herzustellen  vermag,  überraschen 
mich  selbst  zuweilen.  So  war  es  mir  ganz  geläufig, 
bei  einer  Frau,  deren  Körper,  Gang  und  Haltung 
geometrischen  Anschauungsunterricht  gab,  immer  an 
einen  Mann,  der  etwas  ausgesprochen  Zoologisches 
hatte,  zu  denken,  und  umgekehrt.  Plötzlich  wurde 
ich    mir    des  Kontrastes    bewußt    und    besann    mich 


79 


erst,  daß  beide  Feuilletons  schrieben,  also  doch  das 
Ding  gemeinsam  hatten,  das  man  Geist  nennt.  Aber 
daß  eben  solches  möglich  ist,  war  das  Wunderbare, 
und  nun  hörte  ich  deutlich,  wie  beide  so  grund- 
verschiedenen Gestalten,  die  Libelle  und  das  Fluß- 
pferd durch  eine  und  dieselbe  Stimme  fraternisierten, 
so  als  hätten  sie  aus  urzeitlichem  Fett  Bruderschaft 
getrunken,  ohne  daß  es  aber  dem  einen  Teil  gut 
angeschlagen  hat.  Diesen  schöpferischen  Irrtum 
retuschierte  ich  so,  daß  mir  fortan  zwar  nicht  das 
Flußpferd  als  Libelle  erschien,  wohl  aber  umgekehrt. 


Wenn  man  mich  fragt,  von  wem  ich  glaube, 
daß  er  dem  Geist  näher  steht:  der  Stiefelputzer  eines 
böhmischen  Grafen  oder  ein  neuberliner  Literat,  so 
kann  ich  nur  antworten,  daß  ich,  ehe  ich  mir  von 
einem  neuberliner  Literaten  die  Stiefel  putzen  ließe, 
ihm  lieber  mit  dem  Absatz  ins  Gesicht  treten  würde. 


Wenn  drei  unsaubere  Analphabeten  über  mich 
im  Kaffeehaus  abfällig  sprechen,  so  hörts  niemand 
und  man  sieht  nur,  daß  die  Herrn  beim  Sprechen 
schwarze  Fingernägel  haben.  Schreien  sie  dabei,  so 
beschwert  man  sich  beim  Kellner.  Gehen  sie  aber  in 
die  nächste  Druckerei,  um  es  noch  mehr  publik  zu 
machen,  daß  sie  lügen,  so  ist  es  ein  Urteil,  das  alle 
als  Erlösung  empfinden,  die  jenen  die  Hand  nicht 
reichen  würden  und  denen  wie  jenen  ich  die  meine 
nicht  reiche.  Sage  ich  dann,  es  seien  Geisteskranke, 
die    sich    durch    mich    beunruhigt   fühlen,    Vertreter 


80 


einer  durch  die  Zeit  laufenden  Abart  von  Mann, 
Verliebte,  die  nicht  erhört  werden  konnten  und 
können,  weil  ihre  Mißbildung  Hermes  wie  Aphrodite 
verleugnet,  Hosenträger,  die  für  mein  Dasein,  für 
das  ihre,  für  alles,  was  ist  und  was  sie  nicht  sind, 
Rache  nehmen,  für  die  Nichtbeachtung  eines  Grußes, 
eines  Manuskriptes,  einer  Leidenschaft:  so  mache 
ich  ihnen  »Reklame«.  Sage  ich  nichts,  so  ist  es 
»Totschweigen«.  Sage  ich,  daß  der  Mann  mit  Recht 
schweigt,  wenn  die  häßlichste  Weiblichkeit  den 
verkehrten  Ausdruck  für  ihr  Gefühl  findet  und  jede 
Abwehr  für  Entgegenkommen  nähme,  und  daß 
Totschweigen  nur  der  Versuch  der  Schwäche  ist, 
um  den  Starken  herumzukommen:  so  ist,  was  ich  sage, 
Beachtung.  Sage  ich  auch  nur  dies,  oder  d£iß  ich, 
um  dem  fürchterlichen  Circulus  der  Haßliebe  zu 
entrinnen,  nichts  sage:  so  ist  es  Beachtung.  Und 
sage  ich  es  in  einer  dem  schäbigen  Anlaß  entrüclden, 
allen  schäbigen  Anlässen  der  Vergangenheit,  Gegen- 
wart und  Zukunft  angepaßten  Form:  so  ist  es 
Beachtung.  Und  sage  ich  selbst  nur,  daß  Wanzen  zwar 
treu  sind  und  stinken,  aber  dennoch  so  feinfühlig 
sind,  den  »Wanzentod«  nicht  als  persönlichen  Angriff, 
sondern  als  Abwehr  aufzufassen,  so  werden  sich 
Schriftsteller  finden,  die  es  als  persönlichen  Angriff 
auffassen,  und  werden  sagen,  ich  hätte  sie  beachtet 
und,  der  immer  vom  Totschweigen  spricht,  ihre 
Namen  dabei  totgeschwiegen.  Nein,  es  gibt  keine 
Wehrlosigkeit  als  die  des  Starken  vor  dem  Schwachen ! 
Darum:  wäre  ich  Gesetzgeber,  ich  würde  die 
Meinungsfreiheit  nicht  antasten.  Ich  würde  das 
staatsgrundgesetzlich      gewährleistete     Recht,      eine 


Meinung  —  so  ziemlich  das  Wertloseste,  was  einer 
haben  kann  —  zu  äußern,  eine  Meinung  —  die  ja 
auch  dann  eine  Belästigung  vorstellt,  wenn  sie  richtig 
ist  —  zu  verbreiten,  ich  würde  es  nicht  antasten, 
dieses  Recht.  Ich  würde  die  Zwitter  sich  ausleben 
lassen.  Den  literarischen  Strich,  der  wohl  das 
Schmutzigste  ist,  was  im  Leben  der  Großstadt  Platz 
hat,  nicht  behindern.  Die  Zucht  von  intellektuellen 
Schneppen,  die  mit  etwas  Laster  und  ein  paar 
gestohlenen  psychologischen  Adjektiven  schon  be- 
gehrenswert sind,  gewähren  lassen.  Aber  ich  würde 
die  Verantwortlichen  verantwortlich  machen.  Nie 
einen  Redakteur.  Immer  den  Verleger,  den  Drucker, 
den  Setzer,  den  Buchbinder,  den  Briefträger,  und  vor 
allem  den  wahren  Rädelsführer,  den  Leser. 


Ich  kannte  einen  Mann,  der  sah  aus  wie  das 
Gerücht.  Das  Gerücht  ist  grau  und  hat  einen  jugend- 
lichen Gang,  das  Gerücht  läuft  und  braucht  dennoch 
zwanzig  Jahre,  um  aus  einem  Zimmer  ins  andere  zu 
kommen,  wo  es  Dinge,  die  sich  schon  damals  nicht 
ereignet  haben,  als  Neuigkeiten  auftischt.  Das  Gerücht 
verdichtet  eine  Hinrichtung,  die  abgesagt  wurde,  mit 
einer  Frühgeburt,  die  nicht  stattgefunden  hat,  pflanzt 
einen  fremden  Tonfall  in  das  Mistbeet  eigener 
Erfindung,  hat  mit  eigenen  Augen  gehört,  was 
niemand  gesehen,  und  mit  fremden  Ohren  gesehen, 
was  niemand  gehört  hat.  Das  Gerücht  hat  eine 
profunde  Stimme  und  eine  hohe  Miene.  Es  hat 
Phantasie  ohne  Persönlichkeit.  Ist  es  ruhig,  so  sieht  es 
aus,  als  ob  das  Problem  der  Entstehung  derSeptuaginta 

6 


82 


bereits  gelöst  wäre.  Ist  es  bewegt,  so  muß  man  mit 
einer  neuen  Version  über  den  bethlehemitischen 
Kindermord  rechnen.  Das  Gerücht  ist  der  ältere 
Stiefbruder  der  Wissenschaft  und  ein  Schwippschwager 
der  Information.  Von  den  Veden  bis  zu  den  Koch- 
büchern ist  ihm  nichts  Unverbürgtes  fremd.  Das  Gerücht, 
welches  nur  tote  Schriftsteller  liebt,  läßt  auch  den 
zeitgenössischen  Autor  gelten,  sobald  er  antiquarisch 
zu  haben  ist,  weil  es  dann  einen  Erstdruck  mit  einem 
Zweitdruck  verwechseln  kann.  Das  Gerücht  hat  den 
Humor,  der  sich  aus  der  Distanz  von  den  Tatsachen 
ergibt.  Es  enttäuscht  den,  der  an  Gerüchte  glaubt, 
und  spielt  dem,  der  an  Gerüchte  nicht  glaubt,  gern 
einen  Possen.  Es  sagt  etwas.  Verleumdet's,  gehe  man 
mit  ihm  nicht  ins  Gericht.  Es  taugt  nicht  zum  Zeugen, 
es  taugt  nicht  zum  Angeklagten,  Es  leugnet  sich 
selbst.  Es  weiß  allerlei,  es  sagt  noch  mehr,  aber  es 

ist  nicht  verläßlich. 

* 

Ein  Vielwisser  rühmte  sich,  er  übersiedle  seine 
Bibliothek  mit  Gurten.  Sie  seien  nicht  billig,  dafür 
aber  habe  man  sie  auch  das  ganze  Leben.  Er  brauche 
dreihundert  Gurten.  Das  ist  nicht  wenig.  Und  doch, 
welch  handhch  Maß.  Seht,  einer  der  dreihundert 
Gurten  gebildet  ist!  Er  denkt  an  der  Gurte.  Er  ist 
noch  nicht  einmal  ein  Freidenker.  Ja,  er  braucht 
dreihundert  Gurten,  um  nicht  unterzusinken. 


Der  Vielwisser  ist    oft  müde   von   dem   vielen, 
was  er  wieder  nicht  zu  denken  hatte. 


83 


Wenn    ein   Schwätzer  einen    Tag   lang   keinen 
Hörer  hat,  wird  er  heiser. 


Das  Wort  Polyhistor  muß  man  schon  sehr 
deutlich  schi'eiben,  damit  der  Setzer  nicht  Philister 
setzt.  Ist  dies  aber  einmal  geschehen,  so  lasse  man 
es  auf  sich  beruhen,  denn  es  ist  noch  immer  die 
mildere  Fassung.  Einmal  las  man  von  einem,  er  sei 
ein  bekannter  Philister.  Das  glaubte  man  gern,  und 
hielt  dann  die  Berichtigung  für  einen  Druckfehler. 


Ich    kannte     einen,     der    die    Bildung    in    der 
Westentasche  hatte,    weil   dort    mehr  Platz  war  als 

im  Kopf. 

* 

Bildung  ist   eine   Krücke,   mit    der   der  Lahme 

den  Gesunden  schlägt,  um  zu  zeigen,   daß  er  auch 

bei  Kräften  sei. 

* 

Zu  der  Blume  mag  ich  nicht  riechen,  die  unter 
dem  Hauch  eines  Freidenkers  nicht  verwelkt. 


Als  ich  zum  erstenmal  von  Freidenkern  hörte, 
glaubte  ich,  es  seien  Redakteure,  die  wie  die  Theater- 
karten auch  die  Gedanken  gratis  bekommen,  wenn 
sie  bei  der  Direktion  einreichen. 


Es  gibt  Leute,  deren  Auge  so  intelligent  ist,  als  ob 
sie  uns  stumm  überreden  wollten,  uns  auf  der  Stelle 


84 


impfen  zu  lassen.  Sie  haben  den  sozialen  Sinn, 
der  einen  unter  dem  Arm  faßt,  und  den  Blick,  der 
einem  auf  die  Pusteln  sieht.  Es  sind  die  Tyrannen 
des  Impfzwanges,  der  eine  unvorhergesehene  Folge 
der  Gedankenfreiheit  bedeutet.  Als  Draufgabe  scheinen 
sie  einem  das  Versprechen  abzufordern,  daß  man  sich^ 
wenn  man  sich  schon  nicht  impfen  lassen  und  daher 
an  Blattern  sterben  wird,  nach  dem  Tod  verbrennen 
lassen  werde. 

Der  Liberalismus  beklagt  die  Veräußerlichung 
des  christlichen  Gefühls  und  verpönt  das  Gepränge. 
Aber  in  einer  Monstranz  von  Gold  ist  mehr  Inhalt 
als  in  einem  Jahrhundert  von  Aufklärung.  Und  der 
Liberalismus  beklagt  nur,  daß  er  im  Angesicht  der 
verlockenden  Dinge,  die  eine  Veräußerlichung  des 
christlichen  Gefühls  bedeuten,  es  doch  nicht  und  um 
keinen  Preis  zu  einer  Veräußerung  des  christlichen 
Gefühls  bringen  kann. 

Antisemitismus  heißt  jene  Sinnesart,  die  etwa 
den  zehnten  Teil  der  Vorwürfe  aufbietet  und  ernst 
meint,  die  der  Börsenwitz  gegen  das  eigene  Blut 
parat  hat. 

Die  Juden  leben  in  einer  Inzucht  des  Humors. 
Sie  dürfen  sich  untereinander  übereinander  lustig 
machen.  Aber  wehe,  wenn  sie  dabei  auseinander 
kommen! 

Von  allem  andern  abgesehen  und  auf  den  ersten 
Blick  ist  der  Klerikalismus  dem  Freidenkertum  sdion 


85 


deshalb  vorzuziehen,  weil  er  die  Schweinerei  der 
Vollbarte  nicht  duldet,  die  von  diesem  gefördert  wird. 
Wozu  denn  sollte  ein  Vollbart  gut  sein  als  daß  ich 
mir  an  ihm  die  Feder  abwische?  Auch  der  Kleriker, 
der  das  Gebot  der  Keuschheit  übertritt  und  darum 
von  den  Freisinnigen  getadelt  wird,  widersteht 
wenigstens  der  Versuchung,  Männlichkeit  jenem 
obszönen  Vorsprung  zu  verdanken,  den  die  Frei- 
sinnigen im  Gesicht  tragen.  Er  besteht  aber  auch 
die  Probe,  ob  ein  bartloses  Gesicht  männlich  wirke. 
Darauf  eben  kommt  es  an.  Die  meisten  Berufsträger 
würden,  wenn  man  ihnen  die  Manneszier  herunter- 
nähme, den  Eindruck  erwecken,  daß  die  Frauen- 
bewegung soeben  zum  Siege  gelangt  sei.  Wenn  ein 
Juristenkongreß,  der  zugleich  mit  einem  Priester- 
kongreß tagt,  sich  anstandshalber  rasieren  heße,  dann 
würde  man  wohl  merken,  wo  die  besseren  Gesichter 
sind,  und  an  keinen  Leitartikel  fürder  glauben.  Ehe 
die  Entscheidung  fällt,  ob  die  Gesellschaft  lebensfähig 
sei,  wird  eine  Obduktion  der  Gesichter  vorgenommen 
werden  müssen.  Sie  schere  sich.  Zuerst  zum  Barbier 

un^  dann  zum  Henker! 

* 

Die  Männer  dieser  Zeit  lassen  sich  in  zwei 
deutlich  unterscheidbare  Gruppen  einteilen:  die 
Kragenschoner  und  die  Hosenträger. 

* 

Ich  sah  einen,  der  sah  aus  wie  der  Standard  of 
life.  Einen  andern,  der  sah  wie  der  sinkende  Wohlstand 
aus.  Der  Redakteur  verließ  das  Hotelzimmer  des 
Herrn  Venizelos  und  sah   aus  wie  der  Status  quo. 


86 


Vorbei    ging    die   Welt,    die    hatte    das   Gesicht    der 

besitzenden    Kiassen    und    das    Gesäß    der    breiten 

Schichten. 

* 

Der  Historiker  ist  nicht  immer  ein  rückwärts 
gekehrter  Prophet,  aber  der  Journalist  ist  immer 
einer,  der  nachher  alles  vorher  gewußt  hat. 

* 

Die  ganze  Menschlieit  befindet  sich  bereits  der 
Presse  gegenüber  im  Zustande  des  Schauspielers,  dem 
ein    unterlassener  Gruß   schaden   könnte.   Man   wird 

preßfürchtig  geboren. 

* 

Der  Kritik  der  Zeitungen  gelingt  es  immerhin, 
auszudrücken,  v/ie  der  Kritisierte  zum  Kritiker  steht. 

Der  Journalismus  ist  ein  Terminhandel,  bei  dem 
das  Getreide  auch  in  der  Idee  nicht  vorhanden  ist, 
aber  effektives  Stroh  gedroschen  wird. 

Steht  die  Kunst  tagsüber  im  Dienste  des  Kauf- 
manns, so  ist  der  Abend  seiner  Erholung  an  ihr 
gewidmet.  Das  ist  viel  verlangt  von  der  Kunst,  aber 
sie  und  der  Kaufmann  schaffen  es. 


Ihr,  ihr  Götter  gehört  dem  Kaufmann! 
* 

Die   Ostasiaten    können    ohne    Gefahr    für    ihr 
kulturelles  Fortleben   sich   auf  technische  Spielereien 


87 


einlassen.  Diese  sind  das  Nebengeleise  des  Lebens, 
auf  das  wir  unsere  abgebundene  Sexualität  gedrängt 
haben.  Dort  ist  sie  festgefahren  und  wir  werden 
schon  sehen,  wohin  wir  kommen  und  wo  wir  bleiben. 
Solange  im  Leben  der  Ostasiaten  die  Hauptsache 
nicht  abgebunden  ist,  bedeutet  ihr  Fortschritt  nicht 
die  Gefahr  des  Steckenbleibens. 


Seitdem  sich  die  Menschheit  einen  Propeller 
vorbindet,  geht  es  zurück.  Die  Luftschraube  bewirkt, 
daß  es  auch  abwärts  geht. 


Die  Eignung  zum  Lesen  der  Kriegsberichte 
dürfte  bei  mancher  Nation  schon  heute  die  Kriegs- 
tauglichkeit ersetzen. 

* 

Der  Erfinder  derBuchdruckerkunst  ist  Gutenberg. 
Er  hieß  eigentlich  Gänsefleisch.  »Er  verband  sich  in 
Straßburg  mit  mehreren  Genossen  zur  Ausbeutung 
gewisser  Kenntnisse  und  Fähigkeiten,  die  er  besaß, 
v/ozu  sie  zum  Teil  erhebliche  Summen  einzahlen 
mußten.  Das  fortwährende  Drängen  seiner  Genossen, 
noch  in  weitere  Geheimnisse  eingeweiht  zu  werden, 
die  Tatsache,  daß  ihnen  dies  unter  neuen  Einzahlungen 
gelang,  sowie  die  weitere  Tatsache,  daß  hierbei  eine 
Presse  zur  Verwendung  kam,  lassen  uns  vermuten, 
daß  G.  tatsächlich  schon  hier  die  ersten  Versuche 
in  seiner  großen  Entdeckung  gemacht  hat.« 


88 


Die  Druckerschwärze  ist  noch  nie  zu  der  Ver- 
wendung gelangt,  für  die  sie  erschaffen  ist.  Sie 
gehört  nicht  ins  Hirn,  sondern  in  den  Hals  jener, 
die  sie  falsch  verwenden. 


IV 

Wien 


91 


Ich  glaube,  daß  wir  der  Entwicklung  der  Presse, 
die  neuestens  den  Ministern  »als  Dolmetsch  der  in 
der  Bevölkerung  verbreiteten  Ansichten  unent- 
behrlich« erscheint,  hauptsächlich  das  eine  verdanken: 
daß  ein  lebendiger  Kaffeesieder  uns  täglich  gegen- 
wärtiger ist  als  Grillparzer,  Schubert  und  Stifter. 
Was  allerdings  auch  mit  den  in  der  Bevölkerung 
verbreiteten  Ansichten  übereinstimmen  dürfte. 


Der  Mensch  wendet  gegen  den  Kund  ein,  daß 
er  Dreck  sucht.  Was  noch  mehr  gegen  ihn  spricht, 
ist,  daß  er  den  Menschen  sucht.  Immerhin  beweist 
er  seine  Höherwertigkeit  dadm-ch,  daß  er  nicht  zum 
»Dreimäderlhaus«  läuft. 

Made  in  Austria  —  aha,  von  altem  Käse  ist  die 
Rede.  Österreich  ist  gut  durch.  Aber  bald  werden 
die  Kellner  bedauern,  nicht  mehi'  dienen  zu  können. 


Die  österreichische  Überzeugung,  daß  dir  nix 
g'schehn  kann,  geht  bis  zu  der  Entschlossenheit  eines 
Mannes,  der  auf  Unfall  versichert  ist  und  sich  des- 
halb ein  Bein  bricht. 


92 


Österreich  hat  durch  seine  politischen  Blamagen 
erreicht,  daß  man  in  der  großen  Welt  auf  Öster- 
reich aufmerksam  wurde  und  es  endlich  einmal 
nicht  mehr  mit  Austrahen  verwechselt. 


Ich  bedaure  die  Sisyphusse,  die  in  der  Unter- 
welt unseres  öffentlichen  Lebens  den  Stein  des 
Fremdenverkehrs  heben  wollen  und  sich  freuen, 
wenn  er  ihnen  beim  Hinabrollen  wenigstens  die 
Fremdwörter  erschlägt. 

Einen  Brief  absenden  heißt  in  Österreich  einen 

Brief  aufgeben. 

* 

Der  Wiener  Volkscharakter  hat  zwei  Trieb- 
federn des  Stillstandes,  die,  scheinbar  einander 
entgegenstrebend,  schließlich  doch  eine  Einheit 
ergeben:  Der  Schiebidennetean-Wille  paart  sich  mit 
der  Stehtenettafür-Skepsis  und  es  entspringt  die 
Lekmimoasch- Absage. 


Dem  Kampf   gegen    das  Welsche    scheint    eine 

heimliche  Sympathie  für  das  Kauderwelsche  zugrunde- 

zuliegen. 

* 

Jeder  Wiener  steht  allein  im  Weltenraum  und 
bietet  sich  der  Betrachtung.  In  Berlin  ist  bloß  der 
Reinhardt  eine  Individualität  und  jeder  Berliner  sein 
Komparse.  Und  wenn  ich  zehn  Jahre  in  Berlin  lebte, 
ich   würde    an    die  Wimpern    eines  Passanten    nicht 


93 


klimpern  können,  während  man  in  Wien  am  ersten 
Tag  auf  ihnen  Klavier  spielen  kann. 


In  Wien  und  in  Berlin  können  Aeroplane  auf- 
steigen, da  ist  weiter  nichts  Wunderbares.  Aber  daß 
man  per  Eisenbahn  in  zwölf  Stunden  von  Grinzing 
beim  Oranienburger  Tor  sein  kann,  das  klingt  wie 
eine  Erfindung. 

Die  Sicherheit  in  Wien  ist  schon  Garantie:  der 
Kutscher  überfährt  den  Passanten  nicht,  weil  er  ihn 
persönlich  kennt. 

Wiewohl  der  Kutscher  den  Passanten  persönlich 
kennt,  kann  doch  etwas  passieren.  Man  darf  nicht 
außer  acht  lassen,  daß  die  Freude  des  Wiedersehens 
jenen  verwirren  kann. 

Die  Mission  der  Ämter  ist  es,  die  Erhebungen 
zu  pflegen,  die  eben  dadurch  zu  entstehen  pflegen. 

* 

Es  ist  nicht  gut,  daß  in  einem  schlechten  Staat 
eine  Industrie  verstaatlicht  wird.  Denn  erstens  ist 
dann  die  Ware  schlechter,  zweitens  wird  man  schlechter 
bedient  und  drittens  begeht  man  dadurch,  daß  man 
dem  Lieferanten  die  Ware  an  den  Schädel  wirft,  eine 

Amtsehrenbeleidigung. 

* 

Die  meisten  Staatsbeamten  haben  Journaldienst. 


94 

/ 
Die  Zeitung  in  Deutschland  ist  immerhin  eine 
Bedürfnisanstalt.  Hier  suchen  sie  durch  Goldfische  von 
dem  eigentlichen   Sinn   der  Verrichtung   abzulenken. 


Natürlich  lebe  ich  immer  noch  lieber  unter  dem 
Betriebspöbel  als  unter  dem  Gemütspöbel. 


»Der  Wiener  geht  nicht  unter.«  Hoffnung  oder 
Drohung?  Vielleicht  nur  eine  Höflichkeit,  für  »Unkraut 
verdirbt  nicht«. 

Ich  glaube  nicht,  daß  der  Wiener  ein  Kenner 
von  Lyrik  ist,  wenn  er  behauptet,  eine  Mehlspeise 
sei  ein  Gedicht,  das  auf  der  Zunge  zergeht. 


Die  Panik  auf  einem  untergehenden  Dampfer, 
der  schon  das  Notsignal  SOS  (Rettet  unsere  Seelen) 
abgibt,  muß  ein  Kinderspiel  sein  gegen  das  Chaos 
in  einem  Wiener  Restaurant,  wenn  alles  teils  essen, 
teils  »zahlen«  will,  die  Mannschaft  »nicht  mehr  dienen« 
kann,  der  Kapitän  sich  händeringend  weinenden 
Familien  entwindet,  während  die  Hilferufe  »Zahlen!«, 
von  keuchenden  Matrosen  weitergegeben,  verhallend 
ins  Leere,  über  seinem  Kopf  zusammenschlagen, 
zwischen  jammernden  Kindern,  irrenden  Müttern  der 
Todesengel,  ein  unbewegter  Grüßer,  durch  die  Reihen 
geht  und  im  Moment  der  äußersten  Bedrängnis,  wo 
nur  noch  gurgelnde  Laute  wie  »Hier!«  »Bier!«  »Wo?« 


95 


»Do!«  hörbar  werden,  plötzlich  der  furchtbare  Angst- 
ruf  zum  Himmel  dringt:   »Soss  bittee!«. 


In  Wien  habe  ich  oft  eine  allgemeine  Befriedigung 
bemerkt,  wenn  in  einem  Lokal  ein  Engländer  sich 
schlecht  benahm.  Da  wu-d  Spalier  gebildet  und  über- 
all ist  Freude.  Ganz  nüchtern  wird  der  Osten,  wenn 

der  Westen  besoffen  ist. 

* 

Es  gibt  Leute,  die  zu  grinsen  beginnen,  wenn 
sie  mir  auf  der  Straße  begegnen,  als  ob  ich  mir's 
gewünscht  hätte,  sie  zu  treffen,  und  sie,  weil  sie 
schon  immer  gewußt  haben,  daß  das  unangenehm 
ist,  nun  ihre  ganze  Schadenfreude  zusammenrafften. 
Auch  rufen  sie  einander,  wenn  sie  zu  zweit  gehen, 
meinen  Namen  zu,  aber  auch  mir  selbst,  damit  ich 
mir's  merke.  Die  Zeitverhältnisse  bestärken  mich  in 
der  Vermutung,  daß  es  nicht  reisende  Engländer, 
sondern  im  Gegenteil  Angehörige  der  Zentralstaaten 
sind  oder  vollends,  da  es  auch  schwer  ist,  über 
Bodenbach  hereinzukommen,  Wiener. 


»Wie  kommt  es,  daß  so  viele  Leute  in  Wien 
noch  immer  glauben,  daß  Sie  einen  Vollbart  haben?« 
»Das  kommt  daher,  daß  ich  einmal  zufällig  neben 
einem  ging,  der  einen  Vollbart  trug,  und  daß  einer, 
der  mit  einem  andern  vorbeiging,  mit  dem  Fmger 
zeigte:  »Dort  geht  der  Fackelkraus.«  »Ist  Ihnen  die 
Verwechslung  unangenehm?«  »Nein,  aber  dem 
andern.«  »Kennen  Sie  ihn?«  »Nein,  aber  ich  bedaure  ihn, 


96 


er  muß  Qualen  ausstehen.«  »Sie  sind  schadenfroh.« 
»Ja,  weil  ihm  recht  geschieht.  Einem  Vollbart 
glaubt  man's.«  »Leben  Sie  darum  besser?«  »Gewiß, 
weil  nur  die  Hälfte  der  Bevölkerung  mich  agnosziert, 
während  die  andere  Hälfte  an  der  andern  Version 
festhält.«  »Sie  könnten  sich  vollends  Ruhe  schaffen, 
wenn  Sie  sich  einen  Vollbart  wachsen  ließen.«  »Es 
wäre  gegen  meine  Überzeugung  und  überdies  würde 
es  nichts  nützen,  weil  dann  die  andere  Hälfte  der 
Bevölkerung  mich  mit  dem  andern  verwechseln  würde.« 
»Was  würden  Sie  tun,  wenn  Sie  diesen  kennen 
lernten?«  »Ihm  den  Rat  geben,  sich  rasieren  zu 
lassen.«  »Warum?«  »Weil  es  besser  aussieht.«  »Dann 
wüßte  aber  die  andre  Hälfte  der  Bevölkerung  nicht, 
woran  sie  ist!«  »Ich  würde  mir  in  den  Bart  lachen.« 
»Aber  hätten  Sie  denn  einen,  weil  der  andere  sich 
rasieren  läßt?«  »Das  ist  wahr.  So  würde  ich  mir  ins 
Fäustchen  lachen.« 


(Lesestück.)  Ich  kam  in  ein  Lokal.  Alle  Tische 
waren  besetzt.  An  einem  saß  nur  einer.  Ich  nahm 
Platz.  Eine  Familie  kommt,  Vater,  Mutter,  Tochter. 
Die  Tochter  gibt  der  Mutter  einen  Stoß,  diese  dem 
Vater.  Der  Vater  versteht  nicht.  Die  Tochter  schreibt 
es  auf.  Der  Vater  starrt  entsetzt  meinen  Nachbarn 
an  und  nimmt  eine  Zeitung  zur  Hand.  Mein  Nachbar 
entfernt  sich  nach  einer  Weile.  Der  Vater  sieht 
ihm  nach  und  sagt  triumphierend:  »Justament  hab 
ich  mich  nicht  geniert  und  hab  vor  ihm  die  Neue 
Presse   gelesen,   zersprungen    is   er   und    weg!«    Die 


97 


Tochter    gab    der    Mutter    einen    Stoß,     diese    dem 
Vater.  Der  Orkus  öffnete  sich  und  ich  trat  diskret  ab. 


Gibt  es  eine  gi-ößere  Wehrlosigkeit  als  die  in 
einem  Sperrsitz  im  Theater?  Was  tust  du  nur,  wenn 
vor  dir  einer  sitzt,  der  dich  unaufhörhch  grüßt,  in 
der  richtigen  Annahme,  du  werdest  ihn  bemerken? 
Gut,  du  erwiderst  den  Gruß  nicht.  Aber  er  versucht's 
im  nächsten  Zwischenakt  wieder  und  drelit  sich  auch 
während  des  Spiels  öfter  nach  dir  um.  Er  grüßt  so 
oft,  um  die  Grüße  der  letzten  zwanzig  Jahre  einzu- 
bringen, die  er  nicht  erreicht  hat.  Wie  gern  lese  ich 
einem  Publikum  von  solchen  im  finstern  Saal 
etwas  vor.  Aber  unter  ihnen  sitzen  —  da  packt 
mich  das  Lampenfieber. 

Wenn  ich  manche  Leute  zurückgrüße,  so  geschieht 
es  nur,  um  ihnen  ihren  Gruß  zurückzugeben. 


Ich  sehe,  wenn  ich  über  die  Straße  gehe,  viele 
Dummköpfe,  bleibe  aber  ernst.  Ja,  ich  werde  immer 
ernster,  je  mehr  Dummköpfe  ich  sehe.  Dagegen  lächeln 
die  Dummköpfe,  die  mich  sehen,  wenn  sie  über  die 
Straße  gehen,  und  da  mich  ebensoviele  Dummköpfe 
sehen,  als  ich  Dummköpfe  sehe,  so  lächeln  viele  Dumm- 
köpfe, wenn  ich  über  die  Straße  gehe.  Sie  bleiben 
stehen,  rufen  meinen  Namen,  zeigen  auf  mich,  damit 
ich  nicht  nur  sie  bemerke,  sondern  auch  wisse,  wie 
ich  heiße,  und  daß  ich  es  bin.  Ich  kann  mich  dagegen 
nicht   schützen,    weil   dieser  Vorgang  sich   in   einem 

7 


98 


Staate  abspielt,  der  der  Meinung  ist,  daß  nur  die 
Ehre  beleidigt  werden  könne,  und  der  einen  Dumm- 
kopf ungestraft  läßt,  aber  mich  straft,  wenn  ich  ihn 
Dummkopf  nenne,  damit  er  wisse,  wie  er  heißt  und 
daß  er  es  ist. 

Hast  du  vom  Kahlenberg  die  Stadt  dir  nur  besehn, 
so  wirst  du,  was  ich  schrieb  und  was  ich  bin,  verstehnl 


V 

1915 


101 


Jetzt  sind  alle  Gedankengänge  Laufgräben. 
Meine  gar  Katakomben. 

* 

Ein  Zauberlehrling  scheint  die  Abwesenheit  des 
Meisters  benützt  zu  haben.  Nur  daß  es  statt  Wassers 

Blut  gibt. 

* 

Eben  jenes  Böse,  welches  das  Christentum  nicht 
bändigen  konnte,  aufzupeitschen,  ist  der  Drucker- 
schwärze gelungen. 

* 

In  der  Entwicklung  europäischer  Dinge  konnte 
die  Religion  nicht  weiter:  da  trat  die  Presse  ein  und 
führte  alles  zum  Ende.  Wahrlich,  sie  kam  der 
lückenhjiften  Menschennatur  besser  entgegen,  ihr  zu 
schmeicheln,  als  jene,  ihr  zu  helfen.  So  vermag  die 
Presse  mehr  gegen  den  Menschen  als  die  Religion 
für  ihn.  Wie  groß  müßte  die  Persönlichkeit  sein,  die 
im  Betrieb  dieses  Machtmittels  ihrer  selbst  sicher 
bliebe,  ein  der  Menschheit  verantwortlicher  Redakteur ; 
wie  stark  die  Menschheit,  die  ohne  Gefahr  sich 
ihm  ganz  überantworten  könnte!  Dies  Machtmittel  ist 
aber  das  Lebensmittel  für  eine  Horde  sittlicher  Miß- 
geburten, es  ist  der  Unterhalt  aller  Hinfälligen  im 
Geiste.  Das  Wort,  das  im  Anfang  war,  hören  sie  nicht. 


102 


und   so   muß   die   antichristliche  Menschheit  auf  ein 
neues  Machtwort  warten. 


Die  Welt  hält  Gottseidank  noch  nicht  so  weit, 
daß  das  Problematische  der  geistigen  Dinge  selbst- 
verständlich wird.  Das  will  sie  erst  durch  Kriege 
erreichen,  durch  die  das  Selbstverständliche  der 
leiblichen  Dinge  problematisch  wird.  Sie  führt  einen 
Kampf  gegen  das  Dasein.  Aber  eigentlich  hat  es 
dazusein,  und  dann  erst  wollen  wir  uns  den  Problemen 
zuwenden,  nicht,  um  sie  zu  lösen,  sondern  um  uns 
zu  sammeln. 

* 

Das  Kinderspiel  »Wir  spielen  Weltkrieg«  ist  noch 
trostloser  als  der  Ernst  »Wir  spielen  Kinderstube«.  Es 
wäre  dieser  Menschheit  zu  wünschen,  daß  ihre  Säug- 
linge mit  Erfolg  anfangen,  einander  auszuhungern 
und  den  Ammen  die  Kundschaft  abzutreiben. 


Es  gibt  eine  Idee,  die  einst  den  wählten  Weltkrieg 
in  Bewegung  setzen  wird :  Daß  Gott  den  Menschen  nicht 
als  Konsumenten  und  Produzenten  erschaff en  hat.  Daß 
das  Lebensmittel  nicht  Lebenszweck  sei.  Daß  der 
Magen  dem  Kopf  nicht  über  den  Kopf  wachse.  Daß 
das  Leben  nicht  in  der  Ausschließlichkeit  der  Erwerbs- 
interessen begründet  sei.  Daß  der  Mensch  in  die 
Zeit  gesetzt  sei,  um  Zeit  zu  haben  und  nicht  mit 
den  Beinen  irgendwo  eher  anzulangen  als  mit  dem 
Herzen. 


103 


Die  Chinesen  müssen  die  technischen  Errungen- 
schaften der  Neuzeit  schon  in  der  Vorzeit  durch- 
gemacht und  ihr  Leben  gerettet  haben.  Wenn  sie 
sie  wieder  brauchen  sollten,  um  sie  uns  abzugewöhnen, 
wird  ihnen  das  Ding  wieder  nicht  über  den  Geist 
wachsen.  Asien  wird  Firlefanz  zu  moralischem  Zwecke 
treiben. 

Im  Kampf  als  solchem,  den  das  Christentum 
verdammt,  konnte  einmal  das  Gute  erlöst  und  das 
Böse  im  Kämpfer  besiegt  werden.  Ist  aber  das 
Kampfmittel  vom  Bösen  bezogen  und  der  Zweck  des 
Kampfes  wieder  nur,  im  Mittel  zu  wachsen,  so  siegt 
innen  das  Böse  über  das  Gute.  Wäre  nun  der 
Gegner  ein  solcher,  der  eben  diesem  Streben  wider- 
strebt, so  würde  er  außen  zugrunde  gehn,  weil  er 
das  Mittel  nicht  hat,  und  innen,  wenn  er,  um  den 
Kampf  zu  bestehen,  es  erlangen  möchte.  Denn  die 
Zeit  ist  so  geartet,  daß  man  an  dem  zugrunde  geht, 
wodurch  man  siegt  oder  unterliegt. 


Dieser  Krieg  wirkt  aus  den  Verfallsbedingungen 
der  Zeit.  Er  ist  die  eigentliche  ReaUsierung  des 
Status  quo. 

Was  kann  durch  einen  Weltkrieg  entschieden 
werden?  Nicht  mehr,  als  daß  das  Christentum  zu 
schwach  war,  ihn  zu  verhindern. 


104 


Das  Christentum  war  zu  schwach  vor  der  Rache 
Jehovahs,  seine  Verheißung  zu  dürftig,  sein  Himmel- 
reich eine  so  arme  Entschädigung,  daß  die  Mensch- 
heit sich  für  dieses  Himmelreich  im  Voraus  entschädigen 
zu  müssen  glaubte.  Die  Szene:  Ein  Freudenhaus, 
das  ein  Schlachthaus  ist,  und  im  Hintergrund  die 
letzte  Kapelle,  in  der  ein  einsamer  Papst  die  Hände 
ringt.  Es  ist  nur  ein  Bild.  Am  Monolog  vorbei 
geht  die  Handlung  weiter. 


Paternoster  heißt  ein  Lift.  Bethlehem  ist  ein 
Ort  in  Amerika,  wo  sich  die  größte  Munitionsfabrik 
befindet. 

Die  technische  Entwicklung  wird  nur  noch 
ein  Problem  übrig  lassen:  die  Hinfälligkeit  der 
Menschennatur. 

Das  Gefühl  des  neudeutschen  Menschen,  daß 
er  sich  selbst  keine  höhere  Bestimmung  zuerkennen 
dürfe  als  die,  eine  Präzisionsuhr  zu  sein,  hat  eine 
Redensart  gefunden,  deren  smarte  Häßlichkeit  durch 
ihre  bündige  Wahrheit  versöhnt.  Man  spricht  davon, 
irgendwo  sei  eine  Gesellschaft  versammelt  gewesen, 
in  der  außer  Künstlern  und  Bohemiengs  sogar  Prinzen 
bemerkt  wurden.  Da  setzt  man  denn,  damit  es  nur 
sicher  geglaubt  werde,  gleich  hinzu:  »richtiggehende 
Prinzen«.  Adel  und  Schönheit,  Liebe  und  Kunst, 
Tag  und  Traum,  Krieg  und  Friede,  Zufall  und 
Schicksal  —  alles  geht  richtig.  Man  muß  den 
Menschen,  wenn  er  einmal  erzeugt  ist,  nur  aufziehen,. 


105 


dann  geht  er  schon  von  alleine  richtig.  Eine  weitere 
Gebrauchsanweisung  erübrigt  sich  .  .  .  Und  da  wundert 
man  sich,  daß  im  Instinkt  der  umgebenden  Mensch- 
heit etwas  gegen  ein  Verfahren  rebelliert,  das  als 
patentierter  Instinktersparer  den  Menschen  so  weit 
gebracht  hat,  pünktlich  dort  zu  sein,  wohin  ihn 
Gott  nicht  bestellt  hat,  und  pünktlich  dort  zu  fehlen, 
wo  Gott  so  lange  vergebens  wartet. 


In  einer  gewissen  Zivilisation  muß  es  auch  für 
die  Seele  so  etwas  wie  einen  Suppenwürfel  geben, 
den  sie  nur  ins  heiße  Wasser  zu  tun  brauchen,  um 
ein  gleicher  Art  billiges  wie  bekömmliches  Nahrungs- 
mittel zu  erzielen. 

Am  Ende  war  ein  Wort.  Wemi  es  vor  dem 
die  Ewigkeit  nicht  schaudert,  dann  ist  dies  das 
letzte  Rätsel,  welches  ihr  die  Aufklärung  gelassen 
hat.  Das  Wort  heißt:  Aufmachung.  Der  Geist,  der 
kein  Geheimnis  ungeschoren  und  keinen  Inhalt  un- 
frisiert ließ,  hatte  auch  seine  Offenbarung.  Er  hat 
die  geschaffene  Welt  noch  einmal  »geschafft«  und 
sorgte  für  die  entsprechende  »Aufmachung«.  Nun 
ist  sie  zugemacht. 

Zwischen  der  Sprache  und  dem  Ki'ieg  läßt  sich 
etwa  dieser  Zusammenhang  feststellen:  daß  jene 
Sprache,  die  am  meisten  zu  Phrase  und  Vorrat  erstarrt 
ist,  auch  den  Hang  und  die  Bereitschaft  erklärt,  das 
Wesen  durch  ein  Surrogat  des  Tonfalls  zu  ersetzen, 
mit  Überzeugung  alles  das  an  sich  selbst  untadelig 


106 


zu  finden,  was  dem  andern  nur  zum  Vorwurf  gereicht, 
mit  Entrüstung  zu  enthüllen,  was  man  auch  gern 
tut,  jeden  Zweifel  in  einem  Satzdickicht  zu  fangen 
und  jeden  Verdacht,  als  ob  nicht  alles  in  Ordnung 
wäre,  wie  einen  feindlichen  Angriff  mühelos  abzu- 
weisen. Das  ist  vorzüglich  die  Qualität  einer  Sprache, 
die  heute  jener  Fertigware  gleicht,  welche  an  den 
Mann  zu  bringen,  den  Lebensinhalt  ihrer  Sprecher 
ausmacht;  sie  glänzt  wie  ein  Heiligenschein,  und  sie 
hat  nur  noch  die  selbstverständliche  Seele  des  Bieder- 
manns, der  gar  keine  Zeit  hatte,  eine  Schlechtigkeit 
zu  begehen,  weil  sein  Leben  nur  aufs  Geschäft  auf- 
und  draufgeht  und  wenns  nicht  gereicht  hat,  ein 
offenes  Konto  bleibt. 

Gewiß  ist  ein  Wunder  der  Entwicklung  geschehen. 
Wenn  nur  jetzt  auch  noch  ein  Festredner  oder  ein 
Austauschprofessor  oder  sonst  ein  Apparat  so  aufrichtig 
wäre,  sich  das  Wort  entfahren  zu  lassen:  »Deutsche 
Materie  hat  den  Geist  bezwungen!« 


Ich  habe  einmal  im  Lärm  einer  verkehrstollen 
Straße  den  Ausruf  gehört:  »Weinstube  Rosen- 
kavalier —  lauschigstes  Eckchen  der  Welt!«  Über 
solche  Wahrnehmungen  kann  die  strategisch  günstigste 
Position  schwerlich  beruhigen. 


Für  die  Kultur  eines  Volkes  dürfte  die  Anzahl 
der  Zarathustra- Exemplare,  die  seine  Soldaten  im 
Tornister  führen,  schwerlich  ein  verläßlicher  Maßstab 


107 


sein.  Eher  schon  der  Umstand,  daß  den  Soldaten 
mehr  Zarathustra- Exemplare  nachgerühmt  werden, 
als  im  Felddienst  tatsächlich  zur  Verwendung  gelangen, 
und  daß  es  jene  hören  wollen,  die  daheim  ihren 
Zarathustra  lesen  und  ihre  Zeitung. 


Die  deutsche  Bildung  sollte  nicht  geleugnet 
werden.  Nur  muß  man  auch  wissen,  daß  sie  kein 
Inhalt  ist,  sondern  ein  Schmückedeinheim. 


Mit  gutem  Recht  ist  in  den  Betrachtungen  über 
Kultur  und  Krieg  immer  davon  die  Rede,  daß  die 
andern  die  Utilitarier  sind.  Diese  Auffassung  entstammt 
dem  deutschen  Idealismus,  der  auch  die  Nahrungs- 
und Abführmittel  verklärt  hat. 


Ich  kann  beweisen,  daß  es  doch  das  Volk  der 
Dichter  und  Denker  ist.  Ich  besitze  einen  Band 
Klosettpapier,  der  in  Berlin  verlegt  ist  und  der  auf 
jedem  Blatt  ein  zur  Situation  passendes  Zitat  aus 
einem  Klassiker  enthält. 

* 

Alles,  was  fälschlich  gegen  eine  barbarische 
Kriegführung  vorgebracht  wird,  richtet  sich,  dem 
Hasse  unbewußt,  gegen  eine  barbarische  Friedens- 
führung. 

Gegen  den  Vorwurf,  daß  deutsche  Soldaten 
Kindern   die  Füße    abhacken,   berufen  sich  deutsche 


108 


Journalisten  darauf,  daß  dieses  Volk  Luther,  Beethoven 
und  Kant  hei-vorgebracht  habe.  Aber  daran  ist  es 
mindestens  so  unschuldig  wie  an  den  ihm  zugeschrie- 
benen Greueltaten,  und  es  wäre  wirksamer,  sich  gegen 
solche  Anschuldigungen  auf  die  Geister  zu  berufen,  die 
Deutschland  noch  künftig  hervorbringen  will.  Wenn  wir 
so  weit  halten,  daß  das  Vaterland  von  seinen  Genies  keine 
anderen  Dienste  verlangt  als  von  seinen  Holzknechten, 
und  wenn  jene  durch  einen  tödlichen  Zufall  der  Gelegen- 
heit überhoben  werden  können,  ihm  freiwillig  andere 
zu  leisten,  dann  entsteht  wohl  auch  keines  mehr.  Die 
Geistestaten  der  Luther,  Beethoven  und  Kant  haben 
trotz  allem,  was  die  deutsche  Bildung  davon  weiß 
und  die  deutsche  Ideologie  hineinbezieht,  keine 
Verbindung  mit  einem  Zustand,  aus  dem  jene 
ad  personam  heute,  vielleicht,  nur  durch  den  priester- 
lichen Beruf,  durch  Taubheit  und  durch  eine  Rückgrat- 
verkrümmung befreit  wären. 


Die  Pickelhaube  ist  gebildeter  als  der  Kosak; 
aber  er  lebt  nicht  so  weit  von  Dostojewski  wie  sie 
von  Goethe. 

Die  Deutschen  nennen  sich  auch  das  Volk 
Schopenhauers,  während  Schopenhauer  so  bescheiden 
war,  sich  nicht  für  den  Denker  der  Deutschen  zu 
halten. 

Die  Humanität  im  Kriege,  die  Philosophie  im 
Schützengraben,  der  Kunstsinn  vor  einer  zerschossenen 
Kathedrale  und  sonstige  Tugenden,  durch  deren  Vor- 


109 


handensein  der  Ki'ieg  erst  zum  Barbarismus  wird, 
sollten  nicht  so  oft  hervorgehoben  werden.  Ärger  als  die 
Grausamkeit  im  Krieg  sind  Erscheinungen,  die  jenes 
noch  länger  währende  Übel,  den  Frieden  unerträglich 
machen.  Schweißfüße?  Bewahre;  das  wäre  die  Meinung 
des  Ästheten  (wiewohl  sie  ein  geistiges  Merkmal 
sind).  Nein,  der  Ästhet  selbst.  Nicht  Bomben,  sondern 
Luxusdrucke  auf  handgeschöpftem  Büttenpapier.  Der 
elende  Zierat,  mit  dem  sich  der  banalste  Hausrat 
aller  Kulturen  behängt  und  durch  den  Gewinnsucht 
und  Snobismus  einem  typographischen  Ungeist,  dem 
erlernbaren  Kunstspiel,  dem  ärgsten  Pfuschertum  am 
Wort  Gelegenheit  schaffen.  Eine  Hekatombe  Menschen- 
opfer wiegt  nicht  so  schwer  wie  der  Umstand,  daß  die 
Schändung  eines  toten  Dichters  durch  einen  spür- 
nasigen Tintenjuden,  einen  ästhetisch  interessierten 
Buchhändler  und  einen  Letternschneider,  diese  Häufung 
nekrophiler  und  bibliophiler  Bestrebungen,  Vergnügen 
und  Geschäft  macht.  Und  am  Ende  besteht  kein  Greuel 
ohne  das  andere  und  das  ärgste  ist  der  Protest  der 
Bildung,  daß  sie  damit  keinen  Zusammenhang  habe. 
Sie  hat  noch  weniger  Zusammenhang  mit  ihrer  Sprache. 
Denn  sie  wissen  Bescheid  von  allem  und  ihre  Sprache 
hat  eben  noch  den  Zweck,  ihnen  Bescheid  zu  sagen. 
Kein  Volk  lebt  so  weit  wie  dieses  von  der  Sprache 
als  der  Quelle  seines  Lebens.  Es  schreibt  heute  das 
abgestutzte  Volapük  des  Weltkommis  und  wenn  es 
die  Iphigenie  nicht  gerade  ins  Esperanto  übersetzt, 
so  überläßt  es  das  Wort  seiner  Klassiker  der  schonungs- 
losen Barbarei  aller  Nachdrucker  und  entschädigt  sich 
in  einer  Zeit,  in  der  kein  Mensch  mehr  das  Schicksal 
des   Wortes    ahnt   und    erlebt,    durch    Luxusdrucke 


110 


und  ähnliche  Unzucht  eines  Ästhetizismus,  der  das 
echtere  Stigma  des  Barbarentums  ist  als  das  Bombar- 
dement einer  Kathedrale,  und  wäre  sie  selbst  kein 
militärischer  Beobachtungsposten.  Denn  die  ganze 
Menschheit  ist  einer;  und  sie  lügt,  wenn  sie  glaubt, 
ihre  Bildung  sei  ein  Beweis  gegen  ihre  Grausamkeit 

und  nicht  für  diese. 

* 

Die  Blutbereitschaft  des  Blutes  ist  groß  oder 
traurig.  Schauerlich  ist  die  Blutbereitschaft  des  "Wortes. 
Welch  ein  Fetzen  kann  doch  die  Sprache  sein,  daß 
sie  sich  so  dem  unerlebtesten  Inhalt  hingibt,  so  dem 
niedrigsten  Willen,  sich  neben  die  höchste  Tat  zu  stellen, 
erliegt  und  dem  Schleim  einen  Reim  findet,  daß  er 
von  weitem  aussieht  wie  Erz.  Blaustrümpfe,  die  sich 
nicht  einmal  selbst  befriedigen,  Hysteriker,  die  im 
Frieden  nicht  selbständig  onanieren  konnten,  Lebe- 
männer, die  vor  der  Assentierung  zittern,  Mummel- 
greise, die  sie  nicht  mehr  zu  fürchten  haben,  sind 
mit  Kriegsgedichten  hervorgetreten.  Das  Unvorstell- 
bare, vor  dem  der  Gedanke  eben  noch  Kraft  hat,  in 
das  Schweigen  zu  flüchten,  hat  die  Mittelmäßigkeit 
beredt  gemacht  und  den  Dilettantismus  geschwätzig. 
Wie  viel  Raum  auch  eine  große  Zeit  haben  mag, 
unmöglich  wäre  es,  wenn  die  Sprache  nicht  zur  Zeit- 
genossin herabgesunken  wäre.  Unmöglich  wäre,  daß 
im  Granatenhagel  die  Stimme  eines  kleinen  Juden- 
mädels gehört  werden  will,  das  die  Armee  mit  »Ihr, 
meine Treu'n«  und  »Schließt  eure  Reih'n«  apostrophiert; 
unmöglich,  daß  Librettisten  sich  in  die  Begeisterung 
einlassen  und  aus  einer  Affäre,  bei  der  an  einem 
Tage  vierzigtausend  Menschenleiber  an  Drahtverhauen 


11 


zucken,  etwas  für  ihr  elendes  Geschäft  herausfischen ! 
Was  geht  nur  in  all  den  unfallsichern  Menschenleibem 
vor,  daß  sie  eben  das,  was  in  ihnen  nicht  vorgeht, 
nie  vorgehen  könnte  und  ihrem  Gefühl  völlig  unerreich- 
bar bleibt,  so  als  ihr  Mitgemachtes  verbauter  zu 
begleiten  sich  nicht  scheuen?  Welche  Wundermacht 
neben  dem  Ereignis,  das  zu  schwach  war,  zum 
schweigenden  Mitleid  zu  überreden,  ist  da  wirksam? 
Einer,  der  einmal  von  sich  behauptet  hat,  er  »liebe 
die  hektischen  schlanken  Narzissen  mit  blutrotem 
Mund,  er  liebe  die  Qualengedanken,  die  Herzen 
zerstochen  und  wund«,  wünscht  jetzt  ganz  andere 
Verwundungen  und  ist  der  Dichter  der  Parole :  »Die 
Russen  und  die  Serben,  die  hauen  wir  zu  Scherben!« 
Ist  er  gesund  geworden,  ist  er  erstarkt  oder  war  eins 
so  gefühlt  wie  das  andere?  Ist  es  möglich,  daß 
Handwerker  des  Wortes,  die  ihr  Leben  lang  gewohnt 
waren,  die  Kundschaft  mit  dekadenten  Stimmungen 
oder  auch  Walzerträumen  oder  was  sonst  die  Künste 
des  Friedens  bieten,  zu  bedienen,  ist  es  möglich,  daß 
sie  nicht  vor  der  Zumutung,  ab  1.  August  1914  das 
Ungeheuerliche  zu  fassonieren,  verlegen  werden;  vor 
dem  Wunsch,  Millionen  Menschen  auf  einmal  ver- 
nichtet zu  sehen,  nicht  heber  Reißaus  nehmen  als  draus 
ein  Couplet  zu  machen;  ihre  Harmlosigkeit  so  ver- 
leugnen und  so  bewähren,  und  sich  nicht  eher  selbst 
aus  dem  Leben  bringen,  als  den  Tod  in  Reime? 


Der  Dori  Körner  (Pseudonym  für  Theodor  Kohn) 
findet  jetzt  Töne,  über  die  man  im  Befreiungskriege 
einfach  paff  gewesen  wäre,  und  Sie  sollten  sehn,  wie 


112 


der  Moriz  Abeles,  der  damals  noch  Arndt  hieß,  alle 
mit  sich  fortreißt! 

Wenn  dieser  Krieg  einer  wäre,  so  wäre  keine 
Presse.  Und  wäre  der  Dreck  nicht  von  selbst  erstarrt, 
so  hätte  man  ihm  helfen  müssen.  Die  weißen  Flecke, 
die  spärlichen  und  seit  Erschaffung  der  Institution 
ersten  anständigen  Stellen  im  Text,  sind  nur  geeignet, 
einem  die  schon  greifbaren  und  doch  unerreichbaren 
Benefizien  eines  Lebens  auf  unbedrucktem  Papier  als 
Tantalusqualen  empfinden  zu  lassen.  Staaten,  die  Krieg 
führen,  sollten  auch  den  Mut  zu  einem  Verbot  der 
Presse  haben.  Zensur  ist  die  grundsätzliche  Aner- 
kennung des  Übels.  Wann  denn  sonst  als  jetzt,  da 
ein  Kommando  ihm  die  Autorität  rettet,  hätte  der 
Staat  sich  endlich  zur  Verstaatlichung  jener  Nachrichten 
entschließen  müssen,  auf  die  das  Publikum  Anspruch 
hat  und  die  ihm  ohne  die  heillose  Zutat  von  Meinung 
und  Beschreibung  in  Krieg  und  Frieden  zu  genügen 
haben?  Unentbehrlich  ist  die  Presse  selbst  jenen 
nicht,  deren  Vorstellungsleben  sie  vergiftet  hat,  und 
schwerer  als  den  Alkohol  in  Rußland  hätte  man  sie 
auch  nicht  vermißt.  Wer  braucht  denn  die  Presse 
außer  mir,  der  sie  aber  auch  nur  so  lange  braucht, 
als  es  sie  gibt!  Die  hunderttausend  nichtsnutzigen 
Staatsangehörigen,  die  heute  nur  deshalb  nicht  wehr- 
fähig sind,  weil  sie  schreibfähig  sind  und  die  eine 
Wahnvorstellung  für  »unentbehrlich«  hält,  sind  ein 
Hindernis  des  Kriegs,  den  sie  gemacht  haben,  und 
ein  Ärgernis  jenen,  die  an  ihm  teilnehmen.  Im  Krieg 
eine  Presse  haben  heißt  den  Feind  im  Rücken  haben. 
Und  von   allen   Seuchen,   die   einen  Krieg  begleiten. 


113 


ist  sie  jene,  deren  furchtbarste  Verbreitunir  durch 
das  einfachste  Verbot  zu  hemmen  wäre.  Sollte  der 
Gedanke,  der  eine  Menschheit  aus  ihren  Lebens- 
bedingungen reißt,  nicht  stark  genug  sein  vor  dem 
Feinde  aller  Staaten? 

Es  gibt  einen  Kulturgeschmack,  der  sich  der 
Läuse  im  Pelz  mit  aller  Gewalt  zu  entledigen  sucht.  Es 
gibt  einen,  der  die  Läuse  duldet  und  den  Pelz  auch 
so  tragbar  findet.  Und  es  gibt  schließlich  einen,  der 
am  Pelz  die  Läuse  für  die  Hauptsache  hält  und  deshalb 
den  Pelz  den  Läusen  zur  freien  Verfügung  überläßt. 


An  der  Erfindung  des  Schießpulvers  und  an  der 
Erfindung  der  Druckerschwärze  müßte  man  vor  allem 
die  Bedeutung  zugeben,  die  ihre  Gleichzeitigkeit  für 
die  Menschheit  hat. 

Drei  Internationalen:  die  katholische,  die  sozia- 
listische und  die  journalistische.  Sie  sind  durch  denWelt- 
krieg  in  nationale  Gruppen  gespalten.  Der  Einfluß,  den 
die  katholisch-nationale  Gruppe  auf  die  Volksgenossen 
zu  nehmen  versucht,  wird  allzu  deutlich  als  Widerspruch 
zum  Wesen  empfunden  und  kann  deshalb  zur  Stärkung 
des  nationalen  Hasses  nicht  viel  beitragen.  Die  sozial- 
nationale Gruppe  verzichtet  zumeist  auf  solchen  Einfluß, 
da  sie  ihn  selbst  als  Widerspruch  zum  Programm 
empfindet,  dem  weder  die  Förderung  des  Staats- 
interesses angemessen  noch  die  Übertreibung  des 
nationalen  Moments  erlaubt  ist.  Nm'  der  Einfluß,  den 
die  preßnationale  Gruppe  jeweils  verübt,  ist  andauernd 

8 


114 


und  mächtig.  Denn  hier  wird  die  nationale  Gemeinheit 
nirgends  als  Widerspruch  zum  internationalen  Wesen 
empfunden.  Über  allen  Schlachtfeldern  könnte  noch 
heute  die  Einheit  eines  Zeitungskongresses  walten, 
auf  dem  Individuen,  die  immer  noch  mehr  Standes- 
genossen als  Volksgenossen  sind,  mit  dem  Weltbrandmal 
auf  der  Stirn,  Beschlüsse  fassen,  etwa  wie  sie  ein- 
ander am  wirksamsten  der  Lüge  bezichtigen  könnten. 


Wie  wird  die  Welt  regiert  und  in  den  Krieg  geführt? 
Diplomaten  belügen  Journalisten  und  glauben  es,  wenn 
sie's  gedruckt  sehn. 

Eine  Kultur  ist  dann  fertig,  wenn  sie  ihre  Phrasen 
noch  in  einen  Zustand  mitschleppt,  wo  sie  deren  Inhalt 
schon  erlebt.  Das  ist  dann  der  sichere  Beweis  dafür, 
daß  sie  ihn  nicht  erlebt.  Nicht  daß  in  den  Tagen  der 
Schlacht  bei  Lemberg  der  jubilierende  Besitzer  eines 
fünfzigjährigen  Börsenblattes  dicht  neben  der  Welt- 
geschichte, nein,  vor  ihr,  als  »Generalstabschef  des 
Geistes«  beglückwünscht  wird  oder  seinem  »Stab« 
nachgerühmt,  daß  er  die  »Fahne  hochhalte«.  Hier 
mißt  sich  der  Geist,  der  die  Phrase  hat,  mit  der  ihm 
fernen  Sphäre,  aus  deren  Leben  er  sie  bezogen 
hat,  frech  genug,  da  diese  Sphäre  in  nächster  räum- 
licher Nähe  eben  lebendig  wird.  Aber  man  würde 
denken,  daß  sie  selbst  noch  dieses  Leben  hat  und 
in  ihr  selbst  der  unmittelbar  erlebte  Inhalt  sich  nie 
anders  als  im  unmittelbar  geschöpften  Wort  aus- 
sprechen könnte;  daß  ihr  Phrasen  gar  nicht  einfallen 
möchten,  deren  Inhalt  ihr  nicht  nur  eingeboren  ist. 


115 


sondern  den  sie  aufs  neue  erlebt,  und  daß  sie 
Redensarten  verschmähen  müßte,  die  so  lange  schon 
als  die  ausgespuckten  Schalen  eines  ganz  anders 
gearteten  Appetits  in  der  Welt  herumliegen.  Man 
würde  doch  nicht  denken,  daß  der  Krieger  eben 
die  Umschreibungen  noch  gebrauchen  könnte,  die 
der  Bürger  für  seine  täglichen  Verrichtungen  und 
Verfehlungen,  nein,  der  Tagdieb  als  dieVerzierung  seiner 
journalistischen  Niedrigkeiten  aus  der  kriegerischen 
Sphäre  erbeutet  hat.  Sonderbar  genug,  daß  just 
die  Untauglichen  sich  immer  freiwillig  in  der 
kriegerischen  Sprache  betätigt  haben.  Eben  weil 
ein  Regiment  seine  Fahne  hochhält,  so  sollte  es 
solches  im  Gegensatz  zu  einer  Redaktion,  die  ja 
mit  nichts  dergleichen  zu  schaffen  hätte,  wenn  der 
Bürstenabzug  nicht  auch  »Fahne«  hieße,  und  die 
ihrem  Handwerk  den  gloriosen  Nebensinn  errafft 
hat,  nicht  mehr  öffentlich  zugeben,  und  zu  allerletzt 
durch  die  Vermittlung  einer  Redaktion.  Denn  wenn- 
gleich es  im  Nahkampf  ja  fast  wieder  die  Sache 
selbst  ist,  wirkt  es  doch  nur  als  eine  Umschreibung 
für  Beharrlichkeit  und  ähnliche  Eigenschaften,  die 
sich  in  einem  langen  Frieden  ganz  andere  Berufe 
angeeignet  haben.  Es  würde  also  höchstens  zu  sagen 
sein,  daß  die  Fahne,  die  ja  selbst  ein  Ornament  ist 
und  in  der  Auseinandersetzung  technischer  Gewalten 
schon  beinahe  das  Aussehen  einer  Phrase  hat,  gehalten, 
nicht  daß  sie  hochgehalten  wurde.  Wenn  man  aber 
gar  in  einer  Aktion,  bei  der  die  Erhaltung  der  Fahne 
nicht  in  Frage  kam,  Beharrlichkeit  gezeigt  hat, 
würde  man  da  gut  tun,  davon  zu  sprechen,  man 
habe  sie  hochgehalten?  Würde  der  Krieger  da  nicht 


116 


eines  rauhen  Eingriffs  in  den  Sprachschatz  des  Kriegs- 
berichterstatters sich  schuldig  machen,  der  ja  ehedem 
sein  eigener  Besitzstand  war,  aber  durch  Verjährung 
schon  dem  Feind  gehört  wie  nur  irgendein  Elsaß- 
Lothringen?  Und  kann  von  einem  gesagt  werden,  er 
habe  sich  im  Schützengraben  seine  Sporen  verdient? 
Soll  dies  selbst  von  einem  Reiter  gesagt  werden, 
auch  wenn  er  noch  ein  Pferd  hat  und  nicht  im  Schützen- 
graben seine  Sporen  verdienen  muß?  Und  kann  in 
einer  Seeschlacht  das  Leben  in  die  Schanze  geschlagen 
werden?  Oder  darf  von  dem  Plan  der  Umzingelung 
einer  Landarmee  gesagt  werden,  er  habe  kläglich 
Schiffbruch  gelitten?  Darf  dies  selbst  von  der 
Operation  einer  Flotte  gesagt  werden,  da  es  doch 
nur  von  einem  Schiff  gesagt  werden  kann,  und  auch 
dieses  dann  noch  dem  Verdacht  ausgesetzt  wäre,  es 
sei  ein  Bankdirektor?  Aber  wenn  ein  Krieger  von 
einem  Schiffbruch  spricht,  den  er  nicht  erleiden 
könnte,  so  könnte  er  auch  von  einem  Bankerott 
sprechen,  den  er  erleidet.  Eine  Marineaktion  in  Fluß 
bringen  kann  gefährlich  sein.  Und  soll  eine  Armee 
dem  Feind  ihre  Überlegenheit  »schlagend«  zum 
Bewußtsein  bringen?  Eben  nur  schlagend;  aber  wenn 
sie's  sagte,  so  wäre  sie  ein  Advokat.  Oder  kann 
ein  Soldat  behaupten,  der  Vorgesetzte  sei  so  beliebt, 
daß  die  Truppe  »für  ihn  durchs  Feuer  gehen  würde«, 
da  sie's  doch  ohnedies  tun  muß?  Und  darf  der 
Erfolg  dank  unserer  jetzigen  Stellung  bombensicher 
genannt  werden?  Wenn  die  Stellung  selbst  sogenannt 
würde,  wäre  es  noch  eine  Phrase,  die  gar  nicht 
djiran  denkt,  daß  die  Stellung  wirklich  bombensicher 
sein  muß.  Wie  können  Militärkritiker  davon  sprechen, 


117 


daß  die  Beschießung  des  Platzes  ein  Bombenerfolg 
war,  da  sie  doch  nicht  Theaterkritiker  sind?  Oder: 
»In  London  macht  die  Torpedierung  der  Xusitania*" 
tiefen  Eindruck.«  Das  ist  noch  menschlich.  Weiter: 
»Auch  an  der  Newyorker  Börse  herrscht  große  Auf- 
regung, alle  Kurse  fielen.«  Weil  die  Menschen 
sanken,  das  ist  ein  Begleitumstand.  Aber:  »In 
Washington  schlug  die  Nachricht  wie  eine  Bombe 
ein.«  Hier  sind  die  Seelen  torpediert.  Und  zwischen 
Kriegsberichten  wird  »Der  Kampf  gegen  die  Zensur« 
erörtert,  »Der  Feldzug  gegen  die  Anleihe«  und  gar 
»Der  Krieg  gegen  die  Wehrpflicht«.  Nun,  Journalisten, 
Händler  und  Friedensfreunde  haben  ihr  Lebenlang 
wie  Soldaten  gesprochen.  Sie  mögen  dabei  bleiben, 
wenn  sie  über  Soldaten  sprechen.  Jedoch  Soldaten 
müßten  anders  sprechen:  nicht  wie  Journalisten, 
die  wie  Soldaten  sprechen,  sondern  wie  Soldaten 
sprechen.  Die  Trennung  ist  aber  wohl  nicht  mehr 
durchführbar.  Eben  weil  der  »Generalstabschef  des 
Geistes«  auch  einen  »Stab«  hat,  so  besteht  Gefahr, 
daß  der  Generalstabschef  einen  Redaktionsstab  hat, 
und  wenn  Krämer  sich  aufs  hohe  Roß  schwingen, 
so  mögen  Krieger  sich  nachrühmen  lassen,  daß  sie 
»einen  Volltreffer  auf  ihr  Konto  buchen  konnten«. 
Kommis,  die  die  deutsche  Sprache  evakuiert  haben, 
gebärden  sich  als  Kommandanten  und  verbündete 
Armeen  müssen  es  sich  gefallen  lassen,  als  »Gesell- 
schafter mit  unbeschränkter  Haftung«  angeredet  zu 
werden.  Das  kommt  davon,  daß  die  Menschheit  ihre 
Exportfragen  mit  Stinkbomben  in  Ordnung  bringen 
will.  Sollte  solch  ein  Krieg  am  Ende  doch  nicht  die 
moralische  Kraft  haben,  die  Menschheit  zu  den  Dingen 


11-8 


lind  zu  den  Worten  zurückzuführen  und  die  Zwischen- 
händler mühelos  abzuweisen?  Wenn  wir  die  Tat 
erlebten,  wäre  der  Schorf  der  Sprache  von  selbst 
abgefallen,  der  Dreck  der  Gesinnung  erstarrt.  Neulich 
las  ich,  »die  Nachricht  von  dem  Brand  in  Hietzing 
habe  sich  wie  ein  Lauffeuer  verbreitet«.  So  die 
Nachricht  vom  Weltbrand.  Die  Welt  brennt,  weil 
Papier  brennt.  Wie  konnte  man  auch  solche  Materie 

im  Hause  lassen! 

* 

Was  ist  denn  das  für  ein  mythologischer 
Wirrwarr?  Seit  wann  ist  denn  Mars  der  Gott  des 
Handels  und  Merkur  der  Gott  des  Krieges? 


Ist  es  nicht  Unzucht?  Eben  die  Welt,  deren 
höchstes  Lob  »gediegen«  oder  »leistungsfähig«  war,, 
darf  jetzt  »wacker«  und  »brav«  sagen. 


Es  ist  ein  Triumph  der  Sprache  über  die  Sieger, 
daß  sie,  ob  sie  wollen  oder  nicht,  jetzt  so  oft  den 
Plural  »Schüder«  anwenden,  und  ein  Triumph  der 
Kaufleute  über  die  Sprache,  daß  sie  im  kommenden 
Frieden  nur  noch  »Schilde«  über  ihren  Geschäften 
haben  werden.  Und  es  ist  nicht  einmal  eine  Ver- 
wechslung dieser  Worte,  da  doch  der  Krieg  auf 
einer  Verwechslung  dieser  Dinge  beruht.  In  der 
gepanzerten  Kommerzwelt,  die  täglich  Blutbilanz 
macht,  tauschen  der  Schild  und  das  Schild  so  oft 
ihre  Rollen  wie  das  Verdienst  und  der  Verdienst. 
Es  geht   umso   leichter,    als  Berufe,    die   ihr  Lebtag 


119 


einen  Verdienst    und    ein  Schild  hatten,  jetzt    ohne 
Übergang  einen  Schild  und  ein  Verdienst  haben. 


Einer  meldete:  »Das  Kommando  wird  prompt 
ausgeführt.«  Er  wollte  sagen:  Die  Schlacht  wird 
prompt  geliefert. 

Sollte  die  Technik  am  Ende  nicht  imstande  sein, 
neue  Embleme  herzustellen?  Bleibt  sie  angewiesen,  sie 
von  den  alten  Idealen  zu  beziehen  und  auf  die  neue 
Sache  aufzumontieren? 


Ahnungsvoller  Druckfehlerteufel!  Ein  Historiker 
schrieb:  »So  mußte,  als  die  Mongolen  im  13.  Jahr- 
hundert Ungarn  erobert  hatten,  Herzog  Friedrich 
der  Streitbare  den  wilden  Feind  durch  den  Sieg  auf 
dem  Blochfeld  bei  Wr.  Neustadt  von  Deutschland 

fernhalten.« 

* 

Diese  Zeit  stellt  noch  immer  eine  sichere 
Information  vor  einen  ungewissen  Heldentod.  Darum 
hat  sich  die  Zeitung,  die  wie  keine  andere  der  Zeit 
Sprache  spricht,  so  ausgedrückt:  »Bevorstehender 
Heldentod  der  deutschen  Soldaten  in  China.« 


Daß  der  »Heldentod«  einmal  eine  Zeitungsrubrik 
werden  könnte,  hat  sich  keiner  jener  Helden  träumen 
lassen,  deren  Andenken  auf  die  mündliche  Über- 
lieferung, wenns  gut  ging,  auf  ein  Epos  angewiesen  war. 


120 


Unsere  Zeit  erhebt  zu  dem  neuen  Inhalt  auch 
noch  auf  die  alten  Embleme  Anspruch.  »Maschinen- 
risiko« wäre  ihr  zu  farblos.  Und  dennoch  träte  hier 
wenigstens  der  individuelle  Anteil  am  allgemeinen 
Schicksal  immer  wieder  hervor,  aus  Rubrik  und 
Mechanik  immer  wieder  vor  unser  Gefühl.  Kein  Tod 
aber  verträgt  die  Klischierung  weniger  als  der  Helden- 
tod, weil  er  in  sich  der  Vorstellung  einer  epidemischen 
Häufigkeit  widerstrebt.  Wie  häßlich,  daß  der  Lorbeer 
dort  jetzt  wachsen  soll,  wo  die  Reklame  wuchert! 
Der  Heldentod,  und  sei  er  nur  der  Zufall  eines 
Schrapnells,  der  für  die  Angehörigen  schmerzlich 
ist,  sei  er  nur  Tod  schlechthin,  wird  er  nicht 
entweiht  durch  jenes  Register,  in  dem  früher  ebenso 
häufig  die  Verleihung  des  kaiserlichen  Rats  geführt 
wurde?  Und  ist  die  Duldung  solcher  Dinge  nicht  auch 
ein  Zeichen  der  großen  Zeit  wie  ihre  Übung?  Wäre 
nicht  hier  ein  weißer  Fleck  der  Leichenstein,  vor 
dem  der  Leser  den  Hut  zu  ziehen  hätte? 


Ehedem  war  der  Krieg  ein  Turnier  der  Minder- 
zahl und  jedes  Beispiel  hatte  Kraft.  Jetzt  ist  er  ein 
Maschinenrisiko  der  Gesamtheit  und  jedes  Beispiel 
steht  in  der  Zeitung. 

Die  Quantität   ist  kein  Gedanke.   Aber  daß  sie 

ihn  fraß,  ist  einer. 

* 

Gewiß,  die  Entwicklung  der  Waffe  konnte 
unmöglich  hinter  den  technischen  Errungenschaften 
der   Neuzeit   zurückbleiben.     Nur   die  Phantasie   der 


121 


Menschheit  mußte  hinter  ihnen  zurückbleiben.  «Führt 
man  denn  mit  Phantasie  Kriege?«  Nein,  denn  wenn 
man  sie  noch  hätte,  würde  man  es  nicht  tun.  Denn 
dann  hätte  man  die  Maschine  nicht.  Denn  dann  wüßte 
man,  daß  der  Mensch,  der  die  Maschine  erfand, 
von  ihr  überwältigt  wird,  und  daß  es  Sünde  ist,  das 
Leben  dem  Zufall  auszusetzen  und  den  Tod  zum 
Zufall  zu  erniedrigen. 

Einmal  rief  ein  Weib:  »Extraausgabe!  Neue  Freie 
Presse!«  Sie  hatte  an  der  Hand  ein  dreijähriges  Kind; 
das  rief:  »Neue  feile  Pesse!«  Und  sie  hatte  einen 
Säugling  auf  dem  Arm;  der  rief:  »Leie  leie  lelle!« 
Es  war  eine  große  Zeit. 


Separiertes    Zimmer    für    einen    soliden    Herrn 
gesucht,  in  das  der  Ruf  »Extraausgabee!«  nicht  dringt. 


»Bleiben  Sie  denn  unbewegt  vor  den  vielen,  die 

jetzt  sterben?«    »Ich  beweine   die  Überlebenden  und 

ihrer  sind  mehr.« 

* 

»Es  handelt  sich  in  diesem  Krieg  — «   »Jawohl, 
es  handelt  sich  in  diesem  Krieg!« 


Ich  begreife,  daß  einer  Baumwolle  für  sein  Leben 
opfert.  Aber  umgekehrt? 


122 


Die  Völker,  die  noch  den  Fetisch  anbeten,  werden 
nie  so  tief  sinken,  in  der  Ware  eine  Seele  zu  vermuten. 

* 

Wir  Menschen  sind  doch  bessere  Wilde. 


Es  gibt  verschiedene  Kulturen.  Die  eine  lebt  im 
Lebensmittel.  Die  andere  verbindet  den  Geist  mit  dem 
Lebensmittel.  Die  dritte  trennt  den  Geist  vom  Lebens- 
mittel.   Die  vierte   lebt   im   Geist   —   aber  nicht  in 

Europa. 

* 

Es  gibt  Gegenden,  wo  man  wenigstens  die  Ideale 
in  Ruhe  läßt,  wenn  der  Export  in  Gefahr  ist,  und  wo 
man  so  ehrlich  vom  Geschäft  spricht,  daß  man  es 
nicht  Vaterland  nennen  würde  und  vorsichtshalber 
gleich  darauf  verzichtet,  in  seiner  Sprache  ein  Wort 
dafür  zu  haben.  Solches  Volk  nennen  wir  Idealisten 
des  Exports  eine  Geschäftsnation. 


Das  selbstlose  Pathos,  das  uns  so  oft  und  mit 
Recht  beteuerte,  daß  »Söldner«  von  »Sold«  komme, 
hat  ganz  vergessen,  daß  der  »Soldat«  mindestens  in 
seiner  etymologischen  Bedeutung  auf  ihn  auch  nicht 

ganz  verzichten  kann. 

* 

Bismarck  war  der  letzte,  der  erkannt  hat,  daß 
ihnen  eine  Ausdehnung  ihres  Etablissements  nicht 
bekömmlich  wäre,  und  daß  sie  nicht  zu  viel  essen 
dürfen,  weil  sie  eine  schlechte  kulturelle  Verdauung 


123 


haben,  deren  Begleiterscheinungen  die  Nachbarschaft 
im  Nu  spürt.  Und  daß  die  Expansion  im  Welthandel 
den  deutschen  Geist,  von  dem  die  deutsche  Bildung 
etliche  biographische  Daten  bewahrt,  für  alle  Zeiten 
isolieren  würde.  Es  gibt  scheinbare  Handelsvölker,  die 
weniger  Seele  haben,  aber  dies  Bißchen  bewahren 
können,  weil  sie  es  von  den  Problemen  des  Konsums 
streng  zu  separieren  vermögen.  Freilich,  wer  weiß, 
wie  lange  noch.  Sie  laufen  Gefahr,  mit  der  allgemeinen 
Wehrpflicht  nicht  die  anderen,  sondern  sich  selbst  zu 
vernichten. 


Organisation  ist  ein  Talent  und  wie  jedes  Talent 
zeitläufig.  Es  ist  praktisch  und  dient  der  Individualität, 
die  sich  seiner  bedient,  besser  als  eine  zerfahrene 
Umgebung,  in  der  auch  der  mittelmäßige  Mensch 
Individualität  hat.  Wie  sehr  muß  aber  ein  Volk  sich 
seiner  eigenen  Individualität  entäußert  haben,  um  zu 
der  Fähigkeit  zu  gelangen,  so  glatt  die  Bahn  des 
äußeren  Lebens  zu  bestellen!  Bei  der  Entscheidung 
zwischen  Menschenwerten  hat  das  nervöse  Bedürfnis 
des  höheren  Einzelmenschen  nicht  mehr  mitzureden. 
Er  durfte  in  einem  schlechten  Leben,  und  zumal  in 
dem  äußeren  Chaos,  worin  das  schlechte  Leben 
hierzulande  wohnt,  sich  nach  Ordnung  sehnen;  er 
durfte  die  Technik  als  Pontonbrücke  benützen,  um  zu 
sich  selbst  zu  gelangen ;  er  war  es  zufrieden,  daß  die 
Menschheit  um  ihn  herum  nur  mehr  aus  Chauffeuren 
bestand,  denen  er  gern  noch  das  Stimmrecht  entzogen 
hätte.  Jetzt  geht  es  um  die  Persönlichk-^it  der  Völker  — 


124 


und  jenes  siegt,  das  im  Verkehr  mit  der  Technik  am 
wenigsten  Persönlichheit  behalten  hat. 


Nein,  es  ist  kein  Widerspruch  zwischen  meinem 
Lob  und  meinem  Tadel  desselben  Zustandes.  Zwischen 
meinem  Lob  einer  Zivilisation,  die  das  äußere  Leben 
reibungslos  gemacht  hat,  und  meinem  Tadel  einer 
Kultur,  die  eben  um  dieser  Reibungslosigkeit  willen 
sich  verflüchtigt  hat.  Es  ist  kein  Widerspruch,  sondern 
eine  Wiederholung.  Ich  fühle  mich  in  einer  allgemeinen 
Mißwelt  am  wohlsten  dort,  wo  sie  geordnet  ist  und 
die  Gesellschaft  seelisch  genug  entleert,  um  mir  eine 
Komparserie  zu  stellen,  in  der  einer  wie  der  andere 
aussieht.  Aber  ich  wünsche  nicht,  meine  Kommodität 
über  das  Glücksbedürfnis  der  Menschheit  zu  setzen, 
und  halte  es  für  verfehlt,  wenn  sie  selbst  sich  wie 
ein  Regiment  Aschinger-Brötchen  aufreihen  läßt. 


Der  Anspruch  auf  einen  Platz  an  der  Sonne  ist 
bekannt.  Weniger  bekannt  ist,  daß  sie  untergeht, 
sobald  er  errungen  ist. 

* 

Ich  liebe  die  Lebensbedingungen  des  Auslandes 
nicht.  Ich  bin  nur  öfter  hingegangen,  um  die  deutsche 
Sprache  nicht  zu  verlernen. 


»Ach,  's  ist  ja  zum  Schießen!«  hörte  ich  einen 
Dreijährigen  sagen,  einen,  der  drei  Jahre  erst  gelebt, 
nicht    gedient    hatte.    Irgendwo    wird    das   Kind   als 


125 


Fertigware  geboren.  Aus  dem  Mutterleib  springend, 
überspringt  es  die  vielen  Empfindungswelten,  durch 
die  das  Wort  sich  erst  entwickeln  mußte,  ehe  es 
Redensart  sein  durfte. 

»Wir  haben  die  feindhchen  Vorstellungen  ge- 
nommen.« Aber  die  eigenen  auch.  Welch  tiefer  Sinn, 
daß  dieses  Wort  jetzt  nur  noch  den  einen  Sinn  hat! 
Schopenhauer  hätte  über  die  »Welt  als  Wille  zur 
Macht  und  als  feindliche  Vorstellung«  nachgedacht. 
Nietzsche  hätte  den  »Willen  zur  Macht«  wegen 
falscher  Vorstellung  mit  dem  Ausdruck  des  Bedauerns 
zurückgezogen. 

(Kindermund.)  »Der  Papa  hat  gestern  gesagt: 
Ans  Vaterland  an  teure  schließ  dich  an.  Ist  denn  das 
Vaterland  jetzt  auch  teurer  geworden?« 


Was  ist  denn  das  mit  den  Fremdwörtern?  Man 
vergesse  doch  nicht,  daß  sie  so  ziemlich  die  einzigen 
deutschen  Wörter  sind,  die  dieser  »aufgemachte«  und 
dem    Verkehrsbedürfnis    der    Kundschaft    adaptierte 

Jargon  noch  hat. 

* 

Der  Kommis  kennt  jetzt  keinen  höheren  Ehrgeiz, 
als  Französisch  und  Englisch  nicht  zu  können.  Deutsch 
aber  beherrscht  er  nach  wie  vor. 


Ich  weiß  nicht,  was  das    ist,  aber   seitdem   ich 
statt    einer    Potage    ä   la    Colbert    eine    »Suppe    mit 


126 


Wiirzelwerk  iind  verlorenem  Ei«,  statt  Irish  stew 
»Hammelfleisch  im  Topf  auf  bürgerliche  Art«,  ein 
» Mischgericht <  statt  eines  Ragout,  keinen  Vol-au-vent, 
sondern  eine  »Blätterteighohlpastete«  und  dazu  nicht 
Mixedpickles,  sondern  im  Gegenteil  »Scharfes  Allerlei« 
zu  essen  bekomme,  und  wenn  mir  ein  Appetitbrot 
genügte,  »Reizbrot,  Leckerschnitte«,  statt  einer  Sauce 
tartare  »Tartaren-Tunke  (Soß)«,  statt  einer  Sauce 
Mayonnaise  »Eieröltunke  (Soß)«,  statt  Sardellensauce 
»Sardellentunke«  oder  »Sardellensose«,  wobei  der 
Patriot  ohnehin  schon  ein  Auge  zudrückt,  statt  eines 
garnierten  Rindfleisches  entweder  ein  »Rindfleisch 
umlegt  (mit  Beilagen)«  oder  mit  »Gemüse-Randbeilagen 
(Umkränzung)«,  statt  Pommes  ä  la  mattre  d'hotel 
»Erdäpfel  nach  Haushofmeister- Art«  und  ein  »Rumpf- 
stück«, ein  »Beiried-Doppelstück«,  ein  »Rinds-Lenden- 
Doppelstück«  oder  ein  »blutiges  Zwischenstück«, 
entweder  »mit  Teufelstunke«  oder  »mit  Bearner 
Tunke«,  wobei  das  unübersetzbare  Bearner  schwer 
verdaulich  ist,  oder  gar  »auf  Bordelaiser  Art«,  unter 
der  ich  mir  nichts  vorstellen  kann,  während  ich 
einst  doch  wußte,  wie  das  Leben  ä  la  Bordelaise 
beschaffen  war,  seitdem  ein  »Erdäpfelmus-Brei, 
frisch  gemacht«,  ein  »Blumenkohl  mit  holländischer 
Tunke  (Sos)«  oder  mit  »Holländersose«  oder  eben- 
derselbe »überkrustet«  auf  den  Tisch  kommt,  seitdem 
es,  ach,  »Volksgartenlendenschnitten«  gibt,  »Schnee- 
Eierkuchen  mit  Obstmus«,  die  Maccaroni  verständ- 
licher Weise  »Treubruchnudeln«  heißen,  der  Russische 
Salat  aber  »Nordischer  Salat«  und  zwischen  einem 
Wälischen  und  einem  Welschen  Salat  zu  unter- 
scheiden  ist,   welch   letzterer   auch   »Schurkensalat« 


127 


genannt  wird,  seitdem  für  »zwei  verlorene  Eier«  nur 
ein  ehrlicher  Finder  gesucht  wird  und  mir  zum  Nach- 
tisch »Näschereien«  geboten  werden,  sei  es  »ein 
Päckchen  ICnusperchen«  oder  >Kecks«  oder  gar  eine 
»Krem«  oder  —  Hilfe!  —  ein  »Hofratskäschen«  statt 
eines  Romadour,  —  seitdem,  ich  weiß  nicht,  wie  das 
kommt,  ist  halt  alles  so  teuer  geworden!  Ja,  ich 
versteh  nicht,  warum  diese  deutschen  Übersetzungen 
und  die  dazu  notwendigen  Erklärungen  auf  Französisch 
und  Deutsch  gar  so  kostspielig  sind! 


Es  gibt  einen Hindenburg-Kakau -Sahne -Zucker - 
Würfel.  So  praktisch  ist  das  Leben  eingerichtet. 
Noch  praktischer:  es  gibt  auch  eine  »Kulturwohnung« 
mit  einem  »Kulturbadezimmer«. 


Im  Sagenkreis  des  Deutschtums  wird  dereinst 
ein  großes  Durcheinander  entstehen  zwischen  Kyff- 
häuser  und  Kaufhäuser. 


Welch  ein  Aufgebot  von  Bildung !  Verleger  haben 
das  eiserne  Kreuz,  Soldaten  schreiben  Feuilletons 
und  Feldherren  sind  Doktoren. 


In    der   deutschen  Bildung   nimmt   den    ersten 
Platz  die  Bescheidwissenschaft  ein. 


128 


Aus  den  Äußerungen  der  deutschen  Dichter 
habe  ich  entnommen,  daß  sie  nichts  zu  sagen  haben, 
und  mir  mit  der  Erv^^artung  geschmeichelt,  daß  sie 
mein  Schweigen  anders  deuten  würden. 


Die  deutschen  Dichter  haben  das  Talent,   nicht 
den  Mund  halten  zu  können. 


Ein  deutscher  Dichter  hat  das  Geräusch  der 
Maschinengewehre  »Sphärenmusik«  genannt  und  ein 
österreichischer  hat  beobachtet,  wie  »jeder  Halm 
stramm  steht«.  Wenn  die  Dichter  so  parieren,  werden 
der  Kosmos  und  die  Natur  zu  meutern  beginnen. 


Ich  habe  zu  den  Mysterien  des  Dichters  D.  nie 
so  rechtes  Zutrauen  gehabt.  Dem  Lyriker  L.,  diesem 
Genie  der  Klarheit,  imponierten  sie  mächtig.  Mir 
waren  sie  der  Nebel,  der  über  den  Wassern  liegt, 
aber  ohne  nachfolgende  Schöpfung.  Mir  waren  sie 
der  Dampf,  der  zu  Zeiten  aus  der  Lebensversicherung 
aufsteigt.  D.  muß  dieses  Mißtrauen  schließhch  geteilt 
liaben.  L.,  dieses  Genie  der  Klarheit,  das  auf  stofflich 
greifbarstem  Erdengrund  alle  Tiefe  und  Höhe  durchlebt 
hat  und  noch  im  Waffenrock  ein  Schöpfer  war, 
schien  ihm  unerreichbar.  Da  kam  denn  der  Krieg, 
da  ging  er  denn  hin,  und  zog  auch  den  Waffenrock 
an.  Er  ließ  sich,  damit  kein  Zweifel  sei,  darin 
photographieren.  Er  rief:  »Hurra,  ich  darf  mit!«  und 
schrieb    ein    Abschiedsfeuilleton     an     seine   Kinder. 


129 


Er  ward  Leutnant.  Er  nannte  das  Geräusch  der 
Maschinengewehre  Sphärenmusik.  Um  aber  dem 
Erlebnis  Farbe  abzugewinnen,  wie  sein  Vorgesetzter 
in  der  Lyrik,  der  Hauptmann  L.,  war  er  um  45  Jahre 
zu  spät  in  den  Krieg  gezogen.  Es  war  doch  anders, 
als  er  sichs  vorgestellt  hatte.  Man  hat  ein  eisernes 
Kreuz.  Schließlich  gehts  vom  Feld  in  die  Kanzlei, 
wo  die  Mysterien,  ich  sag's  ja,  immer  noch  am 
besten  aufgehoben  waren. 


Die  deutschen  Lyriker  sind  versatile  Leute. 


Unsere  Literatur  hat  einen  belebenden  Impuls 
empfangen?  Sie  hätte  lieber  Ohi'f eigen  empfangen 
sollen.  Wie,  die  Schöpfungen  unserer  Dichter  haben 
etwas  von  dem  Feueratem  übernommen,  mit  dem  diese 
Zeit  über  den  Alltag  hinweggefegt  ist  oder  so? 
Zwischen  dem  Feueratem  und  dem  Alltag  hat  sich 
sofort  eine  Gemeinsamkeit  ergeben,  die  Phrase,  die 
unsere  Dichter,  anschmiegsam  wie  sie  sind,  sofort 
übernommen  haben.  Sie  sind  pünktlicher  und  schneller 
eingeschnappt,  als  es  die  verblüffte  Kundschaft  ver- 
laugt hätte.  Ihre  Schöpfungen  als  einen  Beweis  für 
die  Größe  der  Zeit  offerieren,  hieße  Optimismus 
bereits  mit  Frozzelei  verwechseln.  Ich  mache  immer- 
hin noch  den  Unterschied  mehrerer  sittlichen  Grade 
zwischen  Bürgern,  die  die  Notwendigkeit  aus  dem 
Bureau  in  den  Schützengraben  treibt,  und  Tagdieben, 
die  daheim  mit  dem  Entsetzen  Ärgeres  treiben  als 
Spott,  nämlich  Leitartikel  oder  Reime,  indem  sie  eine 

9 


130 


Gebärde  aus  zweiter  Hand,  die  schon  in  der  ersten 
falsch  war,  und  einen  Feueratem  aus  dem  Mund  der 
Allgemeinheit  zu  einer  schnöden  Wirksamkeit  ver- 
ai'beiten.  Ich  habe  in  diesen  Schöpfungen  keine  Zeile 
gefunden,  von  der  ich  mich  nicht  schon  in  Friedens- 
zeiten mit  einem  Gesichtsausdruck  abgewandt  hätte, 
der  mehr  auf  Brechreiz  als  auf  das  Gefühl  einer 
Offenbarung  schließen  ließ.  Die  einzige  würdige  Zeile, 
die  in  dieser  ganzen  großen  Zeit  gedruckt  wurde, 
stand  im  Manifest  des  Kaisers  und  war  an  den 
Anschlagsäulen  so  lange  zu  lesen,  bis  sie  vom 
Gesicht  des  Wolf  aus  Gersthof  verdeckt  wurde,  des 
wahren  Tyrtäus  dieses  Kriegs! 


Ein  simpler  Reim  jedoch,  den  ich  gelesen 
habe,  entstanden  im  Munde  eines  Wiener  Soldaten, 
der  seinen  Vater  an  der  Front  wiedersieht,  scheint  für 
die  säkulare  Schande  der  Kriegslyrik  von  1915  zu 
entschädigen  und  weist  wie  ein  verirrter  Naturlaut 
auf  eine  ursprüngliche  Menschlichkeit  zurück,  die 
einmal  unter  die  Maschine  des  neuwienerischen 
Lebenstons  geraten  ist. 

Servas,  spater  Herr!  Bist  aa  scho  dader? 

Ah,  Jessas,  da  schauts  her  —  des  is  mei  Vader?! 

Wenn  die  Geschicklichkeit  des  Berichterstatters, 
eines  der  peinlichsten,  es  nicht  erfunden  hat  —  und 
der  Geschicklichkeit  sind  heute  selbst  die  Wunder 
der  Natur  zuzutrauen  — ;  wenn  es  —  und  man 
glaubt  es  lieber  —  wirklich  ein  Soldat  beim  Anblick 
des  Vaters  ausgerufen  hat,  so  ist  er  der  Dichter, 
der  diesen  Krieg  erlebt,  war  es  mindestens  in  diesem 


131 


Augenblick,  der  das  Gefühl  zur  Sprache  steigert: 
ein  Deutschmeister  von  anderm  Zuschnitt  als  jener, 
der  noch  als  Zivilist  den  berühmt  gewordenen 
Kitsch  eines  »Reiterliedes«  verfaßt  hat.  Hier  hat 
der  wie  die  Bildungssprache  verödete  Wiener  Dialekt 
wieder  die  alte  Kraft.  Die  Begebenheit  selbst  ist 
tragischer  als  der  Heldentod.  Und  nichts  könnte  die 
grimmige  Lebensumstülpung  einfacher  als  dieser 
Auftritt,  als  der  Anruf  an  den  »spaten  Herrn* 
(welch  ein  Wort!)  bezeugen,  den  die  Zeit  »auch 
schon«  dorthin  geweht  hat  und  auf  den  der 
überraschte  Sohn  —  ah,  Jessas,  da  schauts  her  — 
mit  Staunen,  Freude  und  Erschütterung  weist.  Der 
letzte  Girardi-Ton  und  einer  Tragödie  letzte  Szene: 
»So  nutzt  das  große  Weltall  einst  sich  ab  zu  nichts.« 
Vielleicht  liegt  so  viel  nicht  drin;  ich  wollte,  es  läge 
drin.  Dann  wären  es  zwei  Zeilen,  und  mehr  Seele 
als  in  fünfzig  Jahrgängen  eines  Armeelieferanten- 
organs, in  das  der  irre  Zufall  dieser  Zeit  solches 
Gedicht  verschlagen  hat,  wie  solches  Leben  in  den 

Krieg. 

* 

Wenn  ich  einem  im  August  1914  prophezeit 
hätte,  daß  übers  Jahr  der  Wolf  aus  Gersthof  so 
groß  geworden  sein  wird  wie  die  Zeit  und  daß  der- 
einst, wenn  draußen  eine  Menschenmillion  begraben 
ist,  die  Hinterbliebenen  ihm  ins  Auge  schauen  werden 
und  noch  immer  nicht  dem  Tod,  und  daß  in  diesem 
Anthtz  ein  blutiger  Blick  sem  wird  wie  ein  Riß  der 
Welt,  darin  man  lesen  wird,  daß  die  Zeit  schwer 
ist  und  heute  großes  Doppelkonzert  -  wenn  ich  es 
einem    im  August    1914    prophezeit    hätte,    er   hätte 

9* 


132 


sich,  empört  über  meine  Kleingeisterei,  von  meinem 
Tische  erhoben.  Zufällig  habe  ich  es  prophezeit,  aber 
mir  selbst,  und  schon  damals  den  Verkehr  mit  den 
Gläubigen  der  großen  Zeit  gemieden,  so  daß  ihnen 
eine  Enttäuschung  erspart  geblieben  ist. 


Es  gibt  jetzt  eine  Jerichoposaune  vor  allen 
Festungen,  es  gibt  jetzt,  des  Morgens  und  des 
Abends,  einen  Ton  in  der  Welt,  den  man  nicht 
mehr  aus  den  Ohren  bringen  wird.  Etwa  so: 

Die  Nase  der  Kleopatra  war  eine  ihrer  größten 
Schönheiten.  Gestern  wurde  gemeldet,  noch  ist  Polen 
nicht  verloren.  Heute  wird  gemeldet,  daß  Polen 
noch  nicht  verloren  ist.  Aus  diesen  übereinstimmenden 
Meldungen  geht  auch  für  den  einfachen  Laien  die 
wichtige  Tatsache  hervor,  daß  Polen  noch  nicht 
verloren  ist.  Vergleichen  wir  die  gestrige  Meldung 
mit  der  heutigen  Meldung,  so  ergibt  sich  unschwer, 
daß  Polen,  von  dem  man  immer  schon  gewußt  hat, 
daß  es  noch  nicht  verloren  ist,  noch  nicht  verloren 
ist.  Hier  fällt  uns  vor  allem  das  Wörtchen  »noch« 
auf.  Das  Auge  bohrt  sich  förmlich  hinein  in  den 
Bericht  und  man  kann  sich  vorstellen,  wie  er  zustande- 
gekommen ist,  und  die  Eindrücke  sind  lebhaft  und 
die  Einbildungskraft  wird  angeregt  und  die  Gefühle 
erwärmen  sich  und  die  Hoffnungen  werden  wieder 
wach  und  vielleicht  ist  es  in  diesem  Augenblick  schon 
wahr  und  vielleicht  ist  es  nicht  mehr  länger  zu  ver- 
bergen und  vielleicht  wälzen  sie  sich  schon  unruhig 
in  ihrem  Bett,  wenn  sie  hören  werden,  daß  Polen 
noch    nicht   verloren   ist.   Wir   möchten   das  Gesicht 


133 


des  Präsidenten  Poincare  sehen,  wenn  er  diese 
Nachricht  bekommt.  Wir  haben  schon  am  Monta<r 
aus  dem  amtlichen  Bericht,  der  in  trockenen  Worten 
meldete,  daß  Polen  noch  nicht  verloren  ist,  die 
Folgerung  gezogen,  daß  Aussicht  bestehen  muß,  daß 
es  noch  nicht  verloren  ist.  Das  kann  auch  aus  dem 
gestrigen  Bericht  und  auch  aus  dem  heutigen  Bericht 
herausgelesen  und  nach  den  einfachen  Denkgesetzen 
behauptet  werden.  Die  besten  militärischen  Kenner 
sagen,  es  steht  gut,  unser  Kriegskorrespondent  meldet, 
die  Stimmung  ist  sehr  gut.  Das  ist  ein  wichtiges 
Moment  der  Lage.  Heute  läßt  sich  die  Übereinstimmung 
dieser  Folgerungen  und  Eindrücke  mit  den  Berichten 
unseres  Kriegskorrespondenten  feststellen.  Wir  atmen 
diese  Zuversicht  mit  der  Luft  ein  und  sie  kommt  aus 
der  inneren  Gewißheit  des  Instinkts.  Wer  die  Karte 
ansieht  und  sich  auf  Grund  der  amtlichen  Berichte 
in  den  Zusammenhang  zwischen  den  einzelnen 
Schlachten  und  Kämpfen  hineindenkt,  muß  nach  den 
Mitteilungen  zu  der  Folgerung  kommen,  daß,  wie 
auch  aus  dem  Bericht  hervorgeht,  angenommen  werden 
kann,  daß  unsere  Armee  den  Feind  zurückgeworfen 
haben  muß.  Treues  Gedenken  dem  Vaterlande  und 
einen  Glückwunsch  den  braven  Soldaten  zu  ihrem 
Vollbringen.  Wir  möchten  nicht  sentimental  werden 
und  es  ist  nicht  unsere  Gewohnheit,  übermütig  zu 
sein,  bevor  die  wichtige  Meldung,  daß  Polen  noch 
nicht  verloren  ist,  durch  die  Ereignisse  selbst  mit 
den  Einzelheiten  und  den  Details  bestätigt  ist.  Aber 
schon  jetzt  müssen  die  Ereignisse  einen  Rückschlag 
auf  die  Stimmungen  ausüben  und  der  Eindruck 
muß   groß    sein    und    der  Zweifel   dürfte    sich    aus- 


134 


breiten  und  im  Flügel  ist  Blei  und  im  Gemäuer 
beginnt  es  zu  rieseln.  Wer  möchte  nicht  gern  heute 
über  die  Boulevards  von  Paris  gehen  und  in  den 
Elyseepalast  hineinsehen,  wo  die  Sorge  nistet.  Das 
kann  nicht  sein,  daß  die  Verderbtheit  und  der  Dünkel 
sich  dort  noch  behaupten  können,  wo  die  Einsicht 
und  die  Reue  schon  durch  einen  einfachen  Blick  auf 
die  Karte  geweckt  wird  und  sich  die  Erkenntnis 
durchringen  muß,  wir  haben  gefehlt.  Der  alte  Belisar 
war  ein  anständiger  Mensch.  Tayllerand  pflegte,  wenn 
er  beim  Essen  war,  zu  sagen,  die  Sprache  ist  der 
Mensch,  und  beim  Empfang  dieser  Nachricht  wird 
sich  der  Schrecken  ausbreiten,  und  vielleicht  werden 
sie,  nachdem  die  Schlechtigkeit  ihre  Früchte  getragen 
hat  und  nachdem  sie  die  Einbildungen  vergiftet  und 
die  Stimmungen  nicht  geschont  und  die  Leidenschaften 
aufgewiegelt  haben,  erkennen,  wie  sie  sich  überhoben 
haben.  Vernichten  haben  sie  uns  wollen,  zerstören 
haben  sie  wollen  die  Früchte  des  Talents,  und 
die  Bosheit  hat  nicht  genug  Einfälle  gehabt,  zu  ver- 
ärgern und  Schlingen  zu  legen  und  durch  Sticheleien 
zu  reizen  und  durch  Neckereien  zu  verbittern.  Die 
Familie  Brodsky  ist  eine  der  reichsten  in  Kiew.  Kein 
Mensch  kann  heute  wissen,  was  hinter  dem  Schleier 
der  Zukunft  verborgen  ist,  von  der  die  Lady  Hamilton 
zu  sagen  pflegte,  man  soll  den  Tag  nicht  vor  dem 
Abend  loben.  Heute  wurde  gemeldet,  daß  Polen  noch 
nicht  verloren  ist.  Wir  entbieten  der  Armee  unsern 
Gruß.  Wenn  wir  hören  werden,  daß  Polen,  welches 
schon  so  viele  Verluste  überstanden  hat,  noch  nicht 
verloren  ist,  so  wird  wieder  Freude  in  das  Herz  ein- 
ziehen, und  überstanden  sind  die  Tage  unfruchtbarer 


135 


Grübeleien.  Wenn  der  knappe  Bericht  des  General- 
stabs, den  das  Auge  abtastet,  eine  so  vielsagende 
Wendung  nicht  umgeht,  sondern  mit  kurzen  Worten 
andeutet,  was  zu  den  Herzen  spricht,  so  können  wir 
uns  vorstellen,  was  es  zu  bedeuten  hat,  und  auch 
der  einfache  Mann  von  der  Straße  kann  sich  an  den 
Fingern  abzählen,  wenn  er  hören  wird,  daß  Polen 
noch  nicht  verloren  ist,  daß  tatsächlich  die  Möglich- 
keit besteht,  daß  es  noch  immer  nicht  verloren  ist. 
Die  Einbildungskraft  schwelgt  in  der  Vorstellung,  wie 
es  geschehen  sein  mag,  und  frohe  Tage  brechen  an 
und  die  Hoffnung  lebt  auf  und  es  wird  wieder  licht 
um  uns.  Kaiserin  Katharina  schrieb  in  ihr  Tagebuch, 
es  ist  eine  Lust  zu  leben.  Die  letzte  Meldung  ist  sehr 
wichtig.  Polen  ist  noch  nicht  verloren. 

* 

Die  Sprache  seelischer  Zerrüttung,  die  die  Auf- 
schriften über  Meldungen  aus  Feindesland  seit  Jahr 
und  Tag  führen  —  Besorgnisse  im  Vierverband, 
Entmutigung  in  Frankreich,  Beklemmungen  in  Rußland , 
ZerknirschunginEngland,ReueinBelgien,Enttäuschung 
in  Italien,  Demoralisation  in  Serbien,  Verzweiflung  in 
Montenegro,  Mißtrauen  in  Frankreich  gegen  Rußland, 
Verstimmung  von  Rußland  über  England,  Zweifel  in 
London,  Paris,  Rom  und  Petersburg  — ,  hat  kürzlich 
für  die  Mitteilung,  daß  ein  Heerführer  von  neuem 
erhebliche  Verstärkungen  »erbat«,  denTitel  gefunden: 
»Die  Engländer  erbeten  neue  Verstärkungen  für 
die  Dardanellen«.  Den  Feinden  ist  in  all  dem  Elend, 
in  das  sie  ihr  Deutschenhaß  gestürzt  hat,  nur  der 
eine  Trost  gebheben,  daß  ihre  Besieger  nicht  deutsch 
können. 


136 


Einer  der  führenden  Geister  Berlins  hat  ein 
satirisches  Gedicht  auf  die  italienische  Politik  verfaßt, 
in  dem  die  Wendung:  »Das  Kabinett  hat  ausgiolitten« 
sechsmal  variiert  war.  Da  die  italienische  Sprache 
mehr  vom  Klang  lebt  als  vom  Gedanken,  kann  ihr 
so  etwas  nicht  passieren. 


»Infolge  der  kriegerischen  Ereignisse  müssen 
wir  zu  unserem  Bedauern  vorläufig  den  Umfang  der 
Hefte  einschränken,  wir  werden  jedoch  bestrebt  sein, 
nach  Eintritt  normalerVerhältnisse  unseren  Abonnenten 
durch  Ausgabe  stärkerer  Hefte  Ersatz  zu  bieten.« 
So  verspricht  die  , österreichische  Rundschau'.  Man 
sieht,  es  gibt  Verhältnisse,  die  den  eingefleischtesten 
Friedensfreund  über  den  Wert  des  Krieges  vorurteils- 
freier denken  lassen  könnten. 


»Es  wird  weiter  gedroschen.«  Nein,  so  gi*ausam 
sind  wir  nicht.  Immer  noch  mehr  Phrasen  als  Menschen ! 


Es  gibt  ein  Revanchebedürfnis,   das  weit  über 
Elsaß  hinausgeht. 

* 

Die  falschesten  Argumente  können  einen  richtigen 
Haß  beweisen. 


Die  Wurzel  des  innereuropäischen  Übels  ist,  daß 
sich  das  Lebensmittel  über  den  Lebenszweck   erhob 


137 


und  daß  der  Händler,    anstatt  wie   es  sich  gebührte 
ein  Leibeigener  zu  sein,  der  Herr  des  Geistes  wurde. 


Jeder  Staat  führt  den  Krieg  gegen  die  eigene 
Kultur.  Anstatt  Krieg  gegen  die  eigene  Unkultur  zu 

führen. 

* 

Vae  victoribus! 

Manches  Volk  lebt  wie  einer,  der  seinen  neuen 
Regenschirm  bei  schönem  Wetter  aufspannt  und 
wenns  regnet,  mit  seinem  alten  Gewand  zudeckt. 


Was   zu   gunsten    des   Staates   begonnen   wird, 
geht  oft  zu  Ungunsten  der  Welt  aus. 


Es  hängt  letzten  Endes  von  den  Diplomaten  ab, 
wie  der  Volksruf:  »Nieder  mit  den  — !«  auszufüllen 
ist.   Das  Nichtgewünschte  bitte  zu  durchstreichen.  Ich 

fühle  international. 

* 

Ein  großer  Moment  hat  schon  oft  ein  kleines 
Geschlecht  gefunden,  noch  nie  aber  hat  ein  so  kleines 
Geschlecht  eine  so  große  Zeit  gefunden. 


Noch  kurz  vor  Kriegsausbruch  habe  ich  solche 
Coupegespräche  zwischen  Menschen,  die  einander  bis 
dahin  fremd  gewesen  waren,   gehört:    »Hab   ich  mir 


138 


doch  meine  Kolatschen  erobert!«  »Wenn  wir  Geistes- 
gegenwart haben,  können  wir  in  Wessely  ein  Gullasch 
essen!«  Man  denke,  wie  die  seeHsche  Annäherung, 
die  der  Krieg  gebracht  hat,  die  Gemeinsamkeit  in 
Freud  und  Leid,  erst  nachher  zur  Aussprache  gelangen 
wird.  Ich  werde  die  Strecke  abfahren  und  darauf 
achten. 

Der  seelische  Aufschwung  des  Hinterlands  ist 
der  Straßenstaub,  den  die  Kehrichtwalze  aufwirbelt, 
damit  er  unverändert  wieder  zu  Boden  sinke. 


Das  Übel  wirkt  über  den  Krieg  hinaus  und  durch 
ihn;  es  mästet  sich  am  Opfer. 


Im  Krieg  gesundet  die  Menschheit?    Wenn  sie 
nicht  den  Krieg  ansteckt! 


Wohl  ist  der  Ki'ieg  besser  als  der  Friede.  Aber 
der  Friede  dauert  länger. 


Das  Übel  gedeiht  nie  besser,  als  wenn  ein  Ideal 

davorsteht. 

* 

Wie,    noch    mehr  Wucher?   Ja,    sind   denn  die 
Zurückbleibenden  der  Landsturm  der  Selbsterhaltung? 


139 


Es  ist  schön,  für  eine  Idee  zu  sterben.  Wenn's 

nicht   eben   die  Idee  ist,   von   der  man  lebt   und  an 

der  man  stirbt. 

* 

Die  Macht  hat  zur  Durchsetzung  ihrer  Idee  jene 
Organisation  geschaffen,  zu  der  die  Idee  ausschließlich 
fähig  war. 

* 

Wenn  nur  nicht  ein  Volk,  das  sich  den  Militarismus 
anschaffen  muß,  um  mit  dem  Militarismus  fertig  zu 
werden,  statt  mit  diesem  mit  sich  selbst  fertig  wird ! 
Die  Kraft,  das  technische  Leben  zu  überdauern,  wächst 
nicht  in  den  Reichen  des  Christentums. 


Der  Kampf  bis  aufs  Brotmesser  ist  eine  logische 
Notwendigkeit,  die  nur  noch  ein  Überflüssiges  mit- 
schleppt: das  Blut,  mit  dem  die  Fakturen  geschrieben 
werden. 

Der  Schützengraben  ist  heute  noch  eine  ziemlich 
primitive  Zuflucht  vor  dem  Mörser.  Wenn  der  Geist, 
der  diesen  erschaffen  hat,  erst  so  weit  halten  wird, 
jenen  mit  allen  Komfort  der  Neuzeit  auszustatten, 
dann  wird  er    vielleicht   auf   den  Mörser  verzichten. 


Welcher  Weg  der  deutschen  Seele  von  der 
ScWärmerei  zur  Klarheit  —  von  der  Jean  Paul'schen 
Entrückung  in  einer Montgolfiere  bis  zudem  gelungenen 
Witz,  der  eine  Bombe  aus  einem  Zeppelin  begleitet! 


140 


Deutsche  Sätze  wie  die  fünf  Seiten  bei  Jean 
Paul,  in  denen  der  Aufstieg  in  einer  Montgolfiere 
beschrieben  wird,  können  heute  nicht  mehr  Zustande- 
kommen, weil  der  Gast  der  Lüfte  nicht  mehr  die 
Ehrfurcht  vor  dem  näheren  Himmel  mitbringt  und 
bewahrt,  sondern  als  Einbrecher  der  Luft  die  sichere 
Entfernung  von  der  Erde  zu  einem  gleichzeitigen 
Attentat  auf  diese  selbst  benützt.  Der  Aufstieg  des 
Luftballs  war  eine  Andacht,  der  Aufstieg  des  Luft- 
schiffs ist  eine  Gefahr  für  jene,  die  ihn  nicht 
mitmachen.  Weil  die  Luft  »erobert«  ist,  wird  die 
Erde  bombardiert.  Es  ist  von  allen  Schanden  dieser 
Erde  die  größte,  daß  jene  einzige  Erfindung,  die 
die  Menschheit  den  Sternen  näher  bringt,  aus- 
schließlich dazu  gedient  hat,  ihre  irdische  Erbärmlich- 
keit, als  hätte  sie  unten  nicht  genügend  Spielraum, 
noch  in  den  Lüften  zu  entfalten!  Und  selbst  hier 
noch  ein  sittlicher  Rangunterschied:  zwischen  dem 
Mut,  der  jene  grauenvolle  Sicherheit,  statt  eines 
Arsenals  ein  Schlafzimmer  zu  treffen,  bestialisch 
betätigt,  immer  von  neuem  vergessend,  was  es 
bedeute,  und  dem  Fleiß,  der  mit  der  Bombe  noch  einen 
Witz  hinunterschickt  und  gar  den  eines  »Weihnachts- 
grußes«. Selbst  da  wieder  die  greuliche  Vermischung 
des  Gebrauchsgegenstandes,  nämlich  der  Bombe,  mit 
dem  Gemütsleben,  nämlich  dem  Scherz  oder  Gruß:  der 
Greuel  größtes,  jene  äußerste  Unzucht,  durch  die  sich 
ein  im  Reglement  verarmtes  Leben  auffrischt,  die 
organische  Entschädigung  für  Zucht  und  Sitte,  der 
Humor  des  Henkers,  die  letzte  Freiheit  einer  Moral, 
die  die  Liebe  auf  den  Gerichtstisch  gelegt  hat! 


141 


Held  ist  Einer,  der  gegen  viele  steht.  Diese 
Position  erringt  im  neuen  Krieg  am  ehesten  der 
Luftbombenwerfer,  einer,  der  sogar  über  vielen  steht. 


Es  gibt  ein  militärisches  Witzblatt,  das  der  großen 
Zeit  umso  leichter  nachgekommen  ist,  als  sich  die 
große  Zeit  bemüht  hat,  dem  militärischen  Witzblatt 
nachzugeraten. 

Es  gibt  auch  Bilder,  die  den  Krieg  von  einer  ver- 
söhnlichen Seite  zeigen.  Die  Sammler  von  Dokumenten 
der  Menschlichkeit  sollten  es  sich  nicht  entgehen 
lassen:  »Szene  in  der  befreiten  Bukowina:  Rumänische 
Bäuerin  gibt  einem  Kriegsberichterstatter  Feuer.« 


Ich  weiß  nicht,  wie  das  mit  dem  Mut  ist.  Ich 
bin  darin,  da  ich  erst  seit  sechzehn  Jahren  allein 
gegen  alle  stehe,  offenbar  nicht  maßgebend.  Ich  weiß, 
nicht,  ob  der  Nervenarzt  recht  hat,  der  zweierlei  Mut 
unterschied  und  den  anderen,  auf  dessen  neurasthe- 
nischen  Ursprung  zurückgehend,  als  eine  Art  Los- 
gelassenheit definierte,  die  auch  den  Minderwertigen 
zu  Taten  befähige,  die  sonst  einen  ganzen  Mann 
erfordert  haben.  So  wäre  denn  Tapferkeit  unter 
Umständen  eine  rabiate  Feigheit  und  das  Vorwärts- 
gehen eine  umgekehrte  Flucht.  Ich  weiß  nicht,  ob 
die  Wissenschaft  recht  hat.  Das  aber  ist  mir  auf- 
gefallen, daß  ein  junger  Mann,  der  einmal,  als  ich 
u-gendwo  eine  Vorlesung  hielt,  aus  einem  Pfeifchen 
Töne   hervorbrachte,    den    ganzen   Abend    hindurch 


142 


in  einem  Winkel  geduckt,  und  nur  stille  wurde,  wenn 
der  Arrangeur  zufällig  den  Blick  nach  dem  Winkel 
richtete,  daß  eben  dieser  junge  Mann  eine  belobende 
Anerkennung  »für  tapferes,  mutiges  und  beispiel- 
gebendes Verhalten  vor  dem  Feind«  empfangen  hat. 
Es  ist  möglich,  daß,  wenn  der  Feind  oben  auf  dem 
Podium  statt  mit  dem  Wort  mit  dem  Maschinen- 
gewehr gewirkt  hätte,  auch  das  Verhalten  vor  ihm 
ein  tapferes  und  mutiges  gewesen  wäre  und  vielleicht 
beispielgebend  für  den  Saal,  der  dann  endlich  einmal, 
anstatt  mir  unter  meiner  Suggestion  Applaussalven 
zuzuschicken,  mich  seiner  wahren  Meinung  entspre- 
chend beschossen  hätte.  Da  ich  aber  nur  das  Wort 
habe  und  nur  einer  gegen  alle  und  nicht  unter  allen 
eingereiht,  so  kenne  ich  mich  mit  der  Tapferkeit 
nicht  aus.  So  viel  kann  ich  aber  noch  sagen,  daß 
auch  Leute,  die  der  Abfassung  von  anonymen  Schmäh- 
briefen an  mich  überwiesen  sind,  draußen  gute  Arbeit 
leisten,  lauter  Volltreffer  erzielen  oder  wenn  sie  sich 
schon  nicht  selbst  bemühn,  doch  mindestens,  erfüllt 
vom  Glanz  des  Erlebten,  daheim  der  großen  Tat  das 
Wort  sprechen,  und  zwar  in  Vortragssälen,  wie  ich 
im  Frieden  gewohnt  war.  Es  ist  aber  möglich,  daß 
mir  die  Vereinbarkeit  solcher  Erscheinungen  mit 
meinen  Erfahrungen  nur  darum  auffällt,  weil  ich  den 
seelischen  Aufschwung  übersehe,  der  im  Gefolge 
einer  tatberauschten  Gegenwart  Wunder  auch  über 
jene  vermocht  hat,  die  bis  dahin  nur  des  heimlichen 
Wortes  fähig  waren.  Ist  dem  so,  dann  wird  die 
Verwandlung  gewiß  auch  meinem  eigenen  Wirken 
zugutekommen,  und  ich  könnte  sicher  sein,  daß  es 
künftig    von   verborgenen    Kunstpfeifern   und   heim- 


143 


liehen  Korrespondenten  verschont  bleibt.  Sollte  diese 
Wendung  durch  Gottes  Fügung  aber  gleichwohl  nicht 
eintreten,  so  werde  ich  mit  der  mir  eigenen  Offen- 
heit davon  Bericht  erstatten,  genau  den  Helden 
bezeichnen  und  die  Anerkennung,  die  er  empfangen 
hat,  und  fortfahren,  mich  dm-ch  tapferes,  mutiges 
und  beispielgebendes  Verhalten  vor  dem  heim- 
gekehrten Feind  auszuzeichnen. 

* 
Einer,  der  in  dem  Verdacht  steht,  ohne  gerade 
eine  Persönlichkeit  zu  sein,  eine  solche  doch  zu  haben, 
so  einer  wird  für  die  Gefahr  des  Ki-ieges,  der  ihm 
das  leibliche  Ende  oder  sonst  allerlei  Schaden  bringen 
kann,  durch  einen  sichern  Vorteil  entschädigt:  durch 
das  Todesurteil,  das  die  zu  den  höheren  Zwecken 
organisierte  öffentliche  Meinung  über  seine  Geltung 
beschlossen  hat.  Durch  die  Abkehr  einer  peinvollen 
Aufmerksamkeit,  durch  die  Zerstreuung  des  Pöbels 
und  die  Ablenkung  der  Hysterie,  also  durch  das 
plötzliche  Desinteressement  zweier  Mächte,  die  sich 
fast  so  willig  von  dem  Druck  des  Einzelnen  befreien, 
wie  er  von  ihrer  Gefolgschaft.  Sie  können  endlich 
von  der  Gnade  einer  allgemeinen  Pflicht  das  beziehen, 
was  vom  Zwang  eines  besonderen  Charakters  nicht 
zu  haben  war:  auch  auf  der  Welt  zu  sein.  Sub- 
ordination unter  eine  Massenverpfhchtung  wird  von 
ihnen  bei  weitem  nicht  so  hart  empfunden  wie  das 
Gefühl  der  Inferiorität  vor  dem  Denker  und  darum 
überstürzen  sie  sich  in  beiderseits  willkommenen 
Absagen  an  ihn.  Die  allgemeine  Verpflichtung  ist  die 
Befreiung  für  beide.  Sie  schafft  einen  klaren  Zustand, 
mit  dem  sie  zufrieden  sein  können.  Die  Möglichkeit, 


144 


durch  Pflicht  und  Zufall  als  Held  zurückzukehren, 
ist  doch  ein  berauschenderes  Erlebnis  als  die  tote 
Gewißheit,  hinter  dem  Helden  leben  zu  müssen  und 
tatenlos,  wehrlos  in  der  Front  vor  dem  immer  feind- 
lichen Geist  zu  stehen.  Die  erfrischende  Leere  um 
einen  Zurückbleibenden,  die  ehedem  durch  eine  wert- 
lose Truppe  scheinbar  ausgefüllt  war,  gibt  erst  das 
Maß  der  ausgespielten  Rolle,  Man  wird  gleichwohl 
nicht  unbescheiden;  denn  das  Glück  dieser  ruhigen 
Gegenwart  ist  groß,  weit  größer  als  die  verflossene 
Ehre.  Niemand  bekennt  lieber  als  der  so  Gestürzte 
den  Sachverhalt  der  so  verrückten  Welt.  Wohl,  »jetzt 
ist  nicht  die  Zeit  für  Gedanken«.  Jetzt  tragen  die 
Quallen  einen  Panzer.  Die  Zeit  ist  groß,  ich  habe 
zehntausend  Geliebte  im  Feld!  Keine  läuft  mir  mehr 
nach.  Die  Literatur  ist  von  mir  befreit:  ich  atme  auf. 
Das  Scheinmenschentum,  von  mir  abgeglitten,  beginnt 
sich  zu  fühlen,  und  manch  ein  Tinterl  steht  draußen 
und  —  macht  Gedichte,  als  wär's  ein  Bluterl. 

* 
Der  Krieg  wird  vielleicht  eine  einzige  Ver- 
änderung bringen,  aber  eine,  der  zuliebe  er  sicher 
nicht  unternommen  wurde:  die  Opfer  der  Psycho- 
analyse werden  gesund  heimkehren.  Denn  der  Krieg 
versteht  fast  so  wenig  von  Psychologie  wie  die 
Psychoanalyse,  aber  er  hat  vor  dieser  individuali- 
sierenden Methode,  die  auf  das  Nichts  am  meisten 
eingeht,  wenigstens  den  Vorteil,  daß  er  am  meisten 
schabionisiert  und  somit  dem  Nichts  wieder  zu  seiner 
wahren  Position  verhilft.  Es  ist  gut,  wenn  Quallen, 
die  noch  nicht  einmal  Instrumente  waren,  dazu 
erhoben  werden. 


145 


Heimlich  ein  offenes  Wort  nicht  scheuend  und 
vor  aller  Welt  ein  Kujon,  so  zwischen  Hochverrat 
und  Unterwürfigkeit,  lebt  sichs  hier  am  besten.  Es 
gibt  Märtyrer  ihres  Mangels  an  Überzeugung,  auf 
deren  Lügen  kein  Verlaß  ist,  die  aus  purer  Verachtung 
für  gesellschaftliche  Ehren  sie  zu  erlangen  trachten 
und  einer  Hoheit  nur  zu  dem  Zweck  hineinkriechen, 
um  zu  sagen,  daß  es  dort  finster  sei. 


Die  Zurücklegung  von  Orden  ist  die  Ordens- 
streberei  nach  hinten.  Denn  obschon  diese  immer 
nach  hinten  zielt,   so  diesmal  auch  vom  Punkte  des 

Strebenden  aus. 

* 

Die  Quantität  mindert  in  jeder  Hinsicht  den 
Ertrag.  Die  Anziehungskraft,  die  die  Verkleidung  auf 
Frauen  ausübt,  ist  geschwunden  und  geblieben  die 
erotische  Enttäuschung.  Da  den  Frauen  nur  gefällt, 
was  auffällt,  so  hat  heute  wieder  jener  die  bessere 
Aussicht,  der  ein  Ziviige  wand  trägt,  oder  ein  Bunter, 
von  dem  bekannt  würde,  daß  er  sich  durch  besondere 
Feigheit  vor  dem  Feind  hervorgetan  hat;  denn  Held 
kann  ein  jeder  sein.  Es  geht  eben  wie  auf  jedem 
Maskenball,  für  den  jeder  sich  selbst  das  größte 
Aufsehen  verspricht  und  an  dessen  Ende  er  erkennt, 
daß  er  einen  Frack  hätte  anziehen  müssen,  um  auf- 
zufallen, denn  eine  falsche  Nase  hatten  alle. 

Gleichwohl  wird  sich  der  Heimkehrende  nicht 
leicht  in  das   zivile  Leben   wieder   einreihen  lassen. 

10 


146 


Vielmehr  glaube  ich:  Er  wird  in  das  Hinterland 
einbrechen  und  dort  den  Krieg  erst  beginnen.  Er 
wird  die  Erfolge,  die  ihm  versagt  werden,  an  sich 
reißen  und  der  Krieg  wird  ein  Kinderspiel  gewesen 
sein  gegen  den  Frieden,  der  da  ausbrechen  wird. 
Vor  der  Offensive,  die  dann  bevorsteht,  bewahre 
uns  Gott!  Eine  furchtbare  Aktivität,  durch  kein 
Kommando  mehr  gebändigt,  wird  in  allen  Lebens- 
lagen nach  der  Waffe  und  nach  dem  Genuß  greifen 
und  es  wird  mehr  Tod  und  Krankheit  in  die  Welt 
kommen,  als  der  Krieg  je  ihr  zugemutet  hat. 


Eine  Frau  sechs  Wochen  im  Schützengraben? 
Wenn  sie  nicht  doch  auch  einmal  in  der  Zeit  geblutet 
hätte,  müßte  man  es  für  unnatürlich  halten. 


Ich  glaube  nicht,  daß  erzogene  Mädchen,  die 
bis  zum  1.  August  1914  nicht  wissen  durften,  wie 
der  Mann  beschaffen  ist,  von  dem  sie  Mutter  sein 
werden,  von  da  an,  ohne  ihr  eigenes  und  die  ihm 
folgenden  Geschlechter  in  Verwirrung  zu  bringen, 
Handreichungen  an  der  Leiblichkeit  fremder  Männer 
vornehmen  können,  auf  die  niemals  Väter,  Brüder, 
Gatten,  geschweige  denn  Diener  einen  Anspruch 
hatten.  Ich  glaube,  daß  diese  Verwandlung  der  Dame 
zur  Pflichterfüllerin,  auch  wenn  sie  äußerlich  nicht 
die  kleinste  Bewegtheit  und  nicht  die  geringste 
greifbare  Inkonvenienz  mit  sich  brächte,  unter  den 
Blicken  von  Ärzten,  die  nie  in  ihrem  ganzen  Leben 
davon  geträumt  haben,  in  die  gesellschaftliche  Nähe 


147 


solcher  Frauen  zu  gelangen  oder  gar  deren  Befehls- 
Tiaber  zu  werden,  sieh  mit  der  gleichen  Plötzlichkeit, 
mit  der  sie  vor  sich  ging,  auch  als  erotisches 
Schauspiel  präsentieren  könnte.  Ich  glaube  nicht,  daß 
die  Möglichkeit,  eine  Aristokratin  zur  Entfernung  von 
Ungeziefer  zu  verhalten,  von  einem  graduierten 
Burschen  mit  intelligenten  Äuglein  nur  unter  dem 
Gesichtspunkt  der  Selbstaufopferung  tagsüber  be- 
trachtet und  abends  am  Stammtisch  besprochen  werden 
dürfte.  Ich  glaube,  daß  der  im  luftleeren,  von 
Fibelgedanken  begrenzten  Raum  lebende  Offizialgeist 
sich  auch  dieses  Kriegsopfer  anders  vorgestellt  hat,  als 
es  ausfällt.  Ich  glaube:  das  hinter  der  äußern  Wirrnis  in 
fiu'chtbarer  Unsichtbarkeit  verborgene  Chaos  werden 
erst  die  Enkel  büßen.  Die  Nächstenliebe,  die  den 
weiblichen  Landsturm  aufgeboten  hat,  ist  noch 
weniger  als  der  Nächstenhaß  imstande,  die  Folgen 
zu  decken.  Keiner  der  Imperative,  unter  denen  die 
heutige  Welt  noch  geboren  ist,  weder  der  heroische, 
noch  der  charitative,  wird  den  neuen  Zeitformen 
standhalten.  Eine  Gesellschaft,  die  unter  dem  Schutze 
alter  Moralgesetze  so  unbekannte  Abenteuer  bestehen 
zu  können  wähnt,  muß  an  jenen  selbst  zuschanden 
gehn.  Nicht  die  Sitthchkeit,  sondern  deren  Umsturz 
ist  die  Grundbedingung,  daß  die  Frau  von  der  Kranken- 
pflege davonkomme.  Wer  hilft  den  Helferinnen?  Denn 
es  kann  wohl  einem  Restchen  Phantasie,  welches 
dem  technischen  Weltsturm  standgehalten  hat,  nicht 
verborgen  bleiben,  daß  dieses  Experiment  der  Mensch- 
heit die  Frauen  noch  in  Mitleidenschaft  ziehen  wird, 
wenn  die  Männerwunden  längst  geheilt  sein  werden. 
Die  Entwicklung  in  die  Quantität  hat  sie  zu  einem 

10* 


148 


früher  nie  gesehenen  Aufgebot  der  Hilfe  mobilisiert, 
dessen  Agenden  einen  viel  tiefern  Wesenseingriff 
bedeuten  als  die  Verwandlung  der  Männer  und  viel 
schmerzlichere  Wunden  hinterlassen  werden,  als  jene 
sind,  bei  deren  Behandlung  die  Frauen  assistieren.  Denn 
noch  weniger  als  Blutverlust  sich  im  Raum  idealer 
Schulvorstellungen  vollzieht,  spielen  sich  dort  die 
Angelegenheiten  der  Charitas  ab.  Dieselbe  Sittlichkeit, 
die  Aufopferung  verlangt  und  weibliche  Hingabe 
außerhalb  des  Geschlechts  konstruiert,  hat  durch 
Generationen  nicht  einmal  zur  Aussprache  gelangen 
lassen,  was  jetzt  täglich,  plötzlich,  zur  unmittelbaren 
Anschauung  kommt.  Der  praktische  Sinn  der 
Menschheit  hat  der  Unmoral  nur  im  männlichen 
Punkt  Konzessionen  gemacht  und  die  Erkenntnis 
zugelassen,  daß  man  mit  Bibelsprüchen  keine  Eisen- 
bahnen baut.  Aber  daß  man  mit  Fibelsprüchen 
Spitäler  bedient,  von  dieser  Überzeugung  würde  er 
sein  Lebtag  nicht  lassen.  Hat  er  aber  schon  für  den 
Bereich  männlichen  Wirkens  im  Kriege  außer  der 
Verpflichtung,  fürs  Vaterland  zu  bluten,  keine 
unheroischen  Begleiterscheinungen  berücksichtigt 
und  etwa  die  Möglichkeit,  Läuse  zu  bekommen,  gar 
nicht  in  die  Glorie  einbezogen,  wie  würde  er  diese  mit 
der  Notwendigkeit,  jene  zu  entfernen,  vereinbaren 
können?  Ist  eine  Geistesverfassung  haltbar,  die  zu 
jedem  Bett  eines  Kriegers  neben  die  Pflegerin  auch 
die  unsichtbare  Gouvernante  der  Moral  stellt,  die  nicht 
zu  fühlen  erlaubt,  was  zu  tun  sie  nicht  verhindern 
kann,  und  nicht  auszusprechen,  was  zu  empfinden 
die  unsichtbare  Kupplerin  Natur  befiehlt?  Ist  der 
Zustand  fortsetzbar,  daß  eine  vor  ihren  Angehörigen 


149 


nicht  beim  Namen  nennen  darf,  was  sie  tagsüber 
für  einen  Fremden  tun  mußte?  Die  freiwillige  Pflegerin 
ist  doch  eben  jenes  Mädchen,  das  nach  aufgehobener 
Hochzeitstafel  von  der  Mutter,  ja  gleich  darauf  vom 
Gatten  auch  nicht  annähernd  so  viele  physiologische 
Neuigkeiten  erfährt,  als  eine  Stunde  am  Operations- 
tisch oder  Krankenbett  ihr  vermitteln  kann.  Die 
Hoffnung,  daß  das  überstandene  Studium  eine 
moralistische  Auffassung  in  diesem  Belang,  die 
immer  noch  gesünder  war,  künftig  ausschalten 
werde,  wäre  töricht.  Nur  das  Zwielicht  wird 
peinlicher  sein,  und  der  Kontrast,  daß  die  schlechte 
Zeitung,  die  in  den  guten  Häusern  gehalten  wird,  in 
einem  Kriegsbericht  das  Wort  Läuse  nur  mit  dem 
Anfangsbuchstaben  und  vier  Punkten  schreibt  und 
die  Töchter  der  Abonnenten  ohne  Umschreibung  mit 
der  Sache  selbst  fertig  werden  müssen,  wird  sich 
tausendmal  fühlbar  machen.  Die  Natur,  vorausgesetzt, 
daß  so  etwas  noch  in  Frauen  lebt,  dürfte  denn  doch 
leichter  eine  Verbindung  mit  dem  Ekel  zur  Erschaffung 
heilloser  Hysterien  eingehen  können,  als  die  Moral 
mit  dem  Wort.  Was  die  Krankenpflege,  gefährlich 
nur  durch  die  Gelegenheit,  daß  Gefühlsmonstren  zur 
Welt  kommen,  an  normaleren  Vermischungen  zeitigen 
mag,  ist  unbeträchtlich,  da  hier  dank  einer  tatsachen- 
durstigen Moral  der  greifbare  Fall  rasch  genug 
bekannt  wird  und  die  Zahl  der  Begebenheiten  immer 
hinter  der  Fülle  der  Erzählungen  zurückbliebe.  Viel 
bedenklicher  ist  jene  Einwirkung,  die  von  der  Moral 
zwar  von  altersher  verschuldet,  aber  im  präsenten 
Fall  von  ihr  nicht  bemerkt  und  nicht  verstanden 
wird.    Die  Verbindung  der  formwilligsten  Natur  mit 


150 


Grauen  und  Ekel  wird  noch  in  Generationen  zu  spüren 
sein,  die  von  dem  Anlaß  nur  aus  Geschichtsbüchern 
unterrichtet  sein  werden.  Und  ist  man  wirkhch  sa 
blind,  den  Anteil  nicht  zu  sehen,  den  an  solcher 
Alteration  noch  der  wehrloseste  Patient  hat,  der  nach 
einer  geschlechtlichen  Hungerperiode  zum  erstenmal 
die  beständige  Nähe  eines  Wesens  spürt,  das  immerhin 
von  der  Natur  dazu  gebildet  scheint,  den  durch  Blut- 
geruch hundertfach  vermehrten  Hunger  zu  befriedigen? 
Und  ist  es  denn  human,  Männer,  deren  rein  körperliche 
Erregung  dem  Heilungsprozeß  abträglich  ist,  so  im 
Prokrustesbett  der  Sitte  liegen  zu  lassen,  Frauen,, 
deren  vom  Geschlecht  irritiertes  Gemütsleben  in  die 
Zukunft  wirkt,  in  die  Luft  solch  eines  Kranken- 
zimmers zu  stellen?  Ist  es  nicht  grausam,  die 
furchtbarste  Naturgewalt,  die  sich  im  Bund  mit  dem 
blutigsten  Handwerk  steigert,  der  konstanten  Reizung 
auszusetzen  und  eine  Entspannung  zu  verhindern? 
Nicht  noch  grausamer,  den  Instinkt  der  Frau,  dem 
der  eigene  Wunsch  fern  genug  liegen  mag,  aber  der 
fremde  schmeichelt,  solchen  Prüfungen  zu  überlassen 
und  die  Schönheiten  des  Hinterlandes  vermöge  einer 
suggerierten  idealen  Aufgabe  zum  bewußten  Zielpunkt 
von  Begierden  zu  machen,  die  draußen  in  den  be- 
klagten sexuellen  Gewalttaten  Befriedigung  finden? 
Und  wenn  es  schon  nicht  das  ausgehungerte 
Geschlechtstier  selbst  ist,  dem  die  Pflichterfüllerin 
vorgeführt  wird,  wenn  Aggression  und  jedes  Anbot 
gröberen  Wunsches  vollständig  ausgeschaltet  wären, 
bringt  dann  nicht  doch  der  Reiz  der  Unterwerfung  unter 
weibliche  Aufsicht  und  die  dem  feineren  Geschmack 
auf  beiden  Seiten  erreichbare  Sensation  des  Standes- 


151 


Unterschieds  genug  Nebensinu  in  die  Barmherzigkeit, 
um  sie,  mindestens  durch  die  Zeugenschaft  dritter 
Personen,  zu  einer  erotischen  Angelegenheit  zu  machen  ? 
Was  hat  denn  die  Chirurgie  mit  diesen  Dingen  zu 
schaffen,  und  hat  man  nicht  oft  genug  gehört,  daß 
Kranke,  die  von  allen  erotischen  Ingredienzen  nur 
die  Schamhaftigkeit  hatten,  aber  zu  krank  waren, 
um  sie  in  ein  Wohlgefühl  umzusetzen,  den  Beistand 
der  ihnen  sozial  übergeordneten  oder  gleichgestellten 
Damen  unbequem  empfanden?  Nichts  müßte  »ge- 
schehen«, und  die  Geschlechtsluft,  in  der  diese 
Frauen  geatmet  haben,  hinterließe  doch  —  unter  der 
gleichzeitigen  Erhaltung  dessen,  was  sie  im  Zaum 
hält,  und  eben  darum  —  eine  fortwirkende  Unruhe. 
Warum  belügt  sich  denn  die  Welt  so  dumm,  und 
was  ändert  die  unmenschliche  Sicherheit  ihrer  Vor- 
kehrungen an  dem  Dasein  eines  Triebes,  der  sich 
am  Verbot  nährt  und  verheerend  nach  innen  wendet! 
Der  strategische  Rückzug  dieses  Feindes  ist  die  Offensive 

gegen  die  Zukunft. 

* 

Zu  einer  jungen  Krankenpflegerin:  »Nein,  ich 
bin  nicht  dafür.«  »Warum?«  »WeU  ich  Ihnen  nicht 
sagen  darf,  warum  ich  dagegen  bin.« 

* 

Alles  was  ehedem  paradox  war,  bestätigt  nun 
die  große  Zeit. 

»Von  allen  möchte  ich  doch  noch  am  liebsten 
die  zu  Feinden  haben.«    »Aber  nicht  zu  Freunden!« 


152 


In  Deutschland  steht  die  Kunst  »im  Dienste  des 
Kaufmanns«.  Noch  nie  dürfte  einem  Dienstboten 
mit  weniger  Wahrheit  nachgerühmt  worden  sein,  daß 
er  gesund  entlassen  wurde. 

* 

Die  Achtziger  Jahre  brachten  allerlei  Schnörkel. 
Das  Sinnbild  des  Lebens  war  ihnen  der  Pferdesport 
und  mit  dessen  Zeichen  verschnörkelte  man  alle 
Gegenstände  des  nüchternen  Gebrauchs.  Kein  Tinten- 
zeug, das  nicht  mit  Sattel  oder  Jokeykappe  bepackt 
war,  kein  Leuchter,  der  nicht  auf  einem  Hufeisen 
stand.  Aber  das  Spiel,  mit  dem  der  Ernst  ornamentiert 
wurde,  war  wenigstens  vom  Spiel  bezogen,  nicht  vom 
Ernst.  Die  eiserne  Zeit  hält  es  anders.  Sie  ist 
keineswegs  zu  ernst,  um  auf  das  Ornament  zu  ver- 
zichten; aber  sie  behängt  nicht  den  Ernst  mit  dem 
Spiel,  sondern  das  Spiel  mit  dem  Ernst.  Es  wäre 
immerhin  noch  geistig  sauberer,  einen  Mörser  zu 
verzieren,  als  dem  Zierat  die  Fasson  eines  Mörsers 
zu  geben.  Die  Achtziger  Jahre  waren  denn  doch 
besser,   wiewohl    sie  nur   die  hufeiserne  Zeit  waren. 

* 

Derselbe  Mischmasch  einer  Kultur,  die  aus 
Absatzgebieten  Schlachtfelder  macht  und  umgekehrt, 
baut  aus  Stearinkerzen  Tempel  und  stellt  »die  Kunst 
in  den  Dienst  des  Kaufmanns«.  Wenn  die  Industrie 
Künstler  beschäftigt,  so  kann  sie  auch  Krüppel  liefern. 

* 

Das  Kriegsmittel  sei  vom  Material  bezogen. 
Wenn  zwei  Konsumvereine   sich  streiten,    so  ist  der 


153 


der  sittlich  höher  stehende  Konsumverein,  der  nicht 
die  Vereinsmitglieder  selbst,  sondern  eine  von  ihnen 
gemietete  Polizei  raufen  läßt,  und  er  handelt  am 
sittlichsten,  wenn  er  sich  gar  mit  der  Kundenabtreibung 
begnügt.  Die  einen  wollen  den  Export  und  sagen. 
es  handle  sich  um  ein  Ideal;  die  andern  sagen,  es 
handle  sich  um  den  Export,  und  diese  Offenheit 
ermöglicht  schon  das  Ideal.  Und  sie  könnten  es  den 
andern  zurückerobern,  indem  sie  sie  von  der  kultur- 
widrigen Gewohnheit  befreien,  es  als  »Aufmachung« 
für  ihre  Fertigware  zu  verwenden.  Denn  Spediteure 
haben  nicht  ideale  Güter  als  Draufgabe  zu  verfrachten. 

* 
Wenn    Buchhalter    Kriege    führen,    sollten    sie 
auch  die  Chancen  berechnen. 

Wie  einer  lügt,  kann  manchmal  wertvoller  sein 
als  daß  ein  anderer  die  Wahrheit  sagt. 

Die  Lügen  des  Auslands,  vorausgesetzt  daß 
nicht  auch  sie  made  in  Germany  sind,  enthalten 
noch  immer  mehr  Lebenssaft  als  eine  Wahrheit  des 
Wolff'schen  Büros.  Denn  bei  jenen  kann  man  die 
Lüge,  die  einem  Naturell  entspringt,  von  der  Wahr- 
heit, die  einer  Einsicht  entspringt,  noch  unterscheiden ; 
anderwärts  sagen  sie  selbst  die  Wahrheit  wie  gedruckt 
und  alles  entspringt  dem  Papier. 

* 

Es  gibt  Künster  der  Lüge  und  es  gibt  Ingenieure 
der  Lüge.  Jene  wirken  gefährlich  auf  die  Phantasie; 
diese  haben  sie  schon  vorher  aufgebraucht. 


154 


Die  Lüge  im  Krieg  ist  entweder  ein  Rausch 
oder  eine  Wissenschaft.  Diese  schadet  dem  Organismus 

mehr. 

* 

Die  deutsche  Sprache  ist  die  tiefste,  die  deutsche 
Rede  die  seichteste. 

Ich  weiß  um  die  Entfernung  des  heiligen  Geistes 

von    den     Sitten    der   Wilden.     Ein    Analphabet    in 

Timbuktu  nämlich  dürfte  dem  Geist    seiner   Sprache 

erheblich  näher  stehen    als  ein  Literaturprofessor  in 

Dresden   dem    Geist   der    seinen.     Mithin    dürfte  ein 

Analphabet  in  Timbuktu  auch  dem  Geist  der  deutschen 

Sprache  näher  stehen. 

* 

Der  Franzose  hat  sich  von  seiner  Oberfläche 
noch  immer  nicht  so  weit  entfernt,  wie  der  Deutsche 

von  seiner  Tiefe. 

* 

Die  grausamsten  Schändungen  werden  doch  an 
der  Sprache  begangen.  Es  gibt  Kosakenhorden,  die 
den  Boden  für  die  Ewigkeit  verwüstet  haben,  und 
es  gibt  Kulturen,  die  es  zufrieden  sind. 


Manchen  Punkt  wüßte  ich  noch,  der  erfolgreich 

mit  Bomben  belegt  werden  könnte.    Aber  folgt  man 

mir  denn? 

* 

Ein  rechter  Krieg  wäre  erst,  wenn  nur  die,  die 
nicht  taugen,  in  ihn  geschickt  würden. 


155- 


Der  Österreicher  läßt  sich  aus  jeder  Verfassung 
bringen,  nur  nicht  aus  der  Gemütsverfassung. 


Darin  ist  Ordnung:  die  Schlamperei  ist  gebUeben. 
Darin  ist  Pünktlichkeit:    die  Schlamperei  beruft  sich 

auf  den  Weltbrand. 

* 

Es  ist  in  alten  Mären,  auf  welche  die  Nibelungen- 
treue zurückzuführen  ist,  der  Wunder  viel  geseit. 
Aber  was  sind  diese  gegen  die  wunderbaren,  märchen- 
haften Verbindungen  und  Kontraste  der  blutlebendigen 
Gegenwart?  Denn:  Noch  nicht  einmal  telephonieren 
können  und  nichts  als  telephonieren  können  —  das 
mag  wohl  zwei  Welten  ergeben;  aber  läßt  es  eigentlich 
ihre  seelischeVerbindung  zu,  da  kaum  eine  telephonische 
Zustandekommen  könnte?  Lassen  sich  zwei  Wesen 
Schulter  an  Schulter  denken,  deren  eines  die  Unordnung 
zum  Lebensinhalt  hat  und  nur  aus  Schlamperei  noch 
nicht  zu  bestehen  aufgehört  hat,  und  deren  anderes 
in  nichts  und  durch  nichts  besteht  als  durch  Ordnung? 


Wir  hier  müssen  erst  das  werden,  was  wir  nicht 
sein  sollen. 

Der  Wiener  wird   nie    untergehn,    sondern    im 
Gegenteil  immer  hinaufgehn  und  sichs  richten. 

* 

Immer  schon  habe  ich  es  draußen  in  der  Well 
ungemütlich   gefunden.    Wenn    ich   trotzdem   so   oft 


156 


hinausgereist  bin,  so  geschah  es  nur,  weil  ich  es  hier 
gemütlich  gefunden  habe. 


Den  Ägyptern  war  der  Scarabäus  heilig,  den 
Wienern  der  Zahlkellner.  Die  unwahrscheinliche  Ver- 
flossenheit dieser  Kultur  spricht  schon  heute  in 
Hieroglyphen.  Eine  Bilderschrift  ergibt  etwa  den 
folgenden  Sinn:  Ein  anscheinend  den  besseren  Ständen 
angehöriger  Herr  hat  während  des  Essens  noch  die 
Geistesgegenwart,  dem  Zahlkellner  einen  Witz  zu 
erzählen.  Der  Zahlkellner  schmunzelt  befriedigt  und 
revanchiert  sich,  indem  er  um  den  Gast  herumgeht, 
sich  über  sein  Ohr  beugt,  und  ihm  eine  offenbar 
gewagte  Anekdote  einsagt.  Das  Gesicht  des  Herrn, 
auf  dem  das  wachsende  Verständnis  sich  aus  nach- 
denkhchen  Schatten  mählich  zu  einem  strahlenden 
Ausdruck  gesteigert  hat,  legt  sich  wieder  in  Falten: 
er  scheint  sich  an  etwas  zu  erinnern  und  beginnt 
mit  vollem  Mund  sich  über  die  ungenügende  Ver- 
pflegung in  den  Schützengräben  aufzuhalten  .  .  . 
Der  Zahlkellner  war  im  Rang  über  den  Hohepriester 
gestellt.  Er  bezog  scheinbar  nur  dafür  Einkünfte,  daß 
man  ihm  Geld  gab;  in  Wahrheit  hatte  er  Rat  und 
Trost  in  allen  Lebenslagen  zu  spenden.  Ihm  nahe  im 
öffentlichen  Ansehen  kamen  die  Sänger.  Hatte  der 
Zahlkellner  auf  den  Geist  der  Männer  einzuwirken, 
so  sprach  der  Operettentenor  mehr  zu  den  Sinnen 
der  Frauen.  In  allen  Schaufenstern,  die  man  auch 
Auslagen  nannte,  prangte  sein  Bild,  selbst  in  Blumen- 
läden tauchte  das  anheimelnde  Gesicht  unvermutet 
wie    eine    liebe    Schnecke   zwischen   den   Boten   des 


157 


Frühlings  auf,  in  der  Regel  sogar  mit  der  eigenhändigen 
Unterschrift  verziert.  Als  es  Krieg  gab,  erhöhte  die 
Uniform  den  Reiz  dieser  an  und  für  sich  schon 
unwiderstehlichen  Figuren,  denen  man  dann  noch 
häufiger  auf  der  Straße  begegnete  als  sonst,  weil 
ihre  Unentbehrlichkeit  für  die  Damenwelt  ihnen  von 
selbst  eine  Beschäftigung  im  Hinterland  anwies.  Das 
Wesen  jener  sagenumwobenen  Stadt  war  es,  daß  der 
Liebreiz  ihrer  Sitten  noch  das  Auspeitschenswerteste 
mit  dem  Vorzug  der  Schmackhaftigkeit  begnaden 
konnte. 

Bei  Kriegsausbruch  scheint  es  in  Paris  zugegangen 
zu  sein,  wie  in  Wien  nach  Konzertschluß. 


Es  gab  Tage  in  Wien,  wo  einem  eher  die  Fenster 
eingeschlagen  wurden,  wenn  man  laut  sagte,  die  Fran- 
zosen hätten  ein  Debacle  erlitten  und  wären  nun  in 
der  Sauce,  als  wenn  man  von  einer  Niederlage  der 
Deutschen  gesprochen  hätte,  die  nun  in  der  Tunke 
wären. 

In  einer  aufgeregten  Zeit,  in  der  alles  durcheinander- 
geht, kann  es  leicht  geschehen,  daß  ein  Korrespondent 
von    den  »Brüsseler  Spitzen    der  Behörden«    spricht. 


Ein  kleines  Vorstadtcafe  in  der  Nähe  des  West- 
bahnhofes, das  Cafe  Westminster  hieß,  damit  sich  die 
ankommenden  Lords  sogleich  wie  zu  Hause  fühlten, 
heißt  jetzt  Cafe  Westmünster.  Das  ist  ein  rührender 


158 


Beweis  für  den  guten  Willen,  die  Notwendigkeiten  der 

veränderten  Zeit  zu  erfassen,  und  dürfte  späterhin  auch 

eine  verdiente  Enttäuschung  für  die  auf  dem  West- 

balinhof  wieder  ankommenden  Lords  bedeuten.    Die 

wem  schaun! 

* 

Der  kriegerische  Zustand  scheint  den  geistigen 
auf  das  Niveau  der  Kinderstube  herabzudrücken.  Nicht 
allein,  daß  jeder  recht  und  der  andere  angefangen 
hat.  Nicht  nur,  daß  jeder  sich  eben  das  als  Einsicht 
und  Ehre  einräumt,  was  des  andern  Unbill  und 
Schande  ist,  dem  andern  die  Untat  vorwirft,  die  er 
selbst  begeht,  das  Unglück  vorhält,  das  er  selbst 
erleidet,  und  daß  noch  die  grellste  Anschaulichkeit 
solcher  Kontraste,  die  in  zwei  benachbarten  Zeitungs- 
spalten zusammenstoßen,  ihnen  nichts  von  ihrer 
Unbefangenheit  nehmen  kann  und  immerzu  der,  dessen 
Kartoffeln  nur  dreimal  so  teuer  wurden,  den  andern, 
dem  sie  um  zwanzig  Prozent  hinaufgegangen  sind,  für 
ruiniert  halten  wird.  Nicht  nur,  daß  keiner  von  ihnen 
unter  allen  möglichen  Schlüssen,  mit  denen  man  eine 
verfehlte  Sache  beenden  kann,  auch  nur  den  Vernunft- 
schluß wählt,  der  eigene  Sieg  müsse  längst  besiegelt 
sein,  wenn  nur  der  hundertste  Teil  dessen  wahr  ist, 
was  der  Tag  an  feindlichen  Verlusten  von  Macht 
und  Ehre  bringt.  Nein,  jeder  ist  auch  der  Meinung, 
daß  der  »Wille  zum  Sieg«  diesen  verbürge  und  daß 
nur  er  allein  diesen  Willen  zum  Sieg  habe,  während 
der  andere,  offenbar  von  dem  nicht  minder  ent- 
schlossenen Willen  zur  Niederlage  getrieben,  mit 
knapper  Not  und  m  it  Anspannung  aller  Kräfte  vielleicht 
diese  erreichen  kann,  aber  beileibe  nicht  den  Sieg,  auf 


159 


den  er  es  ja  auch  gar  nicht  abgesehen  hat,  es  wäre  denn, 
daß  wider  Erwarten  der  am  Ende  doch  allen  gemeinsame 
Wille  zum  Sieg  allen  eben  diesen  verbürgte.  Dabei 
ahnt  aber  die  verfolgende  Unschuld  nicht,  daß 
tatsächlich  der  Wille  zur  Niederlage  eine  Triebkraft 
sein  könnte,  die  einen  wahren  Feldherrn  der  Kultur 
zum  Triumph  der  Demut  über  den  expansiven  Ungeist 
führt,  und  daß  jene  Sprache  gewinnen  würde,  in 
deren  Verkehrsbereich  sich  der  Zusammensturz  des 
weltbeherrschenden  Unwerts  endlich  vollzieht,  damit 
auch  dieser  Krieg  den  Sinn  eines  Krieges  habe. 
Wenn  aber  die  Sprachen  so  weit  halten,  daß  dieselbe 
Rede  die  Wahrheit  des  einen  und  die  Wahrheit  des 
andern  ist,  so  lügt  nicht  einer,  sondern  beide,  und 
über    alle   triumphiert    wie    eh    und   je   der  Unwert. 


Der  Witz  umarmt  die  Wirklichkeit,  und  der 
Wahnsinn  springt  auf  die  Welt.  Wie  soll  man  noch 
erfinden,  wenn  hinter  jeder  Fratze  ein  Gesicht  auf- 
taucht und  sich  selbst  zum  Sprechen  ähnhch  findet? 
Wie  soll  man  übertreiben,  wenn  die  Tatsache  zur 
Karikatur  der  Übertreibung  wird?  A  und  B  sind  im 
Streit.  Von  A  erzählt  man  eine  rechtswidrige  Handlung. 
Da  man  das  aber  aus  irgendeinem  Grunde  nicht  laut 
sagen  darf,  so  sagt  man  laut:  Wissen  Sie  schon, 
welche  Rechtswidrigkeit  der  B  wieder  begangen  hat? 
Daß  B  sie  wirklich  auch  begangen  haben  könnte, 
daran  denkt  man  dabei  nicht.  Daß  A,  seines  eigenen 
Vergehens  bewußt,  es  dem  B  je  zum  Vorwurf  machen 
könnte,  wenn  der  es  auch  begangen  hätte,  glaubt 
man  gleichfalls  nicht.  Wenigstens  in  diesem  besonders 


160 


argen  Fall  nicht.  Nur  die  allgemeine  Erfahrung,  daß 
ähnliches  wohl  schon  geschehen  sei,  ja  daß  dem  B 
so  viel  aufs  Kerbholz  gesetzt  werde,  was  nur  der  A 
getan  hat,  berechtigt  zu  der  scherzhaften  Verwechs- 
lung: »Nein,  denken  Sie,  was  bei  dem  B  alles 
möglich  ist!«  Am  nächsten  Tag  erscheint  eine  Ver- 
wahrung des  A  gegen  das  Vorgehen  des  B.  Er  habe 
eben  jene  Rechtswidrigkeit  begangen,  in  der  Reihe 
ähnlicher  Vergehungen  die  ärgste.  So  übernimmt  A 
selbst  die  parodistische  Methode,  mit  der  man  die 
Sünden  des  A  dem  B  zuschiebt,  weil  man  nicht 
anders  kann.  So  bleibt  nur  die  Erklärung,  daß  er 
Reue  verspürte  und  in  der  Hoffnung,  man  werde  ihn 
richtig  verstehen,  sein  Verschulden  in  der  Form 
beichtete,  daß  er  es  dem  B  zuschob.  Hätte  B  es 
wirklich  begangen,  so  müßte  ja  A  mindestens  den 
gerechten  Ausgleich  spüren  und  schweigen.  Nicht  die 
Entrüstung  über  das,  was  man  selbst  auch  schon  oder 
gar  nur  allein  getan  hat,  bildet  die  Komik  des  Falles, 
sondern  die  Pünktlichkeit,  mit  der  eine  absichtliche 
Entstellung,  die  der  Vorsichtige  gebraucht,  welcher  B 
sagen  muß,  wenn  er  A  meint,  von  A  aufgegriffen 
wird.  Somit  hüte  man  sich  nicht  nur,  die  Wahrheit 
zu  sagen,  man  sei  auch  vorsichtig  mit  der  Lüge, 
denn  auch  sie  ist  vergeblich  und  taugt  höchstens  zum 

Possenmotiv. 

* 

Was  die  Spione  immer  verbrechen  mögen,  die 
Landesgrenzen  der  Ethik  werden  sie  nicht  verrücken 
können.  Immer  wird  jeder  Staat  dasselbe  Verbrechen, 
das  er  mit  dem  Tode  bestraft,  mit  Gold  aufwiegen. 
Darum  sollte  eine  Angelegenheit  der  Utilität  wenigstens 


161 


von  dem  Ballast  einer  Moralität  befreit  werden, 
innerhalb  deren  ja  beide  Teile  einander  nichts  vor- 
zuwerfen haben. 

* 

Es  gibt  politische  Überzeugungen,  deren  Anhänger 
lieber  gegen  sie  als  für  sie  sterben. 


Nie  sollte  der  Bürger  das  Gefühl  haben,  daß  das 
Vaterland  ein  Gut-  und  Blutegel  sei! 


Diplomatie  ist  ein  Schachspiel,  bei  dem  die  Völker 

matt  gesetzt  werden. 

* 

Der  Krieg  wäre  ja  ein  leidliches  Strafgericht,  wenn 
er  nicht  die  Fortsetzung  des  Deliktes  wäre. 


Der  militärische  Typus  ist  der  brauchbarste  aller 
im  Frieden  vorrätigen  Typen  der  Demokratie.  Dienst 
ist  die  Schranke  der  zügellosen  Unbedeutung.  Es  ist 
Pflichterfüllung  um  ihrer  selbst  willen.  Zucht  ist  der 
Anstand  der  Mittelmäßigkeit.  Selbst  der  Jobber,  der 
einmal  dienen  muß,  anstatt  zu  gebieten,  kommt  mit 
einem  bessern,  weniger  störenden,  weniger  individu- 
ellen, fettloseren  Gesicht  zurück.  Dies  ist  kein  Lob 
des  Krieges,  sondern  beileibe  nur  der  Strapaz.  Der 
Tod  hebt  den  erreichten  Gewinn  wieder  auf.  Nicht 
daß  die  Jobber  stürben,  bewahre !,  Die  Jobber  sterben 
nicht.  Aber  ich  denke,  daß  der  angemaßte  Todes- 
glanz   den    Wert    der    Turnübung    wettmacht.    Das 

11 


162 


Heldentum  der  Unbefugten  ist  die  traurigste  Aussicht 
dieses  Krieges.  Es  wird  dereinst  der  Hintergrund 
sein,  auf  dem  sich  die  vermehrte  und  unveränderte 
Niedrigkeit  noch  malerischer  und  vorteilhafter  abhebt. 


Die  militärische  Daseinsform  verträgt  sich  mit 
dem  Denken  nur  als  Gelegenheit  oder  Beruf  des  edel 
Gehörnen,  den  Gefahrenlust  oder  die  Empfindlichkeit 
in  jedem  und  somit  auch  im  vaterländischen  Ehrbegriffe 
zum  Schutz  des  zu  solchen  Gefühlen  untauglichen 
Bürgers  befähigen,  und  als  Dienst  des  Söldners.  Die 
große  Neuerung,  die  Hand  in  Hand  mit  der  Entwicklung 
der  technischen  Quantität  den  Bürger  selbst  unter  die 
militärische  Pflicht  gestellt  hat,  wäre  höchstens  dort,  wo 
sie  den  Vorteil  körperlicher  Abhärtung  ergibt,  mit  dem 
Sinn  des  Lebens  in  Übereinstimmung  zu  bringen.  Die 
Demokratisierung  der  Glorie,  die  Umwandlung  des 
Opfers  zum  Tribut,  des  Rechts,  für  das  Vaterland  zu 
sterben,  in  die  diesbezügliche  Pflicht,  ist  bisher  nur 
als  der  Nutzen  eines  vermehrten  Aufgebots  der  Körper 
in  Betracht  gezogen,  aber  in  ihren  inneren  Folgen  noch 
nicht  durchdacht  worden.  Disziplin  ist  das  erhaltende 
Prinzip  innerhalb  des  militärischen  Berufs  oder  des 
militärischen  Geschäfts,  ein  zerstörendes  innerhalb  des 
militärischen  Zwanges.  Wenn  das  Dienen  der  Inhalt 
der  durch  moralische  oder  materielle  Ambition 
freigewählten  Betätigung  ist,  so  findet  der  Wert  kein 
anderes  Maß  als  im  Rang.  Nie  kann  es  da  geschehen, 
daß  •  ein  Hochwertiger  einem  Minderwertigen  zu 
gehorchen  hat.  Denn  da  —  die  Gerechtigkeit  der 
Verwaltung  und  die  Ordnung  der  Sphäre  gerade  da 


163 


leicht  vorausgesetzt  —  muß  der  Vorgesetzte,  der  sein 
ganzes  Wesen  dem  Beruf  gewidmet  hat,  menschhch 
über  dem  Subalternen  stehen,  der  desgleichen  getan 
hat.  Kultur  ist  im  letzten  Grunde  von  der  restlosen 
Aufwendung  der  Fähigkeiten  auf  den  freigewählten 
Beruf  bedingt.  Nun  denke  man  aber  den  Fall,  daß 
—  aus  einer  mißgeleiteten  demokratischen  Absicht  — 
ein  autokratisches  Gesetz  zustandekommt,  welches  den 
Gelehrten  eines  Tages  zwingt,  als  Lehrling  bei  einem 
Tischlermeister  einzutreten  und  ihm  außer  der  Arbeit, 
die  sein  besseres  Teil  zwar  nicht  aufbraucht,  aber 
schädigt,  auch  noch  wo  immer  die  vorschriftsmäßige 
Ehrenbezeigung  zu  leisten.  Der  Rangunterschied  dürfte 
hier  kaum  mit  dem  Wertunterschied  zur  Deckung 
kommen.  Die  Fortsetzung  dieses  Zustands  in  ein  soziales 
und  seelisches  Chaos  ist  unschwer  durchzudenken.  Die 
demokratische  Idee,  die  es  auf  die  Freilieit  aller  von 
allen  abgesehen  hat,  ist  bloß  nicht  ins  Leben  umzusetzen. 
Aber  wenn  sie  mit  dem  Zwang  aller  durch  alle  vorlieb 
nimmt,  führt  sie  sich  ad  absurdum.  Wie  kann  ein  Beruf, 
dessen  Bereitschaft  zu  Gefahren  Staat  und  Gesellschaft 
mit  Recht  durch  ein  Vorrecht  belohnt  haben,  die 
Popularisierung  ertragen?  Oder  wie  kann  die  Pflicht, 
gleiche  Gefahr  zu  bestehen,  auf  das  Vorrecht  verzichten  ? 
Nie  konnte  ein  Subalterner  der  alten  Ordnung  unter 
dem  Gefühl,  der  höhere  Mensch  zu  sein,  leiden,  weil 
solches  Gefühl  auch  Gelegenheit  hatte,  ihn  bei  der 
Berufswahl  zu  beraten  und  noch  die  Möglichkeit,  die 
Berufswahl  zu  korrigieren.  Wohltätig  wäre  der  plötzliche 
Zwang,  der  nur  den  zuchtlosen  Intellekt  oder  die 
freche  Habsucht  unter  das  Kommando  einer  Schablone 
beugte,    mag    auch   diese   heute   im    letzten    Grunde 

11* 


164 


nichts  anderes  bedeuten  als  die  Autorität  der  Erwerbs- 
mächte selbst.  Wie  soll  aber  wahres  Menschentum,  das 
solchen  Stoßes  nicht  bedurft  hat,  in  der  neuen 
Wirklichkeit  sich  zurecht  finden?  Und  wenns  gelingt, 
wie  kann  das  Mißverhältnis  von  Macht  und  Wert 
bestehen  bleiben  ohne  weitere,  der  Macht  nm-  zu 
erwünschte  Verkümmerung  des  Wertes?  Wenn  die 
Demokratie  des  einzigen  Privilegs,  das  sie  noch  nicht 
hatte,  des  Privilegs,  Zucht  zu  halten,  habhaft  wird, 
dann  kann  es  zu  einem  furchtbaren  Instrument  in 
der  Hand  der  Minderwertigkeit  werden,  zu  einem 
grausameren  als  die  Waffe  selbst.  Kein  Staat  ver- 
möchte als  einziger  dieser  Entwicklung  Einhalt  zu 
tun.  Aber  welcher  Gedanke  war,  da  das  Menschen- 
leben kurz  ist,  die  Sonne  nur  einmal  scheint  und 
Haushalten  mit  der  irdischen  Glückseligkeit  geboten 
ist,  welcher  Gedanke  war  so  verführerisch,  alle 
zusammen   und   die  Welt   selbst   auf  diese  Bahn  zu 

führen ! 

* 

Die  Entwicklung  der  Technik  ist  bei  der  Wehr- 
losigkeit  vor  der  Technik  angelangt. 

* 

Nie  war  eine  riesenhaftere  Winzigkeit  das  Format 

der  Welt.  Die  Tat  hat  nur  das  Ausmaß  des  Berichts, 

der  mit  nachkeuchender  Deutlichkeit  sie  zu  erreichen 

sucht. 

* 

Wie  geht  das  nur  zu  ?  Die  Welt  brennt  —  aber  von 
den  Häuptern  jener  Lieben,  die  man  schon  vorher 
täglich  gezählt  hat,  fehlt  kein  einziges. 


165 


Welche  Torheit,  zu  glauben,  daß  die  ekelhaftesten 
Erscheinungen  des  gesellschaftlichen  Hinterlandes 
nicht  die  maßgebenden  seien!  Was  wie  Oberfläche 
aussieht,  ist  in  Wahrheit  Alles,  denn  Alles  drängt 
zur  Oberfläche.  Was  geopfert  wird,  war  gesünder 
als  das,  was  bleibt:  diesem  wurde  es  geopfert.  Wie? 
Der  deutsche  Michel  ist  für  die  Schmach  der  Großstadt 
nicht  verantwortlich?  Aber  er  dient  ihr,  für  sie  blutet 
er.  Denn  alles  wird  Großstadt  und  Schmach.  Der 
Thüringer,  in  die  Maschine  geworfen,  stirbt  oder  wird 
Berliner.  Umgekehrt  gehts  nicht  und  zurück  ginge 
es  auch  nicht  mehr.  Der  deutsche  Michel  ist  das 
Rohmaterial.  Die  Fertigware,  auf  die  es  ankommt, 
ist  der  deutsche  Koofmichel. 

* 

La  bourse  est  la  vie. 

Die  Feldpost  bewährt  sich.  Sie  hat  schon  jetzt 
die  seelische  Verbindung  zwischen  den  Taten  und 
dem  Hinterland  überlebt. 

* 

Nichts  hat  sich  geändert,  höchstens,  daß  man  es 

nicht  sagen  darf. 

* 

Jetzt  sprechen  hat  entweder  zur  Voraussetzung, 
daß  man  keinen  Kopf  hat,  oder  zur  Folge. 

Ich  bin  dafür,  daß  man  den  Leuten  verbietet, 
das,  was  ich  denke,  zu  meinen. 

* 


166 


Die  Menschheit  würde  vom  Kiieg  statt  einer 
Extraausgabe  einen  Denkzettel  behalten,  wenn  sie 
durch  den  Krieg  verhindert  würde,  jene  zu  bekommen. 

* 

Einer  saß  am  Klavier,  nach  ein  paar  Tagen 
traf  ihn  ein  Schuß  ins  Herz.  .  .  Ein  Verstümmelter  mit 
zuckendem  Gesicht  schleppt  sich  vorbei.  .  .  Wie  gut 
blickt  jener,  der  dort  hinkt,  als  möchte  er  dem 
schnellen  Passanten  sagen:  Alles  kam,  ich  weiß 
nicht  wie,  ich  war  ja  bereit  für  euch,  nun  finde  ich 
mich  nicht  mehr  zurecht  unter  euch,  dem  Tod  entkam 
ich.  bitte,  wie  kommt  man  hier  durchs  Leben? 
Weicht  nie  mehr  dieser  Brand  von  meinem  Auge, 
nie  diese  Höllenmusik  aus  meinem  Ohr?  .  .  .  Zwei 
Leiber,  die  nicht  Narben,  sondern  Lieferungen  haben, 
eilen  vorüber.    Es   fällt   das   Wort:  »Friedensrisiko«. 

* 

Ich  sah  einen,  dessen  Gesicht  gedieh,  wurde 
breit  und  breiter,  bis  es  aufging  wie  ein  lachender 
Vollmond  über  dem  blutigen  Zeitvertreib  der  Erde. 
Solcher  Monde  so  viele  zählte  schon  der  Krieg. 

Wenn  man  dem  Teufel,  dem  der  Krieg  seit  jeher 
eine  reine  Passion  war,  erzählt  hätte,  daß  es  einmal 
Menschen  geben  werde,  die  an  der  Fortsetzung  des 
Krieges  ein  geschäftliches  Interesse  haben,  das  zu 
verheimlichen  sie  sich  nicht  einmal  Mühe  geben  und 
dessen  Ertrag  ihnen  noch  zu  gesellschaftlicher 
Geltung  verhilft  —  so  hätte  er  einen  aufgefordert,  es 
seiner  Großmutter    zu    erzählen.    Dann    aber,   wenn 


167 


er  sich  von  der  Tatsache  überzeugt  hätte,   wäre  die 

Hölle    vor  Schani    erglüht    und    er    hätte    erkennen 

müssen,     daß     er     sein    Lebtag     ein    armer    Teufel 

gewesen  sei! 

* 

Wenn  man  von  einem  Krieg  der  Quantitäten 
spricht,  bejaht  man  scheinbar  die  Notwendigkeit  des 
Krieges  als  solchen,  der  ja  immerhin  das  Problem 
der  Übervölkerung  auf  eine  Zeit  in  Ordnung  bringen 
mag.  Aber  wäre  dieser  edle  Zweck  nicht  schmerzloser 
durch  die  Freigabe  der  Fruchtabtreibung  zu  erreichen? 
»Dazu  würde  die  herrschende  Moralauffassung«  — 
höre  ich  eben  diese  sagen  —  »nie  ihre  Zustimmung 
geben!«  Das  habe  ich  mir  auch  nicht  eingebildet,  da 
die  herrschende  Moralauffassung  nur  dazu  ihre  Zu- 
stimmung gibt,  daß  Frauen  Kinder  bekommen,  damit 
diese  von  Fliegerbomben  zerrissen  werden! 


Ein  Franktireur  ist  ein  Zivilist,  der  mit  Absicht 
einen  Bewaffneten  angreift.  Ein  Flieger  ist  ein  Bewaff- 
neter, der  durch  Zufall  einen  Zivilisten  tötet. 


Der  Humor  eines  Kegelklubs  wirft,  wenns  sein 
muß,  auch  Bomben  mit  Witzen. 


Als  tausende  Menschen  in  den  schauerlichsten 
Tod  versunken  wai-en,  erhob  sich  von  einer  Wiener 
Operettenbühne  der  Witz  zu  den  Sternen :  »Dös  warn 
die  ramasurischen  Sümpfe«    —   und  eine  Stadt,   der 


168 


es  bestimmt  ist,  immerdar  nicht  unterzugehen,  lachte. 
Ein  Sumpf,  der  Menschenleiber  trägt,  warf  sich  in 
Bauchfalten  und  lachte.  Ein  Riesenbauch,  dem  keine 
Gefahr  aufstößt,  wand  sich  lachend,  gekitzelt  von 
einem  Juden,  geschützt  vor  den  Einfällen  des  Welt- 
laufs, und  lachte,  und  siehe,  eine  gemütliche  Pratzen 
streckte  sich  der  Schicksalshand  entgegen  und  sagte: 
Mir  wern  kan  Richter  brauchen !  Und  hielt  sie  fest. 
Darob  verwunderten  sich  die  Sterne. 

Alles  was  geschieht,  geschieht  für  die,  die  es 
beschreiben,  und  für  die,  die  es  nicht  erleben.  Ein 
Spion,  der  zum  Galgen  geführt  wird,  muß  einen 
längeren  Weg  gehen,  damit  die  im  Kino  Abwechs- 
lung haben,  und  muß  noch  einmal  in  den  photo- 
graphischen Apparat  starren,  damit  die  im  Kino  mit 
dem  Gesichtsausdruck  zufrieden  sind.  Schweigen  wir. 
Beschreiben  wir  es  nicht,  die  es  erlebten.  Es  ist  ein 
dunkler  Gedankengang  zum  Galgen  der  Menschheit, 
ich  wollte  ihn  als  ihr  sterbender  Spion  nicht  mit- 
machen. Und  muß,  und  zeige  ihr  mein  Gesicht!  Denn 
mein  herzbeklemmendes  Erlebnis  ist  der  horror  vor 
dem  vacuum,  das  diese  unbeschreibliche  Ereignisfülle 
in  den  Gemütern,  in  den  Apparaten  vorfindet. 

Ich  glaube:  Daß  dieser  Krieg,  wenn  er  die 
Guten  nicht  tötet,  wohl  eine  moralische  Insel  für  die 
Guten  herstellen  mag,  die  auch  ohne  ihn  gut  waren. 
Daß  er  aber  die  ganze  umgebende  Welt  in  ein  großes 
Hinterland  des  Betrugs,  der  Hinfälligkeit  und  des 
unmenschlichsten  Gottverrats  verwandeln  wird,  indem 


169 


das  Schlechte  über  ihn  hinaus  und  durch  ihn  fort- 
wirkend, hinter  vorgeschobenen  Idealen  fett  wird 
und  am  Opfer  wächst.  Daß  sich  in  diesem  Krieg, 
dem  Krieg  von  heute,  die  Kultur  nicht  erneuert, 
sondern  nur  durch  Selbstmord  vor  dem  Henker  rettet. 
Daß  er  mehr  war  als  Sünde:  daß  er  Lüge  war, 
tägliche  Lüge,  aus  der  Druckerschwärze  floß  wie 
Blut,  eins  das  andere  nährend,  auseinanderströmend, 
ein  Delta  zum  großen  Wasser  des  Wahnsinns.  Daß 
dieser  Krieg  von  heute  nichts  ist  als  ein  Ausbruch 
des  Friedens,  und  daß  er  nicht  durch  Frieden  zu 
beenüen  wäre,  sondern  durch  den  Krieg  des  Kosmos 
gegen  diesen  hundstollen  Planeten!  Daß  Menschen- 
opfer unerhört  fallen  mußten,  nicht  beklagenswert, 
weil  sie  ein  fremder  Wille  zur  Schlachtbank  trieb, 
sondern  tragisch,  weil  sie  eine  unbekannte  Schuld 
zu  büßen  hatten.  Daß  für  einen,  der  das  beispiellose 
Unrecht,  das  sich  noch  die  schlechteste  Welt  zufügt, 
als  Tortur  an  sich  selbst  empfindet,  nur  die  letzte 
sittliche  Aufgabe  bleibt:  mitleidslos  diese  bange 
Wartezeit  zu  verschlafen,  bis  ihn  das  Wort  erlöst 
oder  die  Ungeduld  Gottes. 

»Auch  Sie  sind  ein  Optimist,  der  da  glaubt  und 
hofft,  daß  die  Welt  untergeht.« 

Nein,  sie  verläuft  nur  wie  mein  Angsttraum,  und 
wenn  ich  erwache,  ist  alles  vorbei. 


VI 

Nachts 


173 


In  der  Schöpfung  ist  die  Antithese  nicht 
beschlossen.  Denn  in  ihr  ist  alles  widerspruchslos 
und  unvergleichbar.  Erst  die  Entfernung  der  Welt 
vom  Schöpfer  schafft  Raum  für  die  Sucht,  die  jedem 
Gegenteil  das  verlorene  Ebenbild  findet. 

Witz  und  Glaube  wurzeln  beide  im  größten 
Kontrast.  Denn  einen  größeren  als  den  zwischen  Gott 
und  Gottes  Ebenbild  gibt  es  nicht. 

Ich  muß  wieder  unter  Menschen  gehen.  Denn 
zwischen  Bienen  und  Löwenzahn,  in  diesem  Sommer, 
ist  mein  Menschenhaß  arg  ausgeartet. 

Flucht  in  die  Landschaft  ist  verdächtig.  Die 
Gletscher  sind  zu  groß,  um  unter  ihnen  zu  denken, 
wie  klein  die  Menschen  sind.  Aber  die  Menschen 
sind  klein  genug,  um  unter  ihnen  zu  denken,  wie  groß 
die  Gletscher  sind.  Man  m.uß  die  Menschen  zu  diesem 
und  nicht  die  Gletscher  zu  jenem  benützen.  Der 
Einsame  aber,  der  Gletscher  braucht,  um  an  Gletscher 
zu  denken,  hat  vor  den  Gemeinsamen,  die  unter 
Menschen  an  Menschen  denken,  nur  eine  Größe 
voraus,  die  nicht  von  ihm  ist.  Gletscher  sind  schon 
da.  Man  muß  sie  dort  erschaffen,  wo  sie  nicht  sind, 
weil  Menschen  sind. 


174 


Quallen,  Würmer  und  Medusen  lagen  oft  auf 
dem  Strand.  Wenn  ich  sie  beschien,  spielten  sie  alle 
Farben.  Wenn  ich  ging,  waren  sie  schmutzig.  Sie 
wollten  ihre  Persönlichkeit  behaupten.  Sie  beneideten 
dann  Weichtiere,  die  eine  Schale  hatten  und  keiner 
Farbe  fähig  waren,  aber  eines  Zwecks.  Es  waren 
dennoch  Weichtiere  und  Schaltiere.  Genießbar  war 
keine  all  der  Arten.  Keine  Auster  habe  ich  gefunden. 

Ich  geriet  einst  auf  einer  Partie  in  Norwegen, 
die  als  lohnend  empfohlen  wurde,  in  sumpfige  Gegend, 
rettete  mich  auf  einen  Baumstrunk  und  verharrte  so, 
bis  ich  wieder  Ki-aft  hatte,  den  sicheren  Weg  zu 
suchen  .  .  .  Ich  weiß  nicht,  ob  ich  ihn  gefunden 
habe  .  .  .  Dennoch,  lange  tauchte  die  grausige 
Erinnerung  nicht  auf.  Bis  man  mir  eines  Tages 
zuredete,  in  eine  Gesellschaft  zu  gehen,  in  der  ich 
gut  aufgehoben  und  von  lauter  »Verehrern«  umgeben 
wäre  .  .  .  Ringsum  nichts  als  Verehrer.  Die  Gegend 
gibt  nach,  wenn  ich  auftrete.  Justament  gibt  sie  nach. 
Ich  stehe  auf  einem  Baumstrunk.  Da  sagt  man  mir, 
diese  Exklusivität  sei  schlecht  angebracht,  denn  ich 
brauchte  doch  nur  einen  Schritt  zu  machen  und  wäre 
mitten  drin  unter  den  Verehrern  .  .  .  Seither  spaziere 
ich   im  Karst,  wo   einem   das   nicht  passieren  kann. 

Als  Kind  träumte  mir  oft  von  Menschen,  die  nur 
aus  Haut  waren,  und  die  war  löcherig.  Ich  habe  später 
nichts  mehr  hineingetan. 

* 

Bei  den  meisten  Menschen  dringe  ich  bis  zur  Seele 
nicht  vor,  sondern  zweifle  schon  an  den  Eingeweiden. 


175 


Denn  ich  kann  nicht  glauben,  daß  dieser  wundervolle 

Mechanismus  erschaffen  wurde,  um  einen  Kommerzial- 

rat   zusammenzustellen,    und   erst   durch   Obduktion 

lasse  ich  mich  davon  überzeugen,  daß  ein  Wucherer 

eine  Milz  hat. 

* 

In  der  Berliner  Passage  wächst  kein  Gras.  Es 
sieht  so  aus,  wie  nach  dem  Weltuntergang,  wiewohl 
noch  Leute  Bewegungen  machen.  Das  organische  Leben 
ist  verdorrt  und  in  diesem  Zustand  ausgestellt. 
Kastans  Panoptikum.  Oh,  ein  Sommersonntag  dort, 
um  sechs  Uhr.  Ein  Orchestrion  spielt  zur  Stein- 
operation Napoleons  IIL  Der  Erwachsene  kann  den 
Schanker  eines  Negers  sehen.  Die  unwiderruflich 
letzten  Azteken.  Öldrucke.  Strichjungen  mit  dicken 
Händen.  Draußen  ist  das  Leben:  ein  Bierkabaret. 
Das  Orchestrion  spielt:  Emil  du  bist  eine  Pflanze. 
Hier  wird  der  Gott  mit  der  Maschine  gemacht. 


In  Wien,    grünenden    Lebens   voll,   welken   die 

Automaten. 

* 

(Georg    Trakl    zum  Dank    für   den  Psalm.)     Siebeumonats- 

kinder  sind  die  einzigen,  deren  Blick  die  Eltern  ver- 
antwortlich macht,  so  daß  diese  wie  ertappte  Diebe 
dasitzen  neben  den  Bestohlenen.  Sie  haben  den  Blick, 
der  zurückfordert,  was  ihnen  genommen  wurde,  und 
wenn  ihr  Denken  aussetzt,  so  ist  es,  als  suchte  es 
den  Rest,  und  sie  starren  zurück  in  die  Versäumnis. 
Andere  gibt  es,  die  denkend  solchen  Blick  annehmen, 
aber  den  Blick,    der   dem  Chaos    erstatten    möchte, 


176 


was  sie  zu  viel  bekommen  haben.  Es  sind  die  Voll- 
kommenen, die  fertig  wurden,  als  es  zu  spät  war. 
Sie  sind  mit  dem  Schrei  der  Scham  auf  eine  Welt 
gekommen,  die  ihnen  nur  das  eine,  erste,  letzte 
Gefühl  beläßt:  Zurück  in  deinen  Leib,  o  Mutter,  wo 
es  gut  war! 

Alles  was  recht  ist,  sagen  sie,  aber  es  fehlt 
mir  an  Liebe,  sagen  sie,  an  Liebe  zur  Menschheit. 
Das  müssen  wohl  arge  Pessimisten  sein,  die  die 
vorhandene  Kollektion  schon  für  die  denkbar  beste 
halten!  Oder  arge  Idioten,  die  Jenen  einen 
Schmetterlingsfeind  nennen,  dem  beim  Gedanken  an 
einen  toten^Admiral  die  Kohlweißlinge  zu  viel  werden. 

Das  Martyrium  war  ehedem  der  Lohn  der  Er- 
kenntnis. Jetzt  muß  es  verkehrt  sein:  der  Gedanke 
belohnt  die  Qual  und  straft  die  Quäler.  Unter  den 
Lanzenstichen,  die  sie  austeilen,  entsteht,  was  sie 
peinigt!  :;= 

Oft  ritze  ich  mit  der  Feder  meine  Hand  und  weiß 
erst  dann,  daß  ich  erlebt  habe,  was  geschrieben  steht. 

* 

Wenn  ich  einschlafen  will,  muß  ich  immer  erst 
eine  ganze  Menagerie  von  Stimmen  zum  Kuschen 
bringen.  Man  glaubt  gar  nicht,  was  für  einen  Lärm 
die  in  meinem  Zimmer  machen. 

* 

Selbstrettung  der  Selbstmörder:  Die  Schlechtig- 
keit verwechselt  meine  Beweggründe,  sie  zu  hassen, 
mit    ihren  Beweggründen,    schlecht    zu    sein.    Indem 


177 


sie    an   mich    nicht   ghmbt,    erspart    sie,   an    sich    zu 

verzweifehi. 

* 

Man  hat  mich  oft  gebeten,  gerecht  zu  sein  unti 
eine  Sache  von  allen  Seiten  zu  betrachten.  Ich  habe 
es  getan,  in  der  Hoffnung,  daß  eine  Sache  vielleicht 
dadurch  besser  werden  könnte,  daß  ich  sie  von 
allen  Seiten  betrachte.  Aber  ich  kam  zu  dem  gleichen 
Resultat.  So  blieb  ich  dabei,  eine  Sache  nur  von 
einer  Seite  zu  betrachten,  wodurch  ich  mir  viel 
Arbeit  und  Enttäuschung  erspare.  Denn  es  ist 
tröstlich,  eine  Sache  für  schlecht  zu  halten  und  sich 
dabei  auf  ein  Vorurteil  ausreden  zu  können. 

* 

Wenn  sich  die  Schlange  vor  mir  auch  windet  — 
ich  zweifle  doch  an  ihrer  Zuverlässigkeit. 

Wenn  man  so  zwischen  Ab-  und  Zuneigung 
hindurchleben  muß,  nur  darum,  weil  man  sich  das 
Leben  nicht  leicht  gemacht  hat,  so  möchte  man  wohl 
zu  der  Bitte  ein  Recht  haben,  daß  sich  das  Publikum 
zerstreuen  und  jede  Unruhestörung  vermeiden  möge. 

Wort  und  Wesen  —  das  ist  die  einzige  Verbindung, 
die  ich  je  im  Leben  angestrebt  habe. 

* 

Auf  dem  Weg,  auf  dem  man  zu  sich  kommt, 
steht  auch  noch  ein  lästiges  Spalier  von  Neugierigen, 
die  wissen  möchten,  wie  es  dort  aussieht. 


12 


178 


Wir  alle  haben  keine  Zeit.  Ich  hatte  so  viel  zu 
tun,  was  den  Leuten  oberflächlich  gefiel,  daß  ich  am 
Ende  vielen  eine  gründliche  Enttäuschung  schuldig 
geblieben  sein  werde.  Wenn  nicht  auch  sie  so  viel 
zu  tun  hätten,  was  mir  gründlich  mißfällt,  wären 
vsir  längst  miteinander  im  Reinen. 


Was  sich  alles  entpuppen  kann:  ein  Schurke 
und  ein  Schmetterling! 

Ich  höre  Geräusche,  die  andere  nicht  hören  und 
die  mir  die  Musik  der  Sphären  stören,  die  andere 
auch  nicht  hiiren. 

Woodie,  ein  kleiner  Hund  mit  langen  Haaren, 
den  ich  persönlich  gekannt  habe,  er  lachte,  w^enn 
die  Menschen  zu  ihm  sprachen,  und  weinte,  weil  er 
mit  ihnen  nicht  sprechen  konnte,  und  sein  Blick  war 
für  sich  und  sie  der  Dank  der  Kreatur  —  ist  von  eineni 
Automobil  getötet  worden.  Wer  hatte  es  so  eilip;. 
Soll  das  bißchen  Raum  zwischen  Menschenleibern, 
das  solch  ein  Passant  in  Anspruch  nahm  —  er  konnte 
sich  eng  machen  wie  eine  Schlange  —  nun  besser 
verwendet  werden?  Die  Würdigen  büßen  dafür,  daß 
die  andern  unwürdig  fortleben.  Warum  doch,  da  auch 
dieses  Beispiel  die  Schlechten  nicht  bessert?  Jener 
ging  seines  Weges  und  starb  daran.  Als  die  Frau 
sich  umwandte,  lag  er  in  der  Sonne.  Wo  Leben  keine 
Worte  hatte,  bleibt  viel  Stille  zurück. 


179 


Ich  kannte  einen  Hund,  der  war  so  groß  wie 
ein  Mann,  so  arglos  wie  ein  Kind  und  so  weise  wie 
ein  Greis.  Er  schien  so  viel  Zeit  zu  haben,  wie  in 
ein  Menschenleben  nicht  geht.  Wenn  er  sich  sonnte 
und  einen  dabei  ansah,  war  es,  als  wollte  er  sagen: 
Was  eilt  ihr  so?  Und  er  hätte  es  gewiß  gesagt,  wenn 
man  nur  gewartet  hätte. 


Wenn  Tiere  gähnen,  haben  sie  ein  menschliches 
Gesicht. 

:f: 

So  würdig  wie  das  Pferd  die  Schmach,  erträgt 
sein  Herr  die  Würde  nicht. 


Die  Undankbarkeit  steht  oft  in  keinem  Verhältnis 
zur  empfangenen  Wohltat. 


Pedanterie  ist  ein  Zustand,  an  dem  sich  entweder 
der  Mangel  entschädigt  oder  die  Fülle  beruhigt.  Wie 
Perversität  ein  Minus  oder  ein  Plus  ist.  Hinter  dem 
Pedanten  steht  zuweilen  ein  Phantast,  der  Stützpunkte 
sucht,  um  es  so  recht  sein  zu  können.  Pedant  ist 
nicht  nur,  wer  im  Außen  lebt,  sondern  auch  einer, 
der  sich  außen  schützt,  um  sich  besser  zu  verUeren. 


Es  gibt  parasitäre  Eindrücke,  die  im  Urteil 
nisten  bleiben  und  Erinnerungen  aufschließen,  aber 
so  wenig  zur  Kunst  gehören  wie  die  Laus  zur  Liebe. 

12* 


180 

Ich    war     auch    einmal    jung,    rief    einer,    als    von 
Läusen  die  Rede  war. 

Der  Einsame :  Nichts  ist  ein  besserer  Ersatz  für 
die  Liebe  als  die  Vorstellung. 

Das  Echo:  Nichts  ist  ein  besserer  Ersatz  für 
die  Liebe  als  die  Vorstellung. 


Musik   sei   mir   nur   eine   leise  Anspielung   auf 

Gedanken,   die   ich  schon   habe   und  wieder  haben 

möchte. 

* 

An  vieles,  was  ich  erst  erlebe,  kann  ich  mich 

schon  erinnern. 

* 

Oft  bin  ich  nah  der  Sprachwand  und  empfange 
nur  noch  ihr  Echo.  Oft  stoße  ich  mit  dem  Kopf  an 
die  Sprachwand. 

Die  Entschuldigung:  »Das  ist  ihm  so  in  die 
Feder  geflossen«  —  mein  Ehrentitel.  Die  Anerkennung: 
»Das  fließt  ihm  nur  so  aus  der  Feder«  —  mein 
Vorwurf.  Aus  der  Feder  fließt  Tinte :  das  ist  tüchtig 
und  ein  Verdienst.  In  die  Feder  fließt  ein  Gedanke: 
dafür  kann  man  nicht,  es  ist  eine  Schuld  von  tieferher. 


Eines  Dichters  Sprache,  eines  Weibes  Liebe  — 
es  ist  immer  das,  was  zum  erstenmal  geschieht. 


181 


Ein  Sprichwort   entsteht   nur  auf   einem  Stand 
•der  Sprache,  wo  sie  noch  schweigen  kann. 


Umgangssprache  entsteht,  wenn  sie  mit  der 
Sprache  nur  so  umgehn ;  wenn  sie  sie  wie  das  Gesetz 
umgehen;  wie  den  Feind  umgehen;  wenn  sie  umgehend 
antworten,  ohne  gefragt  zu  sein.  Ich  möchte  mit  ihi- 
nicht  Umgang  haben;  ich  möchte  von  ihr  Umgang 
nehmen;  die  mir  tags  wie  ein  Rad  im  Kopf  umgeht; 
und  nachts  als  Gespenst  umgeht. 


Man  glaubt  gar  nicht,  was  für  eine  Holzhacker- 
arbeit diese  geistige  Tätigkeit  ist.  Das  Wortspalten, 
eh'  man  euch  Feuer  macht!  —  Sich  selbst?  Wie 
hirnverbrannt!  Man  hat  Feuer,  es  brennt  schon,  und 
dann  erst,  dadurch  erst,  immer  weiter  das  Wortspalten! 


Das  Unverständliche  in  der  Wortkunst  —  in  den 

anderen  Künsten  verstehe  ich  auch  das  Verständliche 

nicht  —  darf  nicht  den  äußeren  Sinn  berühren.  Der 

muß  klarer  sein,  als  was  Hinz  und  Kunz  einander  zu 

sagen    haben.    Das    Geheimnisvolle    sei    hinter    der 

Klarheit.  Kunst   ist   etwas,   was   so   klar  ist,   daß  es 

niemand   versteht.    Daß   über  allen  Gipfeln  Ruh'  ist, 

begreift  jeder  Deutsche  und  hat  gleichwohl  noch  keiner 

erfaßt. 

* 

Sie  sind  nicht  imstande,  einem  Wort  Leben  zu 
geben.    Wenn    ich    »Hugo    Heller«    sage,    ist    mehr 


182 


Mysterium  darin  als  in  allen  transzendenten  Redens- 
arten, die  die  modernen  Dichter  zu  Gedichten 
zusammenlesen. 

■X- 

Worüber  ich  nicht  wegkomme :  Daß  eine  ganze 
Zeile  von  einem  halben  Menschen  geschrieben  sein 
könne.  Daß  auf  dem  Flugsand  eines  Charakters  ein 
Werk  erbaut  wäre. 

* 

Kein  Erlebnis  könnte  spannender  sein  als  die 
Enthüllung  eines  Dichters.  Wie  sich  allmählich  die 
Distanz  zwischen  seinen  echtesten  Zeilen  und  dem 
Menschen  aufzutun  beginnt. 


An  dem  Unechten  ist  das  Echte  einer  Steigerung 

fähig, 

* 

Ein  grauenhaftes  Verhängnis  hat  mich  bestimmt, 
den  Schein  zu  vergrößern,  ehe  ich  ihn  unter 
meinen  Blicken  vergehen  lasse. 


Die  Dinge,  die  jeden  angehn,  sind  gar  un- 
interessant. Es  ist  am  besten,  sich  auf  die  Wirkung 
zu  verlassen,  die  sie  auf  die  andern  gemacht  haben. 


Alles  anklagen  ist  Einheit.    Alles  vertragen  ist 
Kleinheit.  Zu  allem  ja  sagen,  ist  Gemeinheit. 


183 
»Das  Leben  geht  weiter«.  Als  es  erlaubt  ist. 


Die  Moral,  die  eine  Übertragung  von  Geschlechts- 
krankheiten zum  Verbrechen  machen  sollte,  verbietet 
zu  sagen,  daß  man  eine  hat.  Darum  ist  der  Menschheit 
nicht  Wissen  und  Gewissen  ins  Blut  übergegangen, 
sondern  eben  das,  was  gewußt  werden  sollte. 


Den  Mangel,  daß  das  Genie  einer  Familie  ent- 
stammt, kann  es  nur  dadurch  wettmachen,  daß  es 
keine  hinterläßt. 

Die  Kinder  der  Leute  laufen  um  wie  die  Kalauer, 
die  nicht  unterdrückt  wurden.  Es  sind  die  unfruchtbaren 
Witze  der  Unfruchtbaren,  lästig  den  Erzeugern. 

Kindspech    ist   eben    das,   womit   man    auf    die 

Welt  kommt. 

* 

Ein  dick  aufgetragener  Vaterstolz  hat  mir  immer 
den  Wunsch  eingegeben,  daß  der  Kerl  wenigstens 
Schmerzen  der  Zeugung  verspürt  hätte. 


Eros  hat  Glück  in  der  Liebe.  Verschwendung 
schafft  ihm  Zuwachs ;  Kränkung  Ehre.  Füge  ihm  einen 
Tort  zu,  es  wird  ihm  eine  Lust  sein;  lästere  ihn,  es 
geht  zu  seinem  Frommen  aus.  Alles  darfst  du  ihm 
antun,  nur  nicht  ihm  deine  Meinung  ins  Gesicht  sagen. 
Er  ist  nicht  wehleidig,   aber  auch  nicht  wißbegierig. 


184 


Er  ist  nur  neugierig,  und  will  es  selbst  herauskriegen. 

Wenngleich  du  alles  besser  weißt  als  er,  dieses  wisse : 

daß  er  an  allem  in  der  Welt  beteiligt  ist,  nur  nicht 

an  der  Langeweile.  Das  Geheimnis,  das  du  vor  ihm 

hast,  wird  er  mit  dir  teilen;  aber  deine  Wissenschaft 

verschmäht  er. 

* 

Jeder  meiner  Gedanken,  die  es  auf  die  erotische 
Freiheit  abgesehen  haben,  hat  sich  noch  stets  vor 
der  Welt  geschämt:  vor  jenen  und  jener  geschämt, 
die  ihm  Geschmack  abgewinnen  wollten.  Die  einem 
darin  unrecht  geben,  haben  recht.  Die  einem  darin 
recht  geben,  haben  nicht  Zeitgenossen  zu  sein.  Solche 
mögen  dem  Gedanken  nachdenken,  aber  es  ist  vom 
Übel,  wenn  sie  ihm  nachleben,  und  ein  Greuel,  wenn 
sie  ihn  nachsagen.  Das  geistige  Erlebnis  bleibt,  auch 
Wort  geworden,  eine  Privatsache.  Wie  erst,  wenn  es 
der  Liebe  entstammt! 

Wider  besseres  Wissen  die  Wahrheit  zu  sagen, 
sollte  für  ehrlos  gelten. 

Mein  Unbewußtes  kennt  sich  im  Bewußtsein  eines 
Psychologen  weit  besser  aus  als  dessen  Bewußtsein 
in  meinem  Unbewußten. 

Es  mag  Kriege  gegeben  haben,  in  denen 
Körperliches  für  Geistiges  eingesetzt  wurde.  Aber  nie 
zuvor  hat  es  einen  gegeben,  in  dem  nur  die  Abwesen- 
heit des  Geistigen  verhindert  hat,  dieses  für  Körper- 
liches einzusetzen. 


185 


Unter  den  vielen  deutschen  Dingen,  die  jetzt 
auf  —  ol  ausgehen,  dürfte  Odol  noch  immer  wünschens- 
werter als  Idol  sein. 


Um  in  einem  kriegführenden  Land  eine  Grenz- 
übertrittsbewilligung  zu  erhalten,  braucht  man  einen 
»triftigen  Grund«.  Ich  wäre  in  Verlegenheit,  keinen 
zu  finden. 

»Wie  können  Sie  so  mit  den  Engländern  sym- 
pathisieren? Sie  können  ja  nicht  einmal  englisch.« 
»Nein,  aber  deutsch!« 

* 

Da  wird  aus  Amsterdam  gemeldet,  die  rücksichts- 
losen Engländer  hätten  ein  neutrales  Schiff  durch- 
sucht und  den  Koffer  einer  Holländerin  verdächtig 
gefunden,  in  welchem  sich  auch  tatsächlich  ihr  Gatte, 
ein  armer  Deutscher,  der  erblindet  war,  befunden 
habe;  ohne  Gnade  sei  er  verhaftet  worden.  Ob  das 
Gerücht  nun  auf  dem  ehrlichen  Weg  eines  Miß- 
verständnisses entstanden  ist  oder  ob  der  Bericht 
ein  blinder  Passagier  war,  den  man  in  die  Schiffs- 
ladung des  solchen  Zufäll  unausgesetzten  Zentralorgans 
deutsch -österreichischer  Intelligenz  geschmuggelt 
hatte  —  der  Fall  beweist  so  augenfällig,  daß  es  ein 
blinder  Passagier  sehen  muß:  wie  bewegt  die  Handlung 
wird,  sobald  man  den  Weg  aus  der  Phrase  wieder 
zurück  ins  Leben  nimmt.  In  der  Geschichte  der 
Kriegslüge  eines  der  anschaulichsten  Beispiele.  Ein 
Deutscher  hat  eine  Seereise  als  blinder  Passagier 
in  einem  Koffer  mitmachen  wollen;   aber  wenn  man 


)86 


eine  Redensart  auspackt,   kann  es  leicht  geschehen, 
daß  so  einer  zum  Vorschein  kommt. 


Die  Redensart  wird  durch  tausend  Röhren  ins 
Volksbewußtsein  geleitet.  Ein  verwundeter  Soldat, 
der  sicherlich  nie  ein  Buch,  wohl  auch  keine  Zeitung 
gelesen  hatte,  war  doch  des  Tonfalls  habhaft,  mit 
dem  ein  gutes  Gewissen  Abschied  nimmt.  »Jetzt 
kann  ich  ruhig  sterben,«  sagte  er,  »vierzehn  hab  i 
heut  umbracht!« 

Dreifachem  Reim  entziehe  sich  die  Welt:  dem 
Reim  auf  Feld  und  Geld  und  Held. 


Nein,  der  Seele  bleibt  keine  Narbe  zurück.  Der 
Menschheit  wird  die  Kugel  bei  einem  Ohr  hinein 
und  beim  andern  herausgegangen  sein. 


Über  den  erhofften  seelischen  Gewinn  des  heim- 
kehrenden Kriegers  hat  ein  deutscher  Professor  der 
Psychologie  den  tiefsten  Aufschluß  gegeben:  »Die 
psychische  Umschaltung  tritt  schon  in  der  Etappe 
ein.«  Das  wird  einmal  klappen,  wie  eben  ein  Wunder 
der  Technik. 

Wie  erklärt  sich  die  Gewalttätigkeit  der  Schwäche? 
Der  Blutdurst  der  Nüchternheit?  Seltsam  verknüpft 
es  sich:  Hysterie  und  Tauglichkeit  zur  neuen  Waffe. 


187 


Was    beide    tun,    wenn    sie    den   Feind    vernichten 
wollen,  ist  leichter  Dienst  bei  der  schweren  Artillerie. 


Die  Seele  ist  von  der  Technik  enteignet.  Das 
hat  uns  schwach  und  kriegerisch  gemacht.  Wie  führen, 
wir  Krieg?  Indem  wir  die  alten  Gefühle  an  die 
Technik  wenden.  Wie  treiben  wir  Psychologie?  Indem 
\vir  die  neuen  Maße  an  die  Seele  legen. 


Der  neue  Krieg  mit  der  so  entwickelten  Waffe 
wird  nicht  durch  Siege  entschieden,  sondern  anders. 
Und  führten  ihn  auch  Völkerschaften,  die  Menschen- 
fleisch essen.  Denn  auch  unter  solchen  wäre  jener 
Teil  der  Sieger,  der  dem  andern  um  ein  Mittagmahl 
voraus  ist.  Aber  diese  Frage  muß  offen  bleiben,, 
weil  Menschenfresser  einen  Krieg  nicht  mit  der  so 
entwickelten  Waffe  führen  würden. 


Heldentum  ist  heute  der  Zwang,  den  Tod  zu 
erwarten.  Ist  Delinquententum  nicht  der  leichtere, 
da  seine  Galgenfrist  für  Tapferkeit  die  kürzere  ist? 
Ist  Mut  auch  der  Wille,  der  den  Zwang  verhängt? 
Dieser  läßt  nur  noch  die  Freiheit,  anonym  den  Tod 
über  den  andern  zu  verhängen.  Ist  auch  dieses  Mut  ? 
Werden  die  Völker  nicht  künftig,  wenn  sie  einander 
gegenübertreten  wollen,  weil  Menschennatur  und 
Exportinteressen  solches  erfordern,  vorziehen,  es 
Aug  in  Aug  zu  tun  und  der  Maschine  nur  bis  zu 
dem  Punkt  ihrer  Entwicklung  Gefolgschaft  zu  leisten. 


188 


wo   sie.   wenn   in   Teufels   Namen   schon  gegen  eine 

Quantität,  doch  noch  gegen  eine  sichtbare  Quantität 

losgeht? 

* 

Wenn  Mut  überhaupt  im  Bereich  physischer 
Auseinandersetzungen  denkbar  ist,  so  könnte  er 
wohl  eher  dem  Unbewaffneten  zuzuschreiben  sein, 
der  dem  Bewaffneten  gegenübersteht,  als  umgekehrt. 
Die  so  entwickelte  Waffe  bedingt  es  nun,  daß  der 
Mensch  im  neuen  Kriege  zugleich  bewaffnet  und 
unbewaffnet  ist,  indem  er  doch  eine  Waffe  gebraucht, 
gegen  die  er  persönhch  wehrlos  Ist,  zugleich  ein 
Feigling  und  ein  Held.  Es  sollte  in  diesem  Stadium  der 
Entwicklung,  wenn  nichts  anderes,  das  ornamentale 
Wesen  des  Säbels  auffallen,  einer  Waffe,  die  etwa 
noch  im  Frieden  Verwendung  finden  könnte.  So 
mag  dereinst  ein  Flammenwerfer  zur  Montur  gehören, 
wenn  anders  der  Fortschritt  der  Menschheit  weiter 
auf  das  Ingenium  des  Ingenieurs  angewiesen  bleibt. 
Aber  es  ist  wohl  zu  hoffen,  daß  die  Menschheit,  wenn 
sie  den  Ehrgeiz  hat,  sich  die  Rauflust  zu  erhalten, 
sich  eines  Tages  entwaffnen  und  versuchen  wird, 
wieder  ohne  die  Ingenieure  Krieg  zu  führen. 

* 
Schwer  wird  es  dem  Gedanken,  Gasmaske 
und  Panier  zu  verbinden.  Die  neue  Waffe  setzt  den 
höchsten  Mut  bei  dem  voraus,  den  sie  bedroht,  und 
die  höchste  Feigheit  bei  dem,  der  sie  anwendet. 
Diese  wird  nicht  durch  den  Umstand  entschuldigt, 
daß  sie  auf  die  gleiche  Art  bedroht  ist,  und  jener 
wirbt  nicht  um  Bewunderung,   sondern  um  Mitleid. 


189 


Die  Menschheit  wird  sich  nach  diesem  Kriege  fragen, 
wie  es  möghch  war,  daß  er  nicht  von  Sklaven, 
sondern  von  Soldaten  geführt  wurde,  und  staunen, 
daß  damals  nicht  jeder,  der  bei  der  Waffe  blieb, 
wegen  Feigheit  vor  dem  Feind  ausgestoßen  worden 
ist.  Aber  vielleicht  wird  man  wenigstens  dann  die 
Ausstoßung  der  Armee  aus  dem  Armeeverband  in 
Erwägung  ziehen. 

Da  Ornament  und  Redeblume  am  liebsten  von 
einer  Zeit  getragen  werden,  deren  Wesen  dem 
verlorenen  Sinn  dieser  Formen  widerstrebt,  und 
umso  lieber,  je  weiter  sie  jenem  Sinn  entwachsen 
ist,  ihr  eigener  Inhalt  aber  nie  imstande  sein  wird, 
neue  Ornamente  und  Redeblumen  zu  schaffen,  so 
wird  ein  Staat  noch  »zum  Schwerte  greifen '<,  wenn 
es  ihm  schon  längst  geläufig  sein  wird,  zum 
Gas  zu  greifen.  Kann  man  sich  denken,  daß  solcher 
Entschluß  je  zur  Redensart  werden  könnte?  Es  sollte 
Aufschluß  über  die  Technik  geben,  daß  sie  zwar 
keine  neue  Phrase  bilden  kann,  aber  den  Geist  der 
Menschheit  in  dem  Zustand  beläßt,  die  alte  nicht 
entbehren  zu  können.  In  diesem  Zweierlei  eines 
veränderten  Lebens  und  einer  mitgeschleppten  Lebens- 
form lebt  und  wächst  das  Weltübel.  Die  Zeit  ist 
nicht  phrasenbildend,  aber  phrasenvoll;  und  eben 
darum,  aus  heillosem  Konflikt  mit  sich  selbst,  muß 
sie  immer  wieder  zum  Schwerte  greifen.  Die  neue 
Begebenheit  wird  keine  Redensart  hervorbringen, 
wohl  aber  die  alte  Redensart  die  Begebenheit! 


190 


Seitdem  der  Raufhandel  eine  Handelsrauferei 
geworden  ist,  sollte  Hektor  wieder  bei  der  Andromache 
zu  finden  sein,  seinen  Kleinen  lehren  Speere  werfen 
und  vor  allem  die  Götter  ehren. 


»Den  Weltmarkt  erobern« :  weil  Händler  so 
sprachen,  mußten  Krieger  so  handeln.  Seitdem  wird 
erobert,  wenngleich  nicht  der  Weltmarkt. 


Ihr  höret  lange  schon  den  neuen  Klang  im  Namen 
»Siegfried«.  Denkt  solchen  euch  nun  als  den  Sieger  der 
Welt  und  bereuet  die  Glorie! 


Der  deutsche  Geist  wird,  solange  er  nicht  der 
Verbindung  von  Ware  und  Wunder  zu  Gunsten  eines 
der  beiden  Faktoren  entsagt,  die  Welt  vor  den  Kopf 
stoßen,  wobei  die  Absicht  die  geringere  Schuld  wäre. 


Das  Verlangen  der  Feinde  nach  Auslieferung  der 
deutschen  Artillerie  ist  ein  Wahnsinn.  Logisch  wäre 
nur  das  Verlangen  nach  Auslieferung  der  deutschen 
Weltanschauung,  und  dieses  ist  unerfüllbar. 


Was  ist  das  nur?  Wie  schal  schmeckt  das  Leben, 
seitdem  es  ein  Ding  wie  »Mannesmannröhren«  gibt. 
Wenn's  irgendwo  so  organisatorisch  klappt,  so  halten 
sie  wohl  Mannesmannszucht. 


191 


Das  ist  es,  was  die  Welt  rebellisch  macht: 
Überall  ist  Firma,  aber  dahinter  vielleicht  doch,  unseren 
Blicken  unsichtbar,  ein  Firmament.  Überall  ist  Ware, 
aber  dahinter  vielleicht  doch  noch,  unbehelligt,  das 
Wunder.  Weil  wir's  nicht  sehen,  sagen  wir,  es  seien 
Materialisten.  Wir  aber  haben  vom  idealen  Lebens- 
zweck den  Namen  genommen,  um  ihn  dem  Lebens- 
mittel zu  geben,  dem  Schweinespeck.  Unser  tot- 
sicheres Ingenium  hat  den  Idealen  den  Skalp  abge- 
zogen und  dem  Leben  den  Balg  und  verwendet  sie 
als  Hülle,  Marke  und  Aufmachung.  Wir  sind  die 
Idealisten.  Und  gegen  diesen  Zustand,  das  im  Munde 
und  im  Schilde  zu  führen,  wovon  wir  bestreiten,  daß 
es  der  andere  im  Herzen  habe,  weil  er  es  nicht  im 
Munde  und  im  Schilde  führt,  während  doch  schon 
dies  ein  Zeichen  für  jenes  ist  und  die  Lebensgüter 
eben  in  der  Trennung  von  Leben  und  Gütern  ge- 
deihen und  in  der  Verbindung  verdorren  —  gegen 
diesen  Zustand  lehnt  sich  ein  Instinkt  auf,  der  im 
politisch  offenbarten  Bewußtsein  der  Völker  als  Neid, 
Raubgier,  Revanchelust,  unter  allen  Umständen  aber 
als  Haß  in  Erscheinung  tritt.  Es  ist  der  Haß  gegen 
den  Fortschritt  und  gegen  die  eigene  Möglichkeit, 
ihm  zu  erliegen.  Es  ist  nicht  allein  der  Stolz,  nicht 
so  zu  sein  wie  diese,  sondern  auch  die  Furcht,  so  zu 
werden  wie  diese.  Es  ist  das  europäische  Problem; 
das  aber  vermutlich  erst  von  einer  nichtbeteiligten 
Seite  gelöst  werden  wird. 


Nicht  genug  daran,   daß  es  eine  Zeit  gibt,  gibt 
es   auch  eine  große   Zeit,   die   neuestens    auch   eine 


192 


neue  Zeit  ist.  Eine  solche  sollte  doch  eigentlich  eine 
freie  Zeit  sein.  Es  dürfte  sich  aber  herausstellen,  daß 
sie  wie  die  kleine  Zeit  und  wie  die  alte  Zeit  nur  eine 
neue  freie  Zeit  ist. 

Sollte   »Schlachtbank«    nicht   vielmehr   von   der 
Verbindung  der  Schlacht  mit  der  Bank  herkommen? 


Was  jetzt  die  größte  Rolle  spielt,  das  spielt  jetzt 
keine  Rolle:  Blut  und  Geld. 


Nein,  den  Generaldirektoren  braucht  ihr  Braven 
nicht  die  vorschriftsmäßige  Ehrenbezeigung  zu  leisten. 
Wenngleich  sie  euch  in  den  Krieg  geführt  haben. 


Schulter     an     Schulter:      »Nanu?«     »Nu    na!« 
»Vater,  Brot!«    »Kinder,   Rußland  verhungert!« 


Der  Zensor  verbot  eine  Stelle,  die  den  Titel 
führte:  So  leben  wir  alle  Tage.  Ich  fragte,  ob  ich 
(ohne  der  Wahrheit  etwas  zu  vergeben)  der  Erlaubnis 
vielleicht  näherkäme  mit  dem  Titel:  So  lesen  wir  alle 
Tage.  Er  fand  aber  mit  Recht,  daß  es  dasselbe  sei. 


Zensur  und  Zeitung  —  wie  sollte  ich  nicht  zu- 
gunsten   jener    entscheiden?    Die    Zensur    kann    die 


193 


Wahrheit  auf  eine  Zeit  unterdrücken,  indem  sie  ihr 
das  Wort  nimmt.  Die  Zeitung  unterdrückt  die 
Wahrheit  auf  die  Dauer,  indem  sie  ihr  Worte  gibt. 
Die  Zensur  schadet  weder  der  Wahrheit  noch  dem  Wort ; 
die  Zeitung  beiden. 

Klerus  und  Krieg:  man  kann  auch  den  Mantel 
der  Nächstenliebe  nach  dem  Winde  hänsren. 


Man  sollte  sich  eigentlich  entschließen,  zuzu- 
geben, daß  Patriotismus  eine  Eigenschaft  ist,  die  in 
allen  kriegführenden  Staaten  vorkommt.  Wenn  man 
einmal  bis  zu  dieser  Erkenntnis  vorgedrungen  ist, 
könnte  der  Moment  eintreten,  wo  man  dem  Feinde 
manches  zugutehält,  und  es  wäre  vielleicht  eine  Ver- 
ständigung auf  der  Basis  möghch,  daß,  wenn  einer 
um  eines  Betragens  willen,  das  ihn  zum  Schuft  macht, 
zugleich  ein  Ehrenmann  ist,  alle  nicht  nur  von  sich, 
sondern  auch  von  einander  sagen  könnten,  daß  sie 
Ehrenmänner  seien,  wenn  sie  auch  noch  nicht  so  weit 
vorgeschritten  sein  mögen,  zu  wissen,  daß  sie 
eigentlich  doch  Schufte  sind. 


Wer  den  Patrioten  des  andern  Landes  für  einen 
Lumpen  hält,  dürfte  ein  Dummkopf  des  eigenen  sein. 


Es  mag  wohl  in  allen  Staaten  Kriegsgewinner 
geben,  die  wirklich  nur  daran  denken,  daß  der  Krieg 
gewonnen   werde,  und   die,  fern  jeglichem    Wunsch 

13 


194 


nach  einer  Bereicherung,  größere  Menschenopfer  nur 
schweren  Herzens  und  in  der  Hoffnung  hinnehmen, 
späterhin  dadurch  doch  größeren  Geldopfern  zu  ent- 
gehen. Diese  aufopfernde  Gesinnung,  aus  der  sie  sich 
nicht  selbst,  sondern  einander  den  größten  Vorwurf 
machen,   nennt   man   in  allen   Staaten   Patriotismus. 


Eine  Heimat  zu  haben,  habe  ich  stets  für  rühm- 
lich gehalten.  Wenn  man  dazu  noch  ein  Vaterland 
hat,  so  muß  man  das  nicht  gerade  bereuen,  aber 
zum  Hochmut  ist  kein  Grund  vorhanden,  und  sich  gar 
so  zu  benehmen,  als  ob  man  allein  eines  hätte  und 
die  andern  keins,  erscheint  mir  verfehlt. 


Daß  die  Lüge  mit  ihren  kurzen  Beinen  jetzt 
gezwungen  ist  rund  um  die  Welt  zu  laufen,  und  daß 
sie's  aushält,  ist  das  Überraschende  an  dem  Zustand. 


Daß  jetzt  alle  gegen  alle  kämpfen,  wäre  noch 
auf  einen  elementaren  Punkt  zurückzuführen.  Aber 
daß  jetzt  alle  einander  grüßen,  scheint  mir  kein  von 
der  Natur  angeschaffter  sozialer  Umsturz  zu  sein. 


Jeder  ist  jetzt  vom  andern  durch  eine  Uniform 
unterschieden.  Wie  farblos  wird  die  Welt,  wenn  sie's 
so  bunt  treibt! 


195 


Seitdem   man   dem  Bürger  einen  Spieß   in   die 
Hand  gegeben  hat,  wissen  wir  endlich,  was  ein  Held  ist. 


Manche  Redensart  erwacht:  Bis  aufs  Blut 
sekkieren. 

Am  Tor  eines  deutschen  Militärbüros  sah  ich 
ein  Plakat,  aus  dem  die  Worte  hervorsprangen: 
»Macht  Soldaten  frei!«  Es  war  aber  gemeint,  daß 
Zivilisten  als  Schreiber  für  die  Kanzlei  gesucht  werden, 
um  den  dort  beschäftigten  Soldaten  den  Abgang  an 
die  Front  zu  ermöglichen. 

* 

Ich  hörte  Offiziere  über  die  schlechte  Bedienung 
schimpfen.  Man  sagte  ihnen,  die  Zivilbevölkerung 
sei  an  der  Front.  Sie  waren  aber  nicht  zu  beruhigen 
und  nannten  es  einen  Skandal. 


Grüßen  sie  einander   oder  greifen   sie   an  ihre 
Stirn?  Andere  wieder  schütteln  die  Köpfe. 


Theaterwirkung  ist  zweierlei:  der  Zusammen- 
schluß der  Spieler  und  der  Zusammenschluß  der 
Zuschauer.  Beides  vermag  die  Regie.  Krieg  ist  jene 
Regie,  bei  der  beiderlei  Wirkung  durcheinandergeht. 
Jene  dort  brüllen,  als  wären  sie  begeistert,  diese 
hier  sind  begeistert,  weil  sie  brüllen  dürfen,  Publikum 
ist  Komparserie,  und  in  dem  Durcheinander  kann 
man  nicht  unterscheiden,  wer  mitspielt,  weil  er  mittut, 

13* 


196 


und  wer  mittut,  weil  er  dabei  ist.  Es  ist,  als  ob  der 
neuberliner  Großregisseur  seine  Hand  im  Spiel  hätte : 
die  oben  sind  von  unten  hinaufgekommen  und  die 
unten  sind  von  oben  heruntergekommen.  Die  Tragödie, 
die  sie  spielen,  besteht  darin,  daß  sie  sie  spielen. 


Krieg  ist  zuerst  die  Hoffnung,  daß  es  einem 
besser  gehen  wird,  hierauf  die  Erwartung,  daß  es 
dem  andern  schlechter  gehen  wird,  dann  die 
Genugtuung,  daß  es  dem  andern  auch  nicht  besser 
geht,  und  hernach  die  Überraschung,  daß  es  beiden 
schlechter  geht. 

Viele,  die  am  1.  August  1914  begeistert 
waren  und  Butter  hatten,  haben  gehofft,  daß  am 
1.  August  1917  noch  mehr  Butter  sein  werde.  An 
die  Begeisterung  können  sie  sich  noch  erinnern. 

Organisation  und  Eigenschaft.  Der  Moment,  wo 
der  Deutsche  grausam  wird,  tritt  später  ein.  Der 
Moment,  wo  der  Romane  menschlich  wird,  tritt 
früher  ein. 

Das  muß  man  zugeben:  wo  die  Deutschen  hin- 
kommen, machen  sie  ihre  Sache  ordentlich.  Wenn's 
auch    nicht    immer    ihre,     sondern    manchmal    eine 

fremde  Sache  ist. 

* 

Die  Kriegs  Ursache?  Daß  sie  in  Berlin  auf  Marmor 
gepißt  haben. 


197 


Ich  kann  mir  nicht  helfen,  aber  mir  scheint  halt 
doch  zwischen  der  artilleristischen  Überlegenheit  und 
den  hohen  Obstpreisen  sowie  auch  dem  Zustand  im 
Beiwagen  einer  Elektrischen  mit  seinem  ganzen 
durchhaltenden  und  durchschwankenden  Elend  ein 
kausaler  Zusammenhang  zu  bestehen. 


Die  artilleristische  Überlegenheit  ist  ein  Vorteil, 
wenn  durch  sie  noch  wichtigere  Kulturgüter  als  sie 
geschützt  werden  sollen.  Da  aber  die  artilleristische 
Überlegenheit  das  Vorhandensein  wichtigerer  Kultur- 
güter ausschließt,  so  bleibt,  um  den  Vorteil  der 
artilleristischen  Überlegenheit  zu  erklären,  nichts 
übrig  als  die  Erwägung,  daß  durch  die  artilleristische 
Überlegenheit  die  artilleristische  Überlegenheit  ge- 
schützt werden  soll. 

* 

Um  einen  Bahnhof  sicher  zu  treffen,  sollte  man 
auf  einen  Tiepolo  zielen. 


Was  helfen  uns  die  Flammenwerfer,  wenn  die 
Zündhölzchen  ausgehen! 


Die  Völker  Europas  dürften  nachher  gezwungen 
sein,   ihre  heiligsten   Güter   aus  Asien  zu  beziehen. 


Geschäft    ist    Geschäft:    weil    jene    es    sagten, 
sagten   diese,  es  seien  Händler.  Jene  aber  meinten, 


198 


daß    Geschäft   Geschäft   sei    und   nicht   auch   Leben 

und  Religion. 

* 

Kriege   und   Geschäftsbücher   werden  mit   Gott 

geführt. 

* 

Alle  Vorräte,  an  Getreide,  Mehl,  Zucker,  Kaffee 
und  so  weiter,  sind  nach  einander  gestreckt  worden. 
Mit  den  Waffen  wär's  noch  zu  probieren. 


Soldaten,  die  nicht  wissen,  wofür  sie  kämpfen, 
wissen  doch  einmal,  wofür  sie  nicht  kämpfen. 


Persönlich  geht  mir  nur  die  Entwürdigung  der 
Menschheit  nahe  und  ihre  Bereitschaft  sie  zu  ertragen. 
Persönlich  würde  ich  mich  nur  gegen  eine  geistige 
Musterung  sträuben.  Und  daß  ich  tauglich  erklärt 
würde. 

Die  Welt  wird  sich  einmal  wundern,  daß  sie 
kein  Geld  mehr  hat.  So  geht's  jedem,  der  es 
verpulvert. 

Es  geht  weiter.  Das  ist  das  einzige,  was  weiter  geht. 


Die  Menschheit  hatte  die  freiheitlichen  Errungen- 
schaften erfunden,  und  in  derselben  Zeit  die  Maschinen. 
Das  war  zuviel  auf  einmal  und  durch  beiden  Fortschritt 
ist  ihr  die  Phantasie  abhanden  gekommen,  so  daß  sie 


199 


sich  nicht  mehr  vorstellen  konnte,  wie  die  Maschinen 

schneller   ans  Ziel   kämen   als   sie  selbst.  Daß  diese 

mit   den   Errungenschaften   fertig    würden    und    mit 

ihr  selbst. 

* 

Die  Technik:  Automobil  im  wahren  Sinn  des 
Wortes.  Ein  Ding,  das  sich  nicht  bloß  ohne  Pferd, 
sondern  auch  ohne  den  Menschen  fortbewegt.  Nach- 
dem der  Chauffeur  den  Wagen  angekurbelt  hatte, 
wurde  er  von  ihm  überfahren.  Nun  geht  es  so  weiter. 


Die  Quantität  läßt  nur  noch  einen  Gedanken  zu; 
abzubröckeln. 


Die  Quantität  verhindert  auch  jede  Auflehnung 
gegen  sie.  Nicht  die  Drohung,  sondern  das  Dasein 
des  Maschinengewehrs  unterdrückt  die  Besinnung  der 
Menschenwürde.  Revolvertaten,  als  die  Antwort  aus 
der  so  entwickelten  Maschine  selbst,  haben  keine 
Fortsetzung.  Die  Tat  als  Beispiel  ist  in  der  techni- 
schen Entwicklung  nur  bis  zu  Teils  Geschoß  vor- 
gesehen. Bis  dahin  geht  die  Seele  noch  mit. 


Zum  Schutz  gegen  die  Maschine  hat  das 
Ingenium  der  Menschheit  die  Hysterie  erfunden.  Ohne 
diese  würde  sie  jene  nicht  aushalten  und  da  sie  auch 
diese  nicht  aushält,  so  kommt  sie  weiter. 


200 


Am  1.  August  1914  hörte  ich  einen  Ruf:  »Immer 
feste  rin  in  die  Glorie!«  Ich  schämte  mich,  ein  Nörgler 
zu  sein,  denn  ich  wußte  damals  schon  ganz  genau, 
daß  die  Zeit  kommen  werde  für:  »Außi  möcht'  i!« 
Nur  war  ich  zugleich  ein  solcher  Optimist,  daß  ich 
das  Datum  für  die  Äußerung  dieses  Wunsches,  der 
sich  schon  am  1.  August  1915  fühlbar  machen  mußte, 
auf  den  1.  August  1916  und  nicht  auf  den 
1.  August  1917  festsetzte.  In  solchen  Fällen  läßt  es 
sich  aber  nicht  mit  mathematischer,  sondern  nur  mit 
apokalyptischer  Genauigkeit  arbeiten.  Wo  ich  in- 
zwischen die  große  Zeit  angepackt  habe,  war  sie 
interessant,  und  ihre  schauerliche  Kontrasthaftigkeit 
verbrannte  den  Märtyrern  an  den  Fronten  mehr  das 
Herz  als  alle  Flammenwerfer.  Aber  daß  sie  es  in 
einem  vermocht  hat,  einen  Menschen  wie  Friedrich 
Adler,  dessen  Edelmut  ausgereicht  hätte,  ein  schuldiges 
Zeitalter  zu  begnadigen,  zum  Mörder  und  einen 
Menschen  wie  Moriz  Benedikt  zum  Pair  zu  machen  — 
das  hätte  selbst  ich  ihr  nicht  zugetraut !  Nein,  W^af fen- 
taten  von  heute,  ob  aus  Pflicht  oder  aus  Idee  voll- 
bracht, eben  noch  geeignet,  in  dem  von  jenem  Unglück- 
lichen verleugneten  Sinne  Schrecken  zu  erregen,  sind 
nicht  mehr  imstande,  in  dem  von  ihm  bejahten  Sinn 
die  »psychologische  Voraussetzung  einer  künftigen 
Massenaktion«  zu  bilden.  Denn  der  Mangel  an  Phantasie 
war  die  psychologische  Voraussetzung  der  gegen- 
wärtigen Massenaktion,  deren  fortwirkendem 
Kommando  kein  Gegenruf  der  Menschenwürde  mehr 
antwortet,  um  die  in  Einzelschicksale  aufgelöste  Masse 
wieder  zu  sammeln.  Es  gibt  keine  Armbrust  und  keinen 
Tyrannen;  es  gibt  Technik  und  Bürokraten.  Es  gibt 


201 


nur  den  Knopf,  auf  den  das  Plutokratische  drückt. 
Aber  da  ist  kein  verantwortliches  Gesicht.  Die 
Problemstellung:  Demokratie  — Autokratie  trifft  ins 
Leere,  in  das  Vacuum  der  Zeit,  das  hier  nur  fühl- 
barer wird  als  im  andern  Europa.  Autokratie  als  ein 
technischer  Begriff:  das  könnte  es  sein.  Ein  Ding,^ 
das  nicht  selbst,  sondern  von  selbst  gebietet.  Und 
alle  treibt  das  hohle  Wort  des  Herrschers  Zufall, 
der  die  Quantität  regiert. 


Der  neue  Krieg  ist  nicht  allein  der  zwischen  den 
Staaten,  sondern  hauptsächlich  der  blutige  Zusammen- 
stoß der  alten  und  der  neuen  Macht,  Er  ist  entstanden, 
weil  es  jene  noch  gab,  als  diese  heraufkam  und  weil 
sich  die  beiden  in  eine  Verbindung  eingelassen  haben, 
indem  sich  die  alte  mit  ihrem  Wesen  zum  Werkzeug 
der  neuen  machte  und  mit  ihrem  Schein  sie  unterjocht 
hat.  Diese  Verbindung,  die  Zwist  bedeutet,  drückt  sich 
in  der  allgemeinen  Gleichberechtigung  zur  Sklaverei 
aus.  Um  die  alte  Welt  aus  der  daraus  entstandenen 
Not  zu  befreien,  ist  es  nötig,  die  Partei  der  neuen 
zu  nehmen.  Denn  diese,  die  jene  entgeistigt  hat,  um 
sich  von  ihr  überwältigen  zu  lassen,  verfügt  am  Ende 
allein  über  die  Mittel,  um  sie  wenigstens  zur  Vernunft 
zu  bringen,  wenngleich  sie  beide  nicht  Phantasie 
genug  hatten,  das  Unheil  abzuwenden.  In  diesem 
Sinne  muß  der  konservative  Standpunkt,  der  doch  die 
äußere  Ordnung  und  die  Sicherung  des  Lebens  wie 
seiner  Notwendigkeiten  voraussetzt,  auf  Kriegsdauer 
eine  Verschiebung  erfahren.  In  Staaten,  die  dümmer 
sind  als  ihre  Demokratie,   muß  man  für   diese  sein 


202 


und  ihr  gegen  den  Staat  helfen,  dessen  Dummheit 
sie  mobilisiert  hat.  Sie  haben  einander  untergekriegt. 
Die  demokratische  Tendenz  muß  im  Kampf  gegen 
ihren  Folgezustand  unterstützt  und  die  aristokratische 
zu  ihren  Gunsten  verlassen  werden. 


Neulich  ertappte  ich  mich  dabei,  wie  ich  plötz- 
lich halblaut  das  Wort  »Mörder«  sagle.  Zum  Glück 
hatte  mich  niemand  gehört.  Hätte  ich  »Wucherer« 
gesagt,  so  hätten  sich  alle  umgedreht  und  keine 
Erklärung  hätte  mir  geholfen.  So  aber  konnte  ich 
erforderlichenfalls  vorbringen:  daß  ich  eben  darüber 
nachgedacht  hätte,  wie  nötig  es  wäre,  die  Todesstrafe 
teils  abzuschaffen  teils  einzuführen.  Und  daß  ich  mich 
gerade  zur  Staatsprüfung  vorbereite. 


Ein  Gesicht,  dessen  Furchen  Schützengräben  sind. 
* 

Und  wenn  sie  untergeht,  und  nichts  mehr  zu 
haben  und  niemand  mehr  da  sein  wird:  Arbeitskräfte 
werden  da  sein  und  Papier  zu  haben,  damit  behauptet 
werden  könne,  daß  sie  nicht  untergeht,  oder,  wenn 
sich's  schon  rein  nicht  mehr  in  Abrede  stellen  ließe, 
zu  schildern,  wie  jene,  die  die  Schuld  tragen,  dabei 
martialisch  dreingeblickt  haben. 


Als   zum  erstenmal   das  Wort   »Friede«   ausge- 
sprochen wurde,  entstand  auf  der  Börse  eine  Panik. 


203 


Sie  schrieen  auf  im  Schmerz:     Wir  haben  verdient! 
Laßt  uns  den  Krieg!  Wir  haben  den  Krieg  verdient! 


Wo  viel  Reisende  wai-en,   wird's  viel  Hinkende 

geben. 

* 

Wo  kommen  all  die  Sünden  nur  hin,  die  die 
Menschheit  täglich  begeht?  Sollten  überirdische 
Wesen     nicht  finden,     daß    der    Äther    schon    zum 

Schneiden  dick  sei? 

* 

Mein  Tag  ist  ein  Spießrutenlaufen  inter  homines 
et  omina. 

Die  deutsche  Sprache  schützt  nicht  mehr  gegen 
Jene,  die  sie  sprechen.  Ich  muß  mir,  will  ich  mich 
retten,  schnell  etwas  auf  lateinisch  einfallen  lassen. 
Das  glückt;  denn  wie  schön  läßt  sich's  in  einer 
Sprache,  die  man  vergessen  hat,  denken.  Es  ent- 
springt dort,  wo  Deutsch  mir  noch  nicht  jenes  Umgangs 
Sprache  war.  Die  Ungebildeten  werden  es  nicht  ver- 
stehen, die  Gebildeten  werden  es  für  ein  Sprichwort 
halten  und  mir  weiter  nicht  übelnehmen.  Und  so 
empfiehlt  man  sich  auf  lateinisch. 


Daß  die  Welt  nicht  vor  ihrer  Sünde  erschrickt, 
sieht  ihr  ähnlich.  Aber  vor  eben  diesem  Spiegelbild 
sollte  sie  erschrecken! 


204 


Wozu  das  Aufsehen?  Der  Planet  ist  so  gering- 
fügig, daß  ihn  ein  Haß  umarmen  kann! 


Der  Zustand,   in  dem  wir  leben,   ist  der  wahre 
Weltuntergang:  der  stabile. 


»Noch  kein  Ende  abzusehen.«   »Doch!« 


Um  zu  glauben,  daß  Einer  das  alles  gemacht 
hat,  braucht  man  doch  sicher  mehr  Gedanken,  als 
um  zu  wissen,  daß  er  es  nicht  gemacht  hat  —  ihr 
Idioten  des  freien  Geistes! 


Geduld,    ihr    Forscher!     Die    Aufklärung    des 
Geheimnisses  wird  von  diesem  selbst  erfolgen. 


Inhalt 


Seite 

I.  Eros 7 

n.  Kunst 29 

in.  Zeit 55 

IV.  Wien 89 

V.  1915 99 

VI.  Nachts 171 


f«i 


A"'^ 


BINDJNG  SECT.  MAY  221973 


PLEASE  DO  NOT  REMOVE 
CARDS  OR  SLIPS  FROM  THIS  POCKET 

UNIVERSITY  OF  TORONTO  LIBRARY 


PT  Kraus,   Karl 

2621  Nachts 

R27N3 
I9I8