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Full text of "Nataly von Eschstruth. Hazard Band 2"

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Alle Rechte vorbehalten. 


XIV. 


„Ihm ward zur Hut gegeben. 
Mein Glück und meine Ruh’ le 
Wilhelm Herk. 


Lit Tautenftein hatte nach Graf Goſeck ge— 
ragt und ich den „intereffanten” Mann vors 

Ä Itellen lafjen. Auch zu ihm flog ihr Blick gleich 
jengendem Funfen empor, aber wunderfam, er zündete 
nicht. Tief und jehr verbindlich neigte fich der Freund 
Nennderſcheidts vor der fylphenhaften Erfcheinung jenes 
Weibes, welches feit zwei Jahren der Inbegriff all feiner 
leidenschaftlichen Sehnjucht, feines ehrgeizigften Strebens 
geweien war. Und nun lächelte die Nire Kalypfo mit 
den weißen Zähnchen zu ihm auf, und er jchaute mit 
Haren, nüchternen Augen auf fie nieder, wie auf einen 
Maskentand, welchen plößlich helles Sonnenlicht befcheint, 
e3 offenbarend, wie viel trügerijche Flittern man — 
für echtes Gold genommen. 

Als der Hof ſich zum Tee zurückzog und Claudia am 
Arme des Prinzen Hohneck die Loge verlaſſen hatte, um 
dem Großherzog mit ſilberhellem Lachen zu verſichern: 
„Baron Nennderſcheidt ſei ein mehr wie origineller Menſch, 
man könne ihn wirklich nicht ſtreng genug halten! viel 





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jtrenger und fnapper noch, wie alle anderen Staubge- 
borenen, und jeine Frau? die repräfentiere in bedauer- 
licher Weile das Gänschen von Buchenaul” — da trat 
Goſeck haſtig zu Olivier und zog ihn etwas abjeit2. 

„Die Zautenftein hat dich koloſſal bevorzugt und mich 
wie jauer Bier auf die Seite gefchoben; willft du mir 
einen Gefallen tun und mich vor einer Kleinen Blamage 
bewahren?” 

Nennderſcheidts Stirn färbte fich noch Höher. „Um 
was handelt es fich?” fragte er durch die Zähne. 

„Du weißt, daß ich von jeher zu den begeifterten 
Berehrern der Schönheit gezählt habe, und Claudia, als 
die Krone aller Weiber, par distance anjchmachtete wie 
der verliebte Schäfer, welcher laut Uhlands Verſicherung 
feine Lämmlein am Königsfchloß vorübertrieb und zu der 
Holdfeligen emporjeufzte. Ich fchmeichelte mir, vielleicht 
Eindrud auf fie zu machen, und traf demzufolge die praf- 
tiiche Anordnung, daß mein Gärtner auf eine anonyme 
Einzahlung Hin — heute abend die Gemächer der Fürftin 
mit einem Roſenregen überjchütten ſolle. Jetzt nach ihrer 
mehr wie fühlen Behandlung —“ 

„Aber Goſeck, ich begreife dich gar nicht! ich war im 
Gegenteil nahe daran, eiferfüchtig zu werden”... 

„Pſt!“ der Genannte zudte mit faſt ungeduldigem 
Lächeln die Achjeln. „Wozu folche Zuderplägchen! ich 
gönne dir deine Triumphe neidlog, alter Junge, einem 
andern gegenüber würde ich die Lanze einlegen. Alſo 
furz heraus: ich mag mich nicht lächerlich machen in den 


==. 30. 


Augen der Fürjtin und bitte dich) um den gewiß nicht 
unangenehmen Sreundjchaftsdienft, Die Ovation auf deine 
Kappe zu nehmen. Die glücdlicherweije anonym gemachte 
Beitellung ermöglicht eg, und wenn Das wonnige, kleine 
Weib dir mit leuchtenden Augen dankt, dann bitte ich Dich 
inftändig, Olivier, nimm diefen Dank an!” 

„Natürlich, ſelbſtredend, trifft Jich ja ganz brillant! 
Sei fo freundlich und laß mich deine Auslagen willen, 
damit die Herrlichite von allen tatfälih meine Blüten 
unter die Kleinen Füße tritt! Welch ein jeliges Sterben!” 
und der Freiherr atmete ſchwer auf und legte momentan 
die Hand über die Augen wie ein Beraufchter. 

Goſeck fchüttelte lachend den Kopf. „Beleidige mich 
nicht, Herzbruder!” flüfterte er mit der Miene eines 
Mephilto, welcher verjichert: „Hab ich Doch meine Freude 
dran!” klopfte ihm auf die Schulter und wandte fich 
furz ab. 

Er fuhr auch früher nad) Hauſ e, wie alle anderen, 
ließ ſeinen Wagen an der Promenade halten und ſprang 
die Marmortreppe der Billa „Hazard“ empor. 

„Herrichaften ſchon zurück?“ 

Der Portier riß die verſchlafenen Augen weit auf und 
ſchloß erſchrocken die goldſtrotzende Uniform. 

„Nein, Herr Graf, ich erwarte aber die Equipage 
jeden Augenblick.“ 

„Die Zimmer des Freiherrn erleuchtet?“ 

„Durchgängig, Ew. Gnaden.“ 

Goſeck wandte ſich in den Seitenkorridor, ſchritt haſtig 


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in das Nauchzimmer des Freundes und riß den Mantel 
auf. Aus jeinem Bortefeuille nahm er die Photographie 
der Fürftin Claudia, welche er biS vor wenigen Wochen 
voll eiferfüchtiger Heimlichkeit, gleich wie ein Kleinod vor 
jedem fremden Blick verborgen gehalten hatte, und ftellte 
fie fo auffallend wie möglich mitten auf den Tiſch, ruhig 
und gleichgültig, als trenne er fich höchſtens von einer 
überflüfligen Nippesfigur. Um feine Lippen zudte ein 
Icharfes Lächeln, eijerner, erburmungslofer Willen troßte 
von feiner Stirn. Dann fchloß er die Tür Hinter fich 
und jchritt ohne Wort und Gegengruß an dem Diener 
vorbei nach jeinem Wagen zurüd. 

Niemand wunderte fi) darüber, man war an der— 
artigeg Kommen und Gehen des Grafen gewöhnt. 

ALS die Kammerfrau der Fürftin Tautenftein vor ihrer 
zurückkehrenden Herrin die Flügeltür öffnete und mit be- 
deutſamem Lächeln Fräulein von Gironvale ein unmerf- 
liches Zeichen machte, wich Claudia momentan zurüd vor 
den Duftwogen, welche ihr ſüß und lieblich entgegen 
quollen.. Mit fchnellem, eigentümlich ſcharfem Blie über: 
flog fie den Salon. Blühende Roſen bededten den Fuß— 
boden, glühten in mächtigen Sträußen auf Tifchen und 
Konfolen, und fielen in graziöſen Zweigen ſelbſt durch 
die Kriftallprismen des Kronleuchters. Purpurne, leuch- 
tende, heiße Xiebesrofen. Claudia lächelt, ein böſes, 
triumphierendes und erbarmungslofes Lächeln. Vor we: 
nigen Stunden hatte fie in Diefem felben Zimmer ge- 
Itanden und die Hände über der VBermählungsanzeige 








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de3 Freiherrn von Nennderjcheidt geballt, welche von 
Esperance mit aufgeregteften Tiraden überbracht wurde. 
Da hatte e3 fich wie ein ſchweres Wetter auf der fchnee= 
weißen Frauenſtirn zufammengezogen, da hatte es in ihren 
Augen gebligt wie die Lichtfunfen auf jcharfem Dolch, 
welchen die Rache zum 
Stoße hebt. „Das ift 
nicht Oppofition gegen den 
Hof, ſondern gegen mich!” 
waren die eriten Worte, 
welche fich fait ziſchend 
bon ihren Lippen rangen, 
und Fräulein von Giron— 
vale lachte boshaft auf. 
„Der Narr muß Daran 
glauben, Durchlaucht, der 
muß dahin fommen, daß 
er jeden einzelnen dieſer 
gedructen Buchjtaben mit 
den Fingern aus Demant 
fraßen möchte, könnte er 
fie damit löſchen!“ 
Fürftin Claudia antwortete nicht, fie lachte nur leife 
auf und fagte: „Wähle du meine Toilette für heute abend 
aus, meine gute Esperance!“ umd die gute Esperance 
wußte nun genau, wie die Aftien jtanden, und um: 
schmeichelte ihre Herrin wie ein Kätzchen, welches ſich Flug 
und glatt jeder Bewegung derjelben RENT weiß. 
N.v. Eſchſtruth, SU. Nom. u. Nov, Hazard II. 





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Und nun Stand das jchöne, zümende Weib, das bitter: 
böje Teufelchen, welches, wie von Engelsſchwingen ge= 
tragen, liebreizend und lächelnd durch die Räume des 
Dpernhaufes gejchwebt war, abermals auf der Schmelle 
ihres Salons, und fie lachte wieder, lachte, daß fie fich 
auf den Arm ihrer Vertrauten ftühen mußte. Dann hob 
fie jählings dag Haupt: „Wer hat das Zimmer ſchmücken 
laſſen, Madame Salier?“ | 

Die Kammerfrau zudte die Achjeln. ‚Der Gärtner 

wußte es felber nicht, wer den Auftrag gegeben bat, 
Durchlaucht, aber er meinte, e3 fei der Kutjcher des Herrn 
bon Nennderfcheidt gemwejen, welcher heute abend nad) 
neun Uhr mit feiner Beitellung dag ganze Geſchäft 
alarmiert habe! Die Blumen find erft feit einer fnappen 
Biertelftunde hier.” 
450”. Claudia riß den köſtlichen Strauß, welchen 
Fräulein von Gironvale bewundernd aus einer Vaſe hob, 
ihn darzureichen, der Gefellichaftsdame aus der Hand und 
jchleuderte ihn weit von fich auf die Erde, daß die zarten 
Blättchen hoch emporivirbelten. . 

„Offnen Sie die Fenſter, e3 ift ja ein unausftehlicher 
Geruch!” befahl fie mit harter Stinnme und jchritt quer 
durch) das Zimmer nach dem Nebenfalon. Ihre Hacken— 
ichuhe zermalmten erbarmungslos die duftigen Kelche 
und die goldfunfelnde Schleppe fegte fie zufammen wie 
gefallenes Laub, welches Neif und Froſt getroffen. 
Esperance aber warf ſich eraltiert neben ihrer Brot- 
berrin auf daS weiche Wolfsfell vor dem Kamine nieder 








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und jubelte laut lachend: „Köſtlich, unbezahlbar, Sie 
himmlische Zauberin! Wenn Turandot ſich treu bleibt 
und marmorfühl und ungerührt über die Roſen und das 
Herzblut des Herrn von Nennderjcheidt hinweg fchreitet, 
dann werden wir einen großartigen Spaß erleben und 
einen Karneval im hohen Norden feiern, in welchem die - 
Göttin ‚Revanche‘ triumphierend die Pritſche führt.” 

Claudia fchloß zwinfernd die Augen. „Abwarten! 
ſagte fie furz. 

Am nächſten Morgen malte die flare Winterfonne das 
Spitenmufter der zartduftigen Gardinen auf den Teppich 
in Marie Luiſes Boudoir, und die junge Frau blieb - 
einen Augenblid zögernd auf der Schwelle ftehen, um 
die Pracht diefes Kleinen Raumes zu bewundern, welcher, 
in helles Zageslicht getaucht, einen völlig neuen An— 
bli bot. 

Im Kamin flammte ein offenes Teuer, die Pendule 
auf dem Schreibtijch, in einem Gehäufe verborgen, welches 
ein mit Edelfteinen beſetztes Schiff mit blauen Emailfegeln 
darftellte, tickte leis und behaglich, und in dem Erfer, 
inmitten einer genialen Wildnis von Palmenwedeln und 
Sarnen, zwitjcherten fremdartige, bläulich fchillernde 
Bögelchen ihren Gutenmorgengruß. Außerordentlich an- 
heimelnd und wohnlich war das Zimmerchen, und dennoch 
ſah fih Marie Luife rat- und hilflos darinnen um und 
verichlang die Hände mit tiefem Aufjenfzen: „Was jollit 
du hier den ganzen langen Tag über beginnen?” Hier 





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gab es feine Arbeit wie in Herjabrunn, fein ungeduldiges 
Mahnen aus jo und fo vieler Damen Mund, nur eine 
ftille, vornehme Ruhe, eine bleiſchwer lajtende Einſamkeit 
inmitten ungewohnter Eleganz. 

Groß und verwundert und erfichtlich nicht im min 
deften auf folche frühe Befehle vorbereitet, hatte die 
Kammerfrau ihr junge Gebieterin angejtarrt, als Marie 
Zuife bereit3 um fieben Uhr jchellte, fih von Madame 
Berdan in der Garderobe zurechtweilen zu laffen. Sie 
war bereits frifiert, trug dag Haar wie früher in fchlichtenm 
Knoten am Hinterhaupt aufgenejtelt, und nur die furzen 
Löckchen, welche ihr der Friſeur am gejtrigen Abend über 
der Stirn geichnitten Hatte, fielen in natürlichen Wellen 
darauf nieder und gaben ihr ein verändertes Ausſehen. 
Madame Verdan fchlug die Hände zufammen. „Ei, du 
lieber Gott, gnädige Frau haben fich wohl in der Zeit 
geirrt? Oder haben Frau Baronin ein außergemwöhnliches 
Tagesprogramm für heute bejtimmt?” 

„Rein, Frau Berdan, ich ftehe ftet3 um ſechs Uhr 
auf, im Sommer jogar weit früher.” 

„Da wird Frau Baronin der Morgen aber entſetzlich 
lang werden! Hier in der Reſidenz fängt man überhaupt 
den Tag erſt an, wenn er zur Hälfte vergangen iſt und 
all die Damen, welche ich im Leben ſchon bedient habe, 
tranken ihre Schokolade im Bett und ſchlüpften früheſtens 
um elf Uhr in das Morgenkleid. Nun, ich denke mir, 
gnädige Frau werden auch noch ein paar Stunden zus 
geben, wenn erſt Nacht für Nacht durchtanzt wird, ift ja 


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ſonſt gar nicht auszuhalten! Der Herr Baron erheben ſich 
auch erſt um zehn Uhr, ſagie mir Franz!” und dabei hatte 
die würdige Matrone ein Morgenkleid von weißem, fpiben- 
bejegten Kajchmir aus einem der Spinde genommen und 
breitete e8 vor ihrer Herrin aus. „Befehlen gnädige Frau 
dieſe Matinee? oder find die fraifefarbenen Schleifen heute 
nicht vorteilhaft? Sie fehen ein wenig blaß aus... 
aber vielleicht Hilft eS, wenn wir etwas rofa Puder auf- 
legen?” 

Frau von Nennderjcheidt fchüttelte das Köpfchen. „Sch 
bin e3 gar nicht gewohnt, Morgenröde zu tragen, liebe 
Frau Berdan!” fagte fie in ihrer freundlichen, treuherzigen 
Weiſe, „geben Sie mir lieber gleich das Kleid, welches 
ich den ganzen Tag über tragen werde!” 

Dagegen wehrte ſich aber die Heine Dame mit aller 
Energie. „Gott erbarme fich, gnädige Frau, was follten 
wohl der Herr Baron dazu fagen! Mir würde er eine 
Neprimande erteilen, daß ich nicht für eine paſſende Wahl 
der Toilette gejorgt habe, denn die Herren haben nun 
einmal ſämtlichſt die Schwäche, eine Dame in gefcehmad- 
vollem Neglige am allerreizenditen zu finden! Alſo um 
des Herrn Gemahl3 willen, gnädige rau, welcher all 
diefe Noben mit fo viel Sorgfalt und Intereſſe ausge: 
wählt hat!” | 

“ Ein unmerfliches Beben ging über dag Antlit Marie 
Luiſes. „Seien Sie unbeforgt, Madame Berdan, mein 
Mann kann Shnen unmöglich) Vorwürfe machen, da er 
erſt das zweite Frühſtück in meiner Oefellfchaft einnehmen 








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wird, und. ich bis dahin auf jeden Fall meine Toilette 
beendet haben will. Wenn es Ihnen jedoch zur Bes 
ruhigung dient, und e8 allgemein Brauch ımd Sitte ift, 
werde ich feine Ausnahme machen, fondern mich leiden, 
wie es von mir verlangt wird.” — 

E3 lag etwa3 rührend Geduldiges und Reſigniertes 
in Wefen und Stimme der jungen rau, und Die Franz 
zöfin, welche gejtern noch fpöttifch die Nafe über das 
fichtlic) unbeholfene und mehr wie jchlichte Auftreten’ ihrer 
Herrin gerümpft hatte, ftreifte ihr jetzt faft zärtlich die 
Ipißenduftigen Falten über das Haupt, fo forgfam und 
eifrig, al3 gälte es, ihr eigen Töchterlein zu ſchmücken. 

Ein Stubenmädchen und ein Diener ftanden noch ver: 
gnüglich ſchwatzend im Boudoir, fie den Staubmwedel und 
er den Holzforb in Händen. Beide prallten erjchroden 
vor der unvermuteten Erjcheinung der Baronin zurüd. 
Ein devoter Gruß, ein zierlicher Knix, und dann raufchten 
die blaßblauen Damajtportieren vor den Flügeltüren zu= 
fammen, und die eleftriichen Klingeln tobten im Korridor, 
dem KHausmeijter zu vermelden, Daß er fich ganz gewaltig 
in der Frühſtücksſtunde feiner Gebieterin verrechnet habe. 

Marie Luije aber feufzte leife auf. Wie anders hatte 
fie fich ihre junge Häuglichfeit gedacht, und welch ein 
ander Lied von Glück hatten damals die Morgengloden 
geſungen, als fie über See und Fluren fangen. Lang— 
ſam tritt fie an die Voliere, voll wehmütiger Sreude die 
Heinen Sänger zu liebfofen, welche hinter goldenem Gitter 
gefangen gehalten werden. 


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Scheu und angjtvoll flatterten fie gegen die Stäbe. 
Marie Luiſe fennt die Qual eines zitternden Herzens, fie 
wendet ſich ab und fchlägt die feidenraufchende Gardine 
vor dem Erferfeniter zurüd. 

In mweißgligernder Pracht dehnt fich vor ihrem Blid 
der Park mit feinen fahlen, graziöjen Laubholzwipfeln, 
zwiſchen welchen grüne Tannen, wie von Silberduft um: 
haucht, emporjteigen, und aus denen fernhin Türme und 
metallfunfelnde Kuppeln ragen. 

Die Promenade liegt zu diejer frühen Zeit ſtill und 
menjchenleer, nur ein paar Lafaien fchreiten quer durch 
die vierreihige Lindenallee und zeichnen breite Stapfen in 
die fleckenloſe Schneedede. Der Erfer, in welchem Die 
junge Frau fteht, ift turmartig gerundet und weit vor: 
gebaut, und gewährt den Blick auf den gewaltigen Quader— 
bau des Erbgroßherzoglichen Palais, welches mit impo- 
fanter, von Säulen geftügter Front den Paradeplatz 
flanfiert und feinen Garten bis dicht an das Grundftüd 
der Billa Hazard vorſchiebt. Won der Terafje derjelben 
blit man direft in eine der Kuftanienalleen des fürft 
lichen Befißes hernieder, und weiter zurücd, hinter den 
Gebäuden, find die Gärten nur durch ein hohes, ſpitzen— 
artiges Eijengitter getrennt. 

Zange Steht die Gemahlin des Freiherrn von Nennder= 
ſcheidt und blicdt hernieder auf die fremde, ftolzge und 
froftige neue Heimat, in welcher fie fich verlaffen und 
verloren fühlt, wie ein Wögelchen, welches eine rauhe 
Hand aus dem Nefte geriffen, es hilflos und verwaift in 





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die unbefannte Welt hinaus zu ftoßen. Wieder faßt fie 
die unaugssprechliche Qual wilden Heimwehs und feine 
Menfchenfeele ift da, zu welcher fie fich flüchten Fönnte, 
all ihr Herzeleid in taufend bitteren Tränen auszugießen! 
Ganz allein! Noch durchzittert von dem Todesweh grau— 
fam verratener Liebe, geängftigt von einem Wirbeljturm 
neuer Eindrücde, welche auf fie eindringen und fie ſchwanken 
lafjen auf dem glatten Parkett der Konvenienz und Bere: 
monie. Ganz allein. Keiner fteht an ihrer Seite, fie 
liebevoll zu jtügen und zu leiten; die Hand, welche fie 
hierher geführt, welcher fie voll Eindlich treuen Glaubens 
gefolgt, reißt fich lo8 von ihr und überantiwortet fie un= 
barmberzig den hohen Wogen, welche ihr Lebenzichifflein 
in wilden Spiele fchleudern. Ganz allein! Und den- 
noch .. Marie Zuife zuct empor und hebt das tränen- 
überjtrömte Antlig mit ftarrem Blid, ... und dennod) 
ilt fie nicht völlig vereinfamt; einen Talisman beſitzt fie, 
einen köſtlichen Schaß, welcher gleich feſtem Felsgeftein 
aus Sturm und Fluten ragt, daß fie, die Berzagende, 
fih daran klammere. Seine Briefe! jene ſüßen, berau— 
fchenden Zeilen, welche fie mit unzähligen Küffen bededt 
hat, welche mit ihrem Herzen verwachjen find, und welche 
ihr in treufter Zauterfeit verjichern: „Du bijt geliebt!” 

Und wie ein furchtfames, geängjtigtes Kind in der 
Dunkelheit jedem Lichtftrahl aufatmend entgegen ftürmt, 
jo flüchtete fi) Marie Luiſe ebenfalls zu dem einzigen 
Widerſchein des Glückes, welcher ihr geblieben. 

Auf ihren Knien lag da3 Heine Päckchen Briefe, 


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haftig geöffnet, mit zitternden Händen emporgehalten, 
wieder und wieder gelefen. Und die Tränen verfiegten, 
und die müden Augen ftrahlten auf in unaugfprechlichem 
Entzüden, und ein Lächeln verflärte das blaffe Antlit, 
wie Sonnenlicht, welches regenjchwere Blütenkelche küßt. 

Dann aber erloſch Schein um Schein, und Marie 
Luiſe ſtrich langſam mit der Hand über die Stirn und 
Itarrte hernieder auf die Worte: „Ich habe dich Lieb!” 
Und diefe Worte hatte ein anderer gejchrieben, als ihr 
Mann, ein anderer, welchem fie vertraut und an welchen 
fie geglaubt wie an fich felber. — Goſeck. — Da rafchelt 
es wieder in den giftigen Sumpfblüten verbotener Ge— 
danken, und die Schlange, die Verfucherin, ringelt fich 
jchmeichlerifch Herzu, höher und höher empor an dem 
ſchwachen Weibe, es verderbend in das Herz zu Stechen. 

Da rang und wand fich die Seele im Kampf, das 
ſchwache Weib aber blidte empor zum Himmel und ward 
eine Riefin und fchleuderte die Sünde von ſich, daß ihr 
Natterhaupt zerichmetterte. Ja, dieſe Briefe waren alles, 
wa3 ihr geblieben, ihr einziger Troft in all dem Elend, 
aber fie waren gleicherzeit unjcheinbare Samenförner, aus 
welchen Unfraut emporjchießen wird, gleich der umſtricken⸗ 
den Schmaroperpflange, welche den Stamm, der fie be- 
Ihüßt, nieder in den Staub reißt. 

Diefe Briefe find fallende Tropfen, welche mit der 
Zeit den Grundftein der Treue höhlen müſſen, find rollende 
Steine, welche fich zu himmelhoher Scheidewand zwifchen 
ihr und ihres Gatten Herz bauen werden. Marie Luiſe 


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weiß, daß nicht ihr Verlobter, jondern ein Fremder dieſe 
Briefe gejchrieben, und diefes Wiſſen macht fie jchuldig, 





wenn fie jebt, als das Weib eines anderen, an Liebes— 
Ihwüre glauben will, die fie als gejprochenes Wort nicht 
anhören dürfte und nicht anhören würde. 


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Wie Entfegen ſchüttelt es plößlich ihre Glieder, Klar 
und deutlich blidt fie in die Zukunft und erfennt die Ge— 
fahr, welche fich fo harmlos hinter ein paar weißen Blätt- 
chen Bapier verbirgt. Kin einſames und vernachläffigtes 
Weib gleicht einer Ertrinfenden, es Hammert fich blind- 
lings an eine fremde Hand, wenn diejelbe es empor an 
ein Herz ziehen will. Marie Luiſe aber ift jo verlaſſen, 
fo jung und fo unglücklich, und diefe Briefe ftreden fich 
ihr entgegen wie zwei Arme, welche loden und winfen: 
„Stürze Dich ung entgegen, wir halten Dich feſter und 
wärmer, als der, deſſen Hand dich von fich ſtößt!“ 

Aufftöhnend ſchlägt Marie Luife die Hände vor das 
Antlitz, und dennoch gibt es feine Wahl mehr für fie. 
Das lebte und einzige Glüd gibt fie dahin, um Pflicht 
und Ehre den ſchweren Tribut zu zahlen. Kein Gedanke 
ſelbſt jol in ihrem Herzen fein, der nicht lauter und brav 
demjenigen allein gehört, welchem fie vor Gottes Altar 
Treue gejchworen. | 

Und fie legt einen Angenblid die gefalteten Hände 
auf die Briefe und ſchaut empor, von droben Kraft zu 
erflehen, ſich aus dem ſüßen und bejeligenden Traum 
der Liebe felber wach zu rütteln. Da nimmt fie Ab- 
ichied von Lenz und Jugend, Fünftighin als ernjtes und 
wunfchlojes Weib den ftarren Pfad der Pflicht zu wandeln. 

Langſam erhebt fie fich, ergeben und ruhig, fchreitet 
zu dem Kamin und legt mit ficherer Hand die Briefe in 
die Flammen. Hochaufgerichtet jteht fie und ftarrt her- 
nieder, wie die Funken tanzen, wie die Rauchwölfchen 


— 333 — 


ihre Kreife ziehen und die Glut mit roten, gierigen Lippen 
die Blätter Füßt, auf welchen gefchrieben fteht: „Ich Habe 
dich lieb, Marie Luiſe!“ 

Dao knirſcht die Portiere leife in den feidenen Zalten, 
und eine Stimme fpricht Hinter ihr: „Umfonft, gnädige 
Frau! Das Feuer verzehrt nur Vergängliches, den Becher 
nur, aus weldhem Sie den Zaubertrank des Glückes ge- 
nofjen, das ſüße Gift ſelber ift Ihnen zu Fleiſch und Blut 
geworden, und nicht die Opferbrände einer ganzen Welt 
vermögen es, die Worte aus Ihrem Herzen zu merzen, 
welche für alle Ewigkeit hineingegraben ſind!“ 

Zuſammenſchreckend hatte ſie das Haupt gewandt, in 
dem Türrahmen ſtand Graf Goſeck und blickte ihr mit 
düſtern, tief umſchatteten Augen entgegen. Seine Stimme 
war durchklungen von einer faſt unheimlichen Überzeugung, 
und dennoch war es, als bebe ein tiefes Mitleid durch 
ſie hin, als grabe nur Schmerz und Wehmut die Falten 
in ſeine Stirn. | 

Zartes Rot ftieg in die Schläfen der jungen Frau. 

„Wie tommen Sie zu folch ungewohnter Stunde hier- 
her? wie war es möglich, daß ich Ihr Eintreten nicht 
früher bemerkte?” fragte fie erjchroden. 

Zangfam trat er näher und verneigte ſich, ohne ihr 
die Hand zu reichen. „Für dieſes ungebührliche Ein- 
dringen bitte ich zupor um Berzeihung und Hoffe, daß 
Sie mir geftatten, mich durch ein Kommentar dazu bon 
dem Schein der Indiskretion zu entlajten. Schmwebende 
ragen über den Ankauf von Ländereien führten mich, 


— 334 — 


der es ſeit Jahren gewohnt iſt, jeder Stunde bei dem 
beſten Freund aus- und eingehen zu können, zu Olivier, 
und beſtand derſelbe darauf, daß ich meinen Morgengruß 
bei Ihnen perſönlich abſtatten ſolle.“ Goſeck hob die 
Hand, in welcher zwei köſtliche weiße Roſen dufteten, 
etwas unſicher, mit bittendem Blick Marie Luiſe entgegen, 
dann ſchien er ſich plötzlich anders zu beſinnen, biß ſich 
auf die Lippen und ſchüttelte leiſe das Haupt. „Jene 
Funken im Kamin leiden es nicht, ſie ſtechen mir grell 
in die Augen und mahnen mich, daß die Zeit vorüber 
iſt, da ich Ihnen Blüten und Briefe ſenden durfte. Ich 
kenne aber eine Fabel von einem Rittersmann, des Lieb 
war Nonne geworden und durfte ſeine Grüße nicht mehr 
empfangen; da legte er die bleichen Roſen am Altar der 
Himmelskönigin nieder, welche ihn mit denſelben dunkeln 
Augen anſchaute wie fein verloren Glück, ... und durfte 
es ... und tat feine Sünde.” — Die lebten Worte ver: 
loren fich in faum noch verftändlichem Flüjtern, Euſtach 
wandte fich zur Seite und jtedte die Roſen in Die ver— 
goldete Schnigerei der Heinen Marienkapelle. Es lag 
ein: Ausdruf in den großen SKinderaugen der jungen 
Frau, welcher ihn ganz plößlich jäh verändert, Tebhaft 
und faft heiter fortfahren Tieß: „Ihr Herr Gemahl hatte 
die Abficht, mich zu begleiten, und durchichritten wir be- 
reit3 die eriten Salons, als ihn der Beſuch eines Ge— 
Ihäftsmannes wieder zurüdrief. Er jchidte mich als 
Avantgarde voraus und läßt gehorjamft bitten, das 
dejeuner heute bereit3 um 12 Uhr in feiner und meiner 





— 3355 — 


Geſellſchaft einzunehmen, da es notwendig ſei, im ſo— 
fortigen Anſchluß daran Viſiten zu fahren.“ Goſeck 
lachte gedämpft auf und zuckte die Achſeln. „Sie müſſen 
ſich ſchon von vornherein daran gewöhnen, mich ſehr oft als 
Dritten in Ihrem Bund aufzunehmen; Olivier zwingt mich 
quaſi dazu, da er kleine Tafelrunden ſehr langweilig findet 
und behauptet, er müſſe ſich erſt ganz allmählich meine 
ihm unentbehrlich gewordene Geſellſchaft abgewöhnen!“ 

Marie Luiſe hat längſt durch eine Geſte gebeten, 
Platz zu nehmen. Es lag viel ehrliche Freude in ihrer 
Verſicherung, daß die Freunde ihres Mannes auch ihre 
Freunde ſeien, und daß er ſtets willkommen wäre; gleicher- 
zeit aber ſprach fich in ihrem ganzen Weſen eine jo un= 
bewußte und ernfte Würde aus, ein fo naives und rüd- 
haltsloſes Vertrauen zu ihm, daß Graf Gofed die Wimpern 
niederfchlug, gleich wie ein Jäger unwillkürlich die Büchfe 
finfen läßt, wenn zwei klare Rehaugen ihn furchtlos anfehen. 
Er lehnte fih auf den Seſſel und ftarrte einen 
Moment mit gefurchter Stim auf den Sonnenftrahl 
nieder, welcher einen zitternden Golditreifen über den 
Teppich und die weiße Schleppe ihres Morgenkleides 
malte. Dann atmete er tief auf. „ES ift ein köſtlich 
Ehrenamt, Ihr Freund zu fein, Frau Marie Luife“, 
ſagte er mit leifer Stimme, „wenngleich wohl faum eine 
größere Dual erfonnen werden kann, al3 einen Ber: . 
Ihmachtenden zum Hüter eines Trijtallflaren Quells zu 
machen, zu welchem er nicht herniederfinfen fann, weil 
Hand und Fuß gefefelt find.” 


— 336 — 


Fragend und verſtändnislos ſchaute ſie zu ihm auf, 
er aber fuhr mit kaum beherrſchter Leidenſchaft fort: 
„Auch meine Seele dürſtet nach dem Glück, und dennoch 
werde ich vor einem vollen Becher ſtehen und ihn für einen 
anderen hüten! Ein Tantalus, welcher dennoch mit 
keinem Könige tauſchen würde! Ja, Sie bedürfen eines 
Freundes, gnädige Frau, eines Freundes, welcher es 
künftighin verhindern wird, daß Sie Stunden durchleben, 
von deren Weh und Verzweiflung jene verkohlten Blätter 
im Kamin die beredteſten Zeugen ſind!“ 

Sie errötete, aber ſie blickte ihm feſt in die Augen. 
„Sie zürnen mir, daß ich jene Briefe, in welchen Sie 
mir einen ſchönen Traum erhalten wollten, vernichtete! 
Es geſchah nach reiflicher Überlegung und wird niemals 
von mir beflagt werden. Morphium betäubt wohl den 
Schmerz, aber es ift ein gefährlich Gift und heilt nur 
feine Leiden, um felber zur unheilbaren Krankheit zu 
werden! Jene Briefe aber find nichts anderes ala wie 
derartig füße Tropfen, welche über eine qualvolle Wirk— 
lichfeit Hinwegtäufchen ſollen!“ | 

Goſeck hob wie jäh entichlojfen das Haupt, ein faſt 
ftarrer Ausdrud lag auf feinem farblofen Geficht. „Und 
warum diefe Wirklichkeit überhaupt ertragen? Ein Wort 
von Ihnen, gnädige Frau, und ich erlöfe Sie aus aller 
diefer Not, ich führe Sie zurüd zu Freiheit und Leben 
und trete mit Gut und Blut für Sie in die Schranken, 
wenn ich ungefchehen machen Tann, was zu Ihrem Fluch 
geworden, wenn ich den goldenen Reifen zu fprengen ver- 


ze ze 


mag, welcher fich als Sflavenring um Ihren Finger jpannt. 
Befehlen Sie über mich!” Voll verzehrender Glut brannte 
fein Auge auf ihrem lieblichen, jäh erbleichenden Antliß, 
fie aber jchüttelte voll wehnrütigen Ernites das Köpfchen 
und reichte ihm die Hand entgegen. 

„Ich danke Ihnen für Ihre Teilnahme, welche Sie 
vol edeln Eifer zu meinem ritterlichen Anwalt machen 
will, Graf Goſeck! So Gott will, werde ich diefen Ring 
ebenjo unverändert am Finger tragen, wie ich wankellos 
das Gelübde der Treue halten will, welches ich ge— 
Ihworen. Auch fehen Sie mein Schidjal fchwärzer an, 
als es il. Was berechtigt mich zu dem Verlangen, ge- 
liebt zu werden? Da ich mich gejtern abend in dem 
Ballfaal umgejchaut, ift e8 mir erjt offenbar geworden, 
wie tief fich Dlivier herniedergeneigt hat, mich aus der 
Berborgenheit empor an feine Seite zu heben. Was bin 
ich, und was habe ich, um eines folchen Glückes wert zu 
fein? Wie viele Taufende müſſen mich beneiden, daß er 
mich außerlejen hat, feinen Namen zu tragen, daß er mich 
mit. Pradt und Reichtum umgibt, daß ich fein guter 
Kamerad bin, der Luft und Leid und Glüd und Not mit 
ihm teilen darf? Des Glüdes Übermaß aber bricht 
die Herzen, welche nicht ganz feit in Demut und in 
Gottesfurcht ftehen, gar leicht in den Staub hernieder, 
und darum weiß es unjer Bater droben wohl am beiten, 
warum er zumeiſt ein Kreuz errichtet, diefe ſchwachen 
Menſchenherzen zu ſtützen!“ 

Ein rührendes Lächeln verklärte ihr = Goſeck 


N.v. Eſchſtruth, Ill. Rom. u. Nov., Hazard II 


— 338 — 


aber wich ihrem Blicke aus und zwang ſich faſt gewalt— 
ſam zur Ruhe. Es tobte und kämpfte in ihm; Zer— 
knirſchung und frommes Entzücken, welches ſich vor der 
Geliebten gleichwie vor einer Heiligen niederwerfen möchte, 
und die begehrliche, ungeſtüme Leidenſchaft, welche mit Ge— 
duld und Berechnung ringt. Langjam ftric) er mit der 
Hand über die Stirn. 

„Gebe Gott, daß all dieje braven Worte, mit welchen 
Sie fich jelber ein Rezept verjchreiben, viel Elend mit noch 
mehr Würde zu tragen, fich bewähren möchten!” fagte er 
ernit, trat einen Schritt näher und fchaute ihr plößlich feſt 
und tief in3 Auge, al3 wolle er ihre Seele mit diejem 
Blidezwingen. „Einesaber geloben Sie mir, gnädige Frau! 
Sollte jemals die Stunde kommen“ — in feiner Stimme 
lag ein Klang, welcher voll unheimlicher Überzeugung 
‚verficherte: „und fie wird kommen!“ — „in welcher Sie 
rat= und hilflos, verlaffen von allen, verwaiſt und ver- 
loren, Ihr Unglül nicht mehr ertragen fünnen, wenn 
Sie nicht willen, an wen fich wenden in aller Not, dann 
fommen Gie aus eigenem Antriebe und aus 
eigenftem Entjchluffe zu dem, der Ihnen helfen 
wird gegen eine ganze Welt, der... wird es gefordert, 
mit dem Herzblut Ihr Glück und Ihren Frieden erfauft, 
und feine Gefahr und feine Mühe jcheut, fann er Ihnen 
dadurch eine Träne trocdnen, — zu mir, gnädige Frau!“ 

Er preßte Ihre Hand feiter und fefter, er neigte fich 
näher und wiederholte durch die Zähne: „Bei allem, was 
Ihnen heilig ijt, geloben. Sie es!“ | 





— 339 — 


Ein jähes, angſtvolles Bittern erfaßte Marie Luiſe, 
fie hatte das Gefühl, als lege Sie ihre Hand in eine 
Schlinge, welche fich verderbend darum zufammenziehen 
wird. Als fie aber in ratlojer Bein den Bli hob, da 
ſchaute fie juft in dag lächelnde Antlitz des Schutzengels, 
welcher ihr gegenüber die Marmorjchwingen ausbreitete 
und ihr zuzuniden jchien: „Gelobe es ihm!” 

Still ward’3 in ihrem Herzen, fie jah zu Goſeck 
empor und zog die Hände nicht zurüd. „Sa, ich werde 
fommen, und Sie werden meines Glückes Hüter fein!” 


ſagte fie jchlicht. 





22* 


Kacalrzae — 


XV. 


„D du liftiger Teufel! 
Wer kann ein Weib durchſchauen?“ 
Shalefpeare Cymbeline. 
V. Aufz. 5. Sz. 


n dem kleinen Saal neben der Bildergalerie wurde 
das Diner von der Großherzoglichen Familie ein— 
genommen. 

Es waren für den heutigen Tag keinerlei Einladungen 
ergangen, nur das erbprinzliche Paar und Fürstin Tauten- 
jtein erfchienen bei der Tafel, und außer ihnen ſchloſſen 
die wenigen bdienfttuenden Hofchargen die Kleine Runde. 
Prinz Marimilian fchien entweder ſchlechte Laune zu 
haben oder dem Gefchmad der modernen Welt nicht recht 
zu huldigen. Seine vielreizende Nachbarin konnte fich 
allerdings über feinerlei Vernachläffigung beklagen, dazu 
war der fürftliche Seefahrer ein viel zu reſpektvoller Vers 
ehrer von Frauenſchönheit und Frauenwürde, aber dennoch 
wollte die Unterhaltung zwijchen ihm und Fürftin Claudia 
nicht jo üppige Blüten treiben, wie man e3 fonjt bei fait 
jeglichem Zwiegeſpräch mit ihr gewohnt war. Das große, 
geiftuolle Auge des Prinzen, welches fo leicht in faft 











— 311 — 


übermütiger Heiterfeit aufbligen Tonnte, fchien im Anz 
Schauen der beweglichen Erjcheinung der Fürftin zu er— 
ftarren, und wiederum wirfte dieſes klare, Durchdringende 
und ruhig beobachtende Auge wie lähmend auf alle 
Lebenzgeijter der ſchönen Frau ein, welche anfänglich 
die Wimpern zwinfernd zujammenfniff, als fehe fie in 
unangenehm blendendes Licht, und fchließlich dem Blick 
des „langweiligen Seebären” ganz auswich, welcher es 
ſo gar nicht verftand, feine Nachbarin in der Weije zu 
unterhalten, wie fie es liebte. Schließlich ſtockte das 
Geſpräch und brach gänzlich ab. Claudia wandte ſich 
zum Erbgroßherzog und verjtand es, durch ihre Fragen 
zu intereffieren; ſehr gefchieft Ienkte fie das Thema auf 
den Dpernhausball und Hatte auch bald die Genug: 
tuung, den Baron von Nennderfcheidt und feine Ver— 
mählung als Tagesfrage von der ganzen Tafelrunde bes 
handelt zu hören. 

„Ich habe dem vielbefprochenen Mann wirklich) die 
größten und freundlichiten Sympathien entgegengebracht, 
wie wohl die Hofloge am beiten bezeugen kann“, fagte 
fie mit weicher, etwas klagender Stimme und fopierte 
dazu die träumerisch großen Augen des Bodenhaufenfchen 
Märchens, „aber jo graufam enttäufcht war ich wohl nod) 
nie im Leben, als wie von diefem ‚Talmi-Driginal‘, 
welches wahrlich nicht mit geiftvoller Freimütigfeit jeine 
Streiche in Szene ſetzt, ſondern lediglich wie der NRiefe vom 
Sundland einherjtolpert, mit Keulen dreinzuſchlagen!“ 

„Sie überrafchen mich, Durchlaucht!“ Prinz Mari: 


— 342 — 


milian legte Meſſer und Gabel nieder und richtete fich 
noch höher empor. „Entweder haben fie jehr viel Geduld 
und Selbſtbeherrſchung, einer unliebjamen Perfönlichkeit 
freundlich zu begegnen, oder mir mangelt jegliche Menſchen⸗ 
kenntnis. Gejtern abend hätte ich darauf ſchwören mögen, 
daß der Glüdspilz Nennderfcheidt eine neue Proteftorin 
gefunden habe, Die energifch gegen alle Verleumdung und 
Klatſchſucht, mit welcher man die Kaprizen aufbaufcht, zu 
Felde ziehen wird!” 

Claudia lachte leife auf und rümpfte ein ganz Flein 
wenig dag Näschen. „Es ift und bleibt eine alte Ge—⸗ 
ichichte, daß der Schein trügt ... . und der große Brite 
hatte wohl zu mehr als einer unferer modernen gejell- 
Ichaftlichen Bewegungen da3 Motto gefchrieben: „Wie 
oft birgt innere, ſchwere Schuld, der außen Engel fcheint 
an Huld!” Auch ich ſchien von engelhafter Langmut und 
Milde, und dennoch machte ich mich wahrhafter Barbarei 
ichuldigl” Sie zerteilte mit feharfem Schnitt dag Stüd 
Ananas auf dem Teller, ihr Blick Hufchte zu dem Erb= 
großherzog empor. „Der Herr Baron von Nennderjcheidt 
offerierte mir nämlich in einer unglaublich faden Sauce 
fein Herz und feine drei Duäntchen Verftand zur gefälligen 
Kenntnisnahme, und ebenso wie dieſe fchöne, goldige Frucht: 
icheibe hier, zerlegte ih nun — langjam und gründlich 
diejes tolle Herz.” — 

„Seien Sie vorfichtig, Durchlaucht, ich bin ein enra= 
gierter Gegner der Viviſektion!“ 

Fürftin Tautenjtein wandte das Köpfchen und lachte 


— 343 — 


Prinz Maximilian mit perlweißen Zähnchen an. „Wer 
fagt Ihnen denn, Hoheit, daß ich mein Opfer quälte?' 
Es hielt fo behaglich till, daß ich überzeugt bin, es hat 
auch feine Ahnung von der ‚moralifchen‘ Operation, welche 
ih an ihm vornahm! Da jedoch mit einem einzigen Blid: 
jo viele Verrücktheit, plumpe Tölpelei und Kedheit, welche 
jeden Augenblid droht, als formlofe Dreiftigkeit über Die 
Stränge zu jchlagen, nicht überfehen und bemeſſen werden 
fann, fo bedurfte e8 längerer Zeit zu meiner Studie. 
Und da ich doch, nach dem Betragen diejes tollen Junkers, 
faum annehmen fann, ihm und jeiner Gemahlin auf hie= 
jigem Parkett wieder zu begegnen, jo mußte ich eben Die 
Beit benugen, mein geijtiges Skizzenbuch um eine u 
fatur zu bereichern!” 

Die Stimme der fehönen rau hatte ebenjo wie ihre 
Züge einen fait gehäffigen Ausdrud angenommen; jcharf 
und lauernd traf ihr Blid das Antli des Großherzogs, 
welcher aufs höchſte frappiert, ebenjo wie alle Anwejenden, 
die Sprecherin anftarrte, al3 traue er feinen Ohren nicht. 
Dunn zog eine leichte Wolfe des Unmut über feine 
Stirn. 

„Ich muß geſtehen, liebe Fürftin, daß mich Ihre 
Kritik in hohem Grade überrajcht, und daß dieſelbe jehr 
vereinzelt jteht. Baron Nennderfcheidt ift einer unferer 
beliebteiten Kavaliere, und werden Sie vielleicht nur durch 
feine etwas draftifche Art und Weife, der Gefellichaft feine 
junge Gemahlin zuzuführen, in Ihrer Meinung beeinflußt 
fein 


— 34 — 


Ein undefinierbared Lächeln neigte Claudiag Mund- 
winfel, dann aber blicdte fie mit großen, träumerifchen 
Augen fast traurig zu dem hohen Herrn hinüber. „Hätte 
ich zuvor die taftlofe Komödie, welche der Freiherr aus: 
nahmslos der ganzen Nefidenz vorgefpielt hat, in all 
ihren Einzelheiten gekannt, Königliche Hoheit, ich würde 
ihn felbitverjtändlich fo ignoriert haben, wie er e3 verdient 
hat, eine Zeit lang völlig links liegen gelafjen zu werden, 
aber ich war durchaus ahnungslos und unbeeinflußt, im 
Gegenteil, durch ſein Renommee für ihn eingenommen, und 
habe dennoch diefen wenig günftigen Eindrud von ihm 
erhalten. Bon ihm ſowohl wie von feiner rau, welche 
meiner Anficht nach erjt noch in eine Penfion gejchict 
werden muß, ehe fie courfähig wird!” 

„D, 9, halten Sie ein in Ihrem Grimme, durch— 
lauchtigfte Fürftin!” lachte der Erbgroßherzog, dieweil 
fi) alle Köpfe in atemlofem Lauſchen vorneigten, „ic 
habe allerding3 die junge Frau nur von weiten gejehen, 
aber fie jo allerliebft und comme il faut gefunden, wie nur 
möglich!” | 

'„Comme il faut!!” Fürftin Zautenftein faltete die 
diamantgligernden Händchen mit einem humorvollen Stoß- 
feufzer vor dem Zeller. „Der blaue Dunjt der Ferne 
idealifiert alles, Königliche Hoheit. Es ift mir felbit 
ſchon paffiert, daß ich einen Kohlfopf für eine Roſe, und 
eine rofig fchimmernde lage für ein lächelndes Mädchen- 
antli& gehalten habe, und daß ich bei einer Fahrt durch 
die Felder der Vogeljcheuche mit eingetriebenem Zylinder 


— 345 — 


fehnfuchtsvoll entgegenwinfte — ‚da kommt mein füßes 
Männchen |! 





Claudia verjtand es, wirfungsvoll zu erzählen, fie 
hatte die Lacher auf ihrer Seite, nur fchräg von der 


— 346 — 


Tafel herüber traf das graue Auge des Fräulein von 
Speyern falt und groß das ihre. 

„un... was zum Beifpiel haben Gie an der 
jungen rau auszuſetzen, liebe Claudia?” fragte die Groß⸗ 
herzogin in ihrer ruhigen, würdevollen Weife, und Prinz. 
Marimilian neigte das Haupt näher zu der Erbgroß- 
herzogin, welche ihm Hinter dem Fächer etwas zuflüfterte. 
Er nidte haſtig zuftimmend, beide waren faft jtet3 der 
gleichen Meinung. 

„Ihr ganzes Weſen iſt ridieule! und das ift wohl 
der Extrakt meiner Kritik, gnädigjte Herrin! Einen Knix 
produzierte fie... . tauſendmal fchade, daß ich ihn jeßt 
nit vormachen kann, aber ich hatte unmillfürlichen 
Screden, fie möchte fih in dem Momente etwas inner- 
ih verſtauchen!“ 

„Brillant illuftriert I” 

‚Und dann Hat jie entichteden ein halbes Dutend 
Glieder zu viel, welche ihr überall im Wege find. Sie 
nahm alles mit, was nicht niet- und nagelfeft war; was die 
Ellbogen nicht faßten, wiſchte die Schulter mit fort, und 
was den Fußtritten entging, geriet in Kollifion mit den 
Knien; wahrlich, ich habe ganz unmillfürlich die jteinernen 
Eckpfeiler am Portal daraufhin angejehen, ob fie der 
Rüden der Frau von Nennderjcheidt vielleicht auch poliert 
habe!” 

„Alſo .. . wie man zu fagen pflegt, noch ohne jeg- 
liche Dreffurl” lachte der Großherzog, mehr und mehr 
von dem Charme befangen, welcher über dem ganzen 


— 347° — 


Weſen der ſehr animierten Erzählerin lag, „aber da läßt 
fich gleich nachhelfen, und dag Fegefeuer der Chronique 
scandaleuse, welches unjichtbar und dennoch fühlbar hier 
auf dem Parkett lodert, wird bald die Kleinen Schladen 
ber Unbeholfenheit abgejchmolzen haben!” | 

„Der tolle Junker würde gewiß toll genug fein, die 
hiefigen Säle als Kinderftube oder Erziehungsanftalt zu 
benugen, falls man ihm die Erlaubnis dazu gäbe!” 

Der hohe Herr blidte jäh auf, feine Augenbrauen 
zogen fich ein Hein wenig zufammen. „Ah... Sie un- 
erbittliche Richterin wollen die Piken vor dem freiherrlichen 
Paare freuzen lafjen ?” 

Claudia nidte eifrig, aber nicht gehäflig oder zürnend, 
fondern wie ein fehmollendes Kind. „Nicht für immer, 
Königliche Hoheit, aber eine Lektion verdient der dreite 
Batron, und das ift wohl die Anficht der ganzen Reſi— 
benz, welche mit fich jelber fchon einmal fpaßen läßt, es 
aber um alle Welt nicht zuläßt, daß das Unkraut Taft- 
Iofigfeit und Übermut über den Stamm hinaus big in 
die Krone empormuchert |” 

Aller Gefichter wurden ernſt, bejorgt blicdte Rudol—⸗ 
phine Alerandromwna in die verdüfterten Züge ihres Ge— 
mahls, welcher langſam mit der Hand über die hobe, 
gefurchte Stirn ſtrich. „Man beichäftigt fich in der Ge- 
jellichaft fehr viel und fehr lebhaft mit dieſem crimen 
laesae majestatis des Herrn von Nennderfcheidt, ohne 
Unfere Erlaubnis eine rau zu nehmen?” forjchte er mit 
außergewöhnlicher Schärfe in der Stimme, gleicherzeit 


— 3485 — 


auch) die Hofinarjchallin mit einem Fragenden Blick 
itreifend. 

Die dide Erzellenz legte erfchroden das Stück Konfekt, 
welches fie joeben zum Munde führen wollte, auf den 
Teller zurüd, Claudia aber fam ihrer Antwort zuvor. 
„Soviel ich ala Fremde beurteilen Tann, hat der Sturm 
ausgetobt; — in den Hoffreifen wenigftens. — Man hat 
nach Verdienſt gerichtet und den Herrn Baron nebjt 
Gattin zu dem alten Eifen gelegt.” 

Das klang wie vollfommen jelbjtverftändlich. 

„Zetfählih? wie man ſich doch irren kann! Ich 
glaubte bemerkt zu haben, daß man dem jungen Baare 
wohl anfänglich etwas unnahbar gegemüber ftand, daß 
aber die Stimmung fehr bald umſchlug, und rau von 
Nennderfcheidt in auffallender Weife von Damen und 
Herren umringt war?” Prinz Marimilians Blick ſchweifte 
dabei wie Bejtätigung heijchend über Die une 
Allgemeine Berlegendeit. 

„Allerdings Tießen fich viele junge Kavaliere vor: 
itellen ... .” 

‚Man war etwas neugierig.” 

„Königliche Hoheit felber Hatten durch den Vergleich 
mit der Defreggerjchen Madonna einen Kampf der größten 
Meinungsverichiedenheit entfacht.” 

Fräulein von Gironvales Durchdringendes Organ über: 
tönte die jehr vorfichtig eingerworfenen Bemerkungen, ihr 
Blick zudte wie eine Dolchſpitze nach Fides hinüber, aber 
fie fpielte fi) vollflommen auf die harmlos Naive aus. 


— 349 — 


„Halten zu Gnaden, Hoheit, ich glaube den plößlichen 
Umjchlag des Stimmungsbarometers erklären zu können! 
Erſt zeigte er allerdings auf Sturm und Gewitter, nach: 
dem aber Fräulein von Speyern mit lauter Stimme ver- 
ficherte, daß Königliche Hoheit der Großherzog das Be— 
nehmen de3 Freiherrn gebilligt habe und ihn nach wie 
vor voll Huld und Gnade 
empfangen werde, da jtieg 
das Queckſilber ſelbſtver— 
ſtändlich wieder auf Son— 
nenſchein, denn nun war 
doch abſolut kein Recht 
mehr vorhanden, öffentlich 
zu revoltieren!“ 

Claudia machte der 
kleinen Franzöſin ein ſehr 
anerkennendes, wenn auch 
unmerkliches Zeichen; der 
Großherzog aber wandte 
ſich aufs höchſte überraſcht 
zu der Hofdame, welche — frei und gerade ins Auge 
ſchaute. 

Wie in jähem Schrecken legte die Erbprinzeſſin die 
Hand auf den Arm Marimilians. 

„Sie haben mutig und fühn die Vorjehung gefpielt, 
und um des lieben Friedens willen etwas eigemmillig die 
Looſe für den verjehmten Mann gemilcht, Fräulein. von 
Speyern ?” 





— 350 — 


„Dazu würde nicht Mut, fondern fehr viel unverzeih- 
liche Dreiftigfeit gehören, Königliche Hoheit.” Voll und 
Har lang die Stimme der Sprecherin gegen da3 fchrille 
Drgan ihrer VBorreduerin. „Fräulein von Gironvale be— 
herrſcht als Ausländerin unjere Sprache nicht fo voll- 
fommen, um meine Nußerung dem Wortlaute nach wieder: 
holen zu können, und erlaube ich mir, fie in ihrer Mit- 
teilung der Wahrheit gemäß zu korrigieren. Auf die Fragen 
verfchiedener Herrichaften, welchen Frau Fama Unwahr⸗ 
beiten und Berleumdungen in die Ohren geflüjtert hatte, 
antwortete ich nach Piliht und Gewiſſen, daß Baron 
Nennderſcheidt den Takt gewahrt und feinem Königlichen 
Herrn in privater Audienz Mitteilung von jeiner bevor= 
jtehenden Bermählung gemacht habe. Diefe Behauptung 
glaubte ic) vertreten zu können!“ 

„Selbftverjtändlich, meine liebe Speyern, Sie ver- 
fündeten nur eine Tatſache.“ Das Antlit des hohen 
Herrn hellte fich auf, voll freundlichen Intereſſes weilte 
fein Auge auf der ftolzen, kraftvollen Geſtalt, welche 
einzig den Mut gehabt Hatte, für Recht und Wahrheit 
in die Schranken zu treten. „Sie haben aljo von vorn— 
herein Bartei für den tollen Junker genommen, aus welchem 
Grunde? Wer garantiert Ihnen die Möglichkeit, Ihren 
Klienten aus diefem Diluvium allgemeiner Empörung an 
ein rettendes Eiland zu lotſen?“ 

Fides lächelte. „Mein Vertrauen auf edle und madjt: 
volle. Hilfe, welche al3 Steuermann das Schifflein lenkt, 
Königliche Hoheit!” entgegnete fie furchtlos; „ich weiß, 


— 351 — 


daß die Flut der Verketzerung niemals jo hohe Wogen 
treiben fann, um Purpurſtufen zu bejpülen, und darum 
flüchtete ich meine Schiffbrüchigen zu ihnen und weiß, daß 
man fie daſelbſt beichügen wird!” 

Claudia Finger frampften fie) um den Fächer, mit 
fajt verlegendem Blick mujterte fie die Hofdame, welche 
e3 wagte, offiziell gegen fie Front zu machen. Der 
Großherzog aber neigte fich lebhaft vor 
und jchien plöglic jehr wohlgelaunt. 
„Eine andere Lesart, meine liebe Fürjtin! 
e3 freut mich aufrichtig, daß Fräulein 
bon Speyern und ein wenig ihre Anficht 
über dieje ganz fatale Affäre entwicelt 
und Sie hoffentlich) von einem Vorurteil 
furiert, welches ganz entfchieden nur durch 
die momentan fchiefe Stellung des Frei- 
herren gebildet wurde. Auf Baronefje sides 
fann man fich verlaffen, fie ſpricht jelten ein 
direktes Urteil aus, tut fie eg aber, jo legt 
ſie auch für ihre Anficht die Hand in das Feuer!” 

Fürſtin Tautenſtein lächelte jehr höflich. „Ich bin 
äußerft gejpannt, Königliche Hoheit”, erwiderte fie, ent- 
faltete den Fächer und lehnte fich in ihrem Stuhl zurüd. 
Das ruhige Antliß der Hofdame aber glühte auf, als jie 
das Haupt dankbar gegen den hohen Herrn neigte. 

„Sie finden aljo den Baron gar nicht jo verbrecherifch, 
al3 wie man ihn verjchreit?” 

„Wenigſtens nicht ſchuldig genug, um eine völlig 





— 352 — 


harmloſe Perfönlichkeit, feine junge Frau, zugleich mit 
ihm zu verdammen und fie für die unüberleate Tat ihres 
Mannes fo jchwer leiden zu laſſen, wie es gejtern jchon ge= 
ichehen tft. Warum nimmt man dem Herrn von Nennder- 
fcheidt den Übermut, welchem man früher applaudierte, 
jest fo gewaltig übel? Daß er erſt im lebten Augen— 
blick, gewiffermaßen auch als Überraschung, jeinem Herrn 
und Großherzog Die Anzeige von feiner Vermählung 
machte, war angejicht3 der großen und vielen Beweiſe 
fajt väterlicher Huld, welche er von Hochdemſelben em= 
pfangen, entjchieden taftlos, aber im Verhältnis zu feiner 
fait fprihwörtlichen Originalität und den Eulenfpiegeleien, 
welche ihm fo oft gnädigſt nachgefehen wurden, faum in 
Betracht zu ziehen.” 

„Sehr richtig! außerdem muß man mit der Tatjache 
rechnen, daß es im gewöhnlichen Leben faum einen 
größeren Scherz gibt, al3 die Welt Durch feine Verlobung 
zu überrafchen !’ 

„And meiner Anficht nach Hatte Herr von Nennder- 
icheidt feinerlei Verpflichtung, irgend eine Perſon der 
Geſellſchaft in feine innerſten Herzensangelegenheiten ein- 
zuweihen.” 

„Herzensangelegenheiten! hahaha ... Der Heiligen- 
ichein zerbricht Ihnen zwiſchen den Fingern, ehe Sie ihn 
dem tollen Junker, gleich einem PBanamahut, über die 
Locken jtülpen können!” 

Fürftin Tautenſtein preßte dad Spibentuch lachend 
gegen die etwas blaß gewordenen Lippen, und Fräulein 


— 353 — 


bon Gironvale fuhr mit biffigem Ton dazwifchen: „Das 
eben finde ich unerhört, daß der Herr Baron mit den 
heiligjten Gefühlen feinen Spott treibt, daß er nicht den 
Eid der Treue ſchwört, um ihn zu Halten, fondern 
lediglich, um ein Pofjenfpiel aufzuführen und die ganze 
Nefidenz zu düpieren!“ | 

Fides zucdte die Achjeln, und da fie der Großherzog, 
eine Antwort erwartend, anjahb, hob fie mit etwas 
ironiſchem Lächeln dag Haupt. „Düpiert fonnten nur 
Diejenigen fein, welche auf die beite Partie des Landes 
ivefulierten; es iſt leider Gottes jtet3 der alte Refrain 
bei dem Lied vom grünen Sungfernfranz, daß die Damen 
einem Manne alles vergeben, nur nicht die Brutalität, 
ſich mit einer anderen zu verheiraten,” 

Schallendes Auflachen des Großherzog! und Prinz 
Maximilian, in welches faft die ganze Tafelrunde ein- 
itimmte, nur Mademvijelle Esperance machte ein Geficht, 
als ſei fie geohrfeigt worden, und jtarrte faſſungslos auf 
ihre Herrin, welche einen Moment den Eindrud machte, 
als ob ihren rofigen Fingerjpigen Krallen wachjen wollten. 
Dann warf Claudia das Köpfchen zurüd und maß Fräu— 
fein von Speyern mit feindlichen Blid. 

„per alte Refrain kann aber auch mancherlei Varia— 
tionen haben!” entgegnete fie voll jcharfen Hohnes, „und 
foll e3 zeitweije auch vorkommen, daß verſchmähte Liebhabe- 
rinnen fich fpäterhin voll aufopfernder Freundſchaft des be= 
treffenden jungen Baares annehmen, um dadurch den Schein 
der Eiferfuchht und Mißgunft von fich u 1 


N. v. Eſchſtruth, IL Nom. u. Nov, Hazard II. 


— 9351 — 


Des Großherzugs Auge fchien zu wachjen in zornig 
aufflammendem Blick, und Prinz Maximilian legte den 
Eislöffel härter wie nötig auf den Teller zurüd. Fides 
aber blickt voll ftolzer Nuhe, kaum die Farbe wechjelud, 
in der Fürſtin Schönes Antlitz. 

„Gewiß gibt es auch davon Beifpiele, Durchlaucht, 
aber leider recht wenige, denn die Zahl jener willens- 
jtarfen Frauen, welche ihr eigen Herz bejiegen, und 
deren Tugend größer tt wie ihre Laſter, find felten. 
Ich Habe einft ein Gleichnis gehört, welches die Charaktere 
der Frauen verjchtedener Nation beleuchtet. Die Franz 
zöfin jagt” — der Bli der Sprecherin ftreifte Fräulein 
von Gironvale —: „sch habe ihn geliebt, er Hat mich 
verraten . . . m’importe! ic) tröſte mich mit einem 
andern! Die Staltenerin tobt: ‚Sch habe ihn geliebt, 
er hat mich verraten, ich werde mich rächen und ihn . 
töten! Die Ruſſin grübelt: ‚Sch liebte ihn, er verriet 
mic), ich werde ihm jchaden, wo ich kann! — Und die 
Engländerin zuct die Achjeln: ‚Der, den ich liebte, hat 
mich verraten, wie gut, Daß er mich nicht noch bejtohlen 
hat! Die Deutjche aber faltet weinend die Hände und 
(egt fie auf ihr blutend Herz: ‚Sch habe ihn geliebt, und 
er hat mich verraten, num will ich beten, daß er troßdem 
glücklich werde!” Fides machte einen Mugenblic eine 
Paufe, ihr Blick jchweifte über die ernjten, teilweife ge— 
neigten Gefichter, und wieder den früheren Ton ein- 
Ichlagend fuhr fie fort: „Da Sie nun eine geborene 
Auffin find, Durchlaucht, fo mag Ihnen das deutjche 


— 355 — 


Meib, welches vergibt und vergißt, allerdings ein Gegen 
ſtand des Spottes fein; wenn Sie ſich aber überzeugen 
werden, daß Ehre und Sieg nicht nur mit den Waffen 
germanifcher Heere zu erringen find, fondern auch mit 
jenen unfichtbaren des Geiftes, welche die Frauenhand 
führt, dann werden Sie die goldene Variation des alten 
Refrains aus vollfter Überzeugung mitfingen!“ 

„Hoffen wir. das beſte. Ich werde. mir Fünftighin 
alle Mühe geben, Baron Nennderfcheidt mehr und gründ- 
licher wie bisher zu ſtudieren!“ zudte Claudia gelungweilt 
Die Achſeln, und doc) fprühte e8 in ihrem Auge wie Triumph); 
der Großherzog aber nidte der Hofdame freundlich zu und 
gab der kleinen Debatte voll diplomatifcher Gewandtheit 
eine verföhnliche Schlußmwendung. Dann jpann er den 
Faden der Unterhaltung gejchict auf ein anderes Thema 
hinüber. Nach der Tafel zogen fich die hohen Herr- 
haften, außer Brinz Marimilian, fofort zurüd, während 
das Gefolge den Kaffee ftehend im Nebenfaal einnahm. 

Fräulein Esperance hatte fi) zu ihrem Entzüden an 
Hovenklingens Seite lavieren können. Aber Seeleute 
Haben da3 Privilegium, langweilig und bärenhaft un— 
höflich zu fein, wenn es ihnen juft in den. Sram paßt. 
Der jeltene Verkehr mit. Damen’ ift eine. unfehlbare Ent: 
Ihuldigung. Infolgedeſſen faprizierte ſich Mademoijelle 
de Gironvale darauf, den jtruppigen Pelz fo lange mit 
jeidenweicher Bürfte zu ftriegeln, bis er glatt und gefüge 
wurde. Namentlich follte es ihre Aufgabe fein, den Bar: 
baren von Anfer und Nahe ein wenig poetifch zu färben, 

23* 


— 356 — 


denn der Sinn für Iyrifche Gleichniffe und fchmachtende 
Elogen fehlte ihm vollfommen. 

„Welch eine Übung müffen Sie haben, auf Reifen 
alle Schönheiten der Natur und der Kunſt fofort mit 
Kenneraugen herauszufinden! Reifen Sie nach beftimmten 
Grundfäßen?” 

Der junge Offizier hatte gerade die Taffe an den 
Mund gehoben. Er fnurrte blog: „hm!“ 

„Ach bitte, bitte, jagen Sie mir nach welchen!” bat 
fie mit fchief geneigtem Köpfchen. 

„Höchſt einfach. Die Berge von unten, die Kirchen 
bon außen und die Wirtshäufer von innen anfehen. 
Dann ift die Sache erledigt.” 

„O Sie Unmenſch! . Und Sehenswürdigfeiten reſpek— 
tieren Sie gar nicht?” 

„Ra, wenn’3 welche gibt, jedesmal! Aber es ijt mir 
nur zweimal paffiert, einmal in Callao und einmal in 
Peking; da wurden gerade ein paar arme Sünder einen 
Kopf kürzer gemacht, . . . verdammte Schinderei das, 
namentlich in China, aber man mußte e3 doch mit an= 
jehen, der Rarität wegen. Denten Sie mal, wie der 
eine Kerl... .” 

„Fi done! . . . entfeblih ... . um Gottes Willen 
feien Sie ſtill! ich werde ohnmächtig bei ſolch gräßlichen 
Erzählungen!” Und Esperance hielt fich jehr graziös die 
Hände vor die Ohren, „erzählen Sie mir lieber von dem 
berühmten Zamatempel! Bon Sachen, die ſchön und 
ideal find!” 


„Zamatempel? Davon weiß ich nicht mehr, ... 
ich glaube, ich habe ihn garnicht gejehen; ijt ja Unfinn, 
ein Götze fieht aus wie der andere, machen egal jo!” 

und Herr von Hovenflingen ftreckte 





die Zunge heraus und jchnitt nickend eine Fratze, welche 
jegliche, jelbjt die mindeite Spur von Eitelfeit ausſchloß. 

Esperance war jehr alteriert. „Wie fann man ji) 
jo fürchterlich entftellen! Schnell von den Götzen hinweg! 
sc Habe einmal von einem Herrn der Gejandtichaft 
über einen feenhaft jchönen Sommerpalaft des Katjers in 
der Nähe von Peking ſchwärmen hören . . .“ 


— 358 — 


„Stimmt. Yuen-ming-yuen! heißt ‚jehr glänzender 
Garten‘ und wenn man binfommt? Proſte Mahlzeit, 
dann muß man durd) ein Koch in einer alten Baditein- 
mauer Triechen, und watet bis an die nie im Sumpf, 
und wenn Sie ſich hier einen Schweineftall zufammen 
reißen laffen, und ein paar alte Geſimſe und Wafchtijch- 
marmorplatten mit hinein buddeln, und obendrauf als 
Begetation ein paar Kohlköppe pflanzen, dann haben Sie 
den ganzen Kladderadatich von Yuen-ming-yuen!” 

„9, Sie machen wieder eine Mördergrube aus 
Shrem Herzen! Cie wollen nur nicht eingejtehen, wie 
Sie dort bei Mondichein und Bül-Büls geſchwärmt 
haben!” 

„Mondſchein? Der iſt fauler Zauber in ſolch netter 
Gegend. Aber ... amüſiert haben wir uns allerdings, 
lagerten uns unter den Bäumen und pafften eine ſehr 
ſtilvolle Giftnudel in die Blüten und Fächerblätter empor, 
ſozuſagen: ‚Bolldampf voraus! und dann packten wir 
das Frühftüd aus! Sehen Sie, ... . wenn ich etwas 
Kräftige in den Magen friege, verzeihe ich felbit dem 
jehr glänzenden Garten feine romantijche Verwilderung, 
und wenn id) ein Stüd Beeffteaf oder ein handfejtes 
Käſebrod zwijchen den Zähnen habe, dann kann ic) felbit 
in der Alhambra oder im Koloffeum fiten und die 
Eaffiiche Umgebung wird mir das Vergnügen nicht be⸗ 
einträchtigen!“ 

„Sie ſcheinen ja sehr viel Wert auf das Eſſen zu 
legen, Herr von Hovenklingen!“ fchmollte Fräulein von 


— 359 — 


Gironvale und ſtreckte das ſpitze Stimm noch jpißer vor. 
„Sie find wohl jelber ein halber Stoch, welcher Madame 
Davidis neben dem Schiffsfalender liegen hat?“ 

Der junge Offizier bemerkte, daß Fräulein von Speyern 
feiner Unterhaltung folgte, er feufzte tief auf. „Kochen? 
daß Gott erbarın. Auf diefem tüdijchiten Fahrwaſſer der 
Wiljenjchaft piere und gehe ich jo verdammt quer wie 
ein Kohlenſchiff auf Legerwall! Wenn nicht mal eine 
ftolze Fregatte daher gejegelt fommt, welche fich meiner 
erbarnıt und mich ins Schlepptau nimmt, laufe ich Ge— 
fahr, mein Leben lang als armer Junggeſelle vor den 
Sandwich Injeln . . . Sandwich ift nämlich ein ‚Faltes 
Butterbrot‘ — vor Anker zu liegen!‘ 

Fräulein Fides wandte das Haupt noch feitlicher, aber 
um ihre Lippen zuckte es. 

„Als Soldat müßten Sie aber eigentlich ein paar 
einfache Gerichte zu kochen verſtehen!“ ſchüttelte Esperance 
vorwurfsvoll den Kopf. „Und es iſt Pflicht der Damen, 
Sie ein wenig zu unterrichten. Soll ich Sie einmal in 
Lektion nehmen? Ich lehre Sie die ſchönſten, ſüßeſten 
Dinge zubereiten” ... ihre Augen ſchlugen ſich voll etwas 
herausfordernder Stofetterie zu ihm auf, „zum Beijpiel 
‚Mädchenaugen‘, ‚des soudirs‘, Marzivanherzen und... 
auf Berlangen auch Baisers!” 

„Pfui Deiwel!“ 

„Ah .. . fein Freund von Süßigkeiten?“ 

„Nee, mit ſolch elendem Zeug können Sie mich jagen, 
daß ich an einem Raſiermeſſer bis in den Himmel 


— 360 — 


£lettere! . . . fchmedt ja gottsjämmerlic), geradefo, als 
ob man die Zunge zum Fenſter hinausſtreckt!“ 

„Smpörend! jebt lernen Sie zur Strafe erjt recht das 
Kochen bei mir! Haben Sie Talent? Ihren Händen 
nach zu jchließen . . .” fie lachte leije auf, „müßten Sie 
vorzüglich Brot baden können! Noc nie einen Verſuch 
gemacht 2” 

„O ja, einmal habe ich meinen Kameraden etwas auf: 
getifcht, habe gefocht mit einer Gentalität und einem Erfolg, 
daß ich acht Tage lang noch ganz gejchwollen war vor 
Stolz; jebt, da Sie anfangen, fich über mich luftig zu machen, 
erlaube ich mir, zur Revanche Ihnen diefen Schredichuß in 
die Glieder zu jagen, ein Marineleutnant fann 
alles!“ 

Bon recht3 und links neigten fich die Köpfe lachend 
und laufchend näher. „Hört! hört! bitte, Farbe befennen, 
Hovenklingen, was haben Sie gekocht ?” 

Diefer warf ſich Stolz in die Bruft. „Bratwürftel! 
aber nicht etwa fo zubereitet, wie e3 bei allen gemwöhn= 
lichen Chriftenmenjchen Ufus ift, nein! fo, wie e3 mir 
felbft die beite Köchin nicht nachtut, ohne Feuer ge: 
braten!” 

„Hut abl.... hahahal ... wohl auf Ihrem Herzen, 
Hovenklingen?!“ 

Er machte ein wahrhaft verächtliches Geſicht. „Auf 
meinem Herzen? Nein, da habe ich Sie nur transportiert, 
ſo lange ſie auf Eis liegen mußten.“ 

„Bravo! gut gebrüllt Lön ! Aber bitte um dieſes 


— 361 — 


phänvmenale Nezeptl Das Rezept! ein Königreich für 
dieſes Rezept!” 

„Sa, das Nezept, meine Damen, das hat Ähnlichkeit 
mit dem Ei des Columbus; wenn man die Sache weiß, 
fieht fie folojjal einfach aus, und doch war es nur einem 
beichieden, fie zu erfinden. Alſo bitte fich folgende 
Szenerie auszumalen !” 

„Anmöglich, es iſt ausnahmsweiſe heute fein einziger 
Pinſel bier! !” | 

„Ruhe, feine Anzüglichkeiten! Reden Sie, Hovenz 
klingen!” 

„Landpartie auf die Felſen von Sanft Domingo. 
Tolles Wetter, Jagd gemacht, wilde Beitien in Sicht, 
undeutlich zu erkennen . .. da e8 aber mit dem Schwanz 
wedelt, muß es ein Hirfch fein, — ergo, — bumm — 
bumm Schnellfeuer, und ein Flägliches Yal — war nur 
der Ejel eines Mulatten geweſen. Schlagen an die Bruft, 
dann weiter hinauf. Niefiger Hunger, Frühſtück. Gießender 
Negen und um die Welt fein Teuer. Was wird mit den 
Bratwürfteln? Hovenklingen, Eluger, weisheitspoller Mann, 
fomm uns zu Hilfe! Und Hovenklingen fommt, ergreift 
Nummero 122 des Militär-Wochenblattes, taucht fie in 
eine Bortion Rum, wicelt die Würftel in die ‚rumbedecte: 
Zeitung, ſteckt dieſelbe mitteljt eines ſchwediſchen Schiefel- 
hölzchens in Brand und ... ah! Triumph und Heil 
und Segen über den Erfinder, die Würftel braten!” 

Ale Taſſen hoben fich in ftummem Salut, hinter 
Fächer und Tafchentuch lachte es hell auf, und nur Prinz 


— 362 — 


Marimilian fchüttelte den Kopf und ſagte in feiner trocknen 
Weile: „Nicht zu bejcheiden, Hovenklingen! Malen Sie 
das Bild nach vollem VBerdienfte aus, und fagen Sie 
den Damen, daß Sie an dem nämlichen Tage noch einen 
Hafen im eigenen Sped gebraten und nod) etliche Schoppen 
Fett abgefüllt haben!” 

Allgemeiner Jubel, dann jchallte abermals die Stimme 
der Fürftin Tautenjtein vernehmlich durch dag Gelächter, 
und alle horchen Hoch auf, da diefelbe das Thema 
Nennderſcheidt von neuem angeregt hatte. 

Wie mit einem Schlag waren die heiterjten Kuliffen 
wieder verjchoben, und da e8 auch Fräulein von Giron- 
vale plöglic) wagte, das junge Baar und indireft auch 
Fides von Speyern zu verfeßern, da ſchwoll die Ader 
auf Hovenklingens Stirn an, und er begann in fait be- 
leidigender Weiſe feine Nachbarin zu ingnorieren. Als 
Prinz Marimilian zu der Hofdame feiner Schwägerin 
trat, ihr mit warmem Drud die Hand zu reichen, lavierte 
fich auch der Leutnant zur See herzu, jeinen blondlocigen 
Kopf vor Fräulein von Speyern zu neigen. Sein Blid 
tauchte tief in den ihren. | 

„Die Fregate hat guten Kurs genommen, mein gnädiges 
"Fräulein, ich gratuliere dazu! Sie haben bei Tafel eine 
Rettungsboje ausgervorfen und allem Anfchein nach einen 
armen Teufel damit über Waffer gehalten !” 

Prinz Marimilian nidte mit ernſtem Geficht vor fich 
bin. „Nicht ihn allein, ſondern auch die fturmverjchlagene 
Schwalbe, welche die Flut mit ihm zugleich verfchlingen 


— 363 


wollte! Der Seemannsaberglaube aber prophezeit dem= 
jenigen, welchem jolch jchöne Tat gelungen, viel Heil 
und gute Fahrt in den heimatlichen Hafen! Da wir jee= 
fahrend Volt | | 

ein jolches 
Glück nun alle 
brauchen fünz= 
nen, jo lajjen 
Sie es ung 
wiſſen, Capi— 
tana, wenn 
Ihre Kraft 
den Dienſt 
verſagen ſoll— 
te, die beiden 
Schiffbrüchi— 
gen ganz und 
gar an Bord 
zu holen. Wir 
ſtehen zu 
Ihnen, wir 
legen rüſtig 
die Hände mit 
an und teilen 
ſowohl das Glück mit Ihnen, als auch bie Kaplafen, 
fall Baron Nennderjcheidt eine Prämie für denjenigen 
ausgejeßt hat, welcher als Schiffsladung die goldenfte 
Treue und Zreundichaft führt!” — — — — — — — -- 





— 364 — 


Am Abend desfelben Tages findet Empfang bei dem 
engliichen Geſandten ſtatt. Außer der Großherzogin, 
welche leichten Unmwohljeins halber das Zimmer hütet, 
it der Hof vollzählig erjchienen. Sereniffimus hat 
längere Zeit mit der. Gaftgeberin und deren Tochter ge: 
plaudert, hat feine Minifter und etliche Generale durch 
eine huldvolle Anſprache ausgezeichnet und begrüßt nun 
als erjte der geladenen Damen Fürftin Tautenjtein. Die 
Unterhaltung tft animiert und anhaltend; Fides von 
Speyern wendet feinen Blid von der Fleinen Gruppe. 
Die zarte Geſtalt Claudias, gekleidet in lichtgrünen 
Geidenplüfch, welcher glänzt und fpiegelt wie ein Waldfee 
im Frühling, wenn der Wind- ftellenweife darauf ſtößt, 
wiegt fich auf fpigen Atlasſchuhen vor dem hohen Herrn, 
und fie hebt die Hände bittend zu ihm empor und 
ſchmeichelt mit unmiderftehlichen Augen. 

Fides macht Prinz Marimilian beforgt darauf auf- 
merffam, und der fürftliche Navigateur nidt ihr ver- 
ſtändnisvoll zu und tritt zu den Plaudernden heran. 

„Aber, Königliche Hoheit, ich bin überzeugt, daß man 
den Mann nur bei Ihnen angeſchwärzt hat!“ verfichert 
die Fürftin voll warmen Eifer. „Wie um alles in der 
Welt fol ein fo unbedeutendes Menſchenkind wie diefer 
Stift3pfarrer revoltieren fünnen! Cr gebietet vielleicht 
über eine glänzende Suade, deren Bilderreichtum mancherlei 
Deutung zuläßt, und um welche ihn die lieben Kollegen 
und Vorgeſetzten beneiden!’ 

„Allerdings ift Eollander ein Redner von pacdenditer 





— 366 — 


Kraft und Überzeugung, aber er fchlägt über die Stränge 
und ſchwingt auf Gebiete hinüber, auf welche er nicht 
paßt. Ein Pfarrer gehört auf die Kanzel, nicht aber 
auf die Tribüne, von welcher da3 Banner de3 Partei: 
geiſtes weht.‘ 

„Mais mon Dieu ... das ilt ja fo modern! und 
warum fol eine Fülle von Geift, Wilfen und Energie 
unverwertet verfümmern, nur darum, weil ein blindes 
Schickſal den Talar darüber gejtreift hat?” 

„Beſſer e3 verfümmert, als daß es in Form von 
Steinen auf glatte Wege gejchleudert wird!” 

„Wenn man aber die fchroffen Eden folcher Steine, 
über welche ‘vorläufig noch die friedlichen Erdenpilger 
jtolpern, abjchleift und bearbeitet und in die richtige 
Faſſon bringt, geben fie das bejte Pflafter und ficherjte 
Fundament für die breite Heerjtraße, auf welcher der 
goldene Wagen des Staates rollt!” | 

„Das trifft in manchen Fällen allerdings zu‘, der 
Großherzog blickte lächelnd auf die Kleine Diplomatin 
hernieder, „und aus manchem Saulus iſt ſchon ein 
Paulus geworden! Glauben Sie aber, daß ein folcher 
Hitzkopf wie Collander, welcher in allen Dingen mit der 
rückſichtsloſeſten Schroffheit vorgeht, der fich zum An— 
führer einer Partei auffchivingt, um die Menge zu lenken 
und zu leiten, daß der fich im geringften beeinfluffen 
ließe? Hier käme e3 einzig auf die Stärfe an, wer an 
dem anderen zerjchellt, — der Stein oder der Hammer?” 

Claudia fchüttelte mit wahrem Engelslächeln das 


— 367 — 


Köpfchen. „Wer weiß, wie viel an den wahren Zügen 
des Stiftspfarrer8 modelliert, wie viel an den Gerüchten 
über fein reformatorisches Vorgehen aufgebaufcht wurde! 
Der Mann beabjichtigt ganz gewiß das allerbeite, Hat 
mit dem Eifer der Jugend anfänglich die Schranken ein 
wenig überjchritten, fich Feinde gemacht, iſt durch Oppo— 
jitton und Berleumdung gereizt und fo ſtürmiſch vor— 
gedrängt, daß ihm fein eigenes Werk nun felber über 
den Kopf zu wachſen droht. Keine Hand reicht fich ihm 
dar, ihn zu ſtützen und zurücdzuführen, im Gegenteil, da— 
durch, daß man ihn bei Eurer Königlichen Hoheit fo 
wenig gut affredierte, und Hof und Hofgelellihaft ihn 
und Sanft Brigitten vollftändig ignoriert, dadurch wird 
er erbittert und mehr und mehr in falſche Bahnen ge⸗ 
drängt.“ 

„Ich durchſchaue Sie, kleine Verfucherin! Sie wollen 
mich für den Pfarrer intereffieren !” 

„Mehr noch, Königliche Hoheit, ich möchte ‚meinen 
allergnädigften Herrn jo jehr für ihn erwärmen, daß 
nüchiten Sonntag ein paar Dnegkipagen. 1 or Sant 
Brigitten ſtehen!“ 

„Was der Taufend! Genügen zwei?” 

Claudia jubelte auf. „Gewiß, Königliche Hoheit!” 

„Sut, jo fahren Sie und Fräulein von Gironvale 
beide eitra- vor!” Der Großherzog war fichtlich guter 
Laune und lachte ſehr amüfiert auf, als die Fürstin ganz 
entgeiftert. beide bittend erhobenen Hände finfen ließ. 
Dann fuhr er ernithafter fort: „Vielleicht haben Sie 


— 368 — 


mehr Glück bei der Erbgroßherzogin, liebe Tautenftein! 
Diefelbe ift Proteftorin des Brigittenhofpital3 und wird 
nicht abgeneigt fein, Collander einmal predigen zu hören; 
ich jelber werde mich zu Ihrem Fürfprecher machen und 
hoffe, Sie werden alsdann mit meinem Eifer zufrieden 
fein!” Er wandte ſich zu der alten Prinzeſſin Karoline, 
feiner Schweſter, welche joeben, auf ihren Krückſtock gejtüßt, 
neben die Erbgroßherzogin getreten war, mit der Bitte, 
ihr die Kinder für den morgenden Nachmittag zu fchiden. 

Prinz Marimilian hörte es noch mit fichtlichem Wohl 
gefallen an, daß beide fürftliche Damen fich gern be= 
ſtimmen ließen, einem Gottesdienst in Sanft Brigitten bei- 
zuwohnen, dann trat er zu Fräulein von Speyern zurüd. 

„Auf der Bad ift alles wohl, Laterne brennt!” rappor- 
tierte er fcherzend. „Unſerm Protegsé drohte feinerlei Ge- 
fahr.” Er fah der Hofdame mit ehrlichem Blick in die 
Augen. „Sagen Sie mal, verehrtefte Baroneffe, werben 
Sie aus dem eigentümlichen Wejen der Fürftin Klug?” 

„Ich glaube fie durchſchaut zu haben!“ 

„Ah, ich bitte Sie dringend, prechen Sie ganz auf- 
richtig zu mir!” 

„Seitatten Hoheit, daß ich meiner Sache erft völlig 
fiher und von meiner Vermutung überzeugt bin!” bat 
fie mit weicher Stimme. 

„Selbſtverſtändlich. Ihr Urteil wird mir um fo inter: 
effanter fein.” Er neigte fich noch näher. „Willen Sie 
vielleicht durch Zufall, ob die Fürſtin irgend welche Be: 
ziehungen zu Collander Hat?“ 


— 369 — 


„ein. Sprach fie von ihm?” 

„In beredteften Worten und in einem Sinn, welcher 
meinen vollen Beifall hat. Eigentümlich, diefe Frau ift 
aus Widerjprüchen zufammengejeßt. Ich Habe nie irreli: 
giöfere Anfichten ausjprechen hören, als wie von ihr; fie 
behauptet, feit Jahren feine Kirche befucht zu haben, aber 
nächſten Sonntag fährt fie mit Tante Karoline und meiner 
Schwägerin nad) Sankt Brigitten. Das muß doch einen 
gewichtigen Grund haben! Dann habe ich von vielen 
Seiten gehört, fein Kavalier ſei geftern abend fo auf: 
fallend von ihr ausgezeichnet worden wie Nennderjcheidt, 
und heute mittag bei Tafel hat fie ihn geradezu moralisch 
zerhadt,; wie reimt ſich das?“ 

Fides zog die Augenbrauen finfter zuſammen. 

„Nichts iſt ſchwerer, als ein Weib zu durchfchauen, 
Hoheit, welches in jo viel Farben jchillert, wie Fürftin 
Tautenftein. Dennoch werden wir des Nätjels Löfung 
finden.” 

„Und wenn Sie e8 früher erraten wie ich, helfen Sie 
mir auf die Spur. Wir ziehen ja an einem Strang.” 

„Ehrlich gejagt, Hat mich im Leben nie etwas freu= 
diger überrafcht als diefe Tatjache!” 

Maximilian lächelte. „Bekenntniſſe einer ſchönen Seele. 
Ich war ftet3 ein wunderlicher Geſell. In den Tropen aber 
gewöhnte ich mich vollends daran, das Blendende nicht 
für das Beſte zu halten. $ch trete felbit die ſchönſte aller 
Blüten erbarmungslos in den Staub, wenn fie giftig it!” 


N.v.Cihitrutb FM. Nom. u. Nov. Hazard IL 24 


See 


XVI. 


Gott grüße dich! Kein andrer Gruß 
Gleicht dem an Innigkeit. 
Gott grüße dich! — Kein andrer Gruß 
Paßt ſo zu aller Zeit. — 

Julius Sturm. 


FU J Yäulein von Speyern war bie erfte Dame des 
d Hofes, welche den Beſuch des Freiherrn von 
w) Nennderfcheidt mit feiner jungen Gemahin er— 
widerte. Sie traf Marie Luiſe allein zu Haufe, Olivier 
hatte das milde Wetter benußt, feinen neu angefauften 
Bollblutwallad) im Stadtpark zu produzieren. 

Mit großer und berzlicher Freude wurde die Hofdame 
willkommen geheißen; wie ein Küchlein ſich inftinftiv unter 
die ſchirmenden Flügel der Glucke flüchtet, fo juchte Marie 
Luiſe ihre Zuflucht bei der hohen Yrauengeftalt, welche 
in der qualvolliten Stunde ihres Lebens ſchützend an ihre 
Geite getreten war. Und Fides bot der „ſturmverſchlagenen 
Schwalbe” auch jebt liebevoll die Hand entgegen, da die 
junge Frau ihr mit bebenden Lippen von den Schred- 
nijjen der le&ten beiden Stunden erzählte, in welchen fie 
gezwungen geweſen fei, eine Viſite nach der andern zu 
empfangen. Lauter wildfremde Menjchen und fo viele 





— 371 — 


Herren, daß fie vor Angft und Herzklopfen gar nicht 
babe jprechen fünnen! „Ach, daß Sie doch früher ge: 
fommen wären, liebe3 Fräulein von Speyern!” ſchloß fie 
mit tiefem Seufzer, „ich hätte jo viel mehr Mut gehabt, 
wenn ich es Ihnen am Geficht hätte ablefen können, ob 
ich meine Sache recht mache oder nicht!” 

„Warum nahmen Sie aber die Bejuche an, wenn Ihr 
‚Herr Gemahl nicht zugegen jein konnte, und Sie fi) — 
ganz begreiflicherweife — vor foldh ungewohnten Formen 
der Gefelligfeit ängjtigten?” 

Marie Luije neigte das Köpfchen. „Olivier wünſchte 
es, daß ich die Leute kennen lernen follte, und hätte er 
eine Ahnung davon gehabt, welch ein törichter Hafenfuß 
ich bin, jo würde er gewiß zugegen geblieben fein. Er 
fann ſich aber gar nicht vorftellen, daß jemand in einer 
Melt, darinnen er jo völlig zu Haufe ift, wie auf 
glühenden Kohlen fteht, daß es überhaupt die beiden Be- 
griffe ‚Scheu und Berlegenheit‘ gibt.’ 

Es lag eine Wolfe auf der Stirn der Hofdame, fie 
ſchloß die Hände der Sprecherin feſt in die ihren. „Arme, 
beflagenswerte Seele, welch eine harte Schule hat Ihnen 
das Schidfal beichieden! Wenn ich bedenke, wie Sie aus 
tieffter Einfamfeit, wo jedes unbekannte Geficht ein Er: 
eignis war, welches Sie in den ferniten Winkel Herfa- 
brunns zurüdfcheuchte, jo plöglich mitten hinein in das bun- 
teſte Leben verjeßt worden find, jo ift e8 mir unfaßlich, 
daß Sie fich jo wader Hineinfinden, wie Sie eg tun!” 

Die Augen der jungen Grau füllten fi) mit Tränen, 

24* 


— 372 — 


dennoch lächelte fie. „Ich glaube, e8 geht mir in dieſer 
Beziehung wie einem Menfchen, der jchwimmen lernt. 
Geht er langfam ing Waſſer, daß der Boden allmählich 
unter feinen Füßen weicht, verdoppelt fich feine Furcht 
und treibt ihn wieder und immer wieder zurüd. Stößt 
ihn herbe Hand fofort in die Tiefe, jo zwingt ihn feine 
eigene Hilffofigfeit, zu lernen und ſich dem fremden Ele: 
ment anzupafjen. Hier fann ich mich nicht verjteden 
wie in Herjabrunn, darum gehe ich all den fremden 
Menjchen entgegen.” 

„Mit fo viel feftem und klarem Willen werden Sie 
bald jo heimifch auf dem Parkett fein wie wir, die ſchon 
in den Kinderſchuhen darauf geſtanden!“ 

„Ach, daß es der gute Willen allein täte!” Marie 
Luiſe blickte fast flehend in das ernſte Antlik des Fräulein 
bon Speyern. „Mir fehlt alle Erfahrung, alle Anleitung 
und alle Übung. Ich weiß nicht, was id) zu tun umd 
zu laſſen habe, und darum verjtoße ich gewiß unzählige 
Male gegen Form und Etifette. Der Gedanke ijt aber 
jo ſchrecklich, daß fi) Olivier womöglich meiner ſchämen 
muß! Ich möchte ihn jo gern davor bewahren, fich in 
der Wahl feiner Frau lächerlich gemacht zu haben, ach 
und darum wäre ich fo unbejchreiblich glüdlich, eine 
Lehrmeilterin zu finden, welche mich offen und ehrlich auf 
all meine Fehler und Vergehen aufmerkſam macht!“ 

Die großen Grauaugen der Hofdame blicdten voll und 
feft in die ihren. „Sol ich diefe Zehrmeifterin fein, Frau 
von Nennderjcheidt ?” 


— 373 — 


Da fchlangen fich die Arme der jungen Frau plößlich 
um den Naden der Fragenden, und fie jubelte zwiſchen 
Tränen: „Nur Sie, Fräulein von Speyern, Sie ganz 
allein! Weiß ja felber nicht warum, 
aber ich habe Sie lieb wie ſonſt feine 
andere in Diefer ganzen, großen, 
fremden und 
ſchrecklichen 
Welt!“ 
Fides 
neigte ſich 
und drückte 
einen Ruß 
Mauf dieStirn 

VE diejer lieb— 
a lichen Uns 
ſchuld; über 
ihr Antlitz 
5 ging es wie 
U ein heim: 










5 TichesBeben. 
Dann hob 
| fie das 

Haupt ruhig 


und ernjt ivie zuvor. 

„Wir werden einander gut verjtehen und treue Freund- 
haft Halten, Frau Marie Luiſe“, fagte fie mit fehr 
milden Klang in der Stimme. „Und fo Gott will, er: 


— 314 — 


fämpfen wir den Sieg, welcher Ihnen zum Glüd und 
mir zum edeln Stolz gereichen wird!” 

Bon Stund an war Fides Wolff von Speyern der 
gute Geift des Nennderjcheidtichen Haufes. Ihr ruhiges 
und fichereg Weſen war der Anfer, an welchem das 
ſchwankende Lebenzfchifflein der jungen Frau jeinen feiten 
Halt fand. Schwer ward es ihr nicht, Marie Luiſe mit 
den Formen und Grundregeln des gejellichaftlichen Ber: 
fehr3 befannt und vertraut zu machen. Es gibt Frauen, 
welchen ein vornehmes Wejen angeboren ift, welche fo 
viel Takt und Zartgefühl befißen, daß fie ganz unbewußt 
einen Weg wandeln, auf welchem die Mehrzahl ihrer 
Mitichweitern erſt mühſam und Schritt für Schritt dag 
Sehen erleinen muß. Bu folch feiner Herzensbildung 
gejellte fich bei Marie Luiſe noch jene etwas fchwer: 
mütige Nejignation, welche ihrem Weſen eine unbewußte 
Würde verlieh und fie troß ihrer mädchenhaften Anmut 
weit über ihre Jahre erhob. 

Dlivier hatte mit tiefgeneigtem Haupt die Hofdame 
in feinem Haufe begrüßt und fie mit etwas unficherer 
Heiterkeit al8 gute Freundin willkommen geheißen. Er 
wich dabei aber ihrem fühlen, jo eigentümlich durchdrin- 
genden Blid aus, wie ein Kind, welches mit böfem Ge— 
wifjen vor der Mutter fteht. Er betrat auch felten die 
Salons feiner Gemahlin, wenn er Fides anweſend wußte, 
und fand ftet3 einen triftigen Grund, fich bei den Damen 
entjehuldigen, zu laſſen. Auch Graf Goſeck biß mit 
finfterem Blick die Zähne zufammen, als ihm Frau von 


— 375 — 


Nennderſcheidt leuchtenden Auges von ihrer Zuneigung 
und Verehrung für Fides ſprach. 

„Seien Sie vorſichtig“, ſagte er, mit wunderlichem 
Lächeln den Kopf ſchüttelnd. „Sie kennen Welt und 
Menſchen noch nicht. Sie gleichen dem harmloſen Kind, 
welches voll Entzüden dem weißen Arm der Wafferfrau 
entgegenjtrebt und nicht ahnt, daß nicht Liebe, ſondern 
Falſchheit dieſe Arme öffnet. Vertrauen Sie nicht blind- 
ling, laſſen Sie fich nie zu irgend welchen Entſchlüſſen 
oder Taten bewegen, ohne mit mir zuvor Rückſprache ge= 
nommen zu haben!” 

Marie Luiſe hatte zuerſt wohl erjchroden zu dem 
bleichen Antlit des Sprecher3 mit dem nervös fladernden 
Blid emporgejchaut, dann aber lächelnd den Kopf ge— 
jhüttelt. „Sie mißtrauen Fräulein von Speyern? warum? 
Iprechen Sie deutlicher.” 

Er trat an dei geöffneten Flügel und fchlug ein paar 
wirre Afforde an, dann flappte er das aufgejchlagene 
Notenbuch zu und warf es Elatjchend auf dag Inftrument, 
„Ich werde |prechen, wenn es an der Beit ift, — warum 
jol ich Ihnen — vielleicht ohne Urjache, die Freude an 
diefem Verfehr nehmen. Sch wache ja über Sie, ich zer: 
trete der Schlange das Haupt, wenn fie ftechen will.” 
Und jäh abbrechend, blickte er auf das Titelblatt der 
Noten: „Parzival? Sind Sie eine derartige Künftlerin, 
gnädige Yrau, daß Sie folche Kompofitionen fpielen?” 

Marie Luife fchüttelte eifrig dag Köpfchen. „O nein!” 
lachte fie. „Die Klavierftunden, welche mir Baronejfe 


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„A 10... ganz recht, tie ioll ja aui dem Kummer: 


vatorium auszebildet jein und ſogar ſelbſtaäͤndig kompo— 


niecen. Dar Ihnen Clioier ſchon einmal die hohe Schule 
durch Kreuze und B's vorgeritten?“ 

„Olidier iſt muſikaliſch? er ſpielt Klavier?’ die junge 
Frau zuckte emvor, das zarte Inkarnat ihrer Wangen 
färbte ſich tierer. 

(Goſeck grub ſeinen zugeſpitzten Lackſtiefel in den dick 
flockigen Teppich. „Er phantaſiert etwas, hat Talent, 
läßt es verkümmern. Ich glaube, ich bin der einzige 
Menſch, welchen er ein paarmal mit ſolchem Ohren— 
ſchmaus heimſuchte. Er haft nichts mehr, als dazu auf: 
gefordert zu werden. Wenn er jpielt, geichieht es nur, 
wenn er jehr verliebt ift, und dann ergeht er fich zumeiit 
in den Lieblingsmelodien feiner Angebeteten, Motive aus 
Flick und Flock, wenn diejelbe Balleteufe ift, und ‚Sarmen- 
oder Don AJuan-Arien‘, wenn fie zu den Primadonnas 
zählt!’ Euſtach lachte leife auf, er lag anfcheinend jehr 
behaglich in feinem Seſſel, aber fein Fuß wand Sich unter 


— 377 — 


dem feinen Ladleder, und um feine Najenflügel lag ein 
Zug fait krankhafter Neizbarkeit. 

Sie fenkte das Haupt tiefer auf ihre Wollftiderei 
nieder. „Ernſtere Muſik tultiviert er gar nicht?” 


„Nein.“ 
„Und Sie? Wie ſtehen Sie ſich mit den ſchönen 
Künſten?“ 


Sein Blick brach wie ein Wetterſtrahl durch die dunklen 
Wimpern. „Ich habe meine Studien jahrelang ver— 
nachläſſigt; wenn ich aber zur Belohnung die Erlaubnis 
erhalte, Ihnen von Zeit zu Zeit unter dem Schutz des 
Genius Luſt und Leid in Tönen kund zu tun, dann werde 
ich wieder fleißig ſein, und dann werde ich im Streben 
nach höchſtem Lohn auch etwas leiſten!“ 

„Nach höchſtem Lohn? nennen Sie meinen Dank ſo, 
welcher ſich Ihnen doch nur in ſchlichtem Lorbeerkranze 
dartun könnte?“ 

„Auch Leonore wand dem Taſſo anfänglich nur einen 
ſolch ſchlichten Kranz“, — er unterbrach ſich und ſtrich 
langſam mit der Hand über die Stirn. „Frauen geizen 
ſtets mit Huld und Lohn, der Künſtler iſt ein Narr, 
wenn er auf Almoſen wartet. Verſpräche mir Euterpe 
nicht ſelber die Palme des Sieges, würde ich mich nie 
zu der Schar ihrer Jünger geſellen!“ 

„Sie haben recht.“ Marie Luiſe blickte lebhaft empor, 
„ich denke mir, der wahre Künſtler ſchöpft aller Mühe 
und Arbeit Preis aus feinem Schaffen ſelbſt. Wer felber 
mit Engel3zungen fingt, dem wird Lob und Tadel von 


— 978, u 


Menjchenherzen gleichgültig fein, und wer mit feinen 
eigenen Händen Meilterwerfe fchafft, und fich felber eine 
Leiter von BZauberflängen in den Himmel baut, der wird 
nicht viel danach fragen, ob eine Schar von Laufchern 
die talentlofen Hände applaudierend zuſammenſchlägt!“ 
„Sie irren, gnädige Frau. Die Kunft ift bei al 
ihrem göttlichen Urjprung doch ein gar irdifch Pflänzlein. 
Anerkennung, Lob und Bewunderung find die Tautropfen, 
welche e3 frijch erhalten, und die Kritif, mit ihren fcharfen, 
erbarmungslofen Angriffen, ift das Mefjer des Gärtner, 
welches mit allen Sauerſproſſen wohl auch manch fchönen, 
gefunden Zweig hernieder fchlägt, aber dennoch nur Gutes 
bewirkt, wenn dag Pflänzlein vom echten Stamm der 
Kunſt iſt. Alle Kraft und aller Saft ſprießt nicht in un— 
gejtümen und wilden Blättlein zu Licht, fondern wird 
Blüte und Frucht, deſto jüßer und reifer, je zorniger man 
zuvor den jungen Baum gezauft und gerauft hat. Aber 
Sie haben mich doppelt mißverjtanden, Frau Marie 
Luiſe.“ Goſeck erhob ſich und trat neben fie unter die 
ſchwankenden Balmblätter im Erfer. „Ich bin nicht En- 
thufiaft und Künftler genug, mir an meinen Leiftungen 
jelber genügen zu laffen. Ich fpiele nur für Sie, und 
jpiele nur, weil Seume die goldene Verficherung gibt: 
„Muſik ift der Schlüffel zum weiblichen Herzen.” — 
Seine Stimme war zum Flüſtern herabgefunfen. Sie 
hob das Antliß; groß und Har, und dennoch voll un- 
endlicher Wehmut blidten ihn die dunflen Mugen an. 
„Sie kennen ja all mein Denken und Sein von Herzenz- 


— 379 — 


grund, Graf Gofed, kennen es aus einer Zeit, da es noch 
Sonnenfchein und Frühling darin war. Jetzt iſt's Herbit 
geworden. Alles Blühen welf und tot, warum zwiſchen 
Gräbern wandeln? Da3 wäre ein trauriger Kohn, welchen 
die heitere, wonnevolle Mufik verleihen würde, und mit 
welchem Sie fich jelber wohl am wenigiten zufrieden 
geben möchten.“ | 

Er fehüttelte faft heftig dag Haupt. „Ich will nicht 
Liebesblüten fehen, welche ein Reif getroffen, jondern Die, 
welche unter dem berbtlich gefallenen Laub die jungen 
Keime hebt.” 

„Dazu müßte erft daS Glück wiederfommen und ſolche 
Keime einſenken!“ Es bebte wie Tränen Durch ihre 
Stimme. 

Und abermals flüfterte er, tief zu ihr nieder geneigt: 
„Es it gefommen. Sie ahnen e3 nur nicht, Sie wollen 
e3 nicht ahnen. Die weißen Briefblätter, welche dort im 
Kamin verfohlt find, fielen al Samenförner in Ihr Herz, 
und fie werden ſproſſen und ranfen in jungem Hoffnung3- 
grün, und Gie felber werden ſolches Frühlingstreiben 
nicht eher gewahren, als bis Ihnen fchlieglich rotflammende 
Blütenpracht die Augen blendet!“ 

Sie hatte fich erhoben und ſtützte fich ſchwer auf den 
feinen Marmortiſch, jefundenlang ftarrte ihr Auge in die 
rote Kaminglut, als ſähe fie im Geiſt die Briefe darin 
auflodern, fi) zufammenziehend und windend wie im 
Kampf gegen das Verderben. Dann hob fie plößlich 
wie in jäher Seelenangit die gefalteten Hände. „Graf 


— 380 — 


Goſeck“, flehte fie, fo erregt, wie er fie nod) nie zuvor 
gefehen, „Sie jagen, daß Sie mein Freund find, und 
daß Sie es gut mit mir meinen, beweiſen Sie es aud). 
Sie wiffen, daß jene Briefe von mir vernichtet wurden, 
damit ich Ruhe und Trieden fände Warum Hoffnungen 
erweden, welche jich niemals erfüllen werden? Sie willen, 
daß ich nicht das Weib bin, welches Dliviers Liebe ge= 
winnen fann, vertröften Sie mich darum nicht auf Glüd 
und Maiengrün, an dejfen Auferjtehung Sie felber nicht 
glauben! Sch habe mich in mein Schiefal gefunden und 
verlange nicht mehr nach Befjerem; laſſen Sie darum jene 
Aſche im Kamin ruhen, wirbeln Sie die verfohlten Blätter 
nicht wieder auf, mit feinem Wort und feinem Gedanken, 
ich bitte Sie von Herzen darum, und id) werde Ihrer 
Freundſchaft Doppelt dankbar fein, wenn fie fich nicht 
jtet3 von neuem vergeblih müht, Balfam auf Wunden 
zu träufeln, welche ja doch nur die Zeit vernarben kann!“ 

Sprachlos ftarrte er fie an. Wollte fie ihn nicht 
verftehen, oder waren all ihre Gedanken tatfächlich nur 
bei jenem einen, welcher feinen, felbjt nicht den ſchwächſten 
Pulsſchlag von Intereſſe verdiente? Graf Goſeck Hatte 
viel die Cour gemacht im Leben, hatte die jchablonenhaften 
Phraſen von der verwelften und friſch erblühenden Liebes- 
rofe wohl ſchon in jeder Nüance angewendet; daß er nie 
zuvor aus wahrhaft edlem rauenmund eine Antwort 
darauf erhalten hatte, empfand er in diefem Augenblid. 
Nicht ernüchternd oder erfältend wirkten Marie Luiſes 
Worte, fie fielen wie Tropfen Haren Ols in die Flamme, 


— 331 — 


welche gleich wie vor einem Heiligenbild auf dem Altar 
feine3 Herzens brannte, Klein und ſchwach noch, fämpfend 
gegen den Peſthauch der Zweifelſucht, welcher fie profa- 
nieren und verlöjchen will. 

Goſeck 309 die Dargereichte Hand ftumm an die Lippen, 
und da einen Augenblid fpäter Fräulein von Speyern 
angemeldet wurde, verabjchiedete er fidh. 

Der Freiherr von Nennderjcheidt begegnete ihm auf 
der Treppe. „Linksum marjch, alter Junge!“ komman— 
dierte er lachend. „Es bläjt in einer Stunde zum Futter: 
ſchütten!“ 

„Bedaure, Olivier, ich kann heute nicht bleiben.“ 

„Schnacken!“ 

„Auf Wort, der Legationsrat und Mülich fahren um 
fünf Uhr mit dem Kurierzug nad) Wien!” 

„Laß fie fahren dahin!” 

„Ich babe verjprochen, auf dem Bahnhof zu fein!” 

„Sräßlich, ich kann doch unmöglich mit meiner Frau 
allein zu Mittag ejjen, wir langmeilen uns ja tot! Und 
du paßt gerade jo famos als Strohmann in das Spiel 
hinein: it ein jo glücdliches Verhältnis zwiſchen uns 
dreien!! Na, dann muß ich mal logziehen und jehen, ob 
ich nicht ein paar andere Kerle auftreibe! ‚Wer ißt mit?!‘ 
Apropos ... du Tommft heute abend ins Konzert? 
Loge No. 5! Bringe meiner Frau foeben das Programm!’ 

„Selbitredend. Loge No. 571” und Goſeck hob lachend 
den Finger. „Alter Sünder! Das ‚vis-A-prös‘ ift nicht 
Schlecht!” 


— 382 -- 


„Pyramus und Thisbe!!” 

„Au revoir!” 

Dlivier war jtet3 Kavalier, und obwohl er fich in 
den paar Tagen nach dem Opernhausball in faſt fieberijcher 
Erregung befand, die Nächte ruhelos durch fein Zimmer 
lief und die a Hände wie ein Najender gegen die 
Stirn drückte, ver— 
ſäumte er dennoc) 
feine einzige jener 
fleinen Galante— 
rien, welche Die 
Nitterlichfeitt im 
Dienst einer Dame 
erfordert. 

Boll faſt pein- 
| licher Fürſorge 
war er bemüht, 
feiner jungen rau 
das Leben jo ans 
genehm zu machen, 
wie nur irgend 
möglich, und da e3 der verwöhnte und lebensluftige 
Mann ſtets gewohnt war, andere Leute nach ich jelber 
zu bemejjen, und er auch Marie Luiſe zu fremd war 
und ihr zu fern ftand, um Verſtändnis für ihr Denken 
und Fühlen zu haben, jo wurden jeine Bemühungen, 
fie durch Vergnügungen zu unterhalten, eine unausjprech- 
liche Qual für fie. Dennoch erfannte Marie Luije jehr 





— 383 — 


wohl den guten Willen ihres Mannes, und fie fügte ſich 
mit geduldigem Lächeln und wandelte an feiner Seite 
den martervollen Weg, ihm zu Liebe. Auch jest behandelte 
er fie noch mit jener freundlichen Güte, mit welcher man 
mit einem Kinde verfehri; um ihr Launen oder nerböfe 
Ungeduld zu zeigen, war feine Zeit in dem jehr formellen 
und knappen Verkehr. Nur einmal wagte es Marie 
Luiſe eine Bitte auszujprechen: „Erlaube, daß ich mid, 
wie e3 fich für eine brave Hausfrau geziemt, auch um 
Wirtfchaftsangelegenheiten bekümmere!“ 

„Selbitverjtändlih, mon angel Du kannſt tun und 
lafjen, was du willſt und dich bejchäftigen ganz wie es 
dir Freude macht.” 

„Ich fürchtete, man fönnte es einer Baronin Nennder: 
jcheidt verargen, wenn fie nicht nur in den Salons, 
Sondern auch in der Küche zu Haufe iſt!“ 

Er lachte in feiner übermütigen Weife laut auf und 
jtäubte die Zigarette ab. „Sieh mal, Kind, man muß 
niemal3 danach fragen, was die Leute fagen! Was eine 
Baronin Nennderfcheidt tut, das ift immer wohlgetan, 
und wenn es noch nicht im Modejournal jteht, dann 
macht fie e8 eben zur baute nouveaute! Mit zu viel Be- 
ſcheidenheit kemmt man bier nicht durch; geht bei uns 
genau jo zu wie im Froſchteich, wer da3 Maul am 
weitelten aufreißt — sans comparaison! — und am 
lautejten quaft, der fibt oben auf und gibt den Ton an.” 
Und Dlivier lachte abermals und dehnte die Arme mit 
dem ftolz behaglichen Gefühl eines Menfchen, welcher 


— 3884 — 


tatfächlih nie nad) der Meinung der Leute gefragt 
ht. — — — — — — — — — — — — — — | 

Sm Konzerthaus wurde die achte Symphonie F-dur 
von Beethoven aufgeführt. In regungsloſem Laufchen 
verharrte das Publikum, feinen einzigen der füßen, köſt— 
lichen Klänge zu verlieren. Da klappt eine Logentür, 
helles Lachen und Sprechen Eingt mißtönend durch die 
Stille, dann werden Seffel in der für den Hof rejervierten 
Loge zur Seite gejchoben. 

Im Parterre hat eine hohe Männergeftalt an einer 
Säule gelehnt und kaum geatmet in andächtigem Ent- 
züden. Mit zufammengezogenen Augenbrauen hebt Pfarrer 
Collander das Haupt und blidt nach der Urfache der 
Störung empor. Und dann zudt er leife zujamınen, 
und ein Zächeln fliegt über fein finfteres Antlit. Droben 
in der Loge hat Fürltin Tautenftein Pla genommen und 
entfaltet den ſchwarzen Atlasfächer, auf welchem bronze- 
glikernde Vögel ſchweben. 

Dicht neben ihr, nur durch die Sammetbrüftung ge= 
trennt, lehnt Baron Nennderjcheidt ſich auf die Rampe 
und dreht aufgeregt jeinen Handſchuh um die fchlanfen 
Finger. Neben ihm fit feine junge Gemahlin, Graf 
Goſeck und weiter zurüd in der Loge Herr von Diers— 
dorff und Leutnant von Hovenklingen, ein Bla in der 
eriten Reihe iſt noch unbejeßt. 

Fürstin Tautenftein begrüßt durch ſtummes, lächelndes 
Kopfneigen die anmejenden Mitglieder der Hofgefell- 
ſchaft, dann ſchweift ihr Blick fuchend durd) das Haus 


— 385 — 


und haftet endlih. Pfarrer Collander fieht, daß ihr 
Auge auf ihm meilt, nicht wie auf einem Fremden, 
fondern wie auf einem, dejjen man fich gar wohl er- 
innert. Wie jähe Freude glühte e8 durch fein Herz. Er 
erlebt noch einmal den Augenblid, wie er an dem gejtrigen 
Sonntag auf der Kanzel ftand und feine Predigt begann 
und er Hinüberjchaute in den großherzoglichen Stuhl. 
Da grüßten ihm jene dunklen, geheimnisvollen Augen 
entgegen, die jeßt wieder auf ihn gerichtet find, in langem, 
lächelndem Schauen. Als ihm der Külter mit freude: 
zitternden Lippen verkündet hatte: „Hochwürden, foeben 
find die Prinzeſſin Karoline . . . und Ihre Königliche 
Hoheit die Erhgroßherzogin und Prinz Marimilian vor: 
gefahren!” da war es ihm allerdings geweſen, als zude 
ein feuriger Bli$ vor feinen Augen hernieder, da Hatte 
er die Hände zum Himmel gehoben. „Ich danke Dir, 
mein Herr und Gott”, aber feine Gedanfen blieben jo 
Har und fejt wie zuvor. Da er aber emporjah und 
plöglich in der Fürstin Tautenftein lächelndes Antlig blickte, 
da Hatte er das Gefühl, als müſſe er beide Hände 
über die Augen legen, um feiner Gedanken Herr zu 
bleiben. | 

Die Mufit ſchwieg. Claudia wandte dag Köpfchen 
zurüd, um der Hofmarfchallin und den beiden Hofdamen 
der Großherzogin, welche jpäter eingetreten waren, zu= 
zuniden und Prinz Maximilian, welcher mit ihr zu gleicher 
Zeit gefommen, ein paar Worte über diefe jo mords— 
langweilige Mufif zu jagen; dann kehrte fie fich nach der 


N.v. Eſch ſtruth, AU. Nom. u. Nov, Hazard II. 25 


— 3986 — 


Nebenloge, um Herm von Nennderjcheidt endlich eines 
direkten Blickes zu würdigen. 

Prinz Marimilian trat Hinter ihren Sefjel und reichte 
Dlivier die Hand, nickte Hovenklingen mit verjtändnig- 
vollem Gruße zu und unterhielt fich alsdann jehr an— 
gelegentlich mit Fräulein von Speyern, welche ebenfalls 
in der Nennderjcheidtichen Loge Pla genommen hatte. 
Obwohl Marie Luiſe noch nicht bei Hofe präfentiert war, 
wechfelte der Prinz dennoch einen lächelnden Blick und 
jehr liebenswürdigen Gruß mit ihr, mit langen Blid das 
zarte Gelichtchen umfaſſend, welches fich mit freude- 
glänzendem Blid zu ihm erhob. 

Währenddefjen wogte der Fächer in Claudia Händen, 
und Dlivier neigte fi) mit heißer Stirn näher. 

„Und Sie zürnen mir nicht, Durchlaucht, daß fich mit 
jenen Roſen all meine purpurfarbenen Gedanken und all 
mein Hoffen und mein Sehnen zu Ihren Füßen nieder: 
jtürzte 2” 

„Die Roſen trugen fehr viel Dornen.” — 

„St liebt, und darum quält er dich!” rezitierte er 
mit gedämpfter Stimme. 

„Und außerdem hätte ich Shnen mehr Geſchmack zu— 
getraut!” 

„Zeihen Sie mich meiner Schuld.” 

Claudia lehnte fich tiefer in den Seſſel zurüd, ohne 
den Blid von ihm zu wenden. „Eine lila Zimmerein— 
richtung mit roten Nofen zu verunglimpfen, ift zum min 
deften barbartich.” 


— BIT u 


„Sorgen Sie dafür, daß ich Ihre Salons kennen lerne, 
und ich werde alle Schuld fühnen.” Er ftrich langjam 
jeinen blonden Schnurrbart, das breite Armband, eine 
goldene Kandare, Wahrzeichen der erhetoauern ſchob 
ſich unter der Man— * 
ſchette vor und blitzte 
auf. Als ſie nicht 
gleich antwortete, ſon— 
dern nur etwas brüsk 
den Fächer hinwarf, 
und ſtatt ſeiner einen 
Strauß Maiglocken 
und Roſen von der 

Sammetbrüſtung 
nahm, fuhr er lachend 
fort: „Da haben Sie 
mich wohl aus Zorn 
über meine Geſchmack— 
lofigfeit gejtern mittag 
jo arg bei der Tafel ——— 
Oder war die erbarmungsloſe Kon— 
duite, welche Sie mir ausſtellten, 
nur eine Oppoſition gegen die all— 
gemeine Anſicht, daß ich ein ſehr 
netter, ſchneidiger Kerl bin, der 
brillant voltigiert, ſelbſt über Ab— 
gründe hinweg, welche ich ſelber 
zuvor mutwillig aufreiße, und über 


—⸗— 


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— 388 — 


Schranken hinüber, welche ich felber aus goldenen Ringen 
gejchiniedet habe?” 

Sein Auge brannte, es lag ein ungejtümer, leidenz 
Ichaftlicher Klang in feiner Stimme. 

Das Orceiter feßte zur Duvertüre zu dem „Prophet“ 
ein; Claudia neigte fich näher, fie atmete tief auf und ſah 
dem jchönen Mann an ihrer Seite mit eigentümlich blien- 
dem Blick in das Antlitz. „Und wenn ich aus Über- 
zeugung geredet hätte?’ fpüttelte fie in ihrer anmutigen 
Weiſe. „Ich werde Ihnen einmal ein Rätſel aufgeben!” 

‚„Berichleiern Sie ſich zuvor, daß ich mein bißchen 
Berftand jammeln kann!“ 

„Welch ein Unterjchied ift zwiichen der Maria Stuart 
und Ihnen?“ 

„Bless me! ein rieſiger!!“ 

„Durchaus nicht!” Ihre langen Wimpern malten 
dunkle Schatten auf den Wangen, nachdenklich lehnte fie 
das goldſchimmernde Köpfchen zurüd. „Die Maria Stuart 
war beſſer als ihr Auf, und bei Ihnen?“ 

„Iſt der Auf befjer wie ich?” Er lachte gedämpft 
auf. „Wollen Sie mich glauben machen, daß Cie das 
tadelnswert finden ?” 

Auch ſie lachte, dann hielt fie die Muigloden dicht 
an die Rippen, daß ihr ſüßer Duft zu Olivier empor— 
wehte, und ſah mit zündendem Blick Durch die Blüten zu 
ihm auf. „Erraten! Gute Menjchen find langmeilig. 
Da ich aljo nicht aus Schikane gegen Sie demonitrierte, 
muß ich ein anderes Motiv gehabt haben; welches?‘ 


— 3839 — 


„Nehmen Sie die Blumen weg, fonft werde ich vor 
aller Welt zum Raubritter!“ 

Sie verharrte unverändert, nur hujchte ihr Blid nad 
dem Saal hinab. „Ich frage Sie, welches Motiv?” 

„Das Grübeln über die Frage hat mich fast verrüdt 
gemacht! Was tat ich, daß du fo mir zürnft?” 

Da lächelte fie ihn Hinter dem Blumenjtrauß an, daß 
ihm das Blut fiedend in die Schläfen ſchoß. „Zweifelten 
Sie an mir? O Sie Kurzfichtiger! Wie könnte ich mir 
bon Ihnen die Sour machen laffen, wenn ich den Leuten 
verficherte: ‚Sch finde ihn bezaubernd?l“ Sch habe offiziell 
eine ſehr jchlechte Meinung von Ihnen, und nur auf 
allerhöchften Wunſch befchäftige ich mich mit Ihnen mehr 
wie mit andern Kavalieren, um eine gute Meinung zu 
befommen! Leuchtet Ihnen das ein?‘ 

„Durchlaucht — —“ 

„Man lebt mit der öffentlichen Meinung ſtets im 
Kampf, muß alſo hie und da kleine Kriegsliſten in An— 
wendung bringen, Sie ſind mein Aliierter, aber tragen 
Sie meine Farben vorläufig noch auf dem Herzen und 
nicht auf dem Helm!“ Und ohne ſeine Antwort ab— 
zuwarten, wandte ſie ſich mit dem gleichgültigſten Geſicht 
von der Welt zu Prinz Marimilian, welcher an ihrer 
Seite Plab genommen hatte, und erzählte ihm, daß Die 
Erbgroßherzogin die entzüdende Idee gehabt habe, den 
GStiftspfarrer von Sankt Brigitten für morgen vormittag 
zu einer Audienz zu bejehlen, um fich über das Hojpital 
berichten zu lafjen. 


— 390 — 


„Sie fprachen fich gar nicht über feine gejtrige Predigt 
aus, Hoheit?” | 

Der Prinz zudte die Achfeln. „Sch bin fchiwerfällig 
in meinem Urteil, aber der erſte Eindrud ift ein jehr 
maßgebender, und derjelbe war gut.” 

„Bortrefflicher Redner, köſtliche Suade. ch begreife, 
daß fich die Menfchen wie toll und blind für ihn be— 
geiſtern. Ich fagte geftern fchon Seiner Königlichen 
Hoheit dem Großherzog, der Dann erinnert mi an 
einen KRönigstiger; duldet er’3, daß man ihm Feſſeln an— 
legt, kann er zur Bierde und Bewunderung des fried- 
lichen Bürgerftante® werden; beugt er jeinen wilden 
Naden aber nicht und ftrebt in eigene Bahnen — —“ 

„Dann?“ 

Claudia biß in grauſamem Spiel in ein Roſenblatt, 
ſo daß ſich die ſcharfen Zähnchen auf ſeinem Purpur— 
ſammet in zierlichen Tüpfchen abdrückten. „Dann? Nun 
ich denke, dann wiederholt ſich auch ſinnbildlich jener 
Kampf, von welchem ſo viele Kinderfabeln reden, und 
welcher damit endet, daß König Nobel die gewaltige 
Tatze hebt und dem Tiger ins Gedächtnis ruft, daß es 
ein übel Ding iſt, auf dem Gebiet eines Mächtigeren zu 
jagen!“ 

Und Fürſtin Tautenſtein blickte wieder hinab in den 
Saal und lächelt wie der kleine Engel am Plafond 
droben, welcher begehrlich die Händchen nach einem Stern 
ausgeſtreckt, — ihn noch höher zu heben oder ihn herab 
zu reißen? Man weiß es nicht. 


— 31 — 


Nennderjcheidt3 Auge, welches nicht von ihrem Antlit 
wich, folgte dem Blid und traf Collander. Wie ein 
ichneller Schatten zog e8 über feine Stirn. 

Als die Symphonie beendet war, hatte fich Goſeck zu 
Marie Quife gewandt: „Wie gefällt Ihnen eine derartig 
klaſſiſche Kompoſition?“ 

Sie neigte nachdenklich das Köpfchen. „Ich verſtehe 
zu wenig von der Muſik, um ihre Schönheiten voll zu 
erfaſſen, und kenne die großen Meiſter auch zu wenig, 
um mich durch ihre Namen beeinfluſſen zu laſſen. Ich 
ſtehe jeglichem Werk völlig fremd und unparteiiſch gegen— 
über und laſſe die Macht der Klänge auf mich wirken. 
Was man ſoeben gefpielt hat, war zu wirr, zu unüber— 
ſichtlich und zu gewaltig für mein ſchwaches Verſtändnis, 
um mich darin zurecht zu finden; ich begreife es nicht, 
aber ich habe das unbewußte Gefühl, daß es etwas gar 
Herrliches und Großes war, etwa dasſelbe Gefühl, als 
wenn ich in eine Kirche trete. Ich kann nicht mit einem 
Blick die mächtigen Hallen, die koſtbaren Skulpturen, die 
Bildwerke und majeſtätiſchen Säulen umfaſſen, aber ich 
weiß, daß ich auf heiligem Boden ſtehe, und daß alles, 
was mich umgibt, durch höchſte Vollendung geweiht iſt, 
wenn ich auch nicht ſagen kann, worin die Kunſt und 
Schönheit liegt. So kann ich auch nicht jene Symphonie mit 
dem Ohr des Muſikers zergliedern, aber ich habe das 
Bewußtſein, eine unſterbliche Schöpfung zu hören.“ 

Schlicht und einfach ſagte ſie's, mit jenem lieben 
Kinderblick, aus welchem dennoch der Geiſtesreich— 


— 392 — 


tum ftrahlte, wie leuchtende Goldadern in dunklem 
Schadt. 

Goſecks Antlitz hatte fich belebt, er neigte fich näher. 
„So ähnlich war auch Ihre Anficht über Kirchenmufif. 
Es ijt mir unvergeglic), wie Sie befannten: „Das Haus 
Gottes ftimmt mich demütig und andächtig, aber erſt die 
Mufif darin macht mich Fromm.’ 

„Und Sie antworteten: ‚Der Prüfftein wahrer Liebe 
deucht mir der Wunfch, mit der Herzlieben die Hände zu 
falten und zu beten. Aller Liebe Urfprung kommt von 
droben, und je mehr fie ung zum Himmel hebt und je 
unbewußter die Sehnfucht ift, fie mit dem Göttlichen zu 
verjchmelzen, deſto wahrer und echter ift fie!” 

Ihre Wangen glühten auf, wie verklärt fchaute fie in 
das Antlitz des Grafen, welcher mit leife zitternden Lippen 
haſtig weiter flüjterte: 

„And e8 wurden Pläne gejchmiedet, im Sommer al3 
Mann und Weib nach Herſabrunn zurüd zu kehren, um 
als Inbegriff aller Glüdfeligfeit in die Kleine Wald- 
fapelle. zu wandeln, in welcher die Sonnenftrahlen als 
Altarkerzen leuchten, und die Vöglein das Hochamt 
halten —“ 

„Und nad) dein See hinaus, auf welchen gelbe Lilien 
blühen, und das breite Schilf flüſtert —“ 

„And über welchen die Glodenflänge ziehen und Dir 
ins Herz läuten! ‚Wie Habe ich dich jo lieb, Marie 
Luiſe!“ 

Da gleitet der Fächer aus ihren Händen und ſchlägt 


ze I 


hart auf. Wie ein Zuden und Beben ift e8 plötzlich 
durch die fchlanfe Geftalt der jungen Frau gegangen; 
bis in die Lippen hinein erbleichend, ftarrt fie den Mann 
an, welcher fie weit, weit fortge= 
führt hat mit ihren Gedanken, in W 
ein verloren Paradies, und wel— Ä r 
cher ihr in das Auge ſchaut ... '' IB% 
! 
F 






jo anders wie fonft... jo uner— 
flärlic) anders. — 

Er hat ſich geneigt, 
den Fächer aufzuheben. 
„Wir hatten ung verirrt, 
gnädige Frau“, murs 
melteerdurch die Zähne. 
„In der Waldfapelle 
liegt Schnee, und Die 
Glocken klingen nicht 
mehr für ſolche, deren 
Herz gebrochen iſt.“ 

Wie ein Schwindel brauſte es durch ihren Sinn. Da 
legte ſich eine Hand auf ihre Schulter und eine Stimme 
traf ihr Ohr, ſo klar und voll, wie das Morgenläuten 
auf dem See: „Grüß Gott, Marie Luiſel“ 

Fides von Speyern. — — 


XIII 


In einem kriftallnen Wafferpalaft 

Iſt plötlich verzaubert der Ritter, 

Er ftaunt, und die Augen erblinden ihm faft 

Bon alle dem Glanz und Geflitter. 

Doch hält ihn die Nire umgarnet gar traut, „. 
Heine 


Die Schneeflocen 
feierten Karneval. Cie 
waren noch nie jo toll 
und übermütig durch Die 
Luft gewirbelt, hatten 
noch nie jo phantaftijche 
Tänze aufgeführt, als 
wie in diefer Stunde, wo 
der Stiftpfarrer von 
Sankt Brigitten in feinen 
Mantel gehüllt durch fie 
hinfchritt. Ste gaben ihm 
das Seleit durch den men= 
ichenleeren Park, in welchem der Wind leife Elingend durch 
die ſtarren Zweige ſtrich, und fie warfen fich wie unge— 





— 9395 — 


ſtüme Grüße an feine Bruft und glißerten durch den 
dunfelbraunen Bollbart, welcher da3 geijtvolle Antlitz 
mit weichen Wellen umrahmte. 

Sonft hatte er jtet3 eine herzliche Sreude an folchem 

Geftöber gehabt, hatte die Kleinen Flocken mit dem Blick 
verfolgt, wie fie fich Hin und ber jagten und ihm den 
dunfeln Mantel mit Silberfternchen ftieten; heute ſenkte 
er das Haupt wie in tiefen Gedanken, und fchritt jogar 
quer über die fammetweichen Rafenflächen, um ein Stüdlein 
Weges zu profitieren. 
Unter der glasverdedten Auffahrt des Erbprinzlichen 
Palais blieb er endlich ftehen, den Schnee von fich ab: 
zufhütteln, und trat aladann an dem Huiffier mit dem 
dreieckigen Hut und der rotfarbenen Schärpe über reicher 
Livree, welcher vol ftummer Höflichkeit die Tür aufriß, 
vorüber in die warme, hochgewölbte Flurhalle. 

Breite Gobelins dedten die Wände, unter langgejchlißten 
Palmmedeln plätjcherte ein Fleiner Springbrunnen, und 
rechts und links wanden fich gußeiferne, teppichbelegte 
Treppen zwijchen dunfeln Porphyrſäulen empor. 
Zwei Lakaien fprangen von dem altdeutfchen Tiſch, 
auf deffen Kante fie ſchwatzend gejeffen, auf und glitten 
fragenden Blicks näher. 

„Ich bin für ein Uhr zur Audienz befohlen, wohin 
habe ich mich zu wenden?” | 

„Sehr wohl, Hochehrwürden! Wollen der Herr Pfarrer 
fi) zuvor einschreiben? Die Bücher der Herrjchaften 
liegen im Nebenzimmer offen!” 


— 396 — 


„Man jchreibt fich jedesmal vor einer Audienz 
ein 2 

Der eine Galonierte zucte die Achjeln, fein Kollege 
jedoch neigte dienfteifrig das Haupt: „Faſt ausnahmslos; 
Hochehrwürden find zu der rau Erbgroßherzogin be= 
johlen? Dann bitte mir zu folgen!” und er ſchlug die 
Portiere zurüd und fchritt auf lautlofen Sohlen in ein 
kleines Seitenfabinett. 

Während Collander fchrieb, lehnte er fich gegen den 
mächtigen grünen Kachelofen, welcher eine Kleine Smitation 
dDesjenigen im Artushof in Danzig ſchien, und rückte mit 
dem Fuß die Poſtakifelle zurecht, welche Fußboden und 
Holzſeſſel bededten. Der Pfarrer wechjelte die Handſchuh, 
ftrih den Eylinder glatt und folgte alsdann dem führen: 
den Galonierten. 

Es iſt eine ganz eigenartige Luft, welche durch Fürften: 
ichlöffer weht. Feierliche Ruhe trägt fie auf den Schwin— 
gen, und der zarte Dufthauch, welcher fie balfamiert, 
legt ſich wie ein feiner, ganz feiner Nebel über die Sinne 
derjenigen, welche fie zum erftenmal atmen. 

Ein Kammerdiener ftand droben an der Treppe. „Die 
Frau Erbgroßherzogin haben ſoeben erjt den Herrn Baus 
meifter Dr. Siebert, welcher die Pläne für die Neubauten 
von Charlottenruh bringt, empfangen. Da Königliche 
Hoheit ſich fehr für dieſe Entwürfe interejjieren, wird 
die Befichtigung etliche Zeit wohl in Anfpruch nehmen, 
und läßt Hochdiefelbe den Herrn Pfarrer erjuchen, doch 
einen Augenblid zu verweilen!’ 


— 997 — 


Collander veıneigte fich zujtimmend und betrat durd) 
eine Schmale Galerie einen der Empfangsſalons. 

„Bitte Pla zu nehmen! dort an dem Tiſch finden 
Hochehrwürden auch Lektüre!” 

Der Stiftspfarrer von Sankt Brigitten dankte, und 
die Tür rollte leife Hinter ihm zu. 

Einen Augenblid legte er die Hand über die Augen, 
dann fchaute er um fi. Welch eine ruhige gediegene 
Pracht ringsum. Zwiſchen den breiten Goldleiften der 
Wände die Gemälde fürjtlicher Ahnen, in DOrdenstracht 
und Hermelinmantel, hoheitsvolle, wohlbefannte Helden- 
häupter aus der vaterländiichen Geſchichte. Bon der 
Dede gligern Bronzegehänge, mit roten Wachslichtern 
beitect, ein Pfau breitet vor dem Kamin fein metall- 
ſchimmerndes Federrad aus, und ziwijchen den ſchwellen— 
den Sammetpoljtern, welche in altertümlich barode Formen 
gedrängt find, erheben ſich Säulen, Büften und Vaſen. 
Eine kleine Stramindede mit jehr einfacher, nicht allzu 
affurater Stiderei fällt dem Beichauer auf. Er tritt 
näher an das Tijchchen heran. „Meiner lieben Mutter, 
von Eliſabeth Charlotte Weihnachten 1886 — ift 
mit roter Seide in das mitteljte Medaillon gejtidt. Eine 
Arbeit der Kleinen PBrinzeffin! Es ift Collander zumute, 
als müffe er vor Rührung und Überrajchung zärtlich mit 
der Hand über all die Stihe und Kreuzchen jtreichen. 

Wie der Schneefturm wirbelt! Wie die Parfbäume 
draußen fich winden und neigen, und mit den fahlen Zweigen 
faft gegen die hohen Spiegelfcheiben fchlagen. Im Kamin 


— 3898 — 


fauft und faucht es, und die Echutten im Zimmer vers 
dunkeln ſich. | 

Es iſt wie ein Traum. 

Die Tür hinter ihm wich leife Inarrend zurüd, und 
Collander, welcher juft einen Prachtband: „Georg Ebers, 
Egypten in Wort und Bild“, auffchlagen wollte, wandte 
das Haupt. Jählings klappte der ſchwere, goldgepreßte 
Buchdeckel hernieder. 

Zwiſchen den Portieren ſtand Fürſtin Tautenſtein 
und trat dem Stiftspfarrer von Sankt Brigitten mit 
ihrem langfamen, etwas müden Schritt entgegen. 

Schwarzer Sammet fchleppte mit weichen, pelzver- 
brämten Saume lang hinter ihr her, die zierliche Figur 
in düſterer Majejtät empor wachlen laffend; ein kronen— 
artiger Kamm von Topafen funfelte in dem lichten Haar. 
Sie lächelte Collander zu, wie einem Altbefannten, und 
da er ſich überhaftig vor ihr verneigte, und dunkle Glut 
ihm in Wangen und Cchläfen fchoß, neigte fie das Köpfchen 
in faum merflihem Gruß und mufterte dabei feine ftatt- 
lihe Erſcheinung von oben bis unten. 

„Ich wußte, daß Sie hier find, Herr Pfarrer, und 
bin in der Hoffnung gefommen, Sie zu jehen!” 

„Durchlaucht find unendlich gnädig ...“ 

„Durchaus nicht, nur neugierig. Sie Hatten das 
Unglüd, mic) von dem Augenblid an zu intereffieren, als 
Sie fich auf dem Dpernhausball meiner Lorgnette aus— 
legten.” Sie ließ fi) auf dem Diwan nieder und ges 
Itattete ihm durch eine Heine, nachläffige Gejte, an ihrer 


— 39 — 


Seite Pla zu nehmen. „Sie müfjen fich demzufolge einer 
Weiberlaune fügen und mir jet Rede und Antwort 
ſtehen!“ 

„Wenn Durchlaucht eine ſolch beneidenswerte Aus— 
zeichnung Unglück nennen, möchte mir zum erſtenmal der 
Wunſch kommen, zeitlebens ein unglücklicher Menſch zu 
ſein!“ ſtotterte Collander, der redegewandte Mann, vor 
deſſen Ohren es in dieſem Augenblick ſauſte und brauſte 
wie Meeresbrandung, und dem durchaus keine beſſere 
Antwort einfallen wollte. 

„Sie ſind zu der Erbgroßherzogin befohlen, wiſſen 
Sie auch, wem Sie das zu verdanken haben?“ 

Sein Blick leuchtete auf. „Ich wage es kaum zu 
vermuten!“ 

„Das würde ich bedauern. Ich hielt Sie für einen 
der tollkühnſten Wagehälſe, der weder Scheu noch Furcht 
und Schranke kennt. Und weil ſolche Menſchen mir un— 
gemein ſympathiſch ſind, ſtellte ich mich an Ihre Seite 
und ward Ihr Anwalt! Danken Sie es mir?“ — 

Er preßte die Hände gegen die Bruſt. „Wenn einer 
ſich hinauswagt auf die hohe See, nichts unter den 
Füßen als die beiden morſchen Planken Mut und Zus 
verficht‘, welche ein einziger Schickſalsſchlag zermalmen 
fann, nichts in Händen als das Steuer ‚Öottvertrauen‘, 
welches erſt geprüft werden fol, ob es fich als treu und 
feft bewähre, und nichts zu Häupten als ein Himmelreich 
von Glauben und Hoffnung, über welches jeder Sturm 
feine Wolfen treiben kann, dann ift’3 ein Mann, welcher 


— 400 — 


aus eigener Kraft durch Nacht zum Licht gelangen will, 
ein Mann, der furchtlos wagt, um zu gewinnen. Und 
dennoch iſt der heldenhaftefte nur ein ſchwacher Menich. 
Wenn der Sturm fommt und die Wogen wilder braujen 
und fein Sonnenftrahl den Kämpfer trifft, dann blidt er 
dennoch zum Strand zurüd, ob er wahrlich ganz ver= 
lafjen fei. Nicht Hilfe verlangt er, denn er will allein 
ang Hiel, aber zwei weiche, zarte Srauenhände möchte er 
fehen, welche fi) im Gebet für ihn falten, und zwei 
Augen, welche gleich Sternen durch die Finfternig leuchten: 
„Bir verjtehen dein Ringen und Wagen, und wir wachen 
iiber Dich!” 

Mit wachjender Erregung hatte Collander gejprochen, 
wie ein frifcher Quftzug war’3 gefommen und hatte die 
Nebel der Bejangenheit zerftreut. Und dann fah er 
plöglich ein feines, wunderliches Zuden um ihre Lippen 
gehen, und der Duft füßer Narziffen wehte zu ihm empor 
und ſpann zarte Schleier, Dichter und blendender denn 
aller Nebel zuvor. 

„ie ideal Sie Zhren Beruf auffaffen!” Tachte fie 
leife, „und wie der Redner von Sankt Brigitten fich mit 
Sphärenklängen in dag Frauenohr zu jchmeicheln ver— 
fteht! Juſt fo, als ob er auf der Kanzel ftünde, um 
durch fein bilderreiches Evangelium des Volkes Herz im 
Sturm zu nehmen! hr Gleichnis war fehr jchön, beiter 
Herr Pfarrer, wiewohl ich mit gefalteten Händen 
eine Parodie auf mich felber abgeben würde. Wir find 
ja jet ganz unter uns, reden wir aljo ganz ehrlich zu— 


— 401 — 


fammen, fo nüchtern und projaijch, wie num einmal alles 
auf der Welt, wenn fein phantajtisches Märchen darum 
gehängt wird!” 

Er ftarrte fie betroffen an. „Ich verjtehe nicht, Durch- 
laucht ...“ 

Sie löſte die beiden köſt— 
lichen Marechal-Nilroſen von 
der Bruſt und hob ſie lächelnd 








an die Lippen empor, ihr Auge aber blitzte ihn halb ſchel— 
miſch, halb herausfordernd an. „Mon dieu, Sie wollen 
mich doch nicht etwa glauben machen, all die ſchönen Dinge, 
welche Sie mit noch ſchöneren Worten predigen, all Ihr 
heiliger Zorn über die verderbte Welt und Ihre große 
Begeiſterung für das ‚große Vielleicht‘ des Jenſeits 
fei Ihre Überzeugung?” Und fie lachte a und 


N. v. Eſchſtruth, IU. Nom. u. Nov., Hazard II. 


— 402 — 


ſchüttelte vertraulich das Köpfchen. „Mir gegenüber 
fönnen Sie getroft die Maske fallen laſſen, ich gehöre 
nicht zu der fentimentalen Menge, welche auf Erbfen 
kniet!“ 

Faſt beſtürzt blickte er auf, und dennoch völlig be— 
fangen von dem beſtrickenden Zauber dieſes eigenartigen 
Weſens. „Sie hielten mich für einen Mann, welcher ſich 
auf einen Vulkan ſtellt, nur um die Menſchheit mit wohl: 
tönenden Worten zu überjchreien, und Sie famen dennoch) 
zu mir in die Kirche?” 

„Um Shrer Perjönlichkeit, nicht um Ihrer Predigt 
willen!“ 

„Und Sie gingen, um nichts in Ihrer Meinung über 
mich gebeſſert, wieder von dannen?“ Er atmete ſchwer 
auf, ihre letzten Worte hatten ihm wieder eine jähe 
Blutwelle in die Schläfen getrieben; ſie erſtickte die 
Worte, welche ſich ihm heftig auf die Lippen drängen 
wollten. 

„Meine Meinung über Sie war immer gut und er— 
höht ſich noch von Minute zu Minute“, ſagte ſie leiſe 
über die duftigen Blüten hinweg. „Ich hielt Sie ſtets 
für einen geiſtreichen, in jeder Weiſe gefährlichen Mann, 
und jetzt bin ich überzeugt, daß Sie auch ein recht ge— 
ſchickter Diplomat find, welcher feine Ausnahme von der 
Negel macht und fi) von niemand in die Karten. jehen 
läßt. Sie haben auch ganz recht. Für das Volk und 
die große Menge ift ein religiöfer Kultus unerläßlich, 
und je ftraffer die Zügel angefpannt werden, deſto braver 


— 403 — 


marfchiert alles in Neih und Glied. Ich bin dem großen 
Reformator Luther abjolut nicht dankbar für dag Licht 
der Aufklärung, welches er der Welt angezündet hat. 
Damal3 war e8 vielleicht eine wohltuende Leuchte, jebt 
it’3 zur wüſten Feuerlohe angewachjen, aus welcher dus 
Dynamit wie drohend Wetterleuchten zuckt.“ 

Collander 309g die Augenbrauen zujammen. „Sie 
find Katholifin, Durchlaucht 2 

Sie lachte herb auf. „Ich war es.“ 

„Mad find protejtantifch geworden?” Wie ein Jubel— 
ruf klang es don feinen Lippen. 

Da fchüttelte fie das Köpfchen, daß die Topafe im 
Haar hell aufbligten. — „Nein. — 

Entgeijtert wich er and, „Was glauben Cie 
ſonſt?“ 

Langſam neigte ſie ſich ihm zu, ſo nahe, daß die gol— 
digen Löckchen dicht vor ſeinen Augen zitterten. Wie 
eine ſchwarze, unheimliche Flut wogte die Sammetjchleppe, 
in tiefem Schatten liegend, vor feinen Füßen, und Die 
dunklen Augen trafen in langem Blic die jeinen, faszi— 
nierend, voll düjterer Glut. „Sch bete an die Macht der 
Kiebe, feinen anderen Gott. Sch bin ein echtes Kind 
unjerer aufgeflärten Zeit, frei an Leib. und Seele, frei 
von allem Ballaft, welcher den Geift im Staube hält. 
Wie das gekommen ift? Keinem Menjchen habe ich es 
anvertraut, Ihnen aber will ich e8 erzählen, wein Sie's 
hören wollen. ’3 ift ein und derjelbe Tropfen Weisheit, 
welcher Hinter unfer beider Stirne gärt, der Tropfen 

26*.. 


der Erfenntnis, welcher über konventionelle Ammenmärchen 
hinweg in neue Bahnen drängt. Suchen Sie mich im 
Schloſſe auf, wir wollen des näheren darüber plaus 
dern!” Und fie erhob fich und reichte ihm die Hand 
entgegen. J 

Klein und weich und fühl war fie, und Collander 
neigte ſich wie betäubt darauf nieder, fie zu füllen. 
„Durchlaucht gejtatten, daß ich von diefer Erlaubnis Ge— 
brauch mache”, jtammelte er, und dann fah er nod), 
wie fie ihm lächelnd zunidte, wie fie lautlos, gleich 
einem Schatten über die weichen Teppiche ſchwebte und 
die golddurchwirften Wortieren Hinter ihr zuſammen— 
rauſchten. | 

Wie ein Geblendeter ftand er und ftarrte ihr nad) 
und bob die Hände und drüdte fie gegen die Stirn. 
Minutenlang wirbelten die Gedanken hinter derjelben wie 
die Schneefloden im Sturmwind draußen. Dann hob 
ein tiefer Atemzug die Bruft. „Unglüdliches Weib, daß 
ic) dir helfen, daß ich der Gottesbote werden könnte, 
welcher deine fchöne Stirn mit der Palme des Friedens 
rührt, welcher dem Himmelreich feinen lichtejten Seraph 
zurüdjchenft!” Die beiden gelben Roſen lagen vergefjen 
auf dem Diwan. Gollander neigte fich haftig, fie auf- 
zunehmen und preßte feine brennenden Augen auf die 
Blättchen, welche ſoeben noch ihre Lippen berührt hatten. 
Wie Schauer bebte e8 durch feine Seele. Dann richtete 
er fi) hoch auf und barg die Blüten auf feiner Bruft. 
‚sch werde fie meiner Martha mitbringen und ihr von 


— 405 — 


der fchönen, wunderjamen Frau erzählen, welche fie am 
Herzen getragen! Habe ich ihr doch ſowieſo verfprochen, 
gleich) zu ihr zu fommen, um zu berichten, wie es im 
Fürſtenſchloſſe ausſchaut!“ 

Sonſt weilten Collauders Gedanken nirgends lieber 
als bei ſeiner Braut, heute verſchwamm Marthas Bild 
wie etwas ganz Fernes, ganz Weſenloſes zwiſchen all 
den neuen Eindrücken, welche blendend ſchön an ſeinem 
Auge vorüberzogen. 

Er ſchrak zuſammen, als der Lakai meldete, daß Ihre 
Königliche Hoheit die Frau Erbgroßherzogin den Herrn 
Stiftspfarrer erwarte. 

Während der Audienz hatte Collander etwas auf- 
fallend Berwirrtes und Benommenes in feinem ganzen 
Weſen, was die hohe rau wohl bei dem wortgewandten 
und geiftvollen Mann befremdete, was aber keineswegs 
ungnädig von ihr aufgenommen wurde. 

Mit Hochklopfendem Herzen ſchritt der Gtiftspfarrer 
endlich die teppichbelegten Stufen wieder hinab, ermwiderte 
zerjtreut die Grüße der Dienerfchaft und trat in die falte 
Schneeluft hinaus. Im Sturmjchritt verfolgte er feinen 
Weg, im Geift die leidenfchaftlichiten Debatten mit Fürftin 
Tautenftein führend. Seine Beredfamfeit, die Kraft feines 
Glaubens werden fie überzeugen; er wird öfter3 aus— 
und eingehen bei ihr, fie wird neben ihm figen wie heute, 
fpöttifch lachend . . mit fehneeweißen Händen eine Roſe 
zerpflücend und dennoch immer ernfter, immer leuchtender 
mit den dunflen Augen zu ihm aufichauend, und endlich 


— 406 — 


wird fich das ſüße, Heine Angeficht tränenbetaut zu ihm 
heben, und er legt ihr die gefalteten Hände auf das 
Haupt und fpricht mit jauchzendem Herzen: „Wohl mir, 
daß ich deine Seele rettete.” Ein tolltühn’ Spiel, ein 
Hazard iſt e8, aber er wagt's! 

Erſt als er die Treppe zu feiner Wohnung empor⸗ 
ftieg, fiel ihm ein, daß er direft zu Martha hatte gehen 
wollen. Einen Augenbli überlegte er, dann öffnete er die 
Tür und stellte die beiden gelben Rojen ins Waffer. Was 
jollte Martha damit? Sie fannte ja Fürjtin Claudia gar 
nit. Dann mwechjelte er feine Kleider, hob die Blüten 
noch ein paarmal empor, ihren Duft zu atmen, und fchritt 
zur Tür zurüd. Auf dem Tiſch lagen ein paar Zeitungen 
mit rotangeftrichenen Artifen. Man Hatte wohl eine 
feiner öffentlihen Wahlreden wieder angegriffen. Sonft 
hatte er voll Fühnen Eifer nichts gegefjen und getrunfen, 
bis er ſolche Anfeindungen Schlag auf Schlag widerlegt 
und erwidert hatte, heute ſchob er die Blätter ungeduldig 
beifeite; er hatte fo gar feine Gedanken dafür, er mußte 
erst zu Martha, fich über alles auszuſprechen, was er an 
dieſem Tage erlebt. Über alles? ... je nun, über alles, 
was fie interejliert. 

Schmal und audgetreten waren die drei Holztreppen, 
welche zu der Wohnung de3 Profeſſor Clepius empor: 
führten. Tagein, tagaus faß der alte Herr in dem tabaf- 
Durchräucherten Zimmer, welches feine Fenſter nach den 
Hintergärten öffnete, tief über die Bücher geneigt, eine 
Taſſe ftarfen Kaffees neben ſich, und arbeitete an dein 


— 407 — 


botanischen Werk, welches fchon lange Fahre hindurch all 
jeine Gedanken und all jeine Zeit in Anfpruch nahı. 
Seine Enkelin Martha, die jchlanfe, ernite, ratlos fleißige 
Waiſe, führte ihm den Kleinen Haushalt, neigte das 
finnende Antliß über die Stidereien, mit welchen fie einen 
fargen Tagelohn verdiente, und jchritt voll aufopfernder 
Kächitenliebe und Barmher- 
zigheit jchon feit Jahren in 
das Brigittenhofpital hinüber, 
fih in der freien Zeit an 
freiwilliger Sranfenpflege zu 
beteiligen. Dort wollte fie 
für immer in die Neihen der 
Diafoniffinnen treten, wenn 
der Großvater Dereinjt Die 
müpden Augen gejchlofien. Aber 
das Schickſal fügte es anders. 
Der neue Gtiftspfarrer Col— 
(ander trat dem lieblichen Mäd- 
chen entgegen und reichte ihr 
danfend die Hand, und wie fie 
einander in die Augen jahen, da war es beiden, als fer ihnen 
ein Gruß aus der Heimat geivorden. Als aber die Aitern 
auf den Beeten welkten und das Laub wie fließend Gold 
zur Erde tropfte, da lehnte Martha ihr glückverflärtes 
Antlid an die Bruft des geliebten Mannes und war fein 
eigen für Zeit und Ewigkeit. — — Die Wanduhr in dem 
langen Gehäufe fang ihr monotones Lied, und in dem 





— 408 — 


eifernen Dfen prafjelte das Feuer, ſummte der Wafjer- 
feffel in der NRöhre. Arm und alt war alles in dem 
Stübchen, aber fauber und wunderfam traulid. Im 
Glasſchrank praugten ein paar bunte Taſſen, Mufcheln, 
Rorallenzweige und freindartige getrocknete Pflanzen, welche 
der Großvater einft als Jüngling vom Strand der Adria 
heimgebracht. Am Fenfter jtand die Nähmajchine, und 
unter alten Kupferftichen „ver Erzähler” und „Hermann 
und Dorothea” friftete ein jteiflehniges Sofa fein langes 
Dafein. Neben der Prachtbibel auf dem Tiſch duftete 
ein frifcher Tannenjtrauß gleich weihnachtlihem Rück— 
erinnern. 

Auf der Treppe Hangen Schritte. Martha wußte, 
daß jo feit und ficher nur ein einziger auftrat, fie fprang 
von der Arbeit empor und eilte ihm mit ausgebreiteten 
Armen entgegen, und da er fie an feine Bruft zog und 
füßte, glühte fie in lieblicher Scham, wie eine taufchwere 
Blüte, deren Haupt man heben muß, will man ihr in 
das Antlit fchauen. Und Martha ließ heute die Hände 
ruhen und fchmiegte ſich an feine Ceite, und jchaute mit 
leuchtenden Bli zu ihm empor, wie er von feinem Bejud) 
im Schloß erzählte. 

Collander ſprach viel und erregt, er ward nicht müde, 
die Hoheit und zauberhafte Anmut der Erbprinzeffin, die 
wunderſame Schönheit der Fürftin Tautenftein zu rühmen. 
Und der letzteren verdankt er all fein Glück! Sie prote= 
giert ihn, und Hilft ihm mächtig empor über die Felſen, 
welche ihm feine Widerjacher in den Weg türmen. Da 


klingt es wie ein leijer Jubellaut von Marthas Lippen, 
fie fchlingt die Arme um feinen Naden und blickt mit 
den fanften Augen, in welchen fich das ur und [ommjte 
Entzüden jpiegelt, zu ihm auf. 

„Wie ſtolz bin ich auf dich, Helmut, und wie danfe 
ih Gott für oT das Glück, welches er uns befchieden.” 
Er faßt ihre Hand. Sie ift hart gearbeitet und leicht 
gerötet unter dem Einfluß von Wärme und Kälte, gegen 
welche fie nicht gejchiigt werden kann; die Fingerſpitzen 
ind rauh und zerftochen. Wie weich und blütenzart hatte 
Claudia Rechte fich in die feine gefchmeichelt, umbligt 
von Öoldreifen und Demanten. Aber Fürftin Tauten- 
jtein arbeitet auch nicht um ihr täglich) Brot, wie dieſe 
raſtlos jchaffende, wadere Mädchenhand! Collander nimmt 
fie voll aufquellender Zärtlichkeit empor und drückt Die 
Lippen auf die Spuren von Fleiß und demütiger Ge— 
Ihäftigfeit. Wie ftill, wie friedlich ift es hier, aber auch 
wie eng und armſelig. Das Sofa hat Eollander nie fo 
hart gedeucht wie heute. Martha ift heiterer und ge— 
jprädjiger denn je. Sie erzählt von ihrem Gang durd) 
das Hofpital, und von dem überfahrenen Kind, melches 
fie auf Helmut3 Wunjch befucht Hat. Er Hört zu und 
niet Beifall, aber feine Gedanken fchweifen weit ab. Wie 
ihre ajchblonden, dicken Flechten fo ſchlicht um das ſchlanke 
Haupt gemunden find! In Claudias goldzitternden Löck— 
chen flunmerte ein Krönlein wie auf dem Scheitel einer 
Königin. Lächerlich ... beinahe hätte er gejagt: „Martha, 
du mußt dich etwas moderner frilieren!” Als ob ihre 


— 40 — 


föftlichen Zöpfe nicht ftet3 jein Entzüden gewejen wären! 
Und eine Pfarrfrau, welche als Samariterin in die Hütten 
der Armut tritt, Tann fein Krönlein eitler Pracht und 
Prunkſucht über der Stimm tragen. Aber ein Tannen 
reislein zieht er aus dem Glaſe und fchmüdt fie. 





Drum Hält euch Gram und Leid umfangen, 

Eeid eigner Schuld ihr euch bewußt, 

So lehnt die tränenfeuchten Wangen 

Un eurer Mutter treue Bruſt. 

Und ift die Mutter euch gefchieden, 

Weint ihr allein in finftrer Nacht, 

D glaubt: ihr Herz ließ fte hienieden, 

Es hält bei ihrem Kinde Wacht! — 
Albert Träger. 


N arie Quife war bei Hofe präjentiert worden und 
hatte einen äußerſt günftigen Eindrud hinter: 
lafjen. Die Erbgroßherzogin und Prinz Mari: 
milian jchienen ein ganz bejonderes Wohlgefallen an ihr 
zu finden und auch der Großherzog unterhielt fich außer: 
gewöhnlich lange mit ihr. Er jchien ſich eine ganz faljche 
Borftellung von Frau von Nennderjcheidt gemacht zu 
haben, und blidte frappiert in das madonnenhafte Ge- 
fichtchen, aus welchem zwei geiſt- und jeelenvolle Augen 
vol ernfter Wehmut zu ihm emporleuchteten. Auch die 
Antworten, welche „das Gänschen von Buchenau‘ gab, 
Ichienen zu überrafhen. Er wandte ſich zu Fräulein von 
Speyern. „Sch gratuliere Ihnen zu Ihrem fich ftets fo 
trefflih bewährenden Geſchmack, liebe Speyern! Ihre 
Schußbefohlene ist eine gang feharmante Kleine Frau .. 





— 412 — 


ich begreife nicht, wie Fürftin Zautenftein fich eine fo 
irrige Meinung über fie bilden konnte. Habe extra auf 
das jo bös beleumundete Kompliment geachtet und Tann 
nur behaupten, daß es mitraller Würde und Grazie aus⸗ 
geführt wurde!” | 

Fides lächelte wie eine Mutter, welcher man eine 
Eloge über die gute Erziehung ihrer Tochter jagt. „Ich 
begreife e3 jehr wohl, Königliche Hoheit, daß Frau von 
Nennderjcheidt jehr wenig dem Geſchmack der Fürſtin 
entjpricht; die Gegenſätze ſind zu grell, um fich auch nur 
in einem einzigen Charafterzug harmoniſch berühren zu 
können.“ 

„Sehr richtig. Ich bin außerordentlich zufrieden mit 
der Wahl des Barons, Hatte einen ſolch vortrefflichen 
Geſchmack faum bei ihm vorausgeſetzt, und befenne mich 
völlig verjöhnt mit feinem etwas übereilten Streich, 
welcher mir anfänglich zu erniten Befürchtungen Anlaß 
gab. Apropos . .. . man jagt mir, der unverbefjerliche 
tolle Junker habe fich in auffallenditer Weile vor den 
Triumphwagen der Fürſtin Tautenſtein gejpannt?’ 

„Nennderſcheidt war ftet3 . . . d’apres la derniere 
mode!” 

Der Hohe Herr lachte leife auf. „Aber auch ſtets 
charaftervoll und unbejtechlih genug, um beifeite zu 
werfen, was bei näherer Prüfung feinen hohen Anforde: 
rungen nicht genügte.” 

„So it es doppelt interejjant zu beobachten, was er 
für Gold und was er für Talmi erklären wird.” 


— 43 — 


Der Großherzog ftrich langſam feinen ergrauten Bart, 
Har und feſt haftete fein Blid auf dem ernten Antlig 
der Hofdame. „Unbejorgt, liebe Speyern, der Demant 
rollt durch vielerlei Gejtein, aber er fchleift fi nur am 
Demant, und Menjchenherzen gleichen zartgejchliffenen 
Gläſern, die nur dann Elingen, wenn fie harmonieren. 
Auch iſt mand ein Scifflein planlos auf hoher Flut 
umbergejchweift und hat fchlieglich Doch den heimatlichen 
Hafen gefunden. Oliviers Steuermann aber ift jein Herz, 
und dag ift brav und gut. leicht ganz feinem Vater, 
wild und ruhelos, bi3 er fich jelber auf den rechten Weg 
arbeitete, und der bejte Ehemann der Welt wurde. Haben 
Glück im Spiel und in der Liebe, die Nennderjcheidts, hat 
feiner jemal3 im Hazard verloren!” 

Und der Sprecher nickte lächelnd vor ſich Hin, Hob 
dann jäh das Haupt und winkte feinem Flügeladjutanten, 
ihn zu der Frau Miniſter zu geleiten; der hohe Herr 
hatte durch einen Fall auf der glatten Marmortreppe das 
Knie verlegt, und bedurfte der Stüße beim Gehen. 

Prinzelfin Karoline hatte nad) dem “Diner, welches 
fi) der Vorftellung angejchloffen, Marie Luiſe an ihre 
Seite gewinft und ihr mit warmen Worten Dank gejagt, 
daß die junge Frau die Abgejandte der ſtädtiſchen Miſſion 
fo freundlich empfangen und Hilfe und Unterftügung zu= 
gejagt habe. „Gewöhnlich find die Damen viel zu jehr 
beichäftigt in der Saifon, um Zeit für Samariterdienite 
zu finden‘, fagte fie mit ihrer leijen, leidenden Stimme, 
den grauen Seidenftoff ihres Kleides nervös zwiſchen den 


— 414 — 


Fingern reibend, „darum hat es mich doppelt angenehm 
überrajcht, bei einer jo jungen Frau wie Sie, welcher 
die bunte Welt zum erjtenmal ihren vollen Becher fre- 
denzt, jo viel Opfermut und ernften Sinn zu finden. Ich 
werde morgen meine liebe Agathe, das Fräulein von 
Mühlheim, zu Ihnen ſchicken, Frau von Nennderfcheidt, 
die ſoll Ihnen genau die Tage und Stunden angeben, 
wo die Damen bei mir find, für arme Kinder zu nähen! 
Werde mich herzlich freuen, Sie unter ung begrüßen zu 
können!“ 

Prinz Marimilian Hatte in der Nähe geſtanden und 
das Gefpräch mit angehört. Er wendet fich zu Hoven— 
fingen. „Wenn ich etwas Menſchenkenntnis beſitze, und 
die Baronin recht beurteile, jo werden ihr dieſe meijt 
jehr gejprächigen Damenverfammlungen von debattieren- 
den Blauftrümpfen der heiligen Schrift wenig zujagen. 
Sie Sieht der Defreggerfchen Madonna gar zu ähnlich 
und wenn fie Gutes tut, jo iſt's in aller Stille, wo die 
rechte Hand nicht weiß, was die linke tut.” 

Acht Tage waren vergangen. Schneidender Wind pfiff 
durch die Straßen, hartgefroren knirſchte der Schnee unter 
den Sohlen. Die Laternen glühten wie rote Funken durch 
das Geſtöber, welches fein wie Nebel und Reif hernieder- 
ftäubte, fich hier und da zu einer Wolfe verdichtend, 
wenn die Scharfe Luft über die Dächer fegte und die weißen 
Maffen niederfchüttete. Die Schaufenster ftrahlten ihr 
Licht aus und wiejen taufend lockende Koftbarfeiten, welche 
zeitweile die Schritte eiliger Paſſanten mäßigten. 


— 45 — 


Sn warmen Pelz gehüllt, gefolgt von einem Diener, 
Schritt Marie Luife von dem nahen Palais der Prinzeſſin 
Karoline nach ihrer Wohnung zurück, ftehen bleibend, um 
fi) der ungewohnten Pracht der Läden zu erfreuen, oder 
mit lebhaften Blid das Getriebe der Großjtadt über: 
fchauend, welches haſtig, immer wechjelnd, und Dennoch) 
fich immer gleichend, an ihr vorüber lärmt. 

Wo die Straße nach dem Park einbiegt, und Die 
Billen fi) vornehm und voll Fühler Reſerve zwiſchen 
die Handelshäufer drängen, wird es ftiller und dunfler. 
Nur noch vereinzelt öffnet fich Hinter mächtiger Glasſcheibe 
ein Stüclein Schlaraffenland. 

Plöglich bleibt Marie Luiſe ftehen. Bor ihr glänzt 
das Schaufenfter eines Backwarenladens, und in feinem 
hellen Schein gewahrt fie die Geſtalt eines Kleinen Mäd— 
chens, welches auf dem niederen Simfe fauert, die Füße 
frierend emporgezogen, und die beiden Hände in Die 
Schürze gewidelt. Ein kleines dunkles Tuch ift zipfelig 
um den Kopf gebunden, und recht3 und linf3 Hinter den 
Ohren krümmen ſich zwei rattenſchwanzartige Zöpfchen, 
an: deren Ende ein abgerifjener Wollfaden vergnüglic) 
im Winde ſchwänzelt. Die glibernden Eisblumen haben 
eine Ede der Scheibe noch freigelaffen; das Kind drüdt 
das rote Näschen platt dagegen, und die Äuglein gloßen 
voll ftierer Nachdenflichkeit auf die füßen Wunderdinge, 
welche fo nah und Doch jo unerreichbar fern ftehen, ob das 
Züngelchen noch ſo ſehnſüchtig ſchmatzend das Terrain 
unter der Nafe bearbeitet. 


— 46 — 


Das Stilleben Diejes weiblichen Tantalus hat etwas 
äußerſt Drolliges, und erfüllt dennoch das Herz der jungen 
Frau mit Rührung und Teilnahme. Sie tritt herzu und 
neigt fich freundlich zu dem Kind hernieder. Ä 

„Du fuchjt dir wohl etwas aus, was du gern efjen 
möchteft, Kleine?’ R 

Weder Überrafchung noch Schreden verurfacht diefe 
Anrede. Das Köpfchen verharrt unverändert, und nur 
das Schnutchen fchiebt fich noch etwas weiter vor und 
ſagt lakoniſch — „Nee!“ — 

„Und warum nicht?“ 

„Weil ick et man doch nicht kriege!“ Das iſt logiſch 
gedacht, und Frau von Nennderſcheidt iſt gewaltig erſtaunt. 
Sie lacht und greift in die Taſche. 

„Ich werde dir Geld geben, dann fannjt du dir doch 
etwa3 kaufen!“ 

Da wendet ſich ihr dag kleine Geficht zu. Die Äuglein 
funfeln, und der Mund zieht fich wohlgefällig in die 
Breite, aber die Hände rühren fich nicht aus der Schürze 
heraus. „sn det feine Jeſchäft draue id mir nich rinn, 
die feilen mir womöglich und denken, id hätte den Fünfert 
irgendwo jelangt!” 

Wieder war das Mamfellchen Elüger geweſen wie rau 
bon Nennderjcheidt, und Marie Luiſe erwidert höchlichit 
amüfiert: „So ſoll ich dir wohl etwas kaufen?“ 

Die Kleine erfpart ſich durd) ein Feines Geräufch mit 
der Naſe das Tajchentuch, und gleitet von dem Fenſter— 
breit herab, mit dem rechten Fuße den niedergefallenen 





1- 
a 


Hazard II. 


Nov., 


out. u. 


* 
l 


) 


ll. 


J 


N.v. Eſchſtruth, 


— — 


Latſchpantoffel herzuangelnd. „Wenn Se ſo freundlich 
ſind wollen, man zu!“ geſtattete ſie huldvollſt. 

„Was ſoll ich denn kaufen?“ 

Die reſolute kleine Perſon wendet ſich wieder nach 
dem Fenſter und ſtemmt überlegend die blauroten Fäuſtchen 
in die Seiten. „Von die gelben Kuchens da, den nach 
merſcht hierzuliegenden mit die zwei Roſinen an die 
Seite!“ entſcheidet ſie kurz. 

„Und warum gerade den?“ 

Ein Blick trifft Frau von Nennderſcheidt, welcher die 
vollfte Überzeugung ausdrückt: „Biſt du dumm!!“ und 
dann folgt die prompte Antwort: „Na, weil det man dei 
Irößte 13!” 

Marie Luije ift überzeugt, daß man in diejer Be— 
ziehung auf das Augenmaß des praftiichen Mamfellchens 
Häuſer bauen kann, und darum tritt fie in den Laden 
und Tauft eine Tüte voll gelber Kuchen. Von draußen 
queticht jich die Stumpfnafe wieder gegen das Fenſter, 
um zu Tontrollieren, ob auch der richtige mit dem Roſinen— 
merfmal gebradht wird. — 

„Daß du dich aber ſchön bedankſt bei der gnädigen 
Frau!” inftruiert der Diener mit einem wohlmeinenden 
Knuff, da feine ftumme Anmefenheit durchaus feinen Ein- 
druck zu machen jcheint. 

„Man erſt wat haben!” ift die vorjichtige Antwort. 

Marie Luiſe tritt wieder auf die Schwelle und reicht 
die volle Tüte dar. „Hier, Kleine, nun laß es Dir 
ichmeden, der Rofinenfuchen ftecdt auch mit darunter; und 


— 419 — 


gehe num hübſch artig nach Haufe, es ift viel zu kalt und 
zu fpät, al3 daß ſolch Kleine Mädchen noch herum laufen 
dürfen.” | 

„Danke ſchön, Madamchen.” Die runden Arme um: 
Hammern mehr voll altkluger Sorgſamkeit al3 freudiger 
Halt den dien Papierſack. „Sollen die alle vor mir? 
Die kann ick aber nich uff eenmal zwingen!“ 

„Das jollit du auch gar nicht, und würdeft höchſtens 
frank davon werden! Wirft du denn nicht hingehen 
und hübjch mit deinen Gejchwiltern und deiner Mutter 
teilen ?” 

„Nee.“ 

„Nein? Das wäre ja ſehr ungezogen von dir! Warum 
ſollen die nichts abbekommen?“ 

„Weil ick man jar keene nicht habe. Mein Oller is 
uff Bedienung, und die Schultzen, bei die ich tagsüber 
bin, jiebt mich ooch niſcht ab, wenn ſe Zervielatsworſcht ißt!“ 

Der Diener ſchnaubte ſich krampfhaft, ſein Lachen 
zu unterdrücken, die Naſe, Frau von Nennderſcheidt aber 
neigte ſich voll jähen Mitleids noch näher zu dem Kind. 

„Du haft keine Mutter mehr ... arme Kleine ... 
wie heißt du denn?’ 

„Aujuſtchen Spillife!” 

„Und wo ift dein Vater?” 

„Dient beim neuen Baron in die Billa hier draußen!” 
und Aujuftchen tauchte mit dem Arm in die Tüte, langte 
einen Kuchen heraus und berod) ihn gründlichft von allen 
Seiten, die Dauer des Genufjes dadurch zu verlängern. 

27* 


— 420 — 


„Spillife?” Die junge Frau wandte fich plöglich vol 
lebhaften Intereſſes zu dem Diener zurüd. „Heißt nicht 
unfer Portier Spillife, Franz?“ 

„Befehl, Frau Baronin.” 

„Schicken Sie ihn fofort einmal zu mir herauf, wenn 
wir zurüd kommen! Es ift Platz genug im Haufe, und 
Madame Berdan figt den ganzen Tag allein und lang= 
weilt fich, fie wird gewiß befjer für das arıne Kind forgen, 
wie die gemwifjenlofe Pflegemutter. Cute Nacht, Auguſt— 
chen, ſei hübſch artig und gehe jetzt fofort nad) Haufe.” 

„Senn id man bloß fönnte! die Schulgen iS Aushilfe 
ins Nefterant und fommt erjt jegen Neune rum, mir’n 
Keller uffzufchliegen! Manchmal jehe id in’ Irünkram 
nebenan, und pafje uff, Det keener wat mauft, wenn eener 
rinn fommt; feit ick aber neulich uff de verfchütten Bollen 
rumjelatjcht bin, iS et alle mit de Jaſtfreundſchaft.“ 

Und gleich den großen Geiſtern, welche fich refigniert 
über die Mijeren des Erdenlebeng hinausſetzen, biß 
Auguftchen Spillike in einen gelben Kuchen und trampelte 
dabei vor Kälte mit beiden Beinchen. 

Schnell entſchloſſen faßte Marie Luife die Hand des 
Kindes und führte eg mit fih. „Komm, Auguftchen, ich 
bringe dich zu deinem Vater in eine warme Stube, wo 
du von jeßt an immer bleiben wirft.” 

„Ooch jut, dann feilt er mir, ſonſt hätt’3 die Schulen 
jetan, und die haut man noch derber zu wie Vater!” und 
Auguſtchen Spillife fchlurrte fo gottergeben in diefe traurige 
Alternative ihrem Schickſal entgegen, wie weiland die Fran— 


— 4221 — 


zofen in den See von Murten liefen; Feinde recht3 und 
Feinde links, und Prügel auf alle Fälle! — — 

Baron von Nennderjcheidt war allein der Einladung 
des Oberlanditallmeifter3 zum Diner gefolgt. Seine 
Frau war zur Prinzeſſin Karoline befohlen und hatte 
fich demzufolge entfchuldigen laffen. Allem Anjchein nad) 
wurde fie nicht vermißt. Fürſtin Tautenjtein war von 
einer feltenen, faſt aufgeregten Lebhaftigkeit, und je ftiller 
und finjterer Dlivier an ihrer Seite wurde, je fehärfer er 
die Zähne in die Lippen grub und den Champagner hajtig 
hinabſtürzte, deſto fchlechter behandelte fie ihn. Ihre 
Worte ftießen ihn zurüd, und ihre Augen zogen ihn mit 
taufend magijchen Banden näher und näher an fih. Seit 
den lebten zehn Tagen war Nennderfcheidt der Schatten 
der jchönen Frau geweſen, war mit ihr geritten und ge- 
fahren und hatte ihr durch die verjchiedenen Feſtlichkeiten 
gleich einem getreuen Pagen die Schleppe getragen. 
Dennoch erntete er kaum Dank dafür. As Claudia 
während einer Schlittenfahrt ein Armband verloren hatte, 
ſuchte Dlivier bei Fadelbeleuchtung den ganzen Weg 
danady ab, und da er es nach ftundenlanger Mühe 
endlich gefunden und es feiner Herrin mit gerechtem 
Stolz überreichte, lächelte fie ein etwas ironiſches: „Das 
fah Ihnen wieder mal ähnlich, beiter Baron!” und fie 
nahm die breite Goldfette und warf fie Prinz Hohned 
zu. „La voilä, Prinz, lafjen Sie Ihrem Pinjcher ein 
Halsband davon machen!” Kine halbe Stunde jpäter 
reichte fie Dlivier verjtohlen ihre „idealſte Photographie, 


— 42 — 


welche außer ihm fein GSterblider mehr bejißen 
würde.” 

Am Vormittag ritt er an dem Schloß vorüber und 
grüßte zu ihr empor. Sie ignorierte ihn vollkommen, 
wandte das Köpfchen und trat vom Fenſter zurüd, und 
abends tanzte fie eine Extratour nach der andern mit 
ihm und mußte ihn gar nicht oftenfibel genug zu be— 
vorzugen. Marie Luiſe ward entweder völlig überjehen 
von ihr, oder Fürftin Tautenftein ließ e3 die junge Frau 
in berbfter und oft boshafter Weije empfinden, wie jehr 
fie von ihrem Gatten vernachläffigt werde. 

In ſolchem Augenblid war e8 wohl wie ein zwei— 
jchneidiges Schwert durch das Herz des gequälten Weibes 
gegangen, aber ſie gedachte der Lilien auf dem Feld, über 
welchen Gott feine Wetterwolken ballt, damit fie nicht im 
grellen Sonnenſchein dahin welfen, ehe fie fich zu voller 
Blüte entfalten. 

Nach dem Diner hatten fich die älteren Herrjchaften 
noch zu einer Partie L'hombre zufammengefeßt, und von 
der Jugend war in übermütiger Weiſe ein „petit Monte- 
Carlo” entrepreniert worden. 

„Reue Zwanzigpfennigftüde find der höchſte Einſatz, 
meine Herrihhaften! Sie täufchen durch ihre Größe das 
Auge des harmloſen Zufchauerd und gejtatten felbit einem 
Leutnant, am 14. des Monat3 noch ohne Schulden etwas 
ipieleriger Natur zu fein!” 

„Es lebe mein geehrter Herr Vorredner! Der Erlös 
wird redlich geteilt! Wir gehen alle zufammen in den 


= 4233 — 


Fünfzigpfennigbazar und machen uns einen fidelen Nach- 
mittag!” 
„Durchlaucht hält Bank!“ 

„Werpumpt 
mir zwei Ditt⸗ 
chen?!“ 

„Aber Herr 
von Hoven— 








klingen! Au secours! au secours! Durchlaucht, der 
Marinierte Hat eine Bratkartoffel vom Buffet als Einjah 
auf die Karte gelegt!‘ | 


„Werft das Ungeheuer in die Volffchlucht !” 

„Wem gehört dieſer herrenlofe Pfennig?“ 

„Fragen Sie ihn doch!” 

„Sparen Sie ihn für wohltätige Zwedel Sit feine 
Generalin da, die für das Edelweiß fammelt? Ein roter 
Heller, zufammengebradht in der Hofgejellichaft durch 
Leutnant zur See von Hovenklingen !” 

„Biersdorf! bitte jegen Sie mal für mich, Sie ſehen 
mir gerade fo aus, al3 müßten Sie ftet3 das große Los 
gewinnen!“ 

„Ich halte ſehr dafür, daß die Karten genagelt werden!!“ 

„Wer zieht denn immer an der Tiſchdecke?“ 

„Grundgütiger! Hovenklingen hat den Muſikſeſſel 
entdeckt! Ruhe! Faites votre jeul Wer noch einmal 
eine Apfelſine über den Tiſch rollt, muß ſie zur Strafe 
als Pille verſchlucken!“ Ein lachendes, übermütiges 
Durcheinander, zwiſchendurch klingt unter Herrn von 
Hovenklingen der Muſikſeſſel: „Macht mir keine Wippchen 
vor ... Wippchen vor. .” 

Nennderſcheidt lehnt auf einem Seſſel und ftarrt mit 
zufammengezogenen Augenbrauen vor fi) nieder auf die 
Karte der Herzdame, welche er bejeßt hat. Sie verliert 
beitändig. Und Claudia fagt jedesmal mit ganz eigen- 
tümlicher Betonung: Verſpielt, Herr von Nennderfcheidt, 
nicht immer gewinnt der im Hazard, welcher wagt!” 
Sie hat Hohned und einen jungen, bildhübfchen Garde: 
ulan an ihre Seite gewinkt und fofettiert gewaltig mit 
ihnen, für Olivier hat fie bald gar fein Wort und feinen 


— 425 — 


Blid mehr übrig. Die heiße Luft droht ihn plößlich zu 
eritiden, er fchiebt den Seſſel zurüd und tritt in den 
Nebenfalon, durcheilt die weiteren Zimmer und ftürmt 
in finnlofer Aufregung hinaus. ‘Jeder Nerv und jede 
Fiber zuct in ihm, das Blut rajt durch die Adern und 
treibt ihm ſchwindelnde Glut ins Hirn. Er ift wie ein 
Beraufchter, und die fühle Nachtluft fchlägt wohltuend 
gegen jeine Stirn. 

Es fol und muß zu Ende kommen, foll er nicht ver- 
rüdt werden unter diefen Folterqualen von Liebe, Eifer: 
ſucht und Aufregung! Claudia hat ihn in einen Taumel 
wilder Leidenschaft verſetzt, er verjchmachtet, kann er fie 
nicht als Eigentum in die Arme jchließen und ihre Xippen, 
die ſüßen, graufamen, mit flammenden Küſſen bededen! 
Wozu noch Diejes Hin und Her! Durchgehauen den 
Knoten, welchen er fich felber um die Hände gejtrict! 
Ein wahnmigiges Spiel hat er getrieben, ohne Sinn und 
Beritand feine Freiheit im Hazard verjchleudert! Aber 
gleichviell Er wirft die Karten hin, er"mijcht fie neu 
und zieht diesmal Coeurdame, die „Siegerin! Wie ein 
Berfolgter jtürmt er durch den einfamen Park, die Blicke 
Itarr auf den roten Lichtſchein geheftet, welcher aus Marie 
Luifes Zimmer zu ihm niederjtrahlt. Er ift feit ent- 
ſchloſſen, noch in diefer Stunde vor fie hinzutreten, ihre 
Hände zu falfen und zu jagen: „Gib mir das Wort 
zurüd, welches ich dir verpfändet; ich will es dir Föniglich 
lohnen, ich will dieje beiden Ringe zerbrechen und dich 
und mich dadurch glücklich machen!” 


— — 


Nennderſcheidt trat in fein Zimmer, den Mantel ab- 
zuwerfen. Er prallte faſt zurüc vor dem Anblid eines 
lebenggroßen Olgemäldes, welches gegen den Tifch ge— 
lehnt, grell von der Hängelampe bejchienen war. Geine 
Mutter. Wunderjam lebendig jchauten ihn die milden, 
treuen, jo flug und ernſt blidenden Augen an. Ihre 
Lippen fchienen geöffnet, feinen Namen zu rufen... . wie 
ein Blisftrahl zudt die Erinnerung durch fein Ohr, er 
hört das leife zitternde: „Sei getreu bis in den Tod”... 
welches als letter Hauch über dieje erbleichenden Lippen 
geſchwebt ift. 

Der Tzreiherr wendet ſich jählings zur Seite: ‚Wer 
hat das Bild von der Wand genommen?” herrſcht er 
den Bedienten an. 

„Die geiprungene Tapete follte an der Wand repariert 
werden, und glaubten wir nicht, daß Herr Baron fo zeitig 
nach Hauje fämen, fonft hätten wir die drei Gemälde 
ichon wieder aufgehängt. Es ſoll jofort beforgt werden.” 

Dlivier ſchwieg. Er fchritt mit gefurchter Stirn ein 
paarmal im Zimmer auf und nieder. Dann hob er voll 
finjterer Entfchlofjenheit das Haupt und jtieg die Treppe 
nad) Marie Luiſes Gemächern empor. Alle Türen waren 
weit geöffnet, er ging durch die matterleuchteten, Stillen 
Zimmer, und die Dielen Teppiche dämpften feinen Schritt. 
Heller Lampenſchein fiel ihn entgegen, Durch die zurüd- 
geichlagenen Portieren jah er direkt auf den altdeutichen, 
grünen Kachelofen des Speiſezimmers und die firchen- 
jtuhlartig gearbeitete Bank neben demfelben. 


— 427 — 


Betroffen ftand Dlivier vor dem unverhofften Anblic, 
welcher Jich feinen Blicken darbot. Marie Luiſe ſaß mit 
tiefgeneigtem Haupte und ſpann. Ein dunkles Woll- 
£leid fiel in weichen Falten um ihre jchlanfe Figur, und 
die beiden gejchnigen Greifen, welche auf ihren Flügeln 

die Bank 
trugen, ſtreck— 
ten voll be 
haglicher 
Würde Die 
Klauen vor, 
als wollten fie 
fih demütig 
und Dennoch 
zornig ſchüt— 
zend zu Füßen 
ihrer Herrin 
niederſtrecken. 
Olivier ſah 
nur das zarte 
Profil feiner * 
Frau, den tiefen Ernſt ihrer Stirn und die Schwermut, 
welche die Mundwinkel neigt. Der ſchlanke Nacken iſt 
gebeugt wie von einer Überlaft herben Leides, und da 
Dlivier fie zum erjtenmal aufmerkſam anfchaut, deucht 
es ihm, als fei ihr Antlitz ſchmaler und bleicher noch 
denn ſonſt. Das Spinnrad dreht fich in flinfem Tanz, und 
ihre jchlanfen Hände mwinden mechanijch den Faden ., 





— 41383 — 


Dlivier greift nad) der marmornen Tifchplatte an 
feiner Seite umd jtüßt fich fehmwer atmend darauf. Wie ein 
nerpdfes Hittern durchläuft e3 ihn vom Scheitel bis zur 
Sohle. 

Sp hatte feine Mutter viele lange, einjame Winter- 
abende in der Speijehalle von Roggerswyl geſeſſen und 
mit goldenen Fäden Glüd und Segen dem Haufe Nennder- 
Scheidt verwebt. So Hatte er zu ihren Füßen gejpielt 
ö und, mit neugiergroßen Augen aufhorchend, ihren Märchen 
und Legenden gelaufcht, fo lebte fie in feiner Erinnerung 
wie ein Bild der höchſten Frauenmwürde und Frauenſchöne. 
Die Freiheitskriege hatten viel adlige Familien an den 
Bettelftab gebracht, aud) über die Fluren und Acer des 
Freiherrn von Nennderjcheidt hatte der tobende Kampf 
feine Mafjen gemälzt, hatte die Sturmglode gegellt, und 
blutrote Feuerlohe verwüſtend zufammengerifjen, was das 
Merk jahrelangen Fleißes gewejen. Die Scheunen leer, 
die Felder zertreten, das Kapital geopfert auf dem Altar 
des Vaterlandes, eine ſchwere, prüfungspolle Zeit. Da 
hatte der flotte, lebensluftige Kavalier Dagobert von 
Nennderſcheidt das Trefienkleid der Höflinge abgelegt, war 
als fchlichter Mann Hinter dem Pflug einhergejchritten, 
der erſte Arbeiter unter feinen Knechten, aus eigener Kraft 
zurüd zu gewinnen, was ihm das Schidjal genommen; 
und an feiner Seite ſtand die edelfte, kraftvollſte aller 
Frauen, welche in raftlojer und Ddemütiger Arbeit von 
früh bis ſpät die Hände regte, ein Beifpiel zu geben, und 
ein Vorbild zu fein allen denen, welche ihr mildes Wort 


— 429 — 


befehligte. Und der Segen des Himmels lag auf allem, 
und was je verloren war, erſetzte ſich doppelt und 
dreifach. Die Schloßfrau aber faltete die Hände über 
dem Haupt ihres einzigen Sohnes und betete zum Himmel, 
daß der Segen bleiben möge, auch dann, wenn ſie's nicht 
mehr ſchauen könne. | | 
Warum jtürmten all diefe Gedanken wie ein Yyieber: 
ſchauer plöglic) auf Dlivier ein? Das kleine, ſummende 
 Spinnrad redete plößlich eine Donner)prache, welche den 
laufjchenden Mann bis ins Mark und Bein, big tief in 
die Seele traf. Der goldene Segen! Sa, er war ein 
reiher Mann, er mähte ab, was die Hände vor ihm 
gefäet hatten. Es genügte ihm, aber nicht, die Zinſen 
deifen zu verpraffen, was feine Eltern in opfermutigiter 
Arbeit erworben, er lebte feit etlichen Jahren über feine 
Berhältniffe, jeit der Zeit, da Graf Gofed feinen Weg 
gefreuzt, da das tolle, finnloje Treiben beganıı, welches 
drohte, ihm zur zweiten Natur zu werden. Olivier ftrich 
langfam mit der Hand über die glühende Stirn, jein 
Auge ftarrte geradeaus, unverwandt auf dag geneigte 
Haupt der Spinnerin. Wie lange hatte er fein Spinn= 
rad mehr gejehen, wie lange hatte er nicht zurüdgedacht. 
Wildes, leidenjchaftliches Heimmeh erfaßte ihn und fchüttelte 
jeine Glieder. Es war, als hätte feine Natur mit den 
überreizten und überftraff angejpannten Nerven nur noch 
des leifeiten Anftoßes bedurft, um plötzlich matt und 
ſchlaff in fich felber zufammen zu brechen. Der Finger 
eines Kindes vermag einen trunkenen Rieſen umzumerfen. 


— 430 — 


Das leife Summen und Singen eine Spinnrades 
hatte in feinem Herzen ein Echo gewedt, welches anſchwoll 
zu einem gewaltig braujenden Klang, alles übertönend, 
was an wüſten Mißafforden durch feine Seele irtte. 
Und diefer Klang umſtrickte ihn wie ein ſüßer, unrettbarer 
Zauber und faßte und zog ihn Hin zu jener Einzigen, 
auf deren Knie er jo oft fein müdes, geängitigtes Haupt 
- gedrüdt hatte, wenn bange Traumbilder ihn jchredten, 
wenn er in der Finſternis ſtand und verzweifelt tajtete, 
den rechten Weg zu finden. 

Lautlos jchritt er zurüd nach feinem Zimmer und 
warf fi) mit jehnjuchtsfranfem Herzen in den Seffel vor 
feiner Mutter Bildnis. Er verfchlang die Hände und 
ſah zu ihr empor. Wie ein Lächeln der Milde und Ver: 
ſöhnung jtrahlte es um ihre Lippen, und die dunklen 
Augen blictten regungslos zu ihm nieder, treu und ernit 
wie früher, da fie oftmals jeinen Fragen geantwortet: 
„Was du tun follft Olivier? Männlich braver Sinn 
bedarf feines Rates, denn fein Gewiſſen jagt ihm, was 
das Nechte iſt!“ 

Deutlich hört er die Worte, aber es war die Stimme 
Marie Luijes, welche fie ſprach. 

Wie ein Aufitöhnen rang e3 fi) aus jeiner Bruft. 
Ein Gefühl unausfprechlichen Elend überfam ihn, ein 
Gefühl der Überfättigung und Mattigkeit, ſchal und efel 
deuchte ihm die ganze Welt. Draußen auf der Straße 
lacht eine helle Frauenftimme, ſtimmt eine Harmonika 
eine übermütige Weile an. Olivier preßt Die Hände 


— 431 — 


gegen die Ohren, der Klang tut ihm weh im Kopf, und 
das Lachen erinnert an Fürſtin Claudia. Es iſt ihm zus 
mute wie einem Sranfen, welcher in die tiefite Ruhe und 
Einſamkeit flüchten möchte, . . . fein 
Jubel ... . fein Spiel und Tanz 

‚nur eine fühle, milde Hand, 
die fich auf feine kranke Stirn legt, 
ihr Frieden zu geben. 

„Die Zeit wird fommen, da 
dir das geneigte Haupt Deines 
Weibes lieber ijt, als der pricelnde 
Humor, mit welchem andere Die 
feuerblütigen Weine kredenzen“, 
zieht es plößlich 
wie eine traum— 
hafte Erinnerung 
durch ſeine Seele. 

Nennderſcheidt 
ſtützt das Haupt 
ſchwer auf. Wieder 
haftet ſein Blick auf 
dem Antlitz ſeiner 
Mutter, und ſeine 
Gedanken fliegen weit zurück in eine Zeit, da er noch 
fromm, noch gut und glücklich war. Wie konnte er ihrer 
ſo lange vergeſſen! Er erhebt ſich und öffnet mechaniſch 
eine kleine Tür des Schreibtiſchaufſatzes. Das Tagebuch 
ſeiner Mutter liegt darin, dasſelbe, an welchem er ſich 














— 432 — 


nach fchwerer Krankheit gefund gelefen. Er taftet danach 
und greift einen Stoß Briefe. Wie fommen Briefe 
hierher? Er jchaut darauf nieder, finnt einen Moment 
und zudt leife zufammen: Marie Luifes Schrift, kaum 
erfannt von ihm. Goſeck hat diefe Briefe damals in feinen 
Schreibtifch gejchoben, und er hat fie weder gelejen nod) 
vermißt. Die Briefe feiner Braut. Jähes Not fteigt 
wieder in feine Schläfen, er ſenkt das Haupt tiefer, als 
wage er nicht, feiner Mutter in dag Auge zu fehauen. 
Langſam läßt er fich in den Seffel zurüdfallen und be- 
ginnt zu lejen. 

Die Uhr tickt und Schlägt... und fchlägt wieder... 
und der Diener ftedt den Kopf durch die Portiere und 
zieht fich lautlos wieder zurück ... und al3 er lange 
nach Mitternacht wieder mit verjchlafenen Augen lugt, da 
fieht er das Haupt feines Herrn tief auf Die Arme ge- 
junfen, aber er jchläft nicht, ein Schütteln und Beben 
jcheint durch feinen jtarfen Körper zu gehen. 

Die Vorhänge ſchlagen leife wieder zufammen, und 
die Gasflammen kochen und jummen wie das Spinnrad 
unter Marie Luiſes fcehlanfen Händen ... draußen am 
Himmel aber teilen ſich die Wolfen, flammt groß und 
hell der Morgenftern. — — 


IR 


rien — 


XIX. 


AW eine Straße müſſen wir. — 
Allen raufcht die Urn’ im Umſchwung; 
früher oder fpäter fällt das 208 des Schick⸗ 
fals. — Horaz. 
Wenn die Blüten abgeftreift, 

Iſt nicht gleich Die Frucht gereift — 
An dem Baum im arten. 
Zwifchen der Empfindung Zeit 
Und der Zeit, wo Tat gedeiht, 
Liegt ein banges Warten. 
Geibel. 





” a3 war ein Wintertag! Sonnengold flutete um 
| E die Mauern und Säulengänge des großherzog: 
N lichen Schlofies, grünlich jchillernd mit hell auf- 
blitendem Knauf wölbten fi) die Kuppeln und ftiegen 
vol märchenhafter Pracht über Zinnen und Türmchen 
empor, ihre Konturen jcharf gegen den fledenlofen Himmel 
zu zeichnen. Wie überjäet von Brillanten gliberten die 
Bäume und Gebüjche des Parkes, und die weißen Götter: 
bilder längs der mächtigen Taxusallee hatten duftige 
Mäntel und Schleier umgehängt; feine Hebe, welche gra= 
3108 auf der Fußſpitze jchwebt, eine Schale mit Nectar 
füllt, fcheint die Augen mehr auf dem eleganten Getriebe 


ringsum, als auf ihrem SKrüglein zu haben, fchneeiger 
N.v. Eſchſtruth, IE. Nom. u. Nov., Hazard II. 28 


— 434 — 


Schaum fteigt hoch über des Becher Rand und träuft 
über die zierlichen Hände nieder. 

Die Parademufit fpielt in der Götterallee, und die 
höchſten Herrfchaften, die Perſonen ihrer Umgebung und 
die erklufive Hofgejellichaft promeniert in derjelben; weiter 
ab, in den Nebengängen des Echloßgartens, wogt die 
bunte Menge der Nelidenzler. 

Baron Nennderjcheidt war überrajcht, als feine junge 
rau zu ihm jchiefte mit der Anfrage, ob fie fich zu dieſem 
Frühkorſo rüften jolle? 

Dlivier bringt die Antwort felber. Ehe er eintritt, 
Itreicht er langfam über Stirn und Augen, und ein un— 
gewohnt ernſter Ausdrud beherricht feine Züge, ohne 
ihnen da3 Gepräge von Mißſtimmung zu geben. Noch nie 
iſt er zu folch früher Stunde bei Marie Luiſe eingetreten. 

„Befindet fich die gnädige Frau bereits im Salon?“ fragt 
er Madame Verdan, welche ihın auffallend heiter entgegentritt 
und bei jeinem Anblicd die Augen weit aufreißt vor Staunen. 

„Ganz recht, Herr Baron, gnädige Frau find im 
Speijezimmer und frühftüden mit der Kleinen Augufte.” 

„Kleinen Augufte?! ... ach . .. Das Menfchen- 
fiichlein, welches meine rau neulich in trüber Flut ge= 
fangen”, ein fchnelles Lächeln fliegt über fein Geficht. 
„Anmelden? bewahre, Madame Verdan, ich denke, mein 
Kommen wird nicht überraschen !” 

Er tritt durch die goldgejchnigte Tür, und die alte 
Frau fieht ihm mit faſt triumphierendem Blick nach. 
„Welch ein Glüd, daß ich heute das weiße Morgenkleid 


— 435 — 


mit den frifchfarbenen Schleifen nahm, e3 fteht ihr am 
beiten.’ Ä 
Sie hat recht, es fteht Marie Luiſe vortrefflich, 
namentlich in dem Augenblid, da fie ſich über den Stuhl 
der Kleinen neigt und ihr eine Serviette umbindet. 

Olivier bleibt unwillkürlich auf der Schwelle jtehen, 
und erſt als das liebliche Weib überrafcht aufblickt und 
ihm dann mit demjelben Lächeln, welches er im Berfehr 
mit ihr gewohnt ift, entgegentritt, fchreitet er näher und 
fieht ihr mit wunderjam forjchenden Augen in das Antlitz. 

Sonft hat er ihre Hand jtet3 gefüßt, heute drückt er fie 
nur furz und fchnell. „Laß dich, bitte, nicht ſtören, ich ſetze 
nich zu euch. Sit das Eleine Wejen da Augujtchen Spillife?” 

„Mein Eleiner Findling, deſſen Aufnahme du mir jo 
gütigft gejtatteteft. Sie leijtet mir Gejellfchaft und wird 
gewiß Doppelt artig jein, wein der guädige Herr zu— 
gegen iſt.“ 

Auguftchen hatte fich den Moment, da Marie Luiſe 
ihrem Gatten entgegentrat, zunuße gemacht, die große 
Milchtaffe mit beiden drallen Fäuften ergriffen und Die 
ganze Viſage, mit bejonderem Nachdruck der Naſenſpitze, 
hineingefenft. Die Verhandlungen über ihre Perfon und 
die Anmefenheit des Herrn Barons irritierten fie wenig; 
fie befchränfte fich darauf, den unbekannten Bejuch über 
den Rand der Taffe mit neugierig vortretenden Äuglein 
anzujehen. 

Die junge Frau unterbrach den „Trunk der ſüßen 
Labe“ mit ernten Blid und zwingender Hand. 


28 * 


= AIE, 


„Du ſollſt erſt dein Gebet jagen, ehe du ißt und 
trinkſt“, jagte fie. 
„Ich kann ja keens!“ 





Olivier horchte hoch auf, fein Blick weilte voll ſicht— 
lichen Amüſements auf der Tochter ſeines Portiers. 
„Sprichſt du nie ein Morgengebet?“ 


det 


Auguftchen hatte bereits die leckeren Brötchen im 
Auge. „Nee! 

„Aber am Abend?” | 

„Och nich, erjt recht ni. Is' det Honig da?” 

„Honig befommen nur fromme Kinder zu ejfen. Haft 
du denn überhaupt nie gebetet?” 

„ur wenn's jewitterte und id mir jraulte!” 

Dlivier Huftet laut auf und tritt an das Fenſter, er 
fieht, daß Marie Luiſe felber mit dem Lachen kämpft. 
Dann muß die Kleine ein fchlichtes Sprüchlein Herfagen, 
welches die junge Frau vorjpricht; fie faltet dabei die 
Hände um die des Kindes, und ihre Stimme klingt fo 
weich und felber fo kindlich treuherzig, daß es wieder 
durch) Nennderjcheidts Seele zieht wie ein Klang aus 
ferner Beit. Heute aber facht er feinen Sturm an, fon: 
dern weht wie ein jäufelnder Segen über feimende Saat. 

Auguftchen kaut mit vollen Baden, leckt jchlieglich am 
Singer und tupft alle Krümchen jorgjam auf. Olivier 
findet e3 jpaßhaft, fich mit ihr zu unterhalten, fie refog- 
nosziert mit altklug forjchenden Bliden das Zimmer und 
heifcht für alles Unbekannte Erklärung. An der Wand 
hängt ein köſtliches Gobelin, die Taufe des Herrn darftellend. 

„Det 18 der Herr Jeſus!“ ruft Muguftchen, mit dem 
Finger deutend und fichtlich ſehr ftolz über ihre Kennt— 
niſſe, „id fenne ihm, und da oben in die Wolfen is aber 
noch eener ... wer is det?” 

„Das ift fein Vater, der liebe Gott.” 

„Schon ein oller Mann? ſtirbt balde?“ — 


— 4358 — 


„Der liebe Gott ftirbt niemals, Auguftchen!” 

Da jtemmt die Kleine Perſon in ftarrem Entjeßen die 
Händchen in die Seiten: „Stirbt niemal3? Na nu hört's 
uf! Wenn ſoll'n denn der Herr Jeſus endlich mal an 
die Regierung kommen?” — 

Dlivier fonnte nur mit Mühe feine Heiterfeit be- 
meiltern, er reichte Marie Luife abermals die Hand ent= 
gegen: „Dieſe Frage beuntworte du lieber! Alſo ich er- 
warte dich in der Gdtterallee, wenn Du zuvor noch einen 
Gang in die Stadt zu tun haft. Und... .” er fah ihr 
faft bittend in das Auge, „geitatte, daß ich Fünftighin 
immer meinen Kaffee in eurer Gejellfchaft trinke! Die 
Kleine macht mir viel Spaß, und es iſt fo langweilig, 
ſtets allein zu frühſtücken.“ 

Sie nidte ihm in ihrer gleichmäßigen Freundlichkeit 
zu. „Gewiß, du bijt als Ehrenmitglied am Kaffeetifch 
ftet3 willkommen, nur mußt du Nachſicht haben, wenn 
Auguftchen zeitweije der Erziehung bedarf”, und fröhlich 
auflachend fügte fie Hinzu: „Dafür forgt fie aber für 
Unterhaltung, und zwar origineller und amüjanter wie 
manch großer Saft; ich bin überzeugt, daß fie der Billa 
Hazard bald unentbehrlich wird!" — — — 

Die Muſik fpielt ein Botpourri aus „Die Iuftigen 
Weiber”, und die elegante Welt promenierte aufs leb— 
bafteite konverſierend in der Götterallee auf und nieder. 

Fräulein von Gironvale hatte es ſich in den Kopf 
gefeßt, aus dem überproſaiſchen Seebär Hovenklingen einen 
idealen Menfchen zu machen, und darum ließ fie feine Ge— 


— 39 


legenheit vorübergehen, ihren guten Einfluß auf ihn 
geltend zu machen. Auch jetzt hatte ſie ihn „geſtellt“. 
„Ich habe mit Ihnen zu konferieren, Monsieur le 
baron!“ ſagte ſie, ſo allerliebſt wie möglich die blau— 
gefrorene Naſe zu ihm hebend. 
Er verſenkte die Hände in 
die beiden Paletottaſchen und 
ſtand ſo gelaſſen und breit 
und feſtgewurzelt vor ihr wie 
ein Baum. „Na, dann machen 
Sie's mal kurz und ſchmerz— 
los“, erwiderte er phlegmatiſch. 
„Ich bewundere Sie! 
Geſtern haben Sie eine ſo 
koloſſale Fußtour gemacht! 
Haben den ganzen Weg bis 
zum Jagdrendezvous mit Prinz 
Maximilian und noch zwei 
anderen Herren zu Fuß zurüd- 
gelegt! Fünf Stunden!” 
„Das ijtdoch nicht viel? Wir 
waren ja unfer viere! Kommt 
alſo auf eine Perſon nur ein und eine viertel Stunde!” 
Sie jtarrte mit offenem Munde in fein ernithaftes 
Geficht. „Ja, richtig, mon dieu, was habe ich mir da 
eigentlich gedacht . . .” 
Er lachte jchallend auf. „Sicherlich etwas, was ich 
nicht auf einen Pfeifenkopf fchreiben möchte.” 





— 4409 — 


„rechnen alle Seeleute fo gut wie Sie?” 

„Durchſchnittlich. Sind alle geiftreihe Menfchen. 
Darum fommen auch von Marineleutnant3 meistens elf 
aufs Dutzend.“ 

Esperance liebte keine Unterhaltungen, welche eine 
gewiſſe Schlagfertigkeit beanſpruchten. Sie drückte den 
kleinen Muff feſter an ſich und verſuchte das Geſpräch 
auf intereſſantere Thematas zu lenken. 

„Ich muß mein Herz warm halten, daß es nicht 
vereift, friere fchredlih . . br... am ganzen Körper 
eine Gänjehaut!” | 

„Ab... das wundert Cie? .. . ich denfe, das iſt 
ein ganz natürlicher Zuftand bei Ihnen ...“ 

Diesmal verftand fie die Pointe. 

„Abſcheulich! Sie reden gegen Ihre beſſere Einficht, 
um mich zu ärgern! Sie künnen feine Ganz von einem. 
Schwan unterjcheiden . . . voilä tout! Aber Sie find 
au fond dennoch der poetiſchſte Menjch, den’3 gibt, wenn 
Sie aud) noch jo grob und martialifch tun, ich gewinne 
meine Wette Doch!” und damit drehte fich Fräulein von 
Gironvale auf dem fpißen Haden um und jchmollte für 
ein Weilchen. 

„Melde mich gehorfamft zur Stelle, Fräulein von 
Speyern.” Und Hovenklingen Happte die Haden zu— 
fammen und ftimmte mit Träftigem Baß in die juft er: 
Elingende Melodie ein: „Wie freu’ ich mich, wie freu’ ich 
mich, wie treibt mic) das Verlangen!” „Es jcheint aber, 
meine Freude iſt fehr einfeitiger Natur?’ 


— 441 — 


„O nein, ich freue mich auch, allerdings nur darüber, 
daß Sie jo fehr mufifalifch find!” 

„Ich finge jehr hübſch. Willen Sie, was > dem: 
nächlt einftudieren werde?” 

Ihr Auge, welches jo Fühl und gleichgültig an ihm 
porüberjchmweifen wollte, blißte dennoch in jähem Intereſſe 
auf. „Nun? 

„Die neueften Lieder des Fräulein Fides von Speyern.” 

‚A la bonne heure! Dazu muß man aber vor allen 
Dingen im Beſitz derjelben fein.” 

Mit unendlich treuherzigem und dennoch fchalfhaft 
keckem Bli lacht er fie an. Seine weißen Zähne blinfen 
wahrhaft in dem hellen Sonnenjchein. „Werden Sie mir 
die Sammlung nicht dedizieren und mir ein Freiexemplar 
ſchenken?“ 

„Ich bezweifle.“ 

„Dann muß ich leider einen tiefen Griff in die 
Börſe tun.“ 

„Schwerlich.“ Ein Schatten liegt auf ihrer Stirn. 
Sie wendet ſich mit einer jener ſchroffen Bewegungen 
zur Seite, welche ihm zeigen, daß Sie die Unterhaltung 
abzubrechen wünſcht. „Meine Lieder ſind vorläufig nur 
für mich komponiert, und bevor dieſelben nicht ſo volks— 
tümlich geworden ſind, daß alle Gaſſenjungen ſie pfeifen, 
werde ich fie niemand, ſelbſt Ihnen nicht ‚in aller Freund— 
ſchaft zueignen!“ 

Hovenklingen ſchien durchaus nicht die Abſicht zu 
haben, ſich zu empfehlen, im Gegenteil, er lachte noch 


— 42 — 


viel verfcehmißter wie zuvor, und trat der Hofdame in 
den Weg. 

„Auf Wort? Wenn die Straßenjungen Ihre Melodien 
pfeifen, befomme ich die Lieder gewidmet?“ 

Sie zudte halb ungeduldig, halb amüfiert die Achjeln. 

„pann allerdings!” lächelte fie. 

Prinz Marimilian trat ihnen mit feinem japanefijchen 
rotgelb ftruppigen Hündchen entgegen. 

„Ein vortrefflicheg Abkommen getroffen, Hoheit!” 
rapportierte der junge Marineoffizier ſchmunzelnd, „Gott 
Ichenfe der jungen Brut diefer Stadt gute Lungen und 
viel Paſſion für Volkslieder. Wenn das kleine Genifte 
dereinft durch die Straßen zieht und anftatt ‚Aujuft fol 
mal runter fommen‘ oder Ah — id — hab — — ie 
ja nur — — ꝛc. die neueften Weifen der Baronejje 
Speyern pfeift, dann ... dann werden Sie etwas Rie— 
ſiges erleben, Hoheit!” 

„Dann widme ich Herrn von Hovenflingen alles, was 
ich je an Schwarzen Notenföpfen zu Papier gebracht!” 

„Pick die Riemen!!... Da gratuliere ich. Apropos .. 
ich komme in trauriger Miffion! Fräulein von Gironvale 
behauptet, von Ihnen ſchwer beleidigt zu fein, und ver: 
langt, daß Sie als reuiger Sünder Abbitte tun!‘ 

„Ich glaub’3 felber, daß fie mir vor lauter Zorn 
am Hiebften einen Regenſchirm in den Magen ſtieße 
und ihn dann aufſpannte“, nickte Hovenklingen ‚mit viel 


Phlegma. 
„Zeufel und Pumpſtock!“ 


-- 413 — 


„Ste werden gut im Fegefeuer braten!” 

„Ich jehe nicht hin, wenn’3 mich brennt.” 

„Steuern Sie mal direkten Kurs und ftreichen Sie 
ein wenig Honig über die ‚Gänfehaut‘, ich werde die Sache 
wieder glatt bügeln. Weiß der Kudud, daß die fixeſten 
Kerle, Die zu Waffer niemals, felbjt im Traum nicht 
fentern, auf feitem Grund und Boden jeden Augenblid 
Havarie verzeichnen!” 

Hovenklingen blinzelte Fräulein von Speyern mit ge- 
fniffenem Geſicht von der Seite an und folgte mit allen 
Anzeichen tiefer Zerknirſchung dem Prinzen. 

„Kann denn nicht erjt ein bißchen mehr zujammen 
fommen?’ verfuchte er zuvor zu unterhandeln. „Beſſern 
werde ich mich ſchwerlich, und anfammeln wird fih noch 
gar mand) rauhes, derbes Wort der Wahrheit; ich weiß 
jelber nicht, wie's fommt, daß ich der Dame Giron- 
vale gegenüber immer ein paar Strich unter dem Kurs 
liege!” 

„Legen Sie die Ruder in Lee und luven Sie etwas 
an! Wer fi ‚Gänjehäute‘ und Bramjtagläufer einbrodt, 
muß jie auch portionsweiſe auseſſen!“ 

Der Herr Leutnant zur See hat das tiefbeleidigte 
Fräulein E3perance mit aller eierlichkeit um Verzeihung 
gebeten. Wie er aber dieſes Peccavi geitammelt, und 
wie jehr er ſich dabei auf die ſchwachen deutjchen Sprach: 
fenniniffe feiner Gegnerin verlafjen, darüber berichtet die 
chronique scandaleuse noch heutigen Tags mit wahr: 
bafter Begeijterung. olgendermaßen lautete die Ned: 


a. 2 


de3 fchalfhaften Neumütigen, welche er mit treuherzigftem 
Geſicht und unter außerordentlichem Amüfenent aller Um— 
Itehenden vor Fräulein von Gironvale gehalten: „Meine 
Gnädigfte, ich habe angenommen, daß eine Gänjehaut 
natürlicher Zuſtand bei Ihnen jei, und das iſt wahr; 
auf höchiten Befehl joll ich Hierfür um Permiſſion bitten, 
und da3 tut mir jehr leid.” 

Mademoijelle Esperance war volllommen verföhnt und 
aß an demjelben Tage noch ein Vielliebehen mit dein „ſchar— 
manten Sünder Hovenflingen”. 

Als der Freiherr von Nennderjcheidt in die Götter- 
ullee eintrat und Fürftin Tautenjtein feiner anfichtig 
wurde, teilte fie jehr oftenfibel ihren Schneeballenjtrauß 
mit Prinz Hohned. Er grüßte kurz und fchritt gelafjen 
an ihr vorüber zu Fräulein von Speyern, um zum erjten 
Male jeit feiner Verheiratung freiwillig ihre Unterhaltung 
zu fuchen. Diejelbe drehte ſich hauptſächlich um Marie 
Luiſe, und es lag viel warme Aufrichtigfeit, ja eine für 
Fides unerflärliche Erregung in feiner Stimme, als er ihr 
für alle Liebe und Freundlichkeit dankte, mit welcher fie der 
jungen rau helfend und ſchützend zur Seite gejtanden. 

„Ste haben gar oftmals meine Stelle vertreten und 
find ihr die treue Stüße geweſen, welche ich eigentlich 
hätte fein jollen. Ich jtehe tief in Ihrer Schuld. Sch 
weiß auch nicht, wie ich dieſelbe abtragen fol, denn der 
ſchönſte Lohn ift Ihnen bereit3 geworden, die Liebe und 
Freundſchaft einer der edeliten und braviten Frauen.” 

Ein faſt zärtlicher Ausdrud lag auf ihren ernften Ge— 


— 445 — 


fihtszügen. „Ja, Sie haben recht, Herr von Nennder- 
jcheidt, eine der edeljten und bravften Frauen! Dem 
Himmel fei Dank, daß ich dieſes Urteil aus Ihrem 
Munde hören darf.” Mit jähem, ſcharf prüfendem Blick 
Ihaute fie in fein Auge. „Ich jage dem Himmel ſei 
Dank“ aus egoiftiichiten Gründen und weiß vielleicht 
Mittel und Wege, auf welchen Sie Shre . . . soit dit 
Schuld an mich abtragen könnten!“ 

„Ich beſchwöre Sie, diefelben zu nennen!” 

„Ich bin viel bejchäftigt, fühle mich all den Pflichten, 
welche mir obliegen, faum noch gewachſen und muß mit 
jeder Minute geizen. Ich werde mic) der Gefelligfeit, 
ſoweit es meine Stellung erlaubt, Fünftighin fernhalten, 
und habe auch die legten Feſte nur aus Pflichtgefühl 
befucht, um Shrer Frau die flehend erbetene ‚„Zufluchts- 
injel® in der Hochflut der Saiſon zu fein. Wollen Sie 
den Poften, welchen id) für Sie verwaltete, nun felber 
antreten, und wollen Sie mir verjprechen, daß Sie mich 
redlich erjegen wollen, mit all meiner Liebe für Marie 
Zuife, meiner Sorge und meinem Haren Auge, welches - 
über fie wacht?” 

Dlivier empfand fehr wohl das Eigentümliche dieſer 
Bitte, welche ihm herber denn jeder Vorivurf feine Ver: 
fäumniffe vorhielt, und das als Liebenswürdigfeit von 
ihm forderte, wa3 einfach jeine Pflicht war. Dennoch 
erhob er das Haupt und ermwiderte voll und feit ihren 
Blid. „Wenn meine rau mit diefem Tauſche fürlieb 
nehmen ‚will, jo werde ich dadurch meine Verbindlich- 


2: Zi 


feiten Ihnen gegenüber nicht abtragen, fundern mid) noch 
tiefer in diefelben verjtriden.” 

„sicht nur im Ballfaal bedarf Marte Luije des ge- 
duldigen Lehrmeiſters und Freundes, jondern auch in 
den vielen Stunden häuslicher Einjamkeit. Überlaffen Sie 
Graf Goſeck nicht das fchönfte und reizendjte Amt, eine 
junge Menfchenfeele unter dem Einfluß geiftiger Anregung 
zur Blüte zu entfalten, ich bitte Sie inftändig darum, um 
Ihrer jelbjt willen; laſſen Sie feinen fremden Gärtner 
auf ihrem Eigentume walten, er wird nicht allein jüen, 
fondern aud) ernten wollen.” 

E3 lag etwas Zwingendes, angſtvoll Warnendes in 
der Stimme der Hofdame, fie bot ihm die Hand entgegen: 
„Verſprechen Sie es mir!” 

Einen Augenblid jtarrte er erftaunt in ihr Antlitz, 
dann umfchloß er ihre Hand mit fejtem, fait heftigen 
Drud. „sa, ic) gelobe es, und ich danke Ihnen. Sch 
fenne Ihre Averfion gegen meinen Freund und werde fie 
rejpeftieren, um jo mehr, da ich bereit3 jelber den Ent- 
- Schluß gefaßt habe, Euftachs Amt nun perjünlich zu ver: 
walten. Sch habe die Überzeugung, daß ich einer Zeit 
“entgegen gehe, in welcher ich jelber Gärtner jein werde, 
um viel Unfraut zu roden, welches meine Nachläſſigkeit 
zu einer Wildnis hat auffchiegen laſſen. Aber ich werde 
nachholen, was ich verjäumte, und will das Paradies, 
welches ich verloren, und welches ich zur Wüfte verfümmern 
ließ, zurüdgewinnen. Warum fehen Ste mich jo überrafcht 
an? Klingen meine Worte fo wenig glaublich?” 


es 


„Daß Sie ſolche Gedanken hegen, erfcheint mir fehr 
natürlich, daß Sie diefelben ausfprechen, frappiert mid) 
allerdings auf das höchſte.“ 

- Ein eigentümlicher Zug fchlich ſich um feine Lippen, 
Bitterfeit und Beſchämung. „Sch glaubte Ihnen die Ge: 
nugtuung jchuldig zu fein‘, fagte er mit gepreßter Stimme. 
„Wenn man über einen Baum, welcher als ‚wilder Schöß- 
fing‘ nicht mehr in die Gefellfchaft Fultivierter Kollegen 
paßt und darum gefällt werden fol, fchirmend die Hände 
breitet und ihn erhält, dann freut man fich über jedes 
grüne Blättchen, über jede, ſelbſt die kleinſte edle Frucht, 
welche er trägt. Sch weiß, was Sie für mic) getan haben, 
Sräulein von Speyern, mehr als all die wachſam Iauern- 
den Augen der großen Melt beobachten fonnten. Darum 
jollen Sie auch den Erfolg Ihres opfermutigen Werkes 
fchauen, follen fi) itberzeugen, daß hie und da nod) ein 
grünes Reis auf trodenem Stamm treibt, und Sie jollen 
fünftighin nicht mehr mit Augen auf Ihren Schügling 
bliden, fo ftreng, ſo kalt . .. jo... fo, ich kann's gar 
nicht mit Worten fagen, was alles in Ihrem Blide liegt, 
das mich fo unfagbar Klein vor Ihnen werden läßt! Laſſen 
Sie es anders werden, ich bitte Sie darum!“ 

Ein Lächeln ging über ihr Antlit. Anfänglich war 
ihr Nennderjcheidt verändert erfchienen, jet war er wieder 
ganz der Alte, der ungeſtüme Hitzkopf, welcher durchaus 
fein Talent zum Diplomaten bat. Der Schmetterling, 
welcher den giftig füßen Kelch der Belladonna umgaufelte, 
hat plöglich das Veilhen, das düftefchwere, im Moos 


— 448 — 


entdeckt, und er flattert herzu und umſchmeichelt den Dorn— 
buſch, unter deſſen Schuß und Einfluß die fcheue Knoſpe 
ſteht. „Blicke freundlich auf meine bunten Schwingen, 
welche neben allem Wankelmut dennoch das Symbol der 
Unjterblichfeit find! Und neige di), und flüftere dem 
Veilchen Heimlic; mein Lob ins Ohr ... und erzähle 
ihm Gute von mir; und entjchuldige meine Blindheit, 
die e8 um eines giftigen Unfraut3 willen überjehen konnte!“ 

Was aber hatte den Blid des Falter? inmitten de3 
beraufchenden Gifthauches auf die finnend geneigte Un— 
Ihuld im Moofe gelentt? Das Unfterbliche, Seelenvolle, 
welches kaum geahnt in ihm felber fchlummert, welches 
ihn magnetijch Hinzieht, ruhelos Elopfend an der Bruft, 
bis er unter taufend Blüten diejenige gefunden, zu welcher 
der Schmetterling ſich jterbend neigt, damit feine Seele, 
die Unsterblichkeit, fich ihrem Dufte ewig vermähle. 

Fides fah mit hocherhobenem Haupt in Oliviers Auge. 
„Gut Freund!” fagte fie, jchlicht und feft. „Gut Fremd 
allezeit.“ 


90 


XX. 


Wie ſucht ihr mich heim, ihr Bilder, 
Die lang ih vergeffen geglaubt? 
Shamiffo. 
Wir üben heut' ein gleiches Zun, 
So laffet uns die Hände falten, 
Und in ung feldft einfehrend nun 
Zuſammen Afchermittwoch halten! 
Adolf Stößer. 






mic 
8 ? ’ ürjtin Tantenftein hatte mit wachjendem Er— 
— if itaunen bemerkt, daß der Freiherr von Nennder— 


jcheidt, welcher jtet3 ihr Schatten geweſen, heute 
ihre Unterhaltung kaum vermißte, geſchweige fie fuchte. 

Als der Großherzog und der Grbgroßherzog, mit 
welchen fie in lebhafter Unterhaltung promenierte, die Frau 
Staatsminister und Gemahlin des rufjifchen Gejandten 
begrüßten, benubte fie den Moment, jich in ihrer eigen= 
willigen Weife unter die Gejelljchaft zu mifchen. Ohne 
fi) durch eine direkte Konverfation feſſeln zu laſſen, hie 
und da zunidend, dort im VBorüberfchreiten die Hand mit 
den Elirrenden Goldreifen darbietend, und zeitweiſe im Be— 
gegnen eine Bemerkung in fremden Disput ſtreuend, ſchritt 
fie kreuz und quer durch die eisglißernden Parkwege. Wie 


ein Srrlichtflämmichen tauchte die feuriggelbe ur ihres 
Nov Eſchſtruth, Bu. Nom. u. Nov, Hazard 11. 


— 450 — 


Kapothütchens im launigen Zickzack auf und nieder, und 
die mächtige Ulmer Dogge mit dem Halsband „A la chien 
de Charles V.* drängte fich mit geneigtem Kopf ihrer 
Ihönen Herrin nad). 

Claudia trug noch die Hälfte des großen Straußes 
blühender Schneebälle in der Hand. Ihr Blick fchweifte 
juchend durch die Menge, und als fie den Freiherrn bon 
Nennderjcheidt ganz vertieft in eine Unterhaltung mit 
Fräulein von Speyern ſah, brach fie fchnell einen Schnee: 
ball vom Zweig und warf ihn nedend gegen Dliviers 
Bruft. Ein zweiter folgte und traf die Schulter der 
Hofdame. 

Nennderſcheidt zog verbindlich den Hut, neigte fich und 
nahm die Blüte auf. Nach wenigen Minuten jchritt 
Fürſtin Tautenftein wieder an ihnen vorüber, und wieder 
flog ein Schneeball. | 

„Biel Kugeln verfliegen in Lüften frei — 
Fängt ſich eine im Herzen, ift alles vorbeil” — 

Sie wandte lachend da3 Köpfchen. Als Antwort 
folgte den beiden erften Blüten eine dritte. Sie traf 
nicht, ſchoß weit über das Ziel hinweg und fiel in Ge— 
büſch. Die Dogge jtürzte ihr nad). 

„O, wie jchießt ihr jchlecht! Abe, mein Land Tirol!” 

„Vorläufig haben Sie weder dem Lande Tirol, noch 
mir ‚guten Tag‘ gejagt!” 

Dlivier trat an ihre Seite. 

Die Unterhaltung war nicht fo luſtig und animiert 
wie font. Nennderſcheidt fchien Schlechte Yaune zu haben 


— 451 — 


und jah fie mit anderen Mugen an wie ſonſt; jchärfer, 
prüfender. Er bemerkte zum eritenmal, daß fie fich ftart 
gepudert hatte und in dem helliten Sonnenlicht nicht jo 


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wm jung ausſah wie fonft. 

Be „Ich freue mich jo ſehr auf 

u den Beginn de3 Karneval, 
welcher dieſes Jahr in etwas rheinländifcher Manier von 
der Stadt gefeiert werden ſoll“, fagte fie im Lauf des 
Gejpräches. „Für einen Feftzug ſorgt die Kunſtſchule 
und die Akademie, und etliche der renommierteſten Maler, 

29* 


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welche ich gejtern am Künſtler-Jourfix der Frau Minijter 
fennen lernte, verjprachen mir eine höchſt amüfante und 
bunte Zeit. Sch haſſe alle Langeweile und liebe es, 
wenn man den ganzen Tag über vor Amüfement kaum 
zur Befinnung kommt! Das Leben ift jo furz, man muß 
genießen, fo viel wie nur irgend möglich für grüne Blätter 
im Immortellenkranz der Erinnerung forgen! Jede Stunde, 
welche ich gelangweilt auf meiner Chaijelongue vergähne, 
evachte ich für zwecklos und vergeudet, und Doch bietet 
hier in dieſer unglaublich foliden und pedantifchen Welt 
fein Tag vor dem Mittagefjen eine Abwechslung!” 

„Leſen oder mufizieren Sie nicht?” 

‚ein, ungern. Andere Menfchen und ihre Schidjale 
find mir viel zu gleichgültig, um auch nur einen Finger 
zum Umſchlagen der Seiten zu heben, und wiljenfchaft: 
liche Werfe zu jtudieren, bin ich ehrlich gejagt viel zu 
träge. Muſik jedoch ift mir höchjtens ein unangenehmes 
Geräufch, welches ich als ‚Mittel zum Zweck im Balljaal 
ertrage und in Oper und Konzerthaus erdulde, als eine, 
welche dem Konnivenzmärtyrertum zum Opfer gefallen!” 

Dlivier ſah ftarr vor fich nieder auf die flinmernde 
Schneedede des Weges, über welche im wirren Durch- 
einander die dunklen Fußſpuren liefen. Eine Erinnerung 
tauchte blißartig in ihn auf. Er fah fi) als Kind in 
der großen Eßhalle von Roggerswyl ftehen. Seine 
Mutter, im fchlichten, weißen Gewand, jaß vor dem 
Harmonium und fpielte die Begleitung zu dem Morgen: 
choral, welcher von färntlichen Schloßbeivohnern gefungen 


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wurde. Machtvoll, feierlich und ergreifend in fchlichter 
Innigkeit erbrauften die Töne, die Pfingftmaien duf- 
teten, und das Sonnenlicht fiel warn und hell in fein 
junges Herz. Da fchlang er voll Entzücden die Arme 
um feine Mutter und rief: „Laß mich ein Mufifant 
werden, Mutter, daß ich fingen und fpielen fann wie du!” 
Sie füßte fein Autlig und hob ihn empor an die Bruft 
und Sprach leuchtenden Auges die Worte Luthers: 


„Wer fi) die Muſik erkieft 

Hat ein himmliſch Werk genommen 
Tenn ihr erfter Urſprung ift, 

Bon den Himmel felbft gekommen; 
Weil die lieben Engelein, 

Selber Mufifanten fein!” 


„Über was denken Cie denn fo lange nad), Herr 
von Nennderſcheidt?“ fpottete fie leife kichernd un feiner 
Seite. 

Er zudte zufammen. „Arbeiten Sie gar nichts?” 
fragte er ſchnell, „oft eifern die Damen dem Beifpiel der 
Penelope nach, fich die Zeit zu vertreiben.” 

Nun lachte fie laut und fchallend auf. „Für arme 
Kinder Strümpfe ſtricken oder Rofen und Vergißmeinnichts 
in zarte Bielliebchen ſticken? Nein, beiter Baron, zur 
Nähmamſell Hat mich meine Mama, Gott fei Dank, nicht 
ausbilden laffen, denn Begriffe, welche nicht durchaus 
ladylike waren, kannte fie überhaupt nicht. Was haben 
Sie für wunderliche Ideen heute? Afchermittwoch feiert 
man erjt in vierzehn Tagen; bis dahin aber trägt auf 


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unferen Köpfen felbjt die Narrenfappe ariftofratifche 
Sarben I” 

Und wieder tauchte ein Bild der Erinnerung jählings 
bor ihm auf. Sein Vater war zum Großherzog befohlen 
und öffnete feine Schatulle, ſich mit ehemals getragenen 
Kleinodien zu ſchmücken. Seine Hand aber war aus: 
gearbeitet und feine Finger für den Wappenring zu ftarf 
geworden. Neben ihm ftand feine Gemahlin... und 
fie nahm jtrahlenden Blickes dieſe ungefüge Hand und 
drüdte die Lippen Darauf. „Kein adeligere8 Wappen 
fann dieje liebe Rechte tragen, al3 die Spuren folch edler 
Arbeit!” — Seit jenem Tage aber glänzte auf des 
Vaters Bruft der höchfte Orden des Landes, mit welchem 
der Großherzog ſeines wackeren Edelmannes fchwielige 
Hand anerfannt und belohnt Hatte. 

„Bil... Bil... Graf Gofed... Esperance . .. 
fill dal... den Mund halten... ftört den Herrn von 
Nennderjcheidt nicht, er Denkt ſchon eine halbe Stunde 
lang darüber nach, was fich geiftreicher ausnimmt, fein 
Neden oder Schweigen!” 

Lautes Gelächter, Olivier macht gute Miene zum 
böfen Spiel und lacht mit. Aber er bleibt zerftreut und 
einfilbig. Erjt als Marie Luije mit Fräulein von Söder: 
mann durch die Gittertür der Götterallee eintreten, belebt 
fih fein Blick. Gofed eilt der jungen Frau wie in ganz 
felbftverftändlicher Galanterie entgegen und begrüßt fie 
ſehr herzlich, beinahe vertraulich. Sie bedankt fich für 
den köſtlichen Tliederftrauß, welchen er ihr heute morgen 


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gefchieft hat, und er bittet fie um Berzeihung, daß er fie 
nicht aus dem Hofpital abholte, wie ſich das wohl ge— 
hört hätte. | 

Fürftin Tautenftein hat der jungen Frau mit zwinkern— 
dem Blick entgegengejehen, und es deucht Olivier, als be— 
fämen ihre „Taubenaugen“ etwas ungewöhnlich Scharfes 
und Stechendes, als fie die jchlanfe Geſtalt Marie Luiſes 
muftert, welche heute ganz befonders lieblich und anmuts— 
voll ausfieht. Halbwegs hat fie ihr fogar die Hand ent= 
gegengeboten, fie mit gnädigem Kopfneigen zu begrüßen, . 
plöglich aber reißt fie die Hand los und taumelt wahr: 
haft entjeßt von Frau von Nennderjcheidt zurüd. „Hoſpi— 
tal?... Sie fagen Hofpital, Graf Goſeck? Mon Dieu, 
fommen Sie etwa Ddireft aus den Krankenſälen zu ung, 
Baronin?“ 

Marie Luiſe wird dunkelrot vor Schrecken. „Ja 
Durchlaucht, ich komme allerdings direkt, aber ich bin 
den ganzen Weg zu Fuß durch die kalte Winterluft ge= 
gangen! Außerdem haben wir feine Patienten mit bös— 
artigen Krankheiten.” 

Claudias Lippen haben fich entfärbt vor Schred und 
Angft, eine zornige, namenloje Oereiztheit jprüht aus ihren 
Augen. „Ganz egall Es ift eine ftarfe Zumutung für Ihre 
Mitmenfchen, allein den Gedanken zu ertragen, mit jemand 
in Berührung zu fommen, welcher joeben an Stranfenbetten 
geftanden hat! Gräßlich! Mich kann nichts mehr aufregen, 
al an Diphtheritis- und Scharlachmijeren erinnert 
zu werden! Kommen Sie mir um otteswillen nicht 


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zu nahe! Sonſt rieche ich den ganzen Tag Lazarett— 
luft!“ 

Marie Luiſe trat einen Schritt weiter zurüd. Ihr 
ganzes Weſen atmete Ruhe und Milde, und ihr lächelndeg, 
furchtloſes Antlig bot einen feltfamen Kontraft zu den 
mehr wie angjterregten Zügen Claudia3. 

„Ich verfichere Cie, Durchlaucht, daß e3 mir fchon 
die einfachite Rücklicht für meine Umgebung geboten hätte, 
mich nicht unter Menjchen zu mijchen, wenn ich diefelben 
dadurch zum mindeiten gefährdet hätte! Die Schwer 
franfen joll ich nur dann bejuchen, wenn Mangel un 
Pflegerinnen iſt. 

„Unerhört! Sie werden ſich durch ſolchen Leichtſinn 
unglücklich machen! Sich anſtecken! Ich würde ſterben 
vor Ekel und Widerwillen und habe ſelbſt meine Mama 
nicht nach Madeira begleiten dürfen, weil ich eine ſolch 
unüberwindliche Averſion gegen alle Kranken habe!’ 

„Wenn man ſich nicht fürchtet, ſteckt man ſich auch 
nicht an!“ entgegnete die junge Frau leiſe, mit ihrem ge— 
duldigen, wehmütigen Lächeln, und Fräulein von Söder— 
mann legte in ihrer etwas tolpatſchigen Weiſe die große 
Hand auf Marie Luiſes Schulter und nickte eifrig. „Iſt 
auch Unſinn mit dem Fürchten! Vor was denn?“ 

„Vor was?“ Claudia zuckte ärgerlich die Achſeln. 
„Sind Sie fo naiv, Todesgefahr kein Riſiko zu nennen?“ 

Dlivier hatte bis jebt gejchiwiegen, aber er war näher 
und näher zu feiner Frau herangetreten, und jeßt legte 
er plößlich ihre Hand feſt auf feinen Arm. 





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„Das eben iſt der Unterjchied zwifchen den Anz 
Ichauungen, Durchlaucht“, fagte er ernſt, und dennoch 
mit leicht ironiſcher Stimmfärbung. „Die naiven und 
gläubigen Seelen, für welche der Tod nur die Pforte 
zum ewigen und glüdjeligen Xeben ift, beben vor jeinem 
Schreden nicht zurüd, weil fie fich auf ihr reines und 
gutes Gewijjen verlaffen können. Andere jedoch, welche 
zur Flagge der Hölle jchwören, und mit lachendem 
Munde die ungeheure Luſtigkeit ‚drunten‘ rühmen, miß- 
trauen meiſt ihrer eigenen Theorie und zittern vor dem 
Tod, al3 vor der gähnenden Kluft banger Ungemwißheit 
oder dem ewigen Ende alles Lebens und Seins.” 

Mit großen, überrafchten Augen ftarrte Marie Luiſe 
auf die Lippen des Sprechers, Fürftin Tautenftein aber 
ballte die Kleinen, zornbebenden Hände im Muff, fie war 
aber Schaufpielerin genug, um nur mit fpöttifchem Lächeln 
den Kopf zu jchütteln. „Sauve qui peut! Der Freiherr 
von Nennderfcheidt leitet feinen neueften Genieftreich ein! 
Er wird al3 ‚Sohn For‘ den heurigen Karneval unficher 
machen, mit dem Unterſchied, Daß nicht er das „Hittern‘ 
befommt, fondern alle diejenigen welche ihn zugehören!” 
Und fie winfte Graf Goſeck an ihre Seite und löfte unter 
allgemein wiederfehrender Heiterkeit die Heine Gruppe der 
Blaudernden auf. 

Hovenklingen trat ſehr eilig an Marie Luiſe heran. 
„Darf ich um einen einzigen Augenblid Gehör bitten, 
gnädigite Frau? Secret du Polichinell!!” 

Nennderſcheidt gab lächelud den Arm feiner Gemahlin 


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frei, drohte dem jungen Offizier fcherzend mit dem Finger 
und wandte fich zur Geite. 

„Unter dem Siegel tiefiter Berjchwiegenheit eine Frage, 
Frau Baronin!” flüfterte Adalbert haſtig. „Wann pflegt 
Fräulein von Speyern bei Ihnen zu muſizieren?“ 

„So oft e3 ihre Zeit erlaubt. Als Jourfix haben 
wir jedoch jeden Samstagabend von fieben bis zehn Uhr 
beftimmt, weil die Erbgroßherzogin an diefem Tage den 
Tee bei der Prinzeſſin Karoline trinkt. Warum fragen Sie?” 

Hovenflingen machte ein Geficht wie ein Bettelmann, 
der durch viel Mimik rühren will. „Ach, ich möchte fo 
Ichredlic) gern einmal dabei fein!” 

Marie Luiſe jah fehr verlegen aus. „sch würde 
Sie unendlich gern einladen, Herr von Hovenflingen, 
aber meine Freundin ift in dieſer Beziehung unerbitt- 
Ah... namentlich nächjten Sonnabend wäre es Direkt 
unmöglih . . .” | 

„Barum denn, gnädige Frau?!” Was er für Augen 
machen konnte! Marie Luiſe hatte den Iuftigen Seemann 
immer gern leiden mögen, und jchlug ungern etwas ab. 
Sie jah ihn treuherzig an. 

‚sa jehen Sie, die Sache ift folgende: Fides kom— 
poniert und will ihre Lieder um feinen Preis vor fremden 
Ohren fingen! Nächiten Sonnabend nun will fie mir, als 
eine ganz heimliche Auszeichnung, von ihren Kompofitionen 
bortragen, und e3 iſt wirklich unmöglich, daß ich Gäſte 
dazu bitte; fie würde gar nicht fingen, und dann hätten 
weder Sie noch id) eine Freude!” 


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„Sehr richtig, nein, um alles in der Welt, ich möchte 
nicht aufdringlich fein!” verficherte der Zeutnant zur See 
fenfzend, und dennoch ſaß ihm der Schalf im Naden und 
blinzelte aus jedem Grübchen feines frischen Geſichtes. 
„Bitte, erwähnen Sie meinen Wunſch mit feiner Silbe, 
id) möchte es nicht noch mehr mit Fräulein von Speyern 
verderben. O, fommen Sie, bitte, etwas fchneller! Mein 
Onkel York Scheint Anny Södermann betreff3 ihres neuen 
Hutes fürchterlich in den Klauen zu haben, ich muß retten!” 

Richtig der alte Fürft Hatte fich fein Nichtchen bei— 
feite gewinkt, und fchien ihr energisch den Standpunft 
über blödfinnige Verſchwendung und verrüdte Moden 
narrheit klar zu machen. Er war vor Ürger noch gelber 
wie ſonſt und gab in feinem verfchofjenen Hechtgrauen 
Sommerüberzicher und dem baumwollenen Touriſten— 
Ichirm unter dem Arm genau die gefrümmte Kladdera=' 
Datfchfigur des „Müller ab. 

„Tag, Onfelchen! Verzeihe, wein ich dich einen Augen 
blick unterbrechen muß . . .” 

Der alte Herr ſchoß wie ein Kreiſel herum und funfelte 
den Fühnen Neffen fampfesmutig an. ‚Aha! du kommſt 
mir gerade gelegen! fehlt nur noch, du folides Bürfch- 
chen, das im Klub Karten fpielt, Strümpfe mit feidenen 
Zwickeln trägt, und al? —— marokkaniſche Bronze: 
ſchalen —“ 

„Verzeihe, Onkelchen, wenn ich dich abermals unter— 
breche, nachher ſtehe ich dir auf alles Rede und Antwort“, 
drängte Hovenklingen faſt atemlos, „du mußt mich nur 


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erft einmal gründlich über das Alter unferer Familie 
orientieren! Da war heute morgen jo ein Sonntagsfex 
im Cafe, welcher behauptete, York ſei ein ganz neuer 
Adel...” Weiter gedieh die Nede nicht, Onfelchen 
pfauchte wie ein Hamfter und machte eine Geſte, als 
wolle er dem Neffen an die Gurgel fliegen vor Wut. 
„euer Adel, die Yorks | 
ein neuer Adel? den Sterl 
wirft du fordern, Adal- 
bert, fordern ſage ich, 
haft du verjtanden ?’ 

„Das verjteht ſich 
ganz von ſelber, Onkel— 
chen, aber vorher muß 
ich ihm gründlich die 
Meinung ſagen! Sieh 
mal, das intereſſiert mich 
ſelber ja koloſſal, wie alt 
deine Familie eigentlich 
ilt, und alle Welt weiß, 
daß du Darüber ganz 
genau orientiert bijt! aljo —“ 

„Ganz genau orientiert, bin ich auch, mein Junge.” 
Das runzlige Geficht hellte ſich auf, der Fürft trat mit 
flinfernden Äuglein noch näher, und tippte dem Adjutanten 
des Prinzen mit dem Finger, welcher die Spitze des ver— 
wajchenen Zwirnhandſchuhs längſt gejprengt Hatte, bei 
jedem Wort nachdenklich auf die Bruft. „Intereſſierſt Dich 





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aljo dafür, he? Na, werde dich mal mit in mein Archiv 
nehmen, kannſt dich überzeugen, daß unjere Familie die 
der echten, alten Yorks iſt .. englilcher Abfunft ... 
Bollblut ſage ich dir... jo reines Vollblut, wie die 
meijten gefrönten Häupter, he? Xächerlih, wenn ein 
Menſch fagen will... Familie fei erjt um das Jahr 1420 
gefürftet, Neid gemeiner! ... . Bosheit infame ... he?“ 

Hovenklingen legte die Hand auf den Rüden und machte 
feiner Coufine und Frau von Nennderjcheidt ein Zeichen, 
jo jachte durch die Lappen zu gehen. 

„Natürlich, Onfelchen, man erzählt fich ja von den 
Yorks die famoje Gejchichte mit Noah . . .” \ 

„Geſchichte mit Noah? ... welche Geſchichte ... he?” 

„Als Noah ſich gerade eingebarkt hatte, ſah er plötzlich 
einen Menſchen mit Anſtrengung aller Kräfte an die Arche 
heran rudern. Es war ein Bedienter in NYorkſcher Livree, 
welcher einen Stoß Akten emporreichte. „Ah, monsieur! 
Ah s'il vous plait, monsieur! Sauvez les papiers de la 
noble famille du Prince York!“ F 

Marie Luiſe und Anny Södermann hielten gleichzeitig 
den Muff vor die Lippen, der alte Erbonkel aber warf 
ſich in die Bruſt und nickte ein Gemiſch von Beifall und 


Verachtung. 
„Lächerlich ... mit ſolcher Geſchichte das! he? Kenne 
ganz andere Familientradition . . bedeutend glaub: 


würdiger, obwohl aus Neid infamem oft. angefeindet! 
Hat fih da in England alter Stammbaum der Yorks 
gefunden ... . vorzüglicher, alter Stammbaum ... war 


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an der Wurzel desfelben zu leſen: ‚Homus Yorkus, 
prineipe I“ ... darüber ,„Homus Yorkus, principe II“ 
und abermals eine Linie Darüber „Homus Yorkus III. 
Um die Zeit dieses Homus Yorkus III. hat Gott die 
Welt geschaffen‘ Seh?” 

Adalbertd Hand arbeitete immer gewaltiger und 
dringender in der Zeichenjprache und dabei verficherte er 
ganz exaltiert fein „Großartig! ... jehr glaubwürdig, 
Onkelchen!“ Die Damen aber entfernten fich mit einer 
gewiffen Haft, und zwar mit allen Anzeichen eines Stick— 
huſtenanfalls. 

„Der gute Adalbert!“ rief Anny ganz gerührt, „mit 
dieſem Kunſtgriff opfert er fich fo oft für uns auf! Nun 
läßt er fich geduldig den ganzen Stammbaum herzählen, 
und nach einer halben Stunde ijt der Dufel in beſter Laune 
und ladet ihn zu einer Taſſe Pfeffermünztee ein.” 

„Pfeffermünztee?!“ 

„Ja, den läßt er felderweiſe auf ſeinem Gut ziehen 
und trinkt mit ſeinem alten Diener jahraus, jahrein nichts 
anderes.“ 

„Aber ohne Zucker!“ miſchten ſich lachend ein paar 
junge Damen und einige Ulanen ein. 

„Selbſtredend!“ 

„Und mit dem Speck, den er ſich bei Halsſchmerzen 
um den Hals wickelt, brät er ſeinen ganzen Fleiſchbedarf 
für Monate!“ 

„Pfui Kuckuck, — von Diersdorff!!“ 

„Da kommt Hovenklingen ſchon zurück!“ 


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„Losgeeiſt? Adalbert, du biſt ſchon wieder frei? 
Menſch, wie haben Sie fich fo fchnell drüden können?“ 

Der junge Marineoffizier lachte fein behaglichites 
Lachen. „Hoheit fam mir zu Hilfe... . liebt e8 auch), 
fi) einen Tleinen Scherz mit Onkelchen zu machen! 
Haben um zehn Pjennige gewettet, ob man in einer 
Gtunde von hier bis zur Faſanerie gehen könne!” 

„Natürlich prejchte der Alte darauf los und gewinnt 
glänzend, denn in feiner Gier läuft er Trab und ift in 
einer halben Stunde längſtens am Biel!” 

Lauter Jubel. Prinz Marimilian tritt mit vergnügtem 
Schmunzeln herzu und klopft feinem Adjutanten und gleich: 
zeitigen Freund auf die Schulter. „Die Bahn ift frei, 
Herrjchaften! Für den Preis eines Silberlings erfaufe 
ich den Frieden und das angenehme Äußere der Götter: 
allee! Nun gibt e3 einen Stapitalfcherz, wenn ich mic) 
auf den Vergeßlichen fpiele und den Austrag der Wette 
acht Tage lang völlig ignoriere; bin überzeugt, der Fürſt 
ängftigt fih um feinen Groſchen die Cholera an den 
Leib!“ — 

Als die Muſik ſchwieg und die höchſten Herrſchaften 
ſich verabſchiedet hatten, bot der Freiherr von Nennder: 
ſcheidt ſeiner Gemahlin etwas haſtig den Arm. 

Goſeck wollte ſich als „ſelbſtverſtändlicher“ Tiſchgaſt 
anſchließen. Olivier aber reichte ihm in aller Freundſchaft 
die Hand und „hoffte ihn abends im Erbgroßherzoglichen 
Palais“ wieder zu ſehen. Auch Herr von Diersdorff, 
welcher ſich mit erwartungsvollem Geſicht verabſchiedete, 


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erhielt feine Einladung zu Tiſch und drehte fich ziemlich) 
indigniert auf den Haden um. Marie LZuife, die fühle, 
unnahbare Minnigliche, hatte es gewaltig bei ihm ver— 
dorben, jeit fie dem blafjen Fuchsgeficht von Anfang an 
nur höchſt ungern einen Blick geipendet hatte. „O, ahnungs— 
voller Engel du!” Hatte Goſeck gelächelt, als fie ihm ihre 
Averſion gegen den füßlichen, phrajenhaften Herrn ein- 
geitanden. Ä 

„Ben haft du heute zu Tiſch gebeten, Dlivier?” fragte 
Marie Luije, al3 fie durch den Park fchritten. 

„Niemand! Sch jehe gar nicht ein, warum ftet3 ein 
Dubend fremde Gelichter um uns herum fißen müſſen!“ 

Sie blidte überrafcht auf. „Wirſt du dich nicht lang: 
teilen ?’ 

Er jah in ihre dunklen Augen und lächelte plöglich. 
„Wie kann ſich ein junger Ehegatte in Gejellichaft feiner 
Heinen Frau langiveilen ?’ 

Eine feine Röte jäher Verwirrung jtieg in ihre Schläfen. 
„Du verfichertejt jo oft, daß du ein töte-A-täte bei Tiſche 
nicht liebſt!“ 

„Ganz recht. Darum wird Auguftchen Spillife die 
Dritte in unferem Bunde fein. Oder wäre dir courfähige 
Gejellichaft angenehmer?” Es lag etwas jo Ungewohntes 
in feinem Wejen, daß Marie Luiſe in jäher Beitürzung 
die Augen niederfchlug. Ihre Hand lag plößlich leichter 
auf jeinem Arm, und e3 jchien, al3 werde der Raum 
zwijchen ihnen breiter. 


„Ich werde Goſeck auf feinem angeltammten Pla an 
N. v. Eſchſtruth, IT. NRom.u Nov., Hazard IT. 30 


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unferem Tiſche vermiſſen!“ fagte fie mit einem Verfuch 
zu jcherzen, dennoch klangen die Worte ftodend von ihren 
Lippen, und fie wußte felber nicht recht, warum fie plößlich 
etwas fo ganz gegen ihre Überzeugung ausſprach. „Sch 
glaube, er wird es dir nicht zu Dank wiſſen, wenn du 
ihn zeitweife um unſeres kleinen Findlings willen zur 
Dispofition ſtellſt!“ 

Sie fah nicht auf, aber fie fühlte es, daß fein Blick 
lange und fcharf auf ihrem Antlig ruhte. Auch Klang feine 
Stimme verändert, al3 er kurz auflachte und entgegnete: 
„Zeitweiſe? Goſeck hat fich eine Stellung in meinem 
Haufe angemaßt, welche auf die Dauer wohl unmöglich 
in gleicher Weife durchzuführen tft!” 

Sie hob dag Haupt. Klar und ruhig fah fie in fein 
Auge. „Ich glaube nicht, daß der Graf jemal3 die Ab- 
ficht gehabt Hatte, fich aufzudrängen. Es war weder eine 
angenehme noch leichte Pflicht, die Einfalt vom Lande und 
die Frau eine anderen durch die zahllofen Klippen und 
Steine zu lotjen, welche ihr überhoch in den Weg gerollt 
wurden, aber du hattejt ihn als Freund an meine Seite 
gejtellt, und um deinetwillen opferte er ſich in einer Stellung 
auf, welche gewiß fein anderer jemals jo treulich ausge: 
füllt haben würde wie er] 

Es lag weder Vorwurf noch Gereiztheit in ihren 
Worten, fie ſprach in der milden, ruhigen Weife wie jtets, 
und doch ſtieg heiße Nöte in Olivier Stirn. 

„Er übertrieb . . . er war allzu eifrig!” jtieß er 
baftig hervor. „Hat ſeit drei Jahren feinen Schritt mehr 


— 467 — 


getanzt, und jebt raft er los wie ein Verrüdter, und zwar 
allein mit dir... .” 

Sie jcehüttelte lachend das Köpfchen. „Haft du ganz 
vergejjen, daß du ihn felber gebeten: ‚Tu mir die einzige 
Liebe, Euſtach, und tanze meine Frau etwas ein! Ich 
habe zu wenig Geduld dazu.” 

Nennderſcheidts Zähne fchnitten fcharf in die Kippe. 


„Allerdings... ich entfinne mi) ... man hat manchmal 
ein Breit vor der Stirn... aber gleichviel — das 


Spazierenfahren —“ 

„Höre mal, alter Junge... . ich möchte Marie Luije 
ungern mit den neuen Füchjen allein fahren laſſen, ich 
habe jo wenig Zeit am Vormittag, gib deinem Herzen 
einen Stoß und fteige als ritterliher Schu auf den 
Hochfahrer, die Zügel um die Arme zu wideln”... 
perfiflierte die junge Frau mit einem ganz ungewohnt 
nedifchen Zug um die Xippen, welcher ihr reizend ftand. 

Dlivier lachte und zog ihren Arm wieder fefter an fich. 
„Haſt recht, Marie Luiſe, ich habe mir jelber die Narren= 
fappe über die Ohren gezogen, gejchieht mir ganz recht, 
wenn ich nun Prügel mit der Pritſche befomme! Aber 
e3 gibt einen Ajchermittwoch, welcher dem Faſching ein 
Ende macht, und der tolle Sunfer reißt die Schellenmüße 
bom Kopf und meift einem jeden die Zähne, der folche 
Veränderung nicht bemerfen will!” 

Sie anmwortete nicht. Der Wind faufte ihnen eilig 
entgegen, und e3 war, als ftreife fein Atem nicht nur die 
klirrenden Baumwipfel, jondern auch daS bebende Herz 

30* 


— 468 — 


der jungen Frau, um alles darin aufzurütteln und zu 
ſchütteln, was es je an Qual, gekränktem Stolz und Todes— 
weh erfüllt hatte. — — 

Die kleinen Schneeflocken aber ſchienen gefrorene 
Tränen, die türmten ſich zu himmelhoher Schweidewand 
zwiſchen ſie und ihren Gatten. 


J 
ON 


eu nolesinlegino 


XXI. 


Fiel ein Herz im Drange, 

Zwiſchen Weiz und Pflicht, 

Menſch, o richte nicht! — 

Weißt du, weldem Zwange, 

Welchem Unglüdstag 

Sol? ein Herz erlag? — 
Tiedge. 


Es duntelte früh. Die 
Fenſterladen in Collanders 
Studierſtube waren geſchloſ— 
ſen, und die niedere Lampe 
mit dem tief herabfallenden grü— 
nen Schirm brannte auf dem Ar— 
beitstiſch. Aufgeſchlagene Bücher, 
hohe Stöße von Zeitungen und 
Manußſkripten lagen por dem Stifs— 

pfarrer di von Sankt Brigitten, welcher das Haupt ſchwer in 
die Hand ſtützte und mit brennendem Blick über die weißen 
Blätter hinaus ins Leere ſtarrte. Gewaltjam riß er ſich 
aus ſeinen Gedauken auf und faßte die Feder, überlas 
die letzte Seite des Geſchriebenen, einmal und noch einmal, 
ſetzte zögernd die Feder an, ſtrich aus, was er kaum 





0 


niedergefchrieben und rieb mit nervöfer Ungeduld Die 
Stirn. Wieder hatten ihn giftige Zungen in dem ge= 
lefenften Tagesjournale angegriffen, hatten feine lebte 
Entgegnung auf den Artikel eines feiner Widerjacher 
unter das Meffer genommen und fie voll höhnender 
Schärfe zergliedert. Die Thejen, welche Collander dies— 
mal angejchlagen hatte, waren nicht mit derſelben fejten 
und eijernen Klarheit niedergefchrieben, wie ihre Vor: 
gänger. Es war, als habe die Hand des jtreitbaren 
Mannes gezittert, als habe ein Nebel über Geiſt und 
Augen gelegen, al3 er diesmal feinen Feinden entgegen 
getreten. Unficher, fich jogar in Widerfprüche verwidelnd, 
flüchtig und ungeduldig parterte er diesmal die Angriffe. 
Sonjt hatte er Keulenfchläge geführt, wuchtig zutreffend, 
vol kühner, bejonnener Gewalt, jetzt führte feine Hand 
nur noch einen Steden, welcher wirr und ziellos in den 
Weſpenſchwarm Hineinfchlägt, nicht zermalmend, fondern 
nur aufjtachelnd zu giftigeren Stichen. Vor ihm lag die 
Zeitung. Wie boshafte, grinjende Gnomengejtalten tanzten 
die Schwarzen Buchitaben vor feinen Augen und höhnten: 
„Antworte! WVernichte und, du großer Neformator mit 
dem Kleinen Verftand! Schlag nieder, was fich gegen 
dich erhebt, oder wirf die Flinte ing Korn und laß dich 
prügeln!” 

Antworten! Collander mwühlte mit den Händen in 
jeinem dichten Lockenhaar und atmete faſt feuchend. Daß 
er dieſes Schlangengezüchte mit den Fäuſten paden und 
würgen fünnte! Mit Worten will e3 ihm heute nicht ge= 


— 471 — 


fingen, e3 iſt wüſt und zerfahren in feinem Kopf, taujend 
Gedanken jchwirren wie Eintagsfliegen mit jchillernden 
Flügeln durch fein Hirn, aber fie find anderer, ganz 
anderer Art, fie gerade führen ihn weit ab von diefem 
ernjten, nüchtern gelehrjamen, dogmatiſchen und politifchen 
Kämpfen. Und dazu weht ein feines, wunderfames Duft- 
gemijch um fein Haupt; die welfen Roſen im Glas, Die 
forgjam und zärtlich gepflegten, hauchen leifen Gruß, und 
Dicht daneben aus dem rojigen Couvert mit dem prunf: 
vollen Monogramım unter der Fürſtenkrone, fteigt e3 ſüß 
und berauſchend empor. 

Helmut Collander ſchiebt mit faſt ungeſtümer Be— 
wegung ſein begonnenes Manuſkript zurück und greift 
nach dem Brief. Er kennt ſeinen Inhalt auswendig und 
dennoch lieſt er ihn wieder und wieder. Er ſoll kommen! 
Zu ihr, dem zauberſchönen Weib, deſſen Cherubſchwingen 
tief im weltlichen Staube ſchleppen. Wie eine verworrene 
Melodie brauſt und ſauſt es durch ſeine Sinne. 


„Die ſchönſte von den Frauen, 
Reicht ihm den Becher hin, 
Ihm rinnt ein ſüßes Grauen 
Seltſam durch Herz und Sinn. 
Er leert ihn bis zum Grunde, 
Da ſpricht am Tor der Zwerg: 
Der unſre biſt zur Stunde, 
Dies iſt der Venusberg!“ 


Ja Tannhäuſer, toller, wahnwitziger! ach, und dennoch 
beneidenswert Glückſeliger! 


a. ATI ei 


Collander fpringt empor und durchmißt fein Zimmer 
mit erregten Schritten. „Die Nachtigall ruft: zurüd, 
zurück!“ „Nein, er wird fein Narr fein, der ſich Auge 
und Vernunft blenden läßt, wie der Knabe im Hörfelberg ; 
er wird mit flarem Blid den Abgrund zivifchen einer 
Fürſtenkrone und einem Hirtenhute jehen, er wird nicht 
kommen wie ein Dürftender und Fieberkranker, ſondern 
wie ein Arzt, welcher die Seele heilen und retten will. 
Ja, er wird hingehen zur Fürftin Tautenftein. Glaube 
und felige Hoffnung und das beite, edeljte Streben gehen 
mit. Wohl ift fich Collander beivußt, was er wagt. Ein 
Hazard ift e3, in welchem er alles auf eine einzige Karte 
jeßt. Kann er den lieblichen Engel, welcher dent Paradies 
entflohen, kraft feiner Überzeugung und feines Glaubens 
zurückführen, fo hat er ein köſtliches, ein hohes Spiel ge- 
wonnen; gelingt es ihm aber nicht, find die weißen, ſammet— 
weichen Händchen fräftiger wie all jene gewaltigen Ed- 
jteine, welche da3 Fundament feine ganzen Daſeins 
jtüßen, jchüttern fie daran und reißen fie diefelben ein 
— dann —“ Collander ſchlug fchweratmend die Hände 
por das Antlig, — „dann Gnade mir Gott!” — 

Wiederum hob er lächelnd und fiegesfreudig das Haupt, 
barg Marthas Bild auf dem Herzen und trat zum Fenſter, 
e3 aufzuftoßen und zu dem klaren Nachthimmel auf: 
azufchauen. „Der Preis, um den ich kämpfe, ift zu hoch 
und wundervoll, um vor Gefahren zu erfchreden, ich ver- 
traue dir, du mein guter Stern, und wage das Hazard!” 
Sein Haupt wandte fih, und fein Blid ftreifte die Uhr. 


— 493 — 


Noch volle zwei Stunden, ehe er bei Fürftin Claudia ein= 
treten darf. Soll er fich niederfehen und es abermals 
mit feiner Arbeit verfuchen? Dieſelbe preffiert und muß 
vor Mitternacht in den Händen der Redaktion fein, foll 
das Morgenblatt die Entgegnung bringen. Man ift eg 
gewohnt, daß Collander mit jchnellen Waffen kämpft, Hieb 
und Gegenhieb, Schlag und Stich, man wird fich wundern 
und fragen, warum er plößlich fo ſaumſelig und apathifch 
geworden? ©leichviel, es ift ihm unmöglich, einen ruhigen 
und klaren Gedanken zu fafen, er muß im Geifte mit 
dem ichöniten Weibe debattieren und die Geiſtesſchwingen 
prüfen, ob fie ſtark und kühn genug find, ſich um einen 
Seraph jchlagend, denfelben zur Pforte des Himmelreichs 
zurüdzutragen. Wenn er von Claudia heimfehrt, wird 
er angeregt und begeijtert fein, dann wird er fich ans 
Wert machen und die Scharte ausmwehen, welche er fich 
ſelber durch feine legte, flüchtige Widerlegung gefchlagen. 
Er kann die Schrift alsdann noch jelber in die Druderei 
tragen. Zuvor aber zu ihr, zu Claudia, Lichtfunfen ins 
Herz zu holen! 

Langſam wandelte der Stiftspfarrer in dem Zimmer 
auf und nieder, fah feiner Gewohnheit gemäß zu dem 
Bilde Martin Luther empor und wandte jählings das 
Haupt. Finſter fahen die Augen des Neformators auf 
ihn nieder, die Hand krampfte fich feſter um die Bibel, 
und die Tippen fchauten juft fo aus, al3 wollten fie voll 
zornigen Vorwurfs fprechen: „Iſt dir wohl, jo bleib 
davon, daß du nicht Friegeft böjen Lohn!” 


— 474 — 


Wie follte e8 noc) einen Helden geben, wenn ein jeder 
fo denfen wollte? Durch Kampf zum Sieg! und das ift 
ein billig Gewinnen, dem fein Wagen vorausgegangen ift! 

Collander begann fich anzufleiden, viel forgjamer und 
gewählter denn ſonſt. Er ſtand vor dem Spiegel und 
betrachtete zum erjtenmal feit langer Seit wieder fein 
Antlitz mit demjelben Intereſſe wie damals, als er, ein 
frifcher Studio in Erlangen, nicht allein der Alma mater 
fein „vivat, crescat, floreat!“ zujauchzte. Ein Lächeln ging 
über fein Antlit, als er die glänzenden Wellen feines 
dunklen Vollbarts bürftete, und durch feine Seele zog es 
wie Nebelbilder, Erinnerungen, meilt trübe, fchwere 
Wolfen, zwifchen welchen fich ein einfamer Wanderer 
fampfmutig dem fernen, hohen Ziele entgegenarbeitet. 

Helmut Collander war eines Kapellmeilterd Sohn. 
Kaum dab er feinen Vater gefannt hatte. Ein einziges 
Erinnern an ihn war ihm geblieben, wirr und angjtvoll. 
Blaß und hager, mit langem Bart und Haupthaar, lag 
er als Schwerfranter in den Kiffen. Wilde Fieber: 
phantafien riffen ihn empor, feine Augen rollten, feine 
Hand taftierte die Dper, feine erjte Kompofition, welche 
das Publikum ausgepfiffen hatte, und dazu fehrie und 
mwimmerte er die Melodien ... und ſank fchlieglich matt 
zurüd ... ftierte mit gläſernem Blid ins Leere und de 
klamierte voll dumpfen, röchelnden Pathos ... „der Reit 
it Schweigen ... Schweigen” — Und eined Nachts er- 
wachte Helmut in feinem Bettchen von einem Teilen, 
wunderjamen Geſang. „Dort wollen wir niederfinfen 


— 475 — 


unter dem Balmenbaum, und Ruhe und Liebe trinfen ... 
und träumen feligen Traum...“ Leifer — immer leijer 
Hang’3 ... und dazwiſchen fchluchzte das bleiche Weib, 
welches neben dem Totenbett auf den Knien lag... 
Seine Hand glitt über ihr Haupt... fein Blid traf das 
Kind... und dann ein tiefes Auffeufzen. Das Lied war 
aus. Dann fam eine lange, einfame Zeit im Giebel: 
jtübchen, ein Entbehren ... Lernen... Schmeicheln und 
Tröften um da3 einfame Mütterchen, Hunger und Kälte. 
Ein Stipendium ermöglichte dem Knaben das Studium, 
er wollte Pfarrer werden. Im Sommer hatte er oft 
tagsüber mit der Mutter auf dem fliederüberhangenen 
Grab gejefien, hatte auf der Kirchichwelle gejpielt, wenn 
die Sonnenftrahlen durch die bunten Fenfterjcheiben 
hufchten und die Schwalben zwitjchernd über feinem 
Haupte dahinjchoffen, und er Hatte den Gottesgarten 
mit all feinem Frieden, feinem Blütenduft und feiner 
Wehmut liebgewonnen. Sa, er wollte Pfarrer werden, 
und feine Mutter faltete die Hände und nidte mit ver- 
klärtem Angejiht. Eine Tages aber fand er fie vor 
dem Klavier im Seſſel ſitzen, bleich und fühl, das Haupt 
vornübergefunfen, als jchlafe ſie. Sahrelang war dag 
Snftrument verjchloffen geweſen, jebt ſtand ein offen 
Notenheft darauf — „unter dem Palmenbaum ... und 
Liebe und Ruhe trinfen . . . und träumen feligen 
Traum . . .” Ein gellender Auffchrei — er fchlang die 
Arme um die Schläferin, er ftarrte in das Antlit und 
preßte feine Lippen darauf. Die Palmen des ewigen 


— 4716 — 


Friedens raufchten über der Dulderin. Hinaus in die 
Fremde! Einfam, arm und rajtlos fleißig. Nur einmal 
brach Sonnenfchein durch die Wolfen, dort in Erlangen, 
wo der ſteinerne Markgraf im Schloßgarten über die ehr- 
geizigen Pläne des jungen, hitzköpfigen Studenten lächelte. 
Dann ward er Hauslehrer bei einem kränklichen Knaben, 
fernab von aller Welt, begraben in rotblühender, fonniger 
und fjchneebededter, lautlojer Einjamfeit der Heide. 

Kicht3 von elegantem Leben, nichts von Luft und 
Freude, zwiſchen fchlichtem Landvolk ein ruhelos jtudierender, 
alleinſtehender Mann. Aber Schritt um Schritt vorwärts, 
immer arm und vereinſamt, und dennoch kämpfend und 
ringend nach dem Ziel, dem leuchtenden, welches er 
ſich geſtect. Und allmählich reiften die Früchte am 
Dornenreis, die Sonne brach durch die Wolken und 
lockte die ſchneeigen Myrtenblüten aus der Knoſpe. Licht— 
blicke in dem Wetterſturm des Kampfes, welcher ihn 
plötzlich mit jähem Wirbel emporriß und ihn in eine 
neue Welt verichlug. Und nun endlich jtand er am 
hohen Ziel! Pracht und Herrlichkeit um ihn her, Fürlten- 
huld und blendende Frauenſchöne, und wie er den fteinigen 
Weg hinabblidt, den er erflommen, fchwindelt’3 und durch: 
ſchauert's ihn. Wer lange in der Dunkelheit gewandert 
und plöglich in grelles Lichtgefunfel tritt, fteht zag und 
unficher wie ein Blinder, und wer zuvor nur klares, arm: 
jeliges Quellwaſſer gejchlürft und hält plöglich einen gül- 
denen Becher voll Feuerweins an die Lippen, der wird 
taumeln wie ein Beraufchter. 


= 477 = 


Helmut Collander ftrih mit der Hand über Die 
Stirn, als wolle er jene Bilder der Vergangenheit aus 
jeinen Gedanfen verwiſchen. Er jah an fich nieder, über 
jeine breite, marfige Bruft. Der ſchwarze Rock deuchte 
ihm plöglich recht kahl und düfter. Ein farbig Bändchen 
im Knopfloch würde gar guten Platz hier finden... und 
Fürſtin Tautenftein würde ihm mit wohlgefälligem Lächeln 
die weiße, goldgejchmücte Hand reichen und jagen: „Keinen 
Glückwunſch zu Selbitverjtändlichem, Herr Hofprediger, 
dem Verdienſt feine Krone.” Noch hatte er feinen Orden, 
noch ijt er nicht Hofprediger, ... . aber Collander zudte 
leicht zufammen und errötete plöglich wie ein Mädchen. 
Lächerlich, was für närrijche Gedanfen einem doch fommen 
fünnen | 

„sn Sammet und in Seide 
War er nun angetan, 

Hatt’ Binder auf dem leide 
Und aud) ein Freu; daran — 


Und war fogleih Minijter 
Und trug den großen Stern — —“ 


Er lachte hell auf und jchüttelte den Kopf. Beinahe 
hätte er vergefjen, welch eifriger Widerfacher er ſtets gegen 
den Trödelmarft geweſen war, auf welchem bunte Bändchen 
feilgehalten, erhandelt und verjchleudert werden! So ein 
Stern fieht jo harmlos Hein und freundlich bligend aus... 
und dennoch iſt er ein ſchwer, ſchwer Gewicht, welches 
jelbft den ſteifſten Naden und ftolzejten Rüden krumm 
biegt, frumm bis in den Staub. 


— 4718 — 


Behaglich, mit dunklem Schlag, verfündete Die Schwarz: 
wälderin nebenan im Zimmer die achte Stunde. Collander 
beendete haſtig feine Toilette und griff nah Mantel 
und Hut. 

Auf der Treppe begegnete ihm die alte Lieſe aus dem 
Spital drüben. „Ob der Herr Pfarrer heute abend den 
Tee bei Fräulein Martha trinfen werde?’ 

„Rein, Möütterchen, bejtell einen fchönen Gruß und 
fag dem Fräulein, ich jei in das Schloß befohlen!” 
Der Pfarrer fagte es langjam, mit viel Betonung, 
und weidete ih an dem ehrfurchtsvoll aufgeriffenen 
Mund des braven Weibleins. 

„Was foll denn da aber aus dem fchönen Sped- 
fuchen werden, den Fräulein Marthchen zur Überrafcjung 
gebaden hat?” 

„Ein up, leivet, leivet Liefing!” fang Helmut fast 
übermütig lachend, Flopfte die Alte auf die Schulter und 
eilte an ihr vorbei die Treppe hinab. — 

Die Kuppellampen im Salon der Fürftin Tautenftein 
waren mit rofa Schleiern verhängt. Dämmerig, warın 
und duftig war es, die Möbel auf fchwellenden Teppichen 
dicht zufammengedrängt, jede Ede ausgefüllt mit Blüten: 
Iträußen, mit Marmorgeftalten, mit weit ausgejpreizten 
Atlas- oder Federfächern. Kriftallprismen hingen bunt 
funfelnd, gleich niederfallenden Edelfteinen von der Dede, 
Amoretten fchwebten um den Wandjpiegel und rafften ge= 
ichäftig die fchwere Brofatportiere vor dem Glas zurüd, 
und auf dunklem Sodel, gleichfam zwilchen den Blatt: 


— 49 — 


pflanzen des Trumeauvorſatzes aufwachſend, ſtützte eine 
Venus träumeriſch das Haupt und ſpiegelte den ſchneeigen 
Körper im Glas. Vor das Kaminfeuer war die Chaiſe— 
longue geſchoben, auf welcher Fürſtin 
Claudia lag und in lichtblauſeidener 
Morgenrobe den Stiftspfarrer von 
Sankt Brigitten empfangen hatte. 
Sie war erkältet und klagte über 
die abſcheuliche nordiſche Schnee— 






luft, welche ſie durchaus nicht er— 
tragen könne. Kurze Huſtenanfälle 
unterbrachen ſie öfters mitten in der Rede, und dann 
drückte ſie die ſchmalen, weißen Händchen gegen die Bruſt, 
und zwiſchen die Augenbrauen ſenkte ſich eine feine Linie 
des Schmerzes. Sonſt aber war ihr Weſen unverändert, 
ſie lachte und ſcherzte und kritiſierte mit einer oft ſcharfen 


— 480 — 


Beurteilung alles dejjen, was ſonſt dem Menjchenherzen 
lieb und heilig ift. 

Mademoifelle de Gironvale ftelzte auf hohen Stödel- 
Ihuhen von einem Zimmer in das andere, behütete hier 
den Samowar auf dem Teetifch und lehnte fich dort auf 
die Lehne eines Fauteuil, den Stiftspfarrer von Sankt 
Brigitten durch zwinkernde Augenwimpern ungeniert und 
ſtumm zu mujtern. Sie ſchien fchlechter Laune zu fein 
und durfte fie nicht zeigen. Die Teetafjen Hlirrten unter 
ihren Händen, al3 würden fie recht unwirſch behandelt, 
und der Lakai erfuhr durch fcharfe Flüſterworte, welche 
ihm ununterbrochen Verweiſe erteilten, daß er der tölyel- 
haftejte und unbrauchbarite Michel fei, welchen jemals 
das deutjche Vaterland gezeitigt. Der Tee wurde in 
feinen chinefiichen Täßchen auf Befehl der Fürftin in 
dem Salon ferviert. Pikante Schnitten und vielerlei 
Delifatejfen, welche Collander fremd waren, wurden in 
Ichneller Reihenfolge gereicht, Itarfe Weine funfelten in 
geichliffenen Kelchen, und auf den filbernen Platten bauten 
ih „Diplomatenſchüſſelchen“ und „Heroldsbrötchen” in 
appetitlichiten und Funstoolliten Arrangements auf. Unwill- 
fürlic) dachte der Stiftspfarrer an Marthas Spedkuchen, 
welchen fie mit dunkel geröteten Wangen perfönlich aus der 
Küche herzuholt, ihn mit dem großen Hirfchhornmeffer in 
derbe Stüde teilt und auf fchlichtem Steingut darreicht. 
Mit großem Appetit hatte er ihn in der Negel gegeffen, 
während ihm hier die Kehle zugejchnürt ift, und er faum 
weiß, ob er Süßes oder Saure zu Munde führt. Die 


— 481 — 


Befangenheit eines erjten Beſuchs; er wird bald in den 
Salons der Fürftin Tautenjtein heimifch werden und es 
ſchließlich felbftverjtändlich finden, daß der Teetiſch ein 
jilberbligendes Memento an Lueullus ift. 

Esperance aß jehr viel und fehr haftig, dieweil ihre 
Gebieterin fich darauf beichränfte, ein paarmal an einem 
Slafe Malaga zu nippen und dazu ein paar Süßigfeiten 
zu nafchen. Die Unterhaltung war allgemein und ſehr 
heiter. Claudia lachte gern und anmutig. Sie erzählte 
ohne jede Prüderie von ihren „Kunſtreiſen“ durch Paris, 
bon ihrem Nufenthalt in Stalien, von dem entzücend 
amüfanten, fchredlich verderbten Sodom und Gomorrha 
des Südens, Mlerandria. Und Eollander, welcher fie an— 
fangs ein paarmal ſehr betroffen angefehen hatte, er— 
innerte ich, daß der Ton in der großen Welt überall, 
ſei e8 bei der Ariltofratie des Blutes, des Geiltes oder 
des großen Portemonnaie, ein ziemlich freier geworden, 
daß Hola gelejen und Sardou im Nefidenztheater all 
abendlich beflaticht wird, und es war ihm peinlich, fich 
durch jpießbürgerlichen Nigorismus ſofort als völlig 
fremdes Element auf dem Parkett zu ermweifen, Claudia 
plauderte jo amüjant, und alles, was fie fagte, klang 
harmlos und ganz wie jelbjtverjtändlich; fie jah fich mit 
offenen Augen in der Welt um und alterierte fich nicht 
über Dinge, die unabänderlih find. Leben und leben 
lajjen, und Welt und Menfchen nehmen, wie fie die Zeit 
juft mit fich bringt! Und dabei fchmiegte fie fich jo be— 
baglich und gejchineidig in die fchwellenden wie 


N. v. Eſchſtruth, Ill. Rom. u. Nov., Hazard II. 


—. 480 = 


ein weißes Käbchen, das ſich mit eingezogenen Krallen 
ſonnt. 

Fräulein von Gironvale hatte ſich darauf beſchränkt, 
hie und da einmal mitzulachen oder eine kleine Schmeichelei 
für Claudia in die Reden einzuflechten; dann ſchikanierte 
ſie wieder den Lakaien, welcher voll nervöſer Haſt den 
Teetiſch im Beiſein der Herrſchaften abzuräumen hatte, 
und warf ſich ſchließlich noch für kurze Zeit in einen 
Schaukelſtuhl, um durch ſehr viel Rückſichtsloſigkeit zu 
zeigen, daß fie fich nur dann bemüht, liebenswürdig zu 
fein, wenn es fi — lohnt. Bald verjchwand fie ganz 
in dem Nebenzimmer, und da monotone Geräufch um: 
gefchlagener Buchfeiten befundete, daß fie interefjant 
unterhalten war. 

Claudia rollte die goldichimmernden Haarloden, welche 
leicht und duftig und ohne jeglichen Zwang einer Friſur 
über Bruft und Schultern fielen, um die Finger und 
blickte plößlich voll träumerischen Ernſtes in Collander3 
Auge. 

„Segen Sie fich jet in dieſen bequemen, Kleinen 
Seſſel, lieber Pfarrer, und erzählen Sie mir Ihre Lebens- 
gejchichte, alles, und ganz genau, ich intereffiere mich dafür!” 

Er gehorchte und begann in großen, flüchtigen Strichen 
den Pfad zu zeichnen, auf welchem er gewandelt, und mas 
er verſchweigen wollte, erfragte fie, und wobei er fich 
länger aufhalten wollte, das fchnitt fie voll beinahe auf: 
fälliger Beharrlichfeit ab. Wie es fchien, wünfchte fie 
dem Gejpräch Feine ernftere Wendung zu geben, namentlich 


— 483 — 


ignorierte fie e8 volljtändig, wenn er ihr auf religiöfem 
Gebiet den Fehdehandſchuh Hinwarf, und er tat e8 an— 
fänglich oft, beinahe voll Ungeduld; dann fügte er fich 
ihrer Laune, welche heute nur jcherzen und lachen wollte. 
„SG habe Sie ja nicht in der Neverenda, fondern 
im harmloſen, weltlichen Bratenrocd eingeladen, bejter 
Sollander! Erinnern Sie mic) 
doch nicht jo konſequent daran, 
daß Sie zu den Hirten 
gehören, welche unbarm— 
herzig aufjedes jelbjtändig 
grajende Schaf losprü— 
geln! Sie wiljen, ich habe 
eine Averfion gegen Die 
Herren dom Presbyte— 
rum! Schnell ein wenig 
gepußt, daß ich mir ein= 
bilden fann, Ste wären 
dem monotonen Schwarz 
abtrünnig geworden!’ 
und Claudia riß das 
lange, blaßblaue Band ihrer Gürtelfchleife ab und warf 
es ihm vol bezaubernder Anmut um den Hals. „Steht 
Ihnen vortrefflih! Wenn es rot wäre, würde ich mir 
einbilden, ein jchneidiger Hauptmann ſäße mir gegenüber 

. da heißt nein! ich würde e3 mir nicht einbilden 
können!“ 

„Und warum nicht, Durchlaucht?“ ſtotterte Collander; 

3l* 





su; ABA 23 


die Fürftin hatte fich zu ihm binübergeneigt und knüpfte 
da3 Band lachend unter feinem Sinn zur Schleife, das 
Haar mwogte um ihre Arme, und die weißen Händchen 
Ichimmerten dicht vor feinen Lippen. 

„Beil mir ein Hauptmann die Cour machen würde, 
anftatt mic) von Hölle und Fegefeuer zu unterhalten!” 

Er neigte fi) jchnell und Füßte ihr die Hand, zum 
Dank für das Band nur, aber dennoch wurde er dunfelrot 
Dabei. „Wollen fi) Durchlaucht gnädigjt erinnern, daß 
ich hierher befohlen wurde, um eine ernſte Lebensgeſchichte 
zu erfahren, die mir von dem Wetterjturm erzählen jollte, 
welcher die Baffionsblume des Glaubens fo graufam ent- 
blätterte! Sch war der Anficht, daß wir heute mit 
Geiſteswaffen eine ernite Schlacht fchlagen würden. . .” 

Sie unterbrad) ihn, mit leifer Stimme aus dem Gas— 
paronewalzer fingend: „Plaudern vom Seelenheil oder 
bom Gegenteil ... .” „Ich bin dafür, daß wir heute 
beim ‚Gegenteil‘ bleiben! Wir find zu ungleiche Gegner! 
Sie ein Mann der Wiffenjchaft, welcher mit nieder- 
jchmetternditen Stichwörtern, mit gejunder Kraft und 
Harem Kopf zu Felde zieht, und ich eine Franke, momentan 
zu allem Denken und Debattieren unluftige Srau, welcher 
Sie alle Walzer und Kotillontänzer heute abend erjeßen 
müſſen!“ 

Mit geſunder Kraft und klarem Kopf! Wüßte ſie es 
nur, die Hexe Lorelei mit dem leuchtenden Haar, welch 
ein Wirbelſturm von Gefühlen den Nachen des betörten 
Fiſchers hin und her ſchleudert! 


— 45 — 


Kein Kampf alfo! Süßer, lachender Frieden, ein 
fröhlich Plaudern und Wortgepläntel, ein tiefer Zug aus 
güldenem Becher; zeitweije rollt ein Gifttropfen hinein, 
aber er jchmedt nicht bitter, er wird unbemerkt gefchlürft. 

Elf filberne Schläge. Collander erhebt fich haſtig, 
fih zu verabfchieden. Die Stunden find verflogen wie 
Minuten. 

„Barum eilen Sie fo jehr? Ich bin es gewohnt, 
bis ſpät in die Nacht hinein zu wachen, fchlafe dafür 
morgens dejto länger. Der Bormittag ift Zuderwaffer, 
der Nachmittag jolider Rheinwein, der Abend aber mouffiert 
wie Champagner, und vollends um Mitternacht Schlagen 
Flammen aus dem fauftiichen VBerjüngungsbecher!” 

Wohl pflichtete er ihr bei, dennoch fcheidet er, um 
eine dringende Arbeit noch zur Redaktion zu befördern. 
Sie forfcht welch eine. Dann zudt fie mit bornehmver: 
traulicher Gefte die Achjeln. „Mon Dieu, beſter Collander, 
wozu dieſer Lärm in Zeitungsſpalten! E3 ift fo unfein, 
fih mit Kreti und Pleti öffentlich herumzuzanfen! Igno— 
rieren Sie doch folche Fleinliche Attaden, Sie ftehen ja 
auf feiten Füßen, man intereffiert ſich bei Hofe für Sie, 
Prinz Marimilian wird nächſten Sonntag wieder vor 
Sanft Brigitten vorfahren, und ic) forge dafür, daß Sie 
eine Einladung zum Ball im erbgroßherzoglichen Palais 
erhalten, was wollen Sie mehr? Seien Sie zu ftolz, um 
von Schlangen, die drunten im Staub zifchen, überhaupt 
Notiz zu nehmen!” 

Collander ging. Das blaue Band ſchlang fich wie 


— 486 — 

ein glühender Reifen um feinen Hals, wie Srrlichtflammen 
tanzte der Schein der Laterne, welche ein Lakai ihm 
voraus durch den inneren Schloßhof trug, vor feinen 
Füßen über die glißernden Bafaltplatten. 

Sturm und phantajtisch jagende Wolfen. Kein Stern 
am Himmel, dunkel, dräuende Nadıt. 

Das Manuffript wurde unvollendet in den Papierkorb 
geworfen, der Stiftspfarrer von Sankt Brigitten ſchwieg 
auf die verleumderijchen Anklagen feiner Feinde. 


M 


—E 


XXII. 


Das alles ſahen und hörten jene Damen — 
Und alles viel verfchlimmernd auszukramen 
Bor andern, waren ihre nächſten Sorgen, 
Sodaß die Frauen von Memphis e8 vernahmen, 
— Der höhern Welt — fhon bis zum nächſten 
Morgen. Bodenftedt. 


EX arnevalätreiben! Mufik, Gefang, Gelächter über: 
al. Bermummte Geftalten eilen durd) Die 

Straßen, Schellen flirren, und bunter Tand 
und SFlitterjtaat blißte auf, wenn der Wind am dunfeln 
Mantel zauft und die verhüllenden Schleier und Tücher 
vom Haupt der Schönen zurüdichlägt. Ein Schwarm 
Straßenjungen begleiten johlend Die einzelnen Masken, 
und vor den Türen der Tanzlofale und Kaſinos ftauen 
fi) gaffend die Paſſanten. Die unzähligen Vereine und 
Genoſſenſchaften einer deutfchen NRefidenzftadt feiern farne- 
valiſtiſche Feſte, Masfenbälle und „humoriſtiſche Zu— 
ſammenkünfte“, und in den Privathäuſern und Paläſten 
funfeln die langen Fenſterreihen gleich den geheimnisvollen 
Lichtitreifen, welche durch die Felsſpalten des Ilſenſteins 
Ichimmerten, da noch Kaifer Heinrich in den Armen der 
reizendjten Prinzeſſin lag und die Zwerge im kriſtallenen 
Schloffe trompeteten, pauften und fiedelten, 





— 488 — 


Ein leiſes Summen und Surren fehallt in die ftillen 
Straßen hernieder, und an den meilten Tüllftores wirbeln 
die Schatten vorüber. — „Dort tanzen die Fräulein und 
Nitter, dort jubelt der Knappentroß! Es raufchen Die 
jeidenen Schleppen, e3 klirren die Eiſenſporen“ — und 
Prinz Karneval fommandiert jelber den Rotillon, und die 
Helmzier, welche er trägt, iſt ein Strauß fliegender Herzen! 

Kein Wunder iſt's, wenn vor folchen Villen lange 
Wagenreihen halten und dunkle Geſtalten heimlich an die 
GSouterrainfenjter huſchen, aus welchen bie und da eine 
nicht allzu zarte Hand ledere Biſſen verabfolgt. In der 
Billa Hazard jedoch waren nur wenige enter erleuchtet, 
und Statt der Tangmufif fangen nur vereinzelte Geſangs— 
paflagen einer Eöjtlich weichen und vollen Altitimme in 
die ſtille Parkſtraße hernieder; dennoch fchlichen fich jacht 
und behutfam zwei Schatten an der Fleinen Hofmauer . 
entlang, welche das Nennderjcheidtiche Grundftüc mit dem 
Park des Erbgroßherzoglichen Palais verband. 

Eine Veranda fprang jäulengeftüßt an dieſer Seite 
des Haufes in Hof und Garten vor, und durch die licht- 
durchglängte Tür derjelben fchallte der Geſang und die 
Stlavierbegleitung. Ein paar Minuten jtanden die beiden 
Herren in dem Dunkel und laujchten empor. 

„Können Sie was verſtehen?“ flüfterte der eine. 

„Abſolut nichts, Herr Leutnant, man hört nur Bruch— 
ftüde, und danad) kann ich unmöglich ein Lied merken 
oder gar aufjchreiben |’ 

„Weiß das Donnerwetter! Und wollen ein Mufifer 


— 489 — 


fein! Sie wiſſen doch, was für Töne zufammen paffen 
und wie jie aufeinander folgen müfjen! Wenn Sie alfo 
den Anfang, den man ganz deutlich verftand — fo eine 
ähnliche Sache wie ‚Lalilalilalala‘, war's! — wenn Sie 
den haben, können Sie ſich doch den ganzen andern 
Zauber dazu kombinieren!“ 

„Ach nein, Herr Leutnant, das ift doch nicht ganz fo 
einfach”, ermwiderte zaghaft fchüchtern der andere, ein 
bochaufgejchofjener Jüngling mit zu furzen Hofen und 
zu langen Haaren. „Die Kunſt zu fomponieren, ift eine 
jo unendlich mannigfache und fchwierige, daß man .. .” 


„Maul halten... .. zuhören, die Karre geht wieder 
los! Teufel und Bumpftod! fommt gerade ein Schlitten 
angeflingelt — —“ 


„Man hört garnichtS mehr ... weder Gefang noch 
Begleitung . . .” 

„Sakrament noch eins, Menſch, was fchlenfern Sie 
denn jo mit $hren langen Armen? Sie werden mir nod) 
ein paar Rippen einſchlagen!“ 

„Es iſt fo fchredlich Falt, Herr von Hovenklingen!” 
entjchuldigte fich der junge Wagner in spe mit flappernden 
Zähnen. 

„Ab fo... rihtig .. pfeift einem Iudermäßig hier 
um die Naſe! Na, dann drapieren Sie fich einjtweilen 
mein Tafchentuch noch) um den Hals, ganz neues, fnittert 
no in den Brüchen! bis ich energifcher vorgehen kann! 
Um acht Uhr trinfen die Damen Tee, dann müſſen wir 
hier über die Mauer und auf die Veranda hinauf!“ 


— 4% — 


„Herr Zeutnant!! Klettern?!” und unmwillfürlich ftreichelte 
der Muſikſchüler, fchredhaft zufammenzudend, feine Bein: 
fleider, wie ein Eleines Mädchen tröftend fein Lieblings- 
hündchen bejchüßt, wenn ein böjer Bub — Anz 
Ichläge auf dasſelbe hat. 

„Nur nicht bange, alter Freund! Werden fich fchon 
feinen Splitter einreigen! Hier die Mauer mit ihren 
dDiverfen Klüfen, können wir jehr bequem und mit aller 
Grazie als kleines HinderniS nehmen! nachher machen 
wir e3 wie die Lerche, welche an ihren eigenen Liedern 
in die Lüfte Eettert. Alſo los damit!” Und Hovenfklingen 
klappte voll Seelenruhe zweimal in die Hände, 

„Pſt!“ erklang es jenjeit3 der Mauer. 

„Chriſtian?“ 

„Befehl, Herr Leutnant.“ 

„Alles vorbereitet?“ 

„Sehr wohl! Es iſt die höchſte Zeit, die Damen ſind 
bereits in das Speiſezimmer getreten!“ 

„Brillant. Kommen ſchon; na vorwärts, Apollo! 
Schwingen Sie mal dreilte Ihr fteuerbordfches Ruberet 
und fteigen Sie auf!“ 

Haftig von feiten de3 Herrn von Hovenflingen, und 
ſehr vorfichtig und zögernd von feiten des mufifalifchen 
Jünglings ging die Prozedur vor fich. Jenſeits im Hof 
Itand wartend ein Bedienter und — einen Holzſtuhl 
herzu. 

Der Muſiker ſaß mit hochgezogenen Beinen auf der 
Mauer und krallte ſich angſtvoll feſt. „Aber Herr 


— 41 — 


Reutnant!” rang es ſich faft kläglich und voll milden 
Vorwurfs von feinen Lippen. 

„Ah jo! Ehriftian, Stuhl ran! Drüben für den Herrn! 
faffen Sie ein bifchen zu und langen Sie ſich den Onkel 


mal runter!” 


Ein leijeg Schurren und —5* 
„Na? Anker geworfen?“ 
„Hier bin ich, Herr von Hovenklingen, wieder glücklich 


auf ebener 
„Gratu⸗ 
ganzem ser: 
nun mal ein 
Ti)! Leiter 
Haben doch 
Hand, 
„Befehl, 
nant. Ich 
vorbereitet, 
kontüriſt nur 
daß man 
öffnen 
„Sehr 


flingen legte _ 


nender 

ſante See— 
die Schulter 
ſcheidtſchen 
chen er ſich 


Erde!“ 
liere von 
zen! Und 
wenig plötz⸗ 
berzul! 
eine zur 
Ehrijtian 2” 
Herr Leut- 
habe alles 
auchdieBal- 
angelehnt, fo 
ohne Geräuſch 
kann!“ 
gut.“ Hoven— 
voll anerken— 
Wucht die impo— 
maunsfauſt auf 
des Nennder— 
Bedienten, wel— 
zu dieſem „klei— 

















— 412 — 


nen Karnevalzfcherz” geworben hatte. „Nun gehen Sie 
flint hinauf, jchmuggeln fi) in das Muſikzimmer und 
gehen dem Herrn hier ein wenig zur Hand, daß er 
die betreffenden Noten fchnell fopieren kann; verjtanden?” 

„Ganz gewiß, gnädiger Herr.” 

„Ra dann log!” 

Der Galonierte verjchwand, Hovenklingen aber lehnte 
die Leiter an die Veranda und prüfte mit derber Hand 
ihre Sicherheit. 

„So Apollo; nun arbeiten Sie mal diefe fünfzehn 
Sproffen hinauf, ich Halte die Sache feit.” 

Zaudern half nicht. Sehr geängjtigt, aber dennoch voll 
größerer Gewandtheit wie zuvor, Eletterte der ſchlanke Muſi— 
fus gleich einem ‚modernen Romeo in dürftigen Berhält: 
niffen” zu dem Balfongitter empor und Hovenklingen fah 
der ſchwarzen Geſtalt mit den eifrig edigen Bervegungen 
ſchmunzelnd nach und bemerkte lobend: „Sehr ſchön gemacht, 
Apollo, fönnen fih Sonntagsüber als Laubfroſch vermieten!” 

„Hier auf dem Flügel find die Noten, gehen Sie auf 
den Fußfpiben, es liegen feine Teppiche!” raunte er dem 
Muſikſchüler und Mitglied des Theaterorcheiter3 in das 
von Schlangenloden umringelte Ohr. Unter Herzklopfen 
Ichlüpfte der junge Munn in das Zimmer, faßte. mit 
zitternden Händen die Notenblätter und fah fie Haftig 
durch. „Richtig, geichriebene Xieder, obenauf: „Dieweil du 
mich verlaffen Haft“, Gedicht von Hopfen, fomponiert von 
F. W. 3. Sp.” Ganz recht, von Fides Wolf zu Speyern. 

Der Bleiftift tupfte und tanzte in nervöſer Haft über 


= AUS 


das Notenpapier, welches der nächtliche Eindringling bereit 
gehalten hatte. In wenigen Augenbliden jtand die Me— 
(odie in fchwarzen Punkten, Häfchen und Schmänzchen 
fir und fertig aufgezeichnet, und der Muſiker atmete tief 
auf und ‚rettete fich fchleunigjt wieder zur Tür hinaus. 
Ein ſchrecklicher Augenblick noch, in der Dunfel- 
heit die Leiter zu finden, aber glücklicherweiſe 

hält der Diener Die 
Lampe leuchtend an 
die Scheibe, und Die 
langen Beine des 
Räubers jchwingen 
> fih über die Balu— 
trade, mit Katzenbe— 
hendigfeit verſchwin— 
det die dunkle Geſtalt 
in der Tiefe. 

„Menſchenkind ... 
Apollochen ... Haben 
Sie den Tſchingde— 
rada entführt?“ flüſterte es ihm wahrhaft zärtlich ent- 
gegen, und zwei riefenjtarfe Arme faſſen ihn und ſchwenken 
ihn in hohem Bogen von der ſechsunterſten Sprofje zur 
Erde zurüd. „Dafür laffe ih Sie mitfamt Ihrem Fliegen- 
pilz — in füßer Sahnenbutter braten!’ 

„Ach, Herr Leutnant, es war eine fchredliche Expe— 
dition“, flötet der Geliebfofte, „dieſes Herzklopfen bei der 
Arbeit —“ 





— 491 — 


„So? was Teufell So fchwere Stüde Hat bie 
Gnädigſte gejchrieben? Wohl hölliſch viele Kreuze und 
B’3 daran getan?” 

„Pſt ... Herr Leutnant! Der Kutfcher kommt zurück! 
Er fünnte die Herren am Ende bemerken!” 

„gaben recht, Chriftian! Hier... zum Dank für 
Ihre Mühel Geben Sie dem Herrn da noch den Gnaden= 
itoß, daß er wieder über die Mauer fommt: Vorwärts — 
eins... zwei... hoppelal!” 

Leiſes Poltern, jenjeit3 der Mauer fpringen vier Füße 
auf den harigefrorenen Boden auf, dann tönen eilige 
Schritte und verklingen im Park. 

Still und einfam wie zuvor. Im Mufikzimmer brennt 
die KRuppellampe und verrät es feinem Menfchen, welch 
ein Zujtfpielanfang fich vor wenigen Minuten unter ihr 
abgejpielt hat. | | 

Fürſtin Tautenjtein liebte es, in der Karnevalszeit 
eine „Inkognitopromenade“ durch die abendlichen Straßen 
zu machen. Einen dunfeln, pelzgefütterten Mantel ums 
geichlagen, das Köpfchen dicht verfchleiert, fchritt fie am 
Arm eines ritterlichen Beſchützers durch die belebten oder 
auch unbelebten Gaſſen und Verfehrsadern der Nefidenz, 
um das „Volk“ und fein Leben und Treiben zu ftudieren. 
Prinz Hohned, das blutjunge Bürfchchen, war Feuer und 
Flamme für derartige Erkurfionen, welche ihm eine Re— 
miniszenz jener Zeit erjchienen, da noch die waghalfigen 
Nitter und Edelfrauen Tedlich die Lande durchftreiften, 


— 495 — 


um hinter Viſier und Schleier die Frau Aventiure zu 
juchen. Dazu fam, daß er jterblich in Fürſtin Claudia 
verliebt war, und ihr Tun und Lafjen ihm in jedwedem 
Falle maßgebend deuchte! Lächerlich noch in eine Kirche 
zu gehen! Lächerlich, noch an Lieb und Treu zu glauben! 
Den Augenblid genofjen! Nicht voraus und nicht zurüd 
gedacht, in die Welt hinein gejubelt, fo lange man noch 
einen Groſchen im Sädel und Leben in den ©liedern 
bat! Prinz Hohneck war ftet3 ein leicht zu lenfender 
Charakter gewejen, und der Einfluß, welchen Claudia auf 
ihn übte, war ein geradezu verderblicher. Er jtammte 
aus einem berarmten, mediatifierten Fürftenhaus, und 
hatte e3 bis jet in anerkennenswerter Weije fertig ge- 
bracht, feiner Stellung gemäß zu leben und fich dennod) 
nach der Dede zu ftreden. Seit den letzten drei Wochen 
zucten die Kameraden häufig die Achjeln, und der Kom— 
mandeur fchüttelte mit gefalteter Stirn den Kopf. 

Man Hatte viel gelacht und fich trefflich bei dem 
Spaziergang amüfiert. Claudia hatte für ihr Leben gern 
einen Blick in ein Tanzlofal niederen Ranges tun wollen, 
um zu beobachten, wa3 für „Kuhblumen und Eſſigroſen“ 
der Liebesfrühling von Köchin und Grenadier erblühen 
laſſen möge, doch wurde bejchlofjen, zu jolch einem Wagnis 
lieber ein ‚noch tolleres NRäuberzivil” anzulegen. 

Claudia und Hohned jchritten voraus, Esperance 
folgte am Arm des Herrn von Diersdorff. Am erbgroß- 
herzoglichen Palais vorüber, direkt durch den Park, führte 
der nächlte Weg zum Schloß, und da es foeben fchon 


— 496 — 


acht Uhr vom Dom gejchlagen hatte und um ein halb 
zehn Uhr Soiree bei dem ruffichen Botjchafter ftattfand, 
mußte man fich eilen, rechtzeitig noch da8 Toilettenzimmer 
zu erreichen. Ein ſcharfer Windftoß, welcher um die Villa 
Hazard herum faufte, ließ die Unterhaltung momentan 
ftoden. Claudia überflog die Hausfront mit einem 
ſcharfen Blid, und der Ausdrud, welcher dabei auf ihrem 
Antlit lag, hatte etwas Gehäſſiges. Plötzlich zudte fie 
auf, umframpfte den Arm ihres Begleiter8 und ftieß einen 
furzen Bilchlaut durch die Zähne hervor. Gleicherzeit 
fuhr fie haftig zurüd und legte mit eifriger Gebärde den 
Finger vor den Mund. 

„Sehen Sie dort!” 

Aller Augen folgten der Kleinen Hand, welche zu der 
Beranda der rechten Hausfeite emporwies. 

„Ahl!“ 

Unſicher flackerndes Licht ... jetzt hält eine Hand 
die Lampe gegen das Fenſter, ... man ſieht deutlich die 
Geſtalt eines großen und ſchlanken Ziviliſten, welcher 
fich haftig über das Geländer ſchwingt und per Leiter in 
die Dunfelheit Hinabtaucht. 

„Mais, mon Dieu“, will fi) Fräulein von Gironvale, 
die Hände über dem Kopf zufammenfchlagend, alterieren, 
Fürftin Tautenftein macht eine heftige Bewegung. „Pſt!“ 
Jetzt Elettert etwas im tiefſten Schatten über die Mauer 
und fpringt herab, Haftige Schritte verflingen, dann ift 
alles jtill. 

„Das waren ja zweie!” platt Hohned heraus. Fie— 


— 497 — 


berndes Leben kommt wieder in die kleine Gejellichaft, welche 
mit vorgejtredten Köpfen, gierig lauſchend dageitanden. 





„Unfinn! Es war nur einer, ich jah es deutlich!‘ 


„Ich auch!” beitätigt die gemeſſene Stimme des 
Nev. Eſchſtruth, IM Nom. u. Nov, Hazard II. 32 


— 48 — 


Herm von Diersdorff, und dennoch klingt fie in diefem 
Augenblid fo boshaft wie nie. „Auf diefem nicht mehr 
ungewöhnlichen Wege jtatten die Hausfreunde in der 
Kennderjcheidtichen Billa ihre Bejuche ab!” 

„Haben Sie ihn auch erfannt?” zifchte Claudia. 

„Wen?“ fragt Esperance atemlos dazwijchen. 

„Durchlaucht und ich fcheinen die beiten Augen und 
den begründetiten Verdacht zu haben.” 

„Ein Rendezvous? Marie Luije? Dieſer Tugend: 
ipiegel?” Fräulein von Gironvale fchreit beinahe auf 
vor Lachen. „Ich jagte es ja ſtets, dieſes ftille Wäfjerchen 
ilt jo tief wie daS Meer, welches über der verderbten 
Laſterſtadt Vineta fein Kriftallmäntelchen ausgebreitet!” 

„Goſeck?!“ 

„Natürlich! Haben Sie das zarte Verhältnis nicht 
ſchon längſt bemerkt?“ 

„Nein, der Mann, welcher eben überſtieg, war un— 
möglich Goſeck —“ 

„Was Sie ſagen, Sie kluges Prinzchen!“ ſpottet 
Claudia ſcharf. „Sie kurzſichtiger Menſch wollen unſere 
ſechs bewährten Augen Lügen ſtrafen?“ 

„Keineswegs — ich dachte nur ...“ 

„Denken Sie getroſt das, was ich Ihnen verſichere, 
daß Frau von Nennderſcheidt nämlich eine Dame iſt, 
welche ſeit dieſem Augenblick in unſerer Geſellſchaft un= 
möglich geworden iſt!“ Die zierliche Geſtalt richtete ſich 
hoch und triumphierend auf, und ihre Worte trugen das 
Gepräge eines Befehls. „Ich werde dafür ſorgen, daß 


— 49 — 


die Unschuld aus dem Damenftifte mit derfelben Lampe, 
welche vorhin an das Fenſter gehalten wurde, fich jelber 
ein für allemal aus unjeren Kreijen heimleuchten fol. 
Goſecks Courmacherei begann bereit3S zum öffentlichen 
Sfandal zu werden, und wenn dem Herrn Baron viel: 
leicht die Augen darüber aufgegangen find, und er feit 
zwei Tagen den Intimus oftenfibel von feinem Haufe fern 
hält, nun ... „da gibt’3 eine Leiter, einen Graben, einen 
Steg... . Wenn zwei jich nur ‚jehen wollen‘ da find’t 
fih der Weg!” 

„Mnerhört! empörend!“ 

„Sanz Shrer Anficht, Durchlaucht!” Diersdorff lachte 
gedämpft auf, und fein blafjes Fuchsgeficht ſchlug un— 
zählige Fältchen. „Ich Habe ſtets eine Averfion gegen 
jolhe frommen Madonnenaugen gehabt, feit mir einmal 
durch Zufall ein roſa Billett aus einem Gebetbuch ent= 
gegenftel . . .” | 

„Skandal! veritabeler Sfandal! Ich bitte Sie um 
Gottes willen, Durchlaucht, eilen Sie, damit wir Die 
Soiree nicht verfäumen! Ich fiebere . . .. ich brenne 
darauf, die Heuchlerin zu demaskieren!“ 

„Borficht, Fräulein von Gironvale, nennen Sie vor: 
läufig nichts Direftes, Andeutungen genügen! Wenn wir 
vier erklären: ‚Nach einer Heinen Szene, welche wir fo: 
eben beobachtet haben, ift es unmöglich, daß wir nod) 
mit Frau von Nennderfcheidt verfehren!“ fo genügt das 
‚vollfommen, das Unfraut aus dem Weizen zu roden. 
Etwas ungewiß Geheimnisvolles ijt ſogar nod) viel wirt: 

32* 


-- 500 — 


famer und meittragender, weil Dadurch jeglicher Bhantafie 
gejtattet wird, ſich das Allerungeheuerlichite zu denken. 
Achfelzuden und bedeutfames Lächeln ift oft kompro— 
inittierender wie Worte, und kann niemals in die peinliche 
Lage verjegen, wegen Verbalinjurien belangt zu werden! 

Esperance blickte ganz begeijtert zu dem Sprecher auf. 
Sie hatte nicht geglaubt, daß es noch einen Menfchen 
gäbe, von welchem ſie lernen fünne, aber Herr von Diers- 
dorff bewies es ihr, daß es eine gar feine und Flug ges 
Iponnene Schlinge fein muß, mit welcher man des Nächſten 
Ehre erdrofjelt, und daß die Kunft, ſolches Garn zu 
handhaben, ohne fich felber zu fangen, eines Studiums 
bedarf. 


AR 


— — 


XXIII. 


Sie können's nicht, und werden's nie begreifen, 
Die dich bedräut um den verfehmten Mann, 
Daß wahre Liebe ſelbſt in Qual nur reifen, 

In Glut ſich ſtählen, doch nicht ſterben kann! — 


In dieſem Glauben will ich alles tragen, 

Was täuſchend du in Liebesluſt erſannſt, 

Und darf ich Dir unter Tränen lächelnd fagen: 

Gehhin! — verlag — vergiß mid, wenn 
du kannſt! — H.Hopfen. 


uguſtchen Spillike kauerte mit hochgezogenen Beinen 

auf dem geſchnitzten Lehnſtuhl am Fenſter, ſtützte 

den Kopf in beide Fäuſtchen und gab den eigenen 

Gedanken Audienz. Das geſchah meiſtens nach dem Abend⸗ 
eſſen, wenn es recht gut geſchmeckt hatte und Auguſtchens 
ſonſt ſo ſkeptiſch angelegte Natur die Welt mit all ihren 
Butterſemmeln und delikaten Mondaminſpeiſen für eine 
ſehr lobenswerte Einrichtung hielt. Die Begriffe „ſatt“ 
und „fromm“ gingen bei Fräulein Spillike Hand in Hand, 
und wenn der Gürtel immer mehr über das runde 
Bäuchelchen emporrutſchte und der Atem immer tiefer und 
ſchwerer ging, dann kam Auguſtchen plötzlich die Er- 
innerung an all die ſchönen Dinge, welche man ihr tags— 
über aus der buntilluſtrierten Kinderbibel vorgeleſen hatte, 


— 502 — 


und fie dachte mit viel Rührung an den lieben Gott, 
welcher es entjchieden fo gefügt hatte, daß fie jebt jehr 
viel zu ejfen und gar feine Prügel mehr befam. In folchen 
Augenblicken liebte es die Kleine, mit „Die gnädige Frau 
Nennderjcheidt” über unerforfchte Dinge zu philofophieren. 
Heute wollte fein rechter Zug in die Unterhaltung fommen. 
Marie Luiſe ſaß an dem Tiſch und neigte dad Haupt 
über die grobe Näharbeit, welche ihr von dem „Frauen 
verein” zur Fertigitellung in der lebten Verfammlung bei 
der Prinzeffin zuerteilt war. Die junge Frau hatte in 
Herfabrunn gar viele Hemdlein für arme Kinder genäht, 
voll eifriger Freude, vor Weihnachten oft freiwillig durch 
lange Nächte hindurch, hier zog fie die Nadel mechanifch 
und gleichgültig durch das Leinen. Die Wohltätigfeit, 
welche hier von den Damen geübt wurde, war ihr durchaus 
nicht ſympathiſch, und je öfter fie aus den Verfammlungen 
nach Haufe zurückkehrte, deſto mehr fühlte fie fich von 
ihnen abgejtogen. Die Barmhderzigfeit war hier ein 
Paradepferd, welches mit möglichit viel Lärm und Dis- 
putationen getummelt wurde. Marie Zuije begriff felber 
nicht, wie fie den Mut gefunden hatte, der Hofdame der 
Prinzeffin zu erklären, daß fie Beiträge zahlen und Ar— 
beiten liefern, aber fünftighin nicht mehr bei den Zu— 
fammenfünften der Damen erfcheinen molle. 

Die hochaufgejchofjene Intima der alten Hoheit warf 
die fpite Nafe fehr indigniert zurüd und hatte nur ein 
mitleidiges Achjelzuden zur Antwort. Sie hatte der jungen 
Frau troß ihres Dulderlächelns nie jo recht getraut. Wer 


— 503 — 


noch mit beiden Füßen fo völlig in der verfumpften Welt 
fteht, Karin nicht den hohen Flug zum Himmel nehmen. Die 
Hofdame aber war eine jener bigotten Damen, welche nach 
eigenem Ermeſſen die Billetts für das Himmelreich austeilen. 
Wer es mit ihr verdirbt, ift übel daran. Da fällt mit Müh 
und Not noc ein Stehplaß an der Tür ab, fie felber 
aber, und all die wackeren anderen, welche fich in un= 
zähligen Kaffees zum Wohle der Chriftenheit. heifer 
gefchrien haben, die fiten auf rotem Plüſchſeſſel in 
der Fremdenloge. Es hatte Marie Luije gefchienen, als 
ob etliche der frommen Damen ihren Gruß fehr fteif und 
förmlich ermwiderten, als fie nad) der Kirche an ihnen 
vorüberfchritten. Sie fämpfte mit fich, ob fie Dlivier von 
ihrer Bermeffenheit berichten follte. Noch während der 
legten Sonntagsparade war fie entichloffen geweſen, e3 
zu tun. Dann fam’3 wie ein Wirbelwind und trieb ihr 
Lebensſchifflein aus feiner ruhigen Bahn in wilde Wogen 
hinaus. Was war mit Olivier .gefchehen? Kann eine 
Tageswende einen Menfchen bis zur Unfenntlichfeit ver: 
ändern? Er, der fie mit lachendem Angelicht bis in die 
tieffte Seele gekränkt hatte, der fie wie ein Spielzeug in 
wüfter Eigenwilligfeit an feine Seite geriffen und der fie 
rückſichtslos wieder von fich ftieß, als fie ihre Mario: 
nettenrolle auf dem Opernhausball gefpielt hatte, er fcheint 
alles vergeffen zu haben, was zwifchen ihnen liegt, er 
greift abermals nad) ihrer Hand, fie mit Nofenfetten zu 
umminden. Vor wenigen Tagen noch hat er weder Blick 
noch Wort für fein junges Weib gehabt, in verlekendfter 


— 504 — 


Weiſe ift er über fie Hinmweggejchritten, ſich voll leiden: 
Schaftlicher Glut vor die Füße einer anderen zu werfen, 
und plößlich ift all feine Ertravaganz wie abgejchnitten, 
faum daß er Fürftin Tautenftein noch durch die einfachite 
ritterlihe Zuvorkommenheit auszeichnet. Vor Marie Luife 
aber fteht er wie ein müder, irrefahrender Wandersmann, 
welcher mit ſtummem Blick fleht: „Weiſe mich nicht zurüd, 
über deinem Haupte fteht der Stern, welcher mich auf 
rechten Weg geleitet; geht er abermals unter in Nacht 
und Sturm, fo iſt's für immerdar.“ 

Die junge Frau fchlägt die Hände vor ihr Antlig 
und zittert in ratlofer Bein. Zu fpät, zu fpät! Man 
fol im Herbſt nicht Mairoſen pflüden wollen, der Froſt 
hat fie gefnidt. Ach, daß fie noch an Dlivier glauben 
fönntel Ihr Vertrauen, ihre Zuperficht ift vergiftet, die 
Wunden, welche er ihrem Herzen gejchlagen, vernarben 
nicht. Sie hatte zu viel gelitten, zu viel! Er hatte fich 
müde getollt und den Champagnerfelch fo lange in leiden- 
fchaftlichen Zuge geleert, big er feiner überdrüffig ge= 
worden. Bon einem Extrem taumelt er in das andere, 
und darum ftredt er jebt die Hände nach fühlen Quell- 
wafjer aus, erinnert fich der Lilie auf dem Felde, weil 
der Rofenduft ihm Kopfweh bereitet hat! Die Lilie, die 
reine, priejterliche aber hebt ftolz da3 Haupt und weicht 
zurüd vor ihm, unnahbar und unerbittlich wie die Göttin 
der Gerechtigkeit, welche Schwert und Wage vergeltend 
in der Rechten hält. Ach, daß fie an ihn glauben könnte! 
Daß fie ihm in da3 Auge fehauen und verfichert fein 


— 505 — 


fönnte: „es belügt dich nicht!” In ihrem Herzen Hingt 
und zittert e8 noch wie der Glockenton, welcher dereinft 
in Herſabrunn über den See hallte, aber es mijchen jich 
viel grelle Klänge hinein, Aufjchrei und Klagelaut eines 
berratenen Herzeng, und all die wirren, wüjten Stimmen 
der Welt, welche fie aushöhnen: „Närrin! Sieh da3 
ichwanfe Schilf, es ift eifern gegen deines Gatten Bes 
ftändigfeit! Sieh die Welle, fie ift unwankbar gegen 
feine Treuel Dein Herz iſt der Spielball feiner Laune, 
haft du Stolz und Ehrgefühl, jo wirf’s nicht in den 
Staub vor feine Füße!” 

Ja, fie hat Stolz und Ehrgefühl! Den Pfad, welchen 
Dlivier ihr einst felber vorgezeichnet, wandelt fie, und 
wenn er auch reuevoll und flehend zurücdwintt: „Kehr 
um, Marie Luife! Es war ein Srrlicht, welches ich Ver⸗ 
blendeter dir zum Wegweiſer mitgegeben!” fo wird fie mit 
bitterem Lächeln das Haupt fchütteln und antworten: 
„Der Steg ift abgebrochen Hinter mir, wollt ich auch, 
ich könnte nicht. Da gibt es feine Brücde mehr auf der 
weiten Welt, die folche Kluft überfpannen könnte, als die 
Liebe mit ihrem Regenbogen der Verföhnung; wo aber 
fände fich Liebe unter guten Kameraden? Die halten 
nur geduldig und freundjchaftlich nebeneinander aus!” 
Und Freundſchaft will fie ihm treulich Halten, fo hat fie 
e3 gefchworen. Mehr aber nie. Marie Luife hebt das 
Haupt, ein erniter, faſt ſchmerzvoll düfterer Schatten troßt 
auf ihrer Stimm. 

Drunten im Portal rollt eine Equipage. Olivier. Ob 


— 506 — 


er wieder zu ihr herauffommen wird, oder ob er, ärgerlich) 
über ihre Weigerung, den Kavalierball allein bejuchen 
wird? Seit den lebten fünf Tagen war Nennderjcheidt 
viel, fehr viel in den Zimmern feiner Gemahlin aus- und 
eingegangen. Anfänglich heiter und guter Dinge; dann 
ward er immer ernjter und einfilbiger, eine nervöſe Un- 
ruhe charafterilierte all fein Tun und Handeln, und der 
Blick, mit welchem er fie oft minutenlang ſchweigend be- 
obachtete, brannte ſcharf und forjchend unter den dunfeln 
Wimpern hervor. 

Db er wieder Tommen wird? .. 

Die Nähnadel vibriert in den Fingern der jungen 
Frau, fie läßt die Hand unmillfürlich finfen und laufcht 
auf feinen Schritt. Der Schatten weicht von ihrer Stirn, 
höher und höher färben ſich die Wangen. 

Auguftchen Spillife beginnt allmählich fich zu lang— 
weilen. Sie hat lange genug darüber nachgedacht, warum 
der Herr Baron gejtern abend fo gewaltig über fie ge— 
lacht hatte. Im Eßſaal war eine lange Tafel gedeckt ge- 
iwejen, genau fo wie in dem Hotel, wo Guftchens Vater 
eine Zeitlang PBortier geweſen. Blumenjträuße, Schalen 
vol Früchte und Naſchwerk, und auf jedem Teller eine 
jehr ſchöne, bunte Karte, auf welcher etwas Gedrudtes 
ſtand. An der Seite des gnädigen Herrn infpizierte 
Sräulein Spillife die Tafel, und als Marie Luiſe eintrat 
und den Haushofmeiſter fragte: „ES ift doch alles in 
Ordnung?” da nidte Auguftchen jehr zufriedengeftellt und 
entgegnete: „Is man alles uff'n Zifche, wo fich’3 jehört! 


— 507 — 


Och die Nechnung haben fe man jleich uff de Teller je- 
legt!” Was man darüber nun zu lachen braucht?! ... 

Die Tür in einem der Nebenſalons Flappt, jchnelle 
Schritte nähern fich. 

Ein Aufatmen hebt Marie Zuifes Bruft, fie weiß jelber 
nicht, warum es fie plöglich wie eine glückliche Beruhigung 
überfommt; fie neigt fich über das gelbweiße Leinen und 
näht juit fo jchnell, wie das Herz Hopft. 

„Der jnädige Herr, id höre ihm!!“ annonciert 
Auguftchen, fpringt behende vom Stuhl und trabt an die 
Seite der jungen Frau. „Du, rau Baronin, der Herr 
kommt!“ wiederholt fie mit Theaterflüfterton, genau mit 
dem Kleinen Ellenbogenjtog und den liftig zwinfernden 
Äuglein, mie fie ſtets die „Schulgen” von der Ankunft des 
Gatten benachrichtigt hatte, woraufhin Kümmelflafche und 
Käfebrod in den Küchenjchranf gerettet wurden. Vielleicht 
war das bier für den Net des lederen Puddings auch 
ratſam; Auguſtchen ftand jchon auf dem Sprung, ihn vor 
dem Appetit des Hausherren in den fernften Winkel der 
Stube zu flüchten. Der Befehl dazu aber blieb aus... 
und nun war’3 auch jchon zu fpät, denn die hohe Geſtalt 
des Freiherrn ftand bereits auf der Schwelle und richtete 
die umjchatteten Augen feit auf jeine Gemahlin, nachdem 
er mit ſchnellem Blid das Boudoir überflogen. 

„Suten Abend, Marie Luife, nimmft du noch Vifiten 
an?’ — 

Sie hatte fich erhoben und war ihm entgegengetreten. 
„Viſiten? ... bringjt du Graf Gojed mit?” Sie hatte 


— 508 — 


ſich in lebter Zeit vor dem Alleinjein mit ihm gefürchtet, 
darum lag wohl ein freudiger Klang in ihrer Stimme. 
Er lachte fast herbe auf. „Nein ... rien que moi. 
Es iſt eine traurige Tatfache, daß du mit mir allein 
fürlieb nehmen mußt.’ 

Sie Hatte ihm die Hand gereicht, beforgt blickte fie 
zu ihm auf. „Was ift zwischen euch vorgefallen, Dlivier? 
Ihr waret die beiten und treueiten Freunde.” 

„Wahrlich? war er mir ein treuer Freund ?” 

Sie ſchlägt die Wimpern nicht nieder, fie blickt ihm 
flar und unbefangen in das Auge. „Wie wunderlich du 
fragft! Hätte er mir durch einen einzigen Hauch und 
Laut beiwiejen, daß er nicht dein Freund ſei, wie hätte 
er der meine bleiben können?“ 

Sein Antlitz ſinkt tiefer. „Wie kommſt du auf den 
Gedanken, daß etwas zwiſchen uns vorgefallen ſei?“ 

„Früher war Goſeck täglich Gaſt bei uns, jetzt kommt 
er gar nicht mehr.“ 

„Tatſächlich? Du überrraſchſt mich! Machte er dir 
gar keinen Beſuch mehr?“ 

„Nein.“ 

„So haſt du ihn vielleicht beleidigt?“ 

„Das ſcheint nicht der Fall zu ſein, denn er ſendet 
mir nach wie vor feinen Morgengruß. Sieh, dieſe köſt— 
lichen Blumen“ — Marie Luiſe wies nach dem duftenden 
Strauß auf ihrem Schreibtiſch — „haben die das Anſehen, 
als ſei ihr Geber im Zorn von mir geſchieden?“ 

Mit haſtigem Griff faßte Nennderſcheidt die Blumen 


— 509 — 


und hob fie aus der Vaſe. „Abſcheulicher Geruch, wie 
fann man Bovardiad in da3 Zimmer einer Dame ftellen! 


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Alle Nachtſchatten ſind heimtückiſch und ... du willſt 
dich doch nicht vom Grafen Goſeck in poetiſcher Form 
vergiften laſſen? Dazu bedarf es erſt meiner Erlaubnis.“ 


— 510 — 


Mit feſtem Schritt trat er zu dem Fenſter, öffnete es und 
warf die Blüten hinaus. | 
„Ra, da muß Doc) gleich eene olle Wand wadeln! 
So'n feinet Sträußfen i8 zur beiten Jahreszeit in die 
Markthallen feine Zweie-Fünfzig wert!” bemerkte Auguft- 
chen vorwurfsvoll. „Unten trampeln ſe's höchſtens in’ 
Schnee.” 

Nennderjcheidt wandte ſich frappiert zurück und fchien 
die Einzige ſeines Portiers jebt erjt zu bemerfen. Er 
lachte leife auf. „Ei jieh da, Auguftchen. Praktiſch und 
vernünftig wie immer! Warum bift du denn noch nicht 
in deinem Bettchen?“ 

„Beil mir noch feener rinjpediert hat, und alleene wer' 
id mir doch vor ſo'n Verjnügen nich’ melden!“ 

„Schläfſt du denn nicht viel lieber hier in Deinen 
ſchönen, weichen Kiffen, als wie bei dem ungezogenen 
Edchen der Schulgen?” 

Die Kleine legte mit altfluger Miene die Händchen 
auf den Rüden, „Det ſchon. Die Range machte ewig 
Nadau in den ollen Bettfaften und fragte und biß mir. 
Die Schulen hatte jefagt, dat jedes von ung die Hälfte 
von’3 Bette haben jollte, aber Edchen hat mir ejal je— 
fnufft und verlangt, det er in die Mitte liegen wollte, 
und id jollte meine Hälfte zu beiden Seiten von 
ihm haben!“ 

Guſtchens Witze waren meiſt unfreiwilliger Natur, 
auch jebt war fie überrajcht von der Wirkung ihrer 
tragijchen Geſchichte. Selbft die gnädige Frau, die zuerft 


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böfe über die Blumen gemwejen war, fchaute von der Ar- 
beit, welche fie jchweigend wieder ergriffen hatte, auf und 
lachte gleich dem Herrn Baron. 

„Du bift ein PBatentfrauenzimmerchen, Auguſte“, nidte 
Dlivier plößlich in bejter Laune, die Hand auf den glatt- 
gefämmten Kopf der Kleinen legend. „Mein Sorgen 
brecher; welcher gleich einem Kasperle in die Komödie 
des täglichen Lebens eingreift, wenn diefelbe zu erniten 
Ton anfchlagen will.” Er trat durch die Nebenfalons 
in das ‚Speijezimmer und fehrte nach wenigen Augen 
bliden mit einer Schale Konfekt zurüd. „Dem Berdienft 
jeine Krone! Komm Auguftchen, fei deinem Mäulchen 
feine Stiefmutter!” 

Marie Luiſe Hatte ſich im ftillen ſtets über die Art 
und Weiſe gefreut, in welcher Dlivier mit der Kleinen 
ſprach und verkehrte. Nichts iſt bezeichnender für den 
Charakter eines Mannes, als jein Benehmen gegen Kinder 
und Tiere. 

„Nicht zu viel, Dlivier, fie wird krank!“ 

Er jtand dicht neben ihrem Stuhl, neigte fich zu ihr 
nieder und jah bittend in ihr Auge. 

„Sid fie zu Bett, Marie Zuife, man fann fein Wort 
ungeniert ſprechen!“ 

Ihr Antlig war mild und freundlid) wie immer, 
dennoch hob fie ihr Haupt ftolz, beinahe unnahbar, auf 
dem fchlanfen Hals. 

„Ich dächte, folche Vorficht fei unnötig. Wir haben 
feine: Geheimniffe, und von Unterhaltungen, wie die 


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unfrigen, fann eine ganze Welt Zeuge fein. Früher war 
dir nicht? peinlicher, al3 ein töte-A-töte mit mir, und jebt 
iſt dir felbft die Heine Unjchuld eine zu läftige Gejell- 
ſchaft! Früher langweiltelt du dich in einer Partie zu 
zweien, — jebt tue ichs.“ 

Wohl fühlte er, daß fie ihn mit eigenen Waffen 
ſchlug und ihm mit feiner Münze zurüdzahlte, dennoch 
Ihüttelte er lächelnd den Kopf. 

„Die Zeiten und der Geſchmack ändern fi, nicht 
allein bei mir, fondern hoffentlich auch bei dir. Mag 
der Trabant immerhin feinen Stern umfreifen, einmal 
wendet er fich doch wohl fo, daß ein paar Lichtftrahlen 
auch auf mich fallen. Avanti, Auguftchen, du ſetzeſt dich 
hübſch artig hier an den Tiſch und nimmft ein Spielzeug 
vor, dann darfit du noch ein Viertelftündchen aufbleiben!” 

„Bat fol id denn fpielen? Wolf und Schäfcheng 
mit die Bonbons hier?!” 

„Nein!“ Marie Luife fchob die Schale etwas bei- 
feite; „hol dein Buch und kleb die bunten Bildchen ein, 
die ich Dir geitern mitgebracht habe!’ 

Gehorſamſt trollte Auguftchen in das Nebenzimmer, 
aus ihrer Spielede das Genannte herbei zu holen. Es 
dauerte nicht lange, fo ſaß fie voll fiebernden Eifers und 
flebte die unglaublichiten Stillleben auf dem weißen 
Papier zufammen. Plötzlich fchaute fie jählings auf und 
brachte eine der bunten Oblaten den Lippen des Haug 
herrn voll energijcher Nötigung fo nahe, wie es das kurze 
Ärmchen geftatten wollte. 


— 513 — 


„Du... Herr Baron... lede mal an det Bild 
bier! een Maifäwer is' et, den id hier neben den König 
Napolium kleben will!” 

„Fällt mir ja gar nicht ein! Led du doch gefälligſi 
ſelber!“ 

„Ick kann ja nich!“ 

„Barum denn nicht? Du haſt es ja bis jetzt ſtets 
getan?“ 

„Ja, ſiehſte ...“ und Auguſtchen ſchmatzte wohlig 
auf, „ick eſſe man jrade ſo een' ſehr ſchönen Bonbon, da 
tut mir meine Spucke leid!“ 

„Aber Auguſtchen! Auguſtchen!“ 

Nach kurzer Zeit kam Madame Verdan und * 
die Kleine ab, ſie zu Bett zu bringen. Marie Luiſe 
konnte es nicht mehr hinauszögern, dem Kind fielen Die 
Augen zu. 

Nennderſcheidt hatte fich einen gefchnißten Seffel neben 
den Pla feiner jungen Frau gerollt. Ein paar Mugen 
blide jah er zu, wie fie den Faden aus- und eingog, 
ruhig und gleichmäßig; der Trauring am Finger glängte, 
wenn fie das fteife Leinen glättete. 

Plötzlich legte er feine Nechte auf ihre Hand und u 
fie feit. 

Sie zudte leicht zufammen und blidte jählings auf. 
„Diefe Arbeit iſt häßlich, Marie Luije, warum fißeft du 
nicht lieber vor dem Epinnrad? ch liebe es fo fehr.” 

„Wann fahft du mid) jemals ſpinnen?“ 


Sein Antlig war fo ernft wie nie zuvor. „In einer 
di.v. Cſchſtrutb IN.Nom. u. Nov. Hazard II. 38 


— 514 — 


Stunde, da der gute Engel, welcher mich verzagend in 
wirren Stunden verlafjen hatte, zu mir zurückkehrte und 
meine blinden Augen jehend machte.” Er ftrich mit der 
Hand über die Stirn, dann fuhr er in verändertem 
Tone fort: „Wie kommt es, 
daß du auch eine Kunft verftehft, 
welche in Diejer modernen Zeit 
ſchon folange von den Damen zu 
Grabe getragen iſt? Wüßten die 
Frauen, wieviel Poe- 
jie und wieviel ge— 
heimnispollen Zauber 
| holder Weiblichkeit fie 
d mitdemSpinnradaug 
ihrem Wir: 
kungskreiſe 
verbannt ha— 
ben, ſo wäre 
der Flachs ein 
begehrter Ar— 
tikel.“ 

Sie hatte die Hand zurückziehen wollen; im Lauſchen ver— 
gaß fie es. „Daß ich in Herfabrumn Sitten übernommen 
und Künfte erlernt habe, die unferen Urgroßmüttern lieb und 
heilig waren, iſt wohl nicht zu verwundern; daß du aber 
jemals Gelegenheit hatteft, ein Spinnrad zu jehen, das be= 
rechtigt mich wohl zu einer gewifjen Verwunderung, und der 
Frage: „Wie ſchaut dein junges Auge in unfre alte Zeit?!’ 















— 515 — 


„Habe ich dir niemals von meiner Mutter gefchrieben ?” 
fragte er verwundert. 

Da wand fi) die fchlanfe Hand unter der feinen 
hervor, als habe fie plößlich glühendes Eiſen berührt. 
„Deine Briefe fehrieb Graf Gojed.” 

Glühende Nöte ftieg in feine Stirn. „Waos ich ſchrift⸗ 
lich verfäumte, darf ich es nicht mündlich nachholen und 
alle8 gut machen, was ich je in wahnwißiger Ber: 
blendung, in Leichtfinn und Übermut fehlte? Sch habe 
foviel, fo unendlich viel an dir abzubüßen, Marie Luife, 
daß ich vor der Danaidenarbeit, jemals meine Schuld bei 
dir abzutragen, hoffnungslos zurückweichen müßte, wenn 
du ein Weib märeft, wie jene andere, um derentwillen 
ih zu dem erbärmlichen Kerl ‚geworden bin, vor deſſen 
Hand du zurücihredit, wie. vor der eines Geäch— 
teten!’ 

Sie hob langjam den Kopf. „Wer jagt dir, daß 
ic) dich noch in meiner Schuld wähne? Daß ich über: 
haupt Neue und Buße verlange? Das Herzeleid, welches 
du mir durch dein graufames Spiel mit meinem Lebens: 
glück bereiteteft, habe ich dir lange vergeſſen und ver: 
geben” — ein wehmütiges Lächeln zucte um ihre Xippen — 
„und außerdem Haft du geflifientlich alles erfüllt, was 
du mir gelobt Hattejt. Pracht und Neichtum, Ehre und 
Stellung find mein eigen. geworden, treue Freunde um— 
geben mich, und du felbft biſt rajtlos bemüht, mir das 
Leben jo angenehm wie möglich zu geftalten. ch ver= 
miffe und wünſche nicht? mehr, ich bin glücklich.“ 

| 33 * 


— 


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„Undenkbar! Eines Weibes Leben ohne Liebe ift Fein 
Reben!” 

„Ich babe geliebt.” Groß und furchtbar ernft ruhte 
ihr Blick auf feinem erbleichenden Antlib. 

„Ben?!“ 

Da verichlang fie die Hände, und die dunfeln Wimpern 
ſanken verjchleiernd über die Augen. „Jene edle, hoheits— 
volle Traumgejtalt, welche das Ideal verförperte, das ich 
mir in einfamen Stunden gefchaffen, welche all mein Sein 
und Denfen zu eigen nahm, welche fromm und treu all 
jene Worte in mein Herz gejchrieben, die zu meines 
Lebens namenlofem Glück und qualvollitem Leid ges 
worden |” 

Er hatte fich langſam erhoben, feine Hand krampfte 
fih vor der Bruft, wie ein Auflodern ging’3 durch fein 
Auge. 

„Goſeck! ... Du haft ihn geliebt, und du liebſt 
ihn noch!” | 

Sie ſchüttelte finfter da8 Haupt, auch fie ftand hoc): 
aufgerichtet ihm gegenüber. „Aus der Afche fchlagen 
feine neuen Flammen auf. Die Liebe, welche Goſeck mir 
durch feine Briefe in das Herz gefenkt, ift befämpft und 
überwunden. Wie die Somne nicht mit Wiffen und 
Willen auf die Erde glüht, die roten Roſen aus der 
Knoſpe zu zwingen, jo hat auch Goſeck nicht gejchrieben, 
meine Seele für fich zu eigen zu nehmen, er fchrieb für 
dich und auf deinen Wunſch. Daß mir der Irrtum 
flar geworden, ift nicht feine Schuld. Der Sturm hat 


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uber ausgetobt, weder Liebe noch Haß find geblieben, 
nur ein treuer, wahrhafter und edler Freund fteht mir 
zur Seite. Derjelbe, welcher mich nicht verlafjen hat, da 
die Hand, welche meinen Trauring trug, mich von ſich 
jtieß, der einzige, welcher mir in all meinem Elend und 
Herzeleid ein Troft und eine Stübe war, — Goſeck!“ 

Marie Luiſe atmete hoch auf. Wie ein wilder Taumel 
war e3 über fie gekommen, welcher alles über die Lippen 
drängte, wa3 je an Qual und Weh verborgen im Herzen 
getragen war. Tiefe Schatten feuften fich in Oliviers 
bleiches Antlitz. Er ſprach leife, mit Elanglojer Stimme: 

„Ich habe jchwer gefehlt, ich weiß es. Sch habe 
jelber die Steine auf meinen Weg geivorfen und verdiene 
e3, daß fie fich jebt als Scheidewand zwifchen mich und 
mein Glück bauen. Du fennjt nur den tollen Junker, 
Marie Luiſe, nicht aber den, welcher mich dazu gemacht 
bat. Du Reine, Makelloſe, ſiehſt mit klarem Auge die 
Gegenſätze, welche Goſeck und ich verkörpern. Sch ſchuld— 
beladen, belaftet durch die taufend Vergehen, mit welchen 
jemals eine Weibes Herz gefoltert und gefränft wurde, 
und Goſeck in der vollen Glorie eines Menschen, welcher 
helfen, retten, ſchützen und tröften konnte, welcher ſtets 
im Lichte ftand, feinen Schatten dejto dunkler auf mich 
zu werfen. Verjchieden find wir beide wie Tag und 
Nacht, und dennoch glaube mir, Marie Luiſe, der Schein 
trügt!” 

Nennderſcheidts Stimme ſchwoll an, fein Auge flammte 
. auf und haftete mit feftem Blid auf ihrem Antlig. Die 


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Zukunft wird es vielleicht noch einmal lehren, ob der 
Itruppige Pelz fich beifer bewährt wie das Lammfell, aus 
welchem jchließlich Doch der Wolf hervorfchaut! Bis dahin 
aber, Marie Luiſe, Dulde nich in deiner Nähe, laß mich 
abbüßen und um Lohn und Liebe werben, wie ein Perſeus, 
welcher erjt den Drachen feiner eigenen Schuld befämpfen 
muß, ehe ihm eine Andromeda entgegenlächelt! 

Er war neben fie getreten, er faßte ihre Hände und 
wollte fie an jeine Bruft ziehen; voll leidenjchaftlicher Er: 
regung riß ſie fich los von ihm. 

„Niemals, Dlivier, niemals! Ein vergiftet Herz kann 
nicht mehr lieben, ich glaube nicht mehr an dich! Ich 
vertraue dir nicht mehr! Die Liebe, welche du unter 
die Füße getreten haft, ift tot — auf immerdar.” 

Sp fchneidet das Meſſer des Arztes fcharf und tief, 
aber auch rettend und beilend in das Fleiſch eines 
Kranken. 

Sekundenlang rang Nennderſcheidt, Herr über ſich 
ſelbſt zu werden. Dann löſten ſich die geframpften Hände 
von der Stuhllehne, auf welche er ſich geſtützt hatte. 
Entſtellt bis zur Unkenntlichkeit war ſein Antlitz. 

„So willſt du dich von mir trennen?“ fragte er mit 
heiſerer Stimme. 

Sie zuckte zuſammen und neigte das Haupt. „Ich 
will dir mein Leben lang das ſein, was du von mir 
forderteſt und was ich dir gelobte, ein guter Kamerad!“ 

Er biß die Zähne zuſammen. „Sünder, welche ihre 
Schuld einſehen, kaſteien ſich. Auch ich will den bittern 


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— 520 — 


Kelch, welchen ich) mir ſelbſt gereicht, bis zur Neige 
leeren; es gibt eine Art Wahnfinn, welcher es als 
Wolluſt empfindet, fich felber zu peinigen, welcher voll 
troßiger Selbftverurteilung auch das zweite Auge aus 
dem Kopfe reißt, wenn man das erite zur Strafe ge: 
Blendet. Du ſollſt frei fein, Marie Luife, du follft glüclich 
werden. Gehe mit dir felber zu Rat und teile mir deinen 
Entſchluß mit, wenn du von mir feheiden willft. Magſt 
mich hinausfchiden in die Welt, wenn du diejes Haus 
ſo lange als Heimat bedarfit, bis ... bis er... bis 
Goſeck“ — — Er unterbrach ſich, wie ein Aufftöhnen 
rang es ſich aus feiner Bruft, dann trat er einen Schritt 
näher und reichte ihr die Hand: „Überftürze dich nicht, 
aber quäle mich auch nicht allzu lange, Marie Luife! 
Laß es in drei Tagen entjchieden fein... und big dahin 
follen fremde Augen nicht in unfere Herzen ſchauen! Big 
dahin fei noch mein!“ 

Sie ſah ihn nicht an, kalt und bebend lag ihre Hand 
in der feinen. Er umſchloß fie mit fat ſchmerzendem 
Drud, dann trat er über die Schwelle. 
= MWie eine Träumende ftarrte fie vor ſich Hin in das 
Reere, dann fchlug fie die Hände vor das Antlig und 
wankte in ihr Schlafgemach; eine Marmorftatue fteht 
dort, Chriftus, der Tröfter, welche die Arne öffnet: 
„Kommt her zu mir, alle, die ihr mühfelig und beladen 
ſeid!“ ee — — 


— — 


XXIV. 


„Das Wort der Fran, — es bleibt dabei!“ 
Heyden. 

„Als ich mit mei'm Schatz in die Kirche wollt' gehn, 

Viel falſche, falſche Zungen unter der Türe ſtehn, 

Die eine redt dies und die andere das, 

Das macht mir gar oftmals die Äuglein naß! 

Die Dornen und Difteln, die ſtechen all' ſehr, 

Die falfchen, falihen Zungen aber noch viel mehr!” 
Altes Volkslied. 


— Jer Karnevalszug der Künſtler bewegt ſich wie 

wg eine buntglißernde Schlange durch die Straßen 
der Nefidenz. Man will verjuchen, ſüddeutſches 
Faſchingsleben in die Straßen der nordijchen Großjtadt 
zu verpflanzen. Teilweiſe gelingt es, oft aber artet es 
auch in wüſten Tumult aus, oder das fühle Blut fträubt 
fich, ehrbare Sitte zu brechen und von der Narrenfreiheit 
Gebrauch zu machen. In den Räumen des Miniftertums 
hat fich ein Zeil der Hofgefellichaft verfammelt. Fräulein 
von Speyern lehnt allein an einem Barterrefenfter und 
ichaut fo forjchend auf die Straße hinab, als erwarte fie 
jemand. Plötzlich weicht fie zurüd und hat die Em: 
pfindung, als ob fie errötet wäre. Das ärgert fie. Eine 
Hofequipage rollt herzu, Prinz Maximilian und Hoven— 





— 522 — 


klingen muſtern die Hausfront und treten haſtig ein. Im 
Nebenſaal laute Begrüßung, dann ſchwirren die Stimmen 
näher. 

„Servus, mein gnädiges Fräulein. Brillant, daß noch 
ein Platz hier am Fenſter frei iſt: Sie geſtatten, daß ich 
Ihrem Marmorbild die nötige Folie gebe?“ 

Friſch, mit außergewöhnlich gerötetem Antlitz, die 
Zigarette noch zwiſchen den Zähnen, lacht Hovenklingen 
ſeine ſtolze Fregatte an. 

Fides zieht die Augenbrauen zuſammen und blickt 
ſcharf auf die Zigarette. „Ich habe dieſes Fenſter für 
Nennderſcheidts reſerviert.“ | 

„Bis dieſelben fommen, fanıı ich alfo bleiben!” 

Statt aller Antwort treibt fie mit ihrem feinen Spitzen⸗ 
tu) das Rauchwölkchen zurüd. 

Er blinzelt fie verfchmigt an. „Meine Zigarette 
geniert Sie? Bedaure; in Ihrer Gegenwart, mein 
gnädiges Fräulein, muß ich rauchen!” 

„Ad . . .. Sie überrafchen mich. Darf ich fragen 
weshalb?” 

„Beil um Engelsföpfchen Wolfen gehören! Hübjch 
gejagt, was?“ 

Sie lacht unmillfürlich leiſe unb melodiſch auf 

„Es gibt auch böje Engel.” 

„Sie meinen, die auf mich böfe find?” 

„Auch ſolche.“ 

Er wirft die bläulich Fräufelnde Türfin durch das 
Fenſter und fieht Fides plöglich mit ernſtem Blick in die 


— 523 — 


Augen. „Hand aufs Herz, Fräulein von Speyern, ver— 
diene ich eg? Warum haben Sie mir noch nie ein freund: 
liches Wort gegönnt? Ich war mein ganzes Leben über 
jo arm an Güte und Frauenhuld, bin ftet3 ein Stieffind 
der Zärtlichkeit geiwejen und möchte doch gar zu gern ein 
einziges Mal eine freundliche Erinnerung mit hinaus in 
die Einſamkeit des Weltmeeres nehmen!” 

„Ste find ungerecht, alle Herzen fliegen Ihnen zu!” 

„Solche, die ich nicht begehre. Und das ift mein 
Schickſal von Jugend auf.” 

Sie hat fich halb zur Seite gewandt, die leife Wehmut 
in feiner Stimme trifft fie bis in das Herz. 

„Sie baber mir nie aus Ihrer Jugend erzählt!” 
lagt fie, „aber id, weiß, daß Sie früh verwaiſt waren !” 

Er nickte langſam vor ſich hin. „Sch war ein armer 
Bub, überall im Wege, keinem Tieb. Onkel York fennen 
Sie; wenn Sie jemal3 von jeiner verjtorbenen Frau ges 
hört haben, werden Sie begreifen, daß ich nicht auf Roſen 
gebettet war, al3 ich auf dem Gut dieſes Paares erzogen 
wurde. Ich bin immer ein ftrammer Bengel gewefen und 
hatte einen fo normalen Appetit, daß den jparjamen 
Pflegeeltern die Haare zu Berge ſtanden. Sah ſtets 
verdammt flau aus mit den Portionen, und vollends im 
Winter habe ich mir manch liebes Mal einen Stuhl auf 
den knurrenden Magen gelegt, um einfchlafen zu können!“ 

„Und feine mitleidige Seele fand fich, die Ihnen zu 
Hilfe kam?“ Tächelte Fides. 

Da lachte er in feiner vergnügten Weiſe ebenfalls. 


— 5214 — 


„O ja, das Gefinde hatte den Kleinen, Hungernden 
Junker gar fehr ins Herz gejchloffen! Wenn es im Hofe 
zum Eſſen Elingelte, jo jchlich ich mich in die Gefindefüche, 
und dann machte ich die fchönften blauen Augen, die ich 
auf Zager hatte, und wandte mich an das gefühlvolle 
Geſchlecht und ſprach: „Wer mi a Klösli gibt, der darf 
mi a duße!” Das war nämlich damals die einzige Aus— 
zeichnung, welche ich zu vergeben Hatte!’ 

Fräulein von Speyern hatte ſich dem Sprecher längft 
zugewandt und blidte ihn fo freundlich und herzlich an 
wie nie zuvor, und über die „Klösli“ amüfierte fie fich 
außerordentlich und blidte erjt wieder auf die Straße 
hinaus, al3 der jchlaue Leutnant auch jeßt wieder feine 
Ichönften blauen Augen machte, welche er auf Zager hatte. 

Aber horch? was war dus? ... Durch all das 
Yubeln und Lärmen der vorüberwogenden, erwartungs— 
vollen Menge Elingt helles Pfeifen. Ein Straßenjunge 
Ichlendert vorüber, die Hände in den Hofentafchen, und 
leiftet ſich im Polkatakt eine jehr jchöne Melodie. An dem 
Trottoir jteht ein Schlanker Jüngling mit großem Künftler- 
hut und hält den Jungen fcharf im Auge. Fides beugt 
fi) vor und ftarrt dem Kleinen ſprachlos nad). 

„Infamer Bengel! Muß fo ein neuer Gafjenhauer 
fein, den er pfeift, man hört ihn jegt überall big zur Er— 
ſchlaffung!“ Und Hovenklingen zieht das Tafchentuch und 
täubt gelafjen das Fenſterbrett ab. „In Haffelforft 
finden die großen Saujagden Statt, ich werde Hoheit 
morgen früh auf zwei Tage dorthin begleiten — —“ 


— 525 — 


Fides hört ‚garnicht auf ihn. Dort kommt fehon 
wieder ein Junge und pfeift... nein... unmöglich... 
es flingt nur fo ähnlich wie ihr jchönftes und Tiebites 
Lied... wie ihre Kompofition ... und dennoch Ton 
für Ton — 

Glühende Nöte fteigt in ihr Antlitz. Träumt fie? 
Eriftiert Diefes Lied bereit3 ... hat ein Zufall fein Spiel 
mit ihr getrieben... . Undenfbarl ... Ah... und 
dort kommen wieder zwei — 

„Bas pfeifen denn die Lümmels nur! Nennen Sie 
die Muſik, gnädiges Fräulein?“ Adalbert Augen blißen 
vor Übermut und Spaß. 

Fides ftüßt fich fchiver auf das Fenſterbrett und neigt 
fich atemlo8 vor. — Su... . jene beiden fingen! Gie 
wird Worte verjtehen . . . näher und näher fommen 
fie... . jegt Hört fie deutlich ... alle guten Geifter — 
ihr Liedl! 

„Heda, Jungens!“ ruft Hovenflingen, und die Kleinen 
Kerle ſteuern wie eingedrillt nach dem Parterrefeniter und 
itellen fich davor auf. 

„Was fingt ihr denn da?” 

„Ein neues Lied, gnädiger Herr, ‚Servonnen!‘ heißt’3.” 

„Ah!“ Ba 

„Don wem ift e3 denn fomponiert?“ 

Die Jungens grinjen verlegen. „Bon Fräulein von 
Speyern!“ 

„Danke ſchön, 's iſt gut.“ 

Fides ringt nach Atem, ſie iſt ſprachlos, faſſungslos; 





da dringt helles 
Lachen an ihr Ohr. 
Prinz Maximilian 
jteht hinterihr und 
legt grüßend Die 
Hand an die 
Mübe: „Gewon= 
nen! Gnädigſte! 
Kun Streichen Sie 
die Segel, ftolze 
Fregatte, und ſalu— 
tieren Sie dem 
glücklichſten Sterb— 
lichen, deſſen 
Namen künftighin 
über Ihrer Lieder— 
ſammlung pran— 
gen wird!“ 
Fräulein von 
Speyerr iſt heiß 
erglüht. Dann 
ſtimmt ſie, wie tief 
aufatmend, in das 
Lachen ein und 
reicht Hovenklin— 
gen herzlich die 
Hand. „Das Wort 


der Frau: es bleibt 


— 527 — 


Dabei! Neidlofen Glückwunſch zu Ihrem Sieg, Herr von 
Hovenklingen! Vorläufig ift es mir noch ein Rätſel, aber 
wie es fich auch löſen möge, e8 wird von jeder vernünf- 
tigen rau freudig anerkannt werden, wenn im luftigen 
Kriege der Stärfere recht behält!” 

Als Hovenklingen fich ftrahlenden Blickes auf die 
Schlanke Nechte niederneigte, fie zu küſſen, deuchte es ihm, 
als erbebe fie unter feinen Lippen. — — — — — — 

Neue Herrjchaften traten ein und begrüßten Fides. 

Marimilian trat dicht neben feinen Adjutanten. 

„Ra, Hovenklingen? toblocks?” 

„Schon mehr vermoort, Hoheit, ich liege mit zwei 
Anfern vor meiner Fregatte.“ 

„Kurz Ipliffen laffen vor Altar und Standesamt?” 

„Am Tiebiten mit 14 Knoten Fahrt!“ 

„Sratuliere.” 

Fräulein von Gironvale balancierte jehr grazidg näher. 
Sie hatte eine blaurot gefrorene Naſe und fah in der 
vieredigen Polenmütze höchſt unvorteilhaft aus. 

„Herr don Hovenklingen! Der Zug fommt! Man 
hört Schon Muſik! Laſſen Ste mich fchnell hier an das 
Fenſter!“ 

„Seien Sie doch nicht ſo neugierig!“ 

„Neugierig?“ Esperance ſchüttelte halb vorwurfsvoll, 
halb ſentimental den Kopf. „Ich will eine neue Blüte 
in den Kranz meiner Erinnerung flechten! Sie ſpielen 
ſich heute wieder auf den Barbar auf, oder”... fie trat 
dicht neben ihn und fchmachtete zu ihm auf, „oder follten 


— 528 — 


Sie nur fofettieren wollen und es viel beſſer noch wie 
ich willen, daß es das einzig wahre ijt, die Blüten zu 
pflüden, wie und wo man fie findet? Es gibt Rojen, 
welche ſich dornenlos darbieten ... fich gern pflüden 
laſſen . .. man muß nur Courage haben! Die Zurmft 
it eine Seifenblaje, aber da8 Bemwußtjein, genojjen zu 
haben, immer ein Glüd —“ 

„Sott bewahre, nicht immer!” 

„Zum Beijpiel?” 

Hovenflingen jah furchtbar nüchtern und troden zu 
ihr nieder. „Wenn einer ſeekrank ift, dann wird alles, 
was er zuvor genofjen hat, ein Fluch für ihn!“ 

„Fi done!“ Scharf und zijchend klang's, und Die 
fleine Franzöſin ſchwenkte brüsf auf den Haden um. Nach 
wenigen Minuten aber jtand fie fchon wieder an feiner 
Seite, al3 er mit Fräulein Södermann an der Nebentür 
plauderte. Das Geſpräch drehte fich um die baldige Ab- 
reife des Prinzen und feine® Adjutanten. Esperance 
wurde fentimental und malte in lyriſchen Gleichnijfen die 
Dual eines jehnjuchtsfranten Herzens aus. Hovenklingen 
hörte ſchweigend zu und zog ganz wunderliche Grimajjen, 
juft, als wolle er feine Rührung mit Gemalt nieder: 
fümpfen. Fräulein von Gironvale beobachtete ihn mit 
atemlofen Sntereffe und fuhr graufam fort: „Die Welt 
iſt kalt und öde ohne den Geliebten, der Himmel regnet 
nicht, nein, er löſt fih auf in unermeßlichen Tränen 
Itrömen, die Sonne hat aufgehört zu fcheinen —“ 

„Kein, um Gottes willen nicht!” fuhr Adalbert ganz 


— 529 — 


nervös empor. „Wo ift die Sonne, ich muß die Sonne 
jehen! und er wandte fich und jtürmte nach dem Fenſter. 

Esperance umframpfte den Arm Anny Södermanns. 
„Sehen Sie? Ich habe es erziwungen! Er iſt doch 
eine poeriiche Natur, jetzt kommt fie zutage!” 

Mit beiden Händen jtüßt fich der Leutnant zur See 
auf das Fenſterbrett, dag Antlitz jehnjuchtsvoll zum 
Himmel gehoben, und wieder arbeitet es in feinen Zügen, 
und plöglich erklingt es kraftvoll mächtig: „Habjchieh! 
habſchieh!“ Und drunten auf der Straße johlen ein 
paar Stimmen: „Zur Jeſundheit, Männeken!!“ 

Fräulein E3perance aber überfam es bei dem jchallenden 
Gelächter ringsum wie ein Schlaganfall . 

Fürftin Tautenſtein hatte heute viel zu flüftern, in 
die Ohren zu raunen und geheimnispoll die Achjeln zu 
zuden. Die Damen jtanden dicht gedrängt um fie ber. 
Man rief nad) Fräulein von Gironvale . . . nach Herrn 
von Diersdorff und Prinz Hohned. Leider, leider das: 
jelbe beitätigende Kopfniden! Das dumpf geheimnisvolle: 
„Ein Skandal. . . unmöglich in unferer Gejellichaft !“ 
und dazu ſchlug man höchlichſt alteriert die Hände zu— 
ſammen, und die Augen aller Mütter mit heiratsfähigen 
Töchtern fchillerten vor Luſt und Schadenjreude über 
diejen Eflat! 

„Weiß es die Speyern ſchon?“ 

„Rein! wo iſt fie? Nirgends zu finden. Seltfam, 
aus welchem Grunde mag fie gegangen fein? Vielleicht 


oben in den Sälen? Der Prinz und De ſind 
N. v. Eſchſtruth, Ill. Rom. u. Nov., Hazard I. 


— 50 — 


auch Hinaufgegangen! Auch dort nicht. ‚Laissez la courir!‘ 
würde petit Riquet jagen! Sie wird e3 zeitig genug er- 
fahren!” 

„Nennderſcheidts kommen!’ Allgemeine Aufregung. 
Frau von Södermann faßte ihre Tochter Anny mit 
eifernem Griff am Arm und warf ihr einen ftrengen Blick 
zu. Dem jungen Mädchen ftanden die Tränen in den 
Augen. 

Marie Luife trat am Arm ihres Mannes ein. Gie 
war ſchwarz gekleidet und fah noch zarter und bleicher 
aus wie fonft. Ein müdes, unendlich Tiebes und weh— 
mütiges Lächeln lag um ihre Tippen. Graf Gofed folgte. 
Er Hatte zufällig am Portal geftanden und fich dem 
jungen Paare angefchloffen. Ein Flüftern und Raunen, 
ein Kopfbeivegen und Aufhüfteln ging durch die Geſell— 
ſchaft. 

Ein überraſchter, ſich mehr und mehr verfinſternder 
Blick Oliviers ſtreifte über ſie hin. Er gab den Arm 
ſeiner Frau nicht frei, er trat an ihrer Seite vor die 
Oberhofmarſchallin, mit etlichen ausgewählt höflichen 
Worten ſein Nichterſcheinen bei ihrem letzten Feſt zu ent: 
ſchuldigen. 

Marie Luiſe ſchrak leicht zuſammen. Das war der— 
ſelbe entſetzliche, unvergeßliche Ausdruck in dem fetten 
Geſicht, der damals im Opernhaus ihr Blut faſt erſtarren 
machte. Ein Blick von oben bis unten, ein ſehr kühles: 
„Fatalitäten, Herr von Nennderſcheidt! ... Man muß 
fie zu verjchmerzen juchen!” Und Exzellenz wandte dein 


— 5 — 


Majoratsheren von Noggerswyl und feiner Gattin jehr 
ojtenjibel den Aüden. Und wohin ſich das junge Paar 
grüßend wandte, überall dasſelbe, kaum merfliche Neigen 





der Naſenſpitze, das jcharfe Mujtern durch halb zuſammen— 

gefniffene Augen, das jchroffe Abwenden und völlige 

Ignorieren. Gojed folgte Schritt für Schritt. Ein 

eigentümliches, fait triumphierendes Lächeln fpielte um 

feinen Mund und ſenkte Xleine Fältchen in die Augen— 
34* 


— 532 — 


winfel. Erfah niemand an. eine Wimpern fielen wie 
tiefe Schatten auf die farblofen Wangen. 

In Dliviers Wangen und Stirn aber ftieg e8 immer 
röter und drohender empor. Er fühlte die Kleine Hand 
auf feinem Arm zittern, feiter und ficherer jchloß er fie 
an fih. Draußen hallte es „jü närro!“ Die Muſik 
jchmetterte, und Prinz Karneval warf von prunfvollem 
Thronmwagen feine Roſen unter die johlende Menge. 

Zwei junge Offiziersfrauen, welche jonjt die Liebens— 
wiürdigfeit jelber gegen Marie Luiſe gewejen, traten voll 
auffälliger Haft von dem Fenſter hinweg, zu welchen 
Nennderſcheidt jeine Gemahlin führte. Nur Gofed folgte 
wie ein Schatten, und lehnte fich neben der Baronin an 
die offene Scheibe. 

Ein Zittern und Beben ging durd) die jchlanfe Geſtalt 
der jungen Frau. Der Lärm gellte ihr betäubend in 
die Ohren, und ihr Herz jchien till zu Itehen in der Qual 
und dem Gefühl diejes plößlichen Geächtetjeins. 

„Bas ift paffiert, Gojed? Was joll dies mehr wie 
empörende und beleidigende Benehmen der Gejellichaft?” 

Der Graf zudte die Achjeln. „Klatſchereien. Entweder 
räuchert man böfe Zungen mit Pulver und Blei, oder man 
ignoriert fie.” | 

Zum erjtenmal richtete Marie Luije die Augen auf 
ihren Gatten. Tränen glänzten an den Dunkeln Wimpern. 
„Sch ahne es, Dlivier ... eine Unvorfichtigfeit. . . eine 
Rückſichtsloſigkeit von mir... .” 

Goſeck zudte empor. ‚Sie haben der Hofdame der 


5 


alten Prinzeſſin Ihren Entſchluß mitgeteilt, Fünftighin die 
Wohltätigkeitsverfammlungen nicht mehr bejuchen zu wollen! 
Das war allerdings etwas kühn, aber durchaus fein 
Berbrechen, und hat in der Gejellichaft der Yebensluftigen 
eher Anlaß zu Beifallslachen, als zu Ärgernis gegeben —“ 

„Selbitredend !”’ nickte Olivier überzeugt. 

„Was die Leute fo gewaltig choftert hat, muß efla= 
tanterer Art fein. Wer jagt Ihnen, daß man Front 
gegen Sie macht? Dlivier hat die Cour gemacht und 
iit fahnenflüchtig geivorden, warten Sie e3 aljo erit ab, 
woher der Wind bläft.” Er neigte fich jehr vertraulich 
näher, und warf Marie Luife einen Blid zu ‘wie einer, 
der heimlich mit jemand im Einverftändnis iſt. „Was 
e3 aber auch fei, unbejorgt, gnädigjte Frau! Ich ftehe 
an Ihrer Seite und halte den Schild! Kein giftiger Pfeil 
ſoll fie treffen.” 

Mit jprühendem Blid hob Dlivier das Haupt. Er 
wollte die Lippen zu heftiger Entgegnung öffnen, und biß 
jchiveigend die Zähne zujammen unter dem falten, iro— 
nijchen Blid, welcher ihn aus den grauen Augen Eu— 
ſtachs traf. 

„Ich komme ſoeben aus der Kirche”, fuhr der Graf, 
nur zu feiner Nachbarin fprechend, fort, „es ift mir ein 
Lebensbedürfnis geworden, Orgelflang zu hören, zu beten 
und zu beihten. Wie ein unauslöfchlicher Durft iſt's 
über mich gefommen, ich lechze nach dem Duell der Gnade 
der Wahrheit und des Lichtes. Sie haben mich auf den 
Ihmalen Weg gewielen, und nun ift mir zumute, als 


— 534 — 


müjje ich ohne Ruhe und Raſt vorwärts ftürmen, alles 
nachzuholen, was ich big jebt verfäumte . . .” 

Dlivier wandte ſich jählingg ab. Der widerlich 
jalbungsvolle Ton, welchen fich Goſeck feit kurzer Zeit 
angewöhnt, war ihm unerträglid. Er ſah, daß auch 
Marie Luiſe erftaunt zu dem Sprecher aufjah. Nein, fie 
war gewiß nur die allerunfchuldigjte Urfache von dem 
religiöfen Rappel, welcher ihn plößlich erfaßt hatte. Einen 
Augenblid hörte er noch mit zufammengezogenen Augen 
brauen zu, wie Gojed unter gellender Narrenmuſik, oft 
unterbrochen durch das wüſte Beifallsgefchrei der Menge, 
welches die einzelnen Gruppen des Zuges begrüßte, einen 
Vortrag über die Beichte und Abfolution hielt. Und 
er verjchränfte mit ironiſchem Lächeln die Arme und 
dachte: „Er mag recht haben! Es muß eine angenehme 
Buverficht beim Sündigen geben, wenn man weiß, daß 
ein paar Silberlinge und wundgerutſchte Knie Die 
Seele wieder weiß wie Echnee wajchen fünnen! ‚Du 
follft nicht begehren deines Nächiten Weib“ Bah, Graf 
Goſeck jtrecdt beide Hände nach ihr aus, und kauft fich 
einen Ablaßzettel!“ 

Nennderſcheidt jchüttelte mit herbem Lächeln die feucht- 
geivordenen Haare auf der Stim. „Wohl dem, welcher 
mit Gold und Fleifchwunden abbüßen kann!“ Er, der 
Proteftant, dem Das goldene Tor der Abfolution ver: 
ichloffen bleibt, er hat lange, qualvolle Nächte hindurch 
auf der Folter gelegen, er hat feine Seele zermartert und 
in wilden Kampfe mit den böjen Mächten der Vergangen- 


— 535 — 


heit gerungen. Neue und Gewiſſensbiſſe find wie zweis 
jchneidige Schwerter durch fein Hirn gefahren, Liebe und 
Eiferjucht haben fein Herzblut tropfenmweife verzehrt, und 
was er je im Leben gefehlt und gefündigt hat, das wird 
zu riefenhaften unbarmherzigen Geijtern, die fein Ablaß- 
zettel zurüdichreden fan. Die fommen und fchüren felber 
die Flammen, welche da3 Gold feiner Seele von dei 
Schlafen reinigen follen. Graf Gofed3 Geldbeutel ift 
jchnell wieder gefüllt, feine gebettrocdenen Lippen fchnell 
befeuchtet, feine Knie bald geheilt, Nennderjcheidt aber 
trägt die Spuren feines Sühnekampfes lebenslang als 
Ehrenzeichen auf der Stirn, tiefe Furchen, Falten, welche 
ein paar furze Nächte gegraben. Der Zug ift vorüber. 
Dlivier tritt haftig unter die Gejellichaft und begrüßt ſehr 
oftenfibel Fürſtin Tautenftein. Sie reicht ihm fehr freund: 
ih die kleine Hand, wie Mitleid zieht ſich's durch ihr 
Lächeln. Auch die anderen Damen und Herren fünnen 
es ihm gar nicht ausdrudspoll genug zeigen, daß man 
gegen ihn nicht im mindelten eingenommen tft, daß man 
ihm fehr wohl will. „Armer Mannl-. . . fcheint ganz 
ahnungslos! ... Er iſt fehr zu bedauern!” ſchlägt's ihm 
oft in heimlichem Ylüfterton aus den Nebenunterhaltungen 
an das Ohr. 

So aufgeregt er zuvor war, fo zuverfichtlich ſtolz und 
ruhig wird er jet. Er fchreitet zu Marie Luiſe zurüd, 
bietet ihr den Arm und führt fie nach dem Wagen. 
Aller Köpfe wenden fich ab, da fie vorbeifchreitet. Goſeck 
füßt ihr die Hand. „Rufen Sie mich, wenn Sie Schuß 


— 536 — 


und Beiftand brauchen!” flüftert er ihr zu. Dann geht 
er direkten Wegs wieder nad) dem Dom. 

Schweigend lehnt die junge Frau in den Polſtern 
der Equipage. Sie ift jehr bleich, aber nicht mehr angjt= 
voll erregt wie zuvor. Ernte Klarheit leuchtet von ihrer 
Stirn und in dem Blick, welcher fich finnend zum Himmel 
hebt, fladert e3 nicht wie ein böfes Gewiſſen. Auch Dli- 
vier jchweigt. Bor dem Gebäude des Adelsklubs ruft er Den 
Kutſcher an. „Entſchuldige mich, Marie Luiſe, ich möchte 
jehen, ob Rittmeister von Bergen bier zu treffen iſt.“ 

„Du willit ihn um Auskunft bitten?” 

Er lächelt. „Pfläumchen ift ein braver Kerl und 
mein Freund. ngftige dich nicht, ich werde dem infamen 
Klatich bald auf die Spur fommen, madame la Reine- 
Claude wird ung den Schlüffel dazu liefern. Behüt's 
Gott!“ Und er nidt ihr faſt heiter zu und fpringt aus 
dem Wagen. 

Der Rittmeister iſt nicht im Klub. Er ift gejtürzt 
und liegt an einer Musfelzerrung zu Bett. Nennder— 
icheidt eilt nach feiner Wohnung. Über eine Stunde fitt 
er am Lager des jovialen, liebenswürdigen Kameraden 
in langer ernfter Unterredung. Bergen ift noch völlig 
ahnungslos. Aber er wird es ficher erfahren, was da 
im Spiele ift! Seine Frau weiß alles und länger wie 
zwei Stunden behält fie fein Geheimnis auf der Seele. 
„Ich ſchreibe Ihnen, lieber Baron, noch heute abend er- 
halten Sie des Rätſels Löfung. Gott verhüte, daß Ihre 
Vermutung fich bejtätigen möge!” 


— 597 — 


Es ijt Abend. Marie Luiſe hatte ein gutes Ge— 
wiſſen, dennoch jchüttelte es fie wie Fieberfroſt und 
treibt ihr falte Tropfen auf die Stirn. Was hat fie 
getan, daß fich alle von ihr wenden, wie bon einer Ge— 
ächteten? Alle? Nein, er, den fie geſtern kalt und ftolz 
von fich geftoßen, er hat ihre Hand nur nod) fefter ge— 
halten und hat ihr zugelächelt mit der ftolzen Zuverficht: 
„Es muß ein Srrtum fein, welcher fein Spiel mit dir 
treibt!’ | 

Wo bleibt er? Es ift ſchon ſpät. Um diefe Stunde 
trat er gejtern und all die vorhergehenden Tage bet ihr 
ein. Hat jenes unbekannte, entjeßliche Geſpenſt, welches 
ihr Verderben gejchworen, auch ihn erreicht? Hat es jein 
Sift auch in Oliviers Herz gegoffen? Wendet auch er 
fih von ihr, verachtend, Falt und erbarmungslos, wie 
die Menfchen, welche fie in Acht und Bann getan? AI- 
mächtiger Gott, nur das nicht! Alles will ich ertragen, 
alles leiden und dulden, nur er foll nichts Schlechtes von 
ihr denken, nur er fol fie nicht von fich ftoßen, um 
fremder Zungen willen. Sie hat nicht mit Bewußtſein 
gefehlt, fie hat getan, was er ihr einst felber befohlen 
hat, dag, was ihr aut erjchien, gleichviel, ob e8 die Welt 
befritteln wird. Abermals Holt die Uhr zum Schlage 
aus. Und drunten in feinem Zimmer werden Türen ge: 
worfen. Der Diener, welcher wenige Minuten jpäter 
eintritt, um nach dem Kaminfeuer zu fehen, antwortet auf 
ihre Frage, daß der Herr Baron bereits feit einer Stunde 


zu Haufe jei. 


— 598 — 


Marie Luije verfchlingt die zitternden Hände und 
preßt fie gegen das Herz. Es droht zu zerfpringen in 
der qualvollen Aufregung dieſes vergeblichen Warten3. 
Sit fie denn Diefelbe noch, welche vor faum vierundzwanzig 
Stunden an dieſer felben Stelle geitanden und voll ftolzer 
Leidenschaft ihre Hand aus der feinen geriffen hat. „Die 
Liebe, welche du unter die Füße getreten Haft, ift tot! —?“ 
— Nein, fie iſt nicht mehr diejelbe, fie fühlt's mit jeder 
Minute, die verftreicht, ohne daß er erfcheint, fie fühlt's 
an ihrem wehen, gepeinigten Herzen, daß es nur einen 
auf der Welt gibt, zu welchem fie fi) Hinflüchten möchte: 
Dlivier. Und in jäh aufquellendem Gefühl tritt fie vor 
fein Bild, legt die gefalteten Hände dagegen und flüftert: 
„Ich habe nur dich auf der Welt, verlaß mich nicht!“ 

Die Portiere bewegt fich, leichte Schrittchen huſchen 
in das Nebenzimmer und verflingen bald auf dem Korridor. 

Drunten an dem Zimmer des reiherrn Elopft es an. 
Als feine Antwort erfolgt, hebt fich Augufichen auf die 
Fußſpitzen und Öffnet. Nennderjcheidt iſt mit erregten 
Schritten im Zimmer auf und nieder gegangen; er bleibt 
ftehen und wendet fich der Kleinen zu. Er jieht anders 
aus wie fonft, fo bleich wie das Tafchentuch, mit welchem 
er über die Stirn ftreicht, aber nicht böfe. 

„Du kommſt zu mir, Augujtchen?” fragt er haftig, 
‚Shit dich die gnädige Frau?‘ 

„ee, ic komme von alleene, um Ihnen zu fragen, 
warum Cie heute jar nicht ruff fommen bei und? Die 
jnädige Baronin hat ooch Sehnfucht!” 


— 539 — 


„Sagt fies?” Sein Blid trifft in atemlofen Zaufchen 
die Lippen des Kindes. 

‚ee, aber je weent man fo doll.” 

Er beißt die Zähne zujammen und dedt einen Augen: 
blid die Hand über die Augen. „Sch kann jetzt nicht 
fommen, Auguftchen, ich habe feine Zeit, aber morgen... 
jo Gott es mill!” 

„Herr Baron, der Wagen ift porgefahren I” 

„ut, ich komme.“ Olivier wendet fich zerftreut ab 
und tritt in das Nebenzimmer, Pelz und Hut zu nehmen. 
Auguftchen ſchaut fich neugierig um. Droben weint die 
arme, gnädige Frau, iſt denn gar nichts Schönes hier, 
wa3 man ihr zur Freude mitbringen könnte? Ah, da 
liegt ein Brief auf dem Tiſch! ... Und wie hat fie ſich 
neulich gefreut, al3 der Franz einen Brief auf filbernem 
Tablett hereinbrachte; über diefen freut fie fich gewiß ganz 
ebenſo. Schnell hat Auguftchen den Kleinen Arm aus 
geitrect, den Brief erfaßt und die Tür erreicht. Sehr zu= 
frieden mit ſich und der Welt Hettert fie die Treppe 
wieder hinauf. „seht jol mir Jott 'nen Dahler ſchenken, 
wenn det nilcht nützt!“ 

Dlivier durchichreitet das Zimmer und blidt fich noch 
einmal zerjtreut um. Wo ift der Brief Bergen? ... er 
fühlt gegen die Brufttafche. Sa, es kniſtert drin! Er hat 
ihn wohl jchon eingejtedt. Cr fpringt haſtig in den 
Wagen. „Zu der Wohnung des Grafen Gojed!” 

Marie Luiſe ſteht unter der hellen Lampe und hält 
mit zitternden Händen den Brief, welchen Auguftchen ihr 


— 540 — 


mit den Worten „vom Herrin Baron’ triumphierend über 
reicht hat. Bor ihren Augen wallt’3 wie Nebel. 

„Mein  verehr: 
tejter Herr von Nenn 
derjcheidt, lieber 
Freund!“ lieſt fie. 
„In aller Eile nur 
folgende Notiz, Ihre 
Vermutung warleider 
Gottes die richtige. 
Fama hat ausge— 
ſprengt, Ihre Frau 
Gemahlin ſtehe zu be— 
ſagtem Herrn — no— 
mina sunt odiosa! 
— in ſehr intimem 
Berhältnis. Augen 
zeugen, drei Berjonen 
der Gejellichaft, be= 
ſchwören es, ein etwas 
fandalöjes Nendez- 
vous mit eigenen 
Augen beobachtet zu 
haben. Ich bin über: 
zeugt, daß alles auf 
einemMißverſtändnis 
beruht. Falls aber ein Duell unvermeidlich wird, ſo 
bin ich ſelbſtverſtändlich bereit, mein beſter Nennderſcheidt, 





— 541 — 


hr Sefundant zu fein. Sch laffe mich per Wugen beför- 
dern. Vorläufig bin ich jedoch der feften Hoffnung —“ 

Ein dumpfer Klagelaut. Marie Luife taumelte zurüd 
und bricht bewußtlos zujammen. 

Wie die Stunden ſchleichen! Die Nacht ift dunfel und 
ftürmifch, und Marie Luife preßt das Antlit gegen die 
fühle Scheibe und ftarrt hinauf zum Himmel, wo die 
Wolfen wie irre Rieſenſchatten jagen, wüſt und ge— 
ipenftiih. Sie hat auf den Knien gelegen und gebetet, 
und in ihrem Herzen iſt es till geworden. Nun fennt 
fie das verzerrte Antlitz der Lüge, welches fie verfolgt, 
und bebt nicht mehr vor ihm. Sie ift ſchuldlos, fie trägt 
das Haupt frei und Stolz auf dem Naden. Aber trob 
ihres reinen Gemifjens fommt fein Schlaf in ihre Augen, 
heiß und tränenlos find fie. Sie fürchtet fich nicht vor 
dem Leumund der Welt, welcher ihr die Ehre jtiehlt, 
aber fie bricht zufammen unter der Laſt jener quälenden 
Srage: „Wird auch er mich verdammen, wird auch er 
den Stab über mich brechen, da alle Welt mich fteinigt? 
Wer ift jener andere Namenlofe, um deffentwillen ich 
Dlivier Die Treue gebrochen haben fol?” Es gingen fo 
viele hier im Haufe aus und ein, alle von ihrem Manne 
jelber geladen. — Gofed? — Gott gebe es, daß man 
ihn meint! Er, der edle, brave und fromme Mann wird 
feinen Hauch des PVerdachtes auf ihrer Ehre dulden! 
Er wird für fie eintreten mit der ganzen Kraft und Über- 
zeugung eines redlichen Herzens! Hat er ihr nicht auf 
dieſer jelben Stelle hier zugeſchworen, daß er ihres 


— 542 — 


Glückes Hüter ſein wolle? Und wenn er nicht derjenige 
iſt, deſſen Namen man mit dem ihren in den Schmutz 
ziehen will, dann muß er helfen, die Lüge zu entlarven 
dann muß er vor allen Dingen jenes entſetzliche Unglück 
verhüten, daß Olivier um ihretwillen ſein Leben in die 
Schanze ſchlägt! Ein krampfhaftes Zucken fliegt durch 
ihre Glieder. Und wenn alles vergeblich iſt? Wenn 
Falſchheit und Intrigue ein Net gefponnen, deſſen Fäden 
nicht zu löfen find? Wenn Dlivier® Blut ihre Ehre 
rein wajchen muß? Allmächtiger Vater im Himmel, nur 
das nicht! ES darf nicht fein! Ihr eigenes Herz will 
fie aus der Bruſt reißen und es opfern zu feinem Heil 
und feiner Rettung. Ein wilder, fieberhafter Gedanfe 
jagt dur ihr Hirn. Es iſt möglich, daß ein Duell 
ichon am nächften Morgen ftattfindet, ehe fie Gofed zu 
Hilfe rufen konnte. Das darf nicht fein. Wird ein Mann 
um eines Weibes willen, welches nicht mehr fein Weib 
it, fi) noch fchlagen? Nein, gewiß nicht. Sagt fie ſich 
los von ihm, rettet fie ihn vor dem Gang mit feinem 
Gegner!” Wie in einem Taumel wirrer Hoffnung, Un: 
geftüm und Zuverficht verjegte fie diefer Gedanke ihres 
naiven Herzens. 

Hinab zu ihm! Noch einmal faltete fie die Hände: 
„Sib mir Kraft, mein Herr und Gott, zu dieſem fchiveren, 
ſchweren Gang!” und dann wanft fie mit fchwindelnden 
Sinnen die Marmortreppe hinab. Muſikklänge. Sie lehnt 
das Haupt gegen den Türpfoften, faum hat fie die Kraft, 
fich aufrecht zu erhalten. 


— 543 — 


„Eine feite Burg ift unfer Gott —“ Wie die Töne 
jchwellen und Elingen, wie fie unter feinen Händen empor: 
braujen, wie ein marfiges, jubelndes Glaubensbekenntnis. 

„Olivier fpielt nur ſolche Melodien, die feine Seele 
in dem nämlichen Momente volljtändig erfüllen!’ Hatte 
Goſeck einſt gejagt. 

Tränen rollten über die Wangen der jungen Frau, 
wie ein Aufſchrei klingt's durch ihre Seele: „Jetzt, da ich 
von dir laſſen muß, empfinde ich es erſt voll Todesweh, 
wie unausſprechlich ich dich liebe!“ 

Das Spiel verſtummt. Marie Luiſe richtet ſich ge— 
waltſam empor. ‚Und weil ich dich liebe, darum erfaufe 
ich mit meinem Glück dein Leben!’ 

Sie legte die Hand auf den Türgriff und trat ein. 


o)@ 


(SSIS2 | SSISIIY JO) 
[(7OISN] — EHIE 


XXV. 


Klinge, ſüße Stimme, klinge 

An mein Herz im Tongewimmel, 

Trag auf deiner Engelſchwinge 

Mich Verwandelten gen Himmel! 

Jüngſt noch Nacht und Winter war es, 

Nun iſt's plötzlich Tag geworden, 

Tag und Mai! und wunderbares 

Sein in Strahlen und Akkorden! 
Dingelſtedt. 


NR 13 Nennderſcheidt in Goſecks Zimmer eingetreten 

BA war, hatte der Graf ihm weder überrafcht noch 
fragend entgegengejehen. Er jchien feinen Beſuch 
erwartet zu haben und die Motive desjelben genau zu 
fennen. Kühl und abweifend, mit feindjeligem Blick erhob 
er ſich, ſchlug das religiöje Werk, welches er jtudierte, zu, 
und verjchränfte die Arme über der Bruft. „Keinerlei 
Auseinanderjegungen, Baron Nennderjcheidt”, ſchnitt er 
jegliche Begrüßung fchroff ab. „Ich bin genau über die 
Lage der Dinge orientiert und war, wie Sie jehen, nicht 
auf Shren, jondern auf den Befuch Ihres Sefundanten 
vorbereitet!” Seine knappe Ktopfbewegung wies nach dem 
offenen Biltolenfaften auf dem Tiſch. Durch zwei Zimmer 
hindurch war eine Scheibe aufgejtellt. Die Kugeln, welche 
das Zentrum durchlöchert hatten, bewiefen, wie fleißig 





— 545 — 


Graf Goſeck fich geübt haben mußte. So fehr fich in 
dem ganzen Wejen Euſtachs eine faft fieberhafte Er— 





regung verriet, jo ruhig und gelaſſen jtand Olivier ihm 
gegenüber. 
N. v. Eſchſtruth, I. Nom. u Nov., Hazard I. 33 


— 546 — 


„im eines Altweiberklatjches willen ſchießen fich zwei 
langjährige Freunde nicht. Sch bin von deiner und 
Marie Luijes vollkommenſter Treue überzeugt; Dich zu 
fragen, auf Ehre und Gewiſſen zu fragen, ob das ver- 
Iprengte Gerücht eine Züge ift, komme ich hierher. Deine 
Antwort wird mir maßgebender fein, wie die Anklage 
böjer Zungen.” | 

Goſeck wich feinem Blid aus und wandte fich brüsk 
zur Seite. „Ich vermweigere diefe Antwort.” 

Nennderfcheidt zuefte zufammen. „Dadurch jchlägft 
du dein Leben in die Schanze, das ift gleichgültig, aber 
du fompromittierft auch ein fchuldlofes Weib!” 

Ein ſtummes Achjelzuden war die Entgegnung. 

„Ber deiner ewigen Celigfeit, Euftach, haft du mein 
Vertrauen mißbraucht, und hat Marie Luife mich ver- 
raten 2” 

„sch Liebe fie und fie liebt mich; biſt du nicht zu— 
frieden damit, fo liegt es in deiner Hand, unſeren Ge— 
Ihmad zu korrigieren. Ich bin bereit, mit ein paar Dlei- 
fugeln um das verratene und verlafjene Weib, welches 
du mir felber in die Arme getrieben, zu würfeln. Es 
ilt Zeit, daß die Komödie zu Ende geht. Spielen wir 
zum leßtenmal ein Hazard zufammen, eine geladene und 
eine ungeladene Biltole, und wenn's fnallt, zeigt fich’s, 
wer das Spiel gewonnen hat!’ — 

Bom Scheitel bis zur Sohle maß Nennderjcheidts 
flammender Blie fein Gegenüber. „Ja, es joll zu Ende 
gehen, aber . . . beim eivigen Himmel ... nicht wie 


dl > 


eine Poſſe, fondern wie ein Drama, in welchem Die Ver: 
geltung ihren Sieg über ehrloje Buben feiert!” — 

Wie es ftill in feinem Zimmer if. Der Kampf in 
Oliviers Herz hat ausgetobt, ein verzweifelter Kampf. 
Goſeck Hat Marie Luife gerichtet. Er felber tritt die Ehre 
unter die Füße. Kann er nicht anders oder will er 
nicht? Vor dem Bild feiner Mutter bleibt Nennderfcheidt 
itehen; ein fchmerzgebrochener, von Leidenfchaften durch: 
tobter Mann. ‚Sie hat deine Augen, Mutter, die lügen 
nit. So wahr mir Gott helfe, ich glaube ihnen.” 

Und feiner Mutter Antlig lächelt zu ihm nieder, wie 
damals, als fie noch feine Kinderhände zum Gebet zu= 
fanımen legte. Auch jet neigte er fein Haupt und be- 
fiehlt feine Wege dem, der Himmel und Erde lenkt. Da 
überfommt es ihn, wie eine felfenfefte, freudige Zuverlicht. 
„Eine feite Burg ift unfer Gott!” . . . Seime Seele 
jcheint auszuftrömen in den Klängen, welche durch die 
ſtille Nacht voll und mächtig dahinziehen. Und dann 
ein leijer Subellaut, ein Emporjpringen mit geöffneten 
Armen: ‚Marie Luiſe!“ | 

Bor ihm jteht fie auf der Türſchwelle. Bleich und 
bebend, und dennoch verflärt wie ein Heiligenangejicht. 

„Kommſt du endlich, Marie Luiſe!“ 

Sie jtredte die zitternden Hände abwehrend gegen 
ihn aus. „Ich fomme, um dir für ewige Zeiten Lebe: 
wohl zu fagen. Ich gehe von dir, ich bin von dieſem 
Augenblid an nicht mehr dein Weib, ich bin eine Fremde, 

35 * 


— 548 — 


an die dich feine Pflicht mehr fettet, an die du Feine 
Rechte mehr haft.” Der Atem verjagte ihr, fie preßte 
die Eleinen Hände gegen die Bruft. 

Er jtand vor ihr, mild und lächelnd. „Unmöglich, 
Marie Luiſe. Du haft feine andere Heimat, wie dieſes 
Haus, und wagt fich die Taube allein hinaus in Die 
fremde Welt, fo fällt fie dem Habicht zum Raub. ch gebe 
dir deine Freiheit zurüd, aber erft dann, wenn ich Deine 
Zukunft gejichert weiß. Warum gewaltjaın ‚Schon jebt 
ein Band löſen, welches vielleicht in Tagesfriſt vom 
Schickſal zerrifien wird, jchneller und ficherer, als du 
ahnſt?“ 

Der wehmütige Klang feiner Stimme durchſchauerte 
ſie wie Todesqual. 

„Nicht das .. nicht dem Schickſal überlaſſen!“ rang 
es ſich faſt ſchluchzend von ihren Lippen. „Du ſollſt 
nichts mehr gemein haben mit dem Weib, deſſen Ehre 
die Welt brandmarkt, deſſen Namen ſie in den Schmutz 
zieht! Ich bin ausgeſtoßen, verachtet, verabſcheut von 
allen ...“ | 

Da faßt er mit leuchtendem Blid ihre Hände und z0g 
fie feft und leidenfchaftlid) an fih. „Wehe der Bunge, 
welche es wagen wird, Dich zu verfeßern, wehe der Hand, 
welche noch einen Stein auf die Unfchuld werfen will! 
Ich ftehe für dich ein, ich kämpfe für Deine Ehre und 
dein Necht, und wenn die ganze Welt dich verdammt, 
und wenn alle an dir zweifeln, ich glaube an dich, 
Marie Luifel Sch vertraue deiner Treue und 


— 549 — 


Nedlichfeit, ich Stehe ein für dich und deine Un— 
ſchuld, mit Xeib und Seele, mit Gut und Blut!“ 

Schwerer und jchwerer ſank ihr jchlanfer Körper in 
feinen Armen zuſammen, mit unnatürlic) großen, weit 
offenen Augen ftarrte fie ihn an, und dann klang ein 
leifer, zitternder Jubelſchrei aus ihrer tiefften Brujt empor. 
„Du glaubjt an mich!” Einen Augenbli war es, als 
tolle jie die Arme um feinen Nacken jchlingen und fich voll 
ſtürmiſcher Leidenſchaft feſt und ewig an feine Bruft flüchten, 
dann riß fie fich los und trat | 
tiefaufatmend zurüd. „Gott 2 
fegne dich für dieſes Wort, X 
Olivier; ich will es mit hinaus— 
nehmen in die Welt, wie ein 
Pilger, der die heiligen Kleino— 
dien mit ſich führt, damit ſie 
in Wüſte und Elend ſein Stecken 
und Stab ſeien. Du ſollſt 
nicht um meinetwillen dein 
Leben einſetzen, darum gehe 
ich von dir, und dadurch will 
ich gut machen, was ich je 
an dir gefehlt habe, und da— 
mit will ich danken für alles, 
was du Gutes an mir ge— 
tan — —“ 

Tränen erſtickten ihre 
Stimme, ſie wankte nach der 





— 550 — 


Tür und ſah noch einmal nach ihm zurück. „Wenn ich 
gehe, werden die Menſchen nichts Böſes mehr reden, 
dann iſt alles gut. Du biſt wieder frei, und niemand 
zieht dich für meine Fehler zur Rechenſchaft. Was ich 
verſchuldet habe, will ich allein büßen, darum ſoll kein 
Blut fließen. Und ſo behüte dich Gott, und lohne es 
dir, daß du mich nicht im Groll von dir geſtoßen haſt!“ 
Und ſie winkte ihm noch einmal zu und war im nächſten 
Augenblick Hinter der Tür verſchwunden. Er hatte fie 
halten wollen. Die legten Worte lähmten feine Füße. 
„Was ich verjchuldet habe? meine Fehler?” Allbarm= 
berziger Gott, follte es dennoch möglich fein? Wieder 
Ichauerte es eiskalt durch fein Herz. Nein, und taujend- 
mal nein! Es muß ich alles aufklären, es muß ein 
Irrtum fein. Der Großherzog wird Fürftin Tautenftein 
zwingen, zu reden, noch ijt ja alles ein wirres Vermuten, 
ohne Geſtalt und Farbe. Sit Marie Luiſe fchuldig, fo 
lügen aud) Gottes Engel, fo ift das Heiligfte in Himmel 
und Erde aud nur Falſch und Trug! Wird Marie Quife 
jein Haus heimlich verlaffen? Dlivier preßt die Hände 
gegen die hämmernden Schläfen. „Ich darf fie nicht 
preisgeben, fie hat feinen anderen Schuß wie mid!” Er 
Iteigt die Treppe empor. Alle Zimmer find leer und 
dunkel. In ihrem Boudoir entzündet Dlivier Licht, ſetzt 
fih an den Schreibtifch und beftellt mit feiten, Karen 
Federſtrichen ſein Haus. Er achtet auf jegliches Geräufch. 
Nebenan in Marie Luifes Ankleidvezimmer fladert Kerzen⸗ 
Ichein, wie leichtes Auffchluchzen Elingt’3 ein paarmal 


— 551 — 


durch die tiefe Stille. Bis zum Morgengrauen verweilt 
Nennderſcheidt und behütet die Schwelle; zu ſeines Weibes 
Heil und Segen. — 

Zu ungewöhnlich früher Morgenſtunde iſt der Frei— 
herr zum Großherzog befohlen. Als er durch den Saal, 
welcher den Eintritt zu dem Privatgemach des hohen 
Herrn gewährt, ſchreitet, ſchrickt er beinahe zurück vor 
Fürſtin Tautenſtein, welche ihm in langſchleppender 
Morgenrobe aus weißen Spitzen entgegentritt. Reizender 
wie jemals ſieht ſie aus. Mit ſüßem Lächeln ſtreckt ſie 
ihm beide Hände entgegen. „Ich wußte, daß Sie kamen, 
Baron!“ flüſterte ſie, „und habe ſie erwartet!“ 

Er verneigt ſich kühl und förmlich, ohne ihre Finger— 
ſpitzen zu berühren. Da er nicht antwortet, gleitet ſie 
weich und ſchmiegſam wie ein ſchmeichelndes Kätzchen 
näher, und legt die Hände auf ſeinen Arm. Zauberiſch 
iſt der Blick, welcher zu ihm emporglüht. „Kommſt du, 
wilder, ſtolzer Löwe, um endlich deine Ketten zu zerbrechen? 
All meine Pulſe fieberten dieſem Augenblick entgegen! 
Mein ganzes Daſein gipfelt in dieſer Stunde! Es ſchien 
Eis in den letzten Tagen, weil das Feuer, noch genährt, 
mich in den Gluten der Leidenſchaft verzehrt haben würde. 
Jetzt iſt die qualvolle Nacht überwunden, die Sonne ſteigt 
noch einmal blendend empor, für Sie und für mich, und 
die Zukunft redet wonnetrunken von unſagbar ſüßem 
Glück!“ Näher und näher ſchmiegte ſie ſich an ihn, be— 
rauſchende Duftwogen wehten aus dem Goldhaar und 
den niederrieſelnden Spitzen zu ihm empor. „Zerreißen 


— 5 — 


Sie die Bande, welche Sie elend machen, Dlivier! Treten 
Sie die blaffe, betrügeriiche Giftblume unter die Füße, 
und nehmen Sie die Roſe zu eigen, welche mit taufend 
glühenden Purpurblättern ihnen entgegenbebt!” Leiſer, 
ziichend fajt Hang ihre Stimme. „Sie willen es, daß 
der Großherzog durch uraltes Yandesrecht die Macht be- 
figt, eine Ehe fofort kraft feines Wortes zu trennen! 
Wenige Minuten entfcheiden und machen Sie frei! Marie 
Luiſe ift ſchuldig. Klagen Sie die VBerräterin des Treu 
bruchs an, und jchleudern Sie durch ein einziges Wort 
den Ballaſt von fich, welcher ihr Glüdsjchifflein in den 
Grund zieht, und dann? ... da drüben... . die dritte 
Tür... . fehen Sie? Da Hopfen Sie nachher an; ich 
harre Ihrer und öffne. Still, jtill jetzt . . man kommt?“ 
Und ſie preßte ſeinen Arm nochmals mit leidenſchaftlichem 
Druck, und enifloh wie ein lichter Schemen über die 
weichen Teppiche. An der Tür wandte ſie ſich noch ein— 
mal zurück, breitete wie in übermächtigem Gefühl die 
Arme nach ihm aus und flüchtete im nächſten Moment 
über die Schwelle. 

Regungslos, hochaufgerichtet ſtand Nennderſcheidt und 
ſtarrte ihr nach. Dann ſtrich er wie in zorniger Haſt über 
ſeinen Arm, als müſſe er jede Spur tilgen, welche die 
weißen Händchen hinterlaſſen. Sein Auge blitzte, Ver— 
achtung und Bitterkeit zuckten um ſeine Lippen. Er warf 
das Haupt in den Nacken und trat in das Vorzimmer 
des Großherzogs. 

Voll warmer Herzlichkeit empfing der hohe Herr den 


— 553 — 


Sohn feines vertrauteiten Freundes. Und wie ein Kind 
fein übervolles Herz vor dem Vater ausjchüttet, jo legte 
auch Nennderfcheidt eine Beichte ab von all dem Ringen 
und Kämpfen, welches jeit den lebten Tagen feine Seele 
durchtobt. Der Großherzog jehritt mit forgenvoller Stirn 
in dem Gemach auf und nieder. Er hatte die Beobuch- 
tung, welche Fürftin Tautenjtein gemacht, das Rendezvous 
an Fenſter und Balkon der Billa Hazard betreffend, dem 
Freiherrn mitgeteilt. Fräulein von Gironvale jtimmte 
der Ausfage ihrer Herrin bei, und aud) Herr von Diers— 
dorff beftätigte fie; allerdings mit viel diplomatifcher 
Borfiht. Prinz Hohned gab die Tatfache ebenfalls zu, 
Doch beimerfte er, daß feine Kurzfichtigfeit ihn feine be: 
ſtimmte Perſönlichkeit habe erfennen lafjen. 

Dlivier ſchlug die Hände vor das farblofe Autlit und 
ſchien momentan unter der derben Wucht diejer Worte 
zujammenzubrechen. Langſam trat der Großherzog un 
feine Seite und legte die Hand auf das tiefgeneigte Haupt 
des jungen Mannes. „Halten Sie nach der Ausſage Diejer 
vier Augenzeugen Marie Quife für fchuldig ?” fragte er leiſe. 

Da wuchs die gebeugte Geſtalt empor, faſt heftig 
jchüttelte er das Haupt. ‚Nein, und taufendmal 
nein, mein allergnädigiter Herr! Che ih das Ein- 
geftändnis ihrer Schuld nicht von Marie Luiſes eigenen 
Lippen mit dürren, Karen Worten höre, eher glaube ich, 
daß die Sterne am Himmel aus ihren Bahnen weichen, 
treulo8 einander zu verlaffen !” | 

Ein Aufleuchten ging über da3 Antlit des greifen 


Fürften. „Brad, Dlivier, Gott erhalte Ihnen dieſen 
Slauben und die Zuverficht, welche ich von ganzem Herzen 
mit Shnen teile!” 

Feſte Schritte langen durch den Saal und verhallten 
im Treppenhaus des großherzoglichen Schlojjes. Hinter 
der „dritten Tür’ jedoch funfelten zwei Augen, ballten ſich 

zwei ſammetweiche 

Händchen in zitternden 
Haß. Die Tür war 
ſorglich verriegelt ges 
weſen, und das ſpöt— 
tische Auflachen, mit 
welchen Claudia ihre 
Nache feiern wollte, 
hatte bereits um Die 
Rippen triumphiert, jeßt 
lächelte eine andere, 
boshaft und jchadens 
froh, Esperance, welche 
hinter der Portiere ge— 
laufcht Hatte. — — — 

Vergeblich Hatte fich 
Dlivier bemüht, Zutritt 
in da3 Zimmer ſeiner 
Gemahlin zu erlangen. 
Die Zeit drängte, und 
jo biß er die Zähne 
zujammen und eilte zu 





— 999 — 


Fräulein von Speyern, fie um ihre Vermittelung zu 
bitten. 

sides war fofort bereit, den Freiherrn zu begleiten. 
Sie drüdte ihm herzlich die Hand. „In Gedanfen war 
ich bereit3 auf dem Weg, Marie Luiſe aufzufuchen und 
fie über die Verleumdung zu tröften, welche nur die per- 
fideite Bosheit erfinnen konnte!“ 

Sein glanzlojes Auge leuchtet auf. „Sie glauben an: 
Marie Luiſe?“ 

„Wie an mich ſelbſt.“ 

„And felbft wenn fie in ihrer Verlaſſenheit und Ein: 
ſamkeit auf Abmwege geriet, jo trüge nicht fie, jondern ich 
daran die Schuld. Dieſes Bewußtſein ift von allen 
Qualen, welche ich in den lebten Tagen durchlebte, Die 
entjeglichite. Ich habe fein Recht dazu, von dem Schidjal 
ein treue Weib zu fordern, ich ftehe an dem Abgrund, 
welcher mein Liebjtes verfchlungen, mit dem fürchterlichiten 
Bewußtjein: ‚Du felber ftießeft e3 hinab. Mit mir hat 
die Welt abzurechnen, nicht mit ihr. — 

Mit einem wunderfamen Gemilch von Ernft und Milde 
jahen ihn die Klaren Augen an. „Sch entfinne mich eines 
Ausſpruchs, welchen Sie vor einiger Zeit getan. Gie 
nannten die Ehe ein Hazard, die Frau die blindgezogene 
Karte im Spiel. Coeur= oder Pifdame, Herz oder Kreuz, 
wer fagt’3 voraus? Seht iſt der Moment gekommen, in 
welchen es fich offenbaren wird, welcher Art die gedecte 
Karte iſt. Und wie in folchem Augenblid den Spieler 
die Leidenjchaft fchüttelt, und wie er alle Folterqualen 


eine Hangen und Bangen in fchwebender Bein durch— 
macht, jo erfaufen auch Sie die. Entjcheidung des Hazard- 
ſpieles mit der fieberifchen Aufregung, welche vom Herz— 
blut zehrt. Solch ein Moment ift jedesmal eine Krile 
im Leben, gebe Gott der Allmächtige, daß N Ihnen 
zu Glück und Segen gereiche!“ 

Mit krampfhaftem Druck umſpannt er die kühle, kräftige 
Hand. „Sch habe kein Zutrauen mehr zum Glück, darum ſtelle 
ich es Ihnen anheim, den letzten Trumpf auszuſpielen!“ 

Als der Freiherr Fräulein von Speyern den Arm bot, 
ſie die breit Marmortreppe der Billa Hazard emporzuführen, 
trat ihnen ein Diener mit eilfertiger Beweglichkeit entgegen. 

„Gnädige Frau empfangen keine Beſuche heut, und 
laſſen ſich bei den Herrſchaften mit freundlichem Gruß 
entſchuldigen.“ 

„Ich danke Ihnen, Franz, biefe Weiſung betrifft nur 
Fremde. Ich werde von Frau Baronin erwartet.“ Fides 
neigte freundlich das Haupt und ſchritt gelaſſen weiter. 
Olivier war unmerklich zurückgezuckt, der Blick der Hof— 
dame zwang ihn, an ihrer Seite zu bleiben. 

Auf dem Korridor zu Marie Luiſes Zimmer ſtand 
Madame Berdan. Blaß und ſichtlich aufgeregt. Sie 
hob abwehrend die Hand. ‚„Unmöglich, gnädiges Fräu— 
lein ... Frau Baronin einpfangen nicht.” 

„Mich und ihren Gemahl wird fie einpfangen.” 

„Beim beiten Willen, e3 iſt undenfbarl In dieſer 
Stunde um feinen Preis der Welt!” 

„Ich muß fie fprechen, liebe Frau Verdan, und werde 


— 5571 — 


alle Verantwortung auf mich nehmen!” Fräulein von 
Speyern öffnete jchnell die Tür und trat haftig ein, Die 
alte rau folgte ihr mit wahrhaft verzweifelten Schredens- 
ruf und umflammerte den Arm der Hofdame. „Beim 
ewigen Himmel, Ste Dürfen jebt nicht in das Boudoir ... 
ich habe geſchworen, die Tür bewachen zu wollen, e3 gibt 
ein Unglüd, gnädiges Fräulein!’ 

Dlivier war mit jtürmendem Schritt vorangeeilt Durch 
die nächiten zwei Salons, jebt fam er zurüd. Leichenbläfje 
lag auf feinem Antlik. „Ich höre Stimmen in dem immer 
meiner Frau, Madame Berdan, ... ift fie nicht allein?” 

Ein Hittern flog durch die Glieder der Kammerfran. 
Sie fonnte nicht Sprechen, rang die Hände und nicte ſtumm. 

„Ber?“ Heiler und fremd Elang feine Stinme. 

„Nur Graf Goſeck!“ verficherte die Alte beſchwichtigend. 

Ein dumpfes Aufſtöhnen. Oliviers Hohe Geſtalt 
ſchwankte einen Moment, als wolle er zuſammenſinken. 
Dann trat er neben Fides. „Kommen Sie... laſſen 
Sie und umkehren!” murmelte er durch die Zähne. 

Zuverfichtlich hob fich ihr Haupt auf den Schultern. 
Mit eifernem Griff faßte fie jeine Hand. „Ich bin nur 
eine Freundin Marie Luifes“, flüfterte fie, ihn beifeite 
ziehend, „und dennoch lege ich meine Hand für fie ins 
Teuer! Sie aber find der, welcher ihrem Herzen am 
nächſten fteht, und Sie wollen die Flinte ins Korn werfen 
und an ihrer Treue und Nedlichkeit zweifeln? Gott fei ge= 
lobt, daß Goſeck hier ift! Jetzt iſt e8 nicht freier Wille, mir 
zu folgen, fondern Ihre Pflicht. Kommen Sie!” 


— 9 — 


Mie gezwungen von dem Ausdruck ihres hoheitsvollen 





Angejichts wandte ſich Nennderjcheidt, ihr zu Folgen. 
„Bleiben Sie hier im Zimmer, Madame Berdan, und 


— 559 — 


ſorgen Sie dafür, daß niemand Zutritt zu dem Boudoir 
der gnädigen Frau erhält!“ nickte Fides der ſchluchzenden 
Alten freundlich zu. „Graf Goſeck iſt der treue und 
langjährige Freund des Hausherrn und dazu berechtigt, 
feinen Befuch zu machen, auch dann, wenn andere Herr: 
Ichaften abgewieſen werden.” 

Sie nahm Dlivierd Arm und verließ das Zimmer, 
wandte ſich aber nicht nach der Treppe, ſondern führte 
ihn haſtig den Korridor entlang, öffnete eine Tür und 
betrat das Schlafgemach der jungen Frau. Sie durchmaß 
es mit ſchnellen Schritten, öffnete lautlos das Totletten- 
zimmer und winkte dem Freiherrn einzutreten. 

Laut und deutlich vernahm man die Stimmen nebenan. 
Marie Luiſe ſchien dem Grafen durch dieſes Zimmer ent— 
gegengetreten zu fein, die Tür ftand noch etwas geöffnet, 
und die Portiere war dadurd) leicht zurücgejchlagen. 

An der Türjeite ftand ein Seſſel, Dlivier ſank darauf 
nieder wie ein alter Mann. Seine Hände lagen gefaltet 
auf den Knien, und tiefe Schatten durchfurchten fein 
Antlitz. Regungslos lehnte er das Haupt zurüd. Nebenan 
ſprach Marie Luiſe, leife, voll flehender Angjt. „Sein 
Menſch auf der Welt kann helfen, al3 nur Sie, Graf 
Goſeck! Und auch niemand wird es fo gern und gewiß 
tun wie Sie! ... Meine Hoffnung klammert fih an 
Sie, mein ganzes Vertrauen wurzelt in Ihnen! Gie 
ahnen ja noch nicht das Schlimmste, das Furchtbare, 
welches mich zu dem kühnen, außergewöhnlichen Schritt, 
Sie heimlich hierher rufen zu laffen, veranlaßte! Durch 


— 560 — 


Zufall erfuhr ich, daß Dlivier die Abficht Hatte, fich mit 
Ihnen zu duellieren ...“ 

„Er hat fie glücdlicherweife noch!“ 

„Unmöglich ... Sie irren, Graf... .” ihre Stimme 
Hang wie ein Schredenzjchrei, „er kann Sie ja gar nicht 
mehr fordern.” 

Kurzes Auflachen. „Und warum nicht?” 

„Weil... weil... o fagen Sie um Gottes Barm: 
herzigfeit willen, hat er es vielleicht fchon getan?” Gie 
ſprang empor. Der Seffel fnarrte leiſe auf dem Parkett. 
Auch er erhob ſich. 

„Heute morgen, und es ift gut fo; Marie Luife, ich 
ertrage die Ungewißheit nicht länger, es muß zu einem 
Ende kommen.“ Und abermals ein kurzer Auffchrei voll 
Schred und Qual. „So war e3 vergeblich mein Opfer? 
Sp war die martervollite Stunde meines Lebens umfonft 
durchgelitten ?” 

„Welch eine Stunde? Welch ein Opfer?” Er fchien 
zu ihr heranzutreten. Dlivier zudte empor und frampfte 
die Hände um die Sejfellehne. 

„Das größte, welches je ein Weib darzubringen im— 
jtande ift! Mein Herz habe ich aus der Bruft gerifjen 
und es unter die Füße getreten, meine Ehre habe ich 
jelber gebrandmarft, um diefes Duell zu verhüten! Xo3= 
gejagt habe ich mich von Dlivier, den Schein der Schuld 
auf mich geladen, damit er frei fein folle, damit —“ 

„Losgeſagt von ihm?’ Goſeck faßte ihre beiden Hände 
und riß fie von ihrem Antlit weg an feine in Leidenjchaft 


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36 


N.v. Eſchſtrutb, IU.Nom. u. Nov. Sazard IT. 


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— 562 — 


zitternden Lippen. „Gott jegne Sie für dies opfermutige 
Merk der Liebe, Marie Zuife! Warum beben Sie vor 
einem Zweikampf, welcher das heilige Gepräge eines 
Gottesurteils tragen wird, der wahren Liebe zum Gieg 
zu verhelfen! ch werde —“ 

„Graf Goſeck!“ wie beſchwörend in flehender Angjt 
fang ihre Stimme. „Ich verjtehe Sie nicht. Wie fünnen 
Sie eine blutige Löſung wünfchen, wo Doch alles in fried- 
licher Weiſe gejchlichtet werden kann! Wie durften Sie 
die Forderung meine? Mannes annehmen, wo Sie wußten, 
daß der Grund zu derfjelben nur eine Lüge, eine Ver: 
leumdung iſt! Haben Sie ihm unfere Unfchuld beteuert?” 

„Nein.“ Kurz und fchroff ward es hervorgeftoßen. 

„O, jo tuen Sie es noch! fo bald, fo Schnell wie möglich! 
Er muß Shnen glauben und er wird es. Ad, daß er 
Sie fennen möchte, wie ich Sie fenne. Wollte mir ein 
Menich von ehrlofen Taten des Grafen Gofed erzählen, 
ic) würde voll ftolzen Glaubens die Hand zum Himmel 
heben und fchwören, daß es böfer Leumund ſei!“ Weich 
und unfagbar rührend in ihrer fchlichten Innigfeit klang 
ihre Stimme, Olivier hatte fich erhoben, heiße Glut 
brannte auf feiner Stimm, er trat lautlo3 an die Tür— 
Ipalte und verfuchte mit einem Bli die Geſtalt feines 
Weibes zu umfaffen. Mit dem vollen, tränenüberftrömten 
Antlitz wandte fie ich ihm zu, Die gefalteten Hände zu 
Gofe erhoben. „Solch feiten Glauben an Sie würde 
ich hegen, Graf, denn ich weiß es ja, wie edel, wie brav 
und fromm Sie find, und weil ich es weiß, jo wende ich 


— 563 — 


mich an Sie, al3 den einzigen Menfchen, welchen ich für 
würdig halte, der ritterliche Schuß eines hilflofen Weibes 
zu fein, und ich bejchwöre Sie, bei all der Freundſchaft 
und Güte, welche Sie jtet3 für mich gezeigt Haben, 
‚treten Sie ein für meine Ehre! Treten Sie ein, mit all 
Ihren Kräften, jenes unfelige Duell zu verhüten! Nur Sie 
können mir helfen, denn nur Cie willen e3 ja, daß ich 
niemal3, weder in Wort noch Blid und Tat die Treue 
gebrochen, welche ich gelobt! Wer es auch fein möge, 
den die Lälterzungen mit meinem Namen in Verbindung 
bringen, — Sie willen, daß e8 Lüge ift!” 

Gofeds Haupt war tiefer und tiefer auf die Bruft 
gefunfen. „Sch weiß e3!” murmelte er, „und ich ver— 
itehe e8 ja gar wohl, daß Ihre reine Seele zurückſchaudert 
por dem fcharfen blutigen Schwerthieb, welcher einzig 
gordiiche Knoten löſen kann, aber dennoch überjchäßen 
Sie meine Macht. Sie ahnen nicht, in welch eifernen 
Klammern fich das Räderwerk der gejellfchaftlichen Formen 
dreht, und kennen als Weib nicht die Mimofe, die allzu: 
leicht verlegbare, welche Ehre heißt!“ 

Noch erregter, noch flehender denn zuvor fchlang fie 
die Hände ineinander! „Graf Goſeck! Wenige Wochen 
find e8 ber, da jtanden Sie hier an diejer felben Stelle 
und Sprachen: „Bedürfen Sie jemals Hilfe oder Schuß, 
gnädige Frau, jo fommen Sie zu mir, fo rufen Sie 
mid! Mit Gut und Blut trete ich ein für Sie, mit 
meinem Leben, wird’3 gefordert, erfämpfe ich Ihr Glück! — 
entfinnen Sie fich dieſes Gelöbniffes nicht mehr?” 

36* 


Sein Blid brannte auf ihrem Antlit, ungeduldig und 
verzehrend. Er glich dem Dieb, welcher die Hände gierig 
nad) dem Altarfelche ausſtreckt und es dennoch nicht wagt, 
das Heiligtum anzutaſten. 

„Ich entjinne mich, bemeife ich es nicht?” 

‚Rein! Noch Stehen Sie kalt und gleichgültig vor mir, 
jehen meine Angjt und Verzweiflung und helfen nicht! 
Hochaufgerichtet, voll jäher Kaft und Entfchloffenheit trat 
fie ihm gegenüber. „Wehe dem Mann, defjen Schwüre 
Spreu im Winde find! Sie felber haben fich meines 
Glückes Hüter genannt, jet jollen Sie es betätigen und 
e3 ſein!“ 

Dit an ihre Seite trat er, faßte ihre Hand und 
neigte jeine Wange fait an die ihre. „Wunderfames 
Weib! Schlag ich denn nicht Blut und Leben in die 
Schanze zu Ihrem Glüd? Ein Biftolenlauf richtet fich 
auf meine Bruft, jo ficher wie auf die jenes andern!” 

„Das eben follen Sie verhindern”, rief fie außer fich, 
„wenn Sie mein Glüd nicht morden wollen!” 

Leidenjchaftlicher noch glühte fein Blid, tiefer noch 
fuchte er in ihr Auge zu tauchen: „Va banque, Marie 
Luife! Ihr Glück ist Ihre Freiheit! Denn nur diefe allein 
führt Sie der Liebe in den Arm!“ 

Sie wich weiter und weiter von ihm zurüd, die Hände 
gegen ihr Herz gepreßt, das Antlik erhoben wie verflärt. 
„Rein, Graf Sojed ... .. nicht die Freiheit!” ſagte fie 
mit leifer zitternder Stimme, „Sie willen, daß ich nur 
einmal im Leben Sehnſucht nad) ihr hatte an jenem 


— 565 — 


erften Morgen nach meinem Hochzeitstag, als Heimweh 
und Verlafjenheit mich fat verzweifeln ließen! Dann 
fand ich mich in mein Geichid, und ald Sie meines 
Glückes Hüter fein wollten, da ging es wie ein Aufjchrei 
der Erbitterung durch meine Seele, daß man auf öde 
Schneefeld rote Roſen pflegen wollte! Aber der liebe 
Bater im Himmel hat e8 meinem SKleinmut und meiner 
Verzagtheit nicht angerechnet. Der Schnee taute ... und 
aus dem öden Herzensboden ſproßte das junge Hoffnungs— 
grün, und über Nacht in wilden Wettergraus brachen 
die Knoſpen . . . rote Roſen glühn und blühn in meinem 
Herzen, rote Liebesrojen!” Immer inniger und glüd- 
durchjubelter ward ihre leife Stimme, immer leuchtender 
ihr Blid, und wie fie daſtand, die Kleinen Hände über 
der Brut gefaltet, da war es, als ob unfichtbare Ge— 
walten das Haupt des Grafen Goſeck niederbeugten, wie 
vor dem Engel der Unjchuld. Dlivier aber preßte die 
Stirn gegen die fühlen Atlasfalten der Portiere, und 
Fides fah, wie feine ftarfe Geftalt erbebte, als braufe der 
Sturmwind über fie hin. 

Tiefaufatmend fuhr Marie Luiſe fort: „Was nie ein 
Menſch ahnen foll, will ich Ihnen beichten, Graf Gofed, 
denn Ihre Freundichaft um mich und Olivier hat es ver- 
dient, und wer könnte fich über die Fromme Wandlung eines 
Herzens wohl mehr und aufrichtiger freuen, wie Gottes 
Engel im Himmel, wie $hre große, edle Seele, Graf! 
Sie haben mein Leid gefannt und es mir tragen 
heffen; Sie allein follen auch Glück und Geligfeit mit 


— 566 — 


mir teilen.” Und wie in füßer VBerjchämtheit das Köpfchen 
neigend und «dennoch ſich fortreißen lafjend bis zum 
jauchzenden, alles vergejjenden Befenntnis fprach fie 
hajtiger noch weiter: ‚Mein Glüd aber ift meine Liebe, 
und meine Liebe, all mein Denken und Sein gehört ihm, 
den ich von mir gejtoßen, den ich durch Unglauben und 
Zweifel gefränft habe bi3 in das tieffte Herz hinein, und 
der dennoch der einzige war, der zu mir hielt, da alle 
mich verdammten, welcher auf meine Dornen mit Roſen 
zurüdzahlte, welcher treu blieb, da Himmel und Erde 
mich verließen, — Olivier!“ 

Tiefe Stille. Goſeck Hatte wanfend nad) einer Stübe 
getaſtet. Er war niedergefunfen in den Seſſel und hatte 
das Antlitz fefundenlang mit beiden Händen bededt. 
Fides von Speyern aber flüfterte leife in Nennderjcheidts 
Ohr: „Herzdamel — Sie haben das Hazard geivonnen, 
Baron.” — Und dann war ihr Schritt auf dem Teppich 
verflungen. — „Graf Goſeck ... wollen Sie meines 
Glüdes Hüter fein?!” fragte Marie Luiſes Stimme. 

Da erhob er fi. Farblos, wie gebrochen an Leib 
und Geele. Sein Auge ftarrte fie an wie eine Viſion, 
big ſich die Lider bleifchwer herniederneigten und jein 
Haupt ſich zur Bruft fenfte, als trüge er erdrüdende Lait. 
„Ich will ee. Sch will fein, was ich jcheine.” Seine 
Stimme Elang heifer und fremd. „Ich will in Zukunft 
der ewig nadenreichen Mutter Gottes ehrlich in Die 
Augen jchauen fünnen . . . ehrlich wie auch Ihnen. Ja, 
ich will Ihr Freund fein, ich will zu Ihnen emporftreben. 


— 567 — 


Ihre Verachtung ertrüge ich nicht. Gott fegne und er- 
halte Ihnen Ihr Glüd, welches ich Ihnen erfaufen werde, 
teurer vielleicht, al3 Sie jemal3 ahnen. Dafür auch 
ſchließen Sie mich in Ihr Gebet ein, wenn Sie all jener 
gedenfen, welche fehlten und welche der Fürbitte bedürfen. 
Und wenn ich | 
für ewig von 
Ihnen jcheide 
...“ er unters 
brach ſich kurz 
und legte die 
Hand über die 
Augen, dann 
reichte er ihr 
die Rechte ent⸗ 
gegen und 
zwang fihge # 
waltfjam zu ; 
einem leich⸗ 
tern Ton. 
„Ihre Beichte 
hat mich über= 
rafcht; wir find alle nur fchwache Menfchen und ftehen 
jo unficher auf der rollenden Glückskugel, daß ung der 
einzige Hauch eines Mundes wie entwurzelte Stämme über 
den Haufen bläjt. Gott behüte Sie, Frau Marie Luife; 
Sie werden bald von mir hören, nur Gutes, und zum 
Dank? Geben Sie mir eine Erinnerung an diefe Stunde!” 





— 568 — 


Sie drüdte ihm tiefaufatmend die Hand. „Welch eine 
Ruhe, welch ein Frieden fommt plößlich über mich!” und 
dann wandte fie fich zur Seite und zog einen weißen 
Fliederzweig au der Vaſe und reichte ihn dar: „Ver— 
gelte es Gott, was Sie für mid) tun!“ 


— — — — — — — — — — — — — — — — 


Heimweh ſtimmend tönt der Glocken 
Wiederhallendes Geläut. — 
H. Bierordt. 


Still war es in dem kleinen Zimmer. Goſeck war 
gegangen. Die Sonne brach durch das Schneegewölk 
und tauchte die Geſtalt der jungen Frau in goldenes 
Licht. Sie trat an das Fenſter und öffnete es. Klare 
Winterluft quoll durch die Spitzengewebe, und Schnee— 
ſternchen rieſelten wie Blütenflocken über die weiße Hand. 
Da erklang es ernſt und feierlich und dennoch ſo traut 
und wonneſam wie einſt über den Herſabrunner See. — 
Kirchengloden. Und wie Marie Luife in übermächtiger 
Sehnſucht in die Knie finkt und ihre Tränen über lächelnde 
Wangen taun, da ruft e8 ihren Namen, — und wie fie 
emporfpringt und die Hände mit leifem Jubelſchrei gegen 
die Schläfen preßt — da tritt er näher... er. 
Dlivier ... und er breitet die Arme aus — und ſchlingt 
ſie feſt um ihre wankende Geſtalt, und als ſie ſich zitternd 
befreien will, da ſieht er ihr lächelnd in die Augen und 
ſchüttelt das Haupt: „Nicht im Leben, nicht im Tode laß 
ich dich! Du haſt mich lieb, Marie Luiſe, und du biſt 
mein eigen!“ Da iſt's, als ob alle Glocken „Amen“ 


— 569 — 


riefen, al3 ob die gligernde Schneeluft die Seele in den 
Himmel trüge — und fie lehnt das Köpfchen an jeine 
Bruſt, wie eine Blüte, welche allzu heiß und blendend 
hell der Strahl der Somne trifft. 

Er füßt ihre Lippen, und fie jchlägt die Augen auf 
und flüftert: „Nun gibt's fein Trennen mehr!” 





sesegese= 


XXVI. 


„Die Götter leiten zum beſten alles! 
— Amen. —“ 
Shakeſpeare. Cymbeline. 

III. Aufz. V. Sz. 


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NL 
e. 


or das Portal rollte eine Hofequipage.. Prinz 
Marimilian und Leutnant von Hovenklingen 
warteten feine Anfrage des Lafaien ab, fondern 
fprangen haſtig die Treppe empor und verlangten fofort 
den Herrn Baron zu fprechen. Dlivier trat ihnen aus 
den Gemächern feiner Gemahlin entgegen, nicht wie einer, 
der in wenig Stunden um feines ehrlofen Weibes willen 
die Pijtole hebt, ſondern glüdjtrahlend, hoch und ftolz 
wie ein Freier, welcher ſich ſoeben von der Geliebten da3 
Jawort geholt. 

Glücksboten find in fein Haus getreten; es ift, als 
ob die Sonne, einmal aufgegangen, immer leuchtender 
und voller ihre Strahlen herniederſchickte. Die Farben 
wechjeln auf dem Antli des jungen Seeoffizierd, als er 
in höchfter Aufregung den peinvollen Irrtum darlegt, an 
welchem fein übermütiger Karnevalzftreich die Schuld trägt. 
Alles hätte fich jofort aufklären müfjen, wenn der Jagd— 
ausflug die Herren nicht von der Reſidenz ferngehalten 


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— 571 — 


hätte, und da der Zufall es ihnen fund tut, in welche 
Skandaloſa man Baron Nennderjcheidt verwickelt, fo find 
fie umgehend zurüdgefommen, ein Unglück zu verhüten. 

Obwohl auf Oliviers Stirn fein einziger Sorgen 
ichatten gelagert, hebt fich jeine Bruft dennoch in tief 
erleichtertem Aufatnıen, und da Hovenflingen ihm beide 
Hände entgegenbietet: „Vergeben Sie mir!” da umfchließt 
er diefe Hände ınit warmem Drud und entgegnet lächelnd: 
„Sicht vergeben, jondern von Grund meines Herzens 
danken will ich Ihnen, Lieber Hovenklingen! Ein Sturm, 
welcher heraufbeſchworen wird, läßt oft mehr Blüten: 
knoſpen fpringen, als er Hagelkörner ftreut, und mein 
Herz und meine Seele ftehen in Blütenpracht, wiewohl 
draußen noch die Schneeflocden wirbeln.“ 

Prinz Marimilian bat um die Erlaubnis, Marie Quife 
die Hand küſſen zu Dürfen, und als er feinen Wagen 
wieder beitieg, fchüttelte er verwundert den Kopf. „Sind 
Sie aus den beiden Hug geworden, Hovenklingen? Ich 
gedenfe in ein Haus zu treten, um welches die Unglüds- 
bögel, die Raben Frächzen, und wie ich mich umjchaue, 
figt die Nachtigall auf dem Dache und jubelt glücjelige 
Lieder von Lenz und Liebe.” 

Eine halbe Stunde, nachdem Goſeck Marie Luiſe ver- 
laffen, erhielt Nennderfcheidt einen Brief von ihm. Boll 
Beitürzung blidte Dlivier auf die Zeilen nieder. „Laß 
mich unfern Ehrenhandel jchlichten, friedlich und unblutig, 
zum Glück und Heil für dein Weib. Ihr Herz, nicht 
da3 deine, würde meine Kugel treffen. Die Antivort, 


ee 5: 


welche ich dir geftern abend vermeigerte, gebe ich jebt, 
und Gott der Herr iſt mein Zeuge, daß ich Wahrheit rede. 
Nein und jchuldlos wie die heilige Magd, welcher ich 
fünftighin dienen werde, ift Marie Zuife. Sch habe fie 
geliebt, fie aber mit feinem Gedanken ihres Herzens mid). 
Was ih an dir gejündigt, Dlivier, will ich büßen. 
Wunderſt du dich, daß aus einem Saulus auch in diejer 
modernen Zeit noch ein Paulus werden fann? Gott 
fendet feine Engel, die reinen, unfchuldigen und wahrhaft 
frommen Frauen, ihres Nächften Herz zu lenfen. Auch 
das meine ward auf rechten Pfad geführt. Welt und 
Leben liegt Hinter mir. Ich werde in den Orden der 
Zilterzienfer treten. Weiß und Schwarz, Schuld und 
Siühne. Vor dem Bild der Maria will ich liegen; fie 
hat dunfle Augen. Ms lebte Bitte flehe ich dich an: 
Berftöre nicht deines Weibes Glauben an mich, fie hält 
mich feiner Treulofigfeit für fähig. Diefe Zuverficht ijt 
mein Segen. Und nun mein lehte8 Lebewohl. Gott 
ſegne Euch. | 
Euſtach.“ 

Ein tiefer Seufzer hob Oliviers Bruft. — — — — 

Ein falter, ftürmifcher Abend. Helmut Collander 
erreicht auf langem Umweg durch menjchenleere Gaſſen 
den Park und wendet fich nach dem Schloß. Er iſt oft 
dort zu Gaſte geweſen, und je öfter er von Yürftin 
Tautenftein ſchied, defto heißer jiedete das Blut in feinen 
Adern, defto ruhelofer durchirrte er die Nächte. Warum 


— 973 — 


juchte er Elaudia auf? Das hohe Ziel, welches ihm an: 
fänglich feine Bejuche als Pflicht hatte erfcheinen laſſen, 
durch welches er fich jelber blendete und jediweden Sfrupel 
betäubte, da3 war wie ein Schemen in nicht3 zerronnen. 
Beinahe erjchien es wie Abjicht, daß Claudia fo ge 
fliffentlich jedes religiöfe Gejprächsthema vermied. Gie 
lachte, plauderte die leichtfertigften Dinge und fofettierte 
mit ihm. Er ſah es zuerst wohl ein und nahm fich vor, 
Das bezaubernde Weib zu meiden; wenn er aber bei 
Martha in dem fchlichten Stübchen ſaß und nicht mehr 
zufrieden und glüdlich war wie früher, wenn er ich lang- 
weilte und Vergleiche 309, dann merkte er es wohl auch, 
wie tief fich das Gift ſchon eingefreffen hatte in jein Herz, 
und er erwartete voll fieberhafter Sehnjucht das duftige, 
fleine Billett, welches ihn in fein Verderben rief.” Mit 
dämonijchen Gewalten padte ihn die Xeidenjchaft der 
Liebe. Da war fein Nerv, fein Blutstropfen mehr, 
welcher nicht der füßen Hauberin gehörte. Bon Pracht 
und Schönheit geblendet, von ihrer Gunſt beraufcht, 
fragte er nicht mehr nad) Himmel und Erde, lebte er 
nur noch dem WAugenblid, welchen einzig fie und ihr 
fonniges, lockendes Lächeln ausfüllte. Und Claudia jchürte 
den Funken zur Flamme, leidenjchaft3los, berechnend und 
wohl überlegt, mit der graufamen Behaglichkeit, mit 
welcher ſich die Schlange der Wirkung ihres Biſſes freut. 
Was fragte Collander nad) feinen Gegnern? Stein um 
Stein jchleuderten fie gegen den träge geſenkten Schild 
des Glaubens- und Barteifämpfers, Pfeil um Pfeil grub 


— 5714 — 


ih giftig in fein Fleiſch, und er beachtete es nicht, 
richtete fein fieberglänzendes Auge nur auf das Irrlicht, 
das winfende und betörende, warf Die Waffe aus Der 
Hand und Fränzte fi mit Roſen. Seine Predigten 
Mangen wirr und zerfahren, lichter wurden die Reihen 
jeiner Anhänger, leer wurde der fürftliche Stuhl in der 
Kirche. Und dann war jener eine gewitterſchwüle Tag 
gefommen. Wie gedämpft die rofa Kuppel in dem Saloıı 
brannte, wie betäubende Duftwogen um Die weiße, 
iptegelnde Liebesgöttin irrten! Da jtand Claudia vor 
ihm und legte die demantgligernden Händchen auf feine 
Schultern; wie eine Schilfblüte vor dem marfigen Eichen: 
ftamm am Ufer fchwanft, fo wiegte fich ihr Nixenförper 
Ihmeichleriich an feiner Bruft. „Ich gehe zum Süden 
zurüd, Helmut Collander, willft du mich begleiten? Sch 
habe dich lieb, wie die Iuftige Winde den Ritterjporn, 
welcher fie in den Armen hält. Nicht allein der Efeu 
jagt: ‚Je meurs ou je m’attache!! Kannſt du nod) leben 
ohne mi)? Nein, ich bin dein Schiefal geworden, ich 
gebe dir Leben und Tod, ich ziehe dich nach, überall hin, 
wie der Magnet den Stahl. Was willjt du Hier? Du 
bit nicht gejchaffen zum Prieſter, nicht gejchaffen zum 
Kampf und Streit oder zum forgenden Hausvater, Der 
Kinder wiegt. Du fennft Leben und Glück noch nicht, 
aber ich will e8 Dir zeigen. Kein Band foll ung an— 
einander fetten, wir tragen Flügel an den Schultern, 
jubelnde, glücfelige Kinder der Freiheit. Wirf die Ketten 
von dir, Collander, welche dich hier an den falten Norden 


— 975 — 


ichmieden, reife mit mir in da8 Land der Sonne und 
Liebe, werde ein Künftler, du haft Talent zum Malen! 
Lorbeer und Roſen jollft du pflüden, und meine Hände 
winden fie in dein Haar!” — — — O die lange, furchtbar 
dunkle Nacht, die auf diefen Abend folgte. Ein Kämpfen 
und Ringen, ein Verzweifeln an fich felbft. Da trat ein 
lichter Engel zu dem geifteswirren Mann und fchlug 
rettend die Schwingen um ihn. Pflicht und Treue fiegten. 
Wohl war ein Meltau auf die Blüte des Glaubens ge- 
fallen, aber er hatte die Wurzeln nicht roden können. 
Schwer war der Sieg, er brach) machtvoller darüber 
eınpor. Sein Leben und Blut will er Claudia opfern, 
nicht aber feinen Glauben, fein heilig Gewand, feine Braut. 
Und fo trat er andern Tags vor das liebreizende Weib, 
welches feiner Antwort harrte. Er ſprach leidenſchaftlich 
und begeijtert, er glaubte, feine Worte müßten ein fteinern 
Herz rühren und demütigen. Sie lachte furz und ſpöttiſch 
auf. „Passons là dessus! Ein jeder ijt ſeines Glückes 
Schmied!” Und lachend nahm fie Abjchied von ihm, 
ohne ihm die Hand zu reichen, mit glimmerndem Blid. 
„Bir werden uns nicht wiederjehen!” fagte fie kurz, „aber 
wir wollen al3 gute Freunde fcheiden, und wenn ic) heirate, 
halten Sie mir die Traurede! ... Hahaha.... ‚bleicher 
Henker zittre nicht!“ und fie warf ihm eine Handvoll 
Nofen in das Geficht und ließ ihn ftehen. Das Hazard, 
welches er kühn gewagt, war verloren, dennoch Hatte er 
den ſchwerſten Sieg erfochten, den über fich ſelbſt. Aber 
er ging wie ein Mann, der zu Tode verwundet ift. Als 


— 576 — 


er fich die Treppe in fein Zimmer emporgejchleppt hatte, 
lagen Briefe auf dem Tiih. Auch ein Dienftjchreiben 
mit großem Siegel. Er öffnete und hielt es gleichmütig 
an das Licht. Leichenbläffe überzog fein Antlih, ein 
dumpfer Laut rang ſich gurgelnd aus der Bruft — — 
feine Verfeßung in ein elendes Dörfchen des Fichtel- 
gebirges, gejtürzt, hinausgeftoßen wie eine Paria ... 
eingefügt in die Reihen derjenigen, welche man in Welt 
und Leben, in einflußreichem Amte nicht mehr brauchen 
fann. Alles zu Ende: die Leiter, die zur Höhe, zu Tat 
und Berdienit führt, ift unter feinen Füßen zufammen= 
gebrochen. Staub wirbelt über fein Haupt. So war 
alles vergeblich gewejen, fein Kampf, jein Entfagen, fein 
geopfertes Herz. Ein gellendes Lachen fchütterte durch 
das Zimmer, ein Lachen voll Wahnwih und Verzweiflung. 
Brennender Schmerz zudte durch fein Hirn ... Glut 
und Eijesfälte durchjchauerten die Glieder, ein Taſten, 
Aufjchreien, und dann ein jchwerer Fall; Totenjtille. — 
Der Stiftspfarrer von Sankt Brigitten war am Typhus 
erfranft. Mit wilder, jäh vorbrechender Gewalt hatte 
ihn die Krankheit erfaßt und niedergeiworfen. Lange, 
entjegliche Nächte Hindurch rang der Tod mit dem Engel 
des Lichtes um fein Opfer. Unermüdlic in qualvoller 
Pflege ſaß Martha an dem Lager ihres Verlobten. Sie 
gönnte ſich feine Nuhe bei Tag und Nacht, wie ein 
Schatten zehrte fie dahin. Ihre fühle Hand lag auf 
feiner Stirn, wenn die rafende Fieberglut den Franken 
Mann aus den Kiffen emporriß, ihn mit den Geftalten 


⸗ — — — ———— 


— 577 — 


feiner Phantafie fümpfen oder koſen zu laſſen. Und er 
ward ruhiger und klammerte ſich an ihren Arm und 
flüfterte: „Hilf mir, Martha, vor deinen Augen fann fie 
nicht beftehen, fie erträgt deinen Blick nicht ... falte Die 
Hände und fieh ihr feit in das ſüße Anilig; Dann Hört 
fie auf zu lachen und nimmt die jchweren Roſen von 
meiner Bruft ...“ Heiße Tränen rannen über das 
Antli des jungen Mädchens. Dann blieb der Stuhl 
neben dem SKranfenlager eines Morgens leer, und Die 
Diakoniffinnen walteten allein ihres Aıntes. Sein Be: 
wußtfein fehrte allmählich zurück. „Wo ift Martha?“ 
Ausweichende Antworten. „Kommt fie bald?” Die 
Schweiter wandte fich nach dem Feniter. „Sie pflegt 
den Großvater, der alte Herr liegt ſchwer danieder.“ 
Tage vergingen, Wochen jchwanden dahin. „Martha!... 
Marthall” — Bor dem Fenfter fangen die Nachtigallen 
im lieder, und drinnen im Zimmer brachte die Oberin 
dem genejenen Pfarrer die legten Grüße feiner Braut. 
Wo die wilden Roſen um die Trauerweide ranfen und 
der Jasmin feine weißen Blüten ftreut, jchlief Martha 
in dem lichten Brautgewand und harrte des Geliebten. 
Und er fam und warf fich nieder auf das fühle Grab. Ein 
Flüftern ging durch die Zweige. Tränenperlen tropften 
jegnend in das lodige Haar des Einjamen. An dem 
feinen Marmorkranz aber ranfte und hob fich eine ge- 
brochene Paſſionsblume wieder empor, Collander8 Glauben 
an die göttliche Gerechtigkeit. — — — — — — — 


In der Nacht, da man das Leben des Stiftspfarrers 
N. v. Eſchſtruth, Ill. Rom. u. Nov., Hazard II. 37 


— 578 — 


nur noch nad) Minuten zählte, fuhr Fürftin Tautenftein 
zum Faftnachtsball. Sie tanzte nicht, fie rate. Nervös, 
fieberhaft, unvernünftiger wie je. Prinz Maximilian trat 
zu ihr. „Sie haben fich ja gleich mir ſtets für den Pfarrer 
Collander intereffiert, Durchlaucht. Ich Höre joeben, daß e3 
mit ihm zu Ende geht.” Er fagte e3 ernft, faft finfter, mit 
durchdringendem Blid. Das Gas fladerte, e8 warf einen 
fahlen Lichtfehein über das Antlig der fchönen Fran. 
Sie antwortete nicht, aber fie griff haſtig nach einem 
Glas Eislimonade, welche ein Lakai präfentierte, und 
jtürzte fie Hinab. Hochatmend, glühend vom Tanz. 
„Sprechen wir von etwas anderem, Hoheit, fterben ift 
ennuyant!” jagte fie, „oder bejjer, laſſen Sie uns tanzen!” 
Koch eine halbe Stunde lang flog fie von einem Arm in 
den andern. Dann gab es plößlich eine unruhige Szene 
im Nebenjaal. Eine Hofdame wehrte die Zudrängenden 
ab. „Fürſtin Tautenjtein ift frank geworden und fährt 
nad) Haufe!” 

„Ein Blutfturz?” flüſterte Exzellenz Södermann 
entjebt. 

„War vorauzzufehen. Die Krankheit liegt in der 
Familie, ihre Mutter ftarb auch an der Schwindfudht.” 

„Schredlich 11” 

Verſchiedene fenjationelle Nachrichten alarmierten 
an den nächitfolgenden Tagen die Hofgejellichaft und 
höheren Kreife der Reſidenz. Die Löfung der myjteriöfen 
Nendezpoug- Affäre rief einen wahren Eturm der Erregung 
hervor. Der Wind fchlägt leicht um, und das Mäntelchen 


— 579 — 


flattert anjtatt recht3 nad) links. Marie Luife, die Ge: 
ächtete und ©erichtete, wurde voll Begeifterung als Mär: 
tyrerin auf den Schild gehoben. Niemand hatte an ihre 
‚Schuld geglaubt. Die Equipagen rollten vor Billa Hazard; 
leider vergeblich. Die beiden galonierten Diener verjicherten 
den Herrichaften mit devotem Büdling, „daß Frau Baronin 
am geftrigen Nachmittag in Bealeitung von Fräulein von 
Speyern nad) Herfabrunn gefahren fei, wojelbit gnädige 
Frau etliche Zeit zu verweilen gedenfe. Herr Baron jei 
zur Zeit ebenfalld abweſend.“ 

Da fentte fich vorläufig ein Schleier über da3 plößlich 
fo lieb und intereffant gervordene Baar. Ein neuer Eflat 
verdrängte die älteren Ereigniffe. Graf Gofed hatte in 
einem franfhaften Anfall religiöfer Schwärmerei der Welt 
abgejchworen. Man erzählte fich, die Hände zuſammen— 
ichlagend, daß er Zilterzienjer-Mönch werden wolle und 
Knall und Fall abgereijt ſei. Graf Goſeck! Diejer LXebe- 
mann, diejer rous? Je nun, les exträmes se touchent, 
und ein abjonderlicher Kauz war er jtet3. Seine Liebe 
zu Frau bon Nennderfcheidt war jelbjtverjtändlich im 
Spiel. Hoffentlich bringt die Zukunft noch des Rätſels 
Löfung. 

Und abermals eine Neuigfeit! Nach dem Faſtnachts⸗ 
ball ift Fürftin Claudia tagelang jehr krank geweſen. Der 
Medizinalrat zudt die Achjeln und ftreicht, den Heinen 
Singer mit dem großen Brillantring etwas abfpreizend, 
den grauen Henriguatre, „Sie muß fo fchnell wie möglich 


nad) dem Süden!” jagte er und nad) fünf Tagen bereits - 
37* 


— 580 — 


iſt das reizende Weib unterwegs nad) Stalien. Wie ein 
Komet ſtrahlend über den Himmel zieht und ſpurlos ver— 
ſchwindet, ſo tauchte ſie auf und ſo ging ſie. Die Groß— 
herzogin war ebenſo beſorgt wie verſtimmt, weil ihr Lieb— 
lingsplan vereitelt war. In der Hoffnung, Fürſtin 
Tautenſtein mit ihrem verlaſſenen Gatten auszuſöhnen, 
hatte ſie die junge Frau zu ſich eingeladen. Für acht 
Tage ſpäter ſtand der Beſuch des Fürſten in Ausſicht. 
Der Menſch denkt, und Gott lenkt. Fräulein von Giron— 
vale hatte ihre junge Herrin begleitet, nicht gerade in 
beiter Laune. Sie hatte es fich fo nett gedacht, den 
deutfchen Seebär zu zähmen, und mußte ftet3 von neuem 
die niederjchmetternditen Erfahrungen machen. Als fie 
jüngft aus dem Theater getreten war, ftieg der Mond 
wie eine mattrote Kugel aus dem Dunft der Schneenebel 
hervor, und E3perance machte ein verzücktes Geficht und 
fagte jeufzend: „Sieht er nicht gerade aus wie Die 
Liebezleuchte in Elſas Brautgemach?“ „Nee“, fchüttelte 
Hovenklingen ſchmunzelnd den Kopf, „noch viel Hübfcher! 
Gerade wie ein Edamer Käſe!“ Das hatte fie fchon ge— 
waltig verſchnupft, als aber der Herr Leutnant zur See 
mit ihr und Baronejje Södermann Schlittjehuh Tief, und 
die Pſeudo-Franzöſin voll grauſamer Phantafie die Frage 
tat: „Wenn wir jeßt einbrächen, Herr von Hovenklingen, 
wen würden Sie retten, Fräulein von Södermann oder 
mich?” Da Hatte er in befannter Trodenheit prompt ge= 
antwortet: „Mich!“ und damit ein für allemal dem Faß 
- den Boden ausgefchlagen. Esperance fchimpfte auf das 


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ganze einige Deutjchland und pacdte die Koffer. Prinz 
Hohneck juchte Urlaub nach und reifte ebenfalls ab, aber 
er kam nach ſechs Wochen zurück und wurde jeiner de= 


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— 5382 — 


rangierten Verhältniſſe halber in ein billigeres Regiment 
verſetzt. Als Collander geneſen war, bekam er unter der 
Hand die Anfrage, „ob er wohl geneigt ſei, Marinepfarrer 
zu werden?“ Eine köſtliche Schickſalswendung für einen, 
der ein raſt- und ruheloſes Herz in der Bruſt trägt. Er 
wußte, daß er ſolches Glück einzig dem Intereſſe des 
Prinzen Maximilian zu verdanken hatte. In Kiel ward 
er auch ſofort zu einer Audienz befohlen. Dann ging's 
hinaus in die weite Welt. Erſt eine Fahrt mit dem 
Manöver-Geſchwader, im Spätherbſt nad) Kapſtadt und 
Sidney. So nahm er Abſchied von der Heimat, von 
den Gräbern, welche er als einzige Stätten der Sehnſucht 
zurückließ; ein verſchloſſener, bleicher und kranker Mann. 
Der Tod Hatte ihn freigeben müfjfen, aber feine Kralle 
hat er ihm in das Herz geichlagen, daß es heimlich weiter 
blutete und nicht gejunden fonntel In Madeira liegt in 
paradiefifcher Pracht und Schöne eine Villa auf vor: 
ipringendem Fels ain Meere. Die Kaiferin von Öfterz 
reich hat fie vor Sahren bewohnt, und Pfarrer Collander 
fteigt einfam den Weg hinan, einen Blid in den flüftern- 
den PBalmenfrieden zu werfen. Der weiße Gartenjand 
dämpft den Schritt, und Helmut fchreitet hinter blühen 
den Gebüſchen bis dicht an das Gebäude heran. Plötzlich 
Iteht er und preßt die Hände gegen das Herz. Auffchreien 
möchte er und fann e3 nicht. Bor ihm ein feltfames Bild. 
Im Rollſtuhl, in feidene Kiffen gebettet, Tiegt Claudia. 
Schön wie der blafje Engel, welcher aus Grabezichatten 
feinen Flug zum Himmel nimmt. ine Sterbende. Die 


— 583 — 


Heinen Hände, wachsbleich und abgezehrt wie ein Hauch, 
liegen gefaltet auf der warmen Pelzdede, tiefumnachtete 
Augen heben fich mit ftarrem Bil zum Himmel. An 
ihrer Seite ſitzt ein Jeſuit und liejt mit monotoner Stimme 
Gebete vor, fein Antlit ift ſcharf gefchnitten, ein ftrenger, 
beinahe unerbittlic) granfamer Zug macht es unfchön. 
Geitwärts liegt E2perance in einer Hängematte, raucht eine 
Zigarette und fofettiert mit einem GaribaldianersOffizier. 
Die Sonne finkt, und Claudia fröftelt im friſchen Luft— 
zug, welcher von der See emporweht. Der Garibaldianer 
wirft Eöperance noch heimlich eine rote Roſe zu, dann 
tritt er Hinter den Seſſel der Fürſtin und füßt fie auf Die 
Stirn. Ihr Gatte? Collander weiß e3 nicht, wie er 
den Rückweg durch das blühende, duftberaufchende Laby— 
rinth gefunden, durch feinen Kopf und feine Bruft zudt 
abermals da3 brennende Weh, wie an jenem Tage, Da 
er in feinem Zimmer zufammenbrah. Und auch jeit 
diefer Stunde ift er wieder Frant. Am Tage wanft er 
fraftlos einher, und in der Nacht phantajiert er in wüſtem 
Traum. „Dort wollen wir niederjinfen unter dem Palmen 
baum!’ klingt's wie ein Schrei der Sehnfucht dazwiſchen. 
Die Küfte von Liberia jteigt aus den blauen Wogen, 
Fieberluft weht, und Collander geht troß der Warnung 
des Arztes an Land und fehrt kränker denn je zurüd. 
Tage vergehen, jorgenjchwere Tage. Die Wogen raufchen 
einförmig klatſchend gegen die Schiffswand, durch das 
offene Fenfter ftreicht der feuchtheife Tropenwind und 
füßt Die brechenden Augen eines deutfchen Mannes. Der 


— 581 — 


Arzt fißt neben Collander und hält feine Hand, die er- 
Itarrende, welche noch einmal leife zittert und fich zus 
Sammenframpft. Wenige Minuten ſpäter raujcht die Flagge 
auf Halbmaft hernieder. Wo die Palmen ragen, dag weite, 
blaufunfelnde Meer zu Füßen, haben fie ihn begraben. 
Die Keine Schwalbe ſchwingt ſich von dem fchlichten Kreuz- 
lein empor und fliegt wie ein ſehnſuchtsvoller Gedanfe 
weit hinaus über die See. — — — — — — — — 

„Nur ein Kapitän Tann eine Fregatte führen!” 
Adalbert weiß es wohl. Er ift mit diefer Überzeugung 
von Fides von Speyern gejchieden, als er, nach beendigten 
Urlaub in der NRefidenz, den Prinzen wieder nach Kiel 
begleitete. Prinz Marimilian jchaut aber nicht nur die 
Uniform feiner Marineleutnants und Adjutanten, fondern 
er durchſchaut fie auch bis in das Herz hinein, und er 
fennt feine größere Freude, als ein heilend Pfläfterchen 
aufzulegen, wenn er ſolch ein, Herz verwundet fieht. An— 
läßlich einer Schiffstaufe, bei welcher die Erbgroßherzogin 
Margarete Gevatter ſtand, erjchien auch Fräulein von 
Speyern in Begleitung der hohen rau an Bord. Der 
Prinz behielt fie und feinen Adjutanten wohl im Auge. 
Und als Hovenflingen ihr das jchwarze Matrojenband 
mit dem golddurchwirkten „Prinz Albert” mit den Worten 
verehrte: „Wollen Sie Dieje Farben tragen und die 
unfere werden, gnädiges Fräulein?“ und Fides es in 
ſtummer Antwort in das blonde Haar fchlang, da wußte 
er, wie viel Glas es gejchlagen. Vorerſt ging es für ein 


— 585 — 


halbes Jahr nad) Oſtindien. „Sch habe keine Menschen: 
feele, welche mir Briefe ſchreibt! Sehen Sie fich hier 
um auf dem Schiff, gnädiges Fräulein, iſt es begreiflich, 
daß man fich in der Einſamkeit nach einem Gruß aus 
der Heimat fehnt?” Sie ſah fih um und... . fie ant- 
wortete auf feine Briefe. Und wenn die Beitung kam, 
ſuchte ihr erfter Blid die Schiffsnacdhrichten. Sie war 
auch gar nicht mehr fo ernjt und jtreng wie fonft; ein 
roſiges, mädchenhaftes Lächeln fpielte um ihre Lippen. 

Fides iſt meine gute Freundin. Jüngſt wollte ich fie 
im erbgroßherzoglichen Schloß bejuchen. Der Lakai fennt 
mich, ich jchritt Haftig an ihm vorüber. „Es ift ſchon 
Beſuch anmefend, gnädiges Fräulein!” „Zut nichts, 
Treumann, ich werde mich ſchon mit den Herrjchaften 
vertragen!” In Fürftenfchlöffern liegen dicke Teppiche. 
Niemand hört mich kommen, und als ich in das Neben- 
zimmer treten will, da ſehe ich ... . ei Potz Anfer und 
PBumpftod! den Herrn von Hovenkflingen in nagelneuer 
Rapitän-Zeutnantsuniform, friich und verbrannt zu jenem 
herrlichen Flunderbraun, wie e8 die Seefahrer direkt aus 
Dftindien mitbringen, und er hält feine ſtolze, glüd- 
ftrahlende Fregatte in den Armen und Füßt fie und 
jubelt: „Fides ... kann es denn möglich fein... Sie 
haben mich lieb?” 

Da Sieht fie zu ihm auf, jo ſchelmiſch, wie ich es nie 
für möglich gehalten hätte, und jagt: et mi a Küßle 
gibt, derf mi a dutze!“ 


— 586 — 


„Ei, da gratulier ich!“ 

In Herſabrunn iſt es Frühling geworden. Als Marie 
Luiſe von Fräulein von Speyern in die alte Heimat zu— 
rüdgebracht wurde, fi) in der Einfamfeit von all den 
Aufregungen der lebten Tage zu erholen und den Folgen 
de3 aufgewirbelten Staubes zu entgehen, da lag noch 
der Schnee auf den Dächern und Bäumen, und jebt 
ftrahlt der Himmel lichtblau, und die Knoſpen find ge- 
iprungen und der Mai, der Mai ift gefommen! Olivier 
ift in Roggerswyl, das uralte Neſt für fein junges 
Weibchen auszubauen, und wenn das lebte Stück Tapete 
aufgeklebt und der lebte Nagel eingefchlagen ift, dann 
wird er fommen, ein glüdlicher, überglücdlicher Freier 
und wird die Geliebte holen und fein Kleinod zu eigen 
nehmen zu einem Frühling ohne Ende! 

Frau von Körberik fiht in der großen Gtiftschaife 
und hält nach wie vor dort ihr Nachmittagsfchläfchen. 
In der Küche raffeln die Teller in der Spülmwanne, genau 
im Takt der beiteren Klänge von „DO Tannebaum — 
o Tannebaum, wie grün find deine Blätter!” Röschen 
und Baronefje Erifa zanfen fich bei offenen Parterre⸗ 
fenftern, und Marie Luife Hufcht eilig hinaus in die Stille, 
jonnenhelle Welt. 

Unter den blühenden Kirjchhäumen der Allee, das 
dunfle Kleid leicht gezauft vom frischen Wind, fchreitet 
das bräutliche Weib tagtäglih um diefe Stunde dem 
Poſtboten entgegen. Und fie geht niemald vergeblich. 


— 5897 — 


Schon von weitem ſchwenkt er ihr den Brief entgegen, 
und mit ftrahlenden Augen, heißer erglühend wie in den 
Tagen ihres kurzen Brautjtandes, flüchtet fie mit ihrem 
Schatz in den duftigen Wald, am Ufer des Sees feine 
Beilen zu leſen. 

Wo er heute nur bleibt?” Einfam und menjchenleer 
ift die lange, jchnurgerade Allee. Ganz in der Ferne 
nur rollt ein Kleiner Korbiwagen herzu, deſſen magerer 
Fuchs von der Botenfrau des Stiftes gelenkt wird, und 
dahinter taucht noch ein Wagen auf, eine elegante Karoffe, 
vor welcher die Rappen ausgreifen, als gälte eg ein tolles 
Wettjagen. Näher und näher rollt’3 heran, Marie Quife 
bleibt regungslos jtehen und drückt unmillfürlich Die Hände 
auf ihr ftürmifches Herz. Näher ... ganz nah... 
auf dem Kutjcherbode ein befanntes Gefiht ... und 
Daneben der brave, alte Landbote, welcher der jungen 
Frau die wunderlichiten Zeichen madt. Die Roſſe pa= 
rieren. „Heute bringe ich ihn felbjt!” ruft der Nante 
mit grinfendem Gejicht vom Wagen herunter, gleicherzeit 
aber fliegt der Schlag zurüd, und Olivier ſpringt zur 
Erde. „Zufahren!” ruft er mit Lömenftimme Die 
Hufe nattern, und die Afte der Kirſchbäume, welche der 
hohe Treſſenhut jtreift, jchütteln ein Schneegejtöber von 
Blüten hernieder. Marie Luife .fieht e8 nicht mehr; 
Himmel und Erde fchlagen in Sonnengluten über ihrem 
Haupte zufammen, an feiner Bruft! 


Das Schilf flüſtert und erzählt den Heinen Wellen 


— 588 — 


im See viel liebe, uralte Märchen. Vom Glück, der 
blauen Wunderblume, welche nur ſolche Menſchenkinder 
finden, die zum Himmel emporſchauen, wenn ſie danach 
ſuchen. 

Die Abendglocken läuten, und im Walde wird's ſtill, 
als neigten alle Bäume und Blumen die Häupter im 
Gebet. 

Olivier faltet die Hände um die feines jungen Weibes. 
Er hat fie noch einmal an das moofige Ufer geführt, ehe 
der Reiſewagen fie Hinausflüchtet in die weltverjchollene 
Blütenpracht des eigenen Heims. Er blidt ihr in das 
Auge: er jieht ebenfo aus, wie damals, al3 die Gloden 
über den See hallten und er fein Haupt entblößte und 
Gott die Ehre gab. 

„Zum zweitenmal wirjt du mir in das Leben folgen, 
Marie Luiſe“, fagte er leije voll feierlichen Ernites, „zum 
zweitenmal mein Schickſal zu dem deinen machen. Dies- 
mal werden die Karten nicht zu einem Hazard gemijcht, 
e3 gilt fein Wagen und Einſetzen mehr, der Gewinn, der 
föftlichite, it Schon mein eigen. Damals jchritt nur ein 
guter Kamerad für die furze Spanne Erdenleben an 
meiner Seite, der Ring der Treue aber hat feinen Anfang 
und fein Ende.” 

Roſige Lichter wehen über den See, und das Abendrot 
vergoldet die Wolfen, zu welchen zwei jubelnde Schwalben 
emporfliegen, höher und höher, unbedroht von Falk und 
Habicht, in den offenen Himmel hinein. 

Feſter fchmiegt ſich Marie Luiſe in den Arm des ge- 


— Ha — 


liebten Mannes, ihre Antwort iſt ihr ſtummer Blick, ihre 
ganze Seele liegt in dem Händedruck, mit welchem ſie 
ſich ihm angelobt für Zeit und Ewigkeit. Über Oliviers 
Lippen aber ringt es ſich wie ein glückſeliger, einziger 
Jubellaut: „Mein Weib!“ / 





Bitte wenden ! 


Drud von 3.8. Hirſchfeld in Leipzig. 





Inhalt der neuen Serie. 


Band 1m. 2 


Die Bären von Boben-Esp 


Roman. 
Mit 100 Illuſtrationen von Sr. Shwormfädt. 


Band 3 u. 4 


Der verlorene Sohn 


Roman. 
Mir 100 Fluftrationen von Oscar Bluhm. 


Band 5 u. 6 


Umgleich- Wolfsburg 


Rom 
Mit 100 Illuſtrationen v. ". Wald u. a Slasher. 
Band 7 
Der Mühlenprinz, Roman. 
Mit 50 Fluftrationen von M. Karascudts. 
Band 8 u. 9 
Im Schellenbemd, Roman. 
Mit 100 Illuſtrationen von Srit Bergen, 
Band 10 u. 11 
Am Ziel, Roman. 


Mit 100 Illuſtrationen v. Prof. Hans W. Schmidt. 












JUN 





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DRIN BIENEN BRENNEN 
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An unfere Abonnenten! 
Die nunmehr beginnende „Vierte Serie‘ von 


Nataly von Eihftruth, 


Slinftrierte Romane und Novellen, 
eröffnet der neuefte Roman der beliebten Autorin 





Die Bären von Hohen⸗Sop. 


Seine Malestät Kalser Wilhelm ll. 
geruhte die Widmung dieses Ro- 


mans anzunehmen, das erste Mal, 
dass einem Romanwerk eine so 
hohe Auszeichnung zu tell wurde. 





Mit größter Spannung fehen uufere Leer diefem 
Werk entgegen, das durch die wahrhaft Fünftleriichen 
nftrationen des Münchener Künftlers Fr. Schworm- 
hädt ein herrliches Kunſtwerk geworden ift. Auch die 
anderen Schöpfungen_ der beliebten Verfafferin, die in 
der jest beginnenden Serie zum Abdruck kommen, find 
durchweg als Kunftwerke zu bezeichnen, die einen ent- 
züefenden Stimmungszauder atmen. — Rataly von 
Eichftruth’s Romane haben einen hernorragenden 
bildenden Wert, fie ſind ein 

—— bollwertiger Familienſchatz. — 

Umftehend befindet ich eine Inhaltsangabe der 
nenen Serie mit Angabe der die Jlluſtrierung be- 
forgenden Künſtler, die wir Ihrer befonderen Beady 
tung empfehlen. | 

Wir hoffen alsdann alle unfere bisherigen Abon- 
nenten demmächft auch als Abonnenten der neuen Serie 


begrüßen zu dürfen. 
Mit Hochachtung 
Paul Liſt, Bering, Leipzig. 








kb 


— 
ILIDEE 







NESO 


INN] 
3 1951 DO1 571 


IT 
569H .