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Full text of "Natürliche schöpfungsgeschichte. Gemeinverständliche wissenschaftliche vorträge über die entwickelungslehre im allgemeinen und diejenige von Darwin, Goethe und Lamarck im besonderen"

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Nntürlide 


Schöpfungsgeſchichte. 


Gewmeinderſtandliche wiſſenſchaftliche Vortruge über bie 
Entwidelungslehre 
im Allgemeinen und biejenige von 
Darwin, Goethe und Lamark 
im Befonderen. 


Bon 


Dr. Eruf Haeckel 


Profeffor an der Univerfität Iena. 


Fünfte verbefierte Auflage. 


it dem Porträt des Verfaffers 
(nad) einer Photographie) 


und mit 16 Tafeln, 19 Holzſchnitten, 18 Stammbäumen unb 
19 ſyſtematiſchen Tabellen. 





Berlin, 1874. 


Verlag von Georg Reimer, 








Das Heberfegu 


Allgemeines Juhaltsverzeichniß. 


Erſter Abſchnitt: Hiftorifher Theil. 
A VL Bortrgg,) 
Geſchichte der Entwidelungslehre, 
1. Bortrag. Inhalt und Bedeutung der Abftammungslehre oder Defcen- 


denstbenie > > 2 2 rennen 1 

II. Vortrag. Wiſſenſchaftliche Berechtigung der Deſcendenztheorie. Schö- 
pfungsgefichte nach inne . 2 20. 22 
U. Vortrag. Schöpfungsgefchichte nad) Cuvier und Agalfg . . . . 48 
IV. Vortrag. Gntwidelungstheorie von Goethe und Olten . . . » » 65 
V. Bortrag.. Entwidelungstheorie von Kant und Lamard . . . . - 89 
VI. Vortrag. Gntwidelungstgeorie von Lyell und Darwin... . . . 111 

“ Bweiter Abſchnitt: Darwiniſtiſcher Theil. 
(VIL—XI. Vortrag.) 


Der Darwinismus oder Die Seleetioustheorie. 
VI. Vortrag. Die Züchtungslehre oder Selectionstheorie. (Der Darivi- 


NEM) een 188 

VII Vortrag. Vererbung und Fortpflanzung - >. 2 02 0 « 187 

IX. Bortrag. Bererbungsgefege. Anpaffung und Ernährung. . . . 182 

x. Bortrag. Anpaffungsgefte » >» > 2: 22 2 nenne 203 
RI. Vortrag. Die natürliche Züchtung durch den Kampf um's Dafein. 

Arbeitötheilung und Fortihritt © » » 2000. 225 


IV Allgemeines Inhaltöverzeichniß. 


Dritter Abſchnitt: Rosmogenetifher Theil. 
(XH—XV. Bortrag.) 


Grundzüge und Grundgefege der Entwidelungsichre.” 
Seite 


XI. Vortrag. Entiidelungägefege der organiſchen Stämme und Indi- 
viduen. Pbglogene und Ontogenie © » 2. 0 « 250 

XI. Bortrag. Cntwidelungstheorie des Weltalls und ber Erde. Urzeu - 
gung. Kohlenſtofftheorie. Plafidentheorie. . . . . 281 

XIV. Vortrag. Wanderung und Verbreitung ber Organismen. Die Eho- 
rologie und die Eißgeit ber Erbe . ı ı 2... 0. 81 
XV. Bortrog. Schöpfungsperioden und Schöpfungsurtunden. . . . 333 


Vierter Abſchnitt: Phylogenetifher Theil. 
(XVI-XXI. Vortrag.) 


Die Phylogenie oder Gtemmesgefhiähte der 
eganismen. 
XVI. Bortrag. Stammbaum und Geſchichte des Protiftenreih® . . . 8684 
XV. Vortrag. Stammbaum und Geſchichte des Pflanzenreih® . . . 400 
XVII. Bortrag. Stammbaum und Geſchichte des Thierreichs. 
I. Urthiere, Pflanzenthiere, Wurmtbiere . . . . 485 
XIX. Bortrag. Stammbaum und Geſchichte de Thierreichs. 
11. Weichthiere, Sternthiere, Glieberthiere . . . . 468 
XX. Vortrag. Stammbaum und Geſchichte des Thierreichs. 


1. Wirbelthiere... nn. 508 
XXI. Vortrag. Stammbaum und Geſchichte des ii 
IV. Säugethiere . 0.» . . 536 


Fünfter Abſchnitt: Antheopogenetifger Zeil 
(XXU—XXIV. Vortrag.) 


Die Unwendung nhaidielungelchre anf den 


XXI. Vortrag. Urfprung und Stammbaum bes Menfhen . - . - » 564 
XXI. Vortrag. Wanderung und Verbreitung bes Wenfcengefchlects. 
Menſchenarten und Denfhenraffen . » » - . . - 593 


XXIV. Vortrag. GCinwände gegen und Berveife für die Wahrheit ber Deicen- 


Bejonderes Iuhaltsverzeihniß. 


Seite 
Borwort zur erſten Muflage - . » 2 > 2 22000. xvii 
Sorwort zur dritten Auflage... Xxxi 
Nachwort zum Vorwort der dritten Auflage.. xXxxii 
BSorwort zur vierten ARuflaggeee xxxv 
Die Natur (Goethe, 1728008. Wv 
Erſter Vortrag. 

Anhalt und Bedeutung ber Abſtammungslehre oder De⸗ 

feendenstbentie  -» » >: 220. 1 


Allgemeine Bebeutung und weſentlicher Inhalt der von Darwin refor⸗ 
mirten Abftammungßfehre ober Defcendenztheorie. Befondere Bebeutung der- 
felben für die Biologie (Zoologie und Botanik). Beſondere Bedeutung der- 
ſelben für bie natürliche Entroidelungsgefhichte des Menſchengeſchlechts. Die 
Abftemmungslehre als natürliche Schöpfungsgefdichte. Begriff der Schö- 
pfung. Wiffen und Glauben. Schöpfungsgefdichte und Entwidelungsge- 
ſchichze. Zuſammenhang der individuellen und paläontolegifgen Entwvide- 
lungegeſchichte. Unzwectmaßigkeitslehre ober Wiſſenſchaft von ben rubimen- 
tären Organen. Unnite und überflüffige Einrichtungen im Organismus. 
Gegenfat der beiden grundderſchiedenen Weltanſchauungen, der moniftifdjen 
(meganifchen, caufalen) und der bualiftifcien (tefeofogifchen, vitafen). Be- 
grändung der erfieren durch die Abftammungslehre. Einheit der organi- 
ſchen und anorganifchen Natur, und Gleichheit ber wirkenden Urfaden in 
Beiden. Bedeutung ber Abftammungslehre für die einheitliche (moniftifche) 
Auffaffung der ganzen Natur. 


weiter Vortrag. 
Wiſſen ſchaftliche Berechtigung ber Defeenbengthentie. 
Schöpfungsgefhichte nah Rinne . . . ie. 22 
Die Abſtammungslehre oder Deſcendenztheorie als bie einheitliche Ex- 


VI Bejonderes Inhaltsverzeichniß. 


tlarung ber organiſchen Naturerfdeinungen durch natüxlich wirtenbe Urfachen. 
Vergleichung derfelben mit Newton's Gravitationstheorie. Grenzen ber wif- 
ſenſchaftlichen Exlärung und ber menſchlichen Ertenntniß überhaupt. Alle 
Ertenntniß urſprunglich durch finnfiche Erfahrung bedingt, apofleriori. 
Uebergang ber apofteriorifchen Erkenntuiſſe durch Vererbung in aprioriſche 
Ertenntniſſe. Gegenfaß der übernatürlichen Schöpfungshypothefen von Linne, 
Cuvier, Agaffiz, und der natürlichen Entwidelungstkeorien von Lamard, 
Goethe, Darwin. Zufammenhang ber erfteren mit der moniſtiſchen (mecha ⸗ 
niſchen), ber letzteren mit der bualiftifchen (teleologifcen) Weltanſchauuug. 
Monismus und Materialismus. Wiſſenſchaftlicher und ſittlicher Materialis- 
mus. Schöpfungsgeicichte des Mofes. Linus al Begründer der ſyſtema- 
tiſchen Naturbefchreibung und Artunterſcheidung. Linne’s Maffifitation und 
binäre Nomenclatur. Bedeutung des Spetiesbegrifis bei inne. eine 
Schöpfungegefdjichte. Linne’s Anficht von der Entftehung der Arten. 


Dritter Vortrag. 

Schopfungege ſchichte nah Euvier und Agaffls - - - . - 

Algemeine theoretifche Bebeutung des Speciedbegriffs. Unterſchied in 
der theoretifchen und praktifchen Beftimmung des Artbegriffs. Cuvier's De- 
finition der Speried. Cuvier's Verdieuſte als Begründer der vergleichenden 
Anatomie. Unterſcheidung ber vier Hauptformen (Typen oder Zweige) des 
Thierreih durch Cuvier und Bär. Cuvier's Berbienfte um die Paläonto- 
Togie. Seine Hypotheſe von den Revolutionen des Erdballs und dem durch 
diefelben getrennten Schöpfungöperioden. Unbelannte, übernatürlice Urfa- 
hen biefer Revolutionen und der darauf folgenden Neufhöpfungen. Xeleo- 
logiſches Naturfyftem von Agaſſtz. Seine Borflellungen vom Schöpfungs- 
plane und beffen ſechs Kategorien (Gruppenftufen des Syſtems). Agaſſig' 
Anſichten von ber Erfhaffung der Species. Grobe Vermenſchlichung (An⸗ 
thropomorphismus) des Schöpfers in der Schöpfungehhpothefe von Agaſſiz. 
Innere Unhaltbarteit berfelben und Widerſpruche mit den von Agaffiz ent- 
beiten wichtigen paläontologifchen Gefegen. 


Vierter Vortrag. 
@ntwidelungstheorie won Goethe und Bien . . . . 
Wiſſenſchaftliche Unzulänglichteit aller Borfiellungen von einer Shapfıng 
der einzelnen Arten. Nothweudigleit der entgegengefegten Entwistelungstheo- 


43 


Beſonderes Inhaltsderzeichniß. 


rien. Gefchichtficiet Ueberblid über die wirhtigften Eittisidelungstheorien. 
Ariſtoteles. Seine Lehre vom der Urzengung. Die Bedeutung der Natur- 
Philofopgie. Goete. Seine Berdienſte als Naturforſcher. Seine Deto- 
morphofe der Pflamen. Sehne Wirbeltkeorie des Schäbels. Seine Ent- 
dedung bes Zwijchentieſers beim Denfchen. Goethe s Theilnahme am dem 
Streite zwiſchen Cuvier und Geoffroy &. Hilaire. Gocthe's Entdectung der 
beiden organifchen Bilbungstriebe, des Ionfernatiden Specifitationstriches (der 
Bererbung) und des progreffiven Iunbilbungstriebes (ber Anpaffung). Goethe s 
Anſicht von der geimeinfamen Abſtanmung aller Wirbelthiere mit Inbegriff 
bes Menſchen. (Entinidelungstheorie von Gottfried Reinhold Trevirauus. 
Seine moniſtiſche Naturauffaffung. Ofen. Seine Naturphiloſophie. Oten’s 
Borfellung vom Urfchleim (Protoplesmatfenie). Dien’s Worftellung von 
den Infuforien (Zellentheorie). Oten's Entividelungstheotie. . 


Fünfter Vortrag. 


organe durch mechanifche, der Organismen durch zwedthätige Urſachen. Wiber- 
ſpruch dieſer Anficht mit feiner Hinneigung zur Abflammungsfehre. Kant's 
genealogiſche Entwidelungstheorie. Beſchränkung derſelben durch feine Te- 
leologie. Vergleichung der genealogiſchen Biologie mit der vergleichenden 
Sprachforſchung. Anſichten zu Gunſten der Deſcendenztheorie von Leopold 
Buch, Bär, Schleiden, Unger, Schaafhauſen, Victor Carus, Büchner. Die 
franzöfifche Raturphilofophie. Lamard's Philofophie zoologique. Lamard's 
monififches (mechaniſches) Naturſyſtem. Seine Anſichten von der Wedhfel- 
wirkung ber beiden organifden Bildungsträfte, der Vererbung und Anpaf- 
fung. Lamard's Anfiht von der Entwidelung des Menſchengeſchlechts aus 
affenartigen Säugethieren. Bertheibigung der Defeendenztheorie durch Geof- 
froy S. Hilaire, Naubin und Lecoq. Die englifche Naturphilofophie. An- 
fichten zu Gunften der Defcendenztheorie von Erasmus Darin, Grant, 
Herbert Spencer, Hooler, Hurley. Doppeltes Berbienft von Charles Danoin. 


... Sedhfler Vortrag. 
Entwidelungsthenrie von Ryen und Darwin . . . . . 
Charles Fyell’8 Grundfäge der Geologie. Seine natitlide Entwide- 
lungegeſchichte der Crde. Cutſtehung ber größten Wirkungen durch Sum- 


vu 


Seite 


89 


ım 


vu Befonberes Inhaltevergeichniß. 


mirung ber kleinſten Urſachen. Unbegrenzte Länge ber geologifchen Zeit- 
räume. Lyells Widerlegung ber Cuvier ſchen Schopfungegeſchichte. Begrün- 
bung des ununterbrochenen Zuſanunenhange ber geſchichtlichen Entwidelung 
durch Lyell und Darwin. Biographiſche Notizen Aber Charles Darwin. 
Seine wifjenfhaftlihen Werte. Seine Korallenrifftheorie. Entwidelung 
der Seletionsteorie. Ein Brief vom Darwin. Gleichzeitige Beröffentli 
ung ber Gelectionstheorie von Charles Darwin unb Alfred Wallace. Dar- 
win's Stubium der Haußthiere und Kulturpflanzen. Anbrens Bagner's 
Anſicht von der befonderen Schöpfung der Kulturorganismen fir ben Men- 
fen. Der Baum des Erfenntniffes im Parabieb. Bergleichung der wil- 
den und ber Kulturorganismen. Darwin's Stublum ber Haustanben. 
Bedeutung ber Taubenzucht. Gemeinfame Abſtammung aller Tauben- 
taffen. ’ 


Siebenter Vortrag. 


Die Züdtungsichre oder Selectionstheorie. (Der Dar: 
winismuß.) - - 2: 200er 
Darwinismus (Selertionstheorie) und Lamardismus (Defrendenztheorie). 
Der Vorgang ber kunſtlichen Zuchtung: Auslefe (Selection) der verfciede- 
nen Einzelweſen zur Nadyudt. Die wirkenden Urſachen der Umbilbung : 
Abänderung, mit der Ernäßrung zufammenhängend, und Vererbung, mit 
der Fortpflanzung zufammenhängend. Mechaniſche Natur biefer beiden 
phyfiologiſchen Hunctionen. Der Vorgang der natürlichen Züdtung: Aus · 
leſe (Selection) dur; den Kampf um's Dafein. Malthus' Bevölterungs- 
theorie. Mißverhältniß zwiſchen der Zahl ber möglichen (potentiellen) und 
der wirflicien (actuellen) Individuen jeder Organiömenart. Allgemeiner 
Wetttampf um bie Eriftenz, oder Mitbewerbung um die Erlangung ber 
motätwenbigen Leben&bebürfniffe. Umbilbende und züdtende Kraft biefeß 
Kampfes um's Dafein. Vergleichung der natärfichen und der Künftfichen 
Zaqhtung · Zuchtwahl im Menſchenleben. Militäriſche und mediciniſche 
Zachtung · 


Achter Vortrag. 
Wererbung uub Fortyflanzung or. 
Allgemeinheit ber Erblichteit und der Vererbung. Wnffeliende befondere 
Wenferungen derſelben. Menſchen mit vier, ſeche oder fleben Fingern und 
‚Zehen. Stachelſchaveinmenſchen. Vererbung von Rrankkeiten, namentlich von 


138 


187 


Veſondered Infaltsvergeichriß. 


X 


Seite 


Geiſtestrantheiten. Erbſunde. Erbliche Monarchie. Erbedel. Erbliche Ta- 
lente und Seeleneigenſchaften. Materielle Urſachen ber Vererbung. Zuſam - 
menhang der Bererbung mit ber Fortpflanzung. Urzeugung und Fortpflan- 
aung. Ungeſchlechtliche oder monogene Fortpflanzung. Fortpflanzung durch 
Selbſttheilung. Moneren und Amoeben. Fortpflanzung durch Knospenbil- 
dung, durch Keimtnospenbildung und durch Keimzellenbildung. Geſchlechtliche 
oder amphigone Fortpflanzung. Zwitterbildung oder Hermaphroditismus. 
Geileftstrenmung oder Gonooriemus. Jungfranliche Zeugung oder Par- 
thenogenefis. Materielle Uebertragung ber Eigenfchaften beider Eltern anf 
das Kind bei der geſchlechtlichen Fortpflanzung. Unterſchied der Vererbung 
bei ber gefchfedftfichen und bei der ungeſchlechelichen Fortpflanzung. 


Neunter Vortrag. 


MWererbungsgefege. Aupaffung und Grnährung.. . . . 

Unterfjeitung ber erhaltenben nnd fortſchreitenden Bererbung. Geſetze 
der erhaltenden umb confervativen Erblichteit: Bererbung ererbter Charat- 
tere. Ununterbrochene oder continuirliche Vererbung. Unterbrochene oder 
latente Vererbung. Generationswechſel. Kucſchlag. VBerwilberung. Ge⸗ 
ſchlechtliche ober feruelle Vererbung. Sekundäre Serualdarattere. Ge- 
miſchte oder amphigone Vererbung. Baſtardzeugung. Wbgelürzte oder ver- 
einfochte Vererbung. Geſetze der fortfchreitenden oder progreffiven Erblich- 
keit: Vererbung erworbener Charaktere. Angepaßte oder erworbene Berer- 
bung. Befeftigte oder conſtituirte Vererbung. @leichgeitliche ober homo - 
Grone Vererbung. Gleihörtfiche oder homotope Wererbung. Anpaſſung 
and Beränderficheit. Zuſammenhang der Anpeffung und der Ernährung. 
Unterſcheidung ber inbirelten und bireften Anpaffung. 


Zehnter Vortrag. 

Knpaffungsgelebe - - » > 222200. 

Geſetze der indirekten oder potentiellen Anpeffung. Individuelle Anpf- 
fung. Monftröfe ober ſprungweiſe Anpaffung. Geſchlechtliche ober feguelle 
Anpoffung. Gefege ber birelten oder actuellen Anpaffung. Allgemeine oder 
mierfelle Anpaffung. Gehäufte ober kumulative Anpaffung. Gehäufte Ein- 
wirkung ber äußeren Egiftembebingungen und gehäufte Gegenwirtung be& 
Otganienms. Der freie Wille. Gebrauch und Nichtgebrauch der Organe. 
uebung und Gewohnheit. Wechſelbezugliche oder correlative Anpaffung. Wech- 


188 


x Befonderes Inhalisvegzeicniß. 


ſelberiehungen der Entiwidelung. Gorrelation der Organe. Grflärung der 
inkireften ober potentiellen Anpafiung durch bie Correlation ber Gefdjlechte- 
organe umb ber Übrigen Küörpertheile. Abweichende ober bivergente Annpaf- 
fung. Unbejcräntte ober unendliche Anpafiung. 


Eifter Vortrag. 


Die natürlige Züchtung durch den Kampf um’s Dafein. 
Hebeitstheilung und Dartfhritt - . . 2 22000. 
Wechſelwirlung der beiden organiſchen Bilbungstriebe, der Vererbung und 
Aupaſſung. Natürliche und kunſtliche Züchtung. Kampf um's Dafein ober 
Wettlampf um die Yebensbebürfniffe. Mißverhaltuiß zwiſchen der Zahl ber 
moglichen (potentiellen) und ber Zahl der wirklichen (actuellen) Individuen. 
Verwickelte Wechfelbeziehungen aller benadjbarten Organismen. Wirkungs- 
weife ber natürfisgen Züchtung. Gleichfarbige Zuchtwahl als Urſache der fyar- 
pathiſchen Färbungen. Geſchlechtliche Zuchtwahl als Urſache der felundären 
Serualcharaktere. Geſetz ber Sonderung oder Arbeitstheilung (Bolymarphis- 
mus, Differenzirung, Divergenz des Charakters). Uebergang der Varietäten 
im Specieß. Begriff ber Species. Baſtardzeugung. Geſet des Fortſchritts 
ober der Bervolitommmung (Progrefjus, Teleofe). J 


Zwölfter Vortrag. 


Entwickelungegeſetze der organiſchen Stämme und Yabi- 
viduen. Phyiogenie und iintsgenie . - 2.» 
Entiwidelungegefege der Denfhheit: Differenzirung und Beroolltonm« 
nung. Mechaniſche Urſache dieſer beiden Grundgefege. Fortſchritt ohne Dif- 
ferenzirung und Differenzirung ohne Fortſchritt. Eutſtehung ber rubimen- 
taren Organe durch Nichtgebranch und Abgeröhnung. Ontogeneſis oder in- 
dividuelle Entwideluug der Organismen. Allgemeine Bedeutung derſelben. 
Ontogenie ober individuelle Entwidelungsgefdjichte der Wirbefthiere, mit In- 
begriff de Menfchen. Gifurhung. Bildung ber drei Reimblätter. Cut⸗ 
widelungsgefhichte des Gentralnervenfuftems, der Ertremitäten, ber Kiemen- 
bogen und des Edmwanzes bei den Wirbelthieren. Urſachlicher Zufammen- 
hang und Paralleliomus der Ontogeneflß und Phylogeneſis, der individuellen 
und der Stanmesentioidelung. Urſachlicher Zuſanmnenhang und Parallelis · 
mus ber Bipfogenen® und der foRemasifchen Untwidefung. varelleliemus 
der drei ochauiſchen Gntwidelungereiken, ’ 


250 


Beſonderes Inhaltsverzeisiuiß. 


Dreizehnter Vortrag. 

Entwidelungstbesrie des Weltans uud ber Erde. ur ⸗ 
seugung. Kohlenfiofftbesrie. Plaftidentheorie 
Entroidehungsgefcichte der Erde. Kant’8 Entwickelungstheorie des Welt · 

alls oder bie toßınologifche Gnbtheorie. Entwickelung der Sonnen, Planeten 
und Monde. Erſte Entfichung des Waſſers. Bergleihung ber Organismen 
und Anorgane. Organiſche und anorganifche Stoffe. Dichtigkeitsgrade oder 
Aggregetzuftänbe. Eiweißartige Kohlenftoffoerbindungen. Organijſche und an- 
organiſche Formen. Kryſtalle und ſtrukturloſe Organismen ohne Organe. 
Stereometrifche Grundformen der Kryftalle und der Organismen. Organifche 
und anorgauiſche Kräfte. Lebenskraft. Wachtthum und Anpaſſung bei Kry - 
allen und bei Organismen, Bilbungstriebe ber Kryſtalle. Ginheit ber ar- 
ganifchen und anorganifden Natur. Urzeugung ober Archigonie. Autogonie 
und Plasmogonte. Entſtehung der Moneren durch Urzeugung. Entſtehung 
der Bellen aus Moneren. Bellentheorie. Plaſtidentheorie. Plaſtiden ober 
Vilbnerinnen. Cytoden ımd Zellen. Bier verfchiedene Arten von Ploftiden. 


Vierzehnter Vortrag. 

Wanderung und Werbreitung der Drganismen. Die Cho⸗ 
rologie mb bie isgeit ber Erde . . . . 2...» . 
Chorologiſche Thatfachen und Urfachen. Einmalige Entſtehung der mei 
Ken Arten an einem einzigen Orte: „Schöpfungsmittelpuntte”. Au@breitung 
durch Wanderung. Aktive und paſſive Wanderungen der Thiere und Pflan- 
zen. Xransportmittel. Transport der Keime duch Waſſer und Wind. 
BVeftändige Beränderung der Berbreitungöbezirte durch Hebungen und Sen- 
tungen des Bodens. Chorologiſche Bedeutung der geologiſchen Borgänge. 
Einfluß des Klima · Wechſels. Eiszeit oder Glacial- Periode. Ihre Bedeu- 
tung für die Ehorologie. Bedeutung der Wanderungen für die Entſtehung 
neuer Arten. Ifoltrung der Koloniſten. Wagner's „Migrationsgefet‘. 
Berhältniß der Migrationstheorie zur Selectionstheorie. Webereinftimmung 

ihrer Folgerungen mit der Defcenbenztheorie. 


Sünfzehnter Vortrag. 
Shöpfungsperiohen und Schöpfungsurfunden . . . . . 
Reform der Syſtematit durch bie Defrendemgtheorie. Das natürliche Sy- 
Ren 018 Stammbaum. Paläontelogifche Urkunden des Gtammbeumes. Die 


xt 


Seite 


. 381 


311 


338 


x Veſonderes Iuhabsvergeicnig. 


felberiegungen ber Entwidiclung. Correlation der Organe. Grflärung der 
inbirelten oder potentiellen Anpafinng durch bie Eorrelation ber Geſchlechts - 
organe und der übrigen Körperteile. Abweichende ober bivergente Anpaſ 
fung. Unbejdräntte oder unendliche Anpafjung. 


Eifter Vortrag. 

Die natürlie Züchtung dur ben Rampf um’s Dafein. 
Hrbeitstheilung und Fortfhritt . . . . - 
Wechſelwirkung der beiden orgauiſchen Bilbungstriebe, der Bererbung um 
Aupaſſung. Natüurliche und künſtliche Züchtung. Kampf um's Dafein ober 
Wettlampf um bie Yebensbebilrfniffe. Mißverhältniß zwiſchen der Zahl der 
möglichen (potentiellen) und der Zahl der wirflichen (actuellen) Individuen. 
Verrvidelte Wechfelbeziehungen aller benachbarten Organismen. Wirkungs- 
weife der natürlichen Züchtung. Gleicharbige Zuchtwahl ale Urfache der jym- 
pathiſchen Farbungen. Geſchlechtliche Zuchtwahl als Urſache der felunbären 
Serualcharaltere. Gejeh ber Sonderung oder Arbeitstheilung (Bolymorphis- 
mus, Differenzirung, Divergenz des Eharalterd). Uebergang ber Varietäten 
im Specied. Begriff ber Speried. Baflarbzeugung. Geſetz bes Fortſchritts 

ober ber Bervolltommmung (Progrefius, Teleoſit. 


Bwölfter Vortrag. 


Entwilelungsgefege der organiſchen Stämme und Zabi- 
viduen. Phyisgenie und Untsgenie . . .» - ..... - 
Entwidelungsgefege der Menſchheit: Differenzirung und Vervollkomm · 
nung. Mechaniſche Urfache dieſer beiden Grundgefepe. Fortſchritt ohne Dif- 
ferenzirung und Differenzirung ohne Fortſchritt. Entſtehung der rudimen- 
tären Organe durch Nichtgebrauch und Abgewöhnung. Ontogenefiß oder in- 
dividuelle Entwidelung der Organismen. Wllgemeine Bedeutung derſelben. 
Ontogenie. oder wdividnelle Entwidelungsgefdjichte der Wirbelthiere, mit In- 
begriff des Veuſchen. Gifurchung. Bildung ber drei Heimblätter, Ent 
widelungsgefdjichte des Gentrafnervenfyftems, der Extremitäten, der Kiemen- 
bogen und des Schavanges bei den Wirbelthieren. Urſachlicher Zufammen- 
hang und Paralleliomus der Ontogenefis und Pylogeneft, der individuellen 
und ber Etammesentwidelung. Urſachlicher Zufammenhang und Varallelis · 
mus ber Phylogenens und der ſyſtematiſchen Untwidelung. varalleliemus 
der drei orgauiſchen Cutwidelungereihen. 


Seite 


250 


Vefondereh Inhelisverzeichniß. 


Dreizehnter Vortrag. 

Entwidelungsthesrie bes Weltalls und der Erde. Ir 
jeugung. Kohlenfisffthesrie. Ylaſtidentheorie 
Entroidelungsgefcjichte ber Erbe. Kant's Entrwidelungstheorie des Welt- 

alls oder bie tosınologifche Gnstheorie. Entwickelung der Sonnen, Planeten 
und Monde. Erſte Entfiehung bed Waſſers. Bergleihung der Organismen 
und Anorgane. Drganiſche und anorganifdie Stoffe. Dichtigteitegrade oder 
Aggregetzuftände. Eiweißartige Kohlenftoffverbinbungen. Organifche und an- 
organiſche Formen. Kryſtalle und ſtrukturloſe Organismen ohne Organe. 
Stereometriſche Brundformen der Kryftalle und der Organismen. Organiſche 
und anorganifce Kräfte. Lebenskraft. Wachstum und Aupaſſung bei Kry- 
Rollen und bei Organismen, Bilbungstriebe der Kryftalle. Ginheit ber or⸗ 
ganiſchen und anorganiſchen Natur. Urzeugung oder Archigonie. Autogonie 
und Blasmogonie. Entſtehung der Moneren durch Unzeugung. Entflefung 
der Zellen aus Moneren. Zellentheorie. Plaſtidentheorie. Plafliden oder 
Bilbnerinnen. Cytoden und Zellen. Bier verſchiedene Arten von Plaſtiden. 


Vierzehnter Vortrag. 
Wanderung und Werbreitung ber Drganismen. Die Ehe: 
zolsgie und bie Eiszeit bee &rde . . . . . .. 

Chorologiſche Thatfachen und Urſachen. Einmalige Entftegung von mein 
Ren Arten an einem einzigen Orte: „Schöpfumgsmittelpunfte”. Ausbreitung 
durch Wenderung. Aktive und paffive Wanderungen ber Thiere und Pflan- 
zen. Transportmittel. Transport ber Keime duch Wafler und Wind. 
Befändige Veränderung der Berbreitungsbegirte durch Hebungen und Gen- 
hungen des Bodens. Chorologiſche Bedeutung ber geologiſchen Vorgänge. 
Einfluß des Alima · Wechſels. Eiszeit oder Glacial- Periode. Ihre Bebeu- 
tung für die Chorofogie. Bedeutung der Wanderungen für die Entſtehung 
neuer Arten. Iſolirung ber Koloniſten. Wagner's „Migrationdgefet‘. 
Berhältnifi der Migrationstheorie zur Selectiondtheorie. Uebereinftimmung, 
ihrer Folgerungen mit der Defcendengtheorie. 


Sünfzehnter Vortrag. 
Ghöpfungsperisden und Shöpfungsnurfunden. . . . . 
Reform der Syſtematit burch bie Deſcendemtheorie. Das natarliche Sy- 
fiem als Stammbaum. aläontslogifcie Urkunden des Gtammboumes. Die 


xt 


Seite 


311 


338 


Xu Befonderes Inhaltsverzeichtiß. 


Berfteinerungen als Denkmunzen der Schöpfung. Ablagerung der neptuni- 
fen Schichten und Einfluß der organiſchen Refte. Eintheilung ber orga- 
niſchen Exdgefchichte in fünf Hauptperioden: Zeitalter der Tangtoäfber, Yarı- 
wälder, Rabehwälder, Laubwälder und Kufturwälder. Syſtem ber neptuni- 
ſchen Schichten. Unermeßliche Dauer der während ihrer Bildung verfloffenen 
Zeiträume. Ablagerung der Schichten mur während der Senkung, nicht wäh- 
end der Hebung des Bodens. Andere Rüden ber Schöpfungsurfunde. Me⸗ 
taniorphiſcher Zuftand der älteften neptunifchen Schichten. Geringe Ausbeh- 
nung ber paläontologifden Erfahrungen. Geringer Bruchtheil der verfleine- 
rungsfähigen Organismen und organiſchen Körpertheile. Seltenheit vieler 
verfteinerten Arten. Mangel foffiler Zwiſchenformen. Die Schöpfungsur- 
tunden der Ontogenie und ber vergleichenden Anatomie. 


Sechszehnter Vortrag. 


Stammbaum und @Befchichte des Protiftenreihe . . . 

Specielle Durchführung der Defcendenztheorie in dem natürlichen Sonen 
der Organismen. Konſtruktion der Stammbäume. Abſtanunung aller mehr- 
zelligen Organismen von einelligen. Abſtammung der Zellen von Mone- 
ren. Begriff der organiſchen Stämme umd Phylen. Zahl der Stämme des 
Thierreichs und des Pflanzenreichs. Einheitliche oder monophyletiſche und 
vielheitfiche oder polyphyletiſche Defcendenziypothefe. Das Reich der Pro- 
tiften oder Urweſen. Acht Klaſſen des Protiſtenreichs. Moneren. Amoe- 
boiden oder Protoplaſten. Geißelſchwärmer oder Flagellaten. Flinmertu - 
geln oder Katallakten. Labyrinthläufer oder Labyrinthuleen. Kieſelzellen 
ober Diatomeen. Schleimpilze oder Myromyceten. Burzelfüßer oder Rhizo ⸗ 
poden. Bemertungen zur allgemeinen Naturgeſchichte der Protiſten: Ihre 
Lebenserfheinungen, chemiſche Zuſammenſetzung und Formbildung (Indivi - 
buafität und Grundform). Phylogenie des Protiſtenreichs. 


Siebenzehnter Vortrag. 
Stammbaum und Befcdhichte bes Pllanzgenzeihe . . . . 
Das natürliche Syſtem des Pflanzenreichs. Cintheilnng des Pflanzen- 
reiche im ſechs Hauptflaffen und neunzehn Maflen. Unterreich der Blumen · 
loſen ( Cryptogamen). Stammgruppe ber Thalluspflanzen. Tange oder Al« 
gen (Urtange, Grüntange, Brauntange, Rothtange, Moßtange). Fadenpflan - 
zen oder Juophyten (Flechten und Pilze). Stammgruppe der Prothallus- 


400 


Beſonderes Inhaltebergeichüiß. 


pflanzen. Mofe oder Duseinen (Lebermofe, Taubmofe). Farne oder Filicinen 
Eaubfarne, Schaftfarue, Wafjerfarne, Zungenfarne, Schuppenfarne). Unter- 
reich der Blumenpflangen (Bhanerogamen). Nadtfamige oder Gymnofper- 
men. Palmfarne (Eycadeen). Nadelhölger (Coniferen). Meningos (Gueta- 
ceen). Dedfamige oder Angiofpermen. Monocotylen. Dicotylen. Kelch- 
blathige (Wpetalen). Sternbluthige (Diapetolen). Glodenbfüthige (Bamope- 
talen). 


Achtzehnter Vortrag. 

Stammbaum und Geſchichte bes Thierreichs. I. Urthiere, 
Pflanzenthiere, Wurmtbiere . . . 2222000. 
Das natürliche Syſtem des Thierreichs. Syſtem von inne und La⸗ 
mard. Die vier Typen von Bär und Euvier. Vermehrung derfelben anf 
fieben Typen. Genenlogifche Bedeutung ber fieben Typen als felbfifändiger 
Stämme bes Thierreichs. Monophyletiſche und polyphyletiſche Defcendenz- 
hypotheſe des Thierreichs. Abſtammung ber Pflanzenthiere und Würmer 
von den Urtfieren. Gemeinfamer Urfprung der vier höheren Thierſtänmne 
aus dem Würmerftamm. Einteilung der fieben Thierftämme in 16 Haupt- 
tlaſſen und 88 offen. Stamm der Urthiere. Urahnthiere (Moneren, 
Amoeben, Synamoeben). Gregarinen. Infufionsthiere. Plandaden und 
Gaftränden (Planula und Gaftrula). Stamm der Pflanzenthiere. Schwamme 
oder Spongien (Schleimſchwämme, Faſerſchwämme, Kaltſchwamme). Neffel- 
thiere ober Atalephen (Korallen, Schirmquallen, Kammquallen). Stamm 
der Wurmthitre. Plottwürmer. Rundwürmer. Mosthiere. Mantelthiere 

Nüffelvärmer. Sternwürmer. Räderwürmer. Ringelwurmer. 


Heunzehnter Vortrag. 

Stammbaum und Geſchichte des Thierreichs. IL. Weich ⸗ 
thiere, Sternthiere, Bliebertbiere . . . . 2... . 
Stamm ber Weichthiere oder Molfusten. Bier Klaſſen der Weichthiere: 
Taſcheln (Spirobrandjien). Mufcheln (Lamellibrandien). Schneden (Cochli - 
den). Ktaden (Eephalopoden). Stamm ber Sternthiere oder Echinodermen. 
Abftammumg derſelben von ben geglieberten Würmern (Banzerwürmern ober 
Phraltelminthen). Generationswechjel der Echimodermen. Bier Klaſſen der 
Sternthiere: Seeſterne (Aſteriden). Seelilien (Rrinoiden). Seeigel (Cchiniden). 
Seegurten (Holothurien). Stamm der Gliederthiere oder Arthropoden. Bier 
Alaſſen der Gliederthiere. Kiemenathmende Gliederthiere oder Eruftaceen. 


XI 
Seite 


486 


468 





zv Beſonderes Iuhaltsverzeihtiß. 


Gliedertrebſe, Panzerkrebſe). Luftröhrenathmende Gliederthiere oder Trachea- 
ten. Spinnen (Strecſpinnen, Rundſpinnen). Tauſendfüßer. Inſelten. 
Kauende und ſaugende Inſelten. Stammbaum und Geſchichte der acht In- 
Jelten - Ordnungen. 


Zwanzigſter Vortrag. 


Stammbaum und Befchichte bes Thierreiche. II. Wirbel 
biete.» oo 00er. 
Die Schöpfungsurtunden der Wirbelthiere. (Vergleichende Anatomie, 
Embryologie und Paläontologie.) Das natürliche Syftem der Wirbelthiere. 
Die vier Klaffen der Wirbelthiere von Linnd und Lamarck. Bermehrung der- 
felben auf neun Klaſſen. Hauptklaſſe ber Rohrherzen oder Schäbellofen (Lan - 
zetthiere). Blutsverwandtſchaft ber Schäbellofen mit den Mantelthieren. Ucber- 
einſtimmung ber embryonalen Entwideluug von Amphiogus und von bem 
Ascidien. Urfprung des Wirbeltgierflammes aus der Würmergruppe. Haupt» 
Maffe der Unpaarnafen oder Ruudinãuler (Inger und Lampreten). Haupt» 
Hoffe der Anamnien oder Amnionlofen. Fiſche (Urfifche, Schmelzfiſche, Kuo 
Genftfche). Lurchfiſche oder Dipneuften, Secdrachen oder Halifaurier. Lurche 
oder Amphibien (Panzerlurche, Radtlurde). Haupttlaſſe der Amnionthiere 
oder Amnioten. Reptilien (Stammreptilien, Eidechſen, Schlangen, Erocobile, 
Scildtröten, Flugreptilien, Draden, Schnabelreptilien). Vögel (Fieder- 
ſchvangige, Facherſchwäuzige, Buſchelſchwängige). 


Einundzwanzigſter Vortrag. 


Stammbaum und Geſchichte bes Thierreichs. IV. Sange · 
thiere. ... ** .. . 
Softem der Säugethiere nach Linne und nach Blainville. Drei Unter- 
tlafſen der Saugethiere (Ornithodelphien, Didelphien, Monedelphien). Orni- 
thodelphien oder Monotremen. Schnabelthiere (Ornithoſtemen). Didelphien 
oder Marſupialien. Yflanyenfrefiende und feifchfeeffende Beutelthiere. Mo⸗ 
nobelphien oder Plocentalien (Plocentalthiere). Bedeutung der Placenta, 
Zotteuplacentuer. Gürtelplacentuer. Scheibenplaentner. Decibualofe oder 
Indeciduen. Yufthiere. Unpaarhufer und Baarhufer. Walthiere. Zahn- 
arme. Decriduathiere oder Decibuaten. Dalbaffen. Nogethiert. Schein- 
hufer. Jujſetteufreſſer. Raubthiere. Flederthiere. Affen. 


Seite 


502 


Befonbered Inheltoverzeichniß. 


Zweiundzwanzigſter Vortrag. 


Urfprung und Stammbaum bes Menfhen . . . . . - 

Die Anwendung ber Defcenbenztheorie auf den Menſchen. Unermeßliche 
Bedentung und logiſche Nothwendigkeit derfelben. Stellung bes Menſchen 
im natürlichen Syflem der Thiere, in&befondere unter ben biscopfacentalen 
Säugethieren. Unberechtigte Trennung der Vierhänder und Zweihänder. Be- 
rechtigte Trennung der Halbaffen von ben Afien. Stellung de Menfchen 
in der Ordnung ber Affen. Schmalnafen (Affen der alten Welt) und Platt · 
naſen (amerilaniſche Affen). Unterſchiede beider Gruppen. Eutſtehung des 
Menſchen aus Schmalnaſen. Menſchenaffen oder Anthropoiden. Afrikaniſche 
Menſchenaffen (Gorilla und Schimpanſe). Aſiatiſche Menſchenaffen (Orang 
und Gibbon). Vergleichung der verſchiedenen Dienfchenaffen und ber ver⸗ 
ſchiedenen Menſchenraſſen. Ueberficht der Ahnenreihe des Dienfcen. Wirbel- 
Iofe Ahnen (Prochorbaten) und Wirbelthier - Ahnen. 


Dreiundzwanzigſter Vortrag. 


Wauberung und Merhreitung bes Menfärngefislehte. 
Menfhenarten unb Menfchenraflen . . . . . 

Alter des Menſchengeſchlechts. Urſachen der Entflefung befeben. De 
Urfprung der menſchlichen Sprache. Cinftämmiger (monophyletifcer) und 
dielſtaunniger (polyphyletiſcher) Urſprung des Menſchengeſchlechts. Abftam- 
mung. der Menſchen von vielen Paaren. Klaſſifilation der Menfchenrafien. 
Syſtem der zwölf Menſchenarten. Wollhaarige Menſchen oder Ulotrichen. 
Baſchelhaarige (Bapun’6, Hottentotten) . Bliehhearige (Kaffern, Neger). 
Sglichthaarige Menfchen eder Liſſotrichen. Straffhaarige (Auſtralier, Ma- 
layen, Mongolen, Arktiler, Amerilaner). Lodenhaarige (Dravidas, Nubier, 
Mittelläuder). Bevölterungszahlen. Urheimath des Menſchen (Sidafien oder 
Lemuvien). Beichaffenheit des Urmenſchen. Zahl der Urſprachen (Monoglot- 
tonen usb Bolygkottonen). Divergenz und Wanderung bes Menſchengeſchlechts. 
Geographiſche Verbreitung der .Menfhenarten.. . . . . 


Vierundzwanzigfter Vortrag. 


@inwände gegen und Weweife für Die Wahrheit ber De ⸗ 
feendengtBesrie ı ı 2 2 nn er er ren 
Einwände gegen bie Abſtammungslehre. Einwände des Glaubens und 


598 


627 


xXVI Beſonderes Inhaltsverzeichniß · 


der Vernunft. Unermeßliche Länge der geologiſchen Zeiträume. Uebergangs- 
formen zwiſchen den verwandten Species. Abhängigkeit ber Formbeſtändigkeit 
von ber Vererbung, und des Formwechſels von ber Anpaffung. Entſtehung 
ſehr zufammengefegter Organifations- Einrichtungen. Stufenweiſe Entwicke · 
lung der Inflinfte und Seelenthätigkeiten. Entſtehung der aprioriſchen Et- 
tenntniſſe aus apoſterioriſchen. Erforderniſſe für das richtige Verſtändniß der 
Abſtammungslehre. Nothweudige Wechſelwirkung der Empirie und Philoſo- 
phie. Beweiſe für die Deſcendenztheorie. Innerer urfächlicher Znfammenhang 
aller biofogifchen Erfheinungsreigen. Der birefte Veweis der Selections- 
theorie. Berhältniß ber Defcendenztheorie zur Anthropelogie. Beweiſe für 
den thierifhen Urfprung des Dienfhen. Die Pithekoidentheorie als untrenn- 
barer Beftandtheil der Defeendenztheorie. Induction und Debuction. Gtufen- 
weife Entroidelung des menſchlichen Geifted. Körper und Geiſt. Menfden- 
feele und Thierfeele. Bid in die Zukunft. 


weriianit Ber im Texte mit Ziffern angeführten Suhrit 


Ps PRAG or.“ .o.. 
Taf. I. Rehentgefäjichte eine einfadhfien Organismus, inet Dimenes 
(Protomyza aurantiaca) . 2 22... 
Taf. II und III. Keime oder Embryonen von vier Birbetfieren (Si- 
kröte, Huhn, Hund, Mena) oo rennen 
Xaf. IV. Hand von neun verfchiebenen Gäugethieren . - - - 
Taf. V. Stammbaum des Pflanzenreichs, valäonttagf, begründet” 
Taf. VL. Geſchichtliches Wechethum ber ſeche Thierflämme . . . . 
Taf. VII. Gruppe von Pflanzenthieren im DMittelmeere . - » » - 
Taf. VIII und IX. Generationwediiel der Steruthiere - « - - » 
Taf. X und XI. Entwidelungegeſchichte der Kreböthiere oder Cruſtaceen 
Taf. XII und XII. Entvidelungsgefehichte der Abeidit und bes Amphiorus 
Taf. XIV. Stammbaum bes Wirbelthierſtammes, paläontologifch be · 
ae nn Er 
Taf. XV. bopechence Otte de monopgtaiihen Urprange un ber 
Berbreitung der zwölf Menſchen · Species von Lemurien aus über bie 
(BEE on. 
Taf. XVI. Eunvidelungegeſchichte eine® Raftfeitvammes (Ofyutgut) - 
Besiier . - 2 Core rennen 


Borwort 
surerften Auflage 





Die vorliegenden freien Vorträge über „natürliche Schöpfungs- 
geſchichte/ find im Winterfemefter 1894 vor einem aus Raien und 
Studirenden aller Facultäten zufammengefepten Publitum bier von 
mir geha,.en, und von zweien meiner Zuhörer, den Studirenden Hörn- 
lein und Römbeld, ftenographirt worden. Abgefehen von den redactio- 
nelien Veränderungen bes ftenographifchen Manuferipte, habe ih an 
mehreren Stellen Erörterungen mweggelaffen, welche für meinen enge- 
ven Zuhörerfreiß von befonderem Interefie waren, und dagegen an 
anderen Stellen Erläuterungen eingefügt, welche mir für den weis 
teren Leſerkreis erforderlich fihienen. Die Abkürzungen betreffen ber 
ſonders die erfte Hälfte, die Zufäge dagegen die zweite Hälfte der 
Vorträge. Der XV., XVL, XVII und XVII. Bortrag, welche ur- 
ſprũnglich zufammen nur zwei Vorträge bildeten, find gänzlich um⸗ 
gearbeitet und bebeutend erweitert worben. 

Die „natürlide Schoͤpfungsgeſchichte oder richtiger ausgedrückt: 
Die „natürliche Entwidelungslehre“, deren felbftftändige Förderung 
und weitere Verbreitung den Zwechk dieſer Vorträge bildet, ift feit 
nun bald zehn Jahren durch die große Geiſtesthat von Eharles 
Darwin in ein neued Stadium ihrer Entwidelung getreten. Was 
frühere Anhänger berfelben nur unbeftimmt andeuteten ober ohne Er- 
folg ausſprachen, was ſchon Wolfgang Goethe mit dem prophetic 
ſchen Genius des Dichters, weit feiner Zeit voraudeilend, ahnte, was 


.. 


XVII Borvort zur erſten Auflage. 


Jean Lamard bereitd, unverftanden von feinen befangenen Zeit- 
genoffen, zu einer Maren wiflenfchaftlihen Theorie formte, das ift 
dur das epochemachende Wert von Charles Darwin unver 
äußerliches Erbgut der menschlichen Erkenntniß und die erfte Grund» 
lage geworben, auf der alle wahre Wiſſenſchaft in Zukunft weiter 
bauen wird. „Entwidelung“ heißt von jept an dad Zauberwort, 
durch das wir alle und umgebenden Räthfel löfen, ober wenigſtens 
auf den Weg ihrer Loſung gelangen können. Aber wie Wenige baben 
diefed Loſungswort wirflich verftanden, und wie Wenigen ift feine 
weltumgeftaltende Bedeutung Mar geworden! Befangen in der mythir 
hen Tradition von Jahrtaufenden, und geblendet durch den falfchen 
Glanz mächtiger Autoritäten, haben felbft hervorragende Männer der 
Wiſſenſchaft in dem Siege der Entwidelungstheorie nicht den größten 
Fortſchritt, fondern einen gefährlichen Rüdfhritt der Naturwiſſenſchaft 
erblidt, und namentlich den biologifchen Theil derfelben, die Abſtam ⸗ 
mungälehre oder Deftendenztheorie, unrichtiger beurtheilt, als der ges 
funde Menſchenverſtand des gebildeten Laien. 

Dieſe Wahrnehmung vorzüglich war es, welche mich zur Ber- 
öffentlichung diefer gemeinverftändlichen wiſſenſchaftlichen Borträge be⸗ 
ftimmte. Ich hoffe dadurd der Entwidelungslehre, welche ich für 
die größte Eroberung des menſchlichen Geiftes halte, manchen An« 
haͤnger auch in jenen Kreifen der Geſellſchaft zuzuführen, welche zu- 
nãchſt nicht mit dem empiriſchen Material der Naturwifienfhaft, und 
der Biologie insbeſondere, näher vertraut, aber durd ihr Intereffe 
an dem Naturganzen berechtigt, und dur ihren natürlichen Men- 
ſchenverſtand befähigt find, die Entwidelungstheorie zu begreifen, und 
als Schlüffel zum Berftändniß der Erfcheinungswelt zu benugen. Die 
Form der freien Borträge, in welcher hier die Grundzüge der allge 
meinen Entwickelungsgeſchichte behandelt find, hat mancherlei Rad 
tbeile. Aber ihre Vorzüge, namentlich der freie und unmittelbare 
Verkehr zwiſchen dem Bortragenden und dem Zuhörer, überwiegen 
in meinen Augen die Nachtheile bedeutend. 

Der lebhafte Kampf, weldyer in den fepten Jahren um die Ent 


Vorwort zur erften Auflage. XIX 


widelungslehre entbrannt ift, muß früher oder fpäter nothwendig 
mit ihrer allgemeinen Anerkennung endigen. Diefer glängendfte Sieg 
des erfennenden Berftandes über das blinde Vorurtheil, der höchfte 
Triumph , den der menfchliche Geift erringen konnte, wird ſicherlich 
mehr als alle8 Andere nicht allein zur geiftigen Befreiung , fondern 
auch zur fittlichen Bervolltommnung der Menſchheit beitragen. Zwar 
haben nicht nur diejenigen engherzigen Leute, die als Angehörige 
einer bevorzugten Kafte jede Verbreitung allgemeiner Bildung über- 
haupt feheuen, ſondern auch wohlmeinende und edelgefinnte Männer 
die Befürchtung ausgeſprochen, daß die allgemeine Verbreitung der 
Entwieelungstheorie die gefährlichften moralifhen und focialen Fol- 
gen haben werde. Nur die fefte Ueberzeugung, daß diefe Beſorgniß 
ganzlich unbegründet iff, und daß im Gegentheil jeder große Fort 
ſchritt in der wahren Naturerkenntniß unmittelbar oder mittelbar auch 
eine entfprechende Bervolltommnung des fittlihen Menſchenweſens 
herbeiführen muß, fonnte mich dazu ermuthigen, die wichtigſten 
Grundzüge der Entwidelungstheorie in der hier vorliegenden Form 
einem weiteren Kreife zugänglich zu machen. 

Den wißbegierigen 2efer, welcher ſich genauer über die in diefen 
Borträgen behandelten Gegenftände zu unterrichten wünſcht, vermeife 
ich auf die im Terte mit Ziffern angeführten Schriften, welche am 
Schluſſe deffelben im Zufammenhang verzeichnet find. Bezüglich der- 
jenigen Beiträge zum Ausbau der Entwidelungsfehre, welche mein 
Eigenthum find, verweife ich insbeſondere auf meine 1866 veröffent- 
lite „Generelle Morphologie der Organismen” (Erfter Band: All- 
„gemeine Anatomie oder Wiffenfhaft von den entwidelten Formen; 
Zweiter Band: Allgemeine Entroidelungagefhichte oder Wiſſenſchaft 
von dem entftehenden Formen). Died gilt namentlich von meiner, 
im erften Bande ausführlich begründeten Individualitätslehre und 
Grundformenlehre, auf welche ich in diefen Vorträgen nicht eingehen 
tonnte, und von meiner, im zweiten Bande enthaltenen mechanifchen 
Begründung des urfächlihen Zufammenhangs zwiſchen der indivi- 
duellen und der paläontologifhen Entwickelungsgeſchichte. Der Lefer, 


**2 


xx Vorwort zur erften Auflage. 
welcher ſich fpecieller für das natürliche Syſtem der Thiere, Pflanzen 
und Protiften, ſowie für die darauf begründeten Stammbäume inter 
effirt, findet darüber das Nähere in der foftematifchen Einleitung zum 
zweiten Bande der generellen Morphologie. Die entfprechenden Stel- 
len der legteren, welche einzelne Gegenftände diefer freien Borträge 
ausführlicher behandeln, find im Terte mit (Gen. Morph.) angeführt. 
So unvolltommen und mangelhaft diefe Vorträge auch find, fo 
boffe ich doch, daß fie dazu dienen werben, das ſegensreiche Licht der 
Entwidelungslehre in weiteren Kreifen zu verbreiten. Möchte dadurch 
in vielen denfenden Köpfen die unbeftimmte Ahnung zur klaren Ger 
wißheit werden, daß unfer Jahrhundert durch die endgültige Begrün- 
dung der Entwidelungätheorie, und namentlich durch die Entdeckung 
des menſchlichen Urfprung®, den bedeutendften und ruhmvollſten 
Wendepunkt in der ganzen Entwidelungsgeſchichte der Menfchheit 
bildet. Möchten dadurd viele Menſchenfreunde zu der Ueberzeugung 
geführt werden, wie fruchtbringend und fegendreich diefer größte Fort ⸗ 
ſchritt in der Erkenntniß auf die weitere fortfchreitende Entwidelung 
des Menfchengefchlehts einwirken wird, und an ihrem Theile wert 
thätig zu feiner Ausbreitung beitragen. Möchten aber vor Allem da- 
durch recht viele Tefer angeregt werden, tiefer in das innere Heilig- 
thum der Natur einzudringen, und aus der nie verfiegenden Quelle 
der natürlichen Offenbarung mehr und mebr jene höchſte Befriedigung 
des Verftanded durch wahre Raturerfenntniß, jenen reinften Genuß 
des Gemüthes durch tiefes Raturverftändnig, und jene fittliche Ber- 
edelung der Vernunft durch einfache Naturreligion fhöpfen, welche 
auf- feinem anderen Wege erlangt werben fann. 


Jena, am 18" Auguft 1868. 
Eruſt Heinrig Haedel. 


Beſonderes Inhaltoverʒeichniß. 


Zweiundzwanzigſter Vortrag. 


uUrſprung und Stammbaum bes Menſchen. 

Die Anwendung ber Defeendenztheorie auf den Menſchen. Unermeßliche 
Bedeutung und logiſche Nothwendigkeit derfelben. Stellung des Menfchen 
im natürlichen Syftem der Thiere, insbeſondere unter den diecoplacentalen 
Sãugethieren. Unberechtigte Trennung der Bierhänder und Zweihänder. Be- 
rechtigte Trennung der Halbaffen von den Affen. Stellung des Menfchen 
in der Orbuung der Affen. Schmalnafen (Affen der alten Welt) und Blatt- 
nafen (amerifanifce Affen). Unterſchiede beider Gruppen. Gntftehung des 
Menſchen aus Schmalnafen. Menfchenaffen oder Anthropoiden. Afrikaniſche 
Menſchenaffen (Gorilla und Schimpanfe). Aſiatiſche Menfchenaffen (Orang 
und Gibbon). Vergleichung der verſchiedenen Dienfchenaffen und der ver- 
ſchiedenen Menſchenraſſen. Ueberficht der Ahnenreihe des Menſchen. Wirbel- 
loſe Ahnen (Prochordaten) und BWirbelthier- Ahnen. 


Dreiundzwanzigfier Vortrag. 


Wanderung und Werhreitung bes Menfhengefciehtt. 
Men ſchenarten und Menfbenraflen . . . . ..... . 
Alter des Menſchengeſchlechts. Urſachen der Entſtehung befielben. Der 
Urfprung der menſchlichen Sprade. Cinftänmiger (monophyletifcher) und 
viefftämmmiger (polyphyletiſcher) Urſprung bes Menſcheugeſchlechts. Abftam- 
mung.der Menſchen von vielen Paaren. Kaffifilation ber Menfchenraffen. 
Syſtem der zwölf Menfcenarten. Woellhaarige Menſchen oder Ulotrichen. 
Baſchelhaarige Paxia s, Oottentotten). Bließhaarige (Kaffen, Neger). 
Sqhlichthaarige Menſchen eder Liſſotrichen. Straffhaarige (Auftralier, Mar 
layen, Mongolen, Arttiter, Ameritauer). Rodenhaarige (Dravidas, Rubier, 
Witteläuder). Benölterungezahlen. Urheimath des Meuſchen (Sübafien oder 
Lemurien). Beſchaffenheit des Urmeuſchen. Zahl der Urſprachen (Monoglot- 
tonen und Bolggfottonen). Divergenz und Wanderung des Menſchengeſchlechts. 
Eeographiſche Verbreitung der Menſchenarten. 


Einwande gegen und Beweiſe für bie Wahrheit der De 
deendengtRenzie ı ı ı no rn rennen 
Einwände gegen die Abftammungslehre. Einwände des Glaubens und 


598 


687 





xv Beſonderes Inhaltsverzeiätiß. 


Gliederkrebſe, Banzerkrebfe). Luftröhrenathmende Gliederthiere oder Txadjen- 
ten. Spinnen (Stredfpinnen, Rundfpinnen). ZTaufendfüßer. Inſelten. 
Kauende und faugende Infetten. Stammbaum und Gefchidhte der acht In- 
Jetten - Orbnungen. 


Bwanzigfter Vortrag. 


Stammbaum und Geſchichte bes Thierreichs. II. Michel: 
tbire » 2. 2.220000. 
Die Schöpfungsurkunden ber Wirbelthiere. (Vergleichende Anatomie, 
GEmbryologie und Paläontologie.) Das natürliche Syftem der Wirbelthiere. 
Die vier Aaffen der Wirbelthiere von Linn und Lamard. Vermehrung der- 
felben auf neun Klafjen. Hauptflafie der Rohrherzen oder Schädellofen (Lan- 
zetthiere). Blutsverwandtſchaft ber Schäbellofen mit den Mantelthieren. Ueber · 
einfiimmung der embryenalen Entwidelung von Amphiorus und von dem 
Ascidien. Urfprung des Wirbelthierſtannues aus der Wirmergruppe. Haupt- 
Maffe der Unpaarnafen oder Rundmäuler (Inger und Yampreten). Haupt · 
Maffe der Auamnien oder Anmionlofen. Fiſche Urfifche, Schmelzfiſche, Auo- 
cheufiſche. Lurchfiſche oder Dipneuften. Seedraden oder Halifaurier. Lurche 
oder Amphibien (Panzerlurde, Radtlurde). Hauptklaſſe der Amnionthiere 
oder Amnioten. Reptilien (Stammreptilien, Eidechſen, Schlangen, Erocobile, 
Schildkröten, Flugreptilien, Draden, Schnabelreptifien). Vögel (Fieder⸗ 
Ndnvängige , Facherſchwäuzige, Büfcelichwänzige). 


Einundzwanzigkier Vortrag. 


Stammbaum und Geſchichte des Thierreichs. IV. Bänge 
thiere..... ... 
Zyftem ber Säugethiere nad) Linne und nach Blainville. Drei umer. 
Mafien der Säugethiere (Ornithodelphien, Didelphien, Monodeiphien). Ormi- 
thodelphien oder Momotremen. Schnabelthiere Ormithoftemen). Didelphien 
oder Marfupialien. Pflanzenfreſſende und Reifchfrefiende Beutelthiere. Mo - 
nobelphien oder Placentalien (Placentalthiere). Bedeutung der Placenta. 
Bottenplacentner. Gürtelplacentner. Scheibenplacentuer. Deribualofe oder 
Zmeibunn Hufthiere. Unpearhufer und Paarhufer. Waltgiere. Zapn- 
. Zeeidusthiere oder Detiduaten. Helbaffen. Nogethiere. Schein- 

Aue. Infettenfrefler. Raubthiere. Flederihiere. Affen. 


502 


Beſonderes Inhalteverʒeichniß. 


Zweiundzwanzigſter Vorteng. 

Urfprung und Stammbaum bes Menfhen . . - - - - 

Die Anwendung der Defeendenztkeorie auf den Menſchen. Unermehliche 
Bedeutung und Togifche Nothwendigieit derfelben. Stellung des Menſchen 
im natürlien Syftem der Tiere, in&befondere unter ben biscopfacentalen 
Säugethieren. Unberechtigte Trennung der Vierhänder und Zweihänder. Be- 
rechtigte Trennung der Halbaffen von den Affen. Stellung des Menſchen 
in der Ordnung der Affen. Schmalnafen (Affen ber alten Welt) und Platt- 
nofen tameritanifche Affen). Unterfchiede beider Gruppen. Eutſtehung des 
Menſchen aus Schmalnafen. Menfcenaffen oder Anthropoiden. Afritanifche 
Menſchenaffen (Gorilla und Schimpanfe). Aſiatiſche Menfchenaffen (Orang 
und Gibbon). Vergleichung der verſchiedenen Menſchenaffen und ber ver- 
fchiebenen Menſchenraſſen. Ueberficht der Ahnenreihe des Menſchen. Wirbel· 
loſe Ahnen (Prochordaten) und Wirbelthier⸗ Ahnen. 


Dreiundzwanzigfier Vortrag. 


Wanderung und WBerbreitung bes Menfhengefölehtt. 
Menfigenarten. und Menibenraflen . . ...... 
Ater des Menſchengeſchlechts. Urfachen der Eutſtehung beffelben. Der 
Urfprung ber menſchlichen Sprade. Ginftämmiger (monophyletiſcher) und 
viefftäumniger (polyphyletifcher) Urſprung des Menſchengeſchlechts. Abftam- 
urung. der Menſchen von vielen Paaren. Klaſſifilation der Menfchenraffen. 
Syſtem der xvelf Menſchenarten. Wollhaarige Denfcen oder Motrichen. 
Büfchelhanrige ¶Payuas, Hottentotten). Bliekhaarige (Kaflem, Neger). 
Schlichthaarige Menſchen der Liffotrichen. Straffhaarige (Auftvalier, Mar 
layen, Mongolen, Arttiler, Ameritauer). Lodenhaarige (Dravidas, Rubier, 
Deittelländer). Benölterungbjaflen. Uxheimath des Menfchen (Sübafien oder 
Lemurien). Beichaffenheit des Urmeuſchen. Zahl der Urſprachen (Monoglot- 
tonen uıtb Polygfottonen). Divergenz und Wanderung des Menſchengeſchlechts. 
Geographiſche Verbreitung der Menfhenarten.. . . . 


Vierundzwanzigfter Vortrag. 


Einwände gegen und Beweife für die Wahrheit der De- 
feendengthenzie ı ı ı yo rer ren ee 
Einwande gegen die Abftammungelchre. Einwände des Glaubens und 


593 


627 


xXXIV Borwort zur dritten Auflage. 

Schlimmer ift es, daß fih Herr Rütimeyer in feinem Zorned« 
eifer gegen die „Natürliche Schoͤpfungsgeſchichte fo weit verfteigt, 
die wichtigſten und ihm felbft wohlbefannten wiffenfhaftlihen That- 
fachen zu leugnen, bloß weil ich darauf das größte Gewicht Tege. 
So feugnet er z. B. die formale Identität der Eier und der jungen 
Embryonen des Menfchen und der nädhftvermandten Säugethiere. 
Das kein Menfch im Stande ift, das menfchlihe Ei von demjenigen 
der nächftverwandten Säugethiere auch mit Hülfe der beften Mikro- 
ſtope zu unterſcheiden, ift eine längft befannte, wenn auch nicht ge» 
hörig gemürdigte Thatfache, die faft in jedem Handbuche der Hifto- 
logie ſteht. Ebenfo weiß längft ſchon jeder Anatom, daß die Em- 
bryonen des Menfchen felbft noch in den von mir auf Taf. II und 
III dargeftellten Stadien nicht wefentlih von denjenigen anberer 
placentaler Säugethiere verfchieden find. Die ganze innere und 
äußere Bildung des geſchwaͤnzten Körpers, der beiden Gliedmaßen ⸗ 
paare, des Halfes mit den Kiemenbogen und Kiemenfpalten, die 
Anlage der Sinnedorgane, u. f. w. ift beim Menſchen im erften 
Monate der Entwidelung durchaus diefelbe wie bei allen anderen 
Säugethieren; und aud von derjenigen der Vögel und Reptilien, 
turz aller höheren Wirbelthiere, nicht weſentlich verſchieden. Der 
Entwidelungsgang des Keimes ift ja überhaupt bei allen Wirbel⸗ 
thieren im Wefentlihen ganz derfelbe und von demjenigen aller an- 
deren Thiere abweichend. 

Diefe embryologifhen Thatſachen find gewiß von ber 
allergrößten Bedeutung und ich für meine Perfon lege darauf 
mehr Gewicht, als auf alle andern biologiſchen Erſcheinungen ımd 
auf alle andern Beweife für die Wahrheit der Abftammungslehre. 
Mit vollem Rechte fagt darüber Profeſſor Hurley, einer der ver« 
dienteften, an Kenntniffen und an Verſtaͤndniß reichften Bortämpfer 
des Darwinidmug: „Obgleich diefe Thatſachen von vielen anerfann« 
ten Lehrern des Volles ignorirt werben, fo find fie doch leicht nach⸗ 
zuweiſen und mit Uebereinftimmung von allen Männern der Wiffen- 
ſchaft angenommen, (— hier hätte Profeſſor Hurley Herm Räti« 


Berwort zur dritten Auflage. xxvV 


meyer annehmen follen —), während anderſeits ihre Bedeutung 
fo groß ift, daß Diejenigen, welche fie gehörig erwogen haben, 
meiner Meinung nad) wenig andere biologifche Offenbarungen fin- 
den werden, die fie überrafchen können.” Als Beweis dafür, daß 
diefe embryologifchen, von Rütimeyer geleugneten Thatfachen ſchon 
längft befannt find, führe ich für Laien noch an, daß Bär, ber 
größte Ontogenift unſeres Jahrhundert, ſchon 1828, alfo vor 46 
Jahren, folgende Säge außfpricht: „Die Embryonen der Säugethiere 
¶ mit Inbegriff des Menfhen —), Vögel, Eidechfen und Schlan- 
gen, wahrfcheinlich auch der Schildkröten find in früheren Zuftänden 
einander ungemein ähnlih, im Ganzen fowie in der Entwidelung 
der einzelnen Theile; fo ähnlich, dag man oft die Embryonen nur 
nad) der Größe unterfcheiden kann. Sch befipe zwei Meine Embryo⸗ 
nen in Weingeift, für die ich verfäumt habe, die Namen zu notiren, 
und id bin jegt durchaus nicht im Stande, die Klaffe zu beftim« 
men, der fie angehören. Es tönnen Eidechfen, feine Vögel, ober 
ganz junge Säugethiere fein. So übereinftimmend ift Kopf- und 
Rumpfbildung in diefen Thieren. Die Ertremitäten fehlen aber jenen 
Embryonen noch. Wären fie auch da, auf der erften Stufe der Aus- 
bildung begriffen, fo würden fie doch nicht ehren, da die Füße der 
Eidechfen und Säugethiere, die Flügel und Füße der Vögel, fowie 
die Hände und Füge der Menfchen, fi) aus derfelben Grundform 
‚ entmideln.” 

Wie wenig übrigens diefe höchft wichtigen Thatfachen der On- 
togenie noch gewürdigt werden, und wie felbft unter den Fachmaͤn⸗ 
nen ihre wahre Bedeutung noch verfannt wird, geht am deutlich⸗ 
ſten aus der verfehiedenartigen Beurtheilung bervor, welche das 
Grundgeſeß der organiſchen Entwickelung gefunden hat, 
das Gefep von dem Cauſal⸗Nexus zwiſchen Ontogenie und 
Phylogenie. ch habe dieſes „biogenetiſche Grundgeſetz“ in mei⸗ 
ner generellen Morphologie an die Spite der allgemeinen Entwide- 
lungsgeſchichte geftellt, weil nad) meiner Ueberzeugung das ganze 
innere Verftändniß der Entwidelungsgeſchichte davon abhängt. Als 


XXVI Vorwort zur dritten Auſlage. 


Beiſpiel der erſtaunlichſten Verklennung dieſes Grundgeſetzes führe ih 
nur einen Anatomen an, welcher ſelbſt ontogenetiſche Unterſuchungen 
mit großem Fleiße (mern auch leider ohne morphologiſches Urtheil) 
angeftellt hat, Profeilor His in Bafel. Derſelbe veröffentlichte vor 
taum zwei Jahren eine Rede „über die Bedeutung der Entwide- 
lungogeſchichte für die Auffaffung der organiſchen Natur“, aus wel« 
her nur hervorgeht, daß derjelbe von diefer Bedeutung feine Ahnung 
hat. Statt den tiefen urfählihen Zufammenhang zwiſchen Onto- 
genie und Phylogenie, zwifhen Reimesgefhichte und Stam- 
mesgefchichte anzuerkennen, und ftatt darin „eine phyfologifche 
Erklärung der von der Entwicelungsgeſchichte beobachteten TIhat« 
ſachen zu erbliden, hält Profeſſor His jenes wirklich mechaniſche 
„biogenetifhe Grundgeſeß“ für eine unbegründete Hypotheſe, und 
ſtellt ſtatt deſſen eine angeblih „mechanifhe” Theorie der Onto⸗ 
genie auf, welche jeder klar urtheilende, mit den Thatfachen der 
vergleihenden Anatomie und Ontogenie befannte Zoologe 
nur mit einem Lächeln betrachten kann. So z. 2. foll die Anlage 
der vier Gliedmaßen bei den Wirbelthier- Embryonen (Taf. II und 
III) „den vier Eden eines Briefed ähnlich, beftimmt werden durch 
die Kreuzung von vier den Körper umgrenzenden Falten“! Es iſt 
aber harakteriftiich für die Urtheilsloſigkeit unferer Zeit, daß man 
ſolche wunderliche Einfälle als große Fortſchritte bewundert und dabei 
den allein zum Ziele führenden und von Darwin fo ar vorge 
zeichneten Weg verſchmaͤht. 

Es erfcheint überflüffig, hier auf die Maffe von größeren und 
tleineren Schriften einzugehen, welche in lepter Zeit wieder geradezu 
gegen den Darwinismus und gegen die Entwidelungslehre über 
haupt, fowie gegen meine Darftellung derfelben in der natürlichen 
Schoͤpfungsgeſchichte gerichtet worden find. Die allermeiften diefer 
Schriften find fo dilettantiſch gefchrieben, fo ohne gründliche Kennt- 
niß der großen Ihatfachen- Reihen, auf welche ſich die ganze Ent- 
widelungätheorie ftüpt, daß man fie getroft der verdienten Vergeilen- 
heit anheimgeben fann, von der fie ohnehin bald ereilt werden. 


Vorwort zur dritten Auflage. \ XXVII 


Jeder beliebige Laie glaubt über die Deſcendenz -Theorie und ihre 
Anwendung auf den Menfchen fofort abfprechen zu können; glaubt 
doc Jedermann von felbft hinreichend zu willen, was überhaupt 
der Menſch eigentlich für ein Wefen ift, und weiß doch jeder Ein- 
zelne ganz ficher, daß er perfönlih „nicht vom Affen abftammt”. 
Daß aber das naturwiifenfhaftlihe Studium des menfchlihen Or⸗ 
ganismus das fhwierigfte von allen ift, daß die ganze Lörperliche 
und geiftige Beichaffenheit des Menfchen nur durh die Entwicke⸗ 
lungsgeſchichte, nur durch Vergleichung derfelben mit der körper« 
lien und geiftigen Beſchaffenheit der übrigen Thiere erfannt werden 
tann, davon wollen die Wenigften etwas willen. Und doch ift es 
ganz unzweifelhaft, daß die ganze Anthropologie nur ein 
fpecieller Zweig der Zoologie ift, und daß alfo die verglei« 
ende Anatomie und Phyfiologie, und vor allem die Entwide- 
lungsgeſchichte für erftere wie für feßtere die unentbehrlichfte 
Baſis ift. Daher erhebt ſich faft die ganze neuere „Anthropologie“ 
und „Ethnologie“, wie fie jept in umfangreichen Zeitfchriften und 
von zahlreichen „wiflenfhaftlichen” Geſellſchaften cultivirt wird, nicht 
über den Rang eines halbgebildeten Dilettantismus. Erft wenn 
diefelbe anfangen wird, fih auf den Boden der vergleichenden 
Zoologie zu ftellen, erft wenn jeder „Unthropolog” und „Ethno- 
log“ wenigftend mit den Grundzügen der vergleichenden Anatomie 
und Ontogenie befannt fein wird, erft dann wird die Lehre vom 
Menſchen ihren wohlverdienten Pla an der Spige der übrigen 
Natuwiſſenſchaften einnehmen. 

Wie weit die Anthropologie von diefem Ziele noch entfernt ift, 
und wie wenig fie geneigt ift, ihre natürliche Mutter, die Zoologie, 
und ihre unentbehrlihe Führerin, die Defcendenz- Theorie, als ſolche 
anzuerennen, davon legen zahlreiche der noch jüngft gegen leptere 
geripteten Angriffe Zeugniß ab. Unter biefen möchten wir aus— 
nahmaweife einen einzigen bier der Dergefienheit entreigen, weil er 
in draftifher Form beweift, was man dem anthropologifchen Publi« 
tum als „wiſſenſchaftliche Ethnologie” bieten darf, und wie man 


xxvm Borwort zur dritten Auflage. 


noch gegenwärtig in diefen Dilettanten - Rreifen die Entwidelungd- 
lehre, die umentbehrlihe Grundlage aller biologiſchen Forfhungen, 
behandelt. Ich meine die Aeußerungen des Berliner Ethnographen 
Baftian, die unter den zahllofen albernen und findifchen Angriffen 
gegen den „Darwinismus” faft alle andern an Berfehrtheit und Un- 
verftand übertreffen. Diefer Umftand erfcheint aber deshalb hier hoch⸗ 
tomiſch, weil er im Gewande der ftolzeften Philofophie, verbrämt mit 
der hochtrabendften Phrafeologie einherfchreitet. Man höre: z. B. nur 
folgende „kindiſche Faſeleien“: „Alle Fehler der teleologiihen Glau⸗ 
bensrichtung aus vermeintlich übernwundenen Standpunften wieber- 
holend, fällt die Defcendenz«Theorie in findifche Fafeleien, wenn fie in 
dem Wiffensftüchvert auf unferm Erdenwinkel den Plan ded Welt⸗ 
geſehzes durchſchauen zu können meint, und die aufftrebende Ent- 
mwidelung von Protoplaſsmen bis zum Menſchen weiter führt.” 
Herr Baftian weiß hiernach nicht einmal, daß er felbft im Be- 
ginne feiner individuellen Exiſtenz, gleich allen andern Menfchenfin- 
dern, eine einfache Zelle, d. h. ein Protoplasma-Kügeldden mit einem 
Keme war! Er begreift nicht einmal den fundamentalen Gegenfap 
zwiſchen der teleologifhen Dogmatit, die einem weißheitövollen „Plan 
des Schöpfer® nachfpürt, und der mechanifchen Defcendenz- Theorie, 
welche gerade umgefehrt das Weltgeſetz“ der nothwendigen Caufa- 
fität an die Stelle des vergeblich gefuchten „Planes der Schöpfung‘ 
fegen will. Man höre ferner folgenden Erguß „babylonifcher Sprach ⸗ 
und Begriffd- Verwirrung” (die gerade bei diefem Bombaftus biß zu 
einem bedentlichen Stadium gediehen ift!): „Die Anthropologie hat 
ih heutzutage die umgekehrte Pyramide der Evolutions - Theorie 
zufammengelleiftert, einen buntfchedigen Göpenthurm, der manden 
werthoollen Bauftein der Transmutationslehre entlehnt hat, aber 
zunaͤchſt feine Verehrer mit babylonifcher Sprachs- und Begriffe- 
Verwirrung zu ſchlagen feheint!" Doc mag der Leſer die „mehr 
findifhen als barbarifchen Borftellungen” des Herm Baftian über 
organifhe Gntwidelung lieber in feinen eigenen „geiftlofen Wafler- . 
fuppen”, in feinen fchroüfftigen „Flunkeleien“, übergoffen mit dem 


Vorwort zur britten Auflage. XXRX 


ihm eigenen „ſchaalen Raifonnement” (— wir gebrauchen überall feine 
eigenen Worte! —) nachlefen, um fi von der Gerechtigkeit unſeres 
harten Urtheils zu überzeugen. Alles, was gegen die Entwidelungs- 
theorie überhaupt und gegen ihre Anwendung auf den Menfchen 
in8befondere von den verfchiedenften Seiten eingewendet worden ift, 
alle Unwiſſenheit in den Thatſachen der Entwickelungsgeſchichte, alle 
Unfähigfeit zu ihrem Verſtaͤndniß, aller Mangel an philoſophiſcher 
Ertenntniß der Erſcheinungswelt — kurz alle Schwächen unferer Geg- 
ner — finden fi in dem grenzenlo8 confufen Schriften des Herm 
Baftian vereinigt, deffen einzige Stärke in einem außerordentlihen 
Thatfachen - Gedächtnig — leider ohne jedes klare und geordnete 
Verſtaͤndniß der Thatſachen — befteht. Man lefe namentlich die 
hoͤchſt komiſche Kritit, welche derfelbe im dritten Bande der Berliner 
„Zeitfchrift für Ethnologie” (©. 133 — 143 und ©. 349—359) über 
Darwin's neueftes Werk gegeben hat, und worin er Iepteres ala 
„Träume eined Mittagsfchläfchen®‘ bezeichnet! Für mich felbft war 
jedoch die Lertüre dieſes feichten Geſchwaͤtes infofern fehr erfreulich, 
als ih darin nur eine treffende Beſtätigung des fchon 1866 von 
mir auögefprocdhenen Satzes fand: „Intereffant und lehrreich ift der 
Umftand, daß befonder® diejenigen Menfchen über die Entdeckung 
der natürlichen Entwidelung des Menſchengeſchlechts aus echten Affen 
am meiften empört find und in den heftigften Zorn gerathen, welche 
offenbar hinſichtlich ihrer intelfectuellen Ausbildung und cerebralen 
Differenzirung ſich bisher noch am wenigften von unferen gemein 
famen tertiären Stammeltern entfernt haben.“ 

Unter den in den legten zwei Jahren erfchienenen Schriften, die 
ala wahre Bereiherungen der Entwidelungslehre zu begrüßen find, 
zeichnet ſich vor allen Earl Gegen baur's klaſſiſches Werk über ver- 
gleichende Anatomie aus. Mit vollem Rechte bemerkt diefer verdienft- 
volle Raturforfcher, welcher die vergleichende Anatomie der Gegenwart 
beberrfcht: „An der vergleihenden Anatomie wird die Defcendenz« 
Theorie zugleich einen Prüfftein finden. Bisher befteht feine ver- 
gleihend-anatomifche Erfahrung, die ihr widerſpraͤche; vielmehr füh- 


XXX Vorwort zur dritten Auflage. 


ren uns alle darauf hin. So wird jene Theorie das von der Wiſſen⸗ 
haft zurüctempfangen , was fie ihrer Methode gegeben hat: Klarheit 
und Sicherheit. Die Defcendenz - Theorie wird eine neue Periode in 
der Gefchichte der vergleichenden Anatomie beginnen. Sie wird fogar 
einen bedeutenderen Wendepunft bezeichnen, als irgend eine Theorie 
in diefer Wiſſenſchaft vorher vermocht hat: denn jie greift tiefer als 
alle jene, und es giebt faum einen Theil der Morphologie, der nicht 
aufs Innigfte von ihr berührt würde.“ 

„Bererbung und Anpaffung find die zwei wichtigen Mo- 
mente, au8 denen fowohl die Mannichfaltigkeit der Drganifation als 
das Gemeinfame derfelben verftändlich wird. Auf dem Standpunfte 
der Defcendenz« Theorie hat die „Berwandtfchaft” der Organismen 
ihre bilbliche Bedeutung verloren. Wo wir dur) präcife Vergleihung 
nachgewieſene Uebereinftimmung der Organifation treffen, deutet diefe, 
als eine vererbte Erfheinung, auf gemeinfame Abftammung hin. 
Durch die mannichfachen aus der Anpaffung erworbenen Umwand⸗ 
lungen die Organe Schritt für Schritt zu verfolgen, wird zur Aufgabe.” 

Gegenbaur felbft hat die hier von ihm bezeichnete Aufgabe 
glängend gelöft, und vor Allem in dem wichtigften, intereffanteften 
und ſchwierigſten Theile der vergleichenden Anatomie, in derjenigen 
der Wirbelthiere. Er hat alle die verfhiedenen Gliedmaßen « or« 
men der Wirbeithiere, deren hohe Bedeutung auf ©. 363 und dur 
Taf. IV angedeutet ift, auf ihr gemeinfames Urbild zurädgeführt, und 
als divergente, durch Anpaffung erworbene Modificationen einer eine 
zigen erblichen Urform nachgewieſen. Cr hat erft Die wahre Natur der 
Wirbelfäufe und de Schädeld erkannt, die berühmte „Wirbeltheorie 
des Schädel” (©. 75) durch die viel tiefer begründete Reduction 
der Gehirn ⸗ Nerven auf die Rüdenmarkd- Nerven erfept; und uns 
überhaupt die weſentlichſten Anhaltspunkte für die Begründung des 
Wirbelthier- Stammbaum geliefert. 

Diefe neue vergleichende Anatomie, wie fie in den Arbeiten von 
Gegenbaur und Hurley begründet iſt — nicht die „verpleichende 
Anatomie ohne Bergleihung”, wie fie gewöhnlich jept gelehrt reird — 


Borwort zur dritten Auflage. XXXI 


gehört zu den wichtigſten Stügen der Defcendenz « Theorie und bringt 
in das Chaos der morphologifhen Thatſachen die ermünfchte Klarheit. 

Die vergleichenden Anatomen der älteren Schule haben dieſe 
Klarheit vergeblich eritrebt, weil fie den von Ramard ihnen ger 
botenen, erflärenden Grundgedanfen der Defcendenz» Theorie nicht 
anerfannten. Eine Ausnahme bilder jedoch Goethe, den ich als 
einen der erften Begründer der Defcendenz- Theorie neben La marck 
und als einen der bedeutendften Vorläufer Darmwin's hervorheben zu 
müffen glaube. Allerdings ift diefe Auffaffung nicht unbeftreitbar und 
auch kürzlich mehrfach angegriffen worden. Wenn ich mir aber 
Goethe'3 ganz realiftifhe, objektive Naturbetrachtung, fein „gegen- 
ſtaͤndlich thaͤtiges· Denken vergegenmärtige, und wenn ich Alles zu⸗ 
fammenfaffe, was er über „Bildung und Umbildung organifcher Na- 
turen“ gefagt hat (©. 73), fo muß ich immer wieder zu der Anficht 
jurüdtommen, daß fein „Urbild" oder „Typus“ der von der Defcendenz- 
Theorie gefuhten „Stammform“ entfpricht. Namentlich kann ich mir die 
beiden Bilbungätriebe (5.81) gar nicht anders als in, Darwiniſtiſchem“ 
Sinne deuten; und werm Goethe anerfanntermaßen mit Wolff in 
der „Metamorphofe der Pflanzen“ zufammenftimmte, alfo für die 
DOntogenie die Theorie der Epigenefe begründete, fo erfcheint es 
bei einem fo tiefen und naturverftändigen Denker nur confequent, daß 
er auch für die „Entftehung der Arten“ die gleiche „Detamorphofe“ 
annahm, d. b. für die Phylogenie die Theorie der Defcendenz 
aufftellte. Denn diefe beiden Theorien, die ontogenetifche 
Theorie der Epigenefis, und die phylogenetifhe Theorie 
der Defeendenz, find ganz untrennbar, und man ann nicht 
der einen folgen, ohne zugleich die andere anzuerfenneg. Wie Alfred 
Kirch hoff fagt, fie find „Zroillingafhweftern. Die Wahrheit dieſer 
wird, wie die jener fiegen, oder vielmehr fie hat ſchon gefiegt”! 

Jena, am 18“ März 1872. 


Eruſt Heinrich Hacdel. 


Rahmwort 


zum Bormwort der dritten Auflage. 





Veranlaßt durch die vorftehend (5. XX VII, XXIX) gegebene 
Beleuchtung feiner „Rindifchen Faſeleien· über Darwinismus und 
Entwidelungslehre hat Herr Präfident Adolf Baftian in Berlin 
im Januar 1874 einen „offenen Brief‘ an mich veröffentlicht, der 
mich hier zu einer kurzen Entgegnung nöthigt. Zunäcft muß ich 
den Irtthum Herm Baſtian's beritigen, ald ob id) einen Angriff 
gegen feine Perſon beabfichtigt habe. Diefe ift mir zum Glüd bis 
auf ben heutigen Tag völlig unbefannt und auch völlig gleichgültig. 
Ich halte mich allein an feine Drudfhriften, in denen er unabläffig 
als „ethnologifcher‘ Don Duigote auf die poſſirlichſte Weile gegen 
die von ihm gar nicht begriffene Entwidelungstehre antämpft. An« 
geſichts diefer „mit babylonifcher Sprachs « und Begriffe-Bertvirrung 
geſchlagenen · Phrafen bin ich noch heute — wie vor zwei Jahren — 
der Meinung, daß diefelben „unter den zahlloſen albernen und kin⸗ 
diſchen Angriffen gegen den Darwinismus faſt alle anderen an Ber 
fehrtheit und Unverftand übertreffen.” Lediglich deshalb hatte ich fie 
überhaupt angeführt. Allerdings hat inzwiſchen ein Marburger Bo- 
tanifer, Albert Wigand, in einem diden Buche über „ven Dar 
winismus und die Raturforfchung Newtons und Euvierd” (Braun- 
ſchweig 1874) den Berfuch gemacht, Herm Baſtians finnlofed Ge⸗ 
fafel zu überbieten, fo dag Hermann Müller in Lippftadt, der 
Verfaſſer des ausgezeichneten Werkes über „die Befruchtung der Blu- 


Nachwort zum Vorwort ber britten Auflage. XXXIII 


men durch Inſekten“ (Leipzig 1873, eines höchft wichtigen Beitrages 
zur Selectionstheorie!) mit vollem Rechte Wigand's Bud „eine 
Berleugnung klar vorliegender thatfächlicher Verhäftniffe und einen 
Hohn auf die menſchliche Vernunft nennen konnte“ (Jenaer Literatur 
Zeitung 1874, Nr. 17, ©. 250). Indefien ift es Wigand doch nisht 
gelungen, Baftian zu übertreffen. Denn obwohl auch fein Buch eine 
Fülle der erheiterndften Bermechfelungen und Miverftändniffe bietet, fo 
ift doch in feinem Unfinn eine geroiffe Methode, und man kann beim 
Leſen deſſelben wenigſtens einen gewiffen Zufammenhang der falſchen 
Borftellungen ertennen. Bei Herm Baſtian's Purzelbäumen ift dies 
aber rein unmöglich und der einzige mir bekannte Schriftfteller,, mit 
deſſen Styl-Uebungen ſich feine Quodlibet - Werte vergleichen laſſen, 
ift der befannte „Unterquartaner Carlchen Mießnid”. Der Un- 
terſchied zwifchen Beiden ift jedoch der, daß bei lepterem hinter dem 
vernunftwidrigen Sap-Gemengfel witzige Gedanken verftedt find, wäh- 
rend man bei erfterem überhaupt vergeblich nach irgend einem Maren 
Gedanken ſucht. Glüdlicherweife erflärt Herr Baftian feldft in feinem 
offenen Briefe „die Göttin Bernunft für eine unreife Frühge- 
burt, gegen deren Inthronifirung auf das Ernſtlichſte proteftirt wer- 
den muß”. Mit Bezug auf feine eigene Vernunft wollen wir diefen 
Proteft freudig theilen! 

Die ſchwerſten wiſſenſchaftlichen Vorwürfe, die mir Herr Ba- 
fian machen zu können glaubt, faßt er in folgenden Worten zu⸗ 
fammen: „Sie wollen in unferer Zeit der Induction und praftifchen 
Erperimente, der Theorie wieder einen leitenden Einfluß 
auf die Sprade der Thatfachen verfhaffen! Davor bewahre 
uns der Himmel! (Sic!) Damit aber, daß Sie noch einer Philo- 
fophie bedürfen, ſchlagen Sie ſich felbft, damit vernichten oder be= 
drohen Sie wenigftend Alles, was wir durch beſchwerlichen und 
langfamen Aufbau in ber Naturforfchung gewonnen haben. (Sic!) 
Sie verlangen eine Verbindung von empirifhen Kenntniffen und 
philoſophiſchem Verftändnig, eine innigfte Wechſelwirkung und ges 
genfeitige Durhdringung von Philofophie und Empirie. Mit fol- 

.. 


xXXXIV Nachwort zum Vorwort der dritten Auflage. 


Gen Sägen legen Sie die Art an die Wurzel unſeres vielverzweig ⸗ 
ten Wiſſensbaumes“! (Sie!) Die Wiflenfhaft muß alfo nach Herm 
Baftian umkehren! Cie darf nur Thatfahen fammeln, aber 
niemals nad deren Urſachen fragen; niemals fie zu erklären 
verſuchen! Bor allem aber darf fie nicht denken!! 

Somit wäre es eigentlich nicht nöthig, hier auf jenen „offenen 
Brief“ Etwas zu entgegnen, zumal derfelbe in der erfreulichften Weiſe 
die Richtigkeit meines Urtheil® beftätigt. Leider finden ſich jedoch in 
demfelben einige Stellen, die zeigen, daß Herm Baſtian's Kapuzi⸗ 
naden nicht ganz fo harmlos find, als fie ſcheinen. So citirt der- 
felbe 3. ®. einen meiner Säge (S. XX VIII, 3. 15 von oben) falſch, 
indem er „vor“ ftatt „im“ fept und dadurch deffen Sinn völlig ver⸗ 
tehrt. Auf feiner fepten Seite aber befchuldigt er mich „einer Direke 
ten Unwahrheit“, weil ih den Sinn eines feiner Säge richtig 
wiedergegeben habe. In Nr. 1 der Jenaer Literatur-Zeitung (dom 
3. Januar 1874) hatte ich zur Begründung meine? Urtheil® über 
Baftian angeführt, daß deſſen „neuefter Gegenbeweis gegen den Dar⸗ 
winismus in der merfwürbigen Entdedung befteht, daß ſich noch nier 
mals aus einer Spindeluhr eine Eylinderuhr entwidelt hat ()“. Daß 
diefer Sag den unzweideutigen Sinn einer längeren Phrafe von Baftian 
getreu wiedergiebt, davon kann ſich jeder Leſer überzeugen, wenn 
er biefelbe im Original vergleicht (Zeitfchrift für Ethnologie, Band 
IV, Berlin, 1872, €. 389). Allerdingd mag den geiftreichen Ber« 
fafler diefer koftbare Vergleich zwiſchen einer „in zweifelnder Halbheit 
ſchwankenden Uhr“ und einem lebendigen Organismus, „der Zeit 
bat weiter zu jungen“, fpäter wohl gereut haben. Aber damit, daß 
er ihn einfach ableugnet und mir, weil ich ihn citire, perfider Weife 
„eine direkte Unwahrheit” vorwirft, fhafft er ihm nicht aus der Welt, 
und die fatale Seite 389 bleibt ftehen. Hoffentlich treten noch viele 
Gegner der Entwidelungslehre in die Fußtapfen des Herm Präfi- 
denten Adolf Baftian und heifen fo deren Sieg befchleunigen. 

Jena, den 13'= Juli 1874. 


Eruſt Heinrich Hacdel. 


Borwort 


sur vierten Auflage 





In wenigen Monaten werden zehn Jahre verflofien fein, feit- 
dem ber Darwiniemus zum erften Male auf die Tagesordnung 
einer deutfchen Naturforicher- Berfammlung gefept wurde. Es war 
am 19. September 1863, als ich in der erften allgemeinen Berfamm- 
lung der deutichen Raturforfcher und Aerzte zu Stettin einen öffent 
fihen Bortrag „über die Entwidelungstheorie Darwin ’3" hielt. Hat⸗ 
ten mir ſchon vorber wohlmeinende und vorfichtige Freunde von 
dieſem gefährlihen Wagniſſe abgeraten, fo lernte ich doch erft nach⸗ 
ber den gangen Umfang der damit verknüpften Gefahr ermefien. 
Denn abgefehen von den Angriffen, welche mein Vortrag oder viel- 
mehr der darin vertretene Darwinismus alsbald von den verfchier 
denften Seiten erfuhr, theilte die Mehrheit der damals in Stettin 
tagenden Berfammlung dad von einigen namhaften Autoritäten 
außgefprochene Bebauern, daß man überhaupt ſolche „unwifſenſchaft⸗ 
liche Gegenftände“ wie den Darwinismus auf einem Naturforfcher- 
KRongrefie zur Sprache bringe; die ganze Darwinſche Theorie fei 
im beften Falle eine „unbetwiefene Hypotheſe, ein geiftreicher Traum”. 
Andere nannten fie „einen leeren Schwindel, ein bodenlofes Phan- 
tafiegebäude”, und meinten, daß fie „mit der Tifchrüderei und dem 
Dd in ein und daſſelbe Gebiet gehöre‘! Noch Andere beantragten, 
daß man den Darwinismus überhaupt von der ernfien wiflenfchaft- 
lichen Diecuffion ausſchließe (mie es ja auch in der biofogifchen 


“.. 


XXXVI Vorwort zur vierten Auflage. 


Literatur thatfächlih lange genug geſchehen ift). Einige Theologen 
endlich, welche der Berfammlung beiwohnten, ſchienen Luft zu 
haben, die beliebten Beweismittel der ftreitenden Kirche, Tortur und 
Scheiterhaufen, im neunzehnten Jahrhundert auf die Anhänger Dar- 
win's, die „Affen-Theoretifer“ anzuwenden. Auch würde wohl der 
Heilige evangelifhe Oberfirchenrath in Berlin, der heute vor unferen 
erftaunten Augen das mittelalterlihe Schaufpiel der Kepergerichte 
erneuert, dazu ebenfo bereitwillig feinen Segen gegeben haben, wie 
der Unfehlbare fathofifche Kirchenvater in Rom. ft doch die Igno- 
tanz und der Haß gegen die freie wiffenfchaftlihe Forſchung hier wie 
dort vom derfelben Art! 

Benn wir und heute erlauben, an jenes Stettiner Erlebniß 
zu erinnern, fo geſchieht es, um die damals hertſchende Beurthei- 
tung des Dawinismus mit feiner heutigen Geltung zu vergleichen; 
und da dürfen wir denm wohl über den gewaltigen, im legten Des 
cennium erfolgten Umſchwung unfere volle Genugthuung audfpre- 
hen. Was vor zehn Jahren noch von ber großen Mehrzahl der 
Biologen, der zunächft competenten Richter, beftritten wurde, ift 
heute von der großen. Mehrzahl derfelben anertannt. Die „unbe 
wiefene Sypothefe Darwin’8“ hat ſich zu einer unumſtößlich begrün« 
deten Theorie emporgebildet; der „geifreiche Traum“ hat fih als fon- 
nenflare Wahrheit herauögeftellt; und aus dem „leeren Schwindel” 
des „bobenlofen Phantafie-Gebäudes“ hat ſich das caufale Berftänd» 
niß der wichtigften biologifhen Erſcheinungen entwidelt. Faſt jede 
zoologifche und botanifche Arbeit, welche das Gebiet der Morpho- 
logie (Anatomie und Entwickelungsgeſchichte) berührt, muß gern 
ober ungern fi) mit der Defcendenz-Theorie befchäftigen, und jede 
morphologifche Arbeit, welche ein wahres Berftändnig der Form-Er- 
ſcheinungen anftrebt, kann überhaupt ohne die Abftammungslehre 
nicht tiefer in daffelbe eindringen. Die Stammesgeſchichte oder Phy- 
logenie, der noch vor wenigen Jahren felbft von manden Dar 
winiften die Lebensfähigkeit abgefprodhen wurde, lebt, wächft und 
gedeiht als felbftftändiger Zmeig der Biologie, und die Ontogenie 


Borwort zur vierten Auflage. XXXVII 


oder Keimesgeſchichte wird den Beiſtand dieſer jüngeren Schweſter 
bald nicht mehr entbehren können. Was aber vielleicht noch über⸗ 
zeugender, als diefe erfreulichen pofitiven Erfolge der Entwidelungs- 
Theorie für ihre volle Wahrheit Zeugniß ablegt, das ift die voll 
ftändige negative Impotenz ihrer Feinde. Kein einziger Gegner ift im 
Stande geweſen, irgend einen erheblichen Einwand gegen die Theo» 
rie vorzubringen oder irgend eine haltbare Hypothefe über „die Ent« 
ſtehung der Arten” an ihre Stelle zu fegen. 

Nicht minder erfreulich ift es, daß endlich auch die fpeculative 
Philoſophie die unermepliche Bedeutung zu würdigen beginnt, welche 
die Entwidelungslehre im Allgemeinen und ihre Anwendung auf 
den Menfchen im Befonderen befigt. Welcher Erfolg hier noch den 
Philofophen der Zukunft bevorfteht, beweifen die beiden berühmten 
Werke von Strauß und von Hartmann, die beide fürzlich in vierter 
Auflage erfchienen find. „Der alte und der neue Glaube” 
von David Friedrih Strauß, der faft in vier Monaten vier 
Auflagen erlebte, enthält die freie und unummundene Anerkennung 
der Gonfequenzen, welche die Philofophie der Entwidelung 
— und die Deftendenz » Theorie als deren wichtigfter Beftandtheil — 
über das allgemeine Gebiet der wiſſenſchaftlichen Erkenntniß hinaus 
in dem befonderen Bezirke der perfönlichen religiöfen Uebergeugungen 
nad den Gefepen der Logik verlangt. Zunächft ift dieſes Dar- 
winiftifche Glaubenabetenntniß des berühmten Theologen gleich Dar⸗ 
win s fundamentalem Werk über die Entftehung der Arten mit einem 
Hagel von Geſchoſſen überjhüttet worden, die entweder gar nicht 
trafen, ober wirkungslos abpraliten. In einem der heftigften An⸗ 
griffe, welcher in mehreren Zeitfchriften reproducirt wurde, war an⸗ 
geführt, daß auch die vorgeſchrittenſten Affen-Theoretiter und die 
efrigften Bewwunderer Darwin’ in Deutfchland die Bundesgenoſ⸗ 
ſenſchaft von Strauß mit Hohn zurüdwiefen, und hierbei war 
mein Rame ald Beifpiel genannt. Das war num einfache Unwahr- 
heit; denn ich habe mich bisher bei feiner Gelegenheit über Strauß s 
Buch ausgeſprochen. Da ich jedoch ſolchergeſtalt zu einem Urtheil 


XXXVIII Vorwort zur vierten Auflage. 


über daſſelbe herausgefordert bin, und da überdem jet von allen 
Seiten die verſchiedenſten „Bekenntniſſe“ fich entgegentreten, fo ſtehe 
ich nicht an, auch meinerfeitd mein perfönliches Belenntnig abzu⸗ 
legen und meine volle Zuſtimmung zu dem „neuen Glauben“ von 
Strauß zu erflären. Auch ich gehöre zu den zahllofen „Wir“, in 
deren Namen Strauß dad Wort ergriffen hat und das Meifte in 
feinem Buche ift auch meine Weberzeugung. Daffelbe kann ich von 
zahlreichen anderen mir befreundeten Raturforſchern behaupten, wenn 
diefe auch aus verſchiedenen Gründen ein offene® Bekenntniß des 
„meuen Glaubens“ vermeiden. Unter dieſen Naturforſchern aber be⸗ 
finden ſich Männer, von denen jeder Einzelne durch feine Verbin ⸗ 
dung von Berftandafhärfe und Gemüthätiefe, Raturverftändnig und 
Menſchenkenntniß ein ganzes Taufend Gegner von Strauß auftwiegt. 

Was die berühmte „Philofophie des Unbewußten“ von 
Hartmann betrifft, fo habe ich in den früheren Auflagen der Schd- 
pfungsgeſchichte die nahe liegende Berührung derfelben vermieden, 
weil unmöglich in wenigen Worten darüber abgeurtheilt werben 
ann. Dieſes mertwürdige Buch enthält einerfeit? fo viel neue vor⸗ 
treffliche Bemerkungen und tiefe Ideen, anderfeit® aber leider auch 
fo viel naturwiffenfhaftliche Irrthümer und namentlich biologiſche 
Fehler, daß ohne eine fehr gründliche und eingehende Kritit ein ge⸗ 
rechtes Urtheil gar nicht möglich ift. Inzwiſchen ift nun eine ſolche 
ausführliche Kritit von einem anonymen Berfafler erſchienen: „Das 
Unberoußte vom Standpunkte der Phyſiologie und Defcendenz. 
Theorie” (Berlin 1872). Diefe ausgezeichnete Schrift fagt im We- 
fentlihen Alles, was ich felbft über die Philofophie des Unbewuß ⸗ 
ten den Leſern der Schöpfungsgefchichte hätte fagen können und ich 
tann daher diejenigen unter ihnen, die ſich dafür intereffiren, einfach 
darauf verweifen. Der anonyme Kritiker weiſt überzeugend nach 
(was alle die zahlreichen Recenfenten der „Philofophie ded Unbe ⸗ 
mußten” überfehen hatten), daß diefed Buch aus zwei ganz zuſammen · 
bangdlofen und theilweife ſich widerfprechenden Stüden zuſammen ⸗ 
gefegt ift; dad eine Stüd (vorzüglich Abfchnitt A) „behandelt alle 


Vorwort zur vierten Auflage. ZXXIX 


vortommenden Probleme ohne jede Rüdficht auf die Defcendenz- 
Theorie, während diefelben einzig und allein von dem Standpunkt 
der Defcendenz- Theorie aus richtig geftellt und annähernd geldft 
werben fönnen.” Das andere Stüd hingegen (vorzüglid Abſchnitt C) 
ſtellt fi geradezu auf den Boden der Abſtammungslehre, und zeigt, 
wie nur durch dieſe eine richtige Stellung und Löfung der höchften 
philoſophiſchen Probleme möglich if. Nun wird aber gerade durch 
die Defcendenz= Theorie und ihre Anwendung auf den Menſchen 
das Unbewußte felbft, wie e® Hartmann als oberſtes meta phyſi⸗ 
ſche s Prinzip aufftelit, theils eliminirt, theild auf das phyſiologiſch 
(alfo mechaniſch) erklaͤrbare Unbewußte zurüdgeführt. Denn, wie 
der anonyme Kritifer fehr richtig bemerkt, „confundirt die Philofo- 
phie des Unbewußten unter diefem, den ganzen dunklen Urgrund 
des Leben? zufammenfaffenden Ausdrud — das Unbewußte“ — 
eine Menge der verfhiedenartigften Dinge, welde noth- 
wendig einer fondernden Analyfe bedürfen. Es fällt das Unbe- 
wußte, infofern es als Subjekt der teleologifhen Eingriffe gedacht 
wird.” Es bleibt das Unbewußte, infofern es als medhanifches 
Prinzip in moniſtiſchem Sinne von der Biologie zu verwerthen ift. 
Hartınann'3 Lehrgebäude des Unbewußten ald Ganzes fällt unter 
diefer Kritik aufammen; es bleiben aber und werben reiche Früchte 
tragen die vielen „naturwiffenfchaftlih wertvollen und folgenſchwe⸗ 
ten Gedankenkeime“, welche zwiſchen vielen unbrauchbaren meta- 
phyſiſchen Speculationen darin verftedt find. 

Jedenfalls können die „exakten“ Naturforſcher, welche gegen- 
wärtig mit fo bornirtem Stolze auf die Philofophie überhaupt her⸗ 
unter fehen, von der Philofophie des Unbewußten (befonderd im 
Vergleich mit den ausgezeichneten, ſchon früher von und angelegent- 
lich empfohlenen philofophifchen Schriften von Herbert Spencer, 
„First Principles“ etc. +5)) zweierlei lernen: erſtens, wie unerlaͤßlich 
die beftändige Wechſelwirkung der Empirie und Philo- 
ſophie, die innige Durchdringung von Beobachtung und Reflerion 
it, und zweitens, wie unendlich werthvoll für diefe ſtets anzuftre- 


XLO Vorwert zur vierten Auflage. 


darbietet, weil bei ihr die morphologifhen Verhältniſſe eine ganz 
überwiegende Bedeutung befigen, das phyſiologiſche Interefie dage ⸗ 
gen zurüdtritt, und weil alle Specied von Kaltihwämmen fi durch 
eine ungewöhnlich ſtarke Flüſſigkeit und Biegfamkeit ihrer Form 
auszeichnen. Mit Rüdfiht auf diefe Verhältniffe unternahm ich 
zwei Reifen an die Meeresfüfte (1869 nach Norwegen, 1871 nad 
Dafmatien), um möglihft große Mailen von Individuen in ihren 
natürlichen Verbältniffen zu unterfuchen und zur Bergleihung zu 
fammeln. Bon vielen Arten habe ich mehrere Hundert Individuen 
auf das Sorgfältigfte verglichen. Bon allen Specied habe ich die 
gefammten Formverhältniffe auf das Genauefte mitroftopifh unter 
ſucht und gemeſſen. Als End-Refultat diefer mühfeligen Unterfu- 
Hungen und taufendfältigen Meflungen ergab fi, daß „gute Arten“ 
(bonae species) im gewöhnlichen dogmatifhen Sinne der Schule 
bei den. Kaltſchwammen überhaupt nicht eriftiren, daß die verfchie- 
denften Formen durch zahliofe allmähliche Uebergänge mit einander 
verfnüpft find, und daß alle werfhiedenen Arten von aleifpongien 
von einer einzigen höchft einfachen Stammform, dem Olynthus ab» 
flammen. Eine Abbildung des Olynthus und feiner früheften 
Entwickelungs · Zuſtaͤnde (befonderd der außerordentlich wichtigen Ga « 
ftrula) Habe ich auf der XVL Tafel zur vorliegenden vierten Auf- 
lage gegeben. Abbildungen von fämmtlichen Form- Berhältniften, 
welche die Abftammung aller Ealcifpongien vom Olynthus erläutern, 
finden fi in dem Atlas von ſechzig Tafeln, welcher die Monogra- 
phie der Kalkſchwaͤmme begleitet. In der Gaftrula ift jept zu⸗ 
gleich die gemeinfame Stammform gefunden, von welcher fi alle 
Ipierftämme (nur die niederfte Gruppe der Urthiere audgenommen) 
ohne Schwierigfeit ableiten laffen. Sie gehört zu den älteften und 
wichtigſten Vorfahren des Menſchengeſchlechts! 

Wenn man aus der in der Syſtematik üblichen Prarxis ſich 
einen Durchſchnitts ⸗ Maßſtab für die Begriffe von Genus und 
Speties bildet und diefen auf die fämmtlichen biöber befannten 
Aaltſchwamme anwendet, fo kann man unter denfelben ungefähr 


Bomoort zur vierten Aulloge. ZLII 


21 Gattungen mit 111 Arten unterſcheiden (mie das im natürlichen 
Syſtem des zweiten Bandes der Monographie geichehen it). Ih 
habe aber gezeigt, dab man neben diefem Syftem auch noch ein 
weites (näher an das biöherige Syftem der Galcifpongien ſich ans 
ſchlie hendes) Syſtem aufftellen fann, welches 39 Genera und 289 
Species enthält. Ein Syſtematiker, welcher dem Gpecied + Begriff 
eine engere Ausdehnung giebt, Lünnte diefelbe Formen-Maſſe auf 
43 Gattungen und 381 Arten oder gar auf 133 Genera und 591 
Species vertheilen; ein anderer Syftematifer hingegen, der den Spe⸗⸗ 
eds Begriff weiter faßt, brauchte in derfelben Formen- Mafle nur 
3 Gattungen mit 21 Arten oder auch nur eine einzige Gattung 
mit 7 Arten zu unterfheiden. Die Abgrenzung der Specied und 
Genera erſcheint bei den zahlloſen Barietäten und Uebergangs - For 
men in diefer Gruppe eben fo willfürlih, daß fie volllommen dem 
fubjeftiven Geſchmade des einzeinen Syftematiferd überlafen bleibt. 
In Wirklicpkeit erſcheint ja auch vom Standpunfte der Entwicke⸗ 
lungö« Theorie die Frage, ob man den verwandten Formen» Grup- 
ven einen weiteren ober engeren Umfang geben, ob man fie als 
Genera oder Specied, ald Varietäten oder Subfpecied auffaflen 
will, völlig gleichgültig. Die Hauptfache, der gemeinfame Urfprung 
aller Arten aus einer Stammform, bleibt erwieſen. Die vielgeftal- 
tigen Kaltſchwaͤmme liefern aber auch außerdem dafür in dem höchft 
merfwürbigen Berhälmnifie der Metrocormie einen direkten Beweis, 
wie er nicht ſchlagender gedacht werden Tann. Es tritt hier gar 
nicht felten der Fall ein, daß aus einem einzigen Stode oder Cor⸗ 
mus mehrere verſchiedene Formen hervorwadhfen, welche biöher in 
dem Syſteme al® ganz verfhiedene Specied, ja fogar ald verichie- 
dene Genera angefehen worden waren. Figur 10 der Tafel XVI 
ſtellt einen ſolchen metrocormotifhen Stod dar. Diefer handgreif- 
lihe Beweis für die gemeinfame Defcendenz verſchiedener Species 
follte doch wohl dem ärgften Zweifler genügen! 

In der That darf ich jept wohl von meinen Gegnern erwarten, 
daB fie den hier gelieferten „egaft empirifhen Beweis” berüd- 





XLIV Vorwort zur vierten Auflage. 


fihtigen, den fie fo eifrig verlangt haben. Diejenigen Gegner ber 
Abftammungdlehre, welche zu wenig Urtheilöfähigkeit oder zu wenig 
Kenntniſſe beſitzen, um die überzeugende Beweiskraft der fyntheti- 
fhen Argumente (der vergleichenden Anatomie, Ontogenie, Syfte- 
matik u. ſ. w.) zu würdigen, mögen mir auf die Bahn des ana« 
lytiſchen Beweifed folgen und die Darftellung widerlegen , welche 
id von der gemeinfamen Abftammung aller Kalkſchwamm » Arten 
in meiner Monographie gegeben habe. Ich muß aber wiederholen, 
daß diefe Darftellung fih auf die genauefte Unterfuhung eines 
außerordentlich reichen empirifchen Materials ftüpt, daß fie durch 
Taufende der forgfältigften mikroſtopiſchen Beobachtungen, Meffun- 
gen und Bergleihungen aller einzelnen Theile feft begründet ift, 
und daß Taufende von gefammelten mikroſtopiſchen Präparaten 
jeden Augenblick die ſchärfſte kritiſche Kontrole meiner Angaben ge- 
ftatten. Möge man doch verfuchen, mid) auf dem Boden dieſer 
„galten Empirie“ anzugreifen, flatt meine „naturphilofophifchen 
Speculationen” zu verbammen, und möge man den Beweiß zu 
führen verſuchen, daß dieſe lepteren nicht naturgemäß aus jenen er- 
fteren ummittelbar folgen. Möge man mid) aber mit der leeren, 
auch von angefehenen Naturforfchern noch oft wiederholten Phrafe 
verfhonen, daß die moniftifche Natur-Philofophie, wie fie in der 
generellen Morphologie und der natürlichen Schöpfungdgeldichte auf 
dem Fundamente ber Deſtendenz Theorie begründet ift, der thatfäch- 
lichen Beweife entbehre. Die Beweiſe find da, wer fi allerdings 
vor denfelben die Augen zuhält, wird fie natürlich nicht ſehen. Ge⸗ 
ade jene „erafte“ Form des analytiſchen Beweifed, wie fie die 
Gegner der Defcendenz.Theorie verlangen, findet Jeder, der fie fin- 
den will, in der Monographie der Kaltſchwaͤmme. 


Jena, am 24* Juni 1873. 


Eruſt Heinrich Hacdel. 


Die Natur 


Natur! Wir find von ihr umgeben und umſchlungen — unvermögend 
aus ihr herauszut reten, unb unvermögenb, tiefer in fie hinein zu kommen. 
Ungebeten unb ungewarnt nimmt fie uns in ben Sreislauf ihres Tanzes auf 
unb treibt fid) mit uns fort, bis wir ermübet find und ihrem Arme ent- 
fallen. 

Sie ſchafft ewig neue Geftalten; was ba ift, war nod nie; was war, 
tommt nicht wieder: Alles ift neu und doch immer das Alte, 

Sie ſcheint alles auf Individualität angelegt zu Haben, und macht fich 
Nichts aus den Individuen. Sie baut immer und zerftört immer, unb ihre 
Berfftätte iſt unzugänglid. 

Sie lebt in lauter Kindern; und bie Mutter, wo ift fie? Sie tft bie 
einige Mänfilerin: aus bem fmpelften Gtoffe zu ben gröhten Gontraften; 
ohne Schein ber Auftrengung zu ber größten Vollendung; zur genaueften 
Veftiomtheit, immer mit etwas Weichen überzogen. Jedes ihrer Werte hat 
ein eigenes Weſen, jebe ihrer Erſcheinungen den ifolicteften Begriff, und doch 
macht alle Eins aus. 

Es ift ein ewiges Leben, Werden und Bewegen in ihr, unb doch rüdt 
fie nicht weiter. Sie verwandelt fi ewig, und ift fein Moment Stilftehen 
in ihr. Für' Bleiben hat fie feinen Begriff, und ihren Fluch Hat fie an's 
Stillſtehen gehängt. Sie ift feft: ihr Tritt ift gemefien, ihre Ausnahmen 
felten, ihre Geſetze unmwanbelbar. 

Sie läßt jedes Kind an ihr fünften, jeben Thoren über fie richten, 
taufende ftumpf über fie hingehen unb nichts fehen, und hat an allen ihre 
Freude und findet bei allen ihre Rechnung. 


XLvI Die Natur. 


Man gehordt ihren Gefegen, aud; wenn man ihnen wiberftrebt; man 
wirkt mit ihr, aud) wenn man gegen fie wirfen will. Sie madt Alle, was 
fie giebt, zur Wohlthat; denn fie macht e3 erft unentbehrlich. Sie fäumt, 
daß man fie verlange; fie eilt, daß man fie nicht fatt werbe. 

Sie Hat feine Sprache noch Rebe, aber fie ſchafft Zungen und Herzen, 
durch bie fie fühlt und ſpricht. Ihre Krone ift bie Liebe; nur durch fie fommt 
man ihr nahe. Sie macht Klũfte zwiſchen allen Weſen, und Alles will fie 
verflingen. Sie Hat alles iſolirt, um alles zufammen zu ziehen Durch 
ein paar Züge aus bem Becher ber Liebe Hält fie für ein Leben voll Mühe 
ſchadlos 

Sie iſt alles. Sie belohnt fich ſelbſt und beſtraft fich ſelbſt. erfreut und 
quält ſich ſelbſt. Sie iſt rauh und gelinde, lieblich und ſchreclich, kraftlos 
und allgewaltig. Alles iſt immer da in ihr. Vergangenheit und Zukunft 
tennt fie nicht. Gegenwart ift ihr Ewigleit. Sie ift gütig. Ich preife fie 
mit allen ihren Werken. Sie ift weile und fill. an reißt ihr feine Er—⸗ 
flärung vom Leibe, trußgt iha fein Geſchenl ab, bas fie nicht freimillig giebt. 
Sie iſt liſtig, aber zu gutem Ziele, und am beiten iſts, ihre Lift micht zu 
merlen. 

Sie iſt ganz, und doch immer unvollendet. So wie ſies treibt, kam 
ſie s immer treiben. Jedem erſcheint ſie in einer eigenen Geftalt. Sie ver⸗ 
birgt fi in tauſend Ramen und Termen, und iſt immer dieſelbe 

Sie Hat mich hereingefteiit, fie wird mid) aud) herausfuhren. Ich ver 
traue mich ihr. Sie mag mit mir ſchalten; fie wir ihr Mert nicht Beffen. 
3% ſprach nicht vom ihr: nein, wa wahr ift und ons jelſch Mi, allen Bat 
fie gefproden. Alles ift ihre Schuld, alles ift ihr Verdienſt 

Goethe (1780). 


Natürlide 
Shöpfungsgefdidte 


ober 


wiflenfhaftliche Entwidelungslehre. 


„Rad; ewigen chernen 
„Großen Gefegen 
„Müffen wir Alle 
Anſeres Daſeins 
Areiſe vollenden!" 


Gocthe. 


Erſter Vortrag. 


Juhalt und Bedentung der Abſtammungslehre ober 
Deſtendenztheorie. 





Allgemeine Bedeutung und weſentlicher Inhalt der von Darwin reformirten 
Abſtannmungbdichre oder Defcenbenztheorie. Befonbere Bedentung derſelben file bie 
Biologie (Zoologie und Botani). Befondere Bedeutung derſelben für bie natir- 
lache Entiwidelungegefciichte des Menſchengeſchlechts. Die Abſtammungslehre als 
natũrliche Schopfungeseſchichte. Begriff der Schöpfung. Wiſſen und Glauben. 
Shöpfungsgefäichte und Entwidelungegeſchichte. Zufammenhang der individuellen 
und paläontologifchen Enttoidelumgsgefchichte. Unzweckmäßigkeitslehre oder Wiffen- 
ſchaft von ben rubimentären Organen. Unnüge und überflüffige Einrichtungen 
im Organismus. Gegenſatz der beiden grundverfchiedenen Weltanſchanungen, ber 
moniſtiſchen (mechanifchen, caufalen) und ber dualiftifchen (teleologiſchen, vitalen). 
Begründung der erfleren durch die Abſtammungslehre. Einheit ber orgauiſchen 
und anorganiſchen Natur, und Gleichheit ber wirkenden Urſachen in Beiden. Be» 
deutung der Abftammungslehre für bie einheitliche (moniftifche) Auffaſſung der 
ganzen Natur. 


Meine Herren! Die geiftige Bewegung, zu welcher der englifche 
Raturforſcher Charles Darwin vor fünfzehn Jahren durd fein 
berühmtes Werk „über die Entftehung der Arten“ 2) den Anſtoß gab, 
hat während diefes kurzen Zeitraums einen Umfang angenommen, ber 
die allgemeinfte Theilnahme erregen muß. Allerdings ift die in jenem 
Berke dargeftellte naturwiſſenſchaftliche Theorie, welche man gewöhn- 
lich kurzweg die Darwin'ſche Theorie oder den Darwinismus 
nennt, nur ein geringer Bruchtheil einer viel umfaffenderen Lehre, 

Hucdel, Returi Gääpfungegeid. 5. Kufl. 1 





2 Allgemeine Bedeutung der Abflammungslehre. 


nämlih der univerfalen Entwidelung8-Theorie, welde ihre 
unermeßliche Bebeutung über das ganze Gebiet aller menfchlichen Wif- 
ſenſchaft erfiredt. Allein die Art und Weife, in welcher Darwin 
die leßtere Durch die erftere feft begründet hat, ift fo überzeugend, und 
die entfcheidende Wendung. welche durch die nothtvendigen Folgeſchlüſſe 
jener Theorie in der gefammten Weltanfhauung der Menfchheit ange- 
bahnt worden ift, muß jedem tiefer beufenben Menfchen fo gewaltig 
erſcheinen, daß man ihre allgemeine Bedeutung nicht hoch genug an« 
ſchlagen kann. Ohne Zweifel muß diefe ungeheuere Erweiterung un- 
ſeres menfchlichen Gefichtöfreife® unter allen ben zahlreichen und großar- 
tigen Fortſchritten, welche die Naturwiſſenſchaft in unferer Zeit gemacht 
bat, als der bei weiter folgenreichfte und wichtigfte angefehen werden. 

Wenn man unfer Jahrhundert mit Recht das Zeitalter der Ratur- 
wiſſenſchaften nennt, wenn man mit Stolz auf bie unermeßlich be⸗ 
deutenden Fortſchritte in allen Zweigen derfelben blickt, fo pflegt man 
dabei gewöhnlich weniger an die Erweiterung unferer allgemeinen 
Naturerfenntniß, als vielmehr an bie unmittelbaren prattifchen Erfolge 
jener Fortſchritte zu denfen. Man erwägt dabei die völlige und un« 
endlich folgenreihe Umgeftaltung des menfchlichen Verkehrs, welche 
durch das entwickelte Maſchinenweſen, durch die Eifenbahnen, Dampf- 
ſchiffe, Telegraphen und andere Erfindungen der Phyſik herworgebracht 
worden iſt. Oder man denkt an den ungeheuren Einfluß, welchen die 
Chemie in der Heilkunſt, in der Landwirthſchaft, in allen Künften 
und Gewerben gewonnen hat. Wie hoch Sie aber auch diefen Ein- 
fluß der neueren Natuwiſſenſchaft auf das praftifche Reben anſchlagen 
mögen, fo muß derfelbe, von einem höheren und allgemeineren Stand» 
punkt aus gewürdigt, doch unbedingt hinter dem ungeheuren Einfluß 
zurũcſſtehen, welchen die theoretifchen Fortſchritte der heutigen Ratur« 
wiſſenſchaft auf die gefammte Erlenntniß des Menſchen, auf feine 
ganze Weltanfhauung und die Bervolitommnung feiner Bildung noth- 
wendig gewinnen werden. Denken Sie nur an den unermeßlichen 
Umſchwung aller unferer theoretiſchen Anfchauungen, welchen wir der 
allgemeinen Anwendung des Mikroſtops verdanken. Denten Sie 





Algemeine Bedeutung der Abſtanunungelehre. 3 
allein an die Zellentheorie, die und die ſcheinbare Einheit des menſch⸗ 
lihen Organiemus als das zufammengefepte Nefultat aus der ſtaat⸗ 
lien Verbindung einer Maffe elementarer Lebenseinheiten, der Zellen, 
nachweiſt. Oder erwägen Sie die ungeheure Erweiterung „unfered 
theoretifchen Geſichtskreiſes, welche wir der Speftral- Analyfe und der 
Lehre von der Wärme» Mechanik verdanken. Unter allen dieſen ber 
wunderungswürdigen theoretifchen Fortſchritten nimmt aber jedenfalls 
die von Darmin auögebildete Theorie bei weitem den hödjite 
Rang ein. - 

Jeder von Ihnen wird den Namen Darwins gehört haben. 
Aber die Meiſten von Ihnen werden wahrſcheinlich nur unvolllom- 
mene Vorftellungen von dem eigentlichen Werthe feiner Lehre befigen. 
Denn wenn man Alles vergleicht, was feit dem Erfcheinen von Dar- 
win epochemachendem Werk über daffelbe gefchrieben worden ift, 
fo muß demjenigen, der ſich nicht näher mit den organifchen Natur» 
wiſſenſchaften befaßt hat, der nicht in die inneren Geheimniffe der 
Zoologie und Botanik eingedrungen ift, der Werth jener Theorie fehr 
zweifelhaft erſcheinen. Die Beurtheilung derfelben ift fo widerſpruchs⸗ 
voll, größtentheils fo mangelhaft, daß es und nicht Wunder nehmen 
darf, wenn noch jept, fünfzehn Jahre nach dem Erfcheinen von Dar- 
wind Werk, dasſelbe nicht entfernt die Bedeutung erlangt hat, welche 
ihm von Rechtswegen gebührt, und welche es jedenfall® früher oder 
fpäter erlangen wird. Die allermeiften von den zahllofen Schriften, 
welde für und gegen den Darwinismus während dieſes Zeitraums 
veröffentlicht wurden, find von Leuten gefhrieben worden, denen der 
dazu erforderliche Grad von biologifher, und beſonders von zoologi⸗ 
fer Bildung durchaus fehlt. Obwohl faſt alle bedeutenderen Natur 
forfher der Gegenwart jept zu den Anhängern jener Theorie gehören, 
haben doch nur wenige derfelben Geltung und Berftändniß in weiter 
en Kreifen zu verfhaffen geſucht. Daher rühren die befremdenden 
Biderfprüche und die feltfamen Urtheile, die man noch heute allent- 
halben über den Darwinismus hören kann. Gerade diefer Umftand 
ift es, welcher mich vorzugsweiſe beftimmt, die Darwinſche Theorie 

1* 


4 Weſentlicher Inhalt der Abſtammungklehre. 

und die damit zufammenhängenden weiteren Lehren zum Gegenftand 
diefer allgemein verftändlichen Vorträge zu machen. Ich halte e8 für 
die Pflicht der Naturforfcher, daß fie nicht allein in dem engeren Kreife, 
den ihre Fachwiſſenſchaft ihnen vorſchreibt, auf Verbefferungen und 
Entdedungen finnen, daß fie ſich nicht allein in da3 Studium des 
Einzelnen mit Liebe und Sorgfalt vertiefen, fordern daß fie auch die 
wichtigen, allgemeinen Refultate ihrer befonderen Studien für das 
Ganze nugbar machen, und daß fie natunviffenfhaftliche Bildung im 
ganzen Volte verbreiten helfen. Der höchſte Triumph des menſch⸗ 
lichen Geifted, die wahre Erfenntniß der allgemeinften Naturgefepe, 
darf nicht das Privateigenthum einer privilegirten Gelehrtentafte blei⸗ 
ben, ſondern muß Gemeingut der ganzen Menſchheit werben. 

Die Theorie, welhe durh Darwin an bie Spige unferer Ra- 
turerfenntniß geftellt worden ift, pflegt man gewöhnlich als Ab- 
ffammungslehre oder Defcendenztheorie zu bezeichnen. 
Andere nennen fie Umbildungslehre oder Transmutations— 
theorie. Beide Bezeichnungen find richtig. Denn diefe Lehre be- 
hauptet, daß alle verfhiebenen Organismen (d. h. alle Thier- 
arten unb alle Pflanzenarten, welde jemal® auf der Erbe gelebt 
haben, und noch jegt leben), von einer einzigen oder von we« 
nigen höchſt einfahen Stammformen abftammen, und 
dag fie fih aus dieſen aufdem natürlichen Wege allmäh- 
liher Umbildung entwidelt haben. Obwohl diefe Enttwide- 
lungstheorie ſchon im Anfange unferes Jahrhunderts von verfchiedenen 
großen Raturforfchern, insbefondere von Ramard*) und Goethe®) 
aufgeftelit und vertheidigt wurde, hat fie doch erft vor fünfzehn Jah ⸗ 
ren durh Darwin ihre vollftändige Ausbilbung und ihre urſächliche 
Begründung erfahren, und das ift der Grund, wedhalb fie jept ge- 
woͤhnlich ausſchließlich (obwohl nicht ganz richtig) als Darwin's 
Theorie bezeichnet wird. 

Der hohe und wirklich unfhäpbare Werth der Abſtammungs · 
lehre ericheint in einem verſchiedenen Lichte, je nachdem Sie bloß 
deren nähere Bedeutung für die organifche Natuwiſſenſchaft, ober 





Bedeutung der Abftammungslehre für Biologie. 5 


aber ihren weiteren Einfluß auf die gefammte Welterfenntniß des 
Menſchen in Betracht ziehen. Die organifhe Natuwiſſenſchaft oder 
die Biologie, welche ald Zoologie die Thiere, als Botanik 
die Pflanzen zum Gegenftand ihrer Erkenntniß hat, wird durd) die 
Abftammungslehre von Grund aus umgeftaltet und neu begründet, 
Denn die Defcendenztheorie macht un® mit den wirkenden Ur- 
ſache n der organiſchen Kormerfcheinungen befannt, während die bid- 
berige Thier- und Pflanzenfunde fih bloß mit den Thatſachen 
diefer Erfheinungen befhäftigte. Man kann daher auch die Abſtam⸗ 
mungslehre als die mehanifhe Erklärung der organiſchen 
Bormerfheinungen, oder ald „bie Lehre von den wahren Ur- 
ſachen in der organifhen Natur“ bezeichnen. 

Da ich nicht voraudfegen kann, daß Ihnen Allen die Ausdrüde 
„organiſche und anorganifche Natur” geläufig find, und da 
und die Gegenüberftellung diefer beiderlei Naturkörper in ber Folge 
noch vielfach befhäftigen wird, fo muß ich ein paar Worte zur Ver⸗ 
ftändigung darüber vorausfhiden. Organismen oder organi«- 
[he Naturkörper nennen wir alle Qebewefen oder belebten 
Körper, alfo alle Pflanzen und Thiere, den Menfchen mit inbegriffen, 
weil bei ihnen faft immer eine Zufammenfegung aus verſchieden⸗ 
artigen Theilen (Werkjeugen oder „Drganen‘) nachzuweiſen ift, welche 
zuſammenwirken, um die Lebenserſcheinungen hervorzubringen. Eine 
ſolche Zufammenfegung vermiffen wir dagegen bei ben Anorganen 
oder anorganifhen Naturkörpern, den fogenannten tobten 
oder unbelebten Körpern, den Mineralien oder Gefteinen, dem Wafler, 
der atmofphärifhen Luft u. f. w. Die Organismen enthalten fiet? 
eiweißartige Kohlenſtoffverbindungen in feftflüffigem Aggregatzuftande, 
während diefe den Anorganen ſtets fehlen. Auf diefem wichtigen 
Unterfchiede beruht die Eintheilung ber geſammten Natuwiſſenſchaft 
in zwei große Hauptabtheilungen, die Biologie ober Wiſſenſchaft 
von den Organismen (Zoologie und Botanik), und die Anorgano- 
logie oder Wiffenfhaft von den Anorganen (Mineralogie, Geologie, 
Meteorologie u. ſ. w.). 


6 Bedeutung der Wfamnmmngelchte für die Anthropologie. 

Der unfchäpbare Werth der Abftammungdlehre für die Biologie 
fiegt alfo, wie bemerkt, darin, daß fie uns die Entftehung der organi« 
fhen Formen auf mechaniſchem Wege erklärt, und deren wirkende Ur- 
ſachen nachweiſt. So hoch man aber aud mit Recht dieſes Berbienft 
der Defeendenztheorie anſchlagen mag, fo tritt daſſelbe doch faft zurüd 
vor der unermeßlichen Bedeutung, melde eine einzige nothwendige 
Folgerung derfelben für ſich allein in Anſpruch nimmt. Diefe noth⸗ 
mendige und unvermeidlihe Folgerung ift die Lehre von der 
thierifhen Abftammung des Menſchengeſchlechts. 

Die Beitimmung der Stellung bed Menfchen in der Natur und 
feiner Beziehungen zur Gefammtheit der Dinge, dieſe Frage aller 
Fragen für die Menfchheit, wie fie Hurley**) mit Recht nennt, 
wird durch jene Erkenntniß der thierifchen Abftammung des Menfchen- 
geſchlechts endgültig gelbſt. Wir gelangen alfo in Folge der von 
Darwin reformirten Defcenbenztheorie zum erften Male in die Lage, 
eine natärfihe Entwidelungsgefhichte des Menfhenge- 
ſchlechts wiflenfhaftlich begründen zu fönnen. Somohl alle Ber« 
theibiger, als alle denkenden Gegner Darwins haben anerkannt, 
daß die Abftammung des Menfchengefchledhts zunächft von affenartigen 
Säugethieren, weiterhin aber von niederen Wirbelthieren, mit Roth« 
wenbigteit aus feiner Theorie folgt. 

Allerdings hat Darwin diefe wichtigfte von allen Folgerungen 
feiner Lehre nicht fofort felbft auögefprochen. In feinem Werke „von 
der Entftehung der Arten“ findet fi) fein Wort von der thierifhen 
Abſtammung des Menfchen. Der eben fo vorfichtige als fühne Natur⸗ 
forfher ging damals abfichtlih mit Stillſchweigen darüber hinweg, 
weil er vorausfah, daß diefer bedeutendfte von allen Folgefehlüffen der 
Abftammungslehre zugleich das bebeutendfte Hinderniß für die Verbrei _ 
tung und Anerkennung derfelben fein werde. Gewiß hätte Darwins 
Buch von Anfang an noch weit mehr Widerfprud; und Aergerniß er⸗ 
regt, wenn ſogleich diefe wichtigfte Konfequenz darin klar ausgeſpro ⸗ 
chen worden wäre. Erſt zwölf Jahre fpäter, in dem 1871 erſchienenen 
Werke über „die Abftammung des Menſchen und die geſchlechtliche 


Die Abſtanmringelehre als natärlihe Schopfungegeſchichte. 7 
Zuchtwahl⸗· ) hat Darwin jenen weitreichendſten Folgeſchluß offen 
anerkannt und ausdruͤcllich feine volle Uebereinſtimmung mit den 
Naturforſchern erflärt, welche denfelben inzwiſchen ſchon ſelbſt gezogen 
hatten. Dffenbar iſt die Tragweite dieſer Folgerung ganz unermeß ⸗ 
lich, und keine Wiſſenſchaft wird ſich den Konſequenzen derſelben 
entziehen können. Die Anthropologie oder die Wiſſenſchaft vom 
Menſchen, und in Folge defien auch die ganze Philofophie wird 
in allen einzelnen Zweigen dadurch non Grund aus umgeftaltet. 

Es wird erft die fpätere Aufgabe meiner Borträge fein, dieſen 
befonderen Puntt zu erörtern. Ich werde die Lehre von ber thierifchen 
Abſtammung des Menfchen erſt bepandeln, nachdem ich Ihnen Dar⸗ 
wins Theorie in ihrer allgemeinen Begründung und Bedeutung vor- 
getragen habe. Um es mit einem Worte auszudrücken, fo ift jene 
äußerft bedeutende, aber die meiften Menfchen von vorn herein ab» 
ſtohende Folgerung nichts weiter ala ein befonderer Deduftionzfchluf, 
den wir aus dem fiher begründeten allgemeinen Induftionägefepe der 
Defeendenztheorie nach den firengen Geboten der-unerbittlichen Logit 
nothwendig ziehen müffen. 

Vielleicht ift nichts geeigneter, Ihnen die ganze und volle Bedeu» 
tung der Abſtammungslehre mit zwei Worten Mar zu machen, als die 
Bezeichnung derfelben mit dem Ausdrud: „Natürlihe Shöpfungs- 
geſchichte“. Ich habe daher auch felbft dieſe Bezeichnung für die 
folgenden Borträge gewählt. Jedoch ift diefelbe nur in einem ger 
wiſſen Sinne rihtig, und es ift zu berüdfichtigen, dag, ſtreng ge 
nommen, der Ausdrud „natürliche Schoͤpfungsgeſchichte einen inne 
ven Widerſpruch, eine „Contradictio in adjecto“ einſchließt. 

Laſſen Sie uns, um dies zu verfiehen, einen Augenblid den Be⸗ 
griff der Schöpfung etwas näher ins Auge faflen. Wenn man 
unter Schöpfung die Entftehung eines Körpers durch eine 
ſchaffende Gewalt oder Kraft verfteht, fo fann man dabei entweder 
an die Entftehung feines Stoffes (ber förperlihen Materie) 
oder an die Entftehung feiner Form (der Lörperlihen Geftalt) 
denten. 


8 Begriff der Ccöpfung. öiffen und Glauben. 


Die Schöpfung im erfteren Sinne, als die Entftehung ber 
Materie, geht un hier gar nichts an. Diefer Borgang, wenn er 
überhaupt jemals ftattgefunben hat, ift gänzlich der menſchlichen Er- 
kenntniß entzogen, und kann daher auch niemal® Gegenftand natur 
wiſſenſchaftlicher Erforſchung fein. Die Natuwiſſenſchaft hält die 
Materie für ewig und unvergängli, weil durch die Erfahrung noch 
niemals das Entftehen oder Bergehen auch nur des Heinften Theilchens 
der Materie nachgewiefen worden ift. Da wo ein Naturkörper zu 
verſchwinden fheint, wie 3. B. beim Verbrennen, beim Verweſen, beim 
Berbunften u. f. w., da ändert er nur feine Form, feinen phyſikali⸗ 
ſchen Aggregatzuftand oder feine chemiſche Verbindungsweile. Ebenfo 
beruht das Entftehen eines neuen Naturkörpers, 3. B. eines Kryſtalles 
eines Pilzes, eined Infuforiums, nur darauf, daß verſchiedene Stoff 
theilchen, welche vorher in einer gewiffen Form oder Berbindungs- 
weife eriftirten, in folge von veränderten Gyiftenz- Bedingungen eine 
neue Form oder Berbindungsweife annehmen. Aber noch niemals 
ift ein Fall beobachtet worden, daß auch nur das Mleinfte Stofftheil- 
chen aus der Welt verſchwunden, oder nur ein Atom zu der bereits 
vorhandenen Maſſe binzugefommen ift. Der Naturforſcher kann fih 
daher ein Entftehen der Materie ebenfo wenig als ein Bergehen 
derſelben vorftellen, und betrachtet deshalb die in der Welt bes 
ſtehende Quantität der Materie ald eine gegebene Thatſache. Fühlt 
Zemand das Bebürfnig, ſich die Entftehung diefer Materie als die 
Birkung einer übernatürlihen Chöpfungsthätigfeit, einer außerhalb 
der Materie ftehenden ſchoͤpferiſchen Kraft vorzuftellen, fo haben wir 
nichts dagegen. Aber wir müffen bemerfen, daß damit auch nicht 
das Geringfte für eine wiſſenſchaftliche Naturerfenntnig geroonnen 
ift. Eine ſolche Vorftellung von einer immateriellen Kraft, welche 
die Materie erft ſchafft, ift ein Glaubendartikel, welcher mit der 
menſchlichen Wiſſenſchaft gar nichts zu thun hat. Wo der Glaube 
anfängt, hört die Wiffenfhaft auf. Beide Tätigkeiten des 
menſchlichen Geiftes find ſcharf von einander zu halten. Der Glaube 
hat feinen Urſprung in der dichtenden Einbildungsktaft, das Wiſſen 


Schopfungeseſchichte und Entwidelungegefejichte. 9 
dagegen in dem erfennenden Berflande des Menfchen. Die Wifien- 
ſchaft hat die fegenbringenden Früdte von dem Baume ber Erkennt⸗ 
niß zu pflüden, unbeküũmmert darum, ob dieſe Eroberungen bie bich- 
teriſchen Einbildungen der Glaubenſchaft beeinträditigen oder nicht. 

Wenn alfo die Naturwiſſenſchaft ſich die „natürliche Schöpfungs- 
geſchichte⸗ zu ihrer Höchften, ſchwerſten und lohnendſten Aufgabe macht, 
fo kann fie den Begriff der Schöpfung nur in der zweiten, oben an⸗ 
geführten Bedeutung verftehen, als die Entftehung der Form ber 
Raturkörper. In diefer Beziehung kann man die Geologie, welche 
die Entftehung der geformten anorganifchen Erboberflähe und die 
mannichfaltigen gefhichtlichen Veränderungen in der Geftalt der feften 
Erdrinde zu erforfchen ftrebt, die Schopfungẽgeſchichte der Erde nennen. 
Ebenfo kann man die Entwidelungsgefchichte der Thiere und Pflanzen, 
welche die Entftehung der belebten Formen, und den mannichfaltigen 
biftorifchen Wechſel der thierifchen und pflanzlichen Geftalten unterfucht, 
die Schöpfungägefchichte der Organismen nennen. Da jedoch leicht 
in den Begriff der Schöpfung, auch wenn er in diefem Sinne ge- 
braucht wird, ſich die unwiſſenſchaftliche Vorſtellung von einem aufer- 
halb der Materie ftehenden und diefelbe umbildenden Schöpfer ein« 
ſchleicht, fo wird ed in Zukunft wohl beffer fein, denfelben durch die 
firengere Bezeichnung der Entwidelung zu erfegen. 

Der hohe Werth, welchen die Entwidelungdgefhihte für 
das wiſſenſchaftliche Berftänbnig der Ihier- und Pflanzenformen be 
figt, iſt jept feit mehreren Jahrzehnten fo allgemein anerkannt, daß 
man ohne fie feinen fiheren Schritt in der organifchen Morphologie 
oder Formenlehre thun kann. Jedoch hat man faft immer unter Ent⸗ 
widelungsgeſchichte nur einen Theil diefer Wiſſenſchaft, nämlich die- 
jenige der organifchen Individuen oder Einzelwefen verftanden, welche 
gewöhnlich Embryologie, richtiger und umfaflender aber Ontogenie 
genannt wird. Außer diefer giebt e8 aber auch noch eine Entwide 
lungägefchichte der organifchen Arten, Klaffen und Stämme (Phylen), 
welche zu der erfteren in den wichtigſten Beziehungen fteht. Das 
Material dafür liefert und die Verfteinerungsfunde oder Palaͤonto⸗ 


10 Iubiotbuelle und paläentulogiiche Enttvichtungegefchichte. 


Togie, welche und zeigt, daß jeder Stamm (Phylum) von Thieren und 
Pflanzen während ber verſchiedenen Perioden ber Erdgeſchichte durch 
eine Reihe von ganz verſchiedenen Klaffen und Arten vertreten war. 
So war 3. B. der Stamm der Wirbelthiere durch die Maffen der Fiſche, 
Amphibien, Reptilien, Vögel und Säugethiere vertreten, und jede 
diefer Klaſſen zu verſchiedenen Zeiten durch gang verichiedene Arten. 
Diefe paläontologifce Entwidelungsgefehichte der Organismen, welche 
man als Stammesgeſchichte oder Phylogenie bezeichnen kann, ftebt 
in den wichtigſten und merkwürdigften Beziehungen zu bem andern 
Zweige der organifchen Entwidelungsgeſchichte, derjenigen ber Indie 
viduen ober der Ontogenie. Die leptere läuft ber erfteren im Großen 
und Ganzen parallel. Um es kurz mit einem Sape zu fagen, fo if 
die individuelle Entwidelungsgeſchichte ober die Ontogenie eine kurze 
und ſchnelle, durch die Geſete ber Vererbung und Anpaffung bedingte 
Wiederhofung oder Rekapitulation der paläontologifhen Entwide 
lungsgeſchichte oder der Phylogenie. 

Da id) Ihnen diefe höchft intereflante und bedeutfame Thatſache 
fpäter noch ausführlicher zu erläutern habe, fo will ich mich hier nicht 
dabei weiter aufhalten, und nur heroorheben, daß dieſelbe einzig und 
allein durch die Abftammungslehre erflärt und in ihren Urſachen ver« 
landen wird, während fie ohne diefelbe gänzlich unverſtaͤndlich und 
unerklãrlich bleibt. Die Defcendenztheorie zeigt und dabei zugleich, 
warum überhaupt die einzelnen Thiere und Pflanzen fich entwideln 
möüffen, warum biefelben nicht gleich in fertiger und entwidelter Form 
ins Leben treten. Keine übernatürliche Schöpfungägeicichte vermag 
und das große Räthjel der organiſchen Entwidelung irgendwie zu er- 
tlaͤren. Ebenſo wie auf diefe hochwichtige Frage giebt und die Des 
ſcendenztheorie auch auf alle anderen allgemeinen biologiſchen Fragen 
vollfommen befriedigende Antworten, und zwar immer Antworten, 
welche rein mechanifch-taufaler Ratur find, welche lediglich natürliche, 
phyfilaliſch⸗chemiſche Kräfte als die Urfachen von Erſcheinungen nach · 
weiſen, bie man früher gewohnt war, ber unmittelbaren Einwirkung 
übernatürlicher, ſchopferiſcher Kräfte zuzuſchreiben. Mithin wird durch 


Audimentäre oder umwehmäßige Organe. 11 


unfere Theorie aus allen Gebietötheilen der Botanit und Zoologie, 
und namenilich auch aus dem wichtigften Theile der Iepteren, aus der 
Anthropologie, der myſtiſche Schleier des Wunderbaren und Ueber- 
natürlichen entfernt, mit welchem man bisher bie verwidelten Er⸗ 
ſcheinungen diefer natürlichen Ertenntnig-Gebiete zu verhülfen liebte. 
Das unklare Nebelbild mythologifher Dichtung kann vor dem flaren 
Sonmnenlichte naturwifienfchaftficher Erkenntniß nicht länger beftehen. 
Bon ganz befonderem Intereſſe find unter jenen allgemeinen bio⸗ 
logiſchen Phänomenen diejenigen, welche zur Wiberlegung der ge- 
wöhnfichen Annahme dienen, daß jeder Organismus das Produft einer 
zweckmaͤßig bauenden Schoͤpferkraft fe. Nichts hat in dieſer Bezie⸗ 
bung der früheren Naturforſchung fo große Schwierigkeiten verurſacht, 
als die Deutung der fogenannten‘ „rudimentären Organe”, der 
jenigen Theile im Thier- und Pflangenförper, welche eigentlich ohne 
Leitung, ohne phyſiologiſche Bedeutung, und dennoch formell vor- 
banden find. Diefe Theile verdienen das allerhöchfte Intereffe, ob⸗ 
wohl fie den meiften Laien gar nicht oder nur wenig befannt find. 
Faſt jeder Organismus, faft jedes Thier und jede Pflanze, befipt 
neben den ſcheinbar zwechmäßigen Ginrichtungen feiner Organifation 
andere Einrichtungen, deren Zweck durchaus nicht einzufehen ift. 
Beifpiele davon finden fi überall. Bei den Embryonen man- 
Ger Wiederkäuer, unter Andern bei unferem gewöhnlichen Rindvieh, 
ſtehen Schneidegähne im Zwiſchenkiefer der oberen Kinnlade, welche 
niemals zum Durchbruch gelangen, alfo auch feinen Zweck haben. Die 
Embryonen mancher Walfifhe, welche fpäterhin die befannten Bar 
ten ſtatt der Zähne befigen, tragen, fo lange fie noch nicht geboren 
find und feine Nahrung zu fih nehmen, dennoch Zähne in ihren 
Kiefern; auch dieſes Gebiß tritt niemals in Thätigkeit. Ferner beſitzen 
die meiften höheren Thiere Muskeln, bie nie zur Anwendung fommen; 
ſelbſt der Menſch befipt ſolche rubimentäre Muskeln. Die Meiften 
von und find nicht fähig, ihre Ohren willtürlich zu beivegen, obwohl 
die Muskeln für diefe Bewegung vorhanden find, und obwohl es ein« 
zelnen Perfonen, die fih andauernd Mühe geben, diefe Musteln zu 


12 Rubimentäre oder unzwechmäfige Organe. 
üben, in der That gelingt, ihre Ohren zu beivegen. In diefen noch 
jegt vorhandenen, aber verfümmerten Organen, welche dem voliftän- 
digen Verſchwinden entgegen gehen, ift es noch möglich, durch befon« 
dere Uebung, dur andauernden Einfluß der Willensthätigfeit des 
Nervenſyſtems, die beinah erloſchene Thätigfeit wieder zu beleben. 
Dagegen vermögen wir die® nicht mehr in ben fleinen rubimentären 
Obrmusteln, welche noch am Knorpel unferer Ohrmufchel vorfommen, 
aber immer völlig wirkungslos find. Bei unferen langöhrigen Bor- 
fahren aus der Tertiärgeit, Affen, Halbaffen und Veutelthieren, welche 
gleich ben meiften anderen Säugethieren ihre große Obrmufchel frei 
und lebhaft bewegten, waren jene Muskeln viel ftärker entwidelt und 
von großer Bedeutung. So haben in gleicher Weife auch viele Spiel« 
arten der Hunde und Kaninchen, deren wilde Vorfahren ihre fteifen 
Ohren vielfeitig bewegten, unter dem Einfluffe des Kulturlebens ſich 
jened „Ohrenfpigen“ abgemwöhnt, und dadurch verfümmerte Ohr⸗ 
muskeln und ſchlaff herabhängende Ohren befommen. 
Auch noch an anderen Stellen ſeines Körperd befigt der Menſch 
folge rudimentäre Organe, welche durchaus von feiner Bedeutung 
“für das Reben find und niemals funktioniren. Eines ber mertwür« 
digften, obwohl unſcheinbarſten Organe der Art ift die Meine halb⸗ 
mondförmige Falte, welche wir am inneren Winkel unfere® Auges, 
nahe der Naſenwurzel befipen, die fogenannte „Plica semilunaris“. 
Diefe unbedeutende Hauffalte, die für unfer Auge gar feinen Rupen 
bietet, ift der ganz verfümmerte Reft eine® dritten, inneren Augen« 
lides, welches neben dem oberen und unteren Augenlide bei anderen 
Säugethieren, bei Vögeln und Reptilien fehr entwidelt ift. Ja fogar 
ſchon unfere uralten Borfahren aus der Silurzeit, die Urfifche, ſcheinen 
die dritte Augenlid, die fogenannte Nidhaut, befeffen zu haben. 
Denn viele von ihren nächften Verwandten, die in wenig veränderter 
Form noch heute fortleben, viele Haififche nämlich, befigen eine fehr 
ftarte Nidhaut, die vom inneren Augenwinfel ber über den ganzen 
Augapfel hinüber gezogen werden kann. 


Rudimentäre ober unzwedmaßige Organe. 13 


Zu den fhlagendften Beifpielen von rudimentären Organen ge 
hören die Augen, welde nicht fehen. Solche finden ſich bei fehr 
vielen Thieren, welche im Dunkeln, z. B. in Höhlen, unter der Erde 
leben. Die Augen find bier oft wirklich in ausgebildetem Zuftande 
vorhanden; aber fie find von der Haut bededt, fo daß fein Lichtftrahl 
in fie hineinfallen fann, unb fie alfo auch niemals fehen tönnen. Sole“ 
Augen ohne Gefihtöfunktion befigen 5. B. mehrere Arten von unter- 
irdiſch febenden Maulwürfen und Blindmäufen, von Schlangen und 
Eidechfen, von Amphibien (Proteus, Caecilia) und von Fiſchen; fer- 
ner zahlreiche wirbellofe Thiere, die im Dunkeln ihr Leben zubringen: 
viele Käfer, Krebsthiere, Schneden, Würmer u. f. w. 

Eine Fülle der intereffanteften Beifpiele von rubimentären Orga- 
nen liefert bie vergleichende Ofteologie oder Skeletlehre der Wirbel- 
thiere, einer ber anziehendften Zweige der vergleichenden Anatomie. 
Bei den allermeiften Wirbelthieren finden wir zwei Paar Gliedmaaßen 
am Rumpf, ein Paar Vorderbeine und ein Paar Hinterbeine. Sehr. 
häufig ift jedoch das eine oder das andere Paar derfelben verfümmert, 
feltener beide, wie bei den Schlangen und einigen aalartigen Fiſchen. 
Aber einige Schlangen, z. B. die Riefenfchlangen (Boa, Python) ha- 
ben hinten noch einige unnüge Knochenſtückchen im Leibe, welche die 
Refte der verloren gegangenen Hinterbeine find. Ebenſo haben die, 
walfifhartigen Säugethiere (Cetaceen), welche nur entwidelte Border 
beine (Bruftfloffen) befigen, Hinten im Fleiſche noch ein Paar ganz über- 
flüffige Knochen, welche ebenfalls Ueberbleibſel der verfümmerten Hin- 
terbeine darftellen. Daſſelbe gilt von vielen echten Fiſchen, bei denen 
in gleicher Weife die Hinterbeine (Bauchfloffen) verloren gegangen find. 
Umgefehrt befigen unfere Blindfchleihen (Anguis) und einige andere 
Eidechſen inwendig ein vollftändige® Schultergeräfte, obwohl die Vor⸗ 
derbeine, zu deren Befeftigung daffelbe dient, nicht mehr vorhanden 
find. Ferner finden fid bei verfhiedenen Wirbelthieren die einzelnen 
Knochen der beiden Beinpaare in allen verſchiedenen Stufen der Der- 
tümmenung, und oft bie rüdgebilbeten Knochen und bie zugehörigen 
Muskeln ftücweife erhalten, ohme doch irgendivie eine Berrichtung 


14 - NRubimentäre ober umpvedmäßige Organe. 
ausführen zu können. Das Inftrument ift noch da, aber es kann 
nicht mehr fpielen. 

Faſt ganz allgemein finden Sie ferner rubimentäre Organe in 
den Pflanzenbfüthen vor, indem der eine oder der andere Theil der 
männlichen Fortpflanzungdorgane (der Staubfäben und Staubbeutel), 
‚ober der weiblichen Fortpflanzungsorgane (Griffel, Fruchttnoten u. ſ. w.) 
mehr ober weniger verlümmert oder „fehlgeſchlagen“ (abortirt) iſt. 
Auch bier konnen Sie bei verfchiedenen, nahe verwandten Pflanjen- 
arten das Organ in allen Graden der Rüdbilpung verfolgen. So 
3 B. ift die große natürliche Familie der Fippenbläthigen Pflanzen 
Eabiaten), zu welcher Meliſſe, Pfefferminge, Majoran, Gundelrebe, 
Thymian u. f. w. gehören, dadurch ausgezeichnet, daß bie rachen ⸗ 
förmige zweilippige Blumenkrone zwei lange und zwei kurze Staub 
fäden enthält. Allein bei vielen einzelnen Pflanzen diefer Familie, 
3. B. bei verſchiedenen Salbeiarten und beim Rosmarin, ift nur das 
eine Paar der Staubfäden audgebildet, und das andere Paar ift 
mehr oder weniger vertümmert, oft ganz verſchwunden. Biöweilen 
find die Staubfäden vorhanden, aber ohne Staubbeutel, fo daß fie 
ganz unnüg find. Seltener aber findet fih fogar noch dad Rubdie 
ment ober ber verfümmerte Neft eines fünften Staubfadens, ein 
phyſiologiſch (für die Lebensverrichtung) ganz nuplofes, aber morpho- 
logisch (für die Etkenntniß der Form und der natürlichen Verwandt- 
haft) äußerft werthvolles Organ. In meiner generellen Morpho- 
logie der Drganidmen*) habe ich in dem Abſchnitt von ber „Unzwed- 
maͤßigkeitslehre oder Dysteleologie”, noch eine große Anzahl von 
anderen Beifpielen angeführt (Gen. Morpb. II, 266). 

Keine biologiſche Erſcheinung hat wohl jemals die Zoologen und 
Botaniker in größere Verlegenheit verfept als diefe rudimentären ober 
abortiven (verfümmerten) Organe. Es find Werkjeuge außer Dienft, 
Körpertheile, welche da find, ohne etwas zu leiften, zwedmaͤßig ein- 
gerichtet, ohne ihren Zwed in Wirklichkeit zu erfüllen. Wenn man 
die Verſuche betrachtet, welche die früheren Raturforfcper zur Erklärung 
dieſes Raͤthſels machten, kann man fih in der That faum eine® 


Verkänmmeruug ber Organe durch Richtgebrauch. 15 
Lãchelns über. die ſeltſamen Borftelungen, zu denen ſie geführt wur 
den, erwehren. Außer Stande, eine wirkliche Erklärung zu finden, 
lam mam z. B. zu dem Endrefultate, daß der Schöpfer „der Sym⸗ 
metrie wegen· diefe Organe angelegt habe; oder man nahm an, ed 
fei dem Schöpfer unpaſſend oder unanftändig erichienen, daß biefe 
Organe bei denjenigen Organismen, bei denen fie nicht leiftungsfähig 
find und ihrer ganzen Lebensweiſe nach nicht fein können, völlig fehl- 
ten, während die nächſten Verwandten fie befäßen, und zum Erfap - 
für die mangelnde Funktion habe er ihnen wenigſtens die äußere Aus- 
flattung der leeren Form verliehen; ungefähr fo, wie die uniformirten 
Civilbeamten bei Hofe mit einem unſchuldigen Degen auögeftattet 
find, den fie niemald aus der Scheide ziehen. Ich glaube aber faum, 
daß Sie von einer folhen Erklärung befriedigt fein werben. 

Run wird gerade. diefe allgemein verbreitete und räthfelhafte 
Erſcheinung der rudimentären Organe, an welcher alle übrigen Er⸗ 
tlaͤrungsverſuche feitern, volllommen erflärt, und zwar in der ein⸗ 
fachſten und einleuchtendften Weiſe erklärt durd Darwins Theorie 
von der Bererbung und von der Anpaffung. Wir lönnen die 
wichtigen Gefege der Bererbung und Anpaffung an den Hausthieren 
und Kulturpflanzen, welche wir fünftlidh züchten, empiriſch ver- 
folgen, und es ift bereits eine Reihe ſolcher Geſetze feftgeftelit worden. 
Ohne jet auf diefe einzugehen, will ich nur vorausſchicken, daß 
einige davon auf mechaniſchem Wege die Entftehung der rubimen- 
tären Organe volltommen erflären, fo daß wir das Auftreten der- 
felben als einen ganz natürlichen Prozeß anfehen müffen, bedingt 
durch den Richtgebraud der Organe. Durch Anpaffung an 
befondere Lebensbedingungen find die früher thätigen und wirklich 
arbeitenden Organe. allmählich nicht mehr gebraucht worden und 
außer Dienft getreten. In Folge der mangelnden Uebung find fie 
mehr und mehr verfümmert, tropdem aber immer noch duch Ber- 
erbung von einer Generation auf bie andere übertragen worben, 
bis fie endlich größtentbeil® oder ganz verſchwanden. Wenn wir 
nun annehmen, daß alle oben angeführten Wirbelthiere von einem 


7 Ypdıy der beiben gerzierrkäihenen V w„I— 

em'sm gemeiniamen Ziammvater abüanımen, welcher zwei ſehende 
Auym und zwei wohl ennvidele Beinpaare beiaf, jo erflärt ſich 
ganz emiach der verihiedene Grad der Berfümmerung und Rüd- 
br:rung dieier Organe bei. folden Radtommen deitelben, welche diefe 
Theile nicht mehr gebraudhen fonnten. Ebenſo erflärt fh vollftändig 
der verfhjiedene Ausbildungdgrad der urfprümglic (in ber Blüthen- 
fnospe) angelegten fünf Staubfäden bei den Sabiaten, wenn wir an- 
nehmen, daß alle Pflanzen diefer Zamilie von einem gemeinfamen, 
mit fünf Staubfäden auögeftatteten Stammvater abftammen. 

34 habe Jhnen bie Erſcheinung der rubimentären Organe ſchon 
jept etwas außführliher vorgeführt, weil diefelbe von der allergrößten 
allgemeinen Bebeutung ift, und weil fie uns auf die großen, allge- 
meinen, tiefliegenden Grundfragen der Philofophie und der Ratur- 
wiſſenſchaft hinführt, für deren Loſung die Defcendenz-Theorie nun- 
mehr der unentbehrlihe Leitſtern geworden ift. Sobald wir nämlich, 
diefer Theorie entfprechend, die ausſchließliche Wirtſamkeit phyſilaliſch⸗ 
chemiſcher Urſachen ebenfo in der lebenden (organifchen) Körpermeit, 
wie in der fogenannten Teblofen (anorganifchen) Natur anerkennen, fo 
räumen wir damit jener Weltanfhauung die ausſchließliche Herrſchaft 
ein, welche man mit dem Namen der mehanifchen bezeichnen kann, 
und welche gegenüberfteht der teleologifhen Auffaffung. Wenn 
Cie alle Weltanfhaunngsformen der verfchiedenen Völker und Zeiten 
mit einander vergleichend zuſammenſtellen, konnen Sie diefelben ſchließ ⸗ 
lich alte in zwei ſchroff gegenüberftehende Gruppen bringen: eine cau⸗ 
fale oder mechaniſche und eine teleologifche oder vita- 
liſtiſche. Die leptere war in der Biologie bisher allgemein herr⸗ 
ſchend. Man fab danach das Thierreih und das Pilanzenreih als 
Produkte einer zweckmaͤßig wirffamen, fhöpferifhen Thätigkeit an. 
Wei dem Anblic jedes Organiamus ſchien ſich zunächft unabweislich 
die Ueberzeugung aufudrängen, daß eine fo fünftlihe Maſchine, ein 
fo verwickelter Rewegunge · Apparat, wie e8 der Organismus ift, mur 
dervowebracht werden fünne durch eine Thätigkeit, welche analog, ob- 
wobl unendlich viel vollkommener ift, als die Thärigfeit des Menſchen 


Mechaniſche ober caufale und teleologifche ober vitale Weltanſchauung. 17 


bei der Konſtruktion feiner Mafchinen. Wie erhaben man auch bie 
früheren Borftellungen des Schöpfer® und feiner ſchöpferiſchen Thätig- 
keit faffen, wie fehr man fie aller menschlichen Analogie entkleiden 
mag, fo bleibt doc) im letzten Grunde bei der teleologifchen Naturaufe 
faſſung diefe Analogie unabweislich und nothwendig. Man muß fi 
im Grunde dann immer den Schöpfer felbft ald einen Organismus 
vorftellen, als ein Wefen, welches, analog dem Menſchen, wenn auch 
in unendlich volffommnerer Form, über feine bildende Thätigfeit nach⸗ 
denkt, den Plan der Mafchinen entwirft, und dann mittelft Anwen⸗ 
dung geeigneter Materialien diefe Mafchinen ziwedtentfprechend ausführt. 
Alle diefe Vorftellungen leiden notbwendig an der Grundſchwäͤche des 
Anthropomorphismus oder der Bermenfhlihung Es 
werben dabei, wie hoch man fi auch den Schöpfer vorftellen mag, 
demfelben die menfchlihen Attribute beigelegt, einen Plan zu ent« 
werfen und danach den Organismus zweckmäßig zu fonftruiren. Das 
wird auch von derjenigen Anfhauung, melde Darwins Lehre am 
fhroffften gegenüber fteht, und welche unter den Naturforfchern ihren 
bebeutendften Vertreter in Agaffiz gefunden hat, ganz Mar aus⸗ 
gefprohen. Das berühmte Wert (Essay on classification) von 
Agaffizs), welhes dem Darwinſchen Werke volllommen entgegen- 
geſetzt ift, und faft gleichzeitig erſchien, hat ganz folgerichtig jene 
abſurden anthropomorphifchen Vorftellungen vom Schöpfer bis zum 
hoͤchſten Grade ausgebildet. 

Was nun jene vielgerühmte Zweckmäßigkeit in ber Natur 
betrifft, fo ift fie überhaupt nur für denjenigen vorhanden, welcher 
die Erfheinungen im Thier⸗ und Pflanzenleben durchaus oberflächlich 
betrachtet. Schon jene rubimentären Organe mußten diefer Lehre 
einen harten Stoß verfegen. Jeder aber, der tiefer in die Organi- 
fation und Lebensweiſe der verfchiedenen Thiere und Pflanzen ein« 
dringt, der ſich mit der Wechſelwirkung der Lebenserſcheinungen und 
der fogenannten „Defonomie der Natur” vertrauter macht, kommt 
nothwendig zu der Anſchauung, daß diefe Zweckmaͤßigkeit nicht exiſtirt, 
ſo wenig als etwa die vielgerühmte Allgüte des Schöpfers. Dieſe 

Hudel, Raturl. Shöpfungegeih. 5. Aufl. 2 


18 Ungweehnäßigteit und Unfriebe in der Natur. 

optimiſtiſchen Anſchauungen haben leider eben fo wenig reale Begrün- 
dung, als die beliebte Redensart von der „fttlihen Weltordnung“, 
welche durch die ganze Völfergefchichte in ironiſcher Weiſe illuftrirt wird. 
Im Mittelafter ift dafür die Herrſchaft der „fittlichen Päpfte und 
ihrer feommen Inquifition nicht weniger bezeichnend, als in der Gegen- 
wart ber herrfäende Militarismus mit feinem „fttfihen” Apparate 
von Zündnadeln und anderen raffinirten Mordwaffen. 

Benn Cie das Zufammenleben und die gegenfeitigen Beziehun« 
gen der Pflanzen und der Thiere (mit Inbegriff der Menſchen) näher 
betrachten, fo finden Sie überall und zu jeber Zeit das Gegentheil 
von jenem gemüthlihen und friedlichen Beifammenfein, welches die 
Güte des Schöpferd den Gefhöpfen hätte bereiten mäffen; vielmehr 
finden Sie überall einen ſchonungöloſen, höchft erbitterten Kampf 
Aller gegen Alle. Rirgends in der Ratur, wohin Sie aud) Ihre 
Blide lenken mögen, ift jener idyllifche, von den Dichten befungene 
Friede vorhanden, — vielmehr überall Kampf, Streben nad) Ber- 
nichtung des Nächften und nad Vernichtung der direlten Gegner. 
Leidenfhaft und Selbftfucht, bewußt oder unbemußt, ift überall die 
Triebfeder des Lebens. Das bekannte Dichterwort: 

„Die Ratur ift volllommen überall, 

Bo ber Menſch nit hinlommt mit feiner Dual“ 
iſt fhön, aber leider nicht wahr. Bielmehr bildet auch in diefer Be- 
siehung der Menſch feine Ausnahme von der übrigen Tbierwelt. 
Die Betrachtungen, welche wir bei der Lehre vom „Kampf ums 
Dafein“ anzuftellen haben, werden diefe Behauptung zur Genüge 
rechtfertigen. Es war auch Darwin, welder gerade diejen wich⸗ 
tigen Punkt in feiner hohen und allgemeinen Bedeutung recht Mar 
vor Augen ftellte, umd derjenige Abſchnitt feiner Lehre, welchen er 
feloft den „Kampf ums Dafein“ nennt, ift einer der wichtigſten 
Theile derfelben. 

Wenn wir alfo jener vitaliftifchen ober teleologifhen Betrachtung 
der lebendigen Ratur, welche die Thier- und Planzenformen ald Pro» 
dufte eined gütigen und zwedimäßig thätigen Echöpferd ober einer 


Moniftifche Anorganologie und bualiftifce Biofogie. 19 


zwedmaßig thätigen fhöpferifchen Naturkraft anfieht, durchaus ent- 
gegenzutreten gezwungen find, fo müffen wir uns entfchieden jene 
Beltanfhauung aneignen, welche man die mech aniſche oder cau- 
fale nennt. "Man kann fie auch als die moniftifhe oder ein— 
beitliche bezeichnen, im Gegenfaß zu der zwiefpältigen odey 
dualiftifden Anfhauung, welche in jener teleologifhen Weltauf- 
faflung nothwendig enthalten ift. Die mechaniſche Naturbetrachtung 
ift feit Jahrzehnten auf gewiſſen Gebieten der Naturwiſſenſchaft fo 
fehr eingebürgert, daß hier über die entgegengefepte fein Wort mehr 
verloren wird. Es fällt feinem Phyfiter oder Chemiker, feinem Mine- 
ralogen ober Aftronomen mehr ein, in den Erfcheinungen, weldhe ihm 
auf feinem wiſſenſchaftlichen Gebiete fortwährend vor Augen fommen, 
die Wirffamfeit eined zwedmaͤßig tätigen Schöpfers zu erbliden ober 
aufzufuchen. Man betrachtet die Erfgeinungen, welche auf jenen Ge⸗ 
bieten zu Tage treten, allgemein und ohne Widerſpruch ald die noth- 
wendigen und unabänderfihen Wirkungen der phyſikaliſchen und che⸗ 
mifchen Kräfte, welche an dem Stoffe oder der Materie haften, und 
infofern ift diefe Anfhauung rein materialiſtiſch, in einem gemiffen 
Sinne dieſes vieldeutigen Wortes. Wenn der Phufiler die Bewe⸗ 
gungserfgeinungen der Eleftricität oder de8 Magnetismus, den Fall 
eined ſchweren Körpers ober die Schwingungen der Lichtwellen ver- 
folgt, fo ift er bei diefer Arbeit durhaus davon entfernt, das Ein- 
greifen einer übernatürlihen ſchöpferiſchen Kraft anzunehmen. In 
diefer Beziehung befand ſich bisher die Biologie, als die Wiſſenſchaft 
von den fogenannten „belebten“ Naturörpern, in großem Gegenfag 
zu jenen vorher genannten anorganifchen Naturwiſſenſchaften (der An⸗ 
organologie). Zwar hat die neuere Phyfiologie, die Lehre von den 
Bervegungserfheinungen im Thier- und Pflanzenkörper, den mecha- 
niſchen Standpunkt der letzteren vollfommen angenommen; allein die 
Morphologie, die Wiſſenſchaft von den Kormen der Thiere und der 
P langen, ſchien dadurd gar nicht berührt zu werden. Die Morphos 
togen behandelten nach wie vor, und größtentheil® noch heutzutage, 
im Gegenfaß zu jener mechanifhen Betrachtung der Leiftungen, die 
* 


20 Einheit der Tebenbigen und Iehlofen Natur. 


Formen der Thiere und Pflanzen als etwas, was durchaus nicht me⸗ 
chaniſch erflärbar ſei, was nothwendig einer höheren, übernatürlichen, 
zwedmäßig thätigen Schöpferfraft feinen Urfprung verdanken müfle. 
Dabei war es ganz gleichgültig, ob man diefe Schöpferfraft als per- 
Üntihen Gott anbetete, oder ob man fie Lebenskraft (vis vitalis) 
oder Endurſache (causs finalis) nannte. In allen Fällen flüchtete 
man bier, um es mit einem Worte zu fagen, zum Wunder als der 
Erklärung. Man warf fi einer Glauben®dihtung in die Arme, 
welche als ſolche auf dem Gebiete natunviffenfchaftlicher Erkenntniß 
durchaus feine Geltung haben Tann. 

Alles nun, was vor Darwin gefchehen ift, um eine natürliche 
mechaniſche Auffaffung von der Entftehung der Thier- und Pflanzen- 
formen zu begründen, vermochte biefe nicht zum Durchbruch und zu 
allgemeiner Anerkennung zu bringen. Dies gelang erft Darwin® 
Lehre, und hierin liegt ein unermeßliches Verdienſt derfelben. Denn 
es wird dadurch die Anfiht von der Einheit der organiſchen 
und der anorganifhen Natur feft begründet; und derjenige 
Theil der Natuwiſſenſchaft, welcher bisher am längften und am harte 
nädigften fi) einer mechaniſchen Auffaffung und Erklärung widerfepte, 
die Lehre vom Bau der lebendigen Formen, von der’Bedeutung und 
dem Entftehen derfelben, wird dadurch mit allen übrigen naturwiffen- 
ſchaftlichen Lehren auf einen und benfelben Weg der Vollendung ger 
führt. Es wird die Einheit aller Naturerfheinungen dadurch end» 
gültig feftgeftellt. 

Diefe Einheit der ganzen Natur, die Befeelung aller Materie, die 
Untrennbarfeit der geiffigen Kraft und des förperfihen Stoffes hat 
Goethe mit den Worten behauptet: „die Materie kann nie ohne 
Geiſt, der Geift nie ohne Materie exiſtiren und wirffam fein“. Bon 
den großen moniftifchen Philofophen aller Zeiten find diefe oberften 
Grundfäpe der mechaniſchen Weltanfhauung vertreten worden. Schon 
Demotritus von Abdera, der unfterbliche Begründer der Atomen- 
lehre, fprad) diefelben fast ein halbes Jahrtaufend vor Chriſtus Mar 
aus, ganz vorzüglich aber der große Dominifanermönd Giordano 


Endgültige Begründung ber moniſtiſchen Auffaffung. 21 


Bruno. Diefer wurde dafür am 17. Februar 1600 in Rom von ber 
chriſtlichen Inquifition auf dem Scheiterhaufen verbrannt, an dem- 
felben Tage, an welchem 36 Jahre früher fein großer Landsmann und 
Kampfesgenoffe Galilei geboren wurde. Sole Männer, bie für 
eine große Idee leben und fterben, pflegt man als „Materialiften” zu 
verlehern, ihre Gegner aber, deren Beweisgründe Tortur und Scheiter- 
haufen find, ald „Spiritualiften” zu preifen. 

Durch die Defeendenztheorie wird es uns zum erftenmal mög. 
lich, die moniftifhe Lehre von der Einheit der Natur fo zu begrün- 
den, daß eine mechanifch-caufale Erklärung auch der verwideltiten 
organifchen Erfcheinungen 3. B. der Entftehung und Einrichtung ber 
Sinnesorgane, in der That nicht mehr Schwierigkeiten für das all- 


gemeine Berftändniß hat, als die mehanifche Erklärung irgend eines” 


phyſilaliſchen Prozeſſes, wie e8 z. B. die Erdbeben, die Richtungen 
des Windes oder die Strömungen des Meeres find. Wir gelangen 
dadurch zu der äußerſt wichtigen Webergeugung, daß alle Natur- 
körper, die wir kennen, gleihmäßig belebt find, daß ber 
Gegenfag, welchen man zwiſchen lebendiger und tobter Körperwelt 
aufftellte, in Wahrheit nicht exiſtirt. Wenn ein Stein, frei in die 
Luft geworfen, nach beftimmten Gefegen zur Erde fällt, oder wenn 
in einer Saljlöfung ſich ein Kryſtall bildet, fo ift dieſe Erfeheinung 
nicht mehr und nicht minder eine mechaniſche Lebenderfheinung, ald 
das Wachsthum oder das Blühen der Pflanzen, ala die Fortpflan⸗ 
jung oder die Sinnesthätigkeit der Thiere, ald die Empfindung 
oder die Gedantenbildung des Menſchen. In diefer Herftellung 
der einheitlihen oder moniftifhen Naturauffaffung 
fiegt da8 höchſte und allgemeinfte Berdienft der von Darmin refor⸗ 
mirten Abftammungälehre. 


. weiter Vortrag. 
Wiſſenſchaftliche Veredtiguug der Defcendenztheorie. 
Schöpfungsgeſchichte nad) Rinne, 


Die Abſtammungklehre oder Deſcendenztheorie als die einheitliche Exkärung 
der organifhen Naturerſcheinungen durch natürliche wirkende Urſachen. Berglei- 
ung berfelben mit Newtons Gravitationstheorie. Grenzen der wiſſenſchaftlichen 
Erflärung und der menſchlichen Ertenntniß überhaupt. Alle Erfenntniß urfprüng- 
lich durch finnliche Erfahrung bebingt, apofteriort. Uebergang ber apofteriorifchen 
Ertenntniffe durch Vererbung in aprioriſche Erfemntniffe. Gegenfa der übernatür- 
Tihen Schöpfungsgefcicte von Linns, Cuvier, Agaſſtz, und der natürkichen Ent» 
widelungetheorien von Lamard, Goethe, Darwin. Zufannnenhang ber erfieren mit 
der moniſtiſchen (mechantfchen), der lebteren mit ber bualiftifchen (teleslogiſchen) 
Weltanſchauung. Monismus und Moterialismus. Wiſſenſchaftlicher und ittlicher 
Materialismus. Schöpfungsgefchichte des Moſes. Linns ale Begründer ber füfte- 
matiſchen Naturbefcreibung und Artunterfdeibung. Linnes Claffification und 
binäre Romenelatur. Bebentung des Gperieöbegriffs bei Line. Seine Schäpfunge- 
geſchichte. LinndE Anficht von ber Entſtehung ber Arten. 


Meine Herren! Der Werth, den jede naturwiſſenſchaftliche Theorie 
befipt, wird ſowohl dur die Anzahl und das Gewicht der zu er- 
Märenden Gegenftände gemeffen, als auch dur die Einfachheit und 
Allgemeinheit der Urſachen, welche als Erflärungsgründe benupt wer« 
den. Se größer einerfeitd die Anzahl, je wichtiger die Bedeutung der 
durch die Theorie zu erflärenden Erſcheinungen ift, und je einfacher 
andrerfeits, je allgemeiner die Urfachen find, welche die Theorie zur 
Erklaͤrung in Anſpruch nimmt, defto höher ift ihr wiſſenſchaftlicher 


Bergleichung von Darwins und Newtons Theorie. 23 


Werth, deſto fiherer bedienen wir uns ihrer Leitung, defto mehr find 
wir verpflichtet zu ihrer Annahme. 

Denken Sie z. B. an diejenige Theorie, welche bisher ald der 
größte Erwerb des menfchlichen Geiftes galt, an die Gravitationd« 
theorie, welche der Engländer Newton vor 200 Jahren in feinen 
mathematifchen Prineipien der Raturphilofophie begründete. Hier fin- 
den Sie das zu erflärende Objekt fo groß angenommen ala Sie es nur 
denken fönnen. Er unternahm es, die Bewegungderſcheinungen der 
Planeten und den Bau des Weltgebaͤudes auf mathematiſche Geſetze 
jurüdzuführen. Als die höchſt einfache Urſache diefer verwickelten Ber 
wegungserfcheinungen begründete Newton das Geſetz der Schwere 
ober der Maffenanziehung, daſſelbe, welches die Urfache des Falles 
der Körper, der Adhäfion, der Cohäfion und vieler anderen Erſchei⸗ 
nungen ifl. 

Wenn Sie nun den gleichen Maßſtab an die Theorie Darwin® 
anlegen, fo-müffen Sie zu dem Schluß fommen, daß diefe ebenfalls 
zu den größten Eroberungen des menſchlichen Geiſtes gehört, und dag 
fie fi) unmittelbar neben die Gravitationdtheorie Newtons ftellen 
kann. Dielleiht erfheint Ihnen dieſer Ausſpruch übertrieben oder 
wenigftens fehr gewagt; ich hoffe Sie aber im Verlauf dieſer Borträge 
zu überzeugen, daß diefe Schäpung nicht zu hoch gegriffen ift. In 
der vorigen Stunde wurden bereit? einige ber wichtigften und allge» 
meinften Erfheinungen aus der organifchen Natur namhaft gemacht, 
welche durch Da rwins Theorie erflärt werden. Dahin gehören vor 
Allen die Formveränderungen, welche bie individuelle Entwide- 
lung der Organismen begleiten, äußerft mannichfaltige und ver⸗ 
widelte Erfeheinungen, welche bisher einer mechanifchen Erklärung, 
d. h. einer Zurüdführung auf wirkende Urfachen bie größten Schwie⸗ 
rigfeiten in den Weg legten. Wir haben die rudimentären Dr» 
gane erwähnt, jene außerordentlich mertwürdigen Einrihtungen in 
den Thier- und Pflangenförpern, welche feinen Zweck haben, welche 
jede teleologifche, jede nad) einem Endzwed des Organismus fudende 
Grtlärung vollftändig widerlegen. Es liehe fih noch eine große An- 


24 Erflärungsgebiet der Defcenbenztheorie. 


zahl von anderen Erfheinungen anführen, die nicht minder wichtig 
find, die’ bißher nicht minder räthfelhaft erſchienen, und die in der 
einfachften Weife durch die von Darwin refomtirte Abftammungs- 
lehre erflärt werden. Ich ermähne vorläufig noch die Erſcheinungen, 
welche und die geographifche Verbreitung der Thier- und 
Pflanzenarten auf der Oberfläche unſeres Planeten, fowie die 
geologifhe VBertheilung der ausgeftorbenen und ver» 
fteinerten Organismen in ben verſchiedenen Schichten der Erd⸗ 
rinde barbietet. Auch diefe wichtigen paläontologifhen und geogra- 
phiſchen Gefege, welche wir bisher nur als Thatfahen kannten, 
werden durch die Abftammungslehre in ihren wirkenden Urſachen 
erfannt. Daſſelbe gilt ferner von allen allgemeinen Gefepen der ver⸗ 
gleihenden Anatomie, indbefondere von dem großen Gefepe 
der Arbeitstheilung oder Sonderung (Polymorphismus 
oder Differenzirung), einem Gefepe, welches ebenfo in der ganzen 
menſchlichen Gefellfhaft, wie in der Drganifation des einzelnen Thier« 
und Pflanzenförperd die wichtigfte geſtaltende Urfache ift, diejenige 
Urfache, welche ebenfo eine immer größere Mannichfaltigfeit, wie 
eine fortfchreitende Entwidelung der organiſchen Formen bedingt. 
In gleicher Weife, wie dieſes bisher nur als Thatfache erfannte Ge- 
feß der Arbeitötheilung, wird auch das Gefep ber fortfchreiten« 
den Entwidelung, ober dad Gefep des Fortſchritts, weiches wir 
ebenfo in ber Geſchichte der Völter, wie in der Geſchichte der Thiere 
und Pflanzen überall wirlſam wahrnehmen, in feinem Urſprung 
durch die Abftammungdlehre erklärt. Und wenn Sie endlih Ihre 
Blicke auf dad große Ganze der organifhen Natur richten, wenn Sie 
vergleihend alle einzelnen großen Erſcheinungsgruppen dieſes unge 
heuren Lebensgebietes zufammenfaffen, fo ftellt ſich Ihnen daſſelbe 
im Lichte der Abftammungsfehre nicht mehr ald das künſtlich aus« 
gedachte Werk eines planmäßig bauenden Schöpfer® dar, fondern 
als die nothiwendige Folge wirkender Urfachen, welche in der chemi⸗ 
ſchen Zufammenfegung der Materie felbit und in ihren phyfifalifchen 
Eigenſchaften Tiegen. 


Erflärungsgründe ber Deftenbenztheorie. 23 


Man kann alfo im weiteften Umfang behaupten, und ic) werde 
diefe Behauptung im Berlaufe meiner Borträge rechtfertigen, daß die 
Abſtammungslehre und zum erften Male in die Lage verfeht, die Ge⸗ 
ſammtheit aller organiſchen Naturerfheinungen auf ein einziges Geſetz 
zurückzuführen, eine einzige wirkende Urfache für das unendlich ver- 
widelte Getriebe diefer ganzen reichen Erfpeinungswelt aufzufinden. 
In diefer Beziehung ftellt fie ſich ebenbürtig Newtond Gravitationd« 
theorie an die Seite; ja fie erhebt ſich noch über diefelbe! 

Aber auch die Erflärungsgründe find hier nicht minder einfach, 
wie dort. Es find nicht neue, bisher unbekannte Eigenfchaften des 
Stoffes, welche Darwin zur Erklärung diefer höchſt verwidelten 
Erſcheinungswelt herbeizieht; es find nicht etwa Entdedungen neuer 
Verbindungsverhältniffe der Materie, oder neuer Organiſationskräfte 
derſelben; fondern es ift lediglich die außerordentlich geiftvolle Ver⸗ 
bindung, die fonthetifhe Zufammenfaffung und dentende Bergleihung 
einer Anzahl längft befannter Thatfachen, durch welche Darwin das 
„heilige Räthfel” der Iebendigen Formenwelt Töft. Die erfte Rolle 
fpielt dabei die Erwägung der Wechfelbeziehungen, welche zwiſchen 
wei allgemeinen Lebensthätigkeiten der Organismen beftehen, den 
Funktionen der Bererbung und der Anpaffung. Lediglich durch 
Erwägung des Wechfelverhältniffes zwiſchen Diefen beiden Lebensthaͤtig ⸗ 
keiten oder phyſiologiſchen Funktionen der Organismen, ſowie ferner 
durch Erwägung der gegenfeitigen Beziehungen, welche alle an einem 
und demfelben Ort zufammenlebenden Thiere und Pflanzen nothwen⸗ 
dig zu einander befigen — lediglich durch richtige Würdigung dieſer 
einfachen Thatſachen, und durch die geſchidte Verbindung derfelben ift 
& Darwin möglich geworben, in denfelben die wahren wirkenden 
Urſachen (causae efficientes) für die unendlich verwidelte Geftalten- 
welt der organifchen Natur zu finden. 

Wir find nun verpflichtet, diefe Theorie auf jeden Fall anzu- 
nehmen und fo fange zu behaupten, bis fid eine beffere findet, die es 
unternimmt, bie gleiche Fülle von Ihatfachen ebenfo einfach zu er- 
Mlären. Bisher entbehrten wir einer foldhen Theorie vollftändig. Zwar 


26 Verpflichtung zu allgemeiner Annafıne ber Deſcendenztheorie. 


war der Grundgebanfe nicht neu, daß alle verſchiedenen Thier- und 
Pflanzenformen von einigen wenigen ober fogar von einer einzigen 
hochſt einfachen Grundform abftammen müffen. Diefer Gedanfe war 
längft ausgeſprochen und zuerft von dem großen Qamard*) im An- 
fang unfere® Jahrhunderts beftimmt formulirt worden. Allein La- 
mard fprad) doch eigentlich bloß die Hypothefe der gemeinfamen Ab» 
flammung aus, ohne fie dur Erläuterung der wirkenden Urſachen 
zu begründen. Und gerade in dem Nachweis diefer Urfachen liegt der 
außerorbentliche Fortſchritt, welchen Darwin über Lamarcks Theorie 
hinaus gethan hat. Er fand in den phyfiologifchen Bererbungs- und 
Anpaffungseigenfhaften der organifhen Materie die wahre Urſache 
jenes genenlogifhen Verhältniffes auf. Auch konnte der geiftvolle 
Lamard noch nicht über das koloſſale Material biologiſcher That ⸗ 
fachen gebieten, welches durch die emfigen zoologiſchen und botanifchen 
Forſchungen der legten fünfzig Jahre angefammelt und von Darwin 
zu einem überwältigenden Beweid- Apparat verwerthet wurde. 

Die Theorie Darwin ift alfo nicht, wie feine Gegner häufig 
behaupten, eine beliebige, aus der Luft gegriffene, bodenlofe Hypo- 
thefe. Es liegt nicht im Belieben der einzelnen Zoologen und Bota- 
nifer, ob fie diefelbe als erflärende Theorie annehmen wollen oder nicht. 
Vielmehr find fie dazu gezwungen und verpflichtet nach dem allge 
meinen, in den Naturwiſſenſchaften überhaupt güftigen Grundfage, daß 
wir zur Erklärung der Erfheinungen jede mit den wirklichen Thatſachen 
vereinbare, wenn auch nur ſchwach begründete Theorie fo lange an⸗ 
nehmen und beibehalten müſſen, bis fie durch eine beffere erfept wird. 
Benn wir dies nicht thun, fo verzichten wir auf eine wiſſenſchaftliche 
Erklärung der Erfheinungen, und das ift in der That der 
Standpunkt, den viele Biologen noch gegenwärtig einnehmen. Sie 
betrachten das ganze Gebiet der belebten Ratur al8 ein volltommenes 
Räthfel und haften die Entftehung der Thier- und Pflanzenarten, die 
Erſcheinungen ihrer Entwidelung und Berwandtfhaft für ganz uner- 
tlaͤrlich, für ein Wunder; fie wollen von einem wahren Berftänd- 
niß derſelben überhaupt nicht® willen. 


Unentbehrlichteit der Deſcendenztheorie in ber Biologie. 27 
Diejenigen Gegner Darwin, welche nicht geradezu in diefer 
Weiſe auf eine biologifche Erflärung verzichten wollen, pflegen freilich 
zu fagen: „Darwins Lehre von dem gemeinſchaftlichen Urfprung der 
verſchiedenartigen Organismen if nur eine Hypotheſe; wir ftellen ihr 
eine andere entgegen, die Hypotheſe, daß die einzelnen Thier- und 
Pflanzenarten nicht durch Abftammung ſich auseinander entwickelt ha- 
ben, fondern daß fie unabhängig von einander durch ein noch unents 
dedtes Naturgefep entftanden find.” So lange aber nicht gezeigt wird, 
wie diefe Entftehung zu denken ift, und was das für ein „Ratur- 
geſetz ift, fo lange nicht einmal wahrfheinliche Erklärungsgründe 
geltend gemacht werben fönnen, welche für eine unabhängige Ent 
ftehung der Thier- und Pflanzenarten fprechen, fo lange ift diefe Gegen- 
hypotheſe in der That feine Hypothefe, fondern eine leere‘, nichts⸗ 
fagende Redensart. Auch verdient Darwins Theorie nicht den 
Ramen einer Hypothefe. Denn eine wiſſenſchaftliche Hypotheſe ift 
eine Annahme, welche ſich auf unbekannte, bisher noch nicht Durch die 
ſinnliche Erfahrung wahrgenommene Eigenfhaften oder Bewegungs» 
erfpeinungen der Naturlörper ftügt. Darwins Lehre aber nimmt 
teine derartigen unbefannten Verhaͤltniſſe an; fie gründet fi auf 
laͤngſt anerfannte allgemeine Eigenfchaften der Drganidmen, und e8 
ift, wie bemerkt, die außerordentliche geiftvolle, umfaflende Berbin- 
dung einer Menge bisher vereinzelt dageftandener Erſcheinungen, 
welche diefer Theorie ihren außerordentlich hohen inneren Werth giebt.- 
Bir gelangen durch fie zum erften Dal in die Rage, für die Gefammt- _ 
heit aller una bekannten morphologifchen Erſcheinungen in der Thier⸗ 
und Pflanzenwelt eine bewirkende Urfache nachzuweiſen; und zwar ift 
diefe wahre Urfache immer ein und diefelbe, nämlich die Wedhfel« 
wirkung der Anpaffung und der Bererbung,, alfo ein phyfiologifches, 
d.h. ein phyſilaliſch-chemiſches oder ein mechaniſches Berhältnig. Aus 
diefen Gründen ift die Annahme der durch Darwin mehanifch be- 
gründeten Abftammungslehre für die gefammte Zoologie und Botanik 
eine zwingende und unabweiäbare Nothwendigkeit. 
Da nad) meiner Anfiht alfo die unermeßliche Bedeutung von 


30 Natürliche und übernatiktliche Schöpfungsgefhiiäten. 


Folgerungen herantreten, Taflen Sie uns einen geſchichtlichen Rüd- 
biid auf die wichtigften und verbreitetften von denjenigen Anfichten 
werfen, welche fih die Menfhen vor Darwin über die orgamifche 
Schöpfung, über die Entftehurg der mannichfaltigen Thier- und 
Pflanzenarten gebildet hatten. Es liegt dabei keineswegs in meiner 
Abfiht, Sie mit einem vergleichenden Ueberblid über alle die zahl. 
reihen Schöpfungsdichtungen der verfchiedenen Menfchen-Arten, -Rafs 
fen und -Stämme zu unterhalten. So intereffant und lohnend diefe 
Aufgabe, fowohl in ethnographifcher als in culturhiftorifcher Be⸗ 
siehung, au wäre, fo würde und diefelbe doch hier viel zu weit 
führen. Auch trägt die übergroge Mehrzahl aller diefer Schöpfungs- 
fagen zu fehr das Gepräge willfürliher Dichtung und des Mangels 
eingehender Raturbetrachtung,, als daß diefelben für eine naturwiſſen⸗ 
Haftliche Behandlung der Schöpfungägefhichte von Intereſſe wären. 
Ich werde daher von den nicht wiſſenſchaftlich begründeten Schöpfungd» 
geſchichten blos die moſaiſche hervorheben, wegen des beifpiellofen 
Einfluſſes, den fie in der abendlaͤndiſchen Gulturwelt gewonnen, und 
dann werde ich ſogleich zu den wiſſenſchaftlich formulirten Schöp- 
fungshypotheſen übergehen, welche erft nach Beginn des verfloſſenen 
Jahrhunderts, mit Linne, ihren Anfang nahmen. 

Alle verſchiedenen Borftellungen, welche fi die Menſchen je- 
mals von der Entftehung der verfhiedenen Thier- und Pflanzen- 
arten gemacht haben, faffen ſich füglih in zwei große, entgegen. 
gefepte Gruppen bringen, in natürlihe und übernatürlihe Schöp- 
fungsgefhiähten. 

Diefe beiden Gruppen entipreden im Großen und Ganzen den 
beiden verfhiedenen Hauptformen der menſchlichen Weltanſchauung. 
welche wir vorber ald moniſtiſche (einheitliche) und dualiſtiſche (zwie ⸗ 
frältige) Raturauffaffung gegenüber geftellt haben. Die geröbnliche 
dualiſtifche oder teleologifche (itale) Weltanſchauung muß die 
organifhe Ratur als das zwedmaͤßig auögeführte Produft eines 
planvoll wirkenden Schöpfer® anfeben. Sie muß in jeder einzelnen 
Ibier- und Pflanzenart einen „verkörperten Schdpfungdgedanfen” 


Naturliche und übernatärlihe Schöpfungsgefcicten. 31 


erbliden, den materiellen Ausdrud einer zwedmäßig thätigen End- _ 
urſache oder einer zwedthätigen Urſache (causa finalis). Sie 
muß nothwendig übernatürliche (micht mechanifche) Vorgänge für die 
Entftehung der Organismen in Anſpruch nehmen. Wir dürfen fie 
daher mit Recht als übernatürlide Schöpfungsgeſchichte 
bezeichnen. Bon allen hierher gehörigen teleofogifhen Schöpfungs- 
geſchichten gewann diejenige des Mofes den größten Einfluß, da 
fie durch fo bedeutende Naturforfcher, wie Linns, felbft in der Na- 
tuwiſſenſchaft allgemeinen Eingang fand. Auch die Schöpfungd- 
anfihten von Cuvier und Agaffiz, und überhaupt von der gro- 
Ben Mehrzahl der Raturforfcher ſowohl ald der Laien gehören in 
diefe Gruppe. 

Die von Darwin audgebildete Entwickelungötheorie dagegen, 
welche wir hier ala natürlihe Schöpfungsgeſchichte zu be- 
handeln haben, und welche bereitd von Goethe und Lamard 
aufgeftellt wurde, muß, wenn fie folgerichtig durchgeführt wird, 
ſchließlich nothwendig zu der moniftifhen oder mechaniſchen 
(cauſalen) Weltanfhauung hinführen. Im Gegenfag zu jener dua⸗ 
liſtiſchen ober teleologifhen Naturauffaffung betrachtet diefelbe die 
Formen der organiſchen Raturkörper, ebenfo wie diejenigen der an⸗ 
organiſchen, als die nothwendigen Produkte natürlicher Kräfte. Cie 
erblidt in den einzelnen Thier- und Pflanzenarten nicht verkörperte 
Gebanfen des perfönlihen Schöpferd, fondern den zeitweiligen Aus- 
drug eines mechaniſchen Entwidelungsganges der Materie, den Aus- 
drud einer nothwendig wirtenden Urſache oder einer mehanifchen 
Urſache (causa efficiens). Wo der teleologifhe Dualismus in 
den Schöpfungswundern die willfürlihen Einfälle eined launen- 
haften Schöpfer auffucht, da findet der caufale Monismus in den 
Entwidelungsprogefien die notwendigen Wirkungen ewiger und un« 
abaͤnderlicher Raturgefege. . ö 

Man hat diefen, hier von un vertretenen Monismus auch 
oft für identifh mit dem Materialiamus erflärt. Da man dem⸗ 
gemäß au den Darwinismus und überhaupt bie ganze Ent» 


32 Monismus und Materialismus. 


widelungstheorie als „materialiſtiſch“ bezeichnet hat, fo 
tann ich nicht umhin, ſchon hier mich von vornherein gegen die 
Zweideutigleit diefer Bezeichnung und gegen die Arglift, mit welder 
diefelbe von gewiſſen Seiten zur Verketzerung unferer Lehre benupt 
wird, ausdrücdlich zu verwahren. 

Unter dem Ausdrud „Materialiamus“ werden fehr allge- 
mein zwei gänzlich verſchiedene Dinge mit einander verwechfelt und 
vermengt, die im Grunde gar Nichts mit einander zu thun haben, 
nämlih der naturwiffenfhaftlihe und der fittliche Materialismus. 
Der naturwiffenfhaftlihe Materialiamud, welcher mit 
unferem Monismus identiſch ift, behauptet im Grunde weiter 
nichts, als daß Alles in der Welt mit natürlichen Dingen zugeht, 
daß jede Wirkung ihre Urſache und jede Urſache ihre Wirkung bat. 
Er ftellt alfo über die Gefammtheit aller uns erfeiinbaren Erſchei⸗ 
nungen das Caufal-Gefep, oder dad Gefe von dem nothwen ⸗ 
digen Zufammenhang von Urfache und Wirkung. Er verwirft da- 
gegen entfchieben jeden Wunderglauben und jede wie immer geartete 
Borftellung von übernatürlichen Vorgängen. Für ihn giebt es da- 
her in dem ganzen Gebiete menſchlicher Etkenntniß nirgends mehr 
eine wahre Metaphyſik, fondern überall nur Phyfit. Für ihn ift 
der ungertrennliche Zufammenhang von Stoff, Form umd Kraft 
feloftverftändfich. Diefer wiſſenſchaftliche Materialismus ift auf dem 
ganzen großen Gebiete der anorganifhen Ratuwiſſenſchaft, in der 
Phyfit und Chemie, in der Mineralogie und Geologie, längft fo 
allgemein anerfannt, daß fein Menſch mehr über feine alleinige 
Berechtigung im Zweifel if. Ganz anders verhält es ſich aber in 
der Biologie, in der organifchen Naturwiſſenſchaft, wo man die Gel« 
tung deflelben nod fortwährend von vielen Seiten ber beftreitet, 
ihm aber nichts Anderes, ald das metaphyſiſche Geſpenſt der Les 
bendkraft, ober gar nur theologifche Dogmen, entgegenhatten fann. 
Wenn wir nun aber den Beweis führen fönnen, daß die ganze er- 
tennbare Ratur nur Eine ift, daß diefelben „ewigen, ehernen, gro⸗ 
Ben Gefepe“ in dem Leben der Thiere und Planen, wie in dem 


Wiſſenſchaftlicher und fittlicher Materialismus. 33 


Wachsthum der Kryftalle und in der Triebkraft des Wafferdampfes 
thätig find, fo werden wir aud auf dem gefammten Gebiete der Bio- 
logie, in ber Zoologie wie in ber Botanik, überall mit demfelben Rechte 
den moniftifchen oder mechanifhen Stanbpunft fefthalten, mag man 
denfelben nun als „Materialismus“ verbächtigen oder nicht. In 
diefem Sinne ift die ganze exacte Naturwiſſenſchaft, und an ihrer 
Spige das Gaufalgefep, rein „materialiſtiſch“. 

Ganz etwas Anderes als diefer naturwiſſenſchaftliche ift der ſit t⸗ 
lihe oder ethifhe Materialismus, ber mit dem erfteren gar 
Nichts gemein bat. Diefer „eigentliche Materialismus verfolgt in 
feiner praftifchen Lebensrichtung fein andered Ziel, als den möglichft 
raffinirten Sinnengenuß. Er ſchwelgt in dem traurigen Wahne, daß 
der rein materielle Genuß dem Menfchen wahre Befriedigung geben 
tönne, und indem er diefe in feiner Form ber Sinnenluft finden kann, 
ſtürzt er fich ſchmachtend von einer zur andern. Die tiefe Wahrheit, 
daß der eigentliche Werth des Lebens nicht im materiellen Genuß, 
ſondern in der fittlichen That, und daf die wahre Glüdfeligfeit nicht 
in äußeren Glüdögütern, fondern nur in tugendhaftem Lebenswanbel 
beruht, ift jenem ethifchen Materialismus unbelannt. Daher ſucht man 
benfelben auch vergebens bei folchen Naturforſchern und Philofophen, 
deren höchfter Genuß der geiftige Naturgenuß und deren höchftes Ziel 
die Erkenntniß der Raturgefege ift. Diefen Materialismud muß man 
in den Paläften der Kirchenfürfien und bei allen jenen Heuchlern 
ſuchen, welche umter der äußeren Maöfe frommer Gotteöverehrung 
lediglich hierarchiſche Tyrannei und materielle Ausbeutung ihrer Mit- 
menfchen erftreben. Stumpf für den unendlichen Adel der fogenann- 
ten „rohen Materie” und der aus ihr entfpringenden herrlichen Erfcheis 
numgöwelt, unempfindlich für bie unerfhöpflichen Reize der Ratur, 
wie ohne Kenntniß von ihren Gefepen, verfegern diefelben die ganze 
Ratuwiſſenſchaft und die aus ihr entfpringende Bildung als fünd- 
lichen Materialismus, während fie felbft dem lepteren in der wiberlid)- 

ſten Geftalt fröhnen. Nicht allein die ganze Geſchichte der „unfehl- 
baren” Päpfte mit ihrer endlofen Kette von gräulichen Verbrechen, 

Herdel, Ratürl. Shöpiungsgeih. 5. Aufl.. 3 


34 Materialismus und Mechanismus. 


fondern auch die widerwärtige Sittengefehichte der Orthodorie in allen 
Religionsformen liefert Ihnen hierfür genügende Bemeife. 

Um num in Zufunft die übliche Verwechſelung dieſes ganz ver- 
werflichen fittlihen Materialismus mit unferem naturphilofophifchen 
Materialismus zu vermeiden, halten wir es für nöthig, den lepteren 
entweder Monismus oder Realismus zu nennen. Das Prinzip dieſes 
Monismus ift daifelbe, wad Kant das „Prinzip des Mecha- 
nismus“ nennt, und von dem er ausdrüdlich erflärt, dab es 
ohne daffelbe überhaupt keine Raturwiffenfchaft geben 
tönne. Diefed Prinzip ift von unferer „natürlichen Schöpfungdge- 
ſchichte“ ganz untrennbar, und fenngeichnet diefelbe gegenüber dem 
teleologifchen Wunderglauben der übernatürlihen Schöpfungsgefchichte. 

Laſſen Sie und nun zunächſt einen Blick auf die wichtigfte von 
alten übernatürlihen Schöpfungsgefdhichten werfen, diejenige des 
Mofes, wie fie und durd die alte Geſchichts- und Geſeßesurkunde 
des judiſchen Boltes, durch die Bibel, überliefert worden iſt. Ber 
tanntlich ift die mofaifche Schoͤpfungsgeſchichte, wie fie im erften Ka⸗ 
pitel der Geneſis den Eingang zum ulten Teftament bildet, in der gan⸗ 
zen jübifchen und chriftlichen Kulturwelt bis auf den heutigen Tag in 
allgemeiner Geltung geblieben. Diefer außerordentliche Erfolg erklärt 
fi) nicht allein aus der engen Verbindung derfelden mit den jüdifchen 
und hriftlihen Glaubenslehren, fondern auch aus dem einfachen und 
natürlichen Ideengang, welcher diefelbe durchzieht, und welcher vor- 
theifhaft gegen die bunte Schöpfungsmpthologie der meiften anderen 
Volker des Alterihums abfticht. Zuerſt ſchafft Gott der Herr die Erde 
als anorganifchen Weltkörper. Dann fheidet er Licht und Finſterniß, 
darauf Waſſer und Feſtland. Nun erft ift die Erde für Organismen 
bewohnbar geworben und es werben zunächft die Plangen, fpäter erft 
die Thiere erfchaffen, und zwar von ben fegteren zuerft die Bewohner 
des Waſſers und der Quft, fpäter erft die Bewohner des Feſtlandes. 
Endlich zulegt von allen Organismen ſchafft Gott den Menſchen, ſich 
felbft zum Ebenbilde und zum Beherricher der Erde. 

Zwei große und wichtige Grundgedanfen der natürlichen Gnt- 


Schöpfungsgefhichte des Mofes. „3 
widelungßtbeorie treten und in dieſer Schöpfungehnpothefe des Mo- 
ſes mit überrafender Klarheit und Einfachheit entgegen, der Ge- 
danfe der Sonderung oder Differenzirung, und der Gedante der 
fortfegreitenden Entwidelung oder Bervolltommnung. Obwohl 
Mofes diefe großen Gefege der organifhen Entwidelung, die wir 
fpäter als nothwendige Folgerungen der Abftammungslehre nachweilen 
werden, als die unmittelbare Bildungsthätigkeit eines geftaltenden 
Schöpfers anfieht, liegt Doch darin der erhabenere Gedanke einer fort- 
fHreitenden Entwidelung und Differenzirung der urfpränglich ein⸗ 
fahen Materie verborgen. Wir tönnen daher dem großartigen Ratur- 
verftändniß des jübijcen Gefepgeberd und der einfach natürlichen 
Saflung feiner Schopfungshypotheſe unfere gerechte und aufrihtige Be⸗ 
wunderung zollen, ohne darin eine ſogenannte „göttliche Offenbarung“ 
zu erblidden. Daß fie dies nicht fein kann, geht einfach ſchon daraus 
bervor, daß darin zwei große Grundirrtfümer behauptet werben, 
nämlich erftend der geocentrifhe Jrrtbum, daß die Erde der 
ſeſte Mittelpunkt der ganzen Welt fei, um welden fih Sonne, Mond 
und Sterne bewegen; und zweiten der anthropocentrifche Jrr- 
tbum, daß der Menſch das vorbedachte Endziel der irdischen Schöpfe 
ung fei, für deſſen Dienft die ganze übrige Natur nur geſchaffen fei. 
Der erſtere Irrthum wurde durch Kopernikus' Weltfoften im Be- 
ginm des fechäzehnten, der leptere durch Lamarcks Abftammungs- 
lehre im Beginn des neunzehnten Jahrhunderts vernichtet. 

Trogdem durch Kopernitus bereitd der geocentrifche Irthum 
der mofaifchen Schöpfungagefchichte nachgewieſen und damit die Auto⸗ 
tität derfelben als einer abfolut volltommenen göttlichen Offenbarung 
aufgehoben wurde, erhielt ſich diefelbe dennoch bis auf den heutigen 
Tag in folhem Anfehen, daß fie in weiten Kreifen das Haupthinder- 
niß für die Anmahme einer natürlichen Entwidelungstheorie bildet. 
Betanntlich haben felbft viele Raturforfer noch in unferem Jahr⸗ 
hundert verſucht, diefelbe mit ben Ergebniffen der neueren Ratur- 
wiſſenſchaft, insbeſondere der Geologie, in Einflang zu bringen, und 
+8. die fieben Schöpfungstage des Mofes als fieben große geos 

3* 


36 _ Schöpfungsgeihichte des Moſes. 

logiſche Perioden gedeutet. Indeſſen find alfe diefe fünftfichen Deu⸗ 
tungsverſuche jo volltommen verfehlt, daß fie bier feiner Widerlegung 
bedürfen. Die Bibel ift fein natunvijfenichaftlihes Wert, fondern 
eine Geſchichts⸗ Geſetzes⸗ und Religionsurtunde des jübifchen Volkes, 
deren hoher kulturgeſchichtlichet Werth dadurch nicht gefhmälert wird, 
daß fie in allen natuwiſſenſchaftlichen Fragen ohne jede maßgebende 
Bedeutung und voll von groben Irrthũmem ift. 

Bir können nun einen großen Sprung von mehr al8 drei Jahr- 
taufenden machen, von Moſes, welcher ungefähr um das Jahr 1480 
vor Chriſtus ſtarb, bis auf Linné, welcher 1707 nad Chriſtus ger 
boren wurde. Während diefed ganzen Zeitraums wurde feine Schöpf- 
ungsgeſchichte aufgeftellt, welche eine bleibende Bedeutung gewann, 
ober beren nähere Betrachtung an dieſem Orte von Interefie wäre. 
Insbeſondere während der fepten 1500 Jahre, ald da8 Chriftenthum 
die Weltherrfhaft gewann, blieb die mit deſſen Glaubendlehren ver- 
tnüpfte mofaifhe Schöpfungsgefhichte fo allgemein herrſchend, dag 
erft das neunzehnte Jahrhundert fich entſchieden dagegen aufzulehnen 
wagte. Selbſt der große ſchwediſche Naturforfcher Linne, der Be- 
gründer der neueren Naturgefchichte, ſchloß fi in feinem Raturfyftem 
auf das Engfte an die Schöpfungsgefhichte des Mofes an. 

Der außerorbentlihe Fortfgritt, welchen Karl inne in den 
fogenannten befchreibenden Naturwiſſenſchaften that, befteht befannt- 
lich in der Aufftellung eines Syſtems ber Thier- und Pflanzen» 
arten, welches er in fo folgerichtiger und logifch vollendeter Form durch⸗ 
führte, daß es bis auf den heutigen Tag in vielen Beziehungen die 
Richtſchnur für alle folgenden, mit den Formen der Thiere und Pflan- 
gen ſich befehäftigenden Naturforfcher geblieben ift. Obgleich das Sy ⸗ 
stem Linné's ein künſtliches war, obgleich er für die Klaffififation der 
Thier- und Pflanzenarten nur einzelne Theile als Eintheilungdgrund» 
tagen heroorfuchte und anwendete, hat dennoch dieſes Syſtem fich den 
größten Erfolg errungen, erſtens durch feine fonfequente Durchfüh- 
rung, und zweiten® durch feine ungemein wichtig geroordene Benen- 
nungsweiſe der Raturförper, auf welche wir bier nothwendig ſogleich 


Liune's ziveifache Benennung ber organifden Arten. 37 


einen Bli werfen müflen. Nachdem man nämlid vor Linne fih 
vergeblich abgemüht hatte, in da8 unendliche Chaos der ſchon damals 
befannten verfhiedenen Thier- und Pflanzenformen durch irgend eine 
paſſende Ramengebung und Zufammenftellung Licht zu bringen, ge⸗ 
lang es Linne dur Aufftellung der fogenannten „binären No— 
menklatur“ mit einem geüdlihen Griff diefe wichtige und ſchwierige 
Aufgabe zu löfen. Die binäre Nomenklatur oder die zweifache Bes 
nennung, wie fie Linn zuerft aufftellte, wird noch heutigen Tages 
ganz allgemein von allen Zoologen und Botanitern angewendet und 
wird fich unzweifelhaft fehr lange noch in gleicher Geltung erhalten. 
Sie befteht darin, daß jede Thier- und Pflanzenart mit zwei Namen 
bezeichnet wird, welche ſich ähnlich verhalten, wie Tauf- und Familien 
namen der menfhlihen Individuen. Der befondere Name, welcher 
dem menſchlichen Taufnamen entfprict, und welcher den Begriff der 
Art (Species) ausdrüdt, dient zur gemeinfchaftlihen Bezeihnung 
aller thierifchen ober pflanzlichen Einzelweſen, welche in allen wefent- 
lien Formeigenſchaften fih gleich find, und fi nur durch ganz 
untergeordnete Merkmale unterfcheiden. Der allgemeinere Name da- 
gegen, welcher dem menſchlichen Familiennamen entfpricht, und welcher 
den Begriff der Gattung (Genus) ausdrädt, dient zur gemeinfchaft« 
lichen Bezeichnung aller nächſt ähnlichen Arten oder Specied. Der ' 
allgemeinere , umfaffende Genusname wird nad) Tinne's allgemein 
gültiger Benennungsweife vorangeſetzt; der befondere, untergeordnete 
Speciesname folgt ihm nad. So 3. B. heißt die Hauskate Felis 
domestica, bie wilde Rape Felis catus, der Panther Felis pardus, 
der Jaguar Felis onca, der Tiger Felis tigris, der Löwe Felis leo; 
alle ſechs Raubthierarten find verfdiedene Species eines und defr 
felben Genus: Felis. Oder, um ein Beifpiel auß der Pflanzenwelt 
hinzuzufügen, fo heißt nah Linné's Benennung die Fichte Pinus 
abies, die Tanne Pinus picea, die Lärche Pinus larix, die Pinie 
Pinus pinea, die Zirbelfiefer Pinus cembra, das Knieholz Pinus 
mughus, die gewöhnliche Kiefer Pinus silvestris; alle fieben Nabel- 
holzarten find werfehiedene Species eines und deſſelben Genus: Pinus. 


38 Praltiſche und theoretiſche Bedeutung der binären Nomenllatur. 


Vielleicht ſcheint Ihnen dieſer von Linné herbeigeführte Forte 
ſchritt in der praktiſchen Unterſcheidung und Benennung der vielgeftal- 
tigen Organismen nur von untergeorbneter Wichtigkeit zu fein. Allein 
in Wirklichkeit war er von der allergrößten Bedeutung, und zwar for 
wohl in praftifcher als in theoretifcher Beziehung. Denn es wurde 
nun erft möglich, die Unmaffe der verfchiedenartigen organifhen For⸗ 
men nad) dem größeren und geringeren Grade ihrer Achnlichkeit zu⸗ 
fammenzuftellen und überfichtfih in dem Fachwerk des Syſtems zu 
ordnen. Die Regiftratur dieſes Fachwerks machte Linn6 dadurch 
noch überſichtlicher, daß er die nächjftähnlihen Gattungen (Genera) 
in fogenannte Orbnungen (Ordines) zufammenftellte, und daß er bie 
nãchſtaͤhnlichen Ordnungen in noch umfaffenderen Hauptabtheifungen, 
den Klaſſen (Classes) vereinigte. Es zerfiel alfo zunädhft jedes der 
beiden organifchen Reiche nad) Linne in eine geringe Anzahl von Klaf- 
fen; das Pflanzenreih in 24 Klaſſen, das Thierreih in 6 Klaſſen. 
Jede Klaſſe enthielt wieder mehrere Orbnungen. Jede einzelne Ord⸗ 
nung fonnte eine Mehrzahl von Gattungen und jede einzelne Gattung 
wiederum mehrere Arten enthalten. 

Nicht minder bebeutend aber, als der unfhägbare praktiſche 
Nupen, welchen Linné's binäre Nomenklatur fofort.für eine über« 
fichtliche ſyſtematiſche Unterfheidung, Benennung, Anordnung und 
Eintheilung der organifhen Formenwelt hatte, war der unberedhen« 
bare theoretifche Einfluß, welchen diefelbe alsbald auf die gefammte 
allgemeine Beurtheilung ber organifchen Formen, und ganz beſonders 
auf die Schöpfungsgefhichte gewann. Noch heute drehen ſich alle 
die wichtigen Grundfragen, welche wir vorher kurz erörterten, zulept 
um die Entſcheidung der ſcheinbar fehr abgelegenen und unwichtigen 
Borfrage, was denn eigentlich die Art ober Species ift? 
Roh heute kann der Begriff der organifhen Species als 
der Angelpunft der ganzen Schöpfungäftage bezeichnet werden, als 
der flreitige Mittelpunkt, um deffen verſchiedene Auffaffung fi alle 
Dawiniſten und Antidarwiniften berumfclagen. 

Nad der Meinung Darwins und feiner Anhänger find die 


Bedeutung bed Speciebegriffs bei Linns. 39 


verſchiedenen Specied einer und berfelben Gattung von Tieren und 
Pflanzen weiter nichts, ala verfdjiedenartig entwidelte Abkömmlinge 
einer und berfelden urfpränglihen Stammform. Die verfihiedenen 
vorhin genannten Nadelholgarten würden demnach von einer einzigen 
urfprünglichen Pinusform abftammen. Ebenfo würden alle oben an« 
geführten Kapenarten auß einer einzigen gemeinfamen Felisform ihren 
Urfprung ableiten, dem Stammvater der ganzen Gattung. Weiter 
hin müßten dann aber, der Abſtammungslehre entfprechend, auch 
alle verſchiedenen Gattungen einer und derſelben Ordnung von einer 
einzigen gemeinfhaftlihen Urform abftammen, und ebenfo endlich 
alle Ordnungen einer Klaſſe von einer einzigen Stammform. 

Nach der entgegengefepten Borftellung der Gegner Darwins 
find dagegen alfe Thier- und Pflangenfpecied ganz unabhängig von 


einander, und nur die Einzelmefen oder Individuen einer jeden Spe⸗ 


cies flammen von einer einzigen gemeinfamen Stammform ab. Fra⸗ 
gen wir fie num aber, vie fie ſich denn dieſe urfprünglihen Stamm- 
formen ber einzefnen Arten entftanden denen, fo antworten fie uns 
mit einem Sprung in das Unbegreiflihe: „fie find als ſolche ge- 
ſchaffen worben.“ 

Sinne felbft beftimmte den Begriff der Specieß bereit in dieſer 
Beife, indem er fagte: „Es giebt ſoviel verſchiedene Arten, ala im 
Anfang verſchiedene Formen von dem unendlichen Wefen erfhaffen 
worden find.“ („Species tot sunt divergae, quot diversas formas 
ab initio creavit infinitum ens“) Er ſchloß ſich alfo in diefer 
Beziehung aufs Engfte an bie mofaifche Schoͤpfungsgeſchichte an, 
welche ja ebenfalls die Pflanzen und Thiere „ein jegliches nach feiner 
Art“ erfehaffen werben läßt. Näher hierauf eingehend, meinte inne, 
daß urfprünglich von jeder Thier- und Pflanzenart entweder ein ein ⸗ 
seines Individuum oder ein Pärchen gefchaffen worden fei; und zwar 
ein Pärden, ober wie Mofes fagt: „ein Männlein und ein Fräu- 
fein“ von jenen Arten, welche getrennte Geſchlechtet haben; für jene 
Arten dagegen, bei melden jedes Individuum beiderlei Geſchlechts⸗ 
organe in fi) vereinigt (Hermaphroditen ober Zwitter) wie z. B. die 


40 Linnss Schopfungẽgeſchichte. 

Regenmürmer, die Garten - und Weinbergsſchneden, ſowie bie große 
Mehrzahl der Gewächſe, meinte Linné, fei es hinreichend, wenn 
ein einzelne Individuum erſchaffen worden fei. Linné ſchloß ſich 
weiterhin an die mofaifche Legende aud in Betreff der Sündfluth 
an, indem er annahm, daß bei diefer großen allgemeinen Weber- 
ſchwemmung alle vorhandenen Organismen erträntt worben feien, 
bis auf jene wenigen Individuen von jeder Art (fieben Paar von den 
Vögeln und von dem reinen Bieh, ein Paar von dem unreinen Bieh), 
welche in der Arche Noah gerettet und nad} beendigter Sünbfluth auf 
dem Ararat an das Land gefept wurden. Die geographifhe Schwie- 
rigkeit des Zuſammenlebens der verfchiedenften Thiere und Pflangen 
ſuchte er ſich dadurch zu erflären: der Ararat in Armenien, in einem 
warmen Klima gelegen, und bis über 16,000 Fuß Höhe auffteigend, 
vereinigt in fi) die Bedingungen für den zeitweiligen gemeinfamen 
Aufenthalt auch folder Thiere, die in verſchiedenen Zonen leben. &8 
fonnten zunähft alfo die an das Polarklima gewöhnten Thiere auf 
den alten Gebirgsrüden hinauftlettern, die an das warme Klima 
gewöhnten an den Fuß hinabgehen, und die Bewohner der gemäßig« 
ten Zone in der Mitte der Berghöhe fih aufhalten. Bon hier aus 
war die Möglichteit gegeben, ſich über die Erde nach Norden und 
Süden zu verbreiten. 

Es ift wohl kaum nöthig, zu bemerken, daß diefe Schöpfungs- 
hypotheſe Linné's, welche ſich offenbar möglichit eng an den berr- 
chenden Bibelglauben unzuſchließen fuchte, feiner ernftlihen Wider 
fegung bedarf. Wenn man die fonftige Klarheit des fcharffinnigen 
Linne erwägt, darf man vielleiht zweifeln, daß er felbft daran 
glaubte. Was die gleichzeitige Abftammung aller Individuen einer 
jeden Speties von je einem Elternpaare “(oder bei den hermaphrodi ⸗ 
tiſchen Arten von je einem Stammzwitter) betrifft, fo ift fie offenbar 
ganz unhaltbar; denn abgefehen von anderen Gründen, würden ſchon 
in den erften Tagen nad; gefchehener Schöpfung bie wenigen Raub- 
thiere ausgereicht haben, fämmtlichen Pflanzenfreffern den Garaus 
zu machen, wie die pflanzenfrefienden Thiere die wenigen Individuen 


Sinne’ Anſicht von der Entfehung ber Arten. 4 


der verfhiedenen Pflanzenarten hätten zerftören müffen. ‘Ein ſolches 
Gleichgewicht in der Defonomie der Natur, wie es gegenwärtig eriftirk, 
tonnte unmöglich flattfinden, wenn von jeder Art nur ein Individuum 
oder nur ein Paar urſprunglich und gleichzeitig gefchaffen wurde. 

Wie wenig übrigens inne auf diefe unhaltbare Schöpfungs- 
hypotheſe Gewicht legte, geht unter Anderem daraus hervor, daf er 
die Baftarderzgeugung (Hybridismus) als eine Quelle der Ent⸗ 
ftehung neuer Arten anerkannte. Ex nahm an, daß eine große Anzahl 
von felbfiftändigen neuen Specied auf diefem Wege, durch gefchlecht- 
liche Vermiſchung zweier verſchiedener Species, entftanden fei. In 
der That kommen ſolche Baftarde (Hybridae) durchaus nicht felten in 
der Ratur vor, und e8 ift jept erwiefen, daß eine große Anzahl von 
Arten 3. B. aus den Gattungen der Brombeere (Rubus), des Woll- 
traut® (Verbascum), der Weide (Salix), der Diftel (Cirsium) Ba— 
farbe von verſchiedenen Arten diefer Gattungen find. Ebenfo fen- 
nen wir Baftarde von Hafen und Kaninchen (zwei Specied der Gat- 
tung Lepus), ferner Baſtarde verfchiedener Arten der Hundegattung 
(Canis) u. f. w., welche als felbftftändige Arten ſich fortzupflanzen 
im Stande find. 

Es ift gewiß fehr bemerkenswerth, daß Rinnd bereits die phy⸗ 
fiologiſche Calfo mechaniſche) Entftehung von neuen Species auf die- 
fem Wege der Baftardzeugung behauptete. Offenbar fteht diefelbe in 
unvereinbarem Gegenfape mit ber übernatürlichen Entftehung der an⸗ 
deren Specied durch Schöpfung, welche er der moſaiſchen Schöpfungd- 
geijichte gemäß annahm. Die eine Abtheilung der Species würde 
demnach durch dualiftifche (teleologifche) Schöpfung, die andere durch 
moniſtiſche (mechanifche) Entwidelung entftanden fein. 

Das große und wohlverdiente Anfehen, welches fih Linné 
durd feine ſyſtematiſche Klaffififation und durch feine übrigen Ver— 
dienfte um die Biologie erworben hatte, war offenbar die Urfache, 
daß auch feine Schöpfungsanfigten das ganze vorige Jahrhundert 
hindurch unangefochten in voller und ganz allgemeiner Geltung blie- 
ben. Wenn nicht die ganze foftematifhe Zoologie und Botanik die 





42 Autoritat von inne’ Schopfungegelchichte. 

von Linne eingeführte Unterſcheidung, Klaſſiſikation und Benen- 
nung der Arten, und den damit verbundenen dogmatiſchen Specied- 
begriff mehr ober minder unverändert beibehalten hätte, würde man 
nicht begreifen, daß feine Vorſtellung von einer felbftftändigen Schöp- 
fung der einzelnen Species felbft bi® auf den heutigen Tag ihre 
Hertſchaft behaupten konnte. Nur durch die große Autorität Linns's 
und durch feine Anlehnung an den herrſchenden Bibelglauben war bie 
Erhaltung feiner Schoͤpfungshypotheſe bi auf unfere Zeit möglich. 


Dritter Vortrag, 
Schöpfungsgeſchichte nach Cuvier und Agaffiz. 





Allgemeine theoretiſche Bedentung des Spetiesbegriffs. Unterſchied in ber 
teoretifcen und praktiſchen Beſtinnnung des Artbegriffs. Cuviers Definition der 
Species. Cuviers Verdienſte als Begründer ber vergleichenden Anatemie. Unter- 
ſcheidung der vier Hauptformen (Typen oder Zweige) des Thierreichs durch Cuvier 
und Bär, Cuviers Berdienſte um bie Paläontologie. Seine Hypotheſe von ben 
Rovolutiomen be Erdballs und ben durch biefelben getrennten Schöpfungsperioden. 
Undelannte, übernotitefiche Urſachen dieſer Revolutionen und der darauf folgenden 
Reufgöpfungen. Teleologiſches Naturfyftem von Agaffg. Geine Borſtellungen 
vom Gchöpfungeplane und befien fehß Kategorien (Bruppenftufen des SyRemb). 
Agaffig’ Anfichten von ber Erſchaffung der Species. Grobe Vermenſchlichung 
(Anthropomorphismus) des Sqhopfers in der Schopfungshypotheſe von Agaffiz. 
Innere Unhaltbarleit derfelben und Widerſpruche mit ben won Mgaffiz entbediten 
wichtigen palãontelogiſchen Gefegen. 


Meine Herren! Der entſcheidende Schwerpunkt in dem Mei⸗ 
mmngskampfe, der von den Naturforſchern über die Entſtehung der 
Drganismen, über ihre Schöpfung oder Entwidelung geführt wird, 
liegt in den Borftellungen,, welche man ſich von dem Weſen der Art 
oder Specie® macht. Entweder hält man mit Linne die ver- 
ſchiedenen Arten für felbftftändige, von einander unabhängige Schöpf« 
ungsformen, oder man nimmt mit Darwin beren Blutövermandt« 
(haft an. Wenn man Linné's Anfiht theilt (welche wir in dem 
legten Bortrag auseinanderfepten), daß die verfihiedenen organifchen 
Specied unabhängig von einander entftanden find, daß fie feine 


44 Allgemeine theoretifche Bedeutung des Spetiesbegriffs. 


Blutöverwandtfchaft haben, fo ift man zu der Annahme gesungen, 
daß diefelben felbftftändig erfhaffen find; man muß entweder für 
jedes einzelne organiſche Individuum einen befonderen Schöpfungsaft 
annehmen (wozu ſich wohl fein Naturforfher entfhließen wird), oder 
man muß alle Individuen einer jeden Art von einem einzigen Indie 
viduum oder von einem einzigen Stammpaare ableiten, welches nicht 
auf natürlichem Wege entftanden, fondern durch den Machtſpruch 
eined Cchöpfers in das Dafein gerufen. it. Damit verläßt man aber 
daß fihere Gebiet vernunftgemaͤßer Natur-Erfenntniß und flüchtet ſich 
in das mythologiſche Reich des Wunderglaubens. 

Wenn man dagegen mit Darwin die Formenaͤhnlichkeit der 
verſchiedenen Arten auf wirkliche Blutsverwandtſchaft bezieht, fo muß 
man alle verfchiedenen Species der Thier- und Pflanzenwelt als 
veränderte Nachkommen einer einzigen ober einiger wenigen, höchſt 
einfachen, urfprünglihen Stammformen betrachten. Durch diefe An« 
ſchauung gewinnt dad natürliche Syſtem der Organismen (die baum ⸗ 
artig verzweigte Anordnung und Eintheilung derfelben in Klaffen, 
Ordnungen, Familien, Gattungen und Arten) die Bedeutung eines 
wirklichen Stammbaums, deffen Wurzel durch jene uralten fängit 
verſchwundenen Stammformen gebildet wird. ine wirklich natur» 
gemäße und folgerichtige Betrachtung der Organismen fann aber 
auch für diefe einfachften urfprünglihen Stammformen feinen über 
natürlichen Cchöpfungsakt annehmen, fondern nur eine Entftehung 
durd Urzeugung (Archigonie oder Generatio spontanes). Durch 
Darwins Anfiht von dem Weſen der Specied gelangen wir 
daher zu einer natürlihen Entwidelungstbeorie, durch 
Linné's Auffafjung des Artbegriffs dagegen zu einem übernatür- 
lihen Schöpfungsdogma. . 

Die meiften Raturforfcher nach inne, deifen große Berdienfte 
um die unterſcheidende und befchreibende Naturwiſſenſchaft ihm das 
böchfte Anfehen gewannen, traten in feine Fußtapfen, und ohne 
weiter über die Entftehung der Organifation nachjudentken, nahmen 
fie in dem Sinne Linn 6's eine felbftftändige Schöpfung der einzelnen 


Gegenſatz der theoretifchen und praftifchen Wefkimmung des Aribegriffs. 45 


Arten an, in Uebereinftimmung mit dem mofaifhen Schöpfungäbe- 
it. Die Grundlage ihrer Spetiesauffaſſung bildete Linne’s Aus- 
ſpruch: „Es giebt fo viele Arten, ald urfprünglich verſchiedene Formen 
erfhaffen worden find.” Jedoch müflen wir hier, ohne näher auf 
die Begriffsbeſtimmung der Specied einzugehen, fogleih bemerken, 
daß alle Zoologen und Botaniker in der fuftematifhen Praxis, bei 
der praftifchen Unterſcheidung und Benennung ber Thier- und Pflan- 
zenarten, ſich nicht im Geringften um jene angenommene Schöpfung 
ihrer elterlihen Stammformen fümmerten, und auch wirklich nicht 
kümmern onnten. In diefer Beziehung macht einer unferer erften 
Zoologen, der geiftvolle Fritz Müller, folgende treffende Bemer- 
fung: „Wie e8 in hriftlichen Landen eine Katehiemus- Moral giebt, 
die Jeder im Munde führt, Niemand zu befolgen ſich verpflichtet 
hält, oder von anderen befolgt zu fehen erwartet, fo hat auch die 
Zoologie ihre Dogmen, die man ebenfo allgemein befennt, als in 
der Praxis verläugnet.” („Für Darwin”, ©. 71)1°). Ein ſolches 
vernunftwidriges, aber gerabe darum mächtiged Dogma, und zwar 
das mädhtigfte non allen, ift das angebetete Linné ſche Specied- 
Dogma. Obwohl die allermeiften Naturforſcher demfelben blindlings 
fih unterwarfen, waren fie doch natürlich niemals in der Lage, die 
Aftammung aller zu einer Art gehörigen Individuen von jener ge⸗ 
meinfamen, urfprüngfich erſchaffenen Stammform der Art nachweifen 
zu fonnen. Bielmehr bedienten ſich ſowohl die Zoologen als die Bo— 
tanifer in ihrer foftematifchen Praxis ausſchließlich der Formähn- 
tigkeit, um bie verfhiedenen Arten zu unterfcheiden und zu bes 
nennen. Sie ftellten in eine Art oder Species alle organifchen Einzel» 
weſen, die einander in ber Formbildung fehr ähnlich oder faſt gleich 
waren, und die ſich nur durch fehr unbedeutende Formenumterfchiede 
von einander trennen ließen. Dagegen betrachteten fie als verfchiedene 
Arten diejenigen Individuen, welche wefentlichere oder auffallendere 
Unterfehiede in ihrer Körpergeftaltung darboten. Natürlich war aber 
damit ber größten Willkür in der foitematifchen Artunterſcheidung 
Thür und Thor geöffnet. Denm da niemals alle Individuen einer 


. 


46 Cuviers Definition der Speries. 

Species in allen Stüden völlig gleich find, vielmehr jede Art mehr 
‚oder weniger abändert (varürt),. fo vermochte Niemand zu fagen, 

weldyer Grad der Abänderung eine wirkliche „gute Art“, welcher Grad 

bloß eine Spielart ober Raſſe (Barietät) bezeichne. 

Nothwendig mußte diefe dogmatifche Auffaflung des Specied- 
begriffe® und bie damit verbundene Willtür zu den unlösbarften 
Widerfprügen und zu den unhaltbarften Annahmen führen. Dies 
zeigt ſich deutlich ſchon bei demjenigen Raturforſcher, welcher naͤchſt 
Sinne ben größten Einfluß auf die Ausbildung der Thierkunde ge- 
wann, bei dem berühmten Guvier (geb. 1769). Er ſchloß fi in 
feiner Auffaffung und Beitimmung ded Speciedbegriffd im Ganzen an 
inne an, und theilte feine Vorſtellung von einer unabhängigen Er- 
ſchaffung der einzelnen Arten. Die Unveränberlichkeit derfelben hielt 
Eupvier für fo wichtig, daß er ſich bis zu dem thörichten Ausſpruche 
verftieg: „bie Beitändigfeit der Species ift eine nothwendige Be- 
dingung für die Eyiftenz der witlenipaftlihen Raturgefhidhte.” Da 
Linné's Definition der Species ihm nicht genügte, machte er den 
Berfuch, eine genauere und für bie foftematifche Praris mehr verwerth- 
bare Begriffebeftimmung derſelben zu geben, unb zwar in folgender 
Definition: „Zu einer Art gehören alle diejenigen Individuen der 
Tiere und der Bilanzen, welche entweder von einander oder von ges 
meinfamen Stammeltern bewwiefenermaßen abſtammen, oder welche 
diefen fo ähnlich find, als Die fepteren unter fi.“ 

Guvier dachte ſich alfo im diefer Begiehung Folgendes: „Bei 
denjenigen organifchen Individuen, von denen wir willen, fie Ram- 
men von einer und derfelben Gitemnform ab, bei denen alfo ihre ger 
meinfame Abftammung emwiriſch erwieſen if, leidet es feinen Zweifel, 
daß fie zu einer Art gehören, wnögen diefelben nun wenig oder viel 
von einander abweichen. mögen fie fa gleich oder fehr ungleid) fein. 
&benfo gebören dann aber zu diefer Art auch alle Diejenigen Indi ⸗ 
viduen, welde von den Iepteren (dem aus gemeinfamem Stamm 
empitif abgeleiteten) nicht mehr verfchieden find, als diefe unter fh 
von einander abrveichen.” Wei mäberer Betrachtung diefer Specied- 


. 


Cuvier als Begründer der vergleidhenden Anatomie. 47 


deſinition Cuviers zeigt ſich fofort, daß diefelbe weder theoretiſch 
befriedigend, noch praftifch anwendbar iſt. Cuvier fing mit diefer 
Definition bereit an, fi in dem Kreife herum zu drehen, in wel« 
Gem faft alle folgenden Definitionen der Speried im Sinne ihrer 
Unberänberlichteit ſich bewegt haben. 

Bei der auferordentlichen Bedeutung, welche George Cuvier 
für die orgamifche Naturwiſſenſchaft gewonnen hat, angeſichts ber faft 
unbeſchraͤnkten Alleinherrfchaft, welche feine Anfichten während der 
erften Hälfte unfere® Jahrhunderts in der Thiertunde ausübten, er- 
ſcheint e8 an dieſer Stelle angemefien, feinen Einfluß nod etwas 
näher. zu beleuchten. Es ift died um fo nöthiger, als wir in Cuvier 
den bedeutendfien Gegner der Abftammungslehre und der moniftifchen 
Raturauffaffung zu bekämpfen haben. 

Unter den vielen und großen Berbienften Cuviers ftehen obenan 
diejenigen, melde er fih als Gründer der vergleidenden Ana- 
tomie erwarb. Während Linne die Unterfeidung der Arten, 
Gattungen , Ordnungen und Klaſſen meiften® auf äußere Charaktere, 
auf einzelne, leicht auffindbare Merkmale in der Zahl, Größe, Lage 
und Geftalt einzelner organifcher Theile des Körper? gründete, drang 
Euvier viel tiefer in da Wefen der Organifation ein. Er wies 
große und durchgreifende Verſchiedenheiten in dem inneren Bau der 
Tiere als die wefentlihe Grundlage einer wiſſenſchaftlichen Erkennt 
nig und Klaſſifikation derfelben nad. Er unterſchied natürliche Fa- 
milien in den Thierklaſſen und er gründete auf deren vergleichende 
Anatomie fein natürliches Spftem des Thierreichs. 

Der Fortſchritt von dem künftlihen Syſtem Linne’s zu dem 
natürlichen Syftem Cuviers war außerordentlich bedeutend. Linne 
hatte fämmtliche Thiere in eine einzige Reihe geordnet, melde er in 
ſechs Klaſſen eintheifte, zwei wirbelfofe und vier Wirbelthierklaſſen. Er 
unterfchied diefelben kuͤnſtlich nach der Beſchaffenheit des Blutes und 
des Herzens. Cuvier dagegen zeigte, daß man im Thierreich vier 
große natürliche Hauptabtheilungen unterfcheiden müſſe, welche er 
Sauptformen oder Generalpläne oder Zweige des Thierreichs (Em- 


48 uUnterſcheidung ber vier Hauptformen ober Typen bes Thierreichs. 


branchements) nannte, nämlih 1) die Wirbelthiere (Vertebrata), 
2) die Gliederthiere (Articulata), 3) die Weichthiere (Mollusca), 
und 4) die Strahlthiere (Radiata). Er wies ferner nad, daß in 
jedem diefer vier Zweige ein eigenthümficher Bauplan oder Typus 
erfennbar fei, welcher diefen Zeig von jedem ber drei andern Zweige 
unterfcheidet. Bei den Wirbelthieren ift derfelbe durch die Beſchaffen⸗ 
heit de3 inneren Skelets oder Knochengerüſtes, fowie durch den Bau 
und die Lage des Rudenmarks, abgefehen von vielen anderen Eigen- 
thümlichfeiten, beftimmt ausgedrüdt. Die Gfiederthiere werden durch 
ihr Bauchmark und ihr Rückenherz Harakterifirt. Für die Weichthiere 
iſt die fadartige, ungegliederte Körperform begeichnend. Die Strahl- 
thiere endlich unterſcheiden fi von den drei anderen Hauptformen 
durch die Zufammenfegung ihre® Körpers aus vier oder mehreren 
ftrahlenförmig vereinigten Hauptabfchnitten (Antimeren). 

Dan pflegt gewöhnlich die Unterſcheidung dieſer vier thierifchen 
Hauptformen, welche ungemein fruchtbar für die weitere Entwide ⸗ 
fung der Zoologie wurde, Cuvier allein zuzuſchreiben. Indeſſen 
wurde derfelbe Gebanfe faft gleichzeitig, und unabhängig von Cu ⸗ 
vier, von einem der größten, noch Tebenden Naturforſcher audge- 
ſprochen, von Bär, welcher um die Entwidelungsgefchichte der Thiere 
fih die hervorragendften Berbienfte erwarb. Bär zeigte, daß man 
aud in der Entwidelungsweife der Thiere vier verſchiedene Haupt- 
formen oder Typen unterfcheiden müfle*°). Diefe entfpredden den 
vier thierifchen Bauplänen, welche Cuvier auf Grund der vergleis 
Henden Anatomie unterſchieden hatte. So z. B. flimmt die indie 
viduelle Entwickelung aller Wirbelthiere in ihren Grundgügen von 
Anfang an fo fehr überein, dag man die Keimanlagen oder Em ⸗ 
bryonen der verfehiedenen Wirbelthiere (4. B. der Reptilien, Vögel 
und Eäugethiere) in der früheften Zeit gar nicht unterfcheiden Tann. 
Erft im weiteren Berlaufe der Entwickelung treten allmählich die 
tieferen Formunterſchiede auf, welde jene verſchiedenen Klaſſen und 
deren Ordnungen von einander trennen. Ebenſo ift die Rörperam- 
lage, welche fi) bei der individuellen Entwickelung der Gliederthiert 


Stanmwerwandtſchaft aller Thiere eines Typus. 49 


Safekten, Spinnen, Krebfe) ausbildet, von Anfang an bei allen 
Gliederthieren im Wefentlihen gleich, dagegen verfchieben von derje- 
nigen aller Wirbelthiere. Daffelbe gilt mit gewiſſen Einſchräänkungen 
von den Weichthieren und von ben Strahfthieren. 

Weber Bär, welcher auf dem Wege ber individuellen Entwide- 
lungẽgeſchichte (oder Embryologie), noch Euvier, welder auf dem 
Wege der vergleichenden Anatomie zur Unterſcheidung ber vier thieri- 
ſchen Typen oder Hauptformen gelangte, erkannte die wahre Urfache 
dieſes typifchen Unterſchiedes. Diefe wird und nur durch die Abſtam ⸗ 
mungslehre enthüllt. Die twunderbare und wirklich überraſchende 
Aehnlichkeit in der inneren Organifation, in den anatomifhen Strut- 
tuwerhaͤltniſſen, und bie noch merkwuͤrdigere Hebereinftimmung in ber 
embryonalen Entiwidelung bei allen Thieren, welche zu einem und 
demfelben Typus, 3. B. zu dem Zweige der Wirbelthiere, gehören, 
erklärt ſich in der einfachften Weife durch die Annahme einer gemein- 
famen Abftammung derfelben von einer einzigen Stammform. Ent- 
fliegt man ſich nicht zu diefer Annahme, fo bleibt jene durchgreifende 
Uebereinftimmung ber verfjiebenften Wirbeithiere im inneren Bau 
und in der Entwidelungsweife volltommen unerflärlih. Sie kann 
nur durch die Vererbung erklärt werden. 

Naͤchſt der vergleichenden Anatomie der Thiere und der durch 
diefe neu begründeten fuftematifchen Zoologie, war e8 beſonders die 
Berfteinerungstunde oder Paläontologie, um melde ſich 
Cuvier bie größten Berbienfte erwarb. Wir müffen diefer um fo 
mehr gedenken, als gerade die paläontologifchen und die damit ver- 
bundenen geologifhen Anſichten Cuvier® in der erften Hälfte unferes 
Jahrhunderts ſich faft allgemein im höchften Anfehen erhielten, und 
der Enttwidelung der natürlihen Schöpfungsgefchichte bie größten 
Hinderniſſe entgegenftelften. 

Die Berfteinerungen oder Betrefatten, deren wiflen- 
ſchaftliche Kenntniß Cuvier im Anfange unſeres Jahrhunderts in 
umfaſſendſtem Maße förderte und für die Wirbelthiere ganz neu ber 
gründete, fpielen in der „natürlichen Schöpfungägefchichte” eine der 

Hecdel, Retürl. Shöpfungsgeih. 5. Aufl. 4 


48 unnterſcheidung ber vier Hauptformen ober Typen des Thierreiche. 


branchements) nannte, nämlich 1) die Wirbelthiere (Vertebratr 
2) die Gliederthiere (Articulata), 3) die Weichthiere (Molluser- 
und 4) die Strahlthiere (Radiata). Er wies ferner nad, daß 
jedem dieſer vier Zmeige ein eigenthümlicher Bauplan oder Typ 
erfennbar fei, welcher dieſen Zweig von jedem der drei andern Ze - Set 
unterſcheidet. Bei den Wirbeithieren ift derfelbe durch die Befgafiz. Pr 
heit des inneren Skelets oder Knochengerüſtes, fowwie burd) den A. © Ei 1 
und die Lage ded Ruckenmarks, abgefehen von vielen anderen &r.., 
thümlichfeiten, beftimmt außgedrüdt. Die Gliederthiere werden u“ 2 
ihr Bauchmark und ihr Rücenherz harakterifirt. Für die Weichtf a 
ift die factartige, ungeglieberte Rörperform bezeihnend. Die Stu = u 
thiere endlich unterſcheiden fi von den drei anderen Hauptfot Ten, in 
durch die Zufammenfegung ihre® Körpers aus vier oder meht., 
ſtrahlenförmig vereinigten Hauptabfchnitten (Antimeren). . SE Yin 
Man pflegt gewöhnlich die Unterſcheidung diefer vier bie, a 
Hauptformen, welche ungemein fruchtbar für bie weitere Ente, Naht, 
lung der Zoologie wurde, Cuvier allein zugufchreiben. In ei 
wurde derfelbe Gedanke faft gleichzeitig, und unabhängig von aa MR 
vier, von einem der größten, noch Tebenden Naturforſcher —8 
ſprochen, von Bär, welcher um die Entwicelungsgeſchichte der 
fih die hervorragendften Verdienſte erwarb. Bär zeigte, —8 
auch in der Entwickelungsweiſe der Thiere vier verfhiedene £ —R 
formen oder Typen unterſcheiden müfle**). Dieſe entfprecpe Tin Flag 
vier thierifchen Bauplänen, welche Cuvier auf Grund der v Din dela 
chenden Anatomie unterſchieden hatte. So z. B. ſtimmt die" 
viduelle Entwickelung aller Wirbelthiere in ihren Grundzüge‘ ü 
Anfang an fo fehr überein, dag man die Keimanlagen Re, er: 
bryonen der verſchiedenen Wirbelthiere (4. B. der Reptilien, Sun 
und Säugethiere) in der früheften Zeit gar nicht unterfcheiber kn 5 Ri 
Erft im weiteren Verlaufe der Entwidelung treten allmähte 
tieferen Formunterſchiede auf, welche jene verſchiedenen Klaffin odtr 
deren Ordnungen von einander trennen. Ebenſo iſt die Kirn u 
lage, welche ſich bei der individuellen Entwidelung der Glieda > & 


* 


—8 

















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| 
| 


— ete cimed Typus. 49 


(ie. Zmmen. Sechie: anälrfber. von Anfang an bei allen 
Konhnen zur Weienslishen gjeich . dagegen verſchieden von derje · 
war Sireitiiere. Taieibe gilt mit gewiſſen Einfepränfungen 


möge ıober Gumbenehegae), woch Guvie!, welcher auf dem 

Sie vergieisbenbent Snntwunäe YaT Unterfepeibung ber vier thieri- 

— — gelangte, erfannte bie wahre Urfache 

kiinmihen Museriinebe. Dieje wird und nur durch die Abſtam · 

wc: aut. Die wenberbare und wirkich übersafepende 

Ankh im der inneren Orgamifation, in den anatomiſchen Strut- 

krrchänifen, und die madh merfwärbigere Weberei ung in der 

inmalen Genug bei allen Thieren, welche zu einem und 
an Tg, 3 D. zum dem Zioeige ber Wirbelthiert, gehören, 
dir äh in der eijadpiben. Weiſe durch bie Annahme einer gemein- 
un Ihdramung berfelben von einer einigen Siammform. En 
drinn fh ncu zu Diefer Annahıne, {0 bleibt jene durchgreifende 

“uaimmung der verfehiebeniten Wirbeithiere im inneren Ban 
2x der Cuiwidelungẽweiſe volltommen unertlärti. Sie kann 
S die Bererbung erflärt werben. 

. Mid der vergleichenden Anatomie der Thiere und der durch 
ur u begründeten foftematiigen Zoologie, war ed beſonders die 
riezerangätunde oder Paläontologie, um welche ſich 
tz er die größten Verdienſte erwarb. Bir müffen diefer um fo 
7x pieaten, aß8 gerade bie paläontologifäen und die damit ver- 
zen gsisgifchen Anfichten Cuviers in ber exften Hälfte unfere® 
6 faft allgemein im hochſten Anfehen erhielten, und 
:egkiung der natürlichen Scöpfungegefäiäte die größten 
wie esigegenftelltert. 

de Serkeimerungen ober Vetrefaften, deren wiſſen · 
ie Sun Guvier im Anfonge unfered Jahrhunderts in 
hierin Sage förderte und für die Birbeftfiere gan men be 
zaeı fuden in Der „natürlichen Soanfungegeräiäte” eine da 
— 5 4 


50 Frühere Anſichten von der Natur ber Berfteinerungen. 
wichtigſten Rollen. Denn diefe in verfteinertem Zuftande und erhal- 
tenen Refte und Abdrüde von auögeftorbenen Thieren und Pflanzen 
find die wahren „Dentmünzen der Schöpfung“, bie unträgli- 
hen und unanfechtbaren Urfunden, welche unfere wahrhaftige Ge- 
ſchichte der Organismen auf unerſchütterlicher Grundlage feftftellen. 
Alle verfteinerten ober foffilen Refte und Abdrüde berichten und von 
der Geftalt und dem Bau folcher Thiere und Pflanzen, welche ent- 
weber die Urahnen und die Voreltern der jept lebenden Organismen 
find, oder aber auögeftorbene Seitenlinien, die fi) von einem ge⸗ 
meinfamen Stamm mit ben jept lebenden Organismen abgezweigt 
baben. 

Diefe unfpäpbar werthvollen Urkunden der Schöpfungägefehichte 
haben fehr lange Zeit hindurch eine höchſt untergeordnete Rolle in 
der Wifienfhaft gefpielt. Allerdingd wurde die wahre Natur der- 
felben ſchon mehr als ein halbes Jahrtaufend vor Chriſtus ganz 
richtig erfannt, und zwar von dem großen griehifchen Philofophen 
Zenophanes von Kolophon, demfelben, welcher die fogenannie 
eleatifche Philofophie begründete und zum erften Male mit über- 
zeugender Schärfe den Beweis führte, dag alle Vorftellungen von 
perfönlichen Göttern nur auf mehr oder weniger grobe Anthropo- 
morphismen oder Vermenſchlichungen hinauslaufen. Kenophanes 
ftelite zum erften Male die Behauptung auf, daß die fofflen Ab- 
drüde von Thieren und Pflanzen wirklihe Refte von vormals leben- 
den Gefchöpfen feien, und daß die Berge, in deren Geflein man 
fie findet, früher unter Waffer geſtanden haben müßten. Aber ob- 
ſchon aud andere große Philofophen des Alterthums, und unter 
diefen namentlich Ariftoteles, jene richtige Ertenntniß theikten, 
blieb dennoch während des rohen Mittelalters allgemein, und bei 
vielen Naturforfchern felbft noch im voriger Jahrhundert, die An⸗ 
ſicht herrſchend, daß die Berfteinerungen fogenannte Raturfpiele feien 
(Lusus naturae), oder Produfte einer unbefannten Bildungöfvaft 
der Ratur, eined Geftaltungätriebes (Nisus formativus, Vis Pla 
stica). Weber dad Wefen und die Thätigkeit diefer räthfelhaften und 


Brüßere Anfichten von der Natur der Verfleinerumgen. 51 


myſtiſchen Bildungskraft machte man fi) die abenteuerlihften Vor⸗ 
fellungen. Einige glaubten, daß diefe bildende Schöpfungäfraft, die- 
ſelbe, der fie auch die Entftehung der lebenden Thier- und Pflan- 
zenarten zufchrieben, zahlreiche Verfuche gemacht Habe, Organismen 
verſchiedener Form zu ſchaffen; diefe Verſuche feien aber nur theil- 
weiſe gelungen, häufig fehlgeſchlagen, und folde mißglüdte Verſuche 
feien die Verfteinerungen. Nach Anderen follten die Petrefatten durch 
den Einfluß der Sterne im Inneren der Erde entftehen. Andere 
machten fich eine noch gröbere Borftellung , daß nämlich der Schöpfer 
zunãchſt aus mineralifhen Subftanzen, z. B. aus Gyps oder Thon, 
vorläufige Modelle von denjenigen Pflanzen» und Thierformen ge- 
macht Babe, die er fpäter.in organiſcher Subftanz ausführte, und 
denen er feinen lebendigen Odem einhauchte; die Petrefalten feien 
ſolche rohe, anorganifche Modelle. Selbft noch im vorigen Jahr⸗ 
hundert waren folche rohe Anfichten verbreitet, und es wurde z. B. 
eine befondere „Samenluft“ (Aura seminalis) angenommen, welde 
mit dem Waſſer in die Erde dringe und durch Befruchtung der Ge⸗ 
feine die Petrefaften, daB „Steinfleifd” (Caro fossilis) bilde. 
Sie fehen, es dauerte gewaltig lange, ehe die einfache und 
naturgemäße Vorſtellung zur Geltung gelangte, daß die Verfteinerun- 
gen wirklich nicht Anderes feien, als das, was fchon ber einfache 
Augenfhein lehrt: die unverweslichen Ueberbleibfel von geftorbenen 
Drganismen. Zwar wagte der berühmte Maler Leonardo da 
Binei ſchon im fünfzehnten Jahrhundert zu behaupten, daß der aus 
dem Waſſer beftändig ſich abfepende Schlamm die Urſache der Ber- 
fteinerungen fei, indem er die auf dem Boden der Gemwäfler liegen⸗ 
den unverweslihen Kalkſchalen der Muſcheln und Schneden um« 
ſchließe, und allmählich zu feftem Geftein erhärte. Das Gleiche be- 
bauptete auch im ſechszehnten Jahrhundert ein Parifer Töpfer, Pa- 
liſfy, welcher ſich durch feine Porzellanerfindung berühmt machte. 
Allein die fogenannten „Gelehrten von Fach” waren weit entfernt, 
diefe richtigen Ausfprüche des einfachen gefunden Menfchenverftandes 
du würdigen, und erft gegen das Ende de vorigen Jahrhunderts, 
4* 


52 Begründung der Paläontologie oder Berfteinerungshube. 


während der Begründung der neptuniftiichen Geologie durch Wer⸗ 
ner, gewannen diefelben allgemeine Geltung. 

Die Begründung der firengeren wiſſenſchaftlichen Paläontologie 
fällt jedoch erft in den Anfang unfere® Jahrhunderts, als Cuvier 
feine klaſſiſchen Unterfuhungen über die verfteinerten Wirbeltbiere, 
und fein großer Gegner Lamarck feine bahnbrechenden Forſchungen 
über die foffilen wirbellofen Thiere, namentlich die verfteinerten Schne- 
den und Muſcheln, veröffentlichte. In feinem berühmten Werke 
„über die foffilen Knochen“ der Wirbelthiere, insbeſondere der Cäu- 
gethiere und- Reptilien, gelangte Cuvier bereits zur Erfenntniß eini- 
ger fehr wichtigen und allgemeinen paläontologifchen Gefepe, welche 
für die Schöpfungsgefchichte große Bebeutung gewannen. Dahin ge 
hört vor Allen der Sap, daß die auögeftorbenen Thierarten, deren 
Ueberbleibfel wir in den verſchiedenen, über einander liegenden Schich- 
ten der Exbrinde verfteinert vorfinden, ſich um fo auffallender von 
den jept noch febenden, verwandten Thierarten unterfcheiden , je tiefer 
jene Erdſchichten fiegen, d. h. je früher die Thiere in der Borzeit leb⸗ 
ten. In der That findet man bei jedem ſenkrechten Durchſchnitt der 
geſchichteten Erdrinde, daß die verfchiedenen, aus dem Waffer in ber 
fimmter hiftorifcher Reihenfolge abgefepten Erdſchichten durch ver- 
ſchiedene Petrefatten harakterifirt find, und da diefe auögeftorbenen 
Drganismen denjenigen der Gegenwart um fo ähnfiher werben, je 
weiter wir in der Schichtenfolge aufwaͤrts fteigen, d. h. je jünger 
die Periode der Erdgeſchichte war, in der fie febten, farben, und 
von den abgelagerten und erhärtenden Schlammſchichten umfchloffen 
wurden. 

So wichtig diefe allgemeine Bahmehmung Eu vierd einerfeit® 
mar, fo wurde fie doch andrerſeits für ihn die Quelle eines folgen- 
ſchweren Irrthums. Denn indem er die harakteriftifchen Berfteine- 
rungen jeder einzelnen größeren Schichtengruppe, welde während 
eined Hauptabſchnittes der Erdgefchichte abgelagert wurde, für gärg« 
lich verſchieden von denen der darüber und der darunter liegenden 
Schichtengruppe hielt, indem er irthümlich glaubte, daß niemalß eine 


Cuviers Hypotheſe von ben getrennten Perioden der Erdgeſchichte. 53 


un biefelbe Thierart in zwei auf einander folgenden Schichtengruppen 
fi vorfinde, gelangte er zu der falfchen Borftellung, welche für die mei- 
ften nachfolgenden Naturforſcher maßgebend wurde, daß eine Reihe 
von ganz verfhiedenen Schöpfungäperioden aufeinander gefolgt fei. 
Jede Periode follte ihre ganz beſondere Thier- und Pflanzenwelt, 
eine ihr eigenthümfiche, fpecifiihe Fauna und Flora befeflen haben. 
Cuvier ftellte fih vor, daß die ganze Gefchichte der Erdrinde feit 
der Zeit, feit welcher überhaupt lebende Weſen auf der Erdrinde auf⸗ 
traten, in eine Anzahl volltommen getrennter Perioden oder Hauptab- 
ſchnitte zerfalle, und daß die einzelnen Perioden durch eigenthümliche 
Ummälzungen unbefannter Natur, fogenannte Revolutionen (Kata 
Migamen oder Rataftrophen) von einander gefchieben fein. Jede Re- 
volution hatte zunächft die volllommene Vernichtung der damals le⸗ 
benden Thier- und Pflanzenwelt zur Folge, und nad ihrer Beendie 
gung fand eine vollftändig neue Schöpfung ber organiſchen Formen 
ſtatt. Eine neue Welt von Thieren und Pflanzen, durchweg fpecififch 
verſchieden von denen der vorhergehenden Gefdichtöperiode, wurde 
mit einem Male in das Leben gerufen, und bevölferte nun wieder 
eine Reihe von Jahrtaufenden hindurch den Erdball, bis ſie plötzlich 
durch den Eintritt einer neuen Revolution zu Grunde ging. 

Bon dem Weſen und den Urfachen dieſer Revolutionen fagte 
Eupier ausbrüdfih, daß man ſich feine Vorftellung darüber machen 
fönne, und daß die jept wirffamen Kräfte der Natur zu einer Erklä- 
tung derfelben nicht außreichten. Als natürliche Kräfte oder mecha- 
niſche Agentien, welde in der Gegenwart beftändig, obwohl lang⸗ 
fom , an einer Umgeftaltung der Erdoberfläche arbeiten, führt Cu⸗ 
vier vier wirkende Urfachen auf: erften den Regen, welder die 
ſteilen Gebirgsabhänge abfpült und Schutt an deren Fuß anhäuft; 
zweitens bie fliegenden Gewäffer, welche dieſen Schutt fortfüh- 
ven und als Schlamm im ftehenden Wafler abfepen; drittens das 
Meer, deſſen Brandung die fteilen Küftenränder abnagt, und an 
flachen Küftenfäumen Dünen aufwirft; und endlich vierten® die Bul- 
kane, welche die Schichten der erhärteten Erdrinde durchbrechen und 


54 Cuviers Hypothefe von den Revolutionen ber Erboberfläde. 


in die Höhe heben, und welche ihre Auswurföprodukte aufhäufen 
und umberftreuen. Während Cuvier die beftändige langſame Um⸗ 
bildung der gegenwärtigen Erdoberflaͤche durch diefe vier mächtigen 
Urſachen anertennt, behauptet er gleichzeitig, daß biefelben nicht aus · 
gereicht haben könnten, um die Exdrevofutionen der Vorzeit auszu⸗ 
führen, und dag man ben anatomifchen Bau der ganzen Erbrinde 
nicht durch die nothwendige Wirkung jener mechaniſchen Agentien er- 
lären könne: vielmehr müßten jene wunderbaren, großen Umtäl- 
jungen der ganzen Erdoberfläche durch ganz eigenthümliche, uns gänz · 
lich unbekannte Urfachen bewirkt worden fein, der gewöhnliche Ent» 
wickelungðfaden fei durch diefe Revolutionen zerriflen, der Gang der 
Natur verändert. 

Diefe Anfihten legte Cuvier in einem befonderen, aud ins 
Deutſche überfepten Buche nieder: „Ueber die Revolutionen der Exrd- 
oberflähe, und die Veränderungen, welche fie im Thierreich hervor- 
gebracht haben“. Sie erhielten fih lange Zeit hindurch in allgemeie 
ner Geltung, und wurden das größte Hinderniß für die Entwidelung 
einer natürlichen Schoͤpfungsgeſchichte. Denn wenn wirklich folde, 
Alles vernichtende Revolutionen eriftirt hatten, fo war natürlich eine 
Eontinuität der Artenentwicelung, ein zufammenhängender Faden 
der organifchen Erdgeſchichte gar nicht anzunehmen, und man mußte 
dann feine Zuflucht zu der Wirkſamkeit übernatürlicher Kräfte, zum 
Eingriff von Wundern in den natürlichen Gang der Dinge nehmen. 
Nur dur Wunder fonnten die Revolutionen der Erde herbeigeführt 
fein, und nur dur Wunder konnte nach deren Aufhören, am An» 
fange jeder neuen Periode, eirie neue Thier- und Pflanzenwelt gefchaf- 
fen fein. Für das Wunder hat aber die Raturwiffenfhaft nirgend® 
einen Plag, fofern man unter Wunder einen Eingriff übernatürlicher 
Kräfte in den natürlichen Entwidelungsgang ber Materie verfteht. 

Ebenfo wie die große Autorität, welche ſich Linné durd die 
foftematifche Unterſcheidung und Benennung der organifchen Arten 
gewonnen hatte, bei feinen Rachfolgern zu einer völligen Verkndche · 
rung de dogmatiſchen Speciedbegriffs, und zu einem wahren Miß- 


Cudiers Ohpotheſe von den Revelntionen ber Erdoberfläche. 55 


brauche ber ſyſtematiſchen Artunterſcheidung führte; ebenfo wurden 
die großen Verdienſte, welche fih Euvier um Kenninig und Unter- 
fheidung der auögeftorbenen Arten erworben hatte, die Urſache einer 
allgemeinen Annahme feiner Revolutiond« ober Rataftrophenlehre, 
und der damit verbundenen grundfalſchen Schöpfungsanfihten. In 
Folge defien hielten während der erften Hälfte unſeres Jahrhunderts 
die meiften Zoologen und Botaniker an der Anficht feit, daß eine 
Reihe unabhängiger Perioden der organifchen Erdgeſchichte exiſtirt 
habe, jede Periode fei durch eine beftimmte, ihr ganz eigenthümliche 
Bevölterung von Thier- und Pflanzenarten auögezeichnet geweſen; 
diefe fei am Ende der Periode duch eine allgemeine Revolution ver- 
nichtet, und nach dem Aufhören der Iepteren wiederum eine neue, 
fperififch verſchiedene Thier- und Pflanzenwelt erſchaffen worden. 
Zwar machten ſchon frühzeitig einzelne felbfiftändig denkende Köpfe, 
vor Allen der große Raturphilofoph Ramard, eine Reihe von ge- 
wichtigen Gründen geltend, welche dieſe Rataflyamentheorie Cuviers 
widerlegten, und welche vielmehr auf eine ganz zufammenhängende 
und ununterbrochene Entwidelunggefhichte der gefammten organi- 
ſchen Exbbevöfferung aller Zeiten hinwieſen. Sie behaupteten, daß 
die Thier- und Pflanzenarten der einzelnen Perioden von denen der 
naͤchſt vorhergehenden Periode abflammen und nur die veränderten 
Rachtommen ber erfteren feien. Indeſſen der großen Autorität Cu⸗ 
viers gegenüber vermochte damals diefe richtige Anficht noch nicht 
durchzudringen. Ja felbft nachdem durch Lyells 1830- erfchienene, 
llaſſiſche Prinzipien der Geologie die Kataftrophenlehre Cuviers aus 
dem Gebiete der Geologie gänzlich verdrängt worden war, blieb feine 
Anfiht -von der ſpecifiſchen Berfchiedenheit der verfchiedenen organis 
ſchen Schöpfungen trogdem auf dem Gebiete der Paläontologie noch 
vielfach in Geltung. (Gen, Morph. II, 312.) 

Durch einen feltfamen Zufall geſchah es vor fünfzehn Jahren, daß 
faft zu derfelben Zeit, ala Cuviers Schöpfungagefhichte durch Dar- 
wins Werk ihren Todesſtoß erhielt, ein anderer berühmter Naturfor- 
fer den Berfuch unternahm, diefelbe von Neuem zu begründen, und 


56 Teleologiſches Naturſyſtem von Agaffg. 


in ſchroffſter Form ald Theil eines teleologifh - theologiſchen Ratur- 
ſyſtems durchzuführen. Der Schweizer Geologe Louis Agaſſiz 
nämlich, welcher durch feine von Schimper und Eharpentier 
entlehnten Gletſcher· und Eißeittheorien einen hohen Ruf erlangt hat, 
und welder eine Reihe von Jahren in Nordamerika lebte (geftorben 
1873), begann 1858 die Veröffentlihung eines großartig angelegten 
Werkes, welches den Titel führt: „Beiträge zur Naturgeſchichte der 
vereinigten Staaten von Nordamerita”. Der erſte Band diefer Ra- 
turgefehichte, welche durch den Patriotismus der Norbamerifaner eine 
für ein fo großes und foftfpieliges Werk unerhörte Verbreitung erhielt, 
führt den Titel: „Ein Verſuch über Kiaffifitationdy“. Agaffiz er- 
läutert in diefem Berfuche nicht allein das naturliche Syftem der Dr- 
ganismen und die verfhiedenen darauf abzielenden Klaffififationd- 
verſuche der Naturforfcher, fondern auch alle allgemeinen biologiſchen 
Verhältniffe, welche darauf Bezug haben. Die Entwidelungsgeſchichte 
der Organidmen, und zwar ſowohl die embryologiſche ald die pa« 
laͤontologiſche, ferner die vergleichende Anatomie, fobann bie allge- 
meine Dekonomie ber Natur, die geographifche und topographifche 
Verbreitung der Thiere und Pflanzen, kurz faft alle allgemeinen Er- 
ſcheinungsreihen der organiſchen Natur, kommen in dem Klaffifita- 
tionsverſuche von Agaffiz zur Befprehung, und werden ſaͤmmtlich 
in einem Sinne und von einem Standpunkte aus erläutert, welcher 
demjenigen Darwins auf das Schrofffte gegenüberfteht. Während 
dad Hauptverdienft Darwins darin befteht, natürliche Urſachen 
für die Entftehung der Thier- und Pflanzenarten nadyumeifen, und 
fomit die mechaniſche oder moniftifche Weltanfhauung auch auf diefem 
ſchwierigſten Gebiete der Schoͤpfungsgeſchichte geltend zu machen, ift 
Agaffiz im Gegentheil überall beftrebt, jeden mechanifchen Borgang 
aus dieſem ganzen Gebiete völlig auszuſchließen und überall den 
übernatürlihen Gingriff eines perſonlichen Schöpfer® an die 
Stelle der natürligen Kräfte der Materie zu fegen, mithin eine ent- 
fehieden teleologiſche oder dualiſtiſche Weltanfhauung zur Geltung zu 
bringen. Schon aus biefem Grunde ift e8 gewiß angemeffen, wenn 


Agaff’ Anficten von ber Urt ober Speries. 57 
ich hier auf die biologiſchen Anfihten von Agaffiz, und indbefon- 
dere auf feine Schöpfungsvorftellungen, etwas näher eingehe, um 
fo mehr, al8 fein anderes Werk unferer Gegner jene wichtigen all» 
gemeinen Grundfragen mit gleicher Ausfuhrlichteit behandelt, und als 
zugleich bie völlige Unhaltbarkeit ihrer dualiftiihen Weltanfhauung 
fich daraus auf das Marfte ergiebt. 

Die organifge Art oder Species, beren verſchiedenartige 
Auffaffung wir oben als den eigentlichen Angelpunft der entgegen- 
gefepten Schöpfungsanfidhten bezeichnet haben, wird von Agaffiz, 
ebenfo wie von Eupier und inne, als eine in allen weſentlichen 
Merkmalen unveränderliche Geftalt angefehen; zwar können die Arten 
innerhalb enger Grenzen abändern oder varüiren, aber nur in unwe⸗ 
fentfichen, niemals in weſentlichen Eigenthumlichteiten. Niemals kön- 
nen aus den Abänderungen oder Varietäten einer Art wirklich neue 
Specieß hervorgehen. Keine von allen organiſchen Arten ftammt alfo 
jemal® von einer anderen ab; vielmehr ift jede einzelne für ſich von 
Gott geſchaffen worden. Jede einzelne Thierart ift, wie ſich Agaſſiz 
ausbrüdt, ein verkörperter Schöpfungsgebante Gottes. 

In ſchroffem Gegenfag zu ber durch die paläontologifhe Erfah- 
rung fefigeftellten Thatfache, daß die Zeitdauer der einzelnen organi- 
hen Arten eine hoͤchſt ungleiche ift, und daß viele Species unver» 
ändert durch mehrere aufeinander folgende Perioden der Erdgeſchichte 
bindurdgehen, während Andere nur einen Meinen Bruchtheil einer 
folgen Periode durchlebten, behauptet Agaffiz, daß niemals eine 
und diefelbe Species in zwei verſchiedenen Perioden vortomme, und 
daß vielmehr jede einzelne Periode durch eine ganz eigenthümliche, 
ihr ausſchließlich angehdrige Bevölkerung von IThier- und Pflanzen- 
arten charakterifirt fei. Er theilt femer Cuviers Anfiht, daß durch 
die großen und allgemeinen Rebofutionen der Erdoberfläche, welche 
je zwei auf einander folgenbe Perioden trennten, jene ganze Bevölte: 
rung vernichtet und nad) deren Untergang eine neue, davon ſpecifiſch 
verfäjiedene gefchaffen wurde. Diefe Reufhöpfung läßt Agaffiz in 
der Weiſe gefchehen, daß jedesmal die gefummte Erdbevdllerung in 


58 Agaffiz' Anfhten vom natürlichen Sufteme der Organismen. 


ihrer durchſchnittlichen Individuenzahl und in den der Dekonomie der 
Natur entſprechenden Wechfelbegiehungen der einzelnen Arten vom 
Schöpfer als Ganzes plöplih in die Welt gefept worden fei. Hier 
mit tritt er einem ber beftbegründeten und wichtigſten Gefepe der 
Thier- und Pflanzengeographie entgegen, dem Geſehe nämlich, dab 
jede Species einen einzigen urfprüngfichen Entſtehungsort oder einen 
fogenannten Schöpfungsmittelpunft befigt, von dem auß fie ſich über 
die übrige Erbe allmählich verbreitet hat. Statt deflen läßt Agaſſiz 
jede Species an verfhiebenen Stellen der Erdoberfläche und ſogleich 
in einer größeren Anzahl von Individuen geſchaffen werben. 

Das natürlihe Syftem der Organismen, deſſen ver 
ſchiedene über einander geordnete Gruppenftufen oder Kategorien, die 
Zweige, Klaffen, Ordnungen, Familien, Gattungen und Arten, wir 
der Abftammungslehre gemäß als verfhiedene Aeſte und Zweige des 
gemeinſchaftlichen organifhen Stammbaumes betrachten, ift nach 
Agaffiz der unmittelbare Ausdrud des göttlichen Schöpfungsplanes, 
und indem der Naturforfcher das natürliche Syſtem erforſcht, denkt er 
die Chöpfungsgedanfen Gottes nad. Hierin findet Agaffiz den 
kraͤftigſten Beweis dafür, daß der Menſch das Ebenbild und Kind 
Gottes ift. Die verfhiedenen Gruppenftufen oder Aategorien des 
natürlihen Syſtems entfpredhen den verſchiedenen Stufen der Aut- 
bildung, welche der göttliche Schöpfungsplan erlangt hatte. Beim 
Entwurf und bei der Ausführung dieſes ‘Planes vertiefte ſich der 
Schöpfer, von allgemeinften Schöpfungsideen auögehend, immer mehr 
in die befonderen Einzelheiten. Was alfo z. B. das Thierreich betrifft. 
fo hatte Gott bei deſſen Schöpfung zunächft vier grundverfehiedene 
Ideen vom Thierkörper, welche er in dem verſchiedenen Bauplane der 
vier großen Hauptformen, Typen oder Zweige des Thierreich® verkör- 
perte, in den Wirbelthieren, Gliederthieren, Weichthieren und Strapl- 
thieren. Indem nun der Schöpfer darüber nachdachte, in welcher 
Art und Weife er diefe vier verfhiedenen Baupläne mannichfaltig aud- 
führen fönne, ſchuſ er zunächft innerhalb jeder der vier Hauptformen 
mehrere verſchiedene Alafien, 3. B. in der Wirbelthierform die Klaſſen 


Agaffiz’ Anſichten vom Schöpfungsplane. 59 


der Säugetiere, Vögel, Reptilien, Amphibien und Fiſche. Weiter- 
hin vertiefte fih ‚dann Gott in die einzelnen Klaſſen und brachte 
durch verfhiebene Abftufungen im Bau jeder Klaffe deren einzelne 
Ordnungen hervor. Durch weitere Dariation der Ordnungsform er- 
fhuf er die natürlichen Familien. Indem der Schöpfer ferner in 
jeder Familie die legten Struftureigenthümlichteiten einzelner Theile 
varürte, entftanden die Gattungen oder Genera. Endlich zulept ging 
Gott im weiteren Ausdenten feines Schöpfungsplane® fo fehr ind 
Einzelne, daß die einzelnen Arten ober Species ind Leben traten. 
Diefe find alfo die verförperten Schdpfungsgedanten der fpeciellften 
Art. Zu bedauern ift dabei nur, daß der Schöpfer diefe feine fpe- 
tiellſten und am tiefften durchgedachten „Schöpfungsgedanken“ in fo 
fehr unklarer und loderer Form ausdrüdte und ihnen einen fo ver- 
ſchwommenen Stempel aufprägte, eine fo freie Variations⸗Erlaubniß 
mitgab, daß fein einziger Naturforfcher im Stande ift, die „guten“ 
von den „ſchlechten Arten“, die echten „Species“ vun den Spielarten, 
Varietäten, Raffen u. ſ. w. zu umterfcheiden. (Gen. Morph. II, 374.) 

Sie fehen, der Schöpfer verfährt nah Agaſſiz' Vorftellung 
beim Hervorbringen der organifhen Formen genau ebenfo wie ein 
menfchficher Baukünſtler, der ſich die Aufgabe geftellt hat, möglichft 
viel verfejiedene Bauwerke, zu möglichft mannichfaltigen Zweden, in 
mögfichft abweichendem Style, in möglichft verſchiedenen Graben der 
Einfachheit, Pracht, Groͤße und Vollkommenheit auszudenten und 
auszuführen. Diefer Architekt würbe zunächft vielleicht für alle diefe 
Gebäude vier verfchiedene Style anwenden, etwa den gothifchen, by⸗ 
zantiniſchen, chineſiſchen und Roccocoſtyl. In jedem diefer Style 
würde er eine Anzahl von Kirchen, Paläften, Kafernen, Gefäng- 
niffen und Wohnhäufern bauen. ebe diefer verfhiedenen Gebäudes 
formen würde er in roheren und vollfommneren, in größeren und 
fleineren, in einfachen und prächtigen Arten ausführen u. ſ. w. In— 
fofem wäre jedoch der menfchliche Architekt vielleicht noch beffer ald 
der göttliche Schöpfer daran, daß ihm in der Anzahl der Gruppen- 
fufen alle Freiheit gelaffen wäre. Der Schöpfer dagegen darf fih 


60 Ageffg' Anfihten vom Schepfer unb won der Cchäpfung. 


nad Agaffiz immer nur innerhalb der genannten ſechs Gruppen- 
flufen oder Kategorien bewegen, inmerhalb der Art, Gattung, Fa- 
mifie, Ordnung, Kaffe und Typus. Mehr ald diefe ſechs Kate- 
gorien giebt 8 für ihm nicht. 

Benn Sie in Agaſſiz' Werk über die Maffififation ſelbſt die 
weitere Ausführung und Begründung diefer ſeltſamen Anfichten Iefen, 
fo werden Sie faum begreifen, wie man mit allem Anfchein veiffen- 
ſchaftlichen Emfted die Bermenfhlihung (den Anthropomor- 
pHismus8) des göftfihen Schöpfer® fo weit treiben, und eben durch 
die Ausführung im Einzelnen bis zum verfehrteften Unfinn ausmalen 
Bann. In diefer ganzen Borftellungsreihe ift ber Schöpfer weiter 
nichts als ein allmächtiger Menſch, der von Langerweile geplagt, 
fich mit dem Ausdenken und Aufbauen möglihft mannichfaltiger 
Spielzeuge, ber organiſchen Arten, beluftigt. Rachdem er ſich mit 
denfelben eine Reihe von Zahrtaufenden hindurch unterhalten, werden 
fie ihm langweilig; er vernichtet fie durch eine allgemeine Revolution 
der Erdoberflähe, indem er das ganze unnüpe Spielzeug in Kaufen 
zuſammenwirft; . dann ruft er, um fid) an etwas Reuem und Beilerem 
die Zeit zu vertreiben, eine neue und volltommnere Thier- und 
Pflanzenwelt ind Leben. Um jedoch nicht die Mühe der ganzen Schöpfe 
ung3arbeit von vom anzufangen, behält er immer den einmal auß- 
gedachten Schöpfungsplan im Großen und Gangen bei, und ſchafft 
nur lauter neue Arten, oder höchften® neue Gattungen, viel feltener 
neue Kamilien, Ordnungen oder gar Klaſſen. Zu einem neuen Typus 
ober Style bringt er ed nie. Dabei bleibt er immer fireng innerhalb 
jener ſechs Kategorien oder Gruppenftufen. 

Nachdem der Schöpfer fo nach Agaſſiz' Anficht fih Millionen 
von Jahrtaufenden hindurch mit dem Aufbauen und Zerftören einer 
Reihe verfiedener Schöpfungen unterhalten hatte, Kommt er endlich 
zuletzt — obwohl fehr fpät! — auf den guten Gedanken, ſich feines 
gleichen zu erſchaffen, und er formt den Menſchen nach ſeinem Eben» 
bilde! Hiermit ift das Endziel aller Schopfungsgeſchichte erreicht und 
die Reihe der Erdrevofutionen abgefähloffen. Der Menſch, das Kind 


Valaontologiſche Entwidelungẽgeſete von Apaffiz. 6 
und Ebenbild Gottes, giebt Demfelben fo viel zu tbun, macht ihm fo 
viel Bergnügen und Mühe, daß er nun niemals mehr Langeweile hat, 
und feine neue Schöpfung mehr eintreten zu laſſen braucht. Sie 
fehen offenbar, wenn man einmal in der Weife, wie Agaffiz, dem 
Schöpfer durchaus menſchliche Attribute und Eigenſchafien beilegt, 
und fein Schöpfungswert durchaus analog einer menſchlichen Schöpf- 
ungsthätigfeit betrachtet, fo ift man nothwendig auch zur Annahme 
diefer ganz abfurden Konfequenzen gezwungen. 

Die vielen inneren Widerfprüche und die auffallenden Verkehrt⸗ 
heiten der Schöpfungsanfihten von Agaffig, welche ihn nothwendig 
zu dem entſchiedenſten Widerftand gegen die Abſtammungslehre führe 
ten, müffen aber um fo mehr unfer Erftaunen erregen, als berfelbe 
durd feine früheren naturwifienfhaftlichen Arbeiten in vieler Bezie⸗ 
hung thatfächlih Darwin vorgearbeitet hat, insbeſondere durch feine 
Thätigkeit auf dem paläontologifhen Gebiete. Unter den zahlreichen 
Unterfuhungen, welche der jungen Paläontologie ſchnell die allge- 
meine Theilnahme erwarben, fließen ſich diejenigen von Agaffiz, 
namentlich das berühmte Werk „über die foffilen Fiſche“, zunächſt 
ebenbürtig an die grundlegenden Arbeiten von Euvier an. Nicht 
allein haben die verfteinerten Fiſche, mit denen und Agaffiz ber 
lannt machte, eine außerordentlich hohe Bedeutung für das Verftänd- 
niß der ganzen Wirbelthiergruppe und ihrer gefhichtlihen Entwide- 
lung gewonnen; fonbern wir find dadurch auch zur fiheren Erkennt⸗ 
niß wichtiger allgemeiner Entrictelungägefepe gelangt, die zum Theil 
von Agaffiz zuerft entdedt wurden. Insbeſondere hat berfelbe zu- 
ft auf den merkwürdigen Parallelismus zwifhen der embryonalen 
und der paläontologifhen Entwidelung, zwifchen der Ontogenie und 
Phglogenie hingewieſen, eine Webereinftimmung, welche ih ſchon vor⸗ 
ber (©. 10) als eine der ftärkften Stüpen für die Abſtammungslehre 
in Anſpruch genommen habe. Niemand hatte vorher fo beftimmt, wie 
 Agaffiz that, hervorgehoben, daß von den Wirbelthieren zuerft 
nur Fiſche allein eyiftirt haben, daß erft fpäter Amphibien auftraten, 
und daß erft in moch viel fpäterer Zeit Vögel und Säugethiere er- 


62 Palaontologiſche Entwideluugegeſebe von Agaſſu. 
ſchienen; daß ferner von den Säugethieren, ebenſo wie von den Fiſchen 
anfangs unvollfommnere, niedere Ordnungen, fpäter erft volllomm⸗ 
nere und höhere auftraten. Agaſſiz zeigte mithin, daß die paläon- . 
tologifche Entwidelung der ganzen Wirbelthiergruppe nicht allein der 
embryonalen parallel fei, fondern aud der ſyſtematiſchen Entwide 
lung, d. 5. der Stufenleiter, welde wir überall im Syftem von den 
niederen zu den höheren Klaſſen, Ordnungen u. f. w. auffteigend er- 
bliden. Zuerft erſchienen in der Erdgeſchichte nur niedere, fpäter erft 
höhere Formen. Diefe wichtige Thatſache erklärt fih, ebenfo wie die 
Webereinftimmung der embryonalen und paläontologifhen Entwide- 
lung, ganz einfach und natürlich au8 der Abftammungdlehre, wäh. 
rend fie ohne diefe ganz unerklärlich ift. Daſſelbe gilt ferner auch von 
dem großen Gefeß der fortfhreitenden Entwidelung, von dem 
hiſtoriſchen Fortſchritt der Organifation, welcher fowohl im Großen 
und Ganzen in ber gefchichtlichen Aufeinanderfolge aller Organismen 
ſichtbar ift, als in der befonderen Vervolllommnung einzelner Theile 
des Ihierkörperd. So z. B. erhielt das Stelet der Wirbelthiere, ihr 
Knochengerüft, erft langſam, allmählich und ftufenweiß den hohen 
Grad von Bolltommenheit, welchen e3 jegt beim Menſchen und den 
anderen höheren Wirbeithieren befipt. Diefer von Agaffiz thatfäh- 
lich anerfannte Fortſchritt folgt aber mit Rothwendigkeit aus ber von 
Darwin begründeten Züchtungßlehre, welche die wirkenden Urfaden 
deilelben nachweiſt. Wenn diefe Lehre richtig ift, fo muß nothwendig 
die Bolltommenheit und Mannichfaltigkeit der Thier- und Pflanzen 
arten im Laufe der organifchen Erdgeſchichte ſtufenweiſe zunehmen, 
und fonnte erft in neueſter Zeit ihre höchſte Ausbildung erlangen. 
Alle fo eben angeführten, nebft einigen anderen allgemeinen Ent- 
widelungsgefegen, welche von Agaffiz ausdrücklich anerfannt und 
mit Recht ſtart betont werden, welche fogar von ihm felbft zum Theil 
erſt aufgeftellt wurden, find, wie Sie fpäter fehen werden, nur durch 
die Abftammungdlehre erflärbar und bleiben ohne diefelbe völlig um 
begreiflich. Nur die von Darwin entwidelte Wechſelwirkung der 
Bererbung und Anpafjung fann die wahre Urfache derfelben fein. 


Anthropomorpfismus von Agaffiz' Schöpfungegefäjichte. 63 


Dagegen ſtehen fie alle in fehroffem und unvereinbarem Gegenfag 
mit der vorher befprochenen Schöpfungshppothefe von Agaffiz, und 
mit allen Borftellungen von ber zwedmaͤßigen Werkthätigfeit eines 
perſonlichen Schöpferd. Will man im Ernſt durch die leptere jene 
merkwürdigen Erfeheinungen und ihren inneren Zufammenhang er- " 
flären, fo verirrt man fi) nothwendig zu der Annahme, daß auf 
der Schöpfer felbft ſich mit der organiſchen Ratur, die er ſchuf und 
umbildete, enttwidelt babe. Man kann fi dann nicht mehr von der 
Borftellung 108 machen, daß der Schöpfer felbft nach Art des menfch- 
lichen Organismus feine Pläne enttworfen, verbefiert und endlich unter 
vielen Abänderungen ausgeführt habe. „Es wächft der Menſch mit 
feinen höher'n Zweden“. Wenn ed nach der Ehrfurcht, mit der 
Agaffiz auf jeder Seite vom Schöpfer fpricht, ſcheinen konnte, daß 
wir dadurch zur erhabenften Borftelling von feinem Wirken in der 
Ratur gelangen, fo findet in Wahrheit das Gegentheil ftatt. Der 
göttliche Schöpfer wird dadurch zu einem idealifirten Menfchen er⸗ 
niedrigt, zu einem in der Entwidelung fortfhreitenden Organismus. 
Gott ift im Grunde nad) diefer Borftellung weiter Nichte, als ein 
gasformiges Wirbelthier". (Gen. Morph. I, 174.) 

Bei der weiten Berbreitung und dem hohen Anfehen, welches 
AH Agaffiz’ Werk erworben hat, und welches in Anbetracht der 
früheren wiſſenſchaftlichen Verbienfte des Verfaſſers wohl gerechtfertigt 
ift, glaubte ich es Ihnen ſchuldig zu fein, die gänzliche Unhaltbarkeit 
feiner aflgemeinen Anfichten hier kurz hervorzuheben. Sofern dies 
Bert eine naturwiſſenſchaftliche Schöpfungsgeſchichte fein will, ift 
daffelbe unzweifelhaft gänzlich verfehlt. Es hat aber hohen Werth, 
als der einzige ausführliche und mit wiffenfchaftlihen Beweisgründen 
geſchmũckte Verſuch, den in neuerer Zeit ein hervorragender Ratur« 
forſcher zur Begründung einer teleologifchen oder dualiftifhen Schoͤpf ⸗ 
ungẽgeſchichte unternommen hat. Die innere Unmöglichkeit einer 
ſolchen wird dadurd) far vor Jedermann Augen gelegt. Kein Geg- 
ner von Agaffiz hätte vermocht, die von ihm entwidelte duali⸗ 
ſtiſche Anſchauung von der organifhen Natur und ihrer Entftehung 


64 Dualiſtiſche und menififeje Gottesvorſtellung. 
fo ſchlagend zu widerlegen, als ihm dies felbft durch die überall her- 
vortretenden inneren Widerfprüdhe gelungen iſt. 

Die Gegner der moniftifhen oder mechaniſchen Weltauſchauung 
haben das Wert von Agaffiz mit Freuden begrüßt und erbfiden 
darin eine vollendete Beweisführung für die unmittelbare Schöpfungs- 
thätigfeit eine® perſonlichen Gotted. Allein fie überjehen dabei, daß 
diefer perfönliche Schöpfer bloß ein mit menſchlichen Attributen audge- 
rüfteter, ibealifirter Organismus ift. Diefe miedere bualiftifche Gotted- 
vorftellung entfpricht einer niederen thierifchen Entwidelungsftufe des 
menfhlihen Organismus. Der höher entwidelte Menſch der Gegen- 
wart ift befähigt und berechtigt zu jener unendlich edleren und em 
habeneren Gottesvorſtellung, welche allein mit der moniſtiſchen Belt- 
anſchauung verträglich ift, und welche Gottes Geift und Araft in allen 
Erſcheinungen ohne Ausnahme erbfidt. Diefe moniftifhe Gottedidee 
welcher die Zukunft gehört, hat fhon Giordano Bruno einf 
mit den Worten audgefprochen: „Ein Geift findet fi) in allen Din- 
gen, und e8 ift fein Körper fo Mein, daß er nicht einen Theil der 
göttlichen Subftanz in ſich enthielte, wodurd er befeelt wird.” Diefe 
veredelte Gottesibee ift e3, von welcher Goethe fagt: „Gewiß es 
giebt feine fehönere Gotteöverehrung, als diejenige, welche fein Bild 
bedarf, welche aus dem Wechſelgeſprääch mit der Ratur in unferem 
Bufen entfpringt.“ Durch fie gelangen wir zu ber erhabenen Bor- 
ftellung von der Einheit Gotte® und der Ratur. 





Vierter Vortrag. 
Entwidelungstheorie nach Goethe und Ofen. 





Biffenfchaftfiche Anzulänglichteit aller Borftellungen von einer Schöpfung der 
timelnen Arten. Nothwendigkeit ber entgegengefeten Enttidelungetheorien. Ge⸗ 
ſchichtlicher Ueberblick über die wichtigften Enttoidelungßtheorien. Ariſtoteles. Seine 
Lehre don der Urzeugung. Die Bedeutung der Naturphilofophie. Goethe. Seine 
Verdienſte al Naturforſcher. Seine Metamorphofe der Pflanzen. Seine Wirbel- 
theorie des Schäbels. Seine Entdedung des Zwifchentiefers beim Menſchen. Goe- 
the'8 Theilnahme an dem Streite zwiſchen Euvier und Geoffrey S. Hilaire. 
Goethe’ Cutdedung ber beiden organifchen Bilbungßtriebe, des lonſervativen Speri« 
Rlationstriebes (der Vererbung), und des progreffiven Umbilbungstriebes (ber An= 
Yaflıng). Goethe's Anficht von ber gemeinſamen Abſtammung aller Wirbelthiere mit 
Inbegriff des Menſchen. Entsvidelungstfeorie von Gottfried Reinhold Treviranus. 
Seine moniftijche Naturauffaſſung. Ofen. Seine Raturphilofophie. Okens Bor- 
Rellung vom Urfchleim (Brotoplasmatheorie). Okens Borftellung von den Infu- 
ferien (Zellentheorie). Dtens Enttoidelungstheorie. 


Meine Herren! Alle verſchiedenen Borftellungen, welche wir 
und über eine felbftftändige, von einander unabhängige Entftehung 
der einzelnen organifchen Arten durch Schöpfung machen fönnen, lau⸗ 
fen, folgerichtig durchdacht, auf einen fogenannten Anthropo- 
morphiamus, d. h. auf eine Bermenfhlichung des Schoͤpfers 
hinaus, wie wir in dem legten Vortrage bereits gezeigt haben. Es 
wird da der Schöpfer zu einem Organismus, der fi einen Plan 
entwirft, diefen Plan durchdenkt und verändert, und ſchließlich die 


Gefhöpfe nach diefem Plane ausführt, wie ein menſchlicher Architekt 
Hudel, Ratürl. Schöpfungsgeih. 5. Aufl. 5 





66 Wiſſenſchaftliche Unzulänglichleit aller Schöpfungsvorfieflungen. 
fein Bauwerk. Wenn felbft fo hervorragende Raturforfcher wie Linne, 
Cuvier und Agaffiz, die Hauptvertreter der dualiſtiſchen Schöpf« 
ungshypotheſe, zu feiner genügenderen Anſicht gelangen konnten, 
fo wird daraus am beften die Unzulänglichkeit aller derjenigen Bor- 
ftellungen hervorgehen, welche die Mannichfaltigleit der organiſchen 
Natur aus einer folhen Schöpfung der einzelnen Arten ableiten 
wollen. Es haben zwar einige Naturforfcher, welche das wiſſen⸗ 
ſchaftlich ganz Unbefriedigende dieſer Borftellungen einfahen, ' verfucht, 
den Begriff des perfönlihen Schöpferd durch denjenigen einer unbe» 
mußt wirkenden fhöpferifchen Naturkraft zu erfegen; indeilen ift diefer 
Ausdrud offenbar eine bloße umfchreibende Redensart, fobald nicht 
näher gejeigt wirb, worin diefe Naturfraft befteht, und wie fie wirft. 
Daher haben auch diefe lepteren Verſuche durchaus feine Geltung in 
der Wiffenfhaft errungen. Vielmehr hat man ſich genöthigt gefehen, 
fobald man eine felbftftändige Entftehung der verſchiedenen Thier- 
und Pflanzenformen annahın, immer auf ebenfo viele Schöpfungs- 
alte zurüdzugreifen, d. h. auf übernatürliche Eingriffe des Echöpfers 
in den natürlichen Gang der Dinge, der im übrigen ohne feine Mit- 
wirkung abläuft. j 

Run haben allerdings verſchiedene teleologifche Naturforfcher, wei- 
che die wiſſenſchaftliche Unzuläffigfeit einer übernatürlihen „Schöpf- 
ung“ fühlten, die letztere noch dadurch zu retten geſucht, daß fie 
unter Schöpfung „Nichts weiter ald eine und unbekannte, unfaßbare 
Weife der Entftehung” verftanden willen wollten. Diefer fopbifti- 
ſchen Ausflucht ſchneidet der treffliche Friß Müller mit folgender 
ſchlagenden Gegenbemerkung jeden Rettungspfad ab: „Es ſoll da- 
durch nur in verblümter Weiſe das verſchämte Geſtändniß ausge ⸗ 
ſprochen werden, daß man über die Entſtehung der Arten „gar feine 
Meinung habe“ und baben wolle. Rad diefer Erlärung des 
Wortes würde man ebenfowohl von der Schöpfung der Cholera und 
der Syphilis, von der Schöpfung einer Feuerobtunſt und eines Eifen- 
bahnunglũds, wie von der Schöpfung ded Menfchen reden können.” 
Genaiſche Zeitfhrift f. M. u. N. V. Bd. ©. 272.) 





Wiſfenſchaftliche Unentbehrlichteit ber Enttwidelungsteorien. 67 


Gegenüber num diefer vollftändigen wiſſenſchaftlichen Unzuläffig- 
feit aller Schöpfungshppothefen find wir geswungen, zu den ent- 
gegengefegten Entwidelungatheorien der Drganiämen unfere 
Zuflucht zu nehmen, wenn wir und überhaupt eine vernünftige Bor« 
ftelung von der Entftehung der Organismen machen wollen. Wir find 
gezwungen und verpflichtet dazu, felbft wenn diefe Entwidelungstheo« 
rien nur einen Schimmer von Wahrfcheinlichkeit auf eine mechaniſche, 
natürliche Entftehung der Thier- und Pflanzenarten fallen laſſen; 
um fo mehr aber, wenn, wie Sie fehen werden, diefe Theorien eben 
fo einfach und Mar, als vollftändig und umfafiend die gefammten 
Watſachen erlären. Diefe Entwidelungstheorien find keineswegs, 
wie fie oft fälfchlich angefehen werden, willtürlihe Einfälle, ober 
beliebige Etzeugniſſe der Einbildungäfraft, welche nur die Entftehung 
dieſes oder jenes einzelnen Organismus annähernd zu erklären ver⸗ 
fügen; fondern fie find ftreng wiffenfhaftlid begründete Theorien, 
melde von einem feften und Klaren Standpunfte aus die Gefammt- 
heit der organifchen Naturerfpeinungen, und inäbefondere die Ent⸗ 
ftehung der organiſchen Species auf dad Einfachfte erklären, und als 
die nothiwendigen Folgen mechanifcher Naturnorgänge nachweifen. 

Wie ich bereitd im zweiten Vortrage Ihnen zeigte, fallen diefe 
Entwidelungätheorien naturgemäß mit derjenigen allgemeinen Welt- 
anfhauung zufammen, welche man gewöhnlich als die einheitliche 
oder moniftifche, häufig auch ald die mechanifche oder caufale zu 
begeichnen pflegt, weil fie nur mechanifche oder nothwendig wir» 
tende Urſachen (causae efficientes) zur Erflärung der Naturer- 
ſcheinungen in Anſpruch nimmt. Ebenfo fallen auf der anderen Seite 
die von und bereits betrachteten übernatürlihen Schöpfungshypothes 
fen mit derjenigen, völlig entgegengefepten Weltauffaffung zufammen, 
welde man im Gegenfaß zur erfteren die jwielpältige oder duali⸗ 
ſtiſche, oft auch die teleologifche oder vitale nennt, weil fie die 
organiſchen Naturerfcheinungen aus der Wirkfamteit zwedthätiger oder 
zwedmäßig wirkender Urſachen (causae finales) ableitet. 
Gerade in diefem tiefen inneren Zufammenhang der verfchiedenen 

5* 


68 Grundgedanken der Entroicelungstheorien. 


Schöpfungatheorien mit ben höchften Fragen der Philofophie Tiegt 
für und die Anreizung zu ihrer eingehenden Betrachtung. 

Der Grundgedanke, welcher allen natürlihen Entwidelungs 
theorien nothivendig zu Grunde fiegen muß, ift derjenige einer all» 
mählichen Entwidelung aller (aud der vollfommenften) 
Drganismen aus einem einzigen oder aus fehr wenigen, gar 
einfahen und ganz unvollfommenen Urwefen, welche nicht durch 
übernatürlihe Schöpfung, fondern burh Urzeugung oder Ardi- 
gonie (Generatio spontanea) aus anorganiſchet Materie entftanden. 
Eigentlich find in diefem Grundgedanken zwei verfhiebene Vorftellun- 
‚gen verbunden, welche aber in tiefem inneren Zufammenhang fteben, 
nämlich erftend die Borftellung der Urzeugung oder Archigonie der 
urfprünglihen Stammmefen, und zweitens die Borftellung der fort- 
ſchreitenden Entwidelung der verſchiedenen Organismenarten aus 
jenen einfachften Stammtvefen. Diefe beiden wichtigen mechaniſchen 
Vorftellungen find die unzertrennfihen Grundgedanken jeder ſtreng 
wiſſenſchaftlich durchgeführten Entroictelungätheorie. Weil dieſelbe eine 
Abftammung der verſchiedenen Thier- und Pflanzenarten von einfach 
ften gemeinfamen Stammarten behauptet, fonnten wir fie auch als 
Abftammungslehre (Defcendenztheorie), und weil damit zugleich 
eine Umbildung der Arten verbunden ift, al® Umbildungslehre 
(Trandmutationdtheorie) bezeichnen. 

Während übernatürlihe Schöpfungsgefchichten ſchon vor vielen 
Zahrtaufenden, in jener unvorbenffichen Urzeit entftanden fein müflen, 
als der Menſch, eben erft aus dem Affenzuftande ſich entrwidelnd, 
zum erften Male anfing, eingehender über fih felbft und über die 
Entftehung ber ihn umgebenden Körperwelt nachzudenken, fo find da- 
gegen die natürlichen Entroidelungstheorien nothwendig viel jüngeren 
Urfprungs. Wir fönnen diefen erft bei gereifteren Kulturvöffern be» 
gegnen, denen durch phifofophifche Bildung die Nothwendigkeit einer 
natürlihen Urfachenertenntniß Mar geworden war; und auch bei diefen 
dürfen wir zunächft nur von einzelnen bevorzugten Raturen erwarten, 
daß fie den Urfprung der Erſcheinungswelt ebenfo wie deren Ent- 


Entwidelungßteorie des Ariſtoteles. 69 


widelungsgang, als die nothwendige Folge von mechaniſchen, natür- 
fi wirkenden Urfachen erfannten. Bei feinem Bolle waren diefe 
Borbedingungen für die Entftehung einer natürlichen Entwidelungs« 
theorie jemal® fo vorhanden, wie bei den Griechen des klaſſiſchen 
Alterthums. Diefen fehlte aber auf der anderen Seite zu fehr die 
nähere Bekanntſchaft mit den Thatfachen der Naturvorgänge und 
ihren Formen, und fomit die erfahrungsmäßige Grundlage für eine 
weitere Durchbildung der Entwidelungstheorie. Die egafte Natur 
forfung und die überall auf empirifcher Baſis begründete Naturer⸗ 
kennmmiß war ja dem Alterthum ebenſo wie dem Mittelalter faſt ganz 
unbefannt und ift erft eine Errungenfchaft der neueren Zeit. Wir haben 
daher auch hier feine nähere Beranlaffung, auf die natürlichen Ent 
twidelungstheorien der verfchiedenen griechifchen Weltweiſen einzugeben, 
da denfelben zu fehr die erfahrungsmäßige Kenntniß fowohl von ber 
organiſchen als von der anorganifhen Natur abging, und fie ſich 
demgemäß faft immer nur in luftigen Speculationen verirten. 

Nur einen Mann mäflen mir hier ausnahmsweiſe hervorheben, 
den größten und den einzigen wahrhaft großen Naturforfcher des 
Alterthums und des Mittelalterd,; einen der erhabenften Genien aller 
Zeiten: Ariftoteled. Wie derſelbe in empirifh«philofophifher Na⸗ 
turerfenntniß und insbefondere im Berftändniß der organifhen Natur, 
während eined Zeittaumd von mehr als zweitaufend Jahren einzig 
dafteht, beweiſen und die foftbaren Refte feiner nur theilweis erhal- 
tenen Werte. Auch von einer natürlichen Enwidelungstheorie finden 
ſich in denfelben mehrfache Spuren vor. Ariftoteles nimmt mit 
voller Beftimmtheit die Urzeugung als die natürliche Entitehungsart 
der niederen organifchen Wefen an. Er läßt Thiere und Pflanzen 
aus der Materie felbft durd deren ureigene Kraft entftehen, fo z. B. 
Motten aus Wolle, Flöhe aus faulem Mift, Milben aus feuchten 
Holy u. ſ. w. Da ihm jedoch die Unterfcheidung der organifchen Spe ⸗ 
ties, welche erſt mehr als zweitaufend Zahre fpäter Linné gelang, 
unbetannt war, konnte er über deren genealogiſches Verhaͤltniß ſich 
noch feine Borftellungen bilden. 


70 Bedeutung der Naturphiloſophie. 


Der Grundgedanke der Entwidelungdtheorie, daß die verſchie ⸗ 
denen Thier- und Pflanzenarten fid) au8 gemeinfamen Stammarten 
durch Umbildung entwidelt haben, fonnte natürlich erft Mar audge- 
ſprochen werden, nachdem die Arten oder Species felbft genauer be- 
tannt geworden, und nachdem auch ſchon die außgeftorbenen Species 
neben den lebenden in Betracht gezogen und eingehender mit letzteren 
verglichen worden waren. Died geſchah erft gegen Ende des vorigen 
und im Beginn unfere® Jahrhunderts. Erſt im Sabre 1801 ſprach 


. der große Lamard die Entwidelungstheorie aus, welche er 1809 


in feiner Maffifchen „Philosophie zoologique* weiter ausführte *). 
Während Tamard und fein Landmann Geoffroy E. Hilaire in 
Frankreich den Anfihten Cuviers gegenüber traten und eine natür- 
liche Entwidelung ber organifhen Species dur Umbilbung und Ab- 
ftammung behaupteten, vertraten gleichzeitig in Deutſchland Goethe 
und Dfen diefelbe Richtung und halfen die Entwidelungstheorie 
begründen. Da man gewöhnlich alle diefe Raturforfcher ala „Ratur- 
philoſophen“ zu bezeichnen pflegt, und da diefe vieldeutige Be⸗ 
zeichnung in einem gewiſſen Sinne ganz richtig ift, fo erfdheint es 
mir zunächft angemeffen, hier einige Worte über bie richtige Wür- 
digung der Raturpbilofophie vorauszuſchicen. 

Währendeman in England fon feit langer Zeit die Begriffe 
Naturwiſſenſchaft und Philofophie faft als gleichbedeutend anfieht, und 
mit vollem Recht jeden wahrhaft wiſſenſchaftlich arbeitenden Natur ⸗ 
forſcher einen Raturphilofophen nennt, wird dagegen in Deutfchland 
ſchon feit mehr al8 einem halben Jahrhundert die Naturwiſſenſchaft 
fireng von der Philofophie geſchieden, und die naturgemäße Berbin- 
dung beider zu einer wahren „Naturphilofophie“ wird nur von We 
nigen anerfannt. An diefer Verkennung find die phantaftifchen Aus- 
ſchreitungen der früheren deutfchen Naturphilofophen, Dkend, Schel · 
Ting3 u. f. w. Schuld, welche glaubten, die Raturgefepe aus ihrem 
KRopfe konſtruiren zu fönnen, ohne überall auf dem Boden ber that 
ſãchlichen Grfahrung ftehen bleiben zu müffen. Als fi dieſe An⸗ 
maßungen in ihrer ganzen Leerheit herausgeſtellt hatten, ſchlugen die 


Empirie und Philoſophie. 71 


Raturforſcher unter der „Ration von Denkern“ in das gerade Gegen⸗ 
theil um, und glaubten, da8 hohe Ziel der Wiſſenſchaft, die Erkennt» 
niß der Wahrheit, auf dem Wege ber nadten ſinnlichen Erfahrung, 
ohne jede philofophifche Gedantenarbeit erreichen zu fönnen. Bon 
mm an, befonders feit dem Jahre 1830, machte fi) bei den meiften 
Naturforſchern eine ſtarke Abneigung gegen jede allgemeinere, philo« 
ſophiſche Betrachtung ber Natur geftend. Man fand num das eigent- 
liche Ziel der Natuwiſſenſchaft in der Erkennmiß des Einzelnen und 
gläubte daflelbe in der Biologie erreicht, werm man mit Hühfe der 
feinften Inſtrumente und Beobachtungsmittel die Formen und die 
vebenderſcheinungen aller einzelnen Organismen ganz genau erfannt 
haben würde. Zwar gab e8 immerhin unter biefen fireng empiriſchen 
oder fogenannten eraften Ratımforihern zahlreiche, melde fi) über 
biefen beſchränkten Standpunkt erhoben und das legte Ziel in einer 
Ertenntniß allgemeiner Organifationdgefege finden wollten. Indeſſen 
die große Mehrzahl der Zoologen und Botaniker in den lepten drei 
bis vier Decennien wollte von folchen allgemeinen Gefepen Nichte 
wiſſen; fie geftanden hödhften® zu, daß vielfeicht in ganz entfernten 
Zufunft, wenn man einmal am Ende aller empirifchen Erkenntniß 
angelangt fein würbe, wenn alle einzelnen Thiere und Pflanzen voll 
fändig umterfucht worden feien, man daran denten könne, algemeine 
biofogifche Gefege zu entdeden. 

Wenn man die wichtigften Fortſchritte, die der menſchliche Gef 
in der Erfenntniß der Bahrheit gemacht hat, zufammenfaffend ver 
gleicht, fo erfennt man bald, daß es ſtets philoſophiſche Gedanten- 
operationen find, durch weiche dieſe Wortfchritte ergielt wurben, und 
daß jeme, allerbing® nothwendig vorhergehende finnlihe Grfahrung 
und die dadurch geivonnene Kenntniß des Einzelnen nur bie Grund» 
lage für jene allgemeinen Geſetze liefern. Empirie und Philofophie 
ſtehen daher keineswegs in fo außfchliegendem Gegenfap zu einander, 
wie bißher von den meiften angenommen wurde; fie ergänzen ſich 
vielmehr nothwendig. Der Philofoph, welchem der unmmitöpliche 
Boden der finnlichen Erfahrung, der empirifhen Kenntniß fehlt, 


72 Emyirie und Philofopfie. 
gelangt in feinen allgemeinen Speculationen fehr leicht zu Fehlſchlüſ⸗ 
fen, welche felbft ein mäßig gebildeter Naturforfcher fofort wider ⸗ 
legen Tann. Andrerfeitd können die rein empiriſchen Naturforſcher. 
die fih nicht um philofophifche. Zufammenfaffung ihrer ſinnlichen 
Wahmehmungen bemühen, und nicht nad allgemeinen Erkennt 
niffen ſtreben, die Wiſſenſchaft nur in fehr geringem Maße fördern, 
und der Hauptwerth ihrer mühfam gewonnenen Einzelfenntmiffe liegt 
in den allgemeinen Refultaten, welche fpäter umfaflendere Geifter aus 
denfefben ziehen. Bei einem allgemeinen Ueberblick über den Ent- 
widelungdgang ber Biologie feit Linn finden Sie leicht, wie dies 
Bär angeführt hat, ein beftändiges Schwanken zwiſchen dieſen bei« 
den Richtungen, ein Ueberwiegen einmal der empiriſchen (fogenannten 
egaften) und dann wieder ber philofophifhen (fpeculativen) Richtung. 
So hatte ſich ſchon zu Ende des vorigen Zahrhundert®, im Gegen- 
fag gegen Linne's rein empirifche Schule, eine natuwhiloſophiſche 
Reaktion erhoben, deren bewegende Geifter, Lamarck, Geoffroy 
©. Hilaire, Goethe und Dfen, durch ihre Gedankenarbeit Licht 
und Ordnung in da® Chaos des aufgehäuften empirifhen Rohmate- 
rials zu bringen fuchten. Gegenüber den vielfachen Irrthümern und 
den zu weit gehenden Speculationen biefer Naturphilofophen trat 
dann Cuvier auf, welcher eine zweite, rein empirifche Periode her« 
beiführte. Diefe erreichte ihre einfeitigfte Entwidelung während der 
Jahre 18301860, und nun folgte ein zweiter philoſophiſcher Rüd- 
flag, durh Darwind Werk veranlaft. Man fing nun im lepten 
Decennium wieder an, fi zur Erkennmiß der allgemeinen Ratur- 
gefepe hinzuwenden, denen doch ſchließlich alle einzelnen Erfährungs- 
fenntniffe nur ald Grundlage dienen, und durch welche leptere erft 
ihren wabren Werth erlangen. Dur die Gedanfen-Arbeit der Phi ⸗ 
fofopbie wird die Naturkunde erft zur wahren Wiſſenſchaft, zur „Ra- 
turphifofophie” (Gen. Mowh. 1, 63—108). 

Unter den großen Raturphilofophen, denen wir die erfte Begrün- 
dung einer organiſchen Entroidelungstheorie verdanten, und welde 
neben Charles Darwin ald die Urheber ber Abſtammungdlehrt 


Soethe'6 Berbienfe alẽ Naturforfier. 73 


glänzen, ftehen obenan Jean Lamard und Wolfgang Goethe, 
Ich wende mich zumächft zu unferm theuren Goethe, welcher von 
Allen und Deutſchen am nächften fteht. Bevor ich Ihnen jedoch) feine 
befonderen Berbienfte um die Entwidelungstheorie erläutere, ſcheint 
«8 mir pafiend, Einiges über feine Bedeutung als Naturforfher über 
haupt zu fagen, da diefelbe gewöhnlich fehr verfannt wird. 
Gewiß die Meiften unter ihnen verehren Goethe nur als Dich⸗ 
ter und Menſchen; nur wenige werden eine Borftellung von dem 
hohen Werth haben, den feine naturwiffenfchaftlichen Arbeiten befigen, 
von dem Riefenfchritt, mit dem er feiner Zeit voraußeilte, — fo vor⸗ 
außeilte, daß eben die meiften Naturforfher der damaligen Zeit ihm 
nicht nachlommen fonnten. Das Mißgeſchick, daß feine naturphilo- 
fophifchen Berbienfte von feinen Zeitgenoffen verfannt wurden, bat 
Goethe oft fehmerzlih empfunden. Un verſchiedenen Stellen feiner 
naturwiſſenſchaftlichen Schriften beklagt er fih bitter über Die bes 
ſchraͤnkten Fachleute, welche feine Arbeiten nicht zu würdigen verftehen, 
welche den Wald vor lauter Bäumen nicht fehen, und welche fich nicht 
dazu erheben Tönnen, aus dem Wuſt des Einzelnen allgemeine Ratur- 
gefepe herauszuſinden. Nur zu gerecht ift fein Borwurf: „Der Philo- 
ſoph wird gar bald entdeden, daß fih die Beobachter felten zu einem 
Standpunkt erheben, von welchem fie fo viele bedeutend bezügliche 
Gegenftände überfehen körmen.“ Wefentlih allerdings wurde biefe 
Bertenmung verſchuldet burd den falfhen Weg, auf welchen Goethe 
in feiner Farbenlehre gerieth. Die Farbenlehre, die er felbft als das 
Lieblingskind feiner Muße bezeichnet, ift in ihren Grundlagen durch⸗ 
aus verfehlt, ſoviel Schönes fie auch im Einzelnen enthalten mag. 
Die egafte mathematifche Methode, mittelft welcher man allein zu« 
naͤchſt in den anorganifchen Naturwiſſenſchaften, in der Phyſik vor 
Allen, Schritt für Schritt auf unumftöglich fefter Baſis weiter bauen 
tann, war Goethe durchaus zumider. Er fieß fid) in der Verwer⸗ 
fung derfelben nicht allein zu großen Ungerechtigkeiten gegen die her- 
vorragendften Phyſiker binreigen, fondern auch auf Irrwege verleiten, 
die feinen übrigen werthvollen Arbeiten fehr geſchadet haben. Ganz 


, 


74 Goethes Metamorphoſe der Pflanzen. 


etwas Anderes iſt es in den organiſchen Natuwiſſenſchaften, in tele 
chen wir nur ſelten im Stande ſind, von Anfang an gleich auf der 
unumſtoßlich feſten, mathematiſchen Baſis vorzugehen, vielmehr ge⸗ 
rungen find, wegen der unendlich ſchwierigen und verwickelten Ra- 
tur ber Aufgabe, un® zunächft Induetiondfchläffe zu bilden; d. h. wir 
müffen au zahlreichen einzelnen Beobachtungen , die doch nicht ganz 
vollftändig find, ein allgemeines Geſetz zu begründen ſuchen. Die 
denkende Bergleihung der verwandten Erfeheinungsreihen, die 
Combination ift hier das wichtigſte Forfchungsinftrument , und 
diefe wurbe von Goethe mit ebenfo viel Gluck als bewußter Werth- 
erfenntniß bei feinen naturphiloſophiſchen Arbeiten angewandt. 
Bon den Schriften Goethe'8, die fih auf die organiſche Natur 
beziehen, ift am berühmteften die Metamorphofe der Pflan« 
gen geworben, welche 1790 erſchien; ein Werk, welches bereits den 
Grundgedanten der Entwickelungstheorie deutlich erkennen laͤßt. Denn 
Goethe war darin bemüht, ein einzige® Grundorgan nachzuweiſen, 
durch deffen unendlich mannichfaltige Ausbildung und Umbildung man 
fi) den ganzen Kormenreihthum der Pflanzenwelt entftanden denfen 
konne; dieſes Grundorgan fand er im Blatt. Wenn damals ſchon 
die Anwendung bed Mikroftops eine allgemeine getvefen wäre, wenn 
Goethe den Bau der Organismen mit dem Mikroſtop durchforſcht 
hätte, fo würbe-er noch weiter gegangen fein, und das Blatt bereit® 
als ein Vielfaches von individuellen Theilen niederer Ordnung, von 
Zellen, erfannt haben. Cr würde dann nicht das Blatt, fondern die 
Zelle als das eigentliche Grundorgan aufgeftellt haben, durch def 
fen Vermehrung, Umbildung umd Verbindung (Synthefe) zunaͤchſt 
das Blatt entfteht; forie weiterhin durch Umbildung, Variation und 
Zuſammenſetzung der Blätter alle die mannichfaltigen Schönheiten in 
Form und Farbe entftehen, welche wir ebenfo an den echten Ernaͤh · 
rungsblättern, wie an den Fortpflanzungäblättern oder den Blüthen« 
theilen der Pflanzen bewundern. Indeſſen fchon diefer Grundgedante 
war durchaus richtig. Goethe zeigte darin, daß man, um das 
Ganze der Erſcheinung zu erfaſſen, erſtens vergleichen und dann zwei ⸗ 


Soethe'8 Wirbeltheorie des Schäbels. 75 


ten® einen einfachen Typus, eine einfache Grundform, ein Thema 
gewiſſermaßen fuchen müffe, von dem alle übrigen Geſtalten nur bie 
unendlich mannidfaltigen Variationen feien. 

Etwas Aehnliches, wie er hier in der Detamorphofe der Pflanzen 
feiftete, gab er dann für die Wirbelthiere in feiner berühmten Wir⸗ 
beltheorie des Schädeld. Goethe zeigte zuerft, unabhängig 
von Den, weldyer faft gleichzeitig auf denſelben Gebanten kam, daß 
der Schädel des Menſchen und aller anderen Wirbelthiere, zumächft 
der Säugethiere, Nichts weiter fei als das umgewandelte vorberfte 
Stüd der Wirbelfäule oder des Nüdgrats. Die Knochenkapſel des 
Schãdels erfcheint danach aus mehreren Knochenringen zufammenges 
febt, welche den Wirbeln des Rüdgrats urfprünglich gleichwerthig 
find. Allerdings ift diefe Idee Fürzlich durch die ſcharfſinnigen Un- 
terfuhungen von Gegenbaur?!) fehr bedeutend mobificirt wor- 
den. Dennod gehörte fie in jener Zeit zu den größten Fortſchrit 
ten der vergleihenden Anatomie, und war für das Verftändnig des 
Wirbelthierbaues eine der erften Grundlagen. Wenn zwei Körper 
theile, die auf den erften Blick fo verfhieden außfehen, wie der 
dirnſchaͤdel und die Wirbeffäule, fich als urfprünglich gleichartige, 
aus einer und derfelben Grundlage hervorgebildete Theile nachwei⸗ 
fen fießen, fo war bamit eine der ſchwierigſten naturphilofophifchen 
Aufgaben gelöft. Auch bier begegnet und wieder der Gebante des 
einheitlichen Typus, der Gedanke des einzigen Themas, das nur in 
den verfchiedenen Arten und in den Theilen der einzelnen Arten uns 
endlich varüirt toird. 

Es waren aber nicht bloß ſolche weitgreifende Gefepe, um be» 
ven Erkenntniß fi) Go ethe bemühte, fondern es waren auch zahl. 
reihe einzelne, namentlich vergleihend -«ammtomifdhe Unterfuchungen, 
die ihn fange Zeit hindurch aufs febhaftefte befhäftigen. Unter dies 
fen ift vieleicht feine intereffanter, als die Entdedung des Zwi⸗ 
fhentiefers beim Menfchen. Da diefe in mehrfacher Beziehung 
von Bedeutung für die Entwidelungstheorie ift, fo erlaube ih mir, 
Ihnen diefelbe kurz hier darzulegen. Es exiſtiren bei ſämmtlichen 


76 Goethe s Entdedung des Zwifchentiefere beim Menſchen. 

Sãugethieren in der oberen Kinnlade zwei Knochenſtüdchen, welche in 
der Mittellinie des Geſichts, unterhalb der Naſe, fich berühren, und 
in der Mitte zwiſchen den beiden Hälften des eigentlichen Oberkiefer- 
knochens gelegen find. Dieſes Knochenpaar, welches die vier oberen 
Schneidedaͤhne trägt, ift bei den meiften Säugethieren ohne Weiteres 
fehr leicht zu erfennen; beim Denfchen dagegen war e8 zu jener Zeit 
nicht befannt, und berühmte vergleichende Anatomen legten fogar auf 
diefen Mangel des Zwiſchenkiefers einen fehr großen Werth, indem 
fie denſelben als Hauptunterſchied zwiſchen Menſchen und Affen an- 
ſahen; es wurde der Mangel des Zwiſchenkiefers ſeltſamer Weiſe als 
der menſchlichſte aller menſchlichen Charaktere hervorgehoben. Run 
wollte e8 Goethe durchaus nicht in den Kopf, daß der Menſch, der 
in allen übrigen körperlichen Beziehungen offenbar nur ein höher ent- 
wideltes Säugethier fei, diefen Zwiſchenkiefer entbehren ſolle. Gr 
309 aus dem allgemeinen Inductions-Geſetz des Zwifchentiefer® bei 
den Gäugethieren den befonderen Deductionsfhluß, daß derfelbe auch 
beim Menſchen vorfommen müffe; und er hatte feine Ruhe, bi® er 
bei Vergleichung einer großen Anzahl von Schädeln wirklich den Zwi- 
ſchenkiefer auffand. Bei einzelnen Individuen ift derfelbe die ganze 
Lebenszeit hindurch erhalten, während er gewöhnlich früßgeitig mit 
dem benadjbarten Oberkiefer vermächft, und nur bei fehr jugendlichen 
Menfchenfchädeln als felbftftändiger Knochen nachzuweiſen if. Bei 
den menſchlichen Embryonen kann man ihn jept jeden Augenblid 
vorzeigen. Der Zwifchenkiefer ift alfo beim Menſchen in der That 
vorhanden, und Goethe gebührt der Ruhm, diefe in vielfacher Bes 
ziehung wichtige Thatſache zuerft feftgefellt zu haben, und zwar ge- 
gen den Widerſpruch der wichtigften Fachautoritäten, z. B. des ber 
rühmten Anatomen Peter Camper. Befonders interefiant ift dabei 
der Weg, auf dem er zu biefer Feſtſtellung gelangte; es ift der Weg, 
auf dem wir beftändig in den organifhen Naturwiſſenſchaften fort- 
ſchreiten, der Weg der Induction und Deduction. Die Induction 
ift ein Schluß aus zahlreichen einzelnen beobachteten Faäͤllen auf ein 
altgemeined Gefep; die Deduction dagegen ift ein Rüdihlug aus 


Goethe s Theilnahme an der Naturphiloſophie. 77 
diefem allgemeinen Gefep auf einen einzelnen, noch nicht wirklich 
beobachteten Fall. Aus den damald gefammelten empiriſchen Kennt« 
niſſen ging der Inductionsſchluß hervor, daß fämmtlihe Säugethiere 
den Zwiſchenkiefer befigen. Goethe zog daraus den Deductiond« 
ſchluß, daß der Menſch, der in allen übrigen Beziehungen feiner Or- 
ganifation nicht weſentlich von den Säugethieren verfchieden fei, auch 
diefen Zwiſchenkiefer befigen müffe; und er fand ſich in ber That bei 
eingehender Unterfuhung. Es wurde der Deductionsſchluß durch die 
nachfolgende Erfahrung beftätigt ‚oder verificirt. 

Schon dieſe wenigen Züge mögen Ihnen den hohen Werth vor 
Augen führen, den wir Goethe'& biologiſchen Forfhungen zufchrei- 
ben müffen. Leider find die meiften feiner darauf bezüglichen Arbei⸗ 
ten fo verſtedt in feinen gefammelten Werken, und die wichtigften Be⸗ 
obachtungen und Bemerkungen fo zerftreut in zahlreichen einzelnen 
Auffägen, die andere Themata behandeln, daß es ſchwer ift, fie her» 
augzufinden. Auch iſt bisweilen eine vortreffliche, wahrhaft wiſſen⸗ 
(Haftliche Bemerkung fo eng mit einem Haufen unbrauchbarer natur- 
phifofophifcher Phantafiegebilde verfnüpft, daß Teptere der erfteren 
großen Eintrag thun. 

Für das außerordentliche Intereſſe, welches Goethe für die 
organiſche Naturforſchung hegte, ift vieleicht Nichts bezeichnender, als 
die febendige Theilnahme, mit welcher er noch in feinen lepten Le⸗ 
bensjahren den in Frankreich ausgebrochenen Streit zwiſchen Cuvier 
und Geoffroy S. Hilaire verfolgte. Goethe hat eine interef» 
fante Darftellung dieſes merkwürdigen Streite8 und feiner allgemei« 
nen Bedeutung, ſowie eine trefflihe Charafteriftit der beiden großen 
Gegner in einer befonderen Abhandlung gegeben, welche er erſt wer 
nige Tage vor feinem Tobe, im März 1832," vollendete. Diefe Ab- 
handlung führt den Titel: „Principes de Philosophie zoologique 
par Mr. Geoffroy de Saint-Hilaire“; fie ift ®oethe'® letztes Wert, 
und bildet in der Gefammtaudgabe feiner Werke deren Schluß. Der 
Stwit felbft war in mehrfacher Beziehung von höchſtem Intereffe. Er 
drehte ſich wefentlih um die Berechtigung der Entwidelungätheorie. - 


78 Streit zwiſchen Euvier und Geoffroy ©. Hilaire. 

Dabei wurde er im Schooße der franzöfifhen Akademie von beiden 
Gegnern mit einer perſonlichen Leidenſchaftlichteit geführt, welche in 
den würbevollen Sißungen jener gelehrten Körperfchaft faft unerhört 
wer, und welde bewied, daß beide Raturforfcher für ihre heiligen 
und tiefften Ueberzeugungen fämpften. Am 22ften Februar 1830 fand 
der erfte Konflitt ftatt, welchem bald mehrere andere folgten, der 
beftigfte am 19. Juli 1830. Geoffroy ald das Haupt der frangd- 
ſiſchen Raturphilofophen vertrat die natürliche Entwidelungstheorie 
und die einheitliche (moniftifche) Naturauffaſſung. Cr behauptete die 
Beränderlichfeit der organiſchen Specie, die gemeinfchaftlihe Abftam- 
mung ber einzelnen Arten von gemeinfamen Stammformen, und 
die Einheit der Organifation, oder die Einheit des Bauplaned, wie 
man ſich damals ausdrügte. Cuvier war der entichiedenfte Gegner 
diefer Anſchauungen, wie es ja nach dem, was Sie gehört haben, 
nichts anders fein fonnte. Ex verfuchte zu zeigen, daß die Raturphilo- 
fophen fein Recht hätten, auf Grund des damals vorliegenden empi- 
riſchen Materiald fo weitgehende Schlüffe zu ziehen, und daß die ber 
hauptete Einheit der Drganifation oder ded Bauplaned der Drganid- 
men nicht egiftire. Gr vertrat die teleologifche (dualiftifche) Raturauf- 
fajlung und behauptete, daß „die Unveränderlichleit der Specieß eine 
nothwendige Bedingung für die Etiſtenz der wiſſenſchaftlichen Ratur- 
geſchichte fe” Cuvier hatte den großen Bortpeil vor feinem Geg- 
ner voraus, für feine Behauptungen lauter unmittelbar vor Augen 
liegende Beweißgründe vorbringen zu fönnen, welde allerdings nur 
aus dem Zufammenhang geriifene einzelne Thatfachen waren. Geof- 
froy dagegen war nicht im Stande, den von ihm verfochtenen böhe- 
ven allgemeinen Zufammenhang der einzelnen Erſcheinungen mit fo 
greifbaren Einzelheiten belegen zu fönnen. Daher behielt Guvier 
in den Augen der Mehrheit den Sieg, und entfchied für die folgenden 
drei Jahıgehnte Die Niederlage der Raturphilofophie und die Herrſchaft 
der ftreng empirifhen Richtung. Goethe dagegen napm natürlich 
entfehieden für Geoffroy Partei. Wie lebhaft ihn noch in feinem 


Steit peifden Guvier und Geoffrey S. dileire. 79 
Sıren Jahre diefer große Kampf beichäftigte, mag folgende, von 
Soret erzählte Anekdote bezeugen: 

„Montag, 2. Auguft 1830. Die Nachrichten von der begonne- 
nen Julirevolution gelangten heute nach Weimar und fepten Alles 
in Aufregung. Ih ging im Laufe des Nachmittags zu Goethe. 
„Run?“ rief er mir entgegen, „was denken Sie von diefer großen 
Begebenheit? Der Bulfan ift zum Ausbruch gefommen; alles fteht 
in Slammen, und e3 ift nicht ferner eine Berhandlung bei gefchloffenen 
Ihüren!” Eine furchtbare Geſchichte! erwiderte ich. Aber was ließ 
fi bei den befannten Zuftänden und bei einem folhen Miniſterium 
anders erwarten, als daß man mit der Vertreibung der bisherigen 
fönigfichen Familie endigen würde. „Wir feinen uns nicht zu ver- 
fiehen, mein Allerbeſter,“ erwiderte Goethe. „Ich rede gar nicht 
von jenen Leuten; es handelt fi bei mir um ganz andere Dinge. 
3 rede von dem in der Akademie zum öffentlichen Ausbruch gelom- 
menen, für die Wiſſenſchaft fo höchſt bedeutenden Streite zwifchen 
Cuvier und Geoffroy de ©. Hilaire.” Diefe Aeußerung Goe⸗ 
the'3 war mir fo unerwartet, daß ich nicht wußte, was ich fagen 
follte, und daß ich während einiger Minuten einen völligen Stillſtand 
in meinen Gedanken verfpürte. „Die Sache ift von der höchften Be» 
deutung,“ fuhr Goethe fort, „und Sie können ſich keinen Begriff 
davon machen, was ich bei der Nachricht von der Sitzung des 19. Juli 
empfinde. Wir haben jept an Geoffroy de Saint Hilaire einen 
mägtigen Allürten auf die Dauer. Ich fehe aber zugleich daraus, 
wie groß die Theilnahme ber franzöfifchen wiſſenſchaftlichen Welt in 
tiefer Angelegenpeit fein muß, indem trog der furchtbaren politischen 
Infregung, die Sigung des 19. Juli dennoch bei einem gefüllten 
Haufe ftattfand. Das Beſte aber ift, dab die von Geoffroy in 
Frankreich eingeführte fonthetifche Behandlungsweiſe der Natur jept 
uicht mehr rüdgängig zu machen ift. Diefe Angelegenheit ift durch die 
feien Diakufionen in der Aademie, und zwar in Gegenwart eines 
großen Publikums, jept öffentlich geworden, fie läßt ſich nicht mehr 


80 Goethe's Entbecung der beiden organiſchen Bildungetriebe. 
an geheime Ausſchuſſe verweiſen und bei geſchloſſenen Thüren abthun 
und unterbrüden.” 

Bon den zahlreichen intereilanten und bedeutenden Säßen, in 
welchen ſich Goethe Mar über feine Auffaſſung der organiſchen Ratur 
und ihrer beftändigen Entridelung ausſpricht, habe id) in meiner 
generellen Morphologie der Organismen *) eine Auswahl ald Leit« 
worte an den Eingang der einzelnen Bücher und Kapitel gefeßt. Hier 
führe ich Ihnen zunächft eine Stelle aus dem Gedichte an, welches 
die Ueberſchrift trägt: „die Metamorphofe der Thiere” (1819). 

„Alle Glieber bilden ſich aus nad) ew'gen Geſetzen 

„Und bie feltenfte Form bewahrt im Geheimen das Urbilb. 

„Alſo beitimmt bie Geftalt bie Lebensweiſe des Thieres, 

‚Und die Weiſe zu leben, fie wirkt auf alle Geftalten 

Machtig zurück. So zeiget ſich feit die georbnete Bilbung, 

„Welche zum Zedhfel fich neigt durch äußerlich wirtende eſen - 

Schon hier ift der Gegenfag zwifchen zwei verfhiedenen 
organifchen Bildungsträften angedeutet, welche ſich gegen- 
über ftehen, und durd ihre Wechſe lwirkung die Form des Orga- 
nismus beftimmen; einerfeit® ein gemeinfame® inneres, feſt ſich er- 
baltende® Urbild, welches den verſchiedenſten Geftalten zu Grunde 
fiegt; andrerfeit® der äußerlich wirkende Einfluß der Umgebung und 
der Lebensweiſe, welcher umbildend auf das Urbild einwirft. Noch 
beftimmter tritt diefer Gegenfap in folgendem Außfprud hervor: 

„Cine innere urfprüngliche Gemeinſchaft liegt aller Organifation 
zu Grunde; die Verſchiedenheit dor Geftalten dagegen entfpringt aus 
den nothwendigen Beziehungsverhältnifien zur Außenwelt, und man 
darf daher eine urfprüngliche, gleichzeitige Verſchiedenheit und eine 
unaufhaltſam fortfäpreitende Umbildung mit Recht annehmen, um die 
ebenfo fonftanten als abweichenden Erfheinungen begreifen zu fönnen.“ 

Das „Urbild“ oder der „Typus“, welcher al8 „Innere urfprüng- 
liche Gemeinfchaft” allen organifcen Formen zu Grunde liegt, iR die 
innere Bildungskraft, welde die urfprüngfiche Bildungeritung 

‚ erhält und durh Vererbung fortpflangt. Die „unaufbaltfam fort- 


Die Specifitetiom (Bererbung) und bie Metamorphofe (Anpaffung). . 81 


ſchreitende Umbildung” dagegen, welche „aus den nothwendigen 
Beziehungsverhältnifien zur Außenwelt entfpringt“, bewirkt als 
äußere Bildungskraft, durh Anpaffung an die umgebenden 
Reben®bedingungen, die unendliche „Verſchiedenheit der Geftalten“. 
(Gen. Morph. I, 154; II, 224.) Den inneren Bildungätrieb der 
Vererbung, welcher die Einheit des Urbildes erhält, nennt Goethe 
an einer anderen Stelle die Gentripetalkraft des Organiamus, 
feinen Specififationdtrieb; im Gegenfag dazu nennt er den äußeren 
Bildungstrieb der Anpaffung, welder die Mannichfaltigfeit der 
organiſchen Geftalten hervorbringt, die Centrifugaltraft des 
Organismus, feinen Bariationdtrieb. Die betreffende Stelle, in wel- 
Ger er ganz Mar das „Gegengewicht diefer beiden äußert wichtigen 
organifchen Bildungstriebe bezeichnet, Tautet folgendermaßen: „Die 
dee der Meta morphoſe ift gleich der Vis centrifuga und würde 
ſich in® Unendliche verlieren, wäre ihr nicht ein Gegengewicht zuge⸗ 
geben: ich meine den Specififationdtrieb, das zähe Beharr- 
lichteitsvermoögen deffen, was einmal zur Wirklichkeit gefommen, eine 
Vis centripeta, welcher in ihrem tiefften Grunde feine Aeußerlich- 
feit etwas anhaben Tann.“ 

Unter Metamorphofe verfteht Goethe nicht allein, wie es 
heutzutage gewöhnlich verftanden wird, die Formveränderungen, 
welche das organifche Individuum während feiner individuellen Ent- 
widelung erleidet, fondern in weiterem Sinne überhaupt die Um⸗ 
bildung der organifchen Formen. Die „Idee der Metamor- 
phoſe“ ift beinahe gleichbedeutend mit unferer „Enhvidelungätheorie”. 
Dies ergiebt ſich unter Anderem auch auß folgendem Ausſpruch: „Der 
Triumph der phyſiologiſchen Metamorphofe zeigt fi da, wo das 
Ganze fi) in Familien, Familien ſich in Geſchlechter, Geſchlechter in 
Sippen, und diefe wieder in andere Mannichfaltigkeiten bis zur In⸗ 
dividualität ſcheiden, ſondern und umbilden. Ganz ins Unendliche 
geht dieſes Gefchäft der Natur; fie kann nicht ruhen, noch beharren, 
aber auch nicht Alles, was fie hervorbradhte, bewahren und erhalten. 

deeatl, Retärt. Shöpfungegeih. 5. Aufl. 6 


52 Goethe's Anfldit von der Blutsverwandtichaft aller Wirbelthiere. 


Aus dem Samen entwideln fih immer abweichende, die Verhaͤltniſſe 
ihrer Theile zu einander verändert beftimmende Pflanzen.” 

In den beiden organifchen Bildungstrieben, in dem konferna- 
tiven, centripetalen, innerlihen Bildungdtriebe der Vererbung oder 
der Specifitation einerſeits, in dem progreffiven, centrifugalen, äußer- 
lichen Bildungstriebe der Anpajjung oder der Metamorphofe andrer- 
feit®, hatte Goethe bereits die beiden großen mechaniihen Ratur« 
träfte entdeckt,” welche die wirkenden Urfachen der organifchen Geftal- 
tungen find. Diefe tiefe biologiſche Erkenntniß mußte ihn naturge ⸗ 
mäß zu dem Grundgedanken der Abſtammungslehre führen, zu der 
Borftellung, daß die formverwandten organifchen Arten wirklich biuts- 
verwandt find, und daß diefelben von gemeinfamen urfprünglichen 
Stammformen abftammen. Für die wichtigfte von allen Thiergrup- 
pen, die Hauptabtheilung der Wirbelthiere, drüdt dies Goethe in 
folgendem merfwürdigen Sape aus (17961): „Dies alfo hätten wir 
gewonnen ungefcheut behaupten zu bürfen, daß alle volltommneren 
organiſchen Naturen, worunter wir Fiſche, Amphibien, Vögel, Säuge- 
thiere und an der Spipe der legten den Menſchen fehen, alle nach 
einent Urbilde geformt feien, das nur in jeinen fehr beftändigen 
Theilen mehr oder weniger hin» und herweidht, und ſich noch täglich 
durch Fortpflanzung aus- und umbildet.“ 

Diefer Sap ift in mehrfacher Beziehung von Interejie. Die 
Theorie, daß „alle volltommneren organifchen Raturen“, d. h. alle 
Wirbelthiere, von einem gemeinfamen Urbilde abfammen, daß fie 
aus diefem durch Fortpflanzung (Vererbung) und Umbildung (An- 
paſſung) eniftanden find, ift daraus deutlich zu entnehmen. Beſon ⸗ 
ders intereflant aber ift, daß Goethe auch hier für den Menſchen 
feine Ausnahme geftattet, ihn vielmehr ausdrüdlih in den Stamm 
der übrigen Wirbelthiere hineinziebt. Die wichtigfte fpecielle Folge ⸗ 
tung der Abftammungslehre, dag der Menſch von anderen Wirbel- 
thieren abftammt, läßt ſich hier im Keime erkennen ?). 

Rod) klarer fpriht Goethe dieſe überaus wichtige Grund- Idee 
an einer anderen Stelle (1807) in folgenden Worten au: „Wenn 


Gocthe’s monohhyleüſſche Defeenbeng-Snpothee- 83 


man Pflanzen und Thiere in ihrem unvollfommenften Zuftande be⸗ 
ttachtet, fo find fie faum zu unterfheiden. So viel aber können 
wir fagen, daß die aus einer faum zu fondernden Berwandtfchaft 
als Pilanzen und Thiere nach und nad) hervortretenden Gelchöpfe 
nad) zwei entgegengefepten Seiten fih vervolllommnen, fo daß die 
Pflanze fih zulegt im Baume dauemd und ftarr, das Thier im 
Menſchen zur höchften Beweglichkeit und Freiheit ſich verherrlicht.“ 
In diefem merkwürdigen Sahe ift nicht allein das genenlogifche 
Berwandtfchafts-Berhältnig des Pflanzenreichs zum Thierreiche höchſt 
treffend beurtheilt, fondern auch bereits der Kern der einheitlichen 
oder monophyletiſchen Defcendenz- Hypotheſe enthalten, deren Be- 
- deutung ich Ihnen fpäter auseinander zu fegen habe. (Vergl. den 
XVI. Bortrag und den Stammbaum ©. 398.) 

Zu derfelben Zeit, ald Goethe in diefer Weile die Grundzüge 
der Defcendenz - Theorie entwarf, finden wir bereitd einen anderen 
deutſchen Naturpbilofophen angelegentlich mit derfelben befchäftigt, 
nämlih Gottfried Reinhold Treviranus aus Bremen (geb. 
1776, geft. 1837). Wie fürzlih Wilhelm Fode in Bremen ge- 
zeigt hat, entwidelte Treviranus fon in dem früheften feiner 
größeren Werke, in ber „Biologie oder Philofophie der lebenden Ra- 
tur“, bereit ganz im Anfange unferes Jahrhunderts, moniftifche 
Anfihten von der Einheit der Natur und von dem genealogiſchen 
Zufammenhang der Drganidmen-Arten, die ganz unferem jegigen 
Standpunkte entfprechen. In den drei erten Bänden der Biologie, 
die 1802, 1803 und 1805 erfhienen, aljo fhon mehrere Jahre vor 
den Hauptwerfen von Ofen und Lamard, finden fi) zahlreiche 
Etellen, welche in diefer Beziehung von Intereſſe find. Ich will 
nur einige der wichtigften hier anführen. 

Ueber die Hauptfrage unferer Theorie, über den Urfprung der 
organiſchen Species, fpricht fi Treviranus folgendermaßen aus: 
Jede Form des Lebens kann "durd phyſiſche Kräfte auf doppelte 
Art heworgebracht fein: entweder durch Entftehung aus formlofer 
Materie, oder durch Abänderung der Form bei Dauernder Geftaltung. 

6* 


84 Entwidelungsteorie von Treviranus. 


Im lepteren Falle kann die Urfache diefer Abänderung entweder in 
der Einwirkung eines ungleihartigen männlichen Zeugungsftoffes auf 
den weiblichen Keim, oder in dem erft nad) der Erzeugung ftattfin- 
denden Einfluffe anderer Potenzen liegen. — In jedem lebenden 
Weſen liegt die Fähigkeit zu einer endlofen Mannichfaltigkeit der 
Geftaltungen; jedes befigt da® Vermögen, feine Organifation den 
Veränderungen der äußeren Welt anzupaflen, und dieſes durch den 
Wechfel de3 Univerfums in Thätigkeit gefepte Vermögen ift ed, was 
die einfachen Zoophyten der Vorwelt zu immer höheren Stufen der 
Drganifation gefteigert und eine zahlloſe Mannichfaltigfeit in die 
lebende Natur gebracht hat.“ 

Unter Zoophyten verfteht hier Treviranu die Organismen 
niederften Ranges und einfachfter Beſchaffenheit, insbeſondere jene 
neutralen, zwiſchen Thier und Pflanze in der Mitte ftehenden Urweſen, 
die im Ganzen unferen Protiften entſprechen. „Diefe Zoophyten“, 
fagt er an einer anderen Stelle, „find die Urformen, aus melden 
alle Organismen ber höheren Klaſſen durch allmähtiche Entwidelung 
entftanden find. Wir find ferner der Meinung, daß jede Art, wie 
jedes Individuum, gewiffe Perioden des Wachsthums, der Blüthe 
und des Abſterbens hat, daß aber ihr Abfterben nicht Auflöfung, wie 
bei dem Individuum, fondem Degeneration ift. Und bieraus 
ſcheint uns zu folgen, daß ed nicht, wie man gewöhnlich annimmt, 
die großen Kataftrophen der Erde find, was die Thiere der Vorwelt 
vertilgt hat, fondern daß Viele diefe überlebt haben, und daß fie viel- 
mehr deöwegen aus der jegigen Natur verfhwunden find, weil die 
Arten, zu welchen fie gehörten, den Kreislauf ihres Dafeins vollendet 
haben und in andere Gattungen übergegangen find.” 

Wenn Treviranus an diefen und anderen Stellen Degene« 
ration als die wihtigfte Urfache der Umbildung der Thier- und 
Pflanzen Arten anfieht, fo verfteht er darunter nicht „Entartung” 
oder Degeneration in dem heute gebräuchlichen Sinne. Vielmehr ift 
feine „Degeneration“ ganz dajfelbe, was wir heute Anpaffung oder 
Abänderung durd den äußeren Bildungdtrieb nennen. Daß Tre» 


Moniſtiſche Naturanſchauung von Trebiranus. 85 


viranus diefe Umbilbung der organifchen Species durch Anpaffung, 
und ihre Erhaltung durch Vererbung, die ganze Mannichfaltigkeit der 
organifchen Formen aber durch die Wechſelwirlung von Anpaffung 
und Bererbung erflärte, geht auch aus mehreren anderen Stellen klar 
hervor. Wie tief er dabei die gegenfeitige Abhängigkeit aller lebenden 
Weſen von einander, und überhaupt den univerfalen Caufal«- 
nexus, d. h. den einheitlichen urfächlihen Zufammenhang zwifchen 
allen Glieder und Theilen des Weltall erfaßte, zeigt unter andern 
noch folgender Sap der Biologie: „Das febende Individuum iſt ab⸗ 
hängig von der Art, die Art von dem Gefchlechte, dieſes von der 
ganzen lebenden Natur, und die leßtere von dem Organismus der 
Erde: Das Individuum befipt zwar ein eigenthümliches Leben und 
bildet infofern eine eigene Welt. Aber eben weil das Leben deffelben 
beſchränkt ift, fo macht es doch zugleich auch ein Organ in dem allge 
meinen Organismus aus. Jeder lebende Körper befteht durch das 
Univerfum , aber das Univerfum befteht auch gegenfeitig durch ihn.“ 

Daß diefer großartigen mechaniſchen Auffaſſung des Univerfums 
zufolge Tre viranus auch für den Menfchen keine privilegirte Aus- 
nabmeftellung in der Natur zuließ, vielmehr die allmähliche Entwide- 
lung deſſelben aus niederen Thierformen annahm, ift bei einem fo 
tief und Mar denkenden Naturphilofophen felbftverftändlih. Und eben 
fo felbftverftändfich ift es andererſeits, daß er feine Kluft zwifchen 
organifcher und anorganifcher Ratur anerfannte, vielmehr die abfolute 
Einheit in der Organifation ded ganzen Weltgebäudes behauptete. 
Dies bezeugt namentlich der folgende Sag: „Jede Unterfuhung über 
den Einfluß der gefammten Natur auf die lebende Welt muß von dem 
Grundfage auögehen, daß alle lebenden Geftalten Produfte 
phyſiſcher, noch in jegigen Zeiten fattfindender, und nur dem 
Grade oder der Richtung mad) veränderter Einflüffe find.“ Hiermit 
iR, wie Treviranus ſelbſt fagt, „das Grundprobfem der Biologie 
gelöft“, und, fügen wir hinzu, in rein moniſtiſchem oder medha- 
niſchem Sinne gelöft. 

Als der bedeutendfte der deutſchen Naturphilofophen gilt gewöhn⸗ 


86 Raturphilefophie von Ofen. 


fi) weder Treviranus, noch Goethe, fondern Lorenz Ofen, 
welcher bei Begründung der Wirbeltheorie des Schadels ald Neben- 
buhler Goethe'3 auftrat, und diefem nicht gerade freundlich gefinnt 
war. Bei der fehr verfchiedenen Natur der beiden großen Män- 
ner, weldhe eine Zeit lang in nachbarſchaftlicher Rähe lebten, konn⸗ 
ten fie fi) doch gegenfeitig nicht wohl anziehen. Oken'd Lehrbuch 
der Naturphilofophie, welches als das bedeutendſte Erzeugniß der 
damaligen naturphilofophifchen Schule in Deutfchland bezeichnet wer- 
den fann, erfhien 1809, in demfelben Jahre, in welchem auch La« 
marck's fundamentale® Wert, die „Philosophie zoologique* er- 
fhien. Schon 1802 hatte Dfen einen „Grundriß der Raturphilo« 
fophie“ veröffentlicht. Wie fhon früher angedeutet wurde, finden wir 
bei Ofen, verfledt unter einer Fülle von irrigen, zum Theil fehr 
abenteuerlihen und phantaftifchen Borftellungen, eine Anzahl von 
wertbvollen und tiefen Gedanken. Einige von diefen Ideen haben 
erft in neuerer Zeit, viele Jahre nachdem fie von ihm ausgeſprochen 
wurden, allmählich wiſſenſchaftliche Geltung erlangt. Ich will Ihnen 
bier von diefen, faft prophetiſch ausgeſprochenen Gedanken mur zwei 
anführen, welche zugleich zu der Entwidelungätheorie in der innig« 
ften Beziehung ftehen. 

Eine der wichtigften Theorien Oken's, melde früherhin fehr 
verfehrieen, und namentlich von den fogenannten egaften Empirifern 
auf das ftärkfte befämpft wurde, ift die Idee, daß die Rebender- 
ſcheinungen aller Organismen von einem gemeinſchaftlichen chemiſchen 
Subftrate ausgehen, gewiſſermaßen einem allgemeinen, einfachen 
„Lebensſtoff“, welchen er mit dem Namen „Urſchleim“ belegte. 
Er dachte fih darunter, wie der Name fagt, eine fehleimartige Subſtanz, 
eine Eiweißverbindung, die in feftflüffigem Aggregatzuftande befind- 
lich ift, und das Vermögen befipt, durch Anpaffung an verſchiedene 
Epriftenzbedingungen der Außenwelt, und in Wechſelwirkung mit deren 
Materie, die verfchiedenften Formen hervorzubringen. Run brauchen 
Sie bloß dad Wort Urfchleim in dad Wort Protoplasma oder 
Zellſtoff umzufegen, um zu einer der größten Errungenfchaften zu 


Urſchleimtheorie und Infuforientheorie von Dfen. 87 


gelangen, welche wir den miftoffopifchen Forſchungen ber legten zehn 
Jahre, in®befondere denjenigen von Mar Schultze, verdanken. 
Durch diefe Unterfuhungen hat fid) heraudgeftellt, daß in allen leben⸗ 
digen Raturkörpem ohne Ausnahme eine gewiſſe Menge einer fchlei- 
migen, eiweißartigen Materie in feftflüffigem Dichtigkeitszuſtande ſich 
vorfindet, und daß diefe ftidftoffhaltige Kohlenftoffverbindung aus⸗ 
ſchließlich der urfprüngliche Träger und Bewirker aller Lebenderſchei ⸗ 
mungen und aller organifhen Formbildung ift. Alle anderen Stoffe, 
welche außerdem noch im Organismus vorfommen, werden erft von 
diefem aftiven Lebensſtoff gebildet, oder von außen aufgenommen. 
Das organiſche Ei, die urfprüngliche Zelle, aus welcher ſich jedes Thier 
und jede Pflanze zuerft entwickelt, befteht wefentlih nur aus einem 
runden Klümpchen ſolcher eiweißartigen Materie. Auch der Eidotter 
it nur Eiweiß, mit Fettkornchen gemengt. Den hatte alfo wirklich 
Recht, indem er, mehr ahnend als wiſſend, den Sap ausfprach: „Alles 
Drganifche ift aus Schleim hervorgegangen, ift Nichts als verfchieden 
geftalteter Schleim. Diefer Urſchleim ift im Meere im Verfolge der 
Planeten Entwidelung aus anorganifcher Materie entftanden.“ 

Mit der Urfchleimtheorie Ofen’3, welche wefentlich mit der neuer⸗ 
lid) erft feft begründeten, äußerſt wichtigen Protoplasmatheorie 
zuſammenfällt, fteht eine andere, eben fo großartige Idee deifelben 
Raturphilofophen in engem Zufammenhang. Den behauptete näm- 
lich ſchon 1809, daß der dur Ureugung im Meere entftehende 
Unſchleim alsbald die Form von mitroffopifd Meinen Bläschen ans 
nehme, welche er Mile oder Infuforien nannte, „Die organifche 
Belt hat zu ihrer Bafi eine Unendlichkeit von ſolchen Bläschen.“ 
Die Bläschen entftehen aus den urfprünglichen feftflüffigen Urfehleim- 
fugeln dadurch, daß die Peripherie derfelben ſich verdichtet. Die 
einfachften Organismen find einfache folhe Bläschen oder Infuforien. 
der höhere Organismus, jeded Thier und jede Pflanze volltomm- 
nerer Art ift weiter Nichts als „eine Zufammenhäufung (Synthefis) 
von ſolchen infuforialen Bläschen, die durch verfchiedene Combina- 
tionen ſich verſchieden geftaften und fo zu höheren Organismen auf 


88 Enttoidelungstheorie von Ofen. 


wachſen“. Sie brauchen nun wiederum dad Wort Bläschen oder In- 
fuforium nur durch das Wort Zelle'zu erfegen, um zu einer der größe 
ten biologifhen Theorien unferes Jahrhunderts, zur Zelfentheorie 
zu gelangen. Schleiden und Shwann haben zuerft im Jahre 
1838 den empirifchen Beweis geliefert, daß alle Organismen ent- 
weder einfache Zellen oder Zufammenhäufungen (Syntbefen) von 
folgen Zellen find; und die neuere Protoplasmatheorie hat nachge ⸗ 
wiefen, daß der weſentlichſte (und bisweilen der’ einzige!) Beſtand ⸗ 
theil der echten Zelle das Protoplasma (der Urſchleim) ift. Die 
Eigenſchaften, die Ofen feinen Infuforien zuſchreibt, find eben die 
Eigenſchaften der Zellen, die Eigenfhaften der elementaren Indivi- 
duen, durd deren Zufammenbäufung, Berbindung und mannichfal- 
tige Ausbildung die höheren Organismen entftanden find. 

Diefe beiden, außerordentlich fruchtbaren Gedanken Oken's wur- 
den wegen der abfurden Form, in der er fie auöfprah, nur wenig 
berüdfichtigt, ober gänzlich vertannt; und es war einer viel fpäteren 
Zeit vorbehalten, diefelben duch die Erfahrung zu begründen. Im 
engften Zufammenbang mit diefen Borftellungen ftand natürlich auch 
die Annahme einer Abftammung der einzelnen Thier- und Pflanzen- 
arten von gemeinfamen Stammformen und einer allmählichen, ftufen- 
weifen Entwidelung der höheren Organismen aus den niedern. Auch 
vom Menfchen behauptete Ofen feine Entwidelung aus niederen Dr- 
ganidmen: „Der Menſch ift entwidelt, nicht erſchaffen.“ So viele 
willfürlihe Verkehrtheiten und ausſchweifende Phantafiefprünge fih 
aud in Oken's Naturphilofophie finden mögen, fo fönnen fie und 
doch nicht hindern, diefen großen und ihrer Zeit weit voraußeilenden 
Ideen unfere gerechte Bewunderung zu zollen. So viel geht aus 
den angeführten Behauptungen Goethe'® und Oken's, und aus 
den demnächft zu erörternden Anfichten Ramard'3 und Geoffroy's 
mit Sicherheit hervor, dag in den erften Decennien unfere® Jahr ⸗ 
hunderts Riemand der natürlichen, durch Darwin neu begründeten 
Entwidelungstheorie fo nahe kam, als die vielverſchrieene Ratur- 
philoſophie. 


Fünfter Vortrag. 
Entwidelnngstheorie von Kant und Lamard. 





Kant’$ dualiſtiſche Biologie. Seine Anficht von der Entflehung der Anorgane 
durch mechaniſche, ber Organismen durch zwedtfätige Urfaghen. Widerſpruch biefer 
Anſicht mit feiner Hinneigung zur Abſtanmungslehrt. Kant's genealogiſche Ent⸗ 
widelungstheorie. Veſchrankung derſelben durch feine Teleologie. Vergleichung ber 
genenlogifchen Biologie mit ber vergleichenden Sprachforſchung. Anſichten zu Gun- 
Ken der Defcendenztheorie von Leopold Buch, Bär, Schleiden, Unger, Schaafhaufen, 
Victor Carus, Büchner. Die franzöffche Naturphilofophie. Lamard's Philofophie 
zoelogique. Lamard’6 moniſtiſches (mechaniſches) Naturfyftem. Seine Anfihten von 
der Wechſelwirkung der beiden organifchen Bildungsfräfte, der Vererbung und An- 
paſſung. Lamarck's Anficht von der Entroicelung des Menſchengeſchlechts aus affen- 
artigen Säugetieren. Bertheibigung der Defcenbenztheorie durch Geoffroy S. Hi- 
laire, Raudin und Lecog. Die englifhe Naturphiloſophie. Anfichten zu Gunſten 
der Deſcendenztheorie von Erasmus Darwin, W. Herbert, Grant, Frele, Herbert, 
Spencer, Hooler, Huzleg. Doppelte Berbienft von Charles Darwin. 


Meine Herren! Die teleologifche Naturbetrachtung, melde die 
Eſcheinungen in der organifhen Welt durch die zwecmaͤßige Thätig- 
keit eined perſonlichen Schöpfer® oder einer zweckthaͤtigen Endurfadhe 
erklärt, führt nothwendig in ihren legten Ronfequenzen enttoeder zu 
ganz unhaltbaren Widerfprüden, oder zu einer ziwiefpältigen (bua- 
liſiſchen) Raturauffaffung, welche zu der überall wahrnehmbaren Ein- 
kit und Einfachheit der oberften Raturgefege im entfehiedenften Wiber- 
ſpruch ſteht. Die Philofophen, welche jener Teleofogie huldigen, 
müffen nothwendiger Weile zwei grundverfchiedene Naturen annehmen: 
eine anorganifche Natur, welche durh mechaniſch wirkende 


9” Kant’3 moniſtiſche Anorganologie. 


Urſachen (causae efficientes), und eine organifche Natur, welde 
durch zwedmäßig thätige Urſachen (causae finales) erflärt werden 
muß. (Bergl. ©. 31.) " 

Diefer Dualismus tritt und auffallend entgegen, wenn wir die 
Naturanſchauung eines der größten deutfchen Philofophen, Kant's, 
betrachten, und die Vorftellungen ind Auge faflen, welche er fi) von 
der Entftehung der Organismen bildete. Cine nähere Betrachtung 
diefer Vorftellungen ift hier ſchon deshalb geboten, weil wir in Kant 
einen der wenigen Philofophen verehren, welche eine gediegene natur- 
wiſſenſchaftliche Bildung mit einer außerordentliche Klarheit und Tiefe 
der Epeculation verbinden. Der Königsberger Philofoph erwarb ſich 
nicht bloß durch Begründung der kritiſchen Pbilofophie den höchften 
Ruhm unter den fpecufativen Philoſophen, fondern auch durch feine 
mechaniſche Kosmogenie einen glänzenden Namen unter den Ratur- 
forſchern. Schon im Jahre 1755 machte er in feiner „allgemeinen 
Naturgeihichte und Theorie des Himmels ?*)" den kühnen Verſuch. 
„Die Berfaffung und den mechanifchen Urfprung des ganzen Weltge- 
bäudes nad) Newton ſchen Grundfägen abzuhandeln“, und mit Aus- 
ſchluß aller Wunder aus dem natürlichen Entwidelungsgange der 
Materie mechanifch zu erflären. Diefe Kantifche Kosmogenie oder die 
‚„Roßmologifhe Gastheorie“, welche wir nachher (im XIIL Bortrage) 
turz erörtern werden, wurde fpäterhin von dem franzöfifchen Mathe- 
matifer Laplace und von dem englifchen Aftronomen Herſchel 
ausführlicher begründet und erfreut fich noch heute einer fait allge- 
meinen Anerfennung. Schon allein wegen dieſes wichtigen Wertes, in 
welchem esafte® phyfitalifches Wiffen mit der geiftvollften Spetulation 
gepaart ift, verdient Kant den Ehrennamen eine® Raturphilo- 
fophen im beften und reinften Sinne ded Wortes. 

Denn Sie Kant's Kritik der teleologifhen Urtheiläfraft, fein 
bedeutendfted biofogifche® Werk, leſen, fo gewahren Sie, daß er ſich 
bei Betrachtung der organifchen Natur wefentlic immer auf dem teleo · 
logiſchen oder dualiſtiſchen Etandpuntt erhält, während er für die 
anorganifhe Natur unbedingt und ohne Rüdhalt die mechaniſche oder 


Kants bualiftifche Biologie. A 


moniftifche Erflärungdmethode annimmt. Er behauptet, daß ſich im 
Gebiete der anorganifhen Natur fämmtliche Erfheinungen aus mes 
chaniſchen Urſachen, aus den bewegenden Kräften der Materie felbft 
erflären laſſen, im Gebiete der organifchen Natur dagegen nicht. In 
der gefammten Anorganologie (in der Geologie und Mineralogie, 
in der Meteorologie und Aftronomie, in der Phyſik und Chemie der 
anorganifchen Naturkörper) follen alle Erfheinungen bloß durch Me⸗ 
chanismus (causa efficiens), ohne Dazmwifchentunft eines End⸗ 
wecles erflärbar fein. In der gefammten Biologie dagegen, in der 
Botanif, Zoologie und Anthropologie, foll der Mechanismus nicht 
ausreichend fein, und alle Erfheinungen zu erflären; vielmehr können 
wir diefelben nur durch Annahme einer zwedmaͤßig wirkenden End» 
urſach e (causa finalis) begreifen. An mehreren Stellen hebt Kant 
ausdrücklich hervor, daß man, von einem ftreng naturwiſſenſchaft ⸗ 
lich ⸗ philoſophiſchen Standpunft aus, für alle Erſcheinungen ohne 
Ausnahme eine mechaniſche Erflärungsweife fordern müffe, und daß 
der Mechanismus allein eine wirklihe Erklärung ein- 
ſchließe. Zugleich meint er aber, daß gegenüber den belebten Natur- 
törpern, den Thieren und Pflanzen, unfer menſchliches Erkenntnifver- 
mögen beſchraͤnkt fei, und nicht außreiche, um hinter die eigentliche 
wirffame Urſache der organifchen Vorgänge, insbeſondere der Ent» 
flehung der orgamifchen Formen, zu gelangen. Die Befugniß der 
menſchlichen Bemunft zur mechaniſchen Erflärung aller Erfheinun- 
gen fei umbefchräntt, aber ihr Bermögen dazu begrenzt, indem man 
die organifhe Natur nur teleologifh betrachten fünne. 

Run find aber einige Stellen fehr merkwürdig, in denen Kant 
auffallend von diefer Anſchauung abweicht, und mehr ober minder 
beitimmt den Grundgedanken der Abftammungslehre ausfpricht. Er 
behauptet da fogar die Nothwendigkeit einer genealogifchen Auffaffung 
des organifchen Syſtems, wenn man überhaupt zu einem wiflenfchaft- 
lichen Berftändniß deſſelben gelangen wolle. Die wichtigſte und merf- 
würdigfte von diefen Stellen findet fi in der „Methodenlehre der 
teleofogifchen Urtheilöttaft” ($. 79), welche 1790 in der „Rritit der 


92 Kant's genenlogifche Entwidelungetheorie. 


Urtheilskraft erſchien. Bei dem außerordentlichen Intereſſe, welches 
dieſe Stelle ſowohl für die Beurtheilung der Kantiſchen Philoſophie, 
als für die Geſchichte der Deſcendenztheorie beſitzt, erlaube ih mir, 
Ihnen diefelbe hier wörtlich mitzutheifen. 

„Es ift rühmlich, mittelft einer comparativen Anatomie die große 
Schöpfung organifirter Raturen durchzugehen, um zu fehen: ob ſich 
daran nicht etwas einem Syftem Aehnliches, und zwar dem Erzeu« 
gungsprinzip nad, vorfinde, ohne daß wir nöthig haben, beim 
bloßen Beurtheilungdpringip, welches für die Einficht ihrer Erzeugung 
keinen Aufſchluß giebt, ftehen zu bleiben, und muthlos allen Anſpruch 
auf Natureinſicht in biefem Felde aufzugeben. Die Uebereinkunft 
fo vieler Thiergattungen in einem gewiffen gemeinfamen Schema, das 
nicht allein in ihrem Knochenbau, fondern auch in der Anordnung 
der übrigen Theile zum Grunde zu liegen fcheint, wo bewunderungs« 
würdige Einfalt des Grundriffes durch Verkürzung einer und Berlän« 
gerung anderer, durch Entwidelung diefer und Auswidelung jener 
Theile, eine fo große Mannichfaltigfeit von Specied hat hervorbringen 
tönnen, läßt einen obgleich ſchwachen Strahl von Hoffnung ind Ge⸗ 
müth fallen, daß hier wohl Etwas mit dem Prinzip des Mechanid- 
mus der Natur, ohne das es ohnedies feine Natuwiſſenſchaft ge- 
ben kann, auszurichten fein möchte. Diefe Analogie der Formen, fo 
fern fie bei aller Verſchiedenheit einem gemeinſchaftlichen Urbifde gemäß 
erzeugt zu fein ſcheinen, verftärft die Bermuthung einer wirflichen 
Verwandtſchaft derfelben in der Erxeugung von einer gemeinfchaft- 
lichen Urmutter durch die fufenartige Annäherung einer Thiergattung 
jur anderen, von derjenigen an, in welcher das Prinzip der Zwece 
am meiften bewährt zu fein f[heint, nämlich dem Menfchen, bis 
zum Polyp, von diefem fogar bis zu Moofen und Flechten, und 
endlich zu der niebrigften und merklichen Stufe der Natur, zur roben 
Materie: aus welcher und ihren Kräften nah mechaniſchen 
Gefegen (gleih denen, danach fie in Kryftallergeugungen 
wirft) die ganze Technik der Natur, die und in organifirten Weſen fo 
unbegreiflid) ift, daß wir und dazu ein anderes Prinzip zu denfen ge 





Kant’$ genealogifehe Entwidelungotheorie. \ 93 
nöthigt glauben, abzuftammen ſcheint. Hier fieht e8 nun dem Ar- 
Häologen ber Natur frei, aus den übrig gebliebenen Spuren ihrer 
älteften Revofutionen, nad) allen ihm befannten oder gemuthmaßten 
Mechanismen derfelben, jene große Familie von Gefhöpfen 
denn fo müßte man fie fi vorftellen, wenn die genannte, durchgän⸗ 
gig aufammenhängende Benwandtfpaft einen Grund haben foll) ent- 
fpringen zu laſſen.“ 

Wenn Sie diefe merkwürdige Stelle aus Kant's Kritik der teleo- 
logiſchen Urtheilötraft herausnehmen und einzeln für ſich betrachten, 
fo müffen Sie darüber erſtaunen, wie tief und klar der große Denker 
fon damals (1790!) die innere Nothwendigleit der Abftammungs- 
lehre erfannte, und fie als den einzig möglichen Weg zur Erklärung 
der organiſchen Natur durch mechanifche Gefepe, d. h. zu einer wahr 
haft wiſſenſchaftlichen Ertenntniß bezeichnete. Auf Grund diefer einen 
Stelle könnte man Kant geradezu neben Goethe und Ramard ala 
einen der erften Begründer der Abſtammungslehre bezeichnen, und 
diefer Umftand dürfte bei dem hohen Anfehen, in welchem Kant's 
kritische Philofophie mit vollem Rechte fteht, vielleicht geeignet- fein, 
manden Philofophen zu Gunften derfelben umzuſtimmen. Sobald 
Sie indeffen diefe Stelle im Zufammenhang mit dem übrigen Ge— 
danfengang ber „Kritit der Urtheilskraft“ betrachten, und anderen 
geradezu wiberfprechenden Stellen gegenüber halten, zeigt ſich Ihnen 
deutlich, dag Kant in diefen und einigen ähnlichen (aber ſchwächeren) 
Sägen über ſich felbft hinausging und feinen in der Biologie ge- 
wöhnlih eingenommenen teleologifchen Standpunft verlieh. 

Selbſt unmittelbar auf jenen wörtlich angeführten, bewunde⸗ 
tungdwürbigen Sap folgt ein Zufap, welcher demſelben die Spipe 
abbriht. Nachdem Kant fo eben ganz richtig die „Entftehung der 
organifhen Formen aus der rohen Materie nach mechanifchen Ge- 
fegen (gleich denen der Kryſtallerzeugung)“, ſowie eine ſtufenweiſe 
Entwidelung der verſchiedenen Species durch Abftammung von einer 
gemeinſchaftlichen Urmutter behauptet hatte, fügte er hinzu: „Allen 
er (der Archäolog der Natur, d. h. der Paläontolog) muß gleich« 


94 Kants dueliſiſche Biologie. 

wohl zu dem Ende diefer allgemeinen Mutter eine auf alle dieje 
Geſchöpfe zweckmaͤßig geftellte Organifation beilegen, widrigenfall® 
die Zwedform der Produfte des Thier- und Pflanzenreichs ihrer 
Moͤglichteit nach gar nicht zu denten ift.” Offenbar hebt diefer Zur 
ſaß den wichtigften Grundgedanten des vorhergehenden Sapes, daß 
durch die Defcendenztheorie eine rein mechaniſche Erklärung der or- 
ganifhen Natur möglich werde, vollftändig wieder auf. Und daß 
diefe teleologifche Betrachtung der organifchen Natur bei Kant die 
herrſchende war, zeigt fhon die Meberfhhrift des mertwürdigen $. 79, 
welcher jene beiden widerſprechenden Säge enthält: „Von der noth⸗ 
wendigen Unterordnung des Prinzips des Mechanismus 
unter das teleologifche in Erklärung eine Dinges ald Ra- 
turwed.” . 

Am fhärfften fpricht fih Kant' gegen die mechaniſche Erklä- 
tung der organiſchen Natur in folgender Stelle aus ($. 74): „Es 
ift ganz gewiß, daß wir die organifirten Wefen und deren innere 
Möglichkeit nad) bloß mechanifhen Prinzipien der Ratur nicht ein« 
mal zureihend fennen lernen, viel weniger und erklären fönnen, 
und zwar fo gewiß, daß man dreiſt fagen fann: Es ift für Men- 
ſchen ungereimt, auch nur einen folhen Anſchlag zu faſſen, oder zu 
hoffen, daß noch etwa dereinft ein Newton aufftehen könne, der 
aud nur die Erzeugung eines Grashalms nach Raturgefepen, die 
teine Abſicht geordnet hat, begreiflich machen werde, fondern man 
muß diefe Einfiht dem Menden fehlechterdingd abfpredden.” Run 
ift aber diefer unmögliche Newton fiebenzig Jahre fpäter in Dar« 
win wirklich erſchienen und feine Selectionstheorie hat die Aufr 
gabe thatfächlich gelöft, deren Löfung Kant für abfolut undenkbar 
erflärt hatte! 

Im Anſchluß an Kant und an die deutfchen Raturphilofoppen, 
mit deren Entwicelungstheorie wir und im vorhergehenden Vor ⸗ 
trage befchäftigt haben, erſcheint es gerechtfertigt, jept noch kurz eini« 
ger anderer deutſcher Naturforfher und Ppilofopben zu gedenten, 
welche im Laufe unfered Jahrhunderts mehr oder minder beftimmt 


Geneologifche Aufichten von Leopold Bud. 9 
gegen die herrſchenden teleologifchen Schöpfungsvorftellungen ſich auf 
lehnten, und den mechanifchen Grundgedanken der Abftammungs- 
lehre geltend machten. Bald waren es mehr allgemeine philofophie 
ſche Betrachtungen , bald-mehr befondere empirifche Wahrnehmungen, 
welche diefe denfenden Männer auf die Borftellung brachten, daß 
die einzelnen organifchen Specie® von gemeinfamen Stammformen 
abflammen müßten. Unter ihnen will ich zunaͤchſt den großen deut« 
ſchen Geologen Leopold Buch hervorheben. Wichtige Beobachtun⸗ 
gen über die geographifche Verbreitung der Pflanzen führten ihn in 
feiner trefflichen „phyfitafifchen Befchreibung der canariſchen Infeln“ 
zu folgendem merkwürdigen Ausſpruch: 

„Die Individuen der Gattungen auf Gontinenten breiten ſich aus, 
entfernen ſich weit, bilden durch Berfchiedenheit der Standörter, Nah⸗ 
tung und Boden Varietäten, welche, in ihrer Entfernung nie von an⸗ 
deren Barietäten gekreuzt und dadurch zum Haupttypus zurückgebracht, 
endlich conftant und zur eignen Art werden. Dann erreichen ſie viel⸗ 
leicht auf anderen Wegen auf dad Neue die ebenfalls veränderte vorige 
Barietät, beide nun als fehr verfchiedene und ſich nicht wieder mit 
einander vermifhende Arten. Nicht fo auf Infeln. Gewöhnlich in 
enge Thaͤler, oder in den Bezirk ſchmaler Zonen gebannt, können ſich 
die Individuen erreichen umd jede gefuchte Figirung einer Varietät 
wieder jerftören. Es ift dies ungefähr fo, wie Sonderbarteiten oder 
Fehler der Sprache zuerft durch das Haupt einer Familie, dann durch 
Verbreitung diefer felbft, über einen gangen Diſtrikt einheimifch wer- 
den. Iſt diefer abgefondert und ifolirt, und bringt nicht die flete Ver⸗ 
bindung mit andern die Sprache auf ihre vorherige Reinheit zurüd, 
fo wird aus diefer Abweichung ein Dialekt. Berbinden natürliche Hin⸗ 
demiffe, Wälder, Berfafung, Regierung, die Bewohner de abwei⸗ 
chenden Diſtrikts noch enger, und trennen fie ſich noch fhärfer von den 
Rachbam, fo figirt ſich der Dialekt, und es wird eine völlig verfchie- 
dene Sprache.” (Veberficht der Flora auf den Canarien, ©. 133.) 

Sie jehen, daß Buch hier auf den Grundgedanfen der Abftam« 
mungölehre durch die Erſcheinungen der Pflanzengeographie geführt 


9 Genealogiſche Sprachſorſchung von Auguft Schleicher. 


wird, ein biologiſches Gebiet, welches in der That eine Maſſe von 
Beweifen zu Gunften derfelben liefert. Darwin hat diefe Beweiſe 
in zwei befonderen Kapiteln feines Werkes (dem elften und zwölften) 
ausführlich erörtert. Buch’® Bemerkung ift aber auch deshalb von 
Intereſſe, weil fie und auf die äußerft lehrreiche Vergleichung der ver- 
ſchiedenen Sprachzweige und der Organismenarten führt, eine Ber- 
gleihung , welche ſowohl für die vergleichende Sprachwiſſenſchaft, als 
für die vergleichende Thier- und Pflanzentunde vom größten Rupen 
iſt. Gleichwie z. B. die verfchiedenen Dialefte, Mundarten, Sprad- 
äfte und Sprachzweige der deutſchen, ſlaviſchen, griechiſch- lateiniſchen 
und iraniſch ⸗ indiſchen Grundſprache von einer einzigen gemeinfchaft- 
lichen indogermanifchen Urſprache abftammen, und gleichroie fich deren 
Unterſchie de burd die Anpaffung, ihre gemeinfamen Grund» 
charaktere dur die Vererbung erflären, fo ſtammen aud) die ver- 
ſchiedenen Arten, Gattungen, Familien, Ordnungen und Alafien der 
Wirbelthiere von einer einzigen gemeinſchaftlichen Wirbelthierform ab; 
auch hier ift die Anpaffung die Urfache der Verfchiedenheiten, die Ber- 
erbung die Urſache de3 gemeinfamen Grundcharakters. Diefer inter- 
effante Parallelismus in der divergenten Entwickelung der Sprachfor- 
men und der Organismen ⸗ Formen ift in fehr einfeuchtender Weife von 
einem unferer erften vergleichenden Eprachforfcher erörtert worden, von 
dem genialen Auguft Schleier, der namentlich den Stammbaum 
der indogermanifchen Sprachen in der fharffinnigften Weiſe phyloge- 
netiſch enttwidelt hat ®). . 

Bon anderen hervorragenden deutſchen Naturforſchern, die fih 
mehr oder minder beftimmt für die Defcendenztheorie außfprachen, und 
die auf ganz verfdhiedenen Wegen zu derfelben hingeführt wurden, 
habe ich zunaͤchſt Carl Ernft Bär zu nennen, den großen Reforma- 
tor der thierifchen Entwickelungsgeſchichte. In einem 1834 gehalte- 
nen Bortrage, betitelt: „Das allgemeinfte Gefep der Ratur in aller 
Entwidelung” erläutert derfelbe vortrefflih, daß nur eine ganz findi« 
ſche Naturbetrachtung die organiſchen Arten als bleibende und un- 
veränderlihe Typen anfehen könne, und dag im Gegentbeil diefel- 





Genealogiſche Anfichten von Bär, Schleiden, Unger, 8. Carus. 97 


ben nur vorübergehende Zeugungsreihen fein können, die durch Um⸗ 
bildung aus gemeinfamen Stammformen fi) entwidelt haben. Die- 
felbe Anficht begründete Bär fpäter (1859) durch Die Gefepe der geo- 
graphiſchen Berbfeitung der Organismen. 

I. M. Schleiden, welcher vor-30 Jahren hier in Jena durch 
feine ſtreng empirifch-philofophifche und wahrhaft wiffenfchaftliche Me- 
thode eine neue Epoche für die Pflanzentunde begründete, erläuterte 
in feinen bahnbrechenden Grundzügen der wiſſenſchaftlichen Botanik ?) 
die philoſophiſche Bedeutung des organifchen Speciesbegriffes. und 
zeigte, daß derfelbe nur in dem allgemeinen Gefepe der Specifi- 
tation feinen fubjectiven Urfprung habe. Die verſchiedenen Pflanzen ⸗ 
arten find nur die fpecificirten Produfte der Pflanzenbildungötriebe, 
welche durch die verfhiedenen Kombinationen der Grundfräfte der 
organifhen Materie entitehen. 

Der ausgezeichnete Wiener Botaniker F. Unger wurde durch 
feine gründlichen und umfaffenden Unterfuchungen über die auöge- 
ſtorbenen Pflanzenarten zu einer paläontologifhen Entwicelungsge⸗ 
ſchichte des Pflanzenreichs geführt, welche den Grundgedanten der Ab- 
ſtammungslehre Mar ausſpricht. In feinem „Berfud einer Geſchichte 
der Pflanzenwelt” (1852) behauptet er die Abftammung aller vers 
fhiedenen Pflanzenarten von einigen wenigen Stammformen, und 
vielleicht von einer einzigen Urpflanze, einer einfachften Pflangenzelle. 
Gr zeigt, daß diefe Anfchauungsweife von dem genetifchen Zufam- 
menhang aller Pflanzenformen nicht nur phyſiologiſch nothwendig, 
fondern auch empirifh begründet fei®). 

Bictor Carus in Leipjig that in der Einleitung zu feinem 
1853 erfehienenen trefflichen Syſtem der thierifchen Morphologie” 9), 
welches die allgemeinen Bildungsgeſete des Thierförper® durch die 
vergleichende Anatomie und Entwidelungsgefhichte philoſophiſch zu 
begründen verfuchte, folgenden Ausſpruch: „Die in den älteften geo⸗ 
logiſchen Lagern begrabenen Organismen find al die Urahnen zu be 


taten, aus denen durch fortgefeßte Zeugung und Aktommodation 
Hardel, Ratürl. Shüpfungegeih. 5. Aufl. 7 





98 Genealogiſche Anfihten von Schaafihaufen, Vuchner. 
an progreſſiv fehr verſchiedene Lebensverhaͤltniſſe der Formenreichthum 
der jetzigen Schöpfung entftand.” 

In demfelben Jahre (1853) erklärte fi der Bonner Anthropo- 
loge Schaaffhaufen in einem Auflage „über Beftändigkeit und 
Umwandlung der Arten” entfchieden zu Gunften der Defcendenztheorie. 
Die lebenden Pflanzgen- und Tpierarten find nach ihm die umgebil- 
beten Nachkommen der auögeftorbenen Species, aus denen fie durch 
allmaͤhliche Abänderung entftanden find. Das Auseinandermeichen 
(die Divergenz oder Sonderung) der nächſtverwandten Arten gefchieht 
durch Zerftörung der verbindenden Zwifchenftufen. Auch für den 
thieriſchen Urfprung des Menfchengefchlehts und feine allmaͤbliche 
Entwidelung aus affenähnlihen Thieren, die wichtigſte Konſequenz 
der Abftammungälehre, ſprach fih Schaaffhauſen (1857) fon 
mit Beftimmtheit aus. 

Endlich ift von deutfchen Raturphilofophen noch befonders Louis 
Büchner hervorzuheben, welcher in feinem berühmten Buche „Kraft 
und Stoff” 1855 ebenfall® die Grundzüge der Defcendenztheorie felbft- 
ftändig entwidelte, und zwar vorzüglich auf Grumd der unwiderleglichen 
empiriſchen Zeugniſſe, welche und bie paläontologifhe und die indivi- 
duelle Entwidelung der Organismen, fowie ihre vergleichende Anato⸗ 
mie, und der Parallelismus biefer Entwidelungsreihen liefert. Büch ⸗ 
ner zeigte fehr einleuchtend, daß ſchon hieraus eine Entwickelung der 
verfepiedenen organifhen Specied aus gemeinfamen Stammformen 
nothwendig folge, und dag die Entftehung diefer urfprünglichen 
Stammformen nur durch Urzeugung benfbar feit°). 

Bon den deutſchen Naturphilofophen wenden wir und nun ju 
den franzöfifchen, welche ebenfalls feit dem Beginne unſeres Jahrhun- 
dert® die Entwidelungätheorie vertraten. 

An der Spige der franzöfifhen Raturphilofopbie ſteht 
Jean Lamard, welcher in der Geſchichte der Abflammungslehre 
neben Darwin und Goethe den erften Plag einnimmt. Ihm wird 
der unſterbliche Ruhm bleiben, zum erften Male die Defcendenztheorie 
als jelbftftändige wiſſenſchaftliche Theorie erften Ranges durchgeführt 


Lamard’s zoologifche Bhilofopfie. 9 
und als die naturphilofophifche Grundlage der ganzen Biologie fefte 
geftellt zu haben. Obwohl Ramard bereit® 1744 geboren wurde, 
begann er doch mit Veröffentlichung feiner Theorie erft im Beginn 
unfere® Jahrhunderts, im Jahre 1801, und begründete diefelbe erit 
ausführlicher 1809, in feiner Maffifchen „Philosophie zoologique“ ?). 
Diefes bewunderungdwürdige Werk ift die erfte zufammenhängende 
und ftreng bis zu allen Konfequenzen durchgeführte Darftellung der 
Abſtammungslehre. Durch die rein mechaniſche Betrachtungsweiſe 
der organifchen Natur und die ſtreng philofophiiche Begründung von 
deren Nothwendigkeit erhebt fih Lamarck's Werk weit über die vor- 
hertſchend dualiſtiſchen Anfchauungen feiner Zeit, und bis auf Dar⸗ 
win's Wert, welches gerade ein halbes Jahrhundert fpäter erſchien, 
finden wir fein zweites, welches wir in diefer Beziehung der Philoso- 
phis zoologique an die Seite fegen könnten. Wie weit diefelbe ihrer 
Zeit voraußeilte, geht wohl am beften Daraus hervor, daß fie von den 
Meiſten gar nicht verftanden und fünfzig Jahre hindurch todtgeſchwie ⸗ 
gen wurde. Lamard's größter Gegner, Cuvier, erwähnt in feinem 
Bericht über die Fortſchritte der Ratunwiilenfhaften, in welchem die 
unbebeutendften anatomifchen Unterfuhungen Aufnahme fanden, dieſes 
epochemachende Wert mit feinem Worte. Auch Goethe, welcher fich 
fo lebhaft für die franzöſiſche Raturphilofophie, für „die Gedanten 
der verwandten Geifter jenſeits bed Rheins“, intereffirte, gedenkt 
Lamarck's nirgends, und ſcheint die Philosophie zoologique gar 
nicht gefannt zu haben. Den hoben Ruf, welchen Lamard ſich ald 
Raturforfcher erwarb, verdankt derfelbe nicht feinem höchft bedeuten- 
den allgemeinen Werke, fondern zahlreichen fpeciellen Arbeiten über 
niedere Thiere, indbefondere Mollusken, ſowie einer ausgezeichneten 
„Raturgefchichte der wirbellofen Thiere”, welche 1815 —1822 in fier 
ben Bänden erſchien. Der erfte Band dieſes berühmten Werkes (1815) 
enthält in der allgemeinen Einleitung ebenfalls eine ausführliche Dar- 
ſtellung feiner Abftammungslehre. Bon der ungemeinen Bedeutung 
der Philosophie zoologique fann ich Ihnen vielleicht feine beſſere 

7* 


100 Lamard’8 moniſtiſche Eutwickelungstheorie. 


Vorſtellung geben, als wenn ich Ihnen daraus einige der wichtigſten 
Säge wörtlih anführe: 

„Die foftematifchen Eintheilungen, die Klaſſen, Ordnungen, Fa- 
milien, Gattungen und Arten, fowie deren Benennungen, find will- 
fürliche Kunſterzeugniſſe des Menſchen. Die Arten oder Species der 
Organismen find von ungleihem Alter, nach einander entwidelt und 
zeigen nur eine relative, zeitweilige Beftändigfeit; aus Varietäten 
gehen Arten hervor. Die Verſchiedenheit in den Lebensbedingungen 
wirft verändernd auf die Organifation, die allgemeine Form und die 
Theile der Thiere ein, ebenfo der Gebrauch oder Nichtgebrauch der 
Drgane. Im erften Anfang find nur die allereinfachften und niedrig- 
ften Thiere und Pflanzen entftanden und erft zufept diejenigen von 
der höchft zufammengefepten Organifation. Der Entwidelungdgang 
der Erde und ihrer organifhen Bevölkerung war ganz continuirlich, 
nicht durch gewaltſame Revolutionen unterbrochen. Das Leben ift 
nur ein phyfifalifches Phänomen. Alle Lebenserſcheinungen beruhen 
auf medanifhen, auf phyfitalifhen und chemiſchen Urſachen, die in 
der Beſchaffenheit der organifchen Materie feldft liegen. Die einfach- 
ften Ihiere und die einfachften Pflanzen, welche auf ber tiefften Stufe 
der Organifationdleiter ftehen, find entftanden und entftehen noch 
heute durch Urgeugung (Generatio spontanea). Alle lebendigen Ra- 
turförper oder Organismen find denfelben Raturgefegen, wie die leb- 
tofen Raturkörper oder die Anorgane unterworfen. Die Ideen und 
Thaͤtigkeiten des Verftandes find Bewegungserſcheinungen des Gen- 
tralnervenſyſtems. Der Wille ift in Wahrheit niemals frei. Die 
Vernunft ift nur ein höherer Grad von Entwidelung und Verbin« 
dung der Urtheile.” ‚ 

Das find nun in der That erſtaunlich fühne, großartige „und 
weitreichende Anfichten, welche Lamarck vor 65 Jahren in biefen 
Sägen niederlegte, und zwar zu einer Zeit, in welcher deren Begrün- 
dung dur) maffenhafte Thatſachen nicht entfernt fo, wie heutzutage, 
möglich war. Sie fehen, dag Lamarck's Werk eigentlich ein voll- 
ſtaͤndiges, ftreng moniſtiſches (mechanifches) Naturſyſtem ift, daß alle 


Lamard’s Anſicht von ber Anpaffung und der Vererbung. 101 


wichtigen allgemeinen Grundfäpe der moniftifchen Biologie bereits 
von ihm vertreten werden: Die Einheit der wirkenden Urfachen in der 
organifchen und anorganifchen Ratur, der legte Grund diefer Urfachen 
in den chemifchen und phyſikaliſchen Eigenfhaften der Materie, ber 
Mangel einer befonderen Lebenskraft oder einer organiſchen Endur- 
ſache; die Abſtammung aller Organismen von einigen wenigen, höchft 
einfachen Stammformen oder Uweſen, welche durch Urzeugung aus 
anorganifcher Materie entftanden find; der zufammenhängende Ber- 
lauf der ganzen Erbgefchichte, der Mangel der gewaltfamen und to— 
talen Erdrevolutionen, und überhaupt die Undenkbarkeit jedes Wun- 
ders, jedes übernatürlichen Eingriffs in den natürlichen Entwiclelungs⸗ 
gang der Materie. 

Daß Lamard’3 bewunderungswürdige Geiftesthat faft gar 
feine Anertennung fand, liegt theild in der ungeheuren Weite des 
Rieſenſchritts, mit welchem er dem folgenden halben Jahrhundert vor⸗ 
auseilte, theil® aber auch in ber mangelhaften empirifhen Begrün- 
dung derfelben, und in ber oft etwaß einfeitigen Art feiner Berweis- 
führung. Als die nächften mechaniſchen Urſachen, welche die beftän- 
dige Umbildung der organifchen Formen bewirken, erfennt Qamard 
ganz richtig die Berhältniffe der Anpaffung an, während er die 
Formaͤhnlichkeit der verfhiedenen Arten, Gattungen, Familien u. ſ. w. 
mit vollem Rechte auf ihre Blutsverwandtſchaft zurüdführt, alfo durch 
die Bererbung erflärt. Die Anpaflung befteht nad ihm darin, dag 
die beftändige langſame Veränderung der Außenwelt eine entſprechende 
Veränderung in den Thätigkeiten und dadurch auch) weiter in den For⸗ 
men der Organismen bewirkt. Das größte Gewicht legt er dabei 
auf die Wirkung der Gewohnheit, auf den Gebrauch und Nicht- 
gebrauch der Organe. Allerdings ift diefer, wie Sie fpäter fehen wer- 
den, für die Umbildung der orgamifchen Formen von ber höchften Be- 
deutung. Allein in der Weile, wie Camard hieraus allein oder 
doch vorwiegend die Veränderung der Formen erflären wollte, ift das 
meiſtens doch nicht möglich. Er fagt 4. B., daß der lange Hals der 
Giraffe entftanden fei durch das beftändige Hinaufreden des Halſes 


102 Lamarce Anficht von ber Entwidiefung des Menſchengeſchlechts. 


nad} hoben Bäumen, und da? Beftreben, die Blätter von deren Aeſten 
au pflüden; ba die Giraffe meiften® in trodenen Gegenden lebt, wo 
nur da® Raub der Bäume ihr Nahrung gewährt, war fie zu biefer 
Thätigfeit gezwungen. Gbenfo find die langen Zungen der Spechte, 
Colibris und Ameifenfreffer durch die Gewohnheit entftanden, ihre 
Nahrung aus engen, fhmalen und tiefen Spalten oder Kanälen ber- 
auszuholen. Die Schwimmhäute zwiſchen ben Zehen der Schwimm- 
füße bei Fröſchen und anderen Waſſerthieren find lediglich durch das 
forttwäprende Bemühen zu ſchwimmen, durch das Schlagen der Füße 
in das Waffer, durch die Schwimmbewegungen felbft entitanden. 
Durch Vererbung auf die Nachlommen wurden diefe Gewohnheiten 
befeftigt und durch weitere Ausbildung derfelben ſchließlich die Organe 
ganz umgebildet. So richtig im Ganzen diefer Grundgedante ift, fo 
legt doch Lamard zu ausſchließlich das Gewicht auf die Gewohn- 
heit (Gebrauch und Richtgebrauch der Organe), allerding® eine der 
wichtigſten, aber nicht bie einzige Urſache der Yonmveränderung. 
Dies kann und jedoch nicht hindern, anzuerkennen, daß Lamard die 
Wechſelwirkung der beiden organifchen Bildungstriebe, der Anpafe 
fung und Vererbung, ganz richtig begriff. Nur fehlte ihm dabei das 
äußerft wichtige Prinzip der „natürlichen Züchtung im Kampfe um 
das Dafein“, mit welchem Darwin und erſt 50 Jahre fpäter be- 
Tannıt machte. 

Al ein befondered Verdienft Lamard'3 if num noch hervor 
zuheben, daß er bereitd verfuchte, die Entwidelung des Men⸗ 
ſchengeſchlechts aus anderen, zunähft affenartigen Säugetbieren 
darzuthun. Auch hier war es wieder in erfter Linie die Gewohnheit, 
der er den umbilbenden, verebeinden Einfluß zuſchrieb. Er nahm 
alfo an, daß die niederſten, urſprünglichen Urmenſchen entftanden 
feien aus ben menfchenähnlichen Affen, indem die lepteren ſich an⸗ 
gewöhnt hätten, aufrecht zu geben. Die Erhebung des Rumpfes, 
das beftändige Streben, fid) aufrecht zu erhalten, führte zunädhft zu 
einer Umbildung der Gliedmaßen, zu einer ftärferen Differenzirung 
oder Sonderung der vorderen und hinteren Eptremitäten, welche mit 


Raturphilofophie von Geoffrey S. Hifaire. 103 


Recht als einer der wefentlichften Unterfchiede zwiſchen Menfchen und 
Affen gilt. Hinten entwidelten ſich Waden und platte Fußſohlen, 
vom Greifarme und Hände. Der aufrechte Gang hatte zunaͤchſt eine 
freiere Umſchau über die Umgebung zur Folge, und damit einen be» 
deutenden Fortſchritt in ber geiftigen Entwidelung. Die Menſchen⸗ 
affen erlangten dadurch bald ein großes Uebergewicht über die ande- 
ven Affen, und weiterhin überhaupt über bie umgebenden Organis⸗ 
men. Um die Herſſchaft über diefe zu behaupten, thaten fie ſich in 
Geſellſchaften zufammen, und es entwickelte ſich, wie bei allen gefellig 
lebenden Thieren, das Bedürfnig einer Mittheilung ihrer Beftrebungen 
md Gedanken. So entftand das Bebürfniß der Sprache, deren an⸗ 
fangs rohe, ungegliederte Raute bald mehr und mehr in Verbindung 
geſetzt, ausgebildet und artifulirt wurden. Die Entwidelung der 
artikulirten Sprache war nun wieder der ftärkfte Hebel für eine weiter 
fortfchreitende Entwidelung des Organismus und vor Alten des Ge- 
hims, und fo verwandelten ſich allmählih und langfam die Affen- 
menſchen in echte Menſchen. Die wirkliche Abftammung der nieder- 

. fen und roheften Urmenfchen von den höchft entwickelten Affen wurde 
alſo von Lamard bereitd auf das beftimmtefte behauptet, und durch 
eine Reihe der wichtigften Veweisgründe unterftügt. 

Als der bedeutendfte der franzöfifchen Naturphilofophen gilt ge» 
wöhnfich nicht Lamarck, fondem Etienne Geoffroy St. Hi- 
faire (der Aeltere), geb. 1771, derjenige, für welchen auch Goethe 
fi beſonders intereffirte, und den wir oben bereits als den ent- 
ſchiedenſten Gegner Cuvier's kennen gefernt haben. Cr entwickelte 
feine Ideen von der Umbildung der organifchen Species bereit? gegen 
Ende des vorigen Jahrhundert, veröffentlichte diefelben aber erft im 
Jahre 1828, und vertheidigte fie dann im den folgenden Jahren, be- 
ſonders 1830, tapfer gegen Guvier. Geoffroy ©. Hilaire nahm 
im Wefentlichen die Defcendenztheorie Ramard’8 an, glaubte jeboch, 
daß die Umbildung der Thier- und Pflanzenarten weniger durch die 
eigene Thaͤtigkeit des Organismus, (durch Gewohnheit, Uebung, Ge- 
drauch oder Nichtgebrauch der Organe) bewirkt werde, als vielmehr 


104 Entiwidelungtheorie von Geoffrey &. Hilaire. 


durch den „Monde ambiant“, d. h. durch die beftändige Verände- 
rung der Außenwelt, insbeſondere der Atmofphäre. Er faßt den 
Organismus gegenüber den Lebensbedingungen der Außenwelt mehr 
paffiv oder leidend auf, Lam arck dagegen mehr aktiv oder handelnd. 
Geoffroy glaubt 4. B., daß bloß durch Verminderung der Roblen- 
fäure in der Atmofphäre aus eidechfenartigen Reptilien die Bögel 
entftanden feien, indem durch den größeren Sauerftofigehalt der 
Athmungsprojeß lebhafter und energifcher wurde. Dadurch entftand 
eine höhere Bluttemperatur, eine gefteigerte Nerven« und Muskel⸗ 
thätigfeit, aus den Schuppen der Reptilien wurden die Federn der 
Bögel u. ſ. w. Auch diefer Borftellung liegt ein richtiger Gedanke zu 
Grunde. Aber wenn auch gewiß die Veränderung der Atmofphäre, 
wie die Veränderung jeder andern äußern Exiſtenzbedingung, auf ben 
Organismus direft oder indireft umgeftaltend einwirkt, fo ift dennoch 
diefe einzelne Urfache an ſich viel zu unbedeutend, um ihr ſolche Wir⸗ 
tungen zuzufchreiben. Sie ift felbft unbedeutender, ald die von La⸗ 
mar zu einfeitig betonte Webung und Gewohnheit. Das Haupt« 
verbienft von Geoffroy befteht darin, dem mächtigen Einfluffe von 
Euvier gegenüber die einheitliche Naturanfchauung , die Einheit der 
organifhen Formbildung und ben tiefen genealogifhen Zufammen- 
bang der verſchiedenen organiſchen Geftalten geltend gemacht zu ha- 
ben. Die berühmten Streitigkeiten zwiſchen den beiden großen Geg- 
nern in ber Parifer Afademie, insbeſondere die heftigen Konflifte am 
22. Februar und am 19. Juli 1830, an denen Goethe den leben ⸗ 
digften Antheil nahm, babe ich bereit8 in dem vorhergehenden Bor- 
trage erwähnt (©. 77, 78). Damals bfieb Cuvier der anerfannte 
Sieger, und feit jener Zeit ift in Frankreich ſehr Wenig mehr für die 
weitere Entwidelung der Abftammungsfehre, für den Ausbau einer 
moniftifchen Entwidelungstheorie, geſchehen. Offenbar ift dies vor- 
zugsweiſe den hinderlichen Einfluffe zuzufcpreiben, welchen Euvier's 
große Autorität ausübte. Noch heute find die meiften franzdſiſchen 
Raturforfcher Schüler und blinde Anhänger Euvier'd. In feinem 
wiſſenſchaftlich gebildeten Lande Europa’® hat Darmwin's Lehre fo 


Anhänger der Defeenbenztheorie in England. 105 


wenig gewirkt und ift fo wenig verftanden worden, wie in Frankreich. 
Die Akademie der Wiffenfhaften in Paris hat fogar den Vorſchlag, 
Darwin zu ihrem Mitgliede zu emennen, ausdrüdlich verworfen, 
und damit ſich felbft diefer hochſten Ehre für unwürbig erlärt. Unter 
den neueren franzöffchen Naturforſchern find nur noch zwei angefehene 
Botaniter hervorzuheben, Naudin (1852) und Lecoq (1854), welche 
ſich ſchon vor Darwin zu Gunften der Beränderlihkit v und Um⸗ 
bildung der Arten auszuſprechen wagten. 

Rachdem wir nun die älteren Berdienfte der deutfchen und fran« 
zoͤſiſchen Raturphilofophie um die Begrändung der Abftammungslehre 
erörtert haben, wenden wir und zu dem dritten großen Kulturlande 
Curopa's, zu dem freien England, welches feit dem Jahre 1859 der 
eigentliche Ausgangsheerd für bie weitere Ausbildung und die befini« 
tive Feſtſtellung der Entwidelungstheorie geworden ift. Im Anfange 
unfere® Jahrhunderts haben die Engländer, welche jept fo lebendig 
an jedem großen wiſſenſchaftlichen Fortſchritt der Menſchheit Theil 
nehmen, und bie ewigen Wahrheiten der Naturwiffenfchaft in erfter 
Linie fördern, an ber feftländifchen Naturphilofophie und an deren 

bedeutendſtem Fortſchritte, der Defendenztheorie, nur wenig Antheil 
genommen. aft der einzige ältere englifche Raturforfcher, den wir 
hier zu nennen haben, ift Eragmus Darmin, der Großvater des 
Reformatord der Defcendenztheorie. Ex veröffentlichte im Jahre 1794 
unter dem Titel „Zoonomia“ ein naturphilofophifches Werk, in wel⸗ 
dem er ganz ähnliche Anfichten, wie Goethe und Ramard, aus 
ſpricht, ohme jedoch von diefen Männern damals irgend Etwas ger 
wußt zu haben. Die Defcendenztheorie lag offenbar ſchon damals in 
der Luft. Aubh Erasmus Darwin legt großes Gewicht auf die 
Umgeftaktung der Thier- und Pflanzenarten durch ihre eigene Lebend- 
thätigkeit, durch die Angewöhnung an veränderte Eyiftenzbebingungen 
u.ſ. w. Sodann fpricht fih im Jahre 1822 W. Herbert dahin aus, 
daß die Arten oder Species der Thiere und Pflanzen Richt? weiter 
fein, als beftänbig gemorbene Varietäten oder Spielarten. Ebenfo 
etlärke 1826 Grant in Edinburg, daf neue Arten durch fortbauernde 


106 Anhänger ber Defcendenztheorie in England. 


Umbildung aus beftehenden Arten hervorgehen. 1841 behauptete 
Freke, daß alle orgamifhen Wefen von einer einzigen Urform ab» 
ftammen müßten. Ausführliher und in fehr Marer philoſophiſcher 
Form bewies 1852 Herbert Spencer die Nothwendigkeit der Ab» 
ſtammungslehre und begründete diefelbe näher in feinen 1858 er- 
ſchienenen vortrefflichen „Essays“ und in den fpäter veröffentlichten 
„Prineiples of Biology“ «*). Derfelbe hat zugleich das große Ber- 
dienft, die Enttwidelungstheorie auf die Pſychologie angewandt und 
gezeigt zu haben, dag auch die Seelenthätigkeiten und die Geiſteskräfte 
nur ftufenweife erworben und allmählich entwickelt werden konnten. 
Endlich ift noch hervorzuheben, daß 1859 der Erſte unter den eng ⸗ 
liſchen Zoologen, Hurley, die Defcenbenztheorie als die einzige 
Schopfungshypotheſe bezeichnete, welche mit der wiſſenſchaftlichen 
Phyfiologie vereinbar ſei. In demſelben Jahre erſchien die „Ein- 
leitung in die Tasmaniſche Flora“, worin der berühmte engliſche 
Botaniker Hooker die Deftendenztheorie annimmt ımd durch wich⸗ 
tige eigene Beobachtungen unterftüßt. 

Sämmtlihe Naturforſcher und Philofophen, welche Sie in diefer 
turgen hiftorifchen Weberfiht als Anhänger der Entwidelungstheorie 
tennen gelernt haben, gelangten im beften Kalle zu der Anfchauung, 
daß alle verfhiedenen Thier- und Pflanzenarten, die zu irgend einer 
Zeit auf der Erde gelebt haben und noch jept leben, die allmählich 
veränderten und umgebilbeten Nachtommen von einer einzigen, ober 
von einigen wenigen, urfprünglichen, höchft einfachen Stannmformen 
find, welche lehtere einft durch Urzeugung (Generatio spontanen) 
aus anorgamifcher Materie entftanden. Aber feiner von jenen Ratır- 
phifofophen gelangte dazu, diefen Grundgedanten der Abflammungt- 
lehre urfählich zu begründen, und die Umbildung der organifchen 
Specied durch den wahren Nachweis ihrer mechaniſchen Urſachen woirt- 
lich zu erflären. Diefe fhtwierigfte Aufgabe vermochte erft Charles 
Darwin zu löfen, und hierin liegt die weite Muft, welche den ⸗ 
felben von feinen Borgängern trennt. " 

Das außerordentliche Berbienft Charles Darmin's iſt nach 








Doppeltes Verdienſt von Charles Darwin. 107 
meiner Anficht ein doppeltes: er hat erſtens die Abftammungslehre, 
deren Grundgedanken ſchon Goethe und Ramard Mar außfprachen, 
viel umfaffender entwidelt, viel eingehender nach allen Seiten verfolgt, 
und viel frenger im Zufammenhang durdgeführt, al8 alle feine Vor⸗ 
sänger; und er hat zweitens eine neue Theorie aufgeftellt, welche una 
die natürlichen Urſachen der organifhen Entwickelung, bie wirkenden 
Urſachen (Causae efficientes) der organifchen Formbildung, der Ber- 
änderungen und Umformungen ber Thier- und Pflanzenarten ent» 
hüllt. Diefe Theorie ift e&, welche wir die Züchtungslehre ober Se- 
ketiondtheorie, oder genauer die Theorie von ber natürlichen Züch- 
tung (Selectio naturalis) nennen. 

Wenn Sie bedenken, daß (abgefehen von den wenigen vorher 
angeführten Ausnabmen) die gefammte Biologie vor Darwin den 
entgegengefegten Anfchauungen huldigte, und daß faft bei allen Zoo— 
logen und Botanitern die abfolute Selbftftändigkeit der organiſchen 
Species ala felbftverftändfiche Borausfegung aller Formbetrachtungen 
galt, fo werden fie jenes doppelte Berbienft Darwin’s gewiß nicht 
gering anſchlagen. Das falſche Dogma von ber Beftändigkeit und 
unabhängigen Erſchaffung der einzelnen Arten hatte eine fo hohe Auto» 
nität und eine fo allgemeine Geltung gewonnen. und wurde außer 
dem durch den trügenden Augenſchein bei oberflächlicher Betrachtung 
fo ſehr begümftigt. daß wahrlich fein geringer Grad von Muth, Kraft 
und Berftand dazu gehörte. fich reformatorifch gegen jenes allmächtige 
Dogma zu erheben und das künftlich darauf errichtete Lehrgebäude 
du zerträmmern. Außerdem brachte aber Darwin noch den neuen 
und hoͤchſt wichtigen Grundgedanken der „natürlichen Züchtung” zu 
Lamarck's und Goethe's Abſtammungslehre Hinzu.” 

Man muß dieſe beiden Punkte ſcharf unterſcheiden, — freilich 
geſchieht e8 gewöhnlich nicht, — man muß ſcharf unterſcheiden erſtens 
die Adſtammungslehre oder Defcendenztheorie von Lamarck, 
welche bloß behauptet, daß alle Thier- und Pflanzenarten von ges 
meinfamen, einfachften, fpontan entftandenen Urformen abftammen — 
und zweitens die Züchtungslehre oder Selectionstheorie von 


108 Doppeltes Berbienft von Charles Darwin. 


Darwin, weldhe und zeigt, warum dieſe fortfchreitende Umbilbung 
der organifchen Geftalten ſtattfand, welche mechaniſch wirkenden Urs 
fachen die ununterbrochene Neubildung und immer größere Mawnich· 
faltigkeit der Thiere und Pflanzen bedingen. 

Eine gerechte Würdigung kann Darwin's unſterbliches Ver⸗ 
dienſt erſt fpäter erwarten, wenn bie Entwidelungätheorie, nach Ueber⸗ 
voindung aller entgegengefeßten Schöpfungätheorien, als das oberfte 
Erklärungäprinzip der Anthropologie, und dadurch aller anderen Wiſ⸗ 
ſenſchaften, anerfannt fein wird. Gegenwärtig, wo in dem heiß ent- 
brannten Kampfe um die Wahrheit Darwin'3 Name den Anhängern 
der natürlichen Entrwidelungstheorie ald Parole dient, wird fein Ber- 
dienft in entgegengefegter Richtung verfannt, indem bie einen es eben- 
fo überfhägen, als e8 die anderen herabfepen. 

Ueberfhägt wird Darwin's Verbienft, wenn man ihn als den 
Begründer der Defcendenztheorie oder gar ber gefammten Entwide- 
lung8theorie bezeichnet. Wie Sie aus der hiſtoriſchen Darftellung die- 
fe8 und der vorhergehenden Vorträge bereits entnommen haben, if 
die Entwickelungstheorie als ſolche nicht neu; alle Raturphilofophen, 
welche fid) nicht dem blinden Dogma einer übernatürlihen Schöpfung 
gebunden überliefern wollten, mußten eine natürliche Entwidelung 
annehmen. Aber aud) die Defcendenztheorie, als der umfaffende bio- 
logiſche Theil der univerfalen Entwidelungätheorie, wurde von La⸗ 
mard bereits fo Mar auögefprochen, und bis zu den wichtigflen Kon- 
fequenzen ausgeführt, daß wir ihn als den eigentlichen Begründer der- 
felben verehren müffen. Daher darf nicht die Defcendenztheorie al 
Darwinis mus bezeihriet werben, fondern nur die Selectiondtheorie. 
Diefe leptere tft aber an ſich von folder Bedeutung, daß man ihren 
Werth faum hoch genug anſchlagen kann. 

Unterfhäpt wird Darwin's Berdienft natürlich von allen feinen 
Gegnern. Doch kann man von wiſſenſchaftlichen Gegnern deffelben, 
die durch gründliche biologifhe Bildung zur Abgabe eines 
Urtheils legitimirt waͤren, eigentlich nicht mehr reden. Denn unter 
allen gegen Darwin und die Defcendenztheorie veröffentlichten Schrif« 


Agaffig s Oppofition gegen den Danvisismus. 109 


ten fann mit Ausnahme derjenigen von Agaffiz feine einzige An« 
ſpruch überhaupt auf Berüdfichtigung,, gefhweige denn Wiberfegung 
erheben, fo offenbar find fie alle entweder ohne gründliche Kennt 
niß der biofogifchen Thatſachen, ober ohne Mares philofophifches Ver⸗ 
ſtaͤndniß derſelben gefchrieben. Um die Angriffe von Theologen und 
anderen Laien aber, die überhaupt Nichts von der Natur wiffen, 
brauchen wir und nicht weiter zu kümmern. 

Der einzige hervorragende wifienfhaftlihe Gegner, der bis vor 
Kurzem noch Darwin und der ganzen Entwidelungstheorie gegen- 
überftand, defien prinzipielle Oppofition aber freilich auch nur als phi⸗ 
loſophiſche Kuriofität Beachtung verdiente, war Louis Agaffiz. In 
der 1869 in Paris erſchienenen franzöfifchen Ueberfegung feines vor- 
ber von uns betrachteten „Essay on classification“ 5), hat Agaffiz 
feinen ſchon früher vielfach geäußerten Gegenfaß gegen den „Dar 
winismu8” in die entfchiedenfte Form gebracht. Er hat diefer Ueber⸗ 
ferung einen befonderen, 16 Seiten fangen Abſchnitt angehängt, 
welcher den Titel führt: „Le Darwinisme. Classification 
de Haeckel* In diefem fonderbaren Kapitel ftehen die wun- 
derlichſten Dinge zu lefen, wie 3. B. „die Darwin'ſche Idee ift eine 
Gonception a priori. — Der Darinismus ift eine Traveftie der 
Tatſachen. — Die Wiſſenſchaft würde auf die Rechte verzichten, die 
fie biöher auf das Vertrauen der emften Geifter befeffen hat, wenu 
dergleichen Skizzen als die Anzeichen eines wahren Fortſchrittes auf- 
genommen würden!” — Die Krone ſetzt aber der ſeltſamen Pole⸗ 
mit folgender Sap auf: „Der Darwinismus fehließt faft die ganze 
Maſſe der erworbenen Kenniniffe aus, um nur das zuräczubehalten 
und fi zu affimiliren, was feiner Doctrin dienen kann!“ 

Das heißt denn doch die ganze Sachlage vollftändig auf den 
Kopf ftellen! Der Biologe, der die Thatfachen kennt, muß über den 
Muth erftaunen, mit dem Agaffiz folhe Säge ausſpricht, Säpe, 
an denen fein wahrer Buchftabe ift, und die er felbft nicht glauben 
fann! Die unerfhütterliche Stärke der Defcendenztheorie liegt ge- 
tade darin, daß fänmtliche biofogifhe Thatſachen eben nur dur 


i1o Agaffig’® Oppofition gegen den Dartwinismus. 

fie erflärbar find, ohne fie Dagegen unverftändliche Wunder bleiben. 
Alle unfere „erworbenen Kenntnife” in ber vergleichenden Anatomie 
und Phyfiologie, in der Embryologie und Paläontologie, in der 
Lehre von der geographifchen und topographiſchen Berbreitung der 
Organismen u. |. w., fie alle find unmiderleglihe Zeugniffe für die 
Wahrheit der Defcendenztheorie. 

Mit Louis Agaffiz it im December 1873 der lepte Gegner 
des Darwinismus in's Grab geftiegen, der überhaupt wiſſenſchaftliche 
Beachtung verdiente. Seine letzte Schrift (erft nad) feinem Tode in 
dem „Atlantic Monthly“ vom Januar 1874 erſchienen) behandelt 
die „Entwidelung und Permanenz des Typus” und ift fpeciell gegen 
Dawin's Jdeen und gegen meine phylogenetifhen Theorien gerichtet. 
Die auferorbentlihe Schwäche diefes legten Verſuches, der den Kem 
der Sache gar nicht berührt, bemeift deutlicher, als alles Andere, daß 
das Arjenal unferer Gegner völlig erfhöpft ift. 

Ich habe in meiner generellen Morphologie‘) und befonders 
im fechften Buche derfelben (in der generellen Phylogenie) den „Easay 
on classification“ von Agaffiz in allen weientlihen Punkten ein« 
gehend widerlegt. In meinem 24ften Kapitel habe ich demjenigen 
Abſchnitte, den er felbft für den wichtigſten hält (über die Grup- 
penftufen oder Kategorien des Syſtems) eine fehr ausführliche und 
ftreng wiſſenſchaftliche Erörterung gewidmet, und gezeigt, daß dieſer 
ganze Abſchnitt ein reines Luftſchloß, ohne jede Spur von realer Ber 
arändung ift. Agaffiz hat fih aber wohl gehütet, auf diefe Wider 
legung irgendwie einzugeben, wie er ja auch nicht im Stande iſt. 
irgend etwas Stichhaltiged dagegen vorzubringen. Gr fämpft nicht 
mit Beweidgründen, fondern mit Pprafen! Eine derartige Gegner- 
ſchaft wird aber den vollftändigen Sieg der Entwidelungätheorie nicht 
aufhalten, fondern nur befcpleunigen! 


Sechſter Vortrag. 
Entwidelmgstheorie von Lyell und Darwin. 


Terles ehell's Grundfäge der Geologie. Seine natürliche Entwidelungege · 
ſchichte der Erde. Entſtehung der größten Wirkungen durch Summirung ber Hein- 
Ren Urſachen. Unbegrenzte Länge der geofogifchen Zeiträume. Lyell's Widerlegung 
der Envier’fchen Schöpfungsgefichte. Begründung des ununterbrochenen Zufam- 
menhangs der gefdjichtfichen Entwidelung durch Lyell und Darwin. Biographiſche 
Roten über Charles Darwin. Seine wiſſenſchaſtlichen Werke. Seine Korallen- 
riftthecrie. Gutteidelung ber Selectionätheorie. Ein Brief von Darwin. Gleich-⸗ 
ige Veröffentlichung ber Selectionstheorie von Charles Darwin und Alfred 
Wallace. Darwin’s Studium der Hausthiere und Kulturpflanzen, Andreas Wag- 
ner's Anficht von der befonderen Schöpfung der Kufturorganismen für den Men- 
fen. Der Baum des Erfenntniffes im Paradies. Vergleichung ber wilden und 
der Kulturorganismen. Darwin's Stubium der Haustauben. Bedeutung ber 
Tanbenzudt. Gemeinfame Abſtammung aller Taubenraffen. 


Meine Herren! In den lepten drei Jahrzehnten, welche · vor 
dem Erſcheinen von Darwin’? Werk verflofien, vom Jahre 1830 
bie 1859, blieben in den organifchen Naturwiſſenſchaften die Schöpf- 
ungävorftellungen durchaus herrſchend, welche von Cuvier eingeführt 
waren. Man bequemte ſich zu der unwiflenfehaftlichen Annahme, da 
im Berlaufe der Erdgeſchichte eine Reihe won unerklärlihen Exdrevos 
lutionen periodifch Die ganze Thier- und Pflanzenwelt vernichtet habe, 
und daß am Ende jeder Revolution, beim Beginn einer neuen Periode, 
eine neue, vermehrte und verbefierte Auflage der organifchen Bevölfe- 
tung erfhienen fei. Trotzdem die Anzahl diefer Schöpfungsauflagen 


112 Nachhaltiger Einfluß von Cuvier's Schöpfungsäupothefe. 

durchaus ftreitig und in Wahrheit gar nicht feftzuftellen war, tropdem 
die zablreihen Fortſchritte, welche in allen Gebieten der Zoologie 
und Botanit während diefer Zeit gemacht wurden, auf die Unhalt- 
bareit jener bodenlofen Hypothefe Cuvier's und auf die Wahrheit 
der natürlichen Entwidelungstheorie Lamarck's immer dringender 
hinwieſen, blieb dennoch die erftere faſt allgemein bei den Biologen 
in Geltung. Dies ift vor Allem der hohen Autorität zuzuſchreiben 
welche ſich Cuvier erworben hatte, und es zeigt ſich hier mieder 
ſchlagend, wie fhädlih der Glaube an eine beftimmte Autorität 
dem Entwickelungsleben der Menfchen wird — die Autorität, von der 
Goethe einmal treffend fagt: daß fie im Einzelnen verewigt, was 
einzeln vorübergehen folfte, daß fie ablehnt und an ſich vorübergehen 
läßt, was feftgehalten werben follte, und daß fie hauptſächlich Schuld 
ift, wenn die Menfchheit nicht vom Flede kommt. 

Nur durd das große Gewicht von Cuvier's Autorität, und 
durch die gewaltige Macht der menfchlichen Trägheit, welche ſich ſchwer 
entſchließt, von dem breitgetretenen Wege der alltäglichen Vorſtellun ⸗ 
gen abzugeben, und neue, noch nicht bequem gebahnte Pfade zu be» 
treten, läßt es ſich begreifen, daß Lamarck's Defcendenztheorie erft 
1859 zur Geltung gelangte, nachdem Darwin ihr ein neues Fun- 
dament gegeben hatte. Der empfänglice Boden für diefelbe war 
längft vorbereitet, ganz befonder® durch das Berdienft eines anderen 
englifchen Naturforfcherd, Charles Lyell, auf deilen hohe Bedeu⸗ 
tung für die „natürliche Schopfungsgeſchichte wir hier nothwendig 
einen Blid werfen müffen. ' 

Unter dem Titel: Grundfäge der Geologie (Principles of 
geology) !!) veröffentlichte Charles Lyell 1830 ein Wert, weldes 
die Geologie, die Entwidelungägefhichte der Erde, von Grund aus 
umgeitaltete, und biefelbe in ähnlicher Weife veformirte, wie 30 Jahre 
fpäter Darwin's Werk die Biologie. Lyell’s epochemachendes 
Bud, welches Cuvier's Schöpfungshypothefe an der Wunjel jer- 
ftörte , erfchien in demfelben Jahre, in welchem Cuvier feine grogen 
Triumphe über die Raturphilofophie feierte, und feine Oberherrſchaft 





Lyell's natürkiche Entroidelungsgefchichte der Exde. 113 


über das morphologifhe Gebiet auf drei Jahrzehnte hinaus befeftigte. 
Bährend Euvier durd feine fünftliche Schöpfungshypothefe und 
die damit verbundene Kataſtrophen ⸗Theorie einer natürlichen Entwidtes 
fungötheorie geradezu den Weg verlegte und den Faden der natür« 
lichen Erklärung abſchnitt, brach Lyell derſelben wieder freie Bahn, 
und führte einfeuchtend den geologifchen Beweis, daß jene duafiftifhen 
Borftellungen Euvier'8 ebenfowohl ganz unbegründet, als auch ganz 
überflüffig feien. Er wies nach, daß diejenigen Veränderungen der 
Erdoberfläche, welche noch jegt unter unfern Augen vor ſich gehen, 
volitommen hinreichend feien, Alles zu erflären, was wir von ber 
Entwidelung der Erdrinde überhaupt willen, und daß es vollitändig 
überfläffig und unnüg fei, in räthfelhaften Revolutionen die uner- 
Märfichen Urfachen dafür zu fuchen. Er zeigte, daß man weiter Nichte 
zu Hülfe zu nehmen brauche, als außerordentlich lange Zeiträume, um 
die Entftehung des Baues der Erdrinde auf die einfachfte und natür⸗ 
lichſte Weife aus denfelben Urſachen zu erklären, welche noch heutzu⸗ 
tage wirffam find. Diele Geologen hatten ſich früher gedacht, daß 
die höchften Gebirgäfetten, welche auf der Erdoberfläche heroortreten, 
ihren Urfprung nur ungeheuren, einen großen Theil der Erdober⸗ 
fläche umgeftaltenden Revolutionen, insbeſondere coloffalen vultani- 
ſchen Audbrüchen verbanten tönnten. Solche Bergtetten z. B. wie 
die Alpen, oder wie die Cordilleren, follten auf einmal aus dem feuer- 
füffigen Erdinnern durch einen ungeheuren Spalt der weit gebor- 
ſtenen Erdrinde emporgeftiegen fein. Lyell zeigte dagegen, daß wir 
uns die Entwickelung folder ungeheuren Gebirgäfetten ganz natürlih 
aus denfelben langſamen, unmerklihen Hebungen und Senkungen 
der Erdoberfläche erflären Tönnen, die noch jept fortwährend vor fi 
geben, und deren Urfachen keineswegs wunderbar find. Wenn diefe 
Sentungen und Hebungen auch vielleicht im Jahrhundert nur ein 
paar Zoll oder hochſtens einige Fuß betragen, fo fönmen fie doch 
bei einer Dauer von einigen Jahr« Millionen vollftändig genügen, 
um die höchſten Gebirgsketten hervortreten zu laffen, ohne daß dazu 
jene raͤthſelhaften und unbegreiflichen Revolutionen nöthig wären. 
Yerdel, Netürt. Schöpfungegeid. 5. aun. 8 





114 Euntſtehung der größten Wirkungen durch bie Keinfen Urſachen. 


Auch die meteorologiſche Thaͤtigkeit der Atmoſphäre, die Wirkſamkeit 
des Regens und des Schnees, ferner die Brandung der Küſte, welche 
an und für ſich nur unbedeutend zu wirken ſcheinen, müſſen die 
größten Veränderungen heruorbringen, wenn man nur binlänglig 
große Zeiträume für deren Wirkſamkeit in Anfpruch nimmt. Die 
Summirung der Heinften Urſachen bringt die größten 
Birkungen hervor. Der Waflertropfen höhlt den Stein aus. 
Auf die unermeßliche Länge der geologifcgen Zeiträume, welche 
hierzu erforderlich find, müffen wir nothwendig fpäter noch einmal 
jurüdfommen, da, wie Sie fehen werden, auch für Darwin's 
Theorie, ebenfo wie für diejenige Lyell's, die Annahme ganz un- 
geheurer Zeitmaaße abfolut, amentbehrlih ift. Wenn die Erde und 
ihre Organismen fi wirklich auf natürlichen Wege enttwidelt haben, 
fo muß diefe langſame und allmähliche Entwidelung jedenfalls eine 
Zeitdauer in Anſpruch genommen haben, deren Borftellung unfer Fafe 
. fungövermögen gänzlich überfteigt. Da Biele aber gerade hierin eine 
Hauptfchwierigkeit jener Entwidelungstheorien erbliden, fo will ih 
jet ſchon vorausgreifend bemerfen, daß wir nicht einen einzigen 
vernünftigen Grund haben, irgend wie und die hierzu erforderliche 
Zeit befpränft zu denfen. Wenn nicht allein viele Laien, fondern 
ſelbſt hervorragende Naturforſcher, als Haupteinwand gegen diefe 
Theorien einwerfen, daß dieſelben willkürlich zu lange Zeiträume in 
Anſpruch nähmen, fo ift diefer Einwand faum zu begreifen. Denn 
«3 if abfolut nicht eingufehen, was und in ber Annahme derfeiben 
irgendwie beichränten follte. Wir willen längft allein ſchon aus 
dem Bau der geſchichteten Erdrinde, daß die Entftehung derfelben, 
der Abſaß der neptunifhen Gefteine aus dem Waſſer, allermin- 
deitend mehrere Millionen Jahre gedauert haben muß. Ob wir 
aber hypothetifch für diefen Prozeß zehn Millionen oder zehntauſend 
Billionen Jahre annehmen, ift vom Standpunfte der firengften Ra- 
turphilofophie gänzlich gleichgültig. Bor und und hinter und liegt 
die Emigfeit. Wenn fi bei vielen gegen die Annahme von fo un ⸗ 
gebeuven Zeiträumen das Gefühl fträubt, fo ift das die Folge der 


Unbegrenzte Länge der geologifcgen Zeiträume. 115 


falſchen Borftellungen, welche und von frühefter Jugend an über 
die angeblich Kunze, nur wenige Jahrtaufende umfaffende Geſchichte 
der Erde eingeprägt werden. Wie Albert Lange in feiner Ge⸗ 
ſchichte des Materialismus ı*) ſchlagend beweift, if es vom fireng 
tritiſch⸗ philoſophiſchen Stanbpunfte aus jeder natuwiſſenſchaftlichen 
Hypotheſe viel eher erlaubt, die Zeiträume zu groß, als zu Mein 
anzunehmen. Jeder Entwidelungsvorgang läßt fih um fo eher be= 
greifen, je längere Zeit ex dauert. Ein furger und beſchränkter Zeit- 
taum für denfelben ift von vornherein das Unwahrfcheinlichfte. 

Wir haben hier nicht Zeit, auf Lyell's vorzügliches Wert 
näher einzugeben, und wollen daher bloß das michtigfte Reſultat 
defielben hervorheben, daß es nämlih Cuvier's Schöpfungage- 
ſchichte mit ihren mythiſchen Revolutionen gründlid) widerlegte, und an 
deren Stelle einfach die beftändige langfame Umbildung der Erdrinde 
dur die fortdauernde Thätigfeit ber noch jept auf die Erboberfläce 
wirtenden Kräfte fepte, Die Thätigkeit des Waſſers und des vullauiſchen 
Edinnern. Lyell wies aljo einen continuirlichen, ununterbrochenen 
Zufammenhang der ganzen Erdgeſchichte nad), und er bewies den. 
felben fo unwiderleglich, er begründete jo einleuchtend die Herrſchaft 
der „existing causes“, der nod heute wirffamen, dauernden Ur- 
ſahen in der Umbildung ber Erbrinde, daß in kurzer Zeit die Geo⸗ 
logie Cuvier's Hypotheſe volltommen aufgab. 

Nun iſt es aber merfwürdig, daß die Paläontologie, die Wiſſen⸗ 
haft von den Berfteinerungen, foweit fie von den Botanikern und 
Zoologen betrieben wurde, von dieſem großen Fortſchritt der Geo- 
logie ſcheinbar unberührt blieb. Die Biologie nahm fortwährend noch 
jene wiederholte neue Schöpfung der gefammten Thier- und Pflanzen- 
bevölferung im DBeginne jeder neuen Periode der Erdgeſchichte an, 
obwohl dieſe Hypotheſe von den einzelnen, ſchubweiſe in die Welt 
gelegten Schöpfungen ohne die Annahme der Revolutionen reiner 
Unfiun wurde und gar feinen Halt mehr hatte. Offenbar ift es voll» 
fommen ungereimt, eine befondere neue Schöpfung der ganzen Thier- 
und Pflanzenwelt zu beftimmten Zeitabſchnitten anzunehmen, ohne 

. 8* 





116  Immerer Zuſammenhang von Lyell's und Darwin's Theorie. 


daß die Erdrinde felbft dabei irgend eine beträchtliche allgemeine Um- 
wälzung erfährt. Trotzdem alfo jene Borftellung auf das Engfte mit 
der Kataftrophentheorie Cuvier's zufammenhängt, blieb fie dennoch 
hercſchend, nachdem die Teptere bereit3 zerftört war. 

Es war nım dem großen englifhen Naturforſcher Charles 
Darwin vorbehalten, diefen Zwiefpalt völlig zu befeitigen und zu 
zeigen, daß auch die Lebewelt der Erde eine ebenfo continuirlich zu- 
fammenhängende Geſchichte hat, wie die unorganifche Rinde der Erde; 
daß auch die Thiere und Pflanzen ebenfo allmählich dur; Ummwand- 
fung (Trangmutation) außeinander hervorgegangen find, wie die wech⸗ 
felnden Formen der Erbrinde, der Kontinente und der fie umſchließen ⸗ 
den und trennenden Meere aus früheren, ganz davon verfchiedenen 
Formen hervorgegangen find. Wir lönnen in dieſer Beziehung wohl 
fagen, daß Darwin auf dem Gebiete der Zoologie und Botanik den 
gleichen Fortfchritt herbeiführte, wie Lyell, fein großer Landemann, 
auf dem Gebiete der Geologie. Durch Beide wurde der ununter- 
brochene Zuſammenhang bergefhihtliden Entwidelung 
bewieſen, und eine allmähliche Umänderung der verfiedenen auf 
einander folgenden Zuftände dargethan. 

Das befondere Berdienft Darmwin's ift nun, wie bereit® in dem 
vorigen Bortrage bemerkt wurde, ein boppelted. Er hat erfiend die 
von Lamard und Goethe aufgeftellte Defcendenztheorie in viel 
umfaffenderer Weife als Ganzes behandelt und im Zufammenhang 
durchgeführt, als es von allen feinen Vorgängern gefchehen war. 
Zweitens aber hat er diefer Abftammungslehre durch feine, ihm eigen- 
thümliche Züchtungalehre (die Selectionätheorie) daB caufale Funda ⸗ 
ment gegeben, d. h. er hat bie wirkenden Urſachen der Berände- 
rungen nadhgewiefen, welche von der Abftammungsfehre nur als 
Thatſachen behauptet werden. Die von Ramard 1809 in die 
Biologie eingeführte Defcendenztheorie behauptet, da 5 alle verſchie · 
denen Thier- und Pflanzenarten von einer einzigen oder einigen we · 
nigen, höchft einfachen, fpontan entftandenen Urformen abftammen. 
Die von Darwin 1859 begründete Selectionätheorie zeigt und, wa - 





Biegraphiſche Notizen über Charles Darwin. ur 
rum bie der Fall fein mußte, fie meift und die wirfenden Urſachen 
fo nad, wie ed nur Kant wünſchen konnte, und Darwin ift in 
der That auf dem Gebiete der organifhen Natuwiſſenſchaft der New 
ton geworden, deſſen Kommen Kant prophetiſch verneinen zu Lön- 
nen glaubte. 

Ehe Sie nun an Darwin's Theorie herantreten, wird es Ihnen 
vielleicht von Intereſſe fein, Einiges über die Perfönlichkeit dieſes 
großen Naturforſchers zu hören, über fein Reben und die Wege, auf 
denen er zur Aufftellung feiner Lehre gelangte. Charles Robert 
Darwin ift am 12. Februar 1809 zu Shrewsbury am Severn- 
Fluß geboren, alfo gegenmwärtig fünfundſechzig Jahre alt. Im fieb- 
zehnten Jahre (1825) begog er die Univerfität Edinburgh, und zwei 
Jahre fpäter Chriſt's College zu Cambridge. Raum 22 Jahre alt, 
wurde er 1831 zur Teilnahme an einer willenfhaftlihen Expedi- 
tion berufen, welche von den Engländern ausgeſchidt wurde, vor⸗ 
üglih um die Sübfpige Südamerika's genauer zu erfotſchen und 
verfhiedene Punkte der Sübfee zu unterſuchen. Diefe Erpedition 
hatte, gleich vielen anderen, rühmlichen, von England ausgerüfteten 
Forfhungsreifen, ſowohl wiſſenſchaftliche, als auch praktiſche, auf 
die Schifffahrt bezügliche Aufgaben zu erfüllen. Das Schiff, von 
Kapitän Fiproy fommandirt, führte in treffend ſymboliſcher Weiſe 
den Ramen „Beagle“ oder Spürhund. Die Reife des Bengfe, weiche 
fünf Jahre bauerte, wurde für Darwin’ ganze Entwidelung von 
der größten Bedeutung, und ſchon im erften Jahre, ald er zum 
erftenmal den Boden Südamerika's betrat, keimte in ihm der Gedanke 
der Abftammungsfehre auf, den er dann fpäterhin zu fo vollendeter 
Blüte entwidelte. Die Reife felbft hat Darwin in einem von 
Dieffenbach in das Deutfche überfepten Werke beſchrieben, wel» 
ches fehr anziehend geſchrieben ift, und deſſen Lektüre ich Ihnen an« 
gelegentlich empfehle 12). In dieſer Neifebefchreibung, welche ſich 
weit über den gewöhnlichen Durchſchnitt erhebt, tritt Ihnen nicht 
allein die liebenswürdige Perfönlichkeit Darmwin’s in fehr anziehen» 
der Weiſe entgegen, fondern Sie können auch vielfah die Spuren 


118 Darwin's Theorie von der Entfiehung der Korallenrifie. 


der Wege erfennen, auf denen er zu feinen Vorſtellungen gelangte. 
Als Refultat diefer Reife erfchien zunächt ein großes wiſſenſchaft ⸗ 
liches Reiſewerk, an deſſen zoologiſchem und geologiſchem Theil ſich 
Darwin bedeutend betheiligte, und ferner eine ausgezeichnete Ar⸗ 
beit deſſelben über die Bildung der Korallenriffe, welche allein ge · 
nügt haben würde, Darwin's Namen mit bleibendem Ruhme zu 
trönen. Es wird Ihnen bekannt fein, daß die Infeln der Gübfee 
größtentheild aus Korallenriffen beftehen oder von foldyen umgeben 
find. Die verfdiedenen merkwürdigen Formen derfelben und ihr 
Berhäftnig zu ben nicht aus Korallen gebildeten Inſeln vermochte 
man fi früher nicht befriedigend zu erklären. Erft Darwin war 
es vorbehalten, diefe ſchwierige Aufgabe zu löfen, indem er außer 
der aufbauenden Thätigkeit der Korallenthiere auch geologifche He · 
bungen und Senfungen des Meeresbodens für die Entftehung der 
verfehiedenen Riffgeftaften in Anfpruch nahm. Darmwin’s Theorie 
von der Entftehung der Korallenriffe ift, ebenfo wie feine fpätere 
Theorie von der Entftehung ber organiſchen Arten, eine Theorie, 
weiche die Erfepeinungen vollfommen erklärt, und dafür mur die 
einfachften natürlichen Urſachen in Anſpruch nimmt, ohne ſich hywo ⸗ 
thetifch auf irgenb welche unbelannten Borgänge zu beziehen. Unter 
ben übrigen Arbeiten Darwin ’s ift noch feine auögegeichnete Mono» 
graphie der Eirchipebien hervorzuheben, einer merfwürdigen Klaſſe 
von Seethieren, welde im äußeren Anfehen den Mufcheln gleichen 

. und von Cuvier in der That für zweiſchalige Mollusten gehalten 
wurden, während diefelben in Wahrheit gu den Kreböthieren (Gru- 
ſtaceen) gehören. 

Die auferorbentlichen Strapagen, denen Darwin während der 
fünfjährigen Reife des Beagle audgefept war, hatten feine Gefund- 
beit dergeftalt jerrättet, daß er ſich nach feiner Rüdfehr aus dem un- 
rubigen Treiben Londond zurũchiehen mußte, und ſeitdem im ſtiller 
Zurüdgegogenheit auf feinem Gute Doton, in der Nähe von Bromley 
in Kent (mit der Eifenbahn kaum eine Stunde von London ent- 
fernt), wohnte. Diefe Abgefchiedenheit von dem unrubigen Getreide 





Ein Brief von Darwin. 119 


der großen Weltftabt wurde jebenfalt® äußerit Tegemöteich für Dar⸗ 
win, und es ift wahrſcheinlich, daß wir ihr theilweiſe mit die Ente 
fiebung der Selectionstheorie verdanfen. Unbehelligt durch die ver- 
ſchiedenen Gefhäfte, welche in London feine Kräfte zerfplittert haben 
würden, konnte er feine game Thätigkeit auf dad Studium des grö- 
pen Problemö concentriren, auf welches er durch jene Reife hinge ⸗ 
lentt worden war. Um Ihnen zu zeigen, welche Bahmehmungen 
während feiner Weltumfegelung vorzüglich ben Grunbgedanfen der 
Selectionstheorie in ihm amtegten, und in welcher Weiſe er denfelben 
dann weiter entwidelte, erlauben Sie mir, Ihnen eine Stelle auf 
einem Briefe mitzutheilen, welhen Darwin am 8. Drtober 1864 
an mich richtete: - 

„In Südamerika traten mir befonderd drei Klaffen von Er« 
fgeinungen febr lebhaft vor die Seele: Erſtens die Art und 
Beife, in weicher nahe verwandte Species einander vertreten und er⸗ 
fepen, wenn man von Norden nad Süden geht; — Zweitens die 
nahe Verwandiſchaft derjenigen Species, welche die Sübamerifa nahe 
gelegenen Infeln bewohnen, und derjenigen Species, welche biefem 
Feſtland eigenthumlich find; dies fepte mich in tiefes Erſtaunen, bes 
ſonders die Berfgiebenheit derjenigen Specied, welche Die nahe ges 
legenen Inſeln des Galopagosarchipels bewohnen; — Drittena bie 
nahe Beziehung der lebenden zahnloſen Säugethiere (Edentata) und 
Ragethiere (Rodentia) gu ben ausgeſtorbenen Arten, Ich werde nie⸗ 
mals mein Erfaunen vergeſſen, als ich ein rieſengroßes Pangerftüd 
außgrub, ähnlich demjenigen eines lebenden Gürtelthierß... 

Als ich über dieſe Thatſachen nachdachte und einige ähnliche Er⸗ 
ſcheinungen damit verglich, fehlen es mix wahrſcheinlich, daß nahe 
verwandte Speried vom einer gemeinfamen Stammform abſtammen 
Tonnten. Aber einige Jahre fang konnte ih nicht begreifen, wie eine 
jede Form fe ausgezeichnet ihren befonderen Lebensverhältniſſen ange 
paßt werben fonnte. ch begann darauf ſyſtematiſch die Dausthiere 
und die Gartenpflanzen zu fiudiren, und ſah nad) einiger Zeit deut- 
lich ein, daß Die wichtigfte umbildende Kraft in ded Menſchen Zucht» 


122 Damin’s Gtubium ber Gausthiere und Kulturpfiangen. 


monifchen Zufammenhang aller großen und allgemeinen Erſcheinungs · 
reihen der organifhen Natur, welche übereinftunmend für die Wahr- 
heit ber Selectiondtheorie Zeugniß ablegen. 

Den bedeutenbften Folgeſchluß der Defcendenztheorie, die Ab⸗ 
ftammung des Menſchengeſchlechts von anderen Säugethieren, hat 
Darwin anfangs abfichtlih verſchwiegen. Erſt nachdem diefer Höchkt 
wichtige Schluß von anderen Naturforichern entſchieden als nothwen ⸗ 
dige Konfequenz der Abſtammungslehre feftgeftellt war, hat Darwin 
denfelben außbrüdlid, anerkannt, und damit „die Krönung feined Ge⸗ 
bäudes“ vollzogen. Died geſchah in dem höchft intereffanten, erſt 
1871 erfhienenen Werke über „die Abſtammung des Menfchen und 
die geſchlechtliche Zuchtwahl“, welches ebenfalls von Bictor Carus 
in daß Deutfche überfept worden ift *®). Als ein Nachtrag zu diefem 
Buche kann dad geiftreiche phyſiognomiſche Wert angefehen werben, 
welches Darwin 1872 „über den Ausdrud der Gemüthe- Bewe - 
gungen bei dem Menfchen und den Thieren“ veröffentlicht bat«°). 

Bon der größten Bedeutung für die Begründung der Selertiond« 
theorie war das eingehende Studium, welches Darwin den Hauß- 
thieren und Kulturpflanzen widmele. Die unendlich manuid- 
faltigen Formveränberungen, welche der Menf an diefen bomefli- 
eirten Organismen durch künftliche Züchtung erzeugt hat, find für 
das richtige Verſtaͤndniß der Thier- und Pflangenformen von ber 
alfergrößten Wichtigkeit; und dennoch ift in kaum glaubficher Weiſe 
dieſes Studium von den Zoologen, und Botanifem bis in die neneſte 
Zeit in der gröbften Weife vernahläffigt worden. Es find nicht allein 
dide Bände, fondern ganze Bibliothefen angefüllt worden mit Be» 
ſchreibungen der einzelnen Arten oder Species, und mit höchſt fin» 
diſchen Streitigfeiten darüber, ob diefe Species gute oder ziemlich 
gute, fchledhte ober ziemlich ſchlechte Arten feien, ohne daß dem Art - 
begriff ſelbſt darin zu Leibe gegangen if. Wenn die Raturforiher, 
ſtatt auf diefe umnügen Spielereien ihre Zeit zu verwenden, die Kultur- 
organismen gehörig ſtudirt und nicht die einzelnen tobten Formen. 
ſondem die Umbildung ber lebendigen Geftalten in das Auge gefaßt 


Andreas Wagner und ber Baum des Erkenutstiffee. - 123 


hätten, fo wirbe man nicht fo lange in den Feſſeln ded Cuvier' 
fen Dogmas befangen geweſen fein. Weil nuri aber diefe Kultur 
organismen gerade der dogmatifchen Auffaſſung von der Beharrlich- 
feit der Art, von ber Gomftanz der Species fo äußerft unbequem 
find, fo hat man fi großen Theild abſichtlich nicht um dieſelben 
befümmert und es ift fogar vielfach, felbft von berühmten Natur 
forſchern, der Gedanke audgefprochen worden, diefe Kulturorganis- 
men, bie Haußthiere und Gartenpflanzen, feien Runftprobulte des 
Menſchen, und deren Bildung und Umbildung könne gar nicht über 
das Wefen der Syeties und über die Eutſtehung der Formen bei 
den wilben, im NRaturuftande lebenden Arten entfeheiden. 

Diefe verehrte Auffaffung ging fo weit, daß z. B. ein Münde- 
ner Zosloge, Andreas Wagner, alles Ernſtes die lächerliche Be⸗ 
bauptung aufftellte: Die Thiere und Pflanzen im wilden Zuftande 
find vom Schöpfer als beftimmt unterſchiedene und unveränderliche 
Arten erichaffen worden; allein bei den Hauöthieren und Kultur» 
pflanzen war dies deshalb nicht nöthig, weil er diefelben von vorn» 
herein für den Gebrauch des Menſchen einrichtete. Der Schöpfer 
machte alfo den Menichen aus einem Erdenkloß, blies ihm lebendie 
gen Odem in feine Nafe und ſchuf dann für ihn die verfchiedenen 
nüplihen Hausthiere und Gartenpflanzen, bei denen er ſich in der 
That die Mühe der Speciesunterfcheidung fparen konnte. Ob ber 
Baum des Erkenniniffes im Paradiedgarten eine „gute“ wilde 
Species, oder als Kulturpflanze überhaupt „Beine Species” 
war, erfahren wir leider durch Andreaß Wagner nicht. Da der 
Baum des Erfenntniffed vom Schöpfer mitten in den Paradiedgarten 
gefegt wurde, möchte man eher glauben, daß er eine hödjft bevor- 
sagte Kulturpflanze, alfo überhaupt feine Species war. Da aber 
andrerfeitd die Früchte vom Baume des Erkenntniffe® dem Men- 
ſchen verboten waren, und viele Menfhen, wie Wagner's eigenes 
Beifpiel Mar zeigt, niemals von diefen Früchten genofien haben, fo 
iſt er offenbar nicht für den Gebrauch des Menſchen erſchaffen und 


124 Bergfeidyung der wilden und ber kultivirten Organismen. 


alfo wahrſcheinlich eine wirklihe Species! Wie Schade, daß und 
Wagner über diefe wichtige und ſchwierige Frage nicht belehrt hat! 

So lächerlich Ihnen nun diefe Anficht au vorkommen mag, fo 
ift dieſelbe doch nur ein folgerichtiger Auswuchs einer falſchen, in ber 
That aber weit verbreiteten Anfiht von dem befonderen Weſen der 
KRufturorganismen, und Sie fönnen bisweilen von ganz angefehenen 
Naturforſchern ähnliche Einwürfe hören. Gegen diefe grundfalfhe 
Auffaffung muß ich mid) von vornherein ganz beftimmt wenden. 
Das ift diefelbe Verkehrtheit, wie fie die Aerzte begehen, melde be 
haupten, die Krankheiten feien fünftliche Erzeugniffe, feine Ratur- 
erſcheinungen. Es hat viel Mühe getoftet, dieſes Vorurtheil zu be 
kaͤmpfen; und erft im neuerer Zeit iſt die Anſicht zur allgemeinen 
Anerkennung gelangt, daß die Krankheiten Nichts find, als natür ⸗ 
liche Veränderungen des Organismus, wirklich natürliche Lebenser- 
ſcheinungen, die nur hervorgebracht werden durch veränderte, abnorme 
Eriftenzbedingungen. Die Krankheit ift alfo nicht, wie die älteren 
Aerzte oft fagten, ein Leben außerhalb der Ratur (vita praeter na- 
turam), fondern ein natürliches Leben unter beftimmten, frank mar 
enden, den Körper mit Gefahr bedrohenden Bedingungen. Ganz 
ebenfo find die Kulturerzeugniſſe nicht fünftliche Produkte des Men- 
ſchen, fondern fie find Naturprodukte, welche unter eigenthumlichen 
Lebendbedingungen entftanden find. Der Menſch vermag durch feine 
Kultur niemals unmittelbar eine neue organifche Form zu erzeugen; 
fondern er kann nur die Organismen unter neuen Qebensbebingun- 
gen züchten, welche umbildend auf fie einwirten. Alle Hauöthiere 
md alle Gartenpflanzen ftammen urſprünglich von wilden Arten ab, 
welche erft durch die Kultur umgebilbet wurden. 

Die eingehende Bergleihung der Kulturformen (Raffen und 
Spielarten) mit ben wilden, nicht durch Kultur veränderten Organis⸗ 
men (Arten und Barietäten) ift für die Selectionstheorie von ber 
größten Wichtigkeit. Was Ihnen bei diefer Bergleihung zunächft am 
Meiften auffällt, das ift die ungewöhnlich kurze Zeit, in welcher der 
Menſch im Stande ift, eine neue Form hervorzubringen, und ber 





Bergleichung ber wilden unb ber kultivirten Organismen. 125 


ungewöhnlich hohe Grad, in welchem diefe vom Menfchen probucirte 
Form von der urfprünglichen Stammform abweichen kann. Während 
die wilden Thiere und die Pflanzen im wilden Zuftande Jahr aus, 
Jahr ein dem fammelnden Zoologen und. Botaniker annähernd in ber- 
felben Form erſcheinen, fo daß eben hieraus das falfhe Dogma ber 
Speciesconftanz entftehen konnte, fo zeigen und dagegen die Haus 
thiere und die Gartenpflanzen innerhalb weniger Jahre bie größten 
Veränderungen. Die Vervollkommnung, welche die Züchtungskunſt 
der Gärtner und der Landwirthe erreicht hat, geftattet es jegt in fehr 
furger Zeit, in wenigen Jahren, eine ganz neue Thier- oder Pflan- 
zenform willkürlich zu ſchaffen. Man braucht zu diefem Zmede bloß 
den Organismus unter dem Einfluffe der befonderen Bebingungen zu 
erhalten und fortzupflanzen, welche neue Bildungen zu erzeugen im 
Stande find; und man fann fon nach Berlauf von wenigen Gene« 
rationen neue Arten erhalten, welde von der Stammform in viel 
höherem Grade abweichen, als die fogenannten guten Arten im wilden 
Zuſtande von einander verfhieden find. Diefe Thatfache ift äußerft 
wichtig und kann nicht genug hervorgehoben werben. Es ift nicht 
wahr, wenn behauptet wird, die Rulturformen, die von einer und 
derfelben Form abſtammen, feien nicht fo fehr von einander verſchie⸗ 
den, wie bie wilden Thier- und Pflanzenarten unter fih. Wenn man 
nur unbefangen Vergleiche anftelit, fo läßt fich fehr feicht erfennen, 
daß eine Menge von Raſſen oder Spielarten, die wir in einer kurzen 
Reihe von Jahren von einer einzigen Kulturform abgeleitet haben, 
in höherem Grabe von einander unterfhieben find, als fogenannte 
gute Arten („Bonae species‘) oder felbft verfhiedene Gattungen 
(Genera) einer Familie im wilden Zuftande ſich unterſcheiden. 

Um biefe äuferft wichtige Thatfache möglicht feit empiriſch zu 
begründen, beſchloß Darwin eine einzelne Gruppe von Haudthieren 
fpeciell in dem ganzen Umfang ihrer Formenmanmichfaltigkeit zu ſtu⸗ 
diren, und er wählte dazu die Haustauben, melde in mehrfacher 
Beziehung für diefen Zweck ganz beſonders geeignet find. Er hielt 
fi fange Zeit hindurch auf feinem Gute alle möglichen Raflen und 


126 Auffallende Berſchiedenheit der Taubenraffen. 


Spielarten von Tauben, welche er befommen konnte, und wurde mit 
reichlichen Zufendungen aus allen Weltgegenden unterftüßt. Ferner 
ließ er fih in zmei Londoner Taubenklubs aufnehmen, welde die 
Züchtung der verfchiedenen Tanbenformen mit wahrhaft kunſtleriſcher 
Virtuofität und unermüdlicher Leidenſchaft betreiben. Endlich fepte 
er ſich noch mit Einigen der berühmteften Taubentiebhaber in Berbin- 
dung. So ftand ihm das reichſte empiriſche Material zur Berfügung. 

Die Kunft und Liebhaberei der Taubenzüchtung ift uralt. Schon 
mehr als 3000 Jahre vor Chriſtus wurde fie von ben Aegyptern ber 
trieben. Die Römer ber Raiferzeit gaben ungeheure Summen dafür 
aus, und führten genaue Stammbaumtegifter über ihre Abkammung, 
ebenfo wie die Araber über ihre Pferde und die medienburgifchen Edel« 
leute über ihre eigenen Ahnen fehr forgfältige gemenlogifche Aegifter 
führen. Auch in Afien war die Taubenzucht eine uralte Liebhaberei 
der reihen Fürften, und zur Hofhaltung ded Ather Khan, um das 
Jahr 1600, gehörten mehr als 20,000 Tauben. So entwidelten fih 
denn im Laufe mehrerer Jahrtaufende, und in Folge der mannicyfal- 
tigen Zücdhtungsmethoden, welche in den verfchiedenften Weltgegenden 
geübt wurden, aus einer eingigen urſprünglich gezähmten Stamm- 
form eine ungeheure Menge verfchiedenartiger Railen und Spielarten, 
welche in ihren extremen Kormen ganz außerordentlich verfchieben find, 

Eine der auffallendften Taubenrafien ift die befannte Pfauen- 
taube, bei der ſich der Schwany ähnlich entwickelt wie heim Pfau, und 
eine Anyapl von 30-40 radartig geftellten Fedem trägt; während 
die anderen Tauben eine viel geringere Anzahl von Schwangfedern, 
faft immer 12, befigen. Hierbei mag erwähnt werden, daß die An- 
zahl der Schwwangfedern bei den Bögen ald ſyſtematiſches Mertmal 
von den Raturforfhern fehr hoch geihäpt wird, fo dab man ganze 
Ordnungen danach unterſcheiden könnte. So befigen 4. B. die Sing 
vdgel faft ohne Ausnahme 12 Cchwangfedern, die Schrillvögel (Stri- 
sorge) 10 u. |. w. Beſonders audgezeichnet jind ferner mehrere Tau · 
benrajien durch einen Buſch von Radenfeden, welder eine Urt Per- 
rüse bildet, andere durch abenteuerliche Umbildung ded Schnabeld 


Gemeinfame Abſtammung aller Taubenraſſen. 127 


und der Füße, durch eigenthümliche, oft fehr auffallende Berieruns 
gen, z. B. Hautlappen, die fih am Kopf entwideln, durd einen 
großen Kropf, welcher eine flarfe Hervortseibung der Speiferöhte 
am Haß bildet u. ſ. w. Merkwürdig find auch die ſonderbaren Ger 
wohnheiten, die viele Tauben fid) erworben haben, z. B. die Lach⸗ 
tauben, die Trommeltauben in ihren muſilaliſchen 2eiftungen, die 
Brieftanben in ihrem topographiſchen Inſtinct. Die Purgeltauben 
haben die feltfame Gewohnheit, nachdem fie in großer Schaar in 
die Laft geſtiegen find, ſich zu Tiberfehlagen und ans der Luft mie 
todt herabzufallen. Die Sitten und Gewohnheiten diefer unendlich 
verfhiedenen Taubenraifen, die Form, Größe und Färbung der ein« 
jeinen Körpertheile, die Proportionen derfelben unter einander, find 
in erftaunfich hohem Maaße von einander verſchieden, in viel höhe- 
tem Maaßt, ald es bei den fogenannten guten Arten oder feldft bei 
gang verfehiedenen Gattungen unter den wilden Tauben der Fall ift. 
Und, was das Wichtigſte iſt, es befchränfen ſich jene Unterſchiede 
nicht bloß auf die Bildung der äußerlichen Form, fondern erſtreden 
ſich ſelbſt auf die wichtigften innerlichen Theile; es fommen fogar 
fehr bedeutende Abänderungen des Slelets und der Muskulatur vor. 
So finden ſich 3. B. große Verſchiedenbeiten in der Zahl der Wirbel 
und Rippen, in der Größe und Form der Lüden im Bruftbein, in 
der Form and Größe des Gabelbeind, de3 Unterkiefere, der Gefichtd- 
tnochen u. |. w. Kurz das knöcherne Stelet, das die Morphologen 
für einen ſehr beftändigen Körpertheil halten, welcher niemald in 
dem Grade, wie die äußeren Theile, variire, zeigt ſich fo fehr ver- 
ändert, dab man viele Taubenraſſen als befondere Gattungen aufe 
führen könnte. Zmeifelsohne würde dies gefhehen, wenn man alle 
diefe verfchiedenen Formen in wilden Naturzuſtande auffände. 

Wie weit die Derfhiedenheit der Taubenraflen geht, zeigt am 
Beften der Umftand, daß alle Taubenzüchter einftimmig der Anficht 
find, jede eigenthümliche oder beſonders ausgezeichnete Taubenrafle 
müfle von einer befonderen wilden Stammart abſtammen. Freilich” 
nimmt Jeder eine verfchiedene Zahl von Stammarten an. Und 


128 Gemeinfame Abſtammung aller Kanincheuraffen. 


dennod hat Darwin mit übergeugendem Scharffinn den ſchwierigen 
Beweis geführt, daß diefelben ohne Ausnahme ſämmtlich von einer 
einzigen wilden Stammart, der blauen Felstaube (Colamba livia) 
abftammen müſſen. In gleicher Weife läßt ſich bei den meiften übrie 
gen Haußthieren und bei ben meiften Kulturpflanzen der Beweis 
führen, daß alle verfhiebenen Raffen Nachkommen einer einzigen ur 
fprünglihen wilden Art find, die vom Menſchen in den Kultunzuftand 
übergeführt wurde. 

Ein ähnliches Beifpiel, wie die Haustaube, fiefert unter den 
Säugethieren unfer zahmes Kaninchen. Alle Zoologen ohne Aus- 
nahme halten es ſchon feit langer Zeit für erwiefen, daß alle Raſ⸗ 
fen und Spielarten defielben von dem gemöhnlichen wilden Kanin ⸗ 
hen, alfo von einer einzigen Stammart abftammen. Und dennoch 
find die ertremften Formen biefer Raſſen in einem folhen Maaße 
von einander verkhieden, daß jeder Zoologe, wenn er diefelben im 
wilden Zuftande anträfe, fie unbebenklic nicht allein für ganz ver- 
fhledene „gute Species, fondern fogar für Arten von ganz ver- 
fhiedenen Gattungen oder Genera der Leporiden- Familie erflären 
würde, Nicht nur ift bie Färbung, Haarlänge und fonftige Beſchaf⸗ 
fenbeit des Pelzes bei den verſchiedenen zahmen Kaninchen « Raflen 
außerordentlich mannichfaltig und in den ertremen Gegenfägen äußert 
abweichend, fondern auch, was noch viel wichtiger ift, die typiſche 
Form ded Skelets und feiner einzelnen Theile, befonder® die Form 
des Schädeld und des für die Syſtematik fo wichtigen @ebiiles, 
ferner dad relative Längenverhälmiß der Ohren, der Beine u. f. w. 
In allen diefen Beziehungen weichen die Rafien des zahmen Kanin- 
chens unbeftritten viel weiter von einander ab, als alle die verſchie ⸗ 
denen Formen von wilden Kaninchen ind Hafen, die ald anerkannt 
„gute Specied” der Gattung Lepus über die ganze Erde zerftreut 
find. Und dennoch behaupten Angeſichts diefer Maren Thatſache die 
Gegner der Entwidelungẽtheorie, daß bie lepteren, die wilden Arten, 
nicht von einer gemeinfamen Stammferm abftaınmen, während fie 
dies bei dem erfteren, den zahmen Raffen ohne Weitered zugeben. 


Rultivirte Raffen und wilde Species. 129 


Mit Gegnern, welche fo abfihtlih ihre Augen vor dem ſonnenkla⸗ 
en Lichte der Wahrheit verfchließen, läßt fih dann freilich nicht 
weiter ftreiten. . 

Während fo für die Haustaube, für das zahme Kaninchen, für 
das Pferd u. f. w. troß der merfwürdigen Verfchiedenheit ihrer Spiel- 
arten die Abftammung von einer einzigen wilden fogenannten „Spe= 
cied“ gefichert erfheint, fo ift es dagegen für einige Hausthiere, 
namentlich die Hunde, Schweine und Rinder, allerdings wahrſchein ⸗ 
lichet, daß die mannichfaltigen Raſſen derfelben von mehreren wilden 
Stammarten abzuleiten find, welche ſich nachträglich im Kulturzus 
ftande mit einander vermiſcht haben. Indeſſen ift die Zahl diefer 
urfprüngfichen wilden Stammarten immer viel geringer, als die Zahl 
der aus ihrer Vermiſchung und Züchtung hervorgegangenen Kultur 
formen, und natürlich ftammen auch jene erfteren urfprünglich ‘von 
einer einzigen gemeinfamen Stammform der ganzen Gattung ab. 
Auf feinen Fall ſtammt jede befondere Kulturraile von einer eigenen 
wilden Art ab. . 

Im Gegenfaß hierzu behaupten faft alle Landwirthe und Gärt- 
ner mit ber größten Beftimmtheit, daß jede einzelne, von ihnen ge⸗ 
züchtete Raſſe von einer befonderen wilden Stammart abftammen, 
müffe, weil fie die Unterfchiede der Raſſen ſcharf erkennen, die Ber- 
erbung ihrer Eigenfchaften fehr hochſchätzen, und nicht bedenfen, daß 
dieſelben erit durch langſame Häufung feiner, faum merflicher Ab⸗ 
änderungen entftanden find. Auch in diefer Beziehung ift die Ver— 
gleichung der Kulturraffen mit den wilden Species äußerft lehrreich. 

Bon vielen Seiten, und namentlich von den Gegnern der Ent 
widelungstheorie, ift die größte Mühe aufgewendet worden, irgend 
ein morphologiſches oder phyfiologifhes Merkmal, irgend eine charak⸗ 
teriftifche Eigenfhaft aufzufinden , durch welche man die fünftlich ge- 
züchteten, kultivirten „Raſſen“ von den natürlich entftandenen, wilden 
„Arten“ fcharf und durchgreifend trennen könne. Alle diefe Verſuche 
find gänzlich fehlgefhlagen und haben nur mit um fo größerer Sicher- 
heit zu dem entgegengefeßten Refultate geführt, daß eine foldhe Tren- 

Hardel, Ratürl. Schöpfungsgeid. 5. Aufl. 9 


130 Baſtardzeugung zwiſchen Raſſen und Arten. 


nung gar nicht moͤglich iſt. Ich habe dieſes Verhältniß in meiner 
Kritik des Specied- Begriffes ausführlich erörtert und durch Beifpiele 
erläutert. (Gen. Morph. II, 323—364.) 

Nur eine Seite diefer Frage mag bier fürzlich noch berührt wer 
den, weil diefelbe nicht allein von den Gegnern, fondern felbft von 
einigen der bedeutendften Anhänger des Darwinismus, z. B. von 
Hurley!?), als eine der ſchwächſten Seiten deſſelben angefehen wor⸗ 
den ift, nämlich dad Verhaͤltniß der Baſtardzeugung oder des 
Hybridismus. Zwiſchen kultivirten Raſſen und wilden Arten ſollte 
der Unterſchied beſtehen, daß die erſteten der Erzeugung fruchtbarer 
Baftarde fähig fein follten, die Tepteren nicht. Je zwei verſchiedene 
tultivirte Raffen oder wilde Varietäten einer Species follten in 
allen Fällen die Fähigkeit befigen, mit einander Baftarde zu er- 
zeugen, welche ſich unter einander oder mit einer ihrer Elternformen 
fruchtbar vermifchen und fortpflanzen fönnten; dagegen follten zwei 
wirklich verfhiedene Species, zwei kultivirte oder wilde Arten 
einer Gattung, niemals die Fähigfeit befigen, mit einander Baftarde 
zu zeugen, die unter einander oder mit einer der elterlichen Arten 
ſich fruchtbar kreuzen fönnten. 

Was zunädft die erfte Behauptung betrifft, fo wird fie einfach 
durch die Thatfache widerlegt, daß es Organismen giebt, die ih 
mit ihren nachweisbaren Borfahren überhaupt nicht mehr vermifchen, 
alfo auch keine fruchtbare Nachkommenſchaft erzeugen können. Co 
paart ſich 3. B. unfer kultivirtes Meerſchweinchen nicht mehr mit feinem 
wilden brafifianifhen Stammvater. Umgekehrt geht die Hauskaße 
von Paraguay, welche von unferer europäifhen Hauslape abftamınt, 
feine eheliche Verbindung mehr mit diefer ein. Zwiſchen verfcie- 
denen Raffen unferer Haushunde, z. B. zwiſchen den großen Reu- 
fundländern und den zwerghaften Schooßhündchen, ift ſchon aus 
einfachen mechaniſchen Gründen eine Paarung unmöglih. Ein be 
fonderes intereflantes Beifpiel aber bietet das Porto - Santo » Kanin- 
Sen dar (Lepus Huxleyi). Auf der Meinen Infel Porto - Santo 
bei Madeira wurden im Jahre 1419 einige Kaninchen auögefept, 


Darwin's Haſenkaniuchen und andere Baſtarde. 131 


die an Bord eines Schiffes von einem zahmen ſpaniſchen Kaninchen 
geboren worden waren. Dieſe Thierchen vermehrten ſich in kurzer 
Zeit, da keine Raubthiere dort waren, ſo maſſenhaft, daß ſie zur 
Landplage wurden und fogar eine dortige Kolonie zur Aufhebung 
wangen. Noch gegenwärtig bewohnen fie die Infel in Menge, haben 
fih aber im Laufe von 450 Jahren zu einer ganz eigenthümlichen 
Spielart — oder wenn man will „guten Art” — entwidelt, aud« 
gegeichnet durch eigenthümfiche Färbung, rattenähnliche Form, ge 
ringe Größe, nächtliche Lebensweiſe und außerordentliche Wildheit. 
Das Wichtigfte jedoch ift, daß ſich diefe neue Art, die ich Lepus 
Huxleyi nenne, mit dem europäifchen Kaninden, von dem jie ab« 
ſtammt, nicht mehr kreuzt und feine Baftarde mehr damit erzeugt. 

Auf der andern Seite kennen wir jept zahlreiche Beifpiele von 
fruchtbaren echten Baftarden, d. h. von Mifhhlingen, die aus der 
Kreuzung von zwei ganz verfhiedenen Arten hervorgegangen find, 
und trogdem fowohl unter einander, ald auch mit einer ihrer Stamm- 
arten ſich fortpflanzen. Den Botanitern find ſolche „Baftard- Ar- 
ten” (Species hybridae) längft in Menge befannt, z. ®. aus den 
Gattungen der Diftel (Cirsium), des Goldregen (Cytisus), der Brom- 
beere (Rubus) u. f. w. ber auch unter den Thieren find diefelben 
teineswegs felten, und vielleicht fogar fehr häufig, Man kennt 
fruchtbare Baftarde, die aus der Kreuzung von zwei verſchiedenen 
Arten einer Gattung entftanden find, aus mehreren Gattungen der 
Schmetterling®-Drdnung (Zygaena, Saturnia), der Karpfen Familie, 
der Finken, Hühner, Hunde, Kapen u. f. w. Zu den intereilan« 
teften gehört das Hafen-Kanindhen (Lepus Darwinii), der 
Baftard von unfern einheimifhen Hafen und Kaninchen, welcher in 
Frankreich ſchon feit 1850 zu gaftrönomifchen Zwecken in vielen Ger 
nerationen gezüchtet worden ift. Ich befie felbft durch die Güte des 
Profeſſor Conrad, welder diefe Züchtungdverfuche auf feinem Gute 
wiederholt hat, ſolche Baftarde, welche aus reiner Inzucht hervor⸗ 
gegangen jind, d. h. deren beide Eltern felbft Baftarde von einem 
Hafenvater und einer Kaninhenmutter find. Der fo erzeugte Halb- 

9* 


132 Darwin's Haſenlaninchen und andere Baſtarde. 


blut⸗ Baſtard, welchen ich Da rwin zu Ehren benannt habe, ſcheint 
ſich in reiner Inzucht fo gut wie jede „echte Species“ durch viele 
Generationen fortzupflangen. Obwohl im Ganzen mehr feiner Ka- 
ninchenmutter ähnlich, befigt derfelbe doch in der Bildung der Ohren 
und der Hinterbeine beftimmte Eigenfchaften feines Hafenvaterd. Das 
Fleiſch ſchmedct vortrefflich, mehr hafenartig, obwohl die Farbe mehr 
fanindenartig iſt. Nun find aber Hafe (Lepus timidus) und Kanin- 
hen (Lepus cuniculus) zwei fo verfhiedene Species der Gattung 
Lepus, daß fein Syftematifer fie als Varietäten eines Genus aner- 
tennen wird. Auch haben beide Arten fo verſchiedene Lebensweiſe 
und im wilden Zuftande fo große Abneigung gegen einander, daß fie 
ſich aus freien Stüden nicht vermiſchen. Wenn man jedod die neu 
geborenen Jungen beider Arten zufammen aufjieht, fo kommt bieie 
Abneigung nicht zur Entwidelung, fie vermiſchen fih mit einander 
und ergeugen den Lepus Darwinii. 

Ein anderes ausgezeichnetes Beifpiel von Kreuzung verſchiedener 
Arten (mobei die beiden Specied fogar verſchiedenen Gattungen an 
gehören!) liefern die fruchtbaren Baftarbe von Schafen und Ziegen, 
die in Chile feit langer Zeit zu induftriellen Zweden gezogen werden. 
Welche unmwefentlichen Umftände bei der gefchlechtlihen Vermiſchung 
die Fruchtbarkeit der verſchiedenen Arten bedingen, das zeigt der Um- 
ftand, daß Ziegenböde und Schafe bei ihrer Bermifhung fruchtbare 
Baftarde erzeugen, während Schafbot und Ziege ſich überhaupt felten 
paaren, und dann ohne Erfolg, So find alfo die Erſcheinungen ded 
Hybridismus, auf welche man irrthümlicherweife ein ganz übertriebe- 
ned Gewicht gelegt hat, für den Speciesbegriff gänzlich bedeutung®- 
108. Die Baftardzeugung fept und eben fo wenig, als irgend eine 
andere Erfheinung, in den Stand, die fultivirten Raffen von den 
wilden Arten durchgreifend zu unterfeiden. Diefer Umſtand ift 
aber von der größten Bedeutung für die Selectionstheorie. 


Siebenter Vortrag. 


Die Züchtungslehre oder Selectionstheorie. 
(Der Darwinismns.) 





Darwinismus (Selectionstheorie) und Lamardismus (Defeendenztheorie). Der 
Vorgang ber künftlichen Züchtung: Auslefe (Selection) der verfchiedenen Einzel- 
weſen zur Nachzucht. Die wirkenden Urſachen ber Umbildung: Abänderung, mit 
der Ernãhrung zufammenhängend, und Vererbung, mit ber Fortpflanzung zufam- 
menhängend. Mechaniſche Ratur dieſer beiden phyſiologiſchen Bunktionen. Der 
Borgang ber natürlien Züchtung: Auslefe (Selection) dur ben Kampf um's 
Dafein. Maltäus’ SBevölterumgstheorie. Mißverhaltuiß zwiſchen ber Zahl der 
möglichen (potentiellen) und der wirklichen (aktuellen) Individuen jeder Organis- 
menart. Allgemeiner Wettlampf um die Eriftenz, oder Mitbewerbung um bie 
Erlangung der nothiendigen Leben&bebürfniffe. Umbildende und züchtende Kraft 
dieſes Kampfes um's Dafein. Vergleichung der natürlichen und der künftlichen 
Zachtung. Zuchtwahl im Menfehenleben. Militäriſche und meditiniſche Züchtung. 


Meine Herren! Wenn heutzutage häufig die gefammte Enttoide- 
lungstheorie, mit der wir uns in diefen Vorträgen befchäftigen, als 
Dawinismus bezeichnet wird, fo gefchieht dies eigentlich nicht mit 
Recht. Denn wie Sie aus der gefhichtlihen Einleitung der legten 
Vorträge gefehen haben werden, ift fhon zu Anfang unferes Jahre 
hundert® der wichtigſte Theil der organifchen Entwickelungstheorie, 
nämlich die Abftammungslehre oder Defcendenztheorie, ganz deutlich 
ausgefprochen, und insbefondere durch Lamarck in die Raturmwilfen- 
ſchaft eingeführt worden. Man konnte daher dieſen Theil der Ente 
widelungstheorie, welder die gemeinfame Abftammung aller Thier« 


134 Darwinismus und Lamardismus. 


und Pflanzenarten von einfachften gemeinfamen Stammformen be- 
bauptet, feinem verdienteften Begründer zu Ehren mit vollem Rechte 
Lamardidmus nennen, wenn man einmal an den Ramen eines 
einzelnen hervorragenden Naturforfcherd das Berdienft Mnüpfen will, 
eine folhe Grundlehre zuerft durchgeführt zu haben. Dagegen wür- 
den wir mit Recht ald Darwinismus die Selectiondtheorie oder 
Zuchtungslehre zu bezeichnen haben, denjenigen Theil der Entwide- 
tungätheorie, welder und zeigt, auf welchem Wege und marum die 
verfehiedenen Drganismenarten aus jenen einfachften Stammformen 
ſich entwidelt haben (Gen. Morph. II, 166). 

Allerdings finden wir die erfte Spur von einer Idee der natür- 
lichen Züchtung ſchon vierzig Jahre vor dem Erfheinen von Dar- 
win's Werke. Im Jahre 1818 erfehien nämlich eine, bereits 1813 
vor der Royal Society gelefene „Nachricht über eine Frau der weißen 
Raffe, deren Haut zum Theil der eines Neger? gleicht”. Der Ber- 
faſſer derfelben, Dr. W. C. Wells, führt an, daß Neger und Mu- 
latten fi) dur) Immunität gegen gewiſſe Tropenfrankheiten vor der 
weißen Raſſe auszeichnen. Bei diefer Gelegenheit bemerkt er, daß 
alle Thiere biß zu einem gewiflen Grade abzuändern ſtreben, daß die 
Landwirthe durch Benupung diefer Eigenfhaft und durch Zuchtwahl 
ihre Hausthiere veredein, und fährt dann fort: „Was aber im 
legten Falle durch Kunft geſchieht, ſcheint mit gleicher Wirkfamteit, 
wenn auch langfamer, bei der Bildung der Menfchenraffen, die für 
die von ihnen bewohnten Gegenden eingerichtet find, durch die Ra- 
tur zu geſchehen. Unter den zufälligen Varietäten von Menſchen. 
die unter den wenigen und zerftreuten Einwohnern der mittleren 
Gegenden von Afrika auftreten, werben einige beſſer al® andere die 
Krankheiten des Landes überftehen. In Folge davon wird fich diefe 
Raſſe vermehren, während die Anderen abnehmen, und zwar nicht 
bloß weil fie unfähig find, die Erkrankungen zu überftehen,, fondern 
weil fie nicht im Stande find, mit ihren fräftigeren Nachbarn zu 
tonturriren. Ich nehme als ausgemacht an, daß die Farbe diefer 
fräftigeren Raſſe dunkel fein wird. Da aber die Neigung Barier 





Andentung der Selectionßtheorie von Wells. 135 


täten zu bilden noch befteht, fo wird ſich eine immer dunffere Raffe 
im Laufe der. Zeit ausbilden, und da die dunfelfte am beften für 
das Alima paßt, fo wird diefe zulept in ihrer Heimath, wenn nicht 
die einzige, doch die herrihende werden.” 

Obwohl in diefem Auffage von Wells das Prinzip der natür« 
lien Züchtung deutlich ausgeſprochen und anerkannt ift, fo wird 
8 doch ‚bloß in fehr befchränkter Ausdehnung auf die Entftehung 
der Menfchenraffen angewendet und nicht weiter für den Urfprung 
der Thier- und Pflanzen- Arten verwerthet. Das hohe Berdienft 
Darwin’s, die Selectiondtheorie felbftftändig ausgebildet und zur 
vollen und verdienten Geltung gebracht zu haben, wird durd jene 
frühere, verborgen gebliebene Bemerkung von Wells ebenfo wenig 
gefehmälert, als durch einige fragmentarifche Bemerkungen über na« 
türlihe Züchtung von Patrid Matthew, die in einem 1831 
erfhjienenen Buche über „Schiffsbauholz und Baumtultur“ verftedt 
find. Auch der berühmte Reifende Alfred Wallace, der unab- 
bängig von Darwin die Gelectionstheorie ausgebildet und 1858 
gleidyeitig mit Darwin’s erfter Mittheilung veröffentlicht hatte, 
fteht ſowohl hinſichtlich der tiefen Auffaſſung, als der ausgedehnten 
Anwendung derfelben, weit hinter feinem größeren und älteren Lands⸗ 
manne zurück, der durch feine höchſt umfaffende und geniale Aus- 

- bildung ber ganzen Lehre fich gerechten Anfpruch erworben hat, die 
Theorie mit feinem Namen verbunden zu fehen. 

Diefe Züchtungslehre oder Selectionätheorie, der Darwinismus 
im eigentlichen Sinne, zu beilen Betrachtung wir und jegt wenden, 
beruht wefentlich (mie es bereit in dem lepten Vortrage angedeutet 
wurde) auf der Vergleichung derjenigen Thätigkeit, welche der Menſch 
bei der Züchtung der Hausthiere und Gartenpflanzen ausübt, mit 
denjenigen Borgängen, welche in der freien Natur, außerhalb des 
Kulturzuftanded, zur Entftehung neuer Arten und neuer Gattungen 
führen. Bir müffen und, um biefe letzten Vorgänge zu verftehen, 
alfo zunächft zur fünftlichen Züchtung des Menfchen wenden, wie 
& au von Darwin felbft gefchehen ift. Wir müſſen unterfuchen, 


136 Vorgang ber kunfilichen Züchtung. 


welche Erfolge der Menſch durch feine fünftlihe Züchtung erzielt, 
und welche Mittel er anwendet, um diefe Erfolge hervorzubringen; 
und dann müjfen wir und fragen: „Giebt es in der Natur ähnliche 
Kräfte, ähnlich wirkende Urfachen, wie fie der Menfch hier anwendet?” 

Was nun zunächft die fünftlihe Züchtung betrifft, fo gehen 
wir von der Thatfache au, die zulept erörtert wurde, daß deren 
Produkte in nicht feltenen Fällen viel mehr von einander verfhieden 
find, als die Erzeugniffe der natürlichen Züchtung. In der That 
weichen die Raffen oder Spielarten oft in viel höherem Grade und 
in viel wichtigeren Eigenſchaften von einander ab; als es viele fogt- 
nannte „gute Urten“ oder Species, ja biöweilen fogar mehr, als es 
fogenannte „gute Gattungen“ im Naturzuftande thun. Bergleihen 
Sie z. B. die verfehiedenen Aepfelforten, welche die Gartentunft 
von einer und derfelben urfprünglichen Apfelform gezogen hat, oder 
vergleichen Sie die verfchiedenen Pferberaffen, welche die Thierzüchter 
aus einer und berfelben urfpränglihen Form des Pferdes abgeleitet 
haben, fo finden Sie leicht, daß die Unterfhiede der am meiften 
verfchiedenen Formen ganz außerorbentlih bedeutend find, viel be= 
deutender, al8 die fogenannten „fpecififchen Unterfhiede‘‘, welche von 
den Zoologen und Botanikern bei Vergleichung der wilden Arten an- 
gewandt werden, um darauf hin verfchiedene fogenannte „gute Arten“ 
zu unterſcheiden. 

Wodurch bringt nun der Menfch dieſe außerordentliche Ver⸗ 
ſchiedenheit oder Divergenz mehrerer (Formen hervor, die erwiefener- 
maßen von einer und berfelben Stammform abftammen? Laſſen Sie 
und zur Beanttvortung diefer Frage einen Gärtner verfolgen, der 
bemüht ift, eine neue Pflanzenform zu züchten, die fi) durch eine 
ſchoͤne Blumenfarbe auszeichnet. Derfelbe wird zunächft unter einer 
großen Anzahl von Pflanzen, welche Sämlinge einer und derfelben 
Pflanze find, eine Auswahl oder Selection treffen. Er wird die 
jenigen Pflanzen herausfuchen, welche die ihm ermünfchte Blüthen- 
farbe am meiften ausgeprägt zeigen. Gerade diefe Blüthenfarbe ift 
ein fehr veränderlicher Gegenftand. Zum Beifpiel zeigen Pflangen, 


Berfahren der kunſtlichen Züchtung. 137 
welche in ber Regel eine weiße Blüthe befigen, fehr häufig Abrvei- 
chungen in's Blaue oder Rothe hinein. Gefept nun, der Gärtner 
wünfht eine folde, gewöhnlich weiß bfühende Pflanze in rother 
Farbe zu erhalten, fo würde er fehr forgfältig unter den mancherlei 
verſchiedenen Individuen, die Ablömmlinge einer und derfelben Sa- 
menpflange find, biejenigen herausfuchen, die am deutlichften einen 
tothen Anflug zeigen, und diefe ausſchließlich ausfäen, um neue In« - 
dividuen derfelben Art zu erzielen. Er würde die übrigen Samen- 
pflanzen, die weiße ober weniger deutlich rothe Farbe zeigen, aus— 
fallen laffen und nicht weiter fultiviten. Ausſchließlich die einzelnen 
Pflanzen, deren Blüthen das ftärkfte Roth zeigen, würde er fortpflan« 
zen und die Samen, welche diefe auderlefenen Pflanzen bringen, 
würde er wieder außfäen. Don den Samenpflangen biefer zweiten 
Generation würde er wiederum diejenigen forgfältig heraudfefen , die 
das Rothe, das num ber größte Theil der Samenpflanzen zeigen 
würde, am beutlichften auögeprägt haben. Wenn eine folhe Aus- 
leſe durch eine Reihe von fech® oder zehn Generationen hindurch ge⸗ 
ſchieht, wenn immer mit großer Sorgfalt diejenige Blüthe ausgefucht 
wird, die das tieffte Roth zeigt, fo wird der Gärtner in der fechiten 
oder zehnten Generation eine Pflanze mit rein rother Blüthenfarbe 
bekommen, wie fie ihm erwünſcht war. 

Ebenfo verfährt der Landwirth, welcher eine befondere Thier⸗ 
taffe züchten will, alfo 3. B. eine Schafforte, welche ſich durch be⸗ 
ſonders feine Wolle auszeichnet. Das einzige Verfahren, welches 
bei der Bervolltommnung der Wolle angewandt wird, befteht darin, 
daß der Landwirth mit der größten Sorgfalt und Ausdauer unter 
der ganzen Schafherde diejenigen Individuen ausfucht, die die feinfte 
Wolle haben. Diefe allein werden zur Nachzucht verwandt, und 
unter der Nachkommenſchaft diefer Auserwählten werden abermals 
diejenigen herausgeſucht, die fih durch bie feinfte Wolle außzeich- 
nm u. ſ. f. Wenn dieſe forgfältige Auslefe eine Reihe von Gene- 
tationen hindurch fortgefegt wird, fo zeichnen ſich zuletzt die aus⸗ 
erlefenen Zuchtſchafe durch eine Wolle aus, welche fehr auffallend, 


138 Zuctwaßl-Bermögen des Menfchen. 


und zwar nach dem Wunfche und zu Gunften des Züchter, von der 
Wolle des urfprünglihen Stammvaters verfchieben ift. 

Die Unterfchiede der einzelnen Individuen, auf die e8 bei diefer 
tünſtlichen Ausleſe ankommt, find fehr Mein. Ein gewöhnficher un ⸗ 
geübter Menſch ift nicht im Stande, die ungemein feinen Unterſchiede 
der Eingelwefen zu erfennen, welche ein geübter Züchter auf den 
erften Blit wahrnimmt. Das Gefhäft des Züchter ift feine leichte 
Kunft; dafjelbe erfordert einen außerordentlich ſcharfen Blick, eine 
große Geduld, eine äußerſt forgfame Behandlungsweife der zu züch ⸗ 
tenden Organismen. Bei jeber einzelnen ©eneration fallen die Unter- 
ſchiede der Individuen dem Laien vielleicht gar nicht in da® Auge; 
aber durch die Häufung dieſer feinen Unterfehiede während einer 
Reihe von Generationen wird die Abweihung von der Stammform 
zuletzt fehr bedeutend. Sie wird fo auffallend, daß endlich bie 
tünftfich erzeugte Form von ber urfprünglichen Stammform in weit 
höherem Grade abweichen kann, als zwei fogenannte gute Arten im 
Naturzuftande thun. Die Züchtungakunft ift jetzt fo weit gediehen, 
daß der Menfch oft willkuͤrlich beffimmte Eigenthümlichfeiten bei den 
kultivirten Arten der Thiere und Pflanzen erzeugen kann. Man 
tann an die geübteften Gärtner und Landwirthe beftimmte Aufträge 
geben, und 3. B. fagen: Ich wünſche diefe Pflanzenart in der und 
der Farbe mit der und der Zeichnung zu haben. Wo die Züchtung 
fo vervolltommnet ift, wie in England, find die Gärtner und Land- 
wirthe häufig im Stande, innerhalb einer beftimmten Zeitdauer, 
nad Verlauf einer Anzahl von Generationen, das verlangte Refultat 
auf Beftellung zu liefern. Einer der erfahrenften engliſchen Züchter, 
Sir John Sebright, konnte fagen „er wolle eine ihm aufge 
gebene Feder in drei Jahren heworbringen, er bebürfe aber ſechs 
Jahre, um eine gewünfchte Form des Kopfes und Schnabels zu 
erlangen”. Bei der Zucht der Merinofhafe in Sachſen werden die 
Thiere dreimal wiederholt neben einander auf Tifhe gelegt und auf 
dad Corgfältigfte vergleichend ftubirt. Jedesmal werden nur bie 
beften Schafe, mit der feinften Wolle, audgelefen, fo daß zulegt von 


Individuelle Unterſchlede aller Organismen. 139 


einer großen Menge nur einzelne wenige, aber ganz außerlefen feine 
Tiere übrig bleiben. Nur diefe lepten werden zur Nachzucht ver- 
wandt. Es find alfo, wie Sie fehen, ungemein einfache Urfachen, 
mittelft welcher bie fünftfiche Züchtung zulegt große Wirkungen her- 
vorbringt, und dieſe großen Wirkungen werden nur erzielt durch 
Summirung ber einzefnen an ſich fehr unbebeutenden Unterfchiede, 
die durch fortwährend wiederholte Außlefe oder Selection in einem 
überrafchenden Maaße vergrößert werben. 

Ehe wir nun zur Bergleihung diefer fünftlihen Züchtung mit 
der natürlichen übergehen, wollen wir ung Mar machen, welche na- 
türlichen Eigenſchaften der Organismen der fünftliche Züchter oder 
Auftivateur benupt. Man kann alle verfchiedenen Eigenfhaften, die 
hierbei in das Spiel kommen, ſchließlich zurüdführen auf zwei phyſio⸗ 
logiſche Grundeigenfchaften des Organismus, die fämmtlichen Thieren 
und Pflanzen gemeinſchaftlich find, und die mit den beiden Thätig- 
teiten der Fortpflanzung und Ernährung auf das Innigfte zu⸗ 
fammenhängen. Diefe beiden Grundeigenſchaften find die Erblich- 
teit ober die Fähigkeit der Bererbung und bie Beränberlich- 
teit ober die Fähigkeit der Anpaffung. Der Züchter geht aus 
von der Thatfache, daß alle Individuen einer und derfelben Art ver- 
fehieden find, wenn auch in fehr geringem Grade, eine Thatfache, die 
fowohl von ben Organismen im wilden wie im Kulturzuftande gilt. 
Bern Sie id) in einem Walde umfehen, der nur aus einer einzigen 
Baumart, 3. B. Buche, befteht, werben Sie ganz gewiß im ganzen 
Balde nicht zwei Bäume diefer Art finden, die abfolut gleich find, 
die in der Form der Beräftelung, in der Zahl der Zweige und Blätter, 
der Blüthen und Früchte, ſich volltommen gleihen. Es finden ſich 
individuelle Unterſchiede überall, gerade fo tie bei dem Menfchen. 
E giebt micht zwei Menfchen, welde abfolut identifch find, voll- 
tommen gleich in Größe, Gefihtsbildung, Zahl der Haare, Tempe- 
toment, Charakter u. f. mw. Ganz daſſelbe gilt aber aud) von den 
Einzelweſen aller werfchiedenen Thier- und Pflanzenarten. Bei den 
meiften Organismen erfcheinen allerdings die Unterfchiede für den 


140 Anpafiung und Ernährung. 

Laien fehr geringfügig. Es kommt aber hierbei weſentlich an auf 
die Uebung in der Erkenntniß diefer oft fehr feinen Formcharaktere. 
Ein Schafhirt 3. 2. fennt in feiner Heerde jedes einzelne Individuum 
bloß durch genaue Beobachtung der Eigenfhaften, während ein Laie 
nicht im Stande ift, alle die verſchiedenen Individuen einer und 
derſelben Heerde zu unterfpeiden. Die Thatſache der individuellen 
Verſchiedenheit ift die äußerſt wichtige Grundlage, auf welche ſich 
dad ganze Züchtungsvermögen bed Menfchen gründet. Wenn nicht 
überall jene individuellen Unterfhiede wären, fo lonnte er nicht aus 
einer und derfelben Stammform eine Maſſe verfhiedener Spielarten 
oder Raſſen erziehen. Wir müflen von vornherein den Grundſatz 
fefthalten, daß dieſe Erſcheinung ganz allgemein if. Wir müſſen 
nothwendig dieſelbe auch da vorausſehen, wo wir mit unferen groben 
ſinnlichen Hüffsmitteln nicht im Stande find, die Unterſchiede zu 
erfennen. Bei den höheren Pflanzen, bei den Phanerogamen oder 
Blüthenpflangen, wo die einzelnen individuellen Stöde fo zahlreiche 
unterſchiede in der Zahl der Aefte und Blätter, in der Bildung des 
Stammes und der Aefte zeigen, können wir faft immer jene Unter 
ſchiede leicht wahrnehmen. Aber bei den niederen Pflanzen, z. B. 
Mofen, Algen, Pilzen, und bei ben meiften Thieren, namentlich 
den niederen Thieren, ift Died nicht der Fall. Die individuelle Unter- 
ſcheidung aller Einzelweſen einer Art ift hier meiften® äußerft ſchwierig 
oder ganz unmoglich. Es liegt jedoch fein Grund vor, bloß denjeni- 
gen Organismen eine individuelle Verſchiedenheit zuzuſchreiben, bei 
denen wir fie fogleich erfennen können. " Bielmehr können wir diefelbe 
mit voller Sicherheit ald allgemeine Eigenfhaft aller Organidmen 
annehmen, und wir fönnen dies um fo mehr, da wir im Stande find, 
die Beränderlichkeit der Individuen zuräczuführen auf die mechanifchen 
Verhältniffe der Ernährung. Wir Lönnen zeigen, daß wir durch 
Veeinfluffung der Ernährung im Stande find, auffallende individuelle 
Unterfhiede da hervorzubringen, wo fie unter nicht veränderten Gr- 
nährungsverhältniffen nicht wahrzunehmen fein würden. Die vielen 


Vererbung und Fortpflanzung. 141 


verwidelten Bedingungen der Ernährung find aber niemalß bei zwei 
Individuen einer Art abfolut gleich. 

Ebenfo nun, wie wir die Veränderlichkeit oder Anpaffungs- 
fähigkeit in urfächlihem Zufammenhang mit den allgemeinen Emäh- 
rungöverhältniffen der Thiere und Pflanzen fehen, ebenfo finden wir 
die zweite fundamentale Qebenserfheinung, mit der wir e8 hier zu 
thun haben, nämlid) die Bererbungsfähigkeit ober Erblichkeit, 
in unmittelbarem Zufammenhang mit den Erfdeinungen der Fort⸗ 
pflanzung. Das zweite, was der Landwirth und der Gärtner bei 
der fünftlichen Züchtung thut, nachdem er ausgefucht, alfo bie Ber- 
änderlichfeit benutzt hat, ift, daß er die veränderten Formen feſt⸗ 
zuhalten und auszubilden ſucht durch die Vererbung. Er geht aus 
von der allgemeinen Thatſache, daß die Kinder ihren Eltern ähnlich 
find: „Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.” Diefe Erfheinung 
der Erblichkeit ift bisher in fehr geringem Maaße wiſſenſchaftlich unter- 
fucht worden, was zum Theil daran liegen mag, daß die Erſcheinung 
eine zu alltägliche ift. Jedermann findet es ganz natürlich, daß eine 
-jede Art ihres Gleichen erzeugt, daß nicht plöplich ein Pferd eine Gans 
oder eine Gand einen Frofch erzeugt. Man ift gewöhnt, diefe alltäg- 
lichen Borgänge der Erblichkeit als felbftverftändlich anzufehen. Nun 
it aber diefe Erſcheinung nicht fo felbftverftändfich einfach, wie fie auf 
den erften Blick erfeheint, und namentlich wird fehr häufig bei der Be⸗ 
trachtung der Erbfichfeit überfehen, da die verfchiedenen Nachkom⸗ 
men, die von einem und demfelben Elternpaar herftammen, in der 
That niemald einander ganz gleih, auch niemals abfolut glei den 
Eltern , fondern immer ein wenig verfehieden find. Wir können den 
Grundfag der Erbfichkeit nicht dahin formuliren: „Gleiches erzeugt 
Gleiches“, fondern wir müffen ihn vielmehr bedingter dahin ausſpre⸗ 
Gen: „Mehnliches erzeugt Aehnliches”. Der Gärtner wie der Land» 
wirth benupt in diefer Beziehung die Thatfache der Vererbung im weis 
teften Umfang, und zwar mit befonderer Rüdficht darauf, daß nicht 
allein diejenigen Eigenfhaften von den Organismen vererbt werben, 
die fie bereits von den Eltern ererbt haben, fondern auch diejenigen, 


136 Borgang der Hinfilichen Züchtung. 


welche Erfolge der Menſch durch feine fünftfihe Züchtung erzielt, 
und welde Mittel er anwendet, um diefe Erfolge hervorzubringen; 
und dann müſſen wir und fragen: „Giebt es in der Natur ähnliche 
Kräfte, ähnlich wirkende Urfadhen, wie fie der Menfch hier anwendet?“ 

Was nun zunähft die fünftlihe Züchtung betrifft, fo gehen 
wir von der Thatſache auß, die zulept erörtert wurde, daß beren 
Produkte in nicht feltenen Fällen viel mehr von einander verſchieden 
find, als die Erzeugniffe der natürlihen Züchtung. In der That 
weichen die Raſſen oder Spielarten oft in viel höherem Grade und 
in viel wichtigeren Eigenſchaften von einander ab; als es viele foger 
nannte „gute Arten” oder Species, ja biöweilen fogar mehr, als es 
fogenannte „gute Gattungen” im Naturuftande thun. Vergleichen 
Sie z. B. die verſchiedenen Aepfelforten, welche die Gartenkunſt 
von einer und berfelben urfprünglichen Apfelform gezogen hat, oder 
vergleichen Sie die verſchiedenen Pferderaſſen, welche die Thierzüchter 
aus einer und derfelben urfprünglihen Form des Pferdes abgeleitet 
haben, fo finden Sie leicht, daß die Unterfhiede der am meiften 
verfpiebenen Formen ganz außerordentlich bedeutend find, viel ber 
deutender, als die fogenannten „fpecififchen Unterfepiede’”, welche von 
den Zoologen und Botanikern bei Bergleihung der wilden Arten an- 
gewandt werben, um barauf hin verfchiedene fogenannte „gute Arten“ 
zu unterſcheiden. 

Wodurch bringt nun ber Menſch dieſe außerordentliche Ber- 
f&hiedenheit oder Divergenz mehrerer Formen hervor, die erwiefener« 
maßen von einer und derfelben Stammform abftammen? Lafien Sie 
und zur Beantwortung diefer Frage einen Gärtner verfolgen, der 
bemüht ift, eine neue Pflanzenform zu züchten, die fi durch eine 
f&höne Blumenfarbe auszeichnet. Derfelbe wird zunächft unter einer 
großen Anzahl von Pflanzen, welche Sämlinge einer und derfelben 
Pflanze find, eine Auswahl oder Selection treffen. Er wird die 
jenigen Pflanzen herausfuchen, welche die ihm erwuͤnſchte Blüthen- 
farbe am meiften ausgeprägt zeigen. Gerade diefe Blüthenfarbe ift 
ein fehr veränderliher Gegenftand. Zum Beifpiel zeigen Pflanzen, 


Verfahren ber kunſtlichen Züchtung. 137 


welde in der Regel eine weiße Blüthe befipen, fehr häufig Abwei⸗ 
Hungen in's Blaue oder Rothe hinein. Gefept nun, der Gärtner 
wünfeht eine ſolche, gewöhnlich weiß blühende Pflanze in rother 
Farbe zu erhalten, fo würde er fehr forgfältig unter ben mandherlei 
verfhiedenen Individuen, die Abkommlinge einer und derfelben Sa- 
menpflange find, diejenigen herausfuchen, die am beutlichften einen 
tothen Anflug zeigen, und dieſe ausſchließlich ausſäen, um neue In- - 
dividuen derfelben Art zu erzielen. Er würde die übrigen Samen- 
pflanzen, die weiße ober weniger deutlich rothe Farbe zeigen, aus⸗ 
fallen laſſen und nicht „weiter kuttiviten. Ausſchließlich die einzelnen 
Pflanzen, deren Blüthen das ftärkfte Roth zeigen, würde er fortpflan⸗ 
jen und die Samen, welche diefe auserleſenen Pflanzen bringen, 
würde er wieder ausfäen. Bon den Samenpflanzen dieſer zweiten 
Generation würde er wiederum diejenigen forgfältig herausleſen, die 
das Rothe, das nun der größte Theil der Samenpflanzen zeigen 
würde, am deutlichſten ausgepraͤgt haben. Wenn eine ſolche Aus- 
leſe durch eine Reihe von fech® oder zehn Generationen hindurd) ge⸗ 
fhieht, wenn immer mit großer Sorgfalt diejenige Blüthe ausgeſucht 
wirb, bie daß tieffte Roth zeigt, fo wird der Gärtner in ber fechften 
oder zehnten Generation eine Pflanze mit rein rother Blüthenfarbe 
betommen, wie fie ihm erwünfcht war. 

Ebenfo verfährt der Landwirth, welcher eine befondere Thier- 
raſſe züchten will, alfo z. B. eine Schafforte, welche ſich durch ber 
ſonders feine Wolle auszeichnet. Das einzige Verfahren, welches 
bei der Bervolltommmung der Wolle angewandt wird, befteht darin, 
daß der Landwirt) mit der größten Sorgfalt und Ausdauer unter 
der ganzen Schafherbe diejenigen Individuen ausſucht, die die feinfte 
Bolle haben. Diefe allein werben zur Nachzucht verwandt, und 
unter der Nachlommenfchaft diefer Auserwählten werden abermals 
diejenigen herausgeſucht, die fih durch die feinfte Wolle auszeich« 
nen u.f.f. Wenn diefe forgfältige Ausleſe eine Reihe von Gene- 
vationen hindurch fortgefept wird, fo zeichnen ſich zulept die aus⸗ 
erlefenen Zuchtſchafe durch eine Wolle aus, welche fehr auffallend, 





144 Darwin's Theorie vom Kampfe um's Dafein. 


Planen einwirkt, bezeichnet Darwin mit dem Ausdrud: „Kampf 
um's Dafein“ (Struggle for life). 

Der „Kampf um's Dafein“ ift rafch ein Stichwort des Tages 
geworden. Tropdem ift diefe Bezeichnung vielleicht in mancher Ber 
siehung nicht ganz glüdlich gewählt, und würde wohl fehärfer ger 
faßt werden können ald „Mitbewerbung-um die nothwendi— 
gen Eriftenzbedürfniffe”. Dan hat nämlich unter dem „Rampfe 
um dad Daſein“ mande Verhältniffe begriffen, die eigentlich im 
ftrengen Sinne nicht hierher gehören. Zu der dee des „Struggle 
for life“ gelangte Darwin, wie aus dem im legten Bortrage mit- 
getheilten Briefe erfichtlich it, durd das Studium des Buches von 
Malthus „über die Bedingungen und die Folgen der Volksvermeh ⸗ 
rung“. In diefem wichtigen Werke wurde der Beweis geführt, daß 
die Zahl der Menfchen im Ganzen durdfchnittlich in geometriſcher 
Progreffion wächft, während "die Menge ihrer Nahrungsmittel nur 
in arithmetifcher Progrefiion zunimmt. Aus diefem Mißverhältniſſe 
entfpringen eine Maſſe von Uebelftänden in der menfchlichen Geiell- 
ſchaft, welche einen beftändigen Wettfampf der Menfchen um die Er- 
langung der nothwendigen, aber nicht für Alle ausreichenden Untere 
haltsmittel veranlaffen. 

Darwin's Theorie vom Kampfe um das Dafein ift gewiller- 
maßen eine allgemeine Anwendung der Bevölterungdtheorie von 
Malthus auf die Gefammtheit der organifhen Natur. Sie gebt 
von der Erwägung aus, daß die Zahl der möglichen organifchen 
Individuen, welche aus den erzeugten Keimen hervorgehen fönnten, 
viel größer ift, al die Zahl der wirflichen Individuen, welche that- 
ſãchlich gleichzeitig auf der Erdoberfläche leben. Die Zahl der möglichen 
oder potentiellen Individuen wird und gegeben durd die Zabl 
der Gier und der ungeſchlechtlichen Keime, welche die Organismen er- 
zeugen. Die Zahl diefer Keime, aus deren jedem unter günftigen 
Verhältniffen ein Individuum entftehen könnte, ift fehr viel größer, 
als die Zahl der wirflihen oder aftuellen Individuen, d. b. 
derjenigen, welche wirklich aus diefen Keimen eMtftehen, zum Yeben 


uUrſachen de Kampfes um’8 Dafein. 145 


gelangen und ſich fortpflanzen. Die bei weitem größte Zahl aller 
Keime geht in der frühejten Qebenägeit zu Grunde, und es find im⸗ 
mer nur einzelne bevorzugte Organismen, welche ſich ausbilden fün- 
nen, welche namentlich die erfte Jugendzeit glücklich überftehen und 
ſchließlich zur Fortpflanzung gelangen. Diefe wichtige Thatſache wird 
einfadh bewieſen durch die Bergleihung der Eierzahl bei den einzelnen 
Arten mit der Zahl der Individuen, die von diefen Arten eriftiren. 
Diefe Zahlenverhältniffe zeigen die auffallendften Widerſprüche. Es 
giebt z. B. Hühnerarten, welche fehr zahlreiche Eier legen, und bie 
dennoch zu den feltenften Bögeln gehören; und derjenige Bogel, der 
der gemeinfte von allen fein fol, der Eisſturmvogel (Procellaria gla- 
cialis), legt nur ein einzige® Ei. Ebenfo ift das Berhältnif bei ande 
en Thieren. Es giebt viele, fehr feltene, twirbellofe Thiere, welche eine 
ungeheure Maffe von Eiern legen; und wieder andere, die nur fehr 
wenige Eier produciren und doch zu den gemeinften Thieren gehören. 
Denken Sie z. B. an das Verhältniß, welches fich bei den menfchlichen 
Bandwürmern findet. Jeder Bandwurm erzeugt binnen kurzer Zeit 
Millionen von Eiern, während der Menſch, der den Bandwurm be— 
berbergt, eine viel geringere Zahl Eier in ſich bildet, und dennoch ift 
glüdlicher Weife die Zahl der Bandwuͤrmer viel geringer, als die der 
Menfchen. Ebenfo find unter den Pflanzen viele prachtvolle Drchi— 
deen, die Taufende von Samen erzeugen, fehr felten, und einige 
afterähnliche Pflanzen (Compofiten), die nur wenige Samen bilden, 
äußerft gemein. 

Diefe wichtige Thatfache ließe fich noch durch eine ungeheure Maffe 
anderer Beifpiele erläutern. Es bedingt alfo offenbar nicht die Zahl 
der wirklich vorhandenen Keime die Zahl der fpäter in's Leben treten- 
den und fid) am Leben erhaltenden Individuen, fondern e8 ift viel- 
mehr die Zahl diefer lepteren durch ganz andere Verhaͤltniſſe bedingt, 
zumal durch die Wechfelbeziehungen," in denen fih der Organismus 
zu feiner organifchen, wie anorganifchen Umgebung befindet. Jeder 
Organismus fämpft von Anbeginn feiner Egiftenz an mit einer An- 


zahl von feindlichen Einflüffen, er fämpft mit Thieren, melde von 
Herdel, Ratärt. Ehöpfungsgeld. 5. auf 10 


— —— 


146 Allgemeinheit des Kampfes um's Daſein. 


dieſem Organismus leben, denen er als natürliche Nahrung dient, mit 
Raubthieren und mit Schmarotzerthieren; er kämpft mit anorgani- 
ſchen Einflüffen der verfchiedenften Art, mit Temperatur, Witterung 
und anderen Umftänden; ex fämpft aber (und das ift viel wichtiger‘), 
vor allem mit den ihm ähnlichften, gleihartigen Organismen. Jedes 
Individuum einer jeden Thier- und Pflanzenart ift im heftigften Wett- 
ſtreit mit den anderen Individuen derfelben Art begriffen, die mit ihm 
an demfelben Orte leben. Die Mittel zum Lebensunterhalt find in der 
Detonomie der Ratur nirgends in Fülle auögeftreut, vielmehr im 
Ganzen fehr beſchränkt, und nicht entfernt für die Maſſe von Indie 
viduen audreichend, die ſich aus den Keimen entwideln könnte. Da- 
ber müflen bei den meiften Thier- und Pflanzenarten die jugendlichen 
Individuen es ſich fehr fauer werden laſſen, um zu den nöthigen 
Mitteln des Lebensunterhaltes zu gelangen, notwendiger Weife ent- 
widelt fih daraus ein Wettkampf zwifchen denfelben um die Er« 
langung diefer unentbehrlihen Eyiftenzbedingungen. 

Diefer große Wettlampf um die Lebensbedürfniſſe findet überall 
und jederzeit ftatt, ebenfo bei den Menſchen und Thieren, wie bei den 
Pflanzen, bei welchen auf den erften Blick dies Verhältniß nicht jo klar 
am Tage zu liegen fcheint. Wenn Sie ein Feld betrachten, weldes 
ſehr reichlich mit Weizen befäet ift, fo kann von den zahlreichen jun- 
gen Weipenpflanzen (vielleiht von einigen Taufenden), die auf einem 
ganz beſchränkten Raume emporfeimen, nur ein gang einer Brud- 
theil fih am Leben erhalten. Es findet da ein Wettlampf ftatt um 
den Bodenraum, ben jede Pflanze braucht, um ihre Wurzel zu be- 
feffigen, ein Wettlampf um Sonnenliht und Weuchtigkeit. Und 
ebenfo finden Sie bei jeder Thierart, daß alle Individuen einer und 
derfelben Art mit einander ftreiten um die Erlangung der unentbehr- 
lichen Lebensmittel, der Exiſtenzbedingungen im weiteren Einne des 
Worts. Allen find fie gleich unentbehrlich; aber nur wenigen werden 
fie wirklih zu Theil. Alle find berufen, aber wenige jind auser- 
wählt! Die Thatſache ded großen Wettlampfes ift gary allgemein. 
ie brauchen bloß Ihren Blid auf die menfchliche Geſellſchaft zu Ien- 





Zaqhtende Wirkung des Kampfes um's Daſein. 147 


fm, in der ja überall, in allen verfchiedenen Fächern der menſchlichen 
Yitigkeit,, diefer Wettkampf ebenfall® eyiftirt. "Auch hier werden 
die Berhältnifie des Wettlampfes weſentlich durch bie freie Konkurrenz 
der verfehiedenen Arbeiter einer und derfelben Klaſſe beftimmt. Auch 
bir, wie überall, ſchlaͤgt diefer Wettlampf zum Bortheil der Sache 
«us, zum Bortheil der Arbeit, welche ber Gegenftand der Konkutrenz 
it. Je größer und allgemeiner der Wettlampf oder die Konkurrenz, 
deſto ſchneller häufen ſich die Berbeilerungen und Erfindungen auf 
difem Arbeitögebiete, defto mehr vervolltommnen ſich die Arbeiter, 

Rım ift offenbar die Stellung der verihiedenen Individuen in 
diefem Kampfe um das Dafein ganz ungleih. Ausgehend wieder 
von der thatfächfichen Ungleichheit der Individuen, müffen wir überall 
nothwendig annehmen, daß nicht alle Individuen einer und berfelben 
Art gleich günftige Ausſichten haben. Schon von vornherein find die- 
felben durch ihre verſchiedenen Kräfte und Fähigkeiten verfchieden im 
Beitfampfe geftellt, abgefehen davon, daß die Eyiftenzbedingungen 
an jedem Punkt der Erdoberfläche verfchieden find und verfchieden 
tinwirten. Offenbar waltet hier ein unendlich verwidelte® Getriebe 
von Einwirkungen, die im Bereine mit der urfprünglichen Ungleichheit 
der Individuen während des beftehenden Wetttampfes um die Er- 
langung der Egiftenzbedingungen einzelne Individuen bevorzugen, an⸗ 
dere benachtheiligen. Die bevorzugten Individuen werben über die 
anderen ben Sieg erlangen, und während die fepteren in mehr ober 
weniger früher Zeit zu Grunde gehen, ohne Nachlommen zu hinter 
laſſen, werden die erfteren allein jene überleben können und ſchließlich 
zur Fortpflanzung gelangen. Indem alfo vorausſichtlich oder doch 
vorwiegend die im Kampfe um da® Dafein begünftigten Einzelweſen 
zur Fortpflanzung gelangen, werden wir (ſchon allein in Folge dieſes 
Verhältniffes) in der nächften Generation, bie von diefer erzeugt wird, 
Unterfjiede von der vorhergehenden wahmehmen. Es werden ſchon 
die Individuen diefer zweiten ©eneration, wenn auch nicht alle, doch 
zum Theile, durch Vererbung den individuellen Vortheil überfommen 

10* 


148 Umbildende Wirkung bed Kampfes um's Dafein. 


haben, durch welchen ihre Eltern über deren Nebenbubhler den Cirg 
davon trugen. 

Nun wird aber — und das ift ein fehr wichtiges Vererbungs: 
gefeßg — wenn eine Reihe von Generationen hindurch eine folde 
Uebertragung eines günftigen Charakters ftattfindet, derfelbe nicht 
einfach in der urfprünglichen Weife übertragen, fondern er wird fort- 
während gehäuft und geftärkt, und er gelangt ſchließlich in einer ſpä⸗ 
teren Generation zu einer Stärke, welche diefe Generation ſchon fehr 
mefentlich von der urfprünglichen Stammform unterfcheidet. Laſſen 
Sie und zum Beifpiel eine Anzahl von Pflanzen einer und derfelben 
Art betrachten, die an einem fehr trocknen Standort zufammenmachfen. 
Da die Haare ber Blätter für die Aufnahme von Feuchtigkeit aus der 
Luft fehr nüglich find, und- da die Behaarung der Blätter fehr verän- 
derlich ift, fo werden an diefem ungünftigen Standorte, wo die Pilan- 
zen direkt mit dem Mangel an Waller fämpfen und dann noch einen 
Wettkampf unter einander um die Erlangung des Waſſers beftehen, 
die Individuen mit den dichteft behaarten Blättern bevorzugt fein. 
Diefe werden allein aushalten, während die anderen, mit fahleren 
Blättern, zu Grunde gehen; bie behaarteren werden ſich fortpflanzen 
und die Abtömmlinge derfelben werben ſich durchfchnittlich durch dichte 
und ftarfe Behaarung mehr auszeichnen, als es bei den Individuen 
der erften Generation der Fall war. Geht diefer Prozeß an einem 
und demfelben Orte mehrere Generationen fort, fo entſteht ſchließlich 
eine folhe Häufung des Charakters, eine folhe Vermehrung der 
Haare auf der Blattoberflähe, dag eine ganz neue Art vorzuliegen 
ſcheint. Dabei ift zu berüdfichtigen, daß in Folge der Wechfelbezie- 
hungen aller Theile jedes Organismus zu einander in der Regel nicht 
ein einzelner Theil ſich verändern fann, ohne zugleich Aenderungen 
in anderen Theilen nach ſich zu ziehen. Wenn alfo im legten Beifpiel 
die Zahl der Haare auf den Blättern bedeutend zunimmt, fo wird, 
dadurch anderen Theilen eine gewiſſe Menge von Rahrungsmaterial 
entzogen; das Material, welches zur Blüthenbildung oder Samen- 
bildung verwendet werden önnte, wird verringert, und es wird 





Bergleichung deu natürlichen unb ber kunſtlichen Züchtung. 149 


dann die geringere Größe ber Blüthe oder des Samens die mittelbare 
oder indirekte Folge des Kampfes um's Dafein werden, weldyer zu 
nädft nur eine Veränderung ber Blätter bewirkte. Der Kampf um 
da3 Dafein wirft alfo in diefem Falle züchtend und umbildend. Das 
Ringen ber verfhiedenen Individuen um die Erlangung der noth⸗ 
wendigen Eygiftenzbedingungen, ober im weiteften Sinne gefaßt, die 
Bechfelbeziehungen der Organismen zu ihrer gefammten Umgebung, 
bewirlen Formveränderungen, wie fie im Kulturuftande durch die 
Thätigkeit des züchtenden Menfchen hervorgebracht werben. 

Auf den erften Blick wird Ihnen diefer Gedanke vielleicht ſehr 
unbedeutend und kleinlich erſcheinen, und Sie werden nicht geneigt 
fein, der Thätigkeit jenes Verhältniffes ein ſolches Gewicht einzu- 
räumen, wie daſſelbe in der That befigt. Ich muß mir daher vorbe⸗ 
halten, in einem fpäteren Bortrage an weiteren Beifpielen da8 unge- 
heuer weit reichende Umgeftaftungävermögen ber natürlichen Züchtung 
Ihnen vor Augen zu führen. Vorläufig befchränfe ich mich darauf, 
noqhmals die beiden Vorgänge der fünftlichen und natürlichen Züch⸗ 
tung neben einander zu fielen und Uebereinftimmung und Unterfchied 
in beiden Züchtungäprogefien ſcharf gegen einander zu halten. 

Natürliche ſowohl, als künftliche Züchtung find ganz einfache, 
natürliche, mechanifche Lebensverhaͤltniſſe, welche auf der Wechfel- 
wirfung zweier phyſiologiſcher Funktionen beruhen, nämlich der 
Anpaffung und der Bererbung, Funktionen, die als folche wie- 
der auf phyſikaliſche und chemiſche Eigenfchaften der organifchen Ma- 
terie zurüdguführen find. Ein Unterfhied beider Züchtungsformen 
befteht darin, daß bei der fünftlichen Züchtung der Wille des Menfchen 
planmäßig die Auswahl oder Ausleſe betreibt, während bei ber 
natürlichen Züchtung der Kampf um das Dafein (jened allgemeine 
Wechſelverhaͤltniß der Organismen) planlos wirkt, aber übrigens 
ganz daffelbe Refultat erzeugt, nämlich eine Auswahl oder Selection 
beſonders gearteter Individuen zur Nachzucht. Die Veränderungen, 
welche durch die Züchtung hervorgebracht werben, fehlagen bei ber 
fünfttichen Züchtung zum Vortheil des zuchten den Menfchen aus, 


150 Vergleichung der natürfichen und ber künftlichen Züchtung. 


bei der natürfihen Züchtung dagegen zum Vortheil des gezüchteten 
DOrganismns felbit, wie es in der Natur der Sache liegt. 

Das find die weſentlichſten Unterfchiede und Uebereinftimmungen 
wwiſchen beiderlei Züchtungsarten. Es ift dann aber ferner noch zu 
berüdfichtigen, daß ein weiterer Unterfchieb in der Zeitdauer beftcht, 
welcht für den Züchtungsprozeß in beiberlei Arten erforderlich if. 
Der Menf vermag bei der künftlihen Zuchtwahl in viel fürgerer 
Zeit fehr bedeutende Deränderungen hervorzubringen, während bei der 
natürlichen Zuchtwahl Aehnliches erft in viel längerer Zeit zu Stande 
gebracht wird. Das beruht darauf, daß der Menſch die Audlefe 
viel forgfältiger betreiben kann. Der Menfch kann unter einer großen 
Anzahl von Individuen mit der größten Sorgfalt Einzelne heraus 
leſen, die übrigen ganz fallen laffen, und bloß die Bevorzugten zur 
Fortpflanzung verwenden, während das bei der natürlichen Zucht 
wahl nicht der Fall ift. Da werben ſich neben den bevorzugten, zuerſt 
zur Fortpflanzung gelangenden Individuen, auch noch Einzelne oder 
Viele von den übrigen,’ weniger ausgezeichneten Individuen, neben 
den erfteren fortpflangen. Ferner ift der Menſch im Stande, die Areu- 
zung zwiſchen der urſprünglichen und der neuen Form zu verhüten, 
die bei der natürlichen Züchtung oft nicht zu vermeiden ift. Wenn 
aber eine ſolche Kreuzung, d. h. eine gefchlechtliche Verbindung der 
neuen Abart mit der urfprünglihen Stammform ftattfindet, fo fplägt 
die dadurch erzeugte Rachtommenfchaft leicht in die feptere zurüd. Lei 
der natürlichen Züchtung kann eine ſolche Kreuzung nur dann ſicher 
vermieden werden, wenn die neue Abart ſich dur) Wanderung von 
der alten Stammform abfondert und ifolirt. 

Die natürliche Züchtung wirft daher fehr viel langſamer; fie er- 
fordert viel längere Zeiträume, als der fünftlihe Züchtungspsogeh. 
Aber eine wefentliche Folge dieſes Unterſchiedes ift, daß dann auch 
das Produkt der fünftlichen Zuchtwahl viel leichter wieder verſchwin · 
det, und die neu erzeugte Form in die ältere zurüdichlägt, während 
das bei der natürlichen Züchtung nicht der Fall ift. Die neuen Arten 
oder Epecied, welche aus der natürlichen Züchtung entfteben, erhalten 


" Mathematifche Nothwendigkeit der natürlichen Züchtung. 151 


fich viel Tonftanter, f&lagen viel weniger leit in die Stammform 
zurüd, als es bei den künftlihen Züchtungsproduften der Fall ift, 
und fie erhalten ſich auch demgemäß eine viel längere Zeit hindurch 
beftändig. als die fünftlichen Raſſen, die der Menfch erzeugt. Aber 
da3 find nur untergeordnete Unterſchiede, die ſich durch die verfchiede- 
nen Bedingungen der natürlichen und der fünftlichen Auslefe erklären, 
und die auch wefentlih nur die Zeitdauer betreffen. Das Wefen der 
Fonmveränderung, und die Mittel, Durch welche fie erzeugt wird, find 
bei der fünftlihen und natürlichen Züchtung ganz diefelben. (Gen. 
Morph. II, 248.) 

Die gedantenlofen und befehräntten Gegner Darwin's werben 
nicht müde zu behaupten, daß feine Selectiondtheorie eine bodenlofe 
Bermuthung, oder wenigſtens eine Hypotheſe fei, welche erſt bewieſen 
werden müffe. Daß diefe Behauptung volltommen unbegründet ift, 
tonnen Sie fhon aus den fo eben erörterten Grundzügen der Züch« 
tungsfehre felbft entnehmen. Darwin nimmt ald wirkende Urfachen 
für die Umbildumg der organifchen Geftalten keinerlei unbelannte Ra- 
turfräfte oder hypothetiſche Verhältniffe an, fondern einzig und allein 
die allgemein bekannten Qebensthätigfeiten aller Organismen, welche 
wir ald Bererbung und Anpaffung bezeichnen. Jeder phyſio⸗ 
logiſch gebildete Naturforſcher weiß, daß diefe beiden Funktionen un⸗ 
mittelbar mit den Thätigkeiten der Fortpflanzung und Emährung 
zufammenhängen, und gleich allen anderen Lebenserſcheinungen me- 
chaniſche Naturprogeife find, d. h. auf moletularen Bewegungserſchei⸗ 
nungen der organiſchen Materie beruhen. Daß die Wechſelwirkung 
diefer beiden Funktionen an einer beftändigen langfamen Umbilbung. 
der organifchen Formen arbeitet, und daß diefe zur Entftehung neuer 
Arten führt, wird mit Nothwendigkeit dur den Kampf um's Da= . 
fein bedingt. Diefer ift aber ebenfo wenig ein hypothetiſches ober des 
Berveiled bebürftiges Verhaͤltniß, als jene Wechfelmirtung der Berer- 
bung und Anpaflung. Bielmehr ift der Kampf um's Dafein eine ma- 
thematifche Rothrvendigfeit, welche aus dem Mißverhaltniß zwifchen der 
beſchraͤnkten Zahl der Stellen im Naturhaushalt und der übermäßigen 


152 Netärlihe und Kinftliche Züchtung im Menfenieben. 

Zahl der organiſchen Keime entfpringt. Durch die aktiven und paf- 
fiven Wanderungen der Thiere und Pflanzen, welche überall und 
zu jeder Zeit ftattfinden, wird außerdem noch die Entftehung neuer 
Arten in hohem Maße begünftigt, ohne daß diefelben jedoch als ein 
nothwendiger Faktor für den Prozek der natürlichen Züchtung anzu- 
fehen wären. Die Entftehung neuer Species durch die natürliche 
Züchtung, oder was baffelbe ift, durch die Wechſelwirkung der Ber- 
erbung und Anpaffung im Kampfe um's Dafein, ift mithin eine ma⸗ 
thematifhe Naturnothwendigkeit, welche feines weiteren 
Beweiſes bedarf. Wer auch bei dem gegenwärtigen Zuftande unfere® 
Wiſſens immer noch nad Beweifen für die Selectiondtheorie ver- 
langt, der bemweift dadurch nur, daß er entweder diefelbe nicht voll« 
ftändig verfteht, oder mit den biologifhen Thatfachen, mit dem empi- 
rifchen Wiſſensſchatz der Anthropologie, Zoologie und Botanik nicht 
hinreichend vertraut ift. 

Wenn die natürliche Züchtung, wie wir behaupten, die große 
betoirfende Urfache ift, melde die wundervolle Mannichfaltigkeit des 
organifchen Lebens auf der Erde hervorgebracht hat, fo müflen auch 
die intereffanten Erfepeinungen des Menfchenlebend zum größten 
Theile aus derfelben Urfache erflärbar fein. Denn der Menſch ift ja 
nur ein höher entwideltes Wirbelthier, und alle Seiten des Menfchen- 
teben® finden ihre Parallelen, ober richtiger ihre niederen Entiwide- 
kungäguftände, im Thierreiche vorgebildet. Die ganze Volkergeſchichte 
ober die fogenannte „Weltgefchichte” muß dann größtentheil® durch 
„natürliche Züchtung“ erflärbar fein, muß ein phufitafifch-Hemi« 
fer Prozeß fein, der auf der Wechſelwirkung der Anpaffung und 
Bererbung in dem Kampfe der Menſchen um's Dafein beruht. Und 
das ift in der That der Fall. Wir werden fpäter noch die Beweiſe 
dafür beibringen. Hier erfcheint es jedoch von Intereſſe, hervorzu · 
beben, daß nicht nur die natürliche, fondem auch die fünftlihe 
Züchtung vielfach in der Weltgefhichte wirkſam ift. 

Gin audgezeichneted Beifpiel von fünftliher Züchtung der 
Menfhen in großem Maßſtabe liefern die alten Spartaner, bei 





Spartaniſche Züchtung. Miitärife Züchtung. 153 
denen auf Grund eines befonderen Gefeges ſchon die neugeborenen 
Kinder einer forgfältigen Mufterung und Ausleſe unterworfen werden 
mußten. Alle ſchwaͤchlichen, kränklichen oder mit irgend einem fürs 
perlichen Gebrechen behafteten Kinder wurden getöbtet. Nur die voll» 
tommen gefunden und fräftigen Kinder durften am Leben bleiben und 
fie allein gelangten fpäter zur Fortpflanzung. Dadurd wurde die 
ſpartaniſche Raffe nicht allein beftändig in auserlefener Kraft und 
Tüchtigfeit erhalten, fondern mit jeder Generation wurde ihre körper⸗ 
liche Vollkommenheit gefteigert. Gewiß verdankt das Bolt von Sparta 
diefer fünftlichen Ausleſe oder Züchtung zum großen Theil den feltenen 
Grad von männlicher Kraft und rauher Heldentugend, durch die es 
in der alten Gefchichte hervorragt. 

Auch mande Stämme unter den rothen Indianern Nordame⸗ 
nta’3, die gegenwärtig im Kampfe um's Dafein den übermächtigen 
Eindringlingen der weißen Raſſe troß der tapferften Gegenwehr er- 
liegen, verdanken ihren befonderen Grad von Körperftärte und friege- 
rifcher Tapferkeit einer ähnlichen forgfältigen Audlefe der neugebomen 
Kinder. Auch hier werden alle ſchwachen ober mit irgend einem Fehler 
behafteten Kinder fofort getöbtet und nur die vollfommen fräftigen 
Individuen bleiben am Leben und pflanzen die Raffe fort. Da durch 
diefe fünftlihe Züchtung die Kaffe im Laufe zahlreicher Generationen 
bedeutend gefräftigt wird, ift an ſich nicht zu bezweifeln und wird 
durch viele befannte Thatfachen genügend beiviefen. 

Das Gegentheil von der fünftfichen Züchtung der wilden Roth- 
häute und der alten Spartaner bildet die individuelle Ausleſe, welche 
in unferen modernen Militärftaaten allgemein behufs Erhaltung der 
ftehenden Heere ausgeübt wird, und melde wir ganz paflend unter 
dem Ramen ber militärifhen Züchtung als eine befondere Form 
der Zuchtwahl betrachten können. Bekanntlich tritt gerade in ber neue⸗ 
ften Zeit das moderne Soldatenthum mehr al8 je in den Vordergrund 
des fogenanmten „Kulturlebens“; die ganze Kraft und der ganze 
Reichthum blühender Kulturſtaaten wird für feine Ausbildung ver- 
wendet. Die Jugenderziehung dagegen und der Öffentliche Unterricht, 


154 Nottmwenbige Folgen der militärifchen Zuchtwahl. 
bie tiefen Grundlagen der wahren Volkswohlfahrt und der humanen 
Veredelung, werben in der bebauerlichiten Weiſe vernachläffigt und 
zum großen Theile Prieſtern überlaffen, welche ftatt der wahren Raturs 
Erfenntniß den blinden Aberglauben zur Grunblage der fogenannten 
„Bildung“ maden. Und das geſchieht in Staaten, welde fih ein- 
bilden, die bevorzugten Träger der höchften menſchlichen Intelligenz 
zu fein und an der Spige der Eivilifation zu ftehen! Um daß ftehende 
Heer möglichft zu vergrößern, werben jährlich alle gefunden und flar- 
fen jungen Männer durch firenge Refrutirung ausgeleſen. Je Eräf- 
tiger, gefunder, normaler ber Füngling ift, defto größer ift für ihn 
die Ausfiht, durch Zündnadeln, gezogene Kanonen und andere der- 
gleichen Kulturinftrumente getödtet zu werden. Alfe kranken, ſchwäch- 
lichen oder mit Gebrechen behafteten Jünglinge dagegen werden von 
der „militärifchen Selection“ verſchont, bleiben während des Krieges 
zu Haufe, heirathen und pflanzen ſich fort. Je untauglicher, ſchwächer 
und verfümmerter der Jüngling ift, defto größere Ausſicht hat er, der 
Rekrutirung zu entgehen und eine Familie zu gründen. Während die 
fräftige Blüthe der Jugend auf dem Schlahtfelde verblutet, genießt 
inzwiſchen der untaugliche Ausſchuß die Genugthuung, fi fortzu ⸗ 
pflanzen und alle feine Schwächen und Gebrechen auf die Radhfom- 
menfchaft zu vererben. Nach den Vererbungsgeſetzen muß aber noth« 
wendig in folge deifen bei jeder folgenden Generation nicht allein 
eine weitere Verbreitung, fondern aud) eine tiefere Ausbildung des 
törperlihen und des davon untrennbaren geiftigen Schwaͤchezuſtandes 
eintreten. Durch diefe und durch andere Formen der künftlihen Züdh- 
tung in unferen Kulturſtaaten erflärt ſich hinreichend die traurige 
Thatſache, daß in Wirklichkeit die Körperſchwäche und Eharafter- 
ſchwaͤche unferer Kulturnationen in beftändiger Zunahme begriffen ift. 
und mit dem flarfen, gefunden Körper auch ber freie, unabhängige 
@eift immer feltener wird. 

Zu der zunehmenden Entfräftung ber modernen Kultuwdlker. 
welche eine nothwendige (Folge der militärifchen Zuchwahl ift. ger 
ſellt ſich ferner der andere Uebelſtand, daß die vervolltommnete Heil · 





Mititärifdje und meditiniſche Zuchtwehl. 155 


funde der Reugeit, obwohl immer nod) wenig im Stande, Krank⸗ 
heiten wirklich zu heilen, doch mehr als früher die Kunſt befigt und 
übt, ſchleichende, chroniſche Krankheiten auf lange Jahre hinauszu« 
ziehen. Gerade foldhe verheerende Uebel, wie Schwindſucht, Skro⸗ 
phelfranfheit, Syphilis, ferner viele Formen der Geiſteskrankheiten, 
find in befonderem Maße erblich und werden von den fiechen Eltern 
auf einen Theil Ihrer Kinder oder gar auf die ganze Nachkommen ⸗ 
haft übertragen. Je länger nun die kranken Eltern mit Hülfe der 
ärztlichen Kunſt ihre fieche Exiſtenz hinausziehen, defto zahlreichere 
Nachtommenſchaft kann von ihnen die unheilbaren Uebel erben, deito 
mehr Individuen werden dann auch wieder in ber folgenden Gene 
ration, Dank jener fünftlihen „medicinifchen Züchtung”, von 
ihren Eltern mit dem fchleihenden Erbübel angeftedt. 

Wenn Jemand den Vorſchlag wagen wollte, nad dem Bei 
fpiele der Spartaner und der Rothhäute die elenden und gebrechlichen 
Rinder, denen mit Sicherheit ein ſieches Leben prophezeit werden 
fan, glei nach der Geburt zu töbten, ftatt fie zu ihrem eigenen 
und zum Schaden der Gefammtheit am Leben zu erhalten, fo würde 
unfere fogenannte „humane Givilifation” in einen Schrei ber Ent- 
rüftung ausbrechen. Aber diefelbe „humane Civilifation” findet es 
gang in der Ordnung und fügt fih ohne Murren darein, daß bei 
jedem auöbrechenden Kriege Hunderte und Taufende ber beften jugend» 
traftigften Männer dem Hazardſpiel der Schlachten geopfert werden. 
Diefelbe „humane Eivilifation“ preift gegenwärtig die Abſchaffung 
der Todesſtrafe ald eine „liberale Maßregel“! Und doch ift die Todes⸗ 
ſtrafe für die große Menge der unverbefferlichen Verbrecher und Tauge- 
nichtſe nicht nur die gerechte Vergeltung, fondern auch eine große 
Wohlthat für den beiferen Theil der Menfchheit; diefelbe Wohlthat, 
welche für das Gebeihen eines wohl fultivirten Gartens die Aus- 
tottung des wuchernden Unkrauts iſt. Wie durch forgfältiges Aus- 
jäten des Unkraut? nur Licht, Luft und Bodenraum für die edlen 
Nutzpflanzen gewonnen wird, fo würde durch unnachfichtlihe Aus- 
rottung aller unverbeſſerlichen Verbrecher nicht allein dem befferen 


156 Gortfeheitt der Menſchheit durch natürliche Züchtung. 


Theile der Menfchheit der „Kampf um's Dafein“ erleichtert, fondern 
auch ein vortheilhafter kũnſtlicher Züchtungs-Progeß ausgeübt, indem 
jenem entarteten Auswurfe der Menfchheit die, Möglichkeit benommen 
würde, feine verberblichen Eigenſchaften durch Vererbung zu über- 
tragen. 

Gegen den verberblihen Einfluß der fünftlichen militärifhen 
und mebieinifchen Zirhtung finden wir glücklicher Weife ein heilfames 
Gegengewicht in dem überall waltenden und unüberwindlichen Ein- 
fluffe. der viel färkeren natürlihen Züchtung. Denn auch diefer 
ift überall im Menfchenleben, wie im Ihier« und Pflanzenleben, das 
wichtigſte umgeftaltende Prinzip und der fräftigfte Hebel des Fort ⸗ 
ſchritts und der Vervollfommnung. Der Kampf um's Dafein oder 
die Konkurrenz“ bringt es mit fih, daß im Großen und Ganzen der 
Veflere, weil der Bolltommmere, über den Schwächeren und Unvoll« 
tommneren fiegt. Im Menfchenleben aber wirb diefer Kampf um's 
Dafein immer mehr zu einem Kampfe des Geiftes werben, richt zu 
einem Kampfe der Mordivaffen. Dasjenige Organ, welches beim 
Menſchen vor allen anderen durch den veredeinden Einfluß der natür- 
lichen Zuchtwahl vervolltommmet wird, ift dad Gehirn. Der 
Menfh mit dem vollfommenften Berftande, nicht der Menfch mit 
dem beften Revofver, wird im Großen und Ganzen Sieger bleiben; 
er wird auf feine Nachkommen die Eigenfhaften des Gehirns, die 
ihm zum Sieg verholfen hatten, vererben. So dürfen wir denn 
mit Fug und Recht hoffen, daß trotz aller Anftrengungen der rüd- 
mwärt® firebenden Gewalten der Fortſchritt des Menſchengeſchlechts 
zur Freiheit, und dadurch zur möglichſten Vervollkommnung, unter 
dem ſegensreichen Einfluſſe der natürlichen Züchtung immer mehr 
und mehr zur Wahrheit werden wird. 


Achter Vortrag. 
Bererbung und Fortpflanzung. 





Allgemeinheit der Erblichteit und ber Vererbung. Auffallende befondere Aeuße ⸗ 
rungen berfelben. Menſchen mit vier, ſechs ober fieben Fingern und Zehen. 
Stachelſchweinmenſchen. Vererbung von Krankheiten, namentlich von Geiftesfrant- 
heiten. Grbfünde. Erbliche Monarchie. Erbadel. Erbliche Talente und Seelen- 
eigenſchaften. Materielle Urfachen der Vererbung. Zufammenhang ber Vererbung 
mit der Fortpflanzung. Urzengung und Fortpflanzung. Ungeſchlechtliche oder mo- 
nogene Fortpflanzung. Fortpflanzung durch Selbfitheilung. Moneren und Amoe- 
ben. Fortpflanzung durch Knospenbildung, durch Keimfnospenbildung und durch 
Keimgellenbildung. Geſchlechtliche oder amphigene Fortpflanzung. Zwitterbildung 
ober Hermapfrobitism. Geſchlechtstrennung oder Gonochorismus. Fungfräuliche 
Zeugung oder Parthenogenefis. Materielle Uebertragung der Eigenfchaften beider 
Stern auf das Kind bei der geſchlechtlichen Fortpflanzung. Unterſchied der Ber- 
erbung bei der geſchlechtlichen und bei der ungeſchlechtlichen Fortpflanzung. 


Meine Herren! Als die formbildende Naturkraft, welche die 
verfpiedenen Geftalten der Thier- und Pflanzenarten erzeugt, haben 
Sie in dem lepten Vortrage nah Darwin's Theorie die natür- 
liche Züch tung kennen gelernt. Wir verftanden unter diefem Aus- 
drud die allgemeine Wechſelwirkung, welche im Kampfe um das 
Dafein zwifchen der Erblichkeit und der VBeränderlichkeit der 
Drganiämen ftattfindet; zwiſchen zwei phyſiologiſchen Funktionen, 
welche allen Thieren und Pflanzen eigenthümlich find. und welde 
fh auf andere Lebensthätigkeiten, auf die Funftionen der Fort- 
pflanzung und Emährung zurüdführen laſſen. Alle die verfhiede- 


158 Erblichteit und Vererbung. 


nen Formen der Organismen, welche man gewöhnfich geneigt ift 
als Produkte einer zwedmaͤßig thätigen Schöpferfraft anzufehen, 
konnten wir nach jener Züchtungstheorie auffaffen als die nothwen- 
digen Produfte der zwedlos wirkenden natürlihen Züchtung, der 
unbewußten Wechfelwirtung zwifchen jenen beiden Eigenfchaften der 
Veränderlichkeit und der Erblichfeit. Bei der außerordentlichen Wich ⸗ 
tigfeit,, welche diefen Lebenseigenſchaften der Organismen demgemäß 
zukommt, müffen wir zunächft diefelben etwas näher in das Auge 
faffen, und wir wollen un® heute mit der Vererbung befchäftigen 
(Gen. Morph. II, 170— 191). 

Genau genommen müffen wir unterfeheiden zwiſchen der Erb⸗ 
lichkeit und der Vererbung. Die Erblichkeit ift die Bererbungs- 
kraft, die Fähigkeit der Organismen, ihre Eigenfchaften auf ihre 
Nachkommen durd die Fortpflanzung zu Übertragen. Die Berer- 
bung oder Herebität dagegen bezeichnet die wirkliche Ausübung diefer 
Fähigkeit, die thatfächlich fattfindende Uebertragung. 

Erblichteit und Vererbung find fo allgemeine, alltäglihe Er- 
ſcheinungen, daß die meiften Menfchen diefelben überhaupt nicht be» 
achten, und daß die wenigften geneigt find, befondere Reflerionen 
über den Werth und die Bedeutung diefer Qebenderfheinungen an- 
äuftellen. Man findet es allgemein ganz natürlich und felbftveritänd- 
Gi, daß jeder Organismus feine® Gleichen erzeugt, und daß die 
Kinder den Eltern im Ganzen wie im Einzelnen ähnlid find. Ger 
wöhnlih pflegt man die Erblichkeit nur in jenen Fällen hervorzu- 
beben und zu befprechen, wo fie eine bejondere Eigenthümlidkeit 
betrifft, die an einem menfhlihen Individuum, ohne ererbt zu fein, 
zum erften Male auftrat und von diefem auf feine Nachkommen 
übertragen wurde. In befonders auffallendem Grade zeigt fih fo 
die Bererbung bei beftimmten Krankheiten und bei ganz ungewöhn- 
lichen und unregelmäßigen (monftröfen) Abweichungen von ber ge- 
wöhnlichen Körperbildung. 

Unter diefen Fällen von Bererbung monftröfer Abänderungen 
find beſonders lehrreich diejenigen, welche eine abnorme Bermehrung 


Merſchen mit bier, ſeche ober ben Fingeru und Zehen. 159 


oder Verminderung der Funfzahl der menſchlichen Finger und Zehen 
betreffen. Es fommen nicht felten menfchlihe Familien vor, in de» 
nen mehrere Generationen hindurch ſechs Finger an jeder Hand ober 
ſechs Zehen an jedem Fuße beobachtet werben. Seltener find Bei- 
fpiele von Siebenzahl oder von Vierzahl der Finger und Zehen. 
Die ungewöhnliche Bildung geht immer zuerſt von einem einzigen 
Individuum aus, welches aus unbekannten Urſachen mit einem 
Ueberſchuß über die gemöhnliche Fünfzahl der Finger und Zehen ge⸗ 
boren wird und diefen durd Vererbung auf einen Theil feiner Nach- 
tommen überträgt. In einer und berfelben Familie kann man die 
Sechezahl der Finger und Zehen nun drei, vier und mehr Gene- 
rotionen hindurch verfolgen. In einer fpanifhen Familie waren 
nicht weniger als vierzig Individuen durch diefe Ueberzahl ausge⸗ 
zeichnet. In allen Fällen ift die Vererbung der fechften überzähligen 
Zehe oder des fechften Finger? nicht bleibend und durchgreifend, weil 
die ſechsfingerigen Menfchen ſich immer wieder mit fünffingerigen 
vermiſchen. Würde eine fechäfingerige Familie fih in reiner Inzucht 
fortpflangen, würden fechafingerige Männer immer nur fechöfingerige 
Frauen heirathen, fo würde durch fFirirung dieſes Charakters eine 
beſondere fechäfingerige Menſchenart entftehen. Da aber die ſechs⸗ 
Äingerigen Männer immer fünffingerige. Frauen heirathen, und um- 
gelehrt, fo zeigt ihre Rachtommenfchaft meiften® fehr gemifchte Zah- 
tenverhältniffe und fchlägt ſchließlich nach Verlauf einiger Generatio- 
nen wieder in die normale Fünfzahl zurück. So können z. B. von 
8 Kindern eines fechfingerigen Vaters und einer fünffingerigen Mut- 
ter 2 Kinder an allen Händen und Füßen 6 Finger und 6 Zehen 
haben, 4 Kinder gemifchte Zahlenverhälmiffe und 2 Kinder überall 
die gewöhnliche Fünfzahl. In einer fpanifchen Familie hatten ſämmt ⸗ 
liche Kinder bis auf das Jüngfte an Händen und Füßen die Sechs ⸗ 
zahl; nur daB Jüngſte batte überall fünf Finger und Zehen, und 
der fehäfingerige Vater des Kindes wollte dieſes leßte daher nicht 
als das feinige anerkennen. 

Sehr auffallend zeigt ſich ferner die Vererbungskraft in der Bil- 


160 Vererbung bei Stachelſchweinmenſchen mit mouftröfer Hunt. 

dung und Färbung der menſchlichen Haut und Haare. Es ift alle: 
tannt, wie genau in vielen menſchlichen Familien eine eigenthümliche 
Beſchaffenheit des Hautſyſtems, 3. B. eine beſonders weiche oder fpröde 
Haut, eine befondere Ueppigkeit des Haarwuchſes, eine befondere 
Farbe und Größe der Augen u. ſ. w. viele Generationen hindurch 
forterbt. Ebenfo werden befondere lokale Auswüchfe und Flecke der 
Haut, fogenannte Muttermale, Leberflede und aridere Bigmentan- 
bäufungen, die an beftimmten Stellen vortommen,, gar nicht felten 
mehrere Generationen hindurch fo genau vererbt, daß fie bei den 
Nachkommen an denfelben Stellen ſich zeigen, an denen fie bei den 
Eitern vorhanden waren. . Befonderd berühmt geworden find bie 
Stachelſchweinmenſchen aus der Familie Lambert, welche im vorigen 
Jahrhundert in London lebte. Edward Lambert, der 1717 geboren 
wurde, zeichnete ſich durch eine ganz ungewöhnliche und monftröje 
Bildung der Haut aus. Der ganze Körper war mit einer zofldiden 
hornartigen Krufte bebedt, welche fih in Form zahlreicher ſtachel⸗ 
förmiger und fehuppenförmiger Kortfäge (bis über einen Zoll lang) 
erhob. Diefe monftröfe Bildung der Oberhaut oder Epidermis ver- 
erbte Lambert auf feine Söhne und Enfel, aber nicht auf die Entelin- 
nen. Die Uebertragung blieb alfo hier in der männlichen Linie, wie 
es auch fonft oft der Fall ift. Ebenfo vererbt ſich übermäßige Fett- 
entwidelung an gewiflen Körperftellen oft nur innerhalb der weib- 
lichen Linie. Wie genau fih die charakteriſtiſche Gefihtsbildung erb- 
lich überträgt, braucht wohl kaum erinnert zu werben, bafd bleibt 
diefelbe innerhalb der männlichen, bald innerhalb der weiblichen Linie; 
bald vermiſcht fie ſich im beiden Linien. 

Sehr lehrreich und allbefannt find ferner die Bererbungserfcei- 
nungen pathologifcher Zuftände, beſonders der menfchlichen Krankbeit · 
formen. Es find insbeſondere bekanntlich Krankheiten der Athmungi ⸗ 
organe, der Drüfen und des Nervenſyſtems, welche ſich ſehr leict 
erblich übertragen. Sehr häufig tritt plöpfich in einer ſonſt gefunden 
Familie eine derfelben bisher unbefannte Erkrankung auf, fie wird 
erroorben durd äußere Urfachen, durch krankmachende Lebenabedin- 


Materielle Vererbung geiftiger Eigenſchaften. 161 


gungen. Diefe Krankheit, welche bei einem einzelnen Individuum 
durch äußere Urfachen bewirkt wurde, pflangt ſich von letzterem auf feine 
Nachtommen fort, und diefe haben nun alle oder zum Theil an der- 
ſelben Krankheit zu leiden. Bei Lungenkrankheiten, 3. B. Schwind⸗ 
ſucht, iſt das traurige Verhältniß der Erblichkeit allbekannt, ebenſo 
bei deberkrankheiten, bei Syphilis, bei Geiſteskrankheiten. Dieſe let⸗ 
teren find von ganz beſonderem Intereſſe. Ebenſo mie beſondere 
Charakterzũge des Menſchen, Stolz, Ehrgeiz, Leichtfinn u. ſ. w. ſtreng 
durch Die Vererbung auf die Nachkommenſchaft übertragen werben, 
fo gilt da® auch von den befonderen, abnormen Aeußerungen der 
Seelenthätigkeit, welche man als fire Ideen, Schwermuth, Blödfinn 
und überhaupt als Geiſteskrankheiten bezeichnet. Es zeigt ſich hier 
deutlich und unwiderleglich, daß die Seele des Menfchen, ebenfo 
wie die Seele der Thiere, eine rein mechanifche Thätigfeit, eine 
Summe von molekularen Bewegungseriheinungen der Gehirntheil- 
den ift, und daß fie mit ihrem Subftrate, ebenfo wie jede andere 
Körpereigenfchaft, durch die Fortpflanzung materiell übertragen, d. h. 
vererbt wird. 

Diefe äußert wichtige und unleugbare Thatfache erregt, wenn 
man fie ausſpricht, gewöhnlich großes Aergerniß, und doch wird fie 
eigentlich ſtillſchweigend allgemein anerfannt. Denn worauf beruhen 
die Borftellungen von der „Erbfünde“, der „Erbweisheit“, dem „Erb- 
adel” u.f.w. anders, ala auf der Ueberzeugung, daß die menfchliche 
Geiſtesbeſchaffenheit durch die Fortpflanzung — alfo durch 
einen rein materiellen Vorgang! — körperlich von den Eltern 
auf bie Nachtommen übertragen wird ? — Die Anerkennung diefer gro⸗ 
Ben Bedeutung der Erblichfeit äußert fi in einer Menge von menſch⸗ 
lichen Einrichtungen, wie z. B. in der Rafteneintheilung vieler Böl- 
fer in Rriegerfaften, ‘Priefterlaften, Arbeiterfaften u. |. w. Offenbar 
beruht urſprünglich die Einrichtung folcher Kaften auf der Borftel- 
lung von der hohen Wichtigkeit erblicher Vorzüge, welche gewiſſen 
damilien beiwohnten, und won denen man vorausfepte, daß fie im⸗ 


mer wieder von den Eltern auf die Nachkommen übertragen werden 
Huedel, Ratürl. Schopfungegeih. 5. Aufl. 1 


162 Materiölie Vererbung geiftifer Eigenfchaften. 


würden. Die Einrihtung des erblichen Adels und der erblichen Mo- 
narchie ift auf die Borftellung einer ſolchen Vererbung befonderer 
Tugenden zurüdzuführen. Allerdings find es leider nicht nur die 
Tugenden, fondern auch die Laſter, welche durch Vererbung übertra- 
gen und gehäuft werden, und wenn Sie in der Weltgefchichte die 
verſchiedenen Individuen der einzelnen Dynaftien vergleichen, fo wer« 
den Sie zwar überall eine große Anzahl von Beweifen für die Erb- 
lichkeit auffinden können, aber weniger für die Erblichkeit der Tu- 
genden, ala der entgegengefegten Eigenfchaften. Denken Sie z. B. 
nur an die römifchen Kaifer, an die Julier und die Claudier, oder 
an die Bourbonen in Franfreih, Spanien und Italien! 

In der That dürfte faum irgendwo eine folhe Fülle von fchla- 
genden Beifpielen für die merfwürbige Dererbung der feinften för 
perlihen und geiftigen Züge gefunden werden, als in der Gefchichte 
der vegierenden Häufer in den erblichen Monarchien. Ganz befon- 
ders gilt dies mit Bezug auf die vorher erwähnten Geiftesfranfheir 
ten. Gerade in regierenden Familien find Geifteöfranfheiten in un ⸗ 
geröhnlihem Maße erblih. Schon der berühmte Irrenarzt Es⸗ 
quirof wies nad, daß die Zahl der Geiſteskranken in den regierenden 
Häufern zu ihrer Anzahl in der gewöhnlichen Bevölterung ſich ver- 
hält, wie 60 zu 1, d. b. daß Geiſteskrankheit in den bevorzugten 
Familien der regierenden Häufer fechzig mal fo häufig vorkommt, 
als in der gewöhnlichen Menfchheit. Würde eine gleiche genaue Sta- 
tiftit auch für den erblichen Adel durchgeführt, fo dürfte fich leicht 
berauöftellen,, daß auch diefer ein ungleich größeres Kontingent von 
Geiſteskranken ftellt, als die gemeine, nichtadelige Menfchheit. Tiefe 
Erfpeinung wird uns faum mehr wundern, wenn wir bedenfen, 
welchen Nachtheil fich dieſe privilegirten Kaften felbft durch ihre um- 
natürliche einfeitige Erziehung und durd ihre fünftlihe Abfperrung 
von der übrigen Menſchheit zufügen. Es werben dadurch mandhe 
dunkle Schattenfeiten der menſchlichen Natur befonders enttwidelt, 
gleichſam fünftlich gegüchtet,, und pilangen fi nun nah den Ber- 


Materielle Vererbung geifiger Eigenſchaſten. 163 


erbungögefegen mit immer verftärfter Kraft und Einfeitigkeit durch 
die Reihe der Generationen fort. 

Bie ſich in der Generationsfolge mancher Dynaftien die edle 
Vorliebe für Wiſſenſchaft und Kunft durch viele Generationen erblich 

‚ Überträgt und erhält, wie dagegen in vielen anderen Dymaftien Jahr: 
hunderte hindurch eine befondere Neigung für das Kriegahandwert, 
für Unterdrüdung der menſchlichen Freiheit und für andere rohe Ge 
wolttbätigkeiten vererbt wird, ift aus der Völlergeſchichte Ihnen hin- 
reichend bekannt. Ebenſo vererben fih in manchen Familien viele 
Generationen hindurch ganz beftimmte Fähigkeiten für einzelne Geifted- 
thätigkeiten, 3.8. Dichtkunſt, Tonkunft, bildende Kunft, Mathematik, 
Raturforſchung, Philofophie u. ſ. w. In der Familie Bach hat es 
nit weniger als zweiundzwanzig hervorragende mufitafifche Talente 
gegeben. Natürlich beruht die Vererbung folcher Geiftedeigenthümlich- 
feiten, wie die Vererbung der Geifteseigenfchaften überhaupt, auf dem 
materiellen Borgang der Zeugung. Auch bier ift die Lebenserſchei⸗ 
nung, die Kraftäußerung, unmittelbar (wie überall in der Natur) 
verbunden mit beftimmten Mifhungsverhältniifen des Stoffes. Die- 
Rifhung und Molekularbewegung des Stoffes ift es, melde bei 
der Zeugung übertragen wird. 

Bevor wir nun die verſchiedenen und zum Theil fehr interef« 
fanten und bedeutenden Gefepe der Vererbung näher unterfuchen, wol⸗ 
len wir über die eigentliche Natur dieſes Vorganges und verftändi« 
gen. Man pflegt vielfach die Erblichkeitserſcheinungen als etwas 
ganz Näthfelhaftes anzufehen, als eigenthümliche Borgänge, welche 
durd) die Naturwiffenfchaft nicht ergründet, in ihren Urfadhen und 
eigentlichen Wefen nicht erfaßt werden könnten. Man pflegt gerade 
bier fehr allgemein übernatürlihe Einwirkungen anzunehmen. Es läßt 
fi aber ſchon jept, bei dem heutigen Zuftande der Phyfiologie, mit 
bolltommener Sicherheit nachweiſen, daß alle Erblichkeitserſcheinungen 
durchaus natürliche Vorgänge find, daß fie durch mechaniſche Urfar 
hen bewirkt werden, und daß fie auf materiellen Bewegungserfcheie 
nungen im Körper der Organismen beruben, welche wir als Theil» 

11* 


164 Zuſammenhang der Bererbung mit der Fortpflanzung. 


erfeinungen der Fortpflanzung betrachten fönnen. Alle Exblich- 
feitderfheinungen und Vererbungsgeſetze laſſen fi) auf die materiel- 
len Borgänge der Fortpflanzung zurüdführen. 

Jeder einzelne Organismus, jedes lebendige Individuum ver- 
dantt fein Dafein entweder einem Akte der elternlofen Zeugung 
oder Urzeug ung (Generatio spontanea, Archigonia), oder einem 
Akte der elterlichen Zeugung oder Fortpflanzung (Generatio 
parentalis, Tocogonia). Auf die Urgeugung oder Archigonie, durch 
welche bloß Organismen der allereinfachften Art, Moneren, entftehen 
tönnen, werden wir in einem fpäteren Bortrage zurüdtommen. Sept 
haben wir und nur mit der Fortpflanzung ober Tocogonie zu befchäf- 
tigen, deren nähere Betrachtung für das Verftändniß der Vererbung 
von ber größten Wichtigkeit ift. Die Meiften von Ihnen werben von 
den Fortpflangungserfheinungen wahrſcheinlich nur diejenigen tennen, 
welche Sie allgemein bei den höheren Pflanzen und Thieren beob- 
achten, die Vorgänge der geſchlechtlichen Fortpflanzung oder der Am ⸗ 
phigonie. Viel weniger allgemein betannt find die Vorgänge der 
ungeſchlechtlichen Fortpflanzung oder der Monogonie. Gerade diefe 
find aber bei weitem mehr ald die vorhergehenden geeignet, ein er- 
Märendes Licht auf die Natur der mit der Fortpflanzung zufammen- 
hängenden Bererbung zu werfen. 

Aus diefem Grunde erfudhe ih Sie, jept zunächft bloß die Er ⸗ 
ſcheinungen der ungef&hlehtlihen ober monogonen Fort» 
pflanzung (Monogonia) in das Auge zu fallen. Diefe tritt in 
mannichfach verfchiedener Form auf, als Selbfttheilung, Rnospen- 
bildung und Keimzellen⸗ oder Sporenbildung (Gen. Morph. II, 36 
— 58). Am lehrreichften ift e8 hier, zunächft die Fortpflanzung bei 
den einfachften Organismen zu betrachten, welche wir fennen, und 
auf welche wir fpäter bei der Frage von der Ueugung zurückom ⸗ 
men müffen. Diefe allereinfachften uns bis jept befannten, und zu» 
gleich die denkbar einfachſten Organismen find die wafferbemohnen« 
den Moneren: fehr Meine lebendige Körperchen, welche eigentlich 
fireng genommen den Namen de3 Organismus gar nicht verdienen. 





Organismen ohne Organe. Moneren. 165 


Denn die Bezeihnung „Organismus“ für die lebenden Weſen be 
ruht auf der Vorſtellung, daß jeder befebte Naturkörper aus Drga- 
nen zufammengefept ift, aus verfhiedenartigen Theilen, die als Werk⸗ 
zeuge, ähnlich den verſchiedenen Theilen einer künſtlichen Maſchine, 
in einander greifen und zuſammenwirken, um die Thätigfeit des 
Ganzen hervorzubringen. Run haben wir aber in den Moneren 
während der legten Jahre Organismen kennen gelernt, welche in 
der That nicht aus Organen zufammengefegt find, fondern ganz und 
gar aus einer firufturlofen, einfachen, gleichartigen Materie beftehen. 
Der ganze Körper diefer Moneren ift zeitleben® weiter Nichts, als 
ein formloſes bewegliches Schleimklümpchen, das aus einer einfeiß- 
artigen Kohlenftoffverbindung befteht. Einfachere, unvolltommnere 
Organismen find gar nicht denkbar 15), 

Die erften vollftändigen Beobachtungen über die Naturgefchichte 
eined Moneres (Protogenes primordialis) habe ich 1864 bei Nizza 
angeftellt. Andere fehr merkwürdige Moneren habe ich fpäter (1866) 
auf der canarifhen Infel Lanzarote und (1867) an der Meerenge 
von Gibraltar beobachtet. Die vollftändige Lebensgeſchichte eines 
diefer canarifchen Moneren, der orangerothen Protomyxa auran- 
tiaca, ift auf Tafel I (©. 167) dargeftellt und in deren Erflärung 
beſchrieben (im Anhang, ©. 664). Auch in der Nordſee, an der 
norwegifchen Küfte bei Bergen, habe ich (1869) einige eigenthümliche 
Moneren aufgefunden. Ein intereffantes Moner des fügen Waſſers 
hat Gientowati (1865) unter dem Namen Vampyrella befchrie- 
ben. Das merfwürdigfte aber vielleicht von allen Moneren hat 
(1868) der berühmte englifhe Zoolog Huxley entdedt und Bathy- 
bius Haeckelii genannt. „Bathybius“ heißt: In der Tiefe lebend. 
Diefer wunderbare Organismus lebt nämlich in den ungeheuren Ab⸗ 
gründen des Meeres, welche und im legten Jahrzehnt durch die 
mũhevollen Unterfuhungen der Engländer befannt gemorden find, 
und welche über 12,000, ja an manchen Stellen über 24,000 Fuß 
Tiefe erreichen. Hier findet fih zwifchen den zahlreichen Polythala- 
mien und Radiolarien, die den feinen kreideartigen Schlamm diefer 


166 Formen und Lebenserfceinungen der Moneren. 


Abgründe bevöftern, auch maffenhaft der Bathybius vor, theils in 
Geſtalt rundlicher oder formlofer Schleimklunipen, theil® in Form 
von mafchigen Schleimnepen, welche Steintrümmer und andere Ge⸗ 
genftände überziehen (Fig. 9, ©. 379. Dft find Meine Kalt- Kör- 
perchen ( Diskolithen, Eyatholithen x.) in diefe ſchleimigen Gallert- 
maffen eingebettet, wahrſcheinlich Ausſcheidungsprodukte der lehte⸗ 
ten. Der ganze Körper des merfwürdigen Bathybius befteht, gleich 
dem der anderen Moneren, einzig und allein aus ftrufturlofem 
Plasma oder Protoplaama, d. h. aus derfelben eimeihar- 
tigen Koblenftoff- Verbindung, welde in unendlich vielen 
Mobififationen als der wefentlichfte und nie fehlende Träger der 
Lebenserſcheinungen in allen Organismen ſich findet. Eine aus⸗ 
führliche Beſchteibung und Abbildung des Bathybius und der übri- 
gen Moneren habe ih 1870 in meiner „Monographie der Mone- 
en“ gegeben, aus ber auch Tafel I copirt ift 1°). 

Im Ruhezuftande erfheinen die meiften Moneren als Meine 
Schleimkügelchen, für das unbewaffnete Auge nicht fihtbar oder eben 
fihtbar, hochſtens von der Große eines Stecknadelkopfes. Wenn 
das Moner fich bewegt, bilden fih am der Oberfläche der einen 
Schleimkugel formlofe fingerartige Fortfäpe oder fehr feine ſtrahlende 
Fäden, fogenannte Scheinfüße oder Pfeudopodien. Diefe Schein ⸗ 
füße find einfache, unmittelbare Fortfepungen der firufturlofen eiweiß · 
artigen Maſſe, aus ber der ganze Körper befteht. Wir find nicht 
im Stande, verjehiebenartige Theile in demfelben wahrzunehmen, 
und wir können den direkten Beweis für die abfolute Einfachheit 
der feftflüffigen Eiweißmaſſe dadurch führen, dag wir die Rahrungs- 
aufnahme der Moneren unter dem Mifrosfope verfolgen. Benn 
tleine Korperchen, die zur Ernährung berfelben tauglich find. 5. ®. 
tleine Theilchen von zerftörten organifhen Körpem, oder mikroſto⸗ 
pifhe Pflaͤnzchen und Infuſionsthierchen, zufällig in Berührung mit 
den Moneren fommen, fo bleiben fie an der Mebrigen Oberfläche 
des feftflüffigen Schleimklümphens hängen, erzeugen hier einen Reiz. 
welcher ftärteren Zufluß der ſchleimigen Rörpermaffe zur Folge hat, 





Fortpflanzung ber Moneren durch Selbſttheilung. 167 


und werben endlich ganz von diefer mmichlofien; oder fie werben 
durch Berfchiebungen der einzelnen Eimeißtheilhen des Monerenkör- 
pers in diefen hineingegogen und dort verbaut, durch einfache Diffu- 
fion (Endosmofe) ausgezogen. 

Ebenfo einfach wie die Emährung, ift die Fortpflanzung 
diefer Urweſen, die man eigentlich weder Thiere noch Pflanzen nen⸗ 
nen ann. Alle Moneren pflanzen ſich nur auf dem ungefchlecht- 
lihen Wege fort, durch Monogonie; und zwar im einfachften Falle 
durch diejenige Art der Monogonie, welche wir an die Spipe der ver« 
ſchiedenen Fortpflanzungsformen ftellen, durch Selbfttheilung. Wenn 
ein foldjes Klümpchen, z. B. eine Protamoeba oder ein Protoge- 
nes, eine gewiffe Größe durch Aufnahme fremder Eiweigmaterie er- 
halten hat, fo zerfällt es in zwei Stüde, es bildet ſich eine Ein- 
ſchnũrung, welche ringförmig herumgeht, und ſchließlich zur Trennung 
der beiden Hälften führt. (Bergl. Fig. 1.) Jede Hälfte rundet ſich 





Fig. 1. Fortpflanzung eines einfachften Organismus, eines Moneres, durch 
Selbſttheilung. 4. Das ganze Moner, eine Protamoebs. 3. Diefelbe zerfällt 
durch eine mittlere Einf nürung in zwei Hälften. C. Jede der beiden Hälften hat 
fi von der andern getrennt und ſtellt nun ein felbfiftändiges Individuum bar. 
alabald ab und erſcheint nun als ein felbftftändiges Individuum, 
welches das einfache Spiel der Lebenserſcheinungen, Ernährung und 
Fortpflanzung, von Neuem beginnt. Bei anderen Moneren (Vam- 
pyrella) zerfällt der Körper bei der Fortpflanzung nicht in zwei, 
fondern in vier gleiche Stüde, und bei noch anderen (Protomonas, 
Protomyxa, Myxastrum) fogleih in eine große Anzahl von Hei» 
nen Schleimkügelchen, deren jedes durch einfaches Wachsthum dem 


168 Ungefehledkliche ortpflangung der orgenifdien Zeilen. 

elterlichen Körper wieber gleich wird (Tafel D. Es zeigt fih bier 
deutfih, daß der Borgang der Fortpflanzung weiter Nichts 
ift, als ein Wachſthum des Organismus über fein indi— 
viduelles Map hinaus. 

Die einfache Fortpflanzungsweiſe der Moneren durch Selbft- 
theilung ift eigentlich die allgemeinfte und weiteft verbreitete von al⸗ 
lem verſchiedenen Fortpflanzungsarten; denn durch denfelben einfachen 
Prozeß der Theilung pflanzen fih auch die Zellen fort, diejenigen 
einfachen organiſchen Individuen, welche in fehr großer Zahl den 
Körper der allermeiften Organismen, ben menſchlichen Körper nicht 
ausgenommen, zufammenfegen. Abgefehen von den Organismen 
niederſten Ranges, welche noch nicht einmal den Formwerth einer 
Zelle haben (Moneren), oder zeitlebens eine einfache Zelle darſtellen 
(viele Protiften und einzellige Pflanzen) ift der Körper jedes orga- 
nifhen Individuums aus einer großen Anzahl von Zellen zufam- 
mengefept. Jede organifhe Zelle ift bis zu einem gewillen Grade 
ein felbftftändiger Organismus, ein fogenannter „Elementarorganid- 
mus“ oder ein „Individuum erfter Ordnung“. Jeder höhere Orga- 
nismus ift gewiffermaßen eing Geſellſchaft oder ein Staat von fol- 
chen vielgeftaltigen, durch Arbeitstheilung mannichfaltig ausgebilde · 
ten Elementarindividuen®°). Urſprünglich iſt jede organiſche Zelle 
auch nur ein einfaches Schleimklümpchen, gleih einem Moner, je- 
doch von diefem dadurch verfchieden, daß die gleichartige Eimeiß- 
maffe in zwei verſchiedene Beftandtheile ſich gefondert hat: ein in- 
neres, feſteres Eimeißförperhen, den Zelfentern (Nucleus), und 
einen äußeren, weicheren Eimeißförper, den Zellftoff (Protoplasma). 
Außerdem bilden viele Zellen fpäterbin noch einen dritten (jedod 
häufig fehlenden) Formbeſtandtheil, indem fie ſich einfapfeln, eine 
äußere Hülle oder Zellhbaut (Membrana) ausfchwipen. Alle übri- 
gen Formbeftandtheile, die ſonſt noch an den Zellen vorfommen, 
find von untergeofdneter Bedeutung und intereffiren und bier wei ⸗ 
ter nicht. 

Urſprunglich ift auch jeder mehrjellige Organismus eine ein« 


hebensieschtchte eines sinzachsten Organismus Val 








Pretommsa aurautiaee 


Fortpflanzung der einzelligen Amoeben durch Teilung. 169 


fache Zelle, und er wird dadurch mehrellig, daß jene Zelle ſich 
durch Theilung fortpflanzt, und daß die fo entftehenden neuen Zellen- 
indivibuen beifammen bfeiben und durch Arbeitstheilung eine Ge- 
meinde oder einen Staat bilden. Die Formen und Lebenderfcheis 
mungen aller mehrjelligen Organismen find febiglih die Wirkung 
oder der Ausdruck der gefammten Formen und Lebenderfheinungen 
aller einzelnen fie zufammenfegenden Zellen. Das Ei, aus welchem 
ſich die meiften Thiere und Pflanzen entwideln, ift eine einfache Zelle. 

Die einzelligen Organismen, d. h. diejenigen, welche zeitlebens 
den Formwerth einer einzigen Zelle beibehalten, z. ®. die Amoe- 
ben (Fig. 2), pflanzen fih in der Regel auf die einfachfte Weife 





Big. 2. Fortpflanzung eines einzelligen Organismus, einer Amoeba sphae- 
roeoceus, durch Selbftheilung. 4A. Die eingelapfelte Amoeba, eine einfache kuge- 
Tige Zelle, beftchend aus einem Protoplasmallumpen fe), welcher einen Kern (6) 
und ein Kernförperien (a) einſchließt, und von einer Zellhaut ober Rapfel umge» 
ben iſt. 2. Die freie Amoeba, weiche bie Cyſte ober Zellhaut gefprengt und ver- 
Iaffen hat. ©. Diefelbe beginnt ſich zu teilen, indem ihr Kern in zwei Kerne zer⸗ 
fält und der Zellſtoff zwiſchen beiden fich einſchnurt. D. Die Teilung if vollen- 
det, indem auch der Zellftoff vollftändig in zwei Hälften zerfallen ift (Da und DB). 
durch Theilung fort. Diefer Prozeß unterfcheidet fih von der vor- 
ber bei den Moneren befchriebenen Selbfttheilung nur dadurd, daß 
zunãchſt der feftere Zellfern (Nucleus) durch Einfhnürung in zwei 
Hälften zerfällt. Die beiden jungen Kerne entfernen ſich von"ein- 
ander und wirken nun wie zwei verfhiedene Anziehungsmittelpuntte 
auf die umgebende weichere Eiweißmaffe, den Zellſtoff (Protoplasma). 
Dadurch zerfällt ſchließlich auch dieſer in zwei Hälften, und es find 
nun zwei neue Zellen vorhanden, welde der Mutterzelle gleich find. 
Bar die Zelle von einer Membran umgeben, fo theilt ſich dieſe ent» 


170 Beginnende Entwidelung des Säugeihier- ieh. 


weder nicht, wie bei ber Eifurchung (fig. 3, 4), ober fie folgt paf- 
fio der aftiven Einfhnürung des Protoplaama, oder es wird von 
jeder jungen Zelle eine neue Haut ausgeſchwitzt. 

Ganz ebenfo wie die felbftftändigen einzelligen Organiömen, 
z. B. Amobea (Fig. 2) pflanzen fih nun auch die unfelbftftändigen 
Zellen fort, welhe in Gemeinden ober Staaten vereinigt bleiben 
und fo den Körper ber höheren Organismen zufammenfegen. Ebenfo 
vermehrt fih auch durch einfache Theilung die Zelle, mit welcher 
die meiſten Thiere und Pflanzen ihre individuelle Eyiftenz beginnen, 
nämlih das Ei. Wenn fih aus einem Ei ein Thier, z. B. ein 
Säugetbhier (Fig. 3, 4) entwidelt, fo beginnt diefer Entwwidelungs- 

Fig. 3. Ei eines Saugethieres (eine einfache 
Zelle). a Kerntörperdjen oder Nucleolus (fogenann- 
ter KXeimfledt des Cies); 5 Kern ober Nucleus (je 
genanntes Keimbläschen des Cie); ⸗ Zellſteff oder 
Protoplasma (fogenannter Dotter bes Cies); d Zell- 
Haut oder Membrana (Dotterhaut) des Eies, beim 
Säugethier wegen ihrer Durdjfichtigleit Membrane 
pellueida genannt. . 












Big. 4. Erſter Beginn der Enttidelung des Säugethiereieß, fogenannte „Ci- 
furchung (Fortpflanzung der Eizelle durch wiederholte Selbfttheilung). Fig. 44. 
Das Ci zerfällt durch Bildung ber erſten Furche in zwei Zellen. fig. 43. Diefe 
zerfallen durch Halbirung in 4 Zellen. ig. 4C. Diefe letzteren find in 8 Zellen 
zerfallen. ig. 4D. Durch fortgefette Teilung ift ein kugeliger Haufen von 
zahlreichen Zellen entflanden. 


prozeß ftet? damit, daß die einfache Eizelle (Fig. 3) durch fortgefegte 
Selbſttheilung einen Zellenhaufen bildet (Fig. 4). Die äußere Hülle 
ober Zellhaut des fugeligen Eies bleibt ungetheilt. Zuerft zerfällt 
der Jellenkern des Eies (dad fogenannte Keimbläsden) durch Selbft- 


Ungeſchlechtliche Fortpflanzung durch Selbfttheilung. 171 
theilung in zwei Kerne, dann folgt der Zellſtoff (der Dotter des 
Eies) nach (Fig. 4A). In gleicher Weiſe zerfallen durch die fortge⸗ 
fepte Selbfttheilung die zwei Zellen in vier (fig. AB), diefe in acht 
(Big. 40), in ſechzehn, zweiunddreißig u. |. w. und es entfteht ſchließ ⸗ 
li ein kugeliger Haufe von fehr zahlreichen Heinen Zellen (Fig. 4D). 
Diefe bauen nun durch weitere Vermehrung und ungleihartige Aus⸗ 
bifdung (Arbeitötheilung) allmählich den zufammengefeßten mehrzel- 
figen Organismus auf. Jeder von und hat im Beginne feiner in 
dividuellen Entwidelung denfelben, in Fig. 4 dargeftellten Prozeß 
durchgemacht. Das in Fig. 3 abgebildete Säugethierei und die in 
Fig. 4 dargeftellte Entwidelung deſſelben önnte eben fo gut vom 
Menſchen, ald vom Affen, vom Hunde, vom Pferde oder von irgend 
einem anderen placentalen Säugethier herrühren. 

Wenn Sie nun zunächft nur diefe einfachfte Form der Fort⸗ 
pflanzung, die Selbfttheilung, betrachten, fo werben Sie es gewiß 
nicht wunderbar finden, daß die Theilungsprodukte des urfprünglichen 
Organismus diefelben Eigenſchaften befipen, wie das elterliche In- 
dividuum. Sie find ja Theilhälften deö efterlihen Organismus, 
und da die Materie, der Stoff, in beiden Hälften derfelbe ift, da 
die beiden jungen Individuen gleich viel und gleich befchaffene Ma- 
terie von bem elterlichen Individuum überfommen haben, fo finden 
Cie es gewiß natürlich, daß auch die Lebenderfcheinungen, die phy⸗ 
fiologifchen Eigenfhaften, in den beiden Kindern diefelben find. In 
der That find im jeder Beziehung, ſowohl Hinfichtlid ihrer Form 
und ihres Stoffes, als hinfihtlid ihrer Lebenserfheinungen, die 
beiden Tochterzellen nicht von einander und von ber Mutterzelle zu 
unterfceiden. Sie haben von ihr die gleiche Natur geerbt. 

Nun findet fi aber diefelbe einfache Fortpflanzung durch Thei- 
fung nicht bloß bei ben einfachen Zellen, fondern auch bei höher fte- 
henden mehrzelligen Organismen, 3. ®. bei ben Korallenthieren. Viele 
derfelben,, welche ſchon einen höheren Grab von Zufammenfegung 
und Organifation zeigen, pflanzen ſich dennod einfach burch Thei- 
tung fort. Hier zerfällt der ganze Organismus mit allen feinen Dr- 


172 Ungeſchlechtliche Fortpflänzung durch Luospenbilbung. 


ganen in zwei gleiche Hälften, ſobald er durch Wachsthum ein ge 
wiſſes Maß der Größe erreicht hat. Jede Hälfte ergänzt ſich als⸗ 
bald wieber durch Wahsthum zu einem vollftändigen Individuum. 
Auch bier finden Sie es gewiß ſelbſtwerſtaͤndlich, daß die beiden 
Theilungsprodukte die Eigenſchaften des elterlichen Organismus thei« 
len, da fie ja felbft Subſtanzhälften defielben find. 

An die Fortpflanzung durd) Tpeilung fließt fich zumächt die 
Fortpflanzung durh Anospenbildung an. Diefe Art der Ro 
nogonie ift außerordentlich weit verbreitet. Sie findet fi) fomohl 
bei den einfachen Zellen (obwohl feltener), ald auch bei den aud 
vielen Zellen zufammengefeten höheren Organismen. Ganz allge- 
mein verbreitet ift Die Knoapenbildung im Pflanzenteich, feltener im 
Thierreih. Jedoch kommt fie aud) hier in dem Stamme der Pflan⸗ 
zenthiere, insbeſondere bei ben Korallen und bei einem großen Theile 
der Hydromeduſen fehr häufig vor, ferner auch bei einem Theile 
der Würmer (Plattwürmern, Ringelmürmern, Moosthieren und Man- 
teithieren). Die meiften verzweigten Thierftöde, welche auch äufer- 
lich den verzweigten Pflangenftöden fo ähnlich find, entftehen gleich 
diefen durch Knospenbildung. 

Die Fortpflanzung durch Knospenbildung (Gemmatio) unter- 
ſcheidet fi von der Fortpflanzung durch Theilung weſentlich da- 
dur, daß die beiden durch Anospung neu erzeugten Organiömen 
nicht von gleihem Alter, und daher anfänglich) auch nicht von gleis 
chem Werthe find, wie e8 bei der Theilung der Fall ift. Bei der 
fepteren können wir offenbar feines der beiden neu erzeugten Indie 
viduen ald das elterlihe, ald das erzeugenbe anfehen, weil beide 
ja gleihen Antheil an der Zufammenfegung des urfprünglicen, el⸗ 
terlihen Individuums haben. Wenn dagegen ein Organismus eine 
Knospe treibt, fo ift die Ieptere das Kind des erfteren. Beide In 
dividuen find von ungleihem Alter und daher zunächft auch von 
ungleiher Größe und ungleihem Formwerth. Wenn ;. B. eine 
Zelle durch Anoapenbildung ſich fortpflangt, fo ſehen wir nicht, daß 
die Zelle in zwei gleiche Hälften zerfällt, fondern es bilder ſich an 


ungeſchlechtliche Fortpflanzung durch Kmotpenbilbung. 173 


einer Stelle eine Hervorragung, welche größer und größer wird, 
und welche ſich mehr oder weniger von der elterlichen Zelle abfon- 
dert und nun felbftftändig waͤchſt. Ebenſo bemerken wir bei der 
Rnospenbildung einer Pflanze ober eines Thiered, dag an einer 
Stelle des ausgebildeten Individuums eine leine lokale Wucherung 
entfteht, welche größer und größer wird, und ebenfall® durch felbft- 
ſtaͤndiges Wachsthum fi) mehr oder weniger von dem elterlichen 
Organismus abfondert. Die Knospe kann fpäter, nachdem fie eine 
gewiſſe Größe erlangt hat, entweder vollfommen von dem Eltern- 
individuum fih ablöfen, oder fie kann mit biefem im Zufammen- 
bang bfeiben und einen Stod bilden, dabei aber doch ganz felbft- 
ftändig weiter leben. Während das Wachsthum, welches die Fort- 
pflanzung einleitet, bei der Theilung ein totales ift und den ganzen 
Körper betrifft, ift daſſelbe dagegen.bei der Knospenbildung ein par- 
tielles und betrifft nur einen Theil des elterlichen Organismus. Aber 
auch hier behält die Knospe, das meu erzeugte Individuum, wel- 
ches mit dem elterfihen Organismus fo lange im unmittelbarften 
Zufammenhang fteht und aus dieſem hervorgeht, deſſen wefentliche 
Eigenſchaften und urſprüngliche Bildungsrichtung bei. 

An die Knospenbildung ſchließt ſich unmittelbar eine dritte Art 
der ungeſchlechtlichen Fortpflanzung an, diejenige durch Keimknos⸗ 
penbildung (Polysporogonia). Bei niederen, unvolltommenen 
Drganimen, unter den Thieren insbefondere bei den Pflanzenthie- 
ren und Würmern, finden Sie fehr häufig, daß im Innern eines 
aus vielen Zellen zufammengefepten Individuums eine Meine Zellen 
gruppe von den umgebenden Zellen ſich abfondert, und daß diefe 
Heine ifolirte Zellengruppe allmählich zu einem Individuum heran» 
wãchſt, welches dem elterlichen ähnlich wird, und früher oder fpä- 
ter aus diefem heraußtritt. So entftehen z. B. im Körper der Saug ⸗ 
würmer (Trematoden) oft zahlreiche, aus vielen Zellen zufammen« 
gefegte Körperchen, Keimknospen oder Polyfporen, welche ſich 
ſchon frühzeitig ganz von dem Eiternförper abfondern und dieſen 


174 Fortpflanzung durch Keimzellenbilbung ober Sporenbilbung. 


- verlaffen, nachdem fie einen gewiffen Grad felbftftändiger Ausbil- 
dung erreicht haben. 

Offenbar ift die Keimknospenbildung von der echten Rnodpen- 
bildung nur wenig verſchieden. Andrerfeit aber berührt fie fi 
mit einer vierten Form der ungefchlechtlihen Fortpflanzung, welche 
beinahe ſchon zur gefchlechtlichen Zeugung hinüberführt, nämlich mit 
der Keimzellenbildung (Monosporogonia), welche aud oft 
ſchlechtweg die Sporenbildung (Sporogonia) genannt wird. Hier 
ift es nicht mehr eine Zellengruppe, fonbern eine einzelne Zelle, 
welche fih im Innern des zeugenden Organismus von den umge 
benden Zellen abfondert, und ſich erft weiter entwidelt, nachdem fie 
aus jenem auögetreten ift. Nachdem diefe Keimzelle oder Mo- 
nofpore (gewöhnlich kurzweg Spore genannt) dad Elternindividuum 
verlaffen bat, vermehrt fie fi) durch Theilung und bildet fo einen 
vießgelligen Organismus, welcher durch Wachsthum und allmaͤhliche 
Ausbildung die erblihen Eigenfhaften des elterlichen Organismus 
erlangt. So gefchieht es fehr häufig bei den niederen Pflanzen. 

Obwohl die Keimzellenbildung der Keimknospenbildung fehr 
nahe fteht, entfernt fie ſich doch offenbar von diefer, wie von den 
vorher angeführten anderen Formen der ungeſchlechtlichen Fortpflan- 
zung fehr weſentlich dadurch, daß mur ein ganz Meiner Theil des 
zeugenden Organismus die Fortpflanzung und fomit au die Ber- 
erbung vermittelt. Bei der Selbfttheilung, wo der ganze Organid- 
muß in zwei Hälften zerfällt, bei der Knospenbildung, wo ein an« 
ſehnlicher und bereit8 mehr oder minder entridelter Körpertheil von 
dem zeugenden Individuum ſich abfondert, finden wir es fehr be- 
greiffih, daß Formen und Lebenderiheinungen in dem zeugenden 
und dem erjeugten, Organismus biefelben find. Viel ſchwieriger it 
es fhon bei der Keimfnodpenbildung, und noch ſchwerer bei der 
Keimjellenbildung zu begreifen, wie diefer ganz Meine, ganz unent- 
wickelte Rörpertheil, diefe Zellengruppe oder einzelne Zelle nicht bloß 
gewiſſe elterliche Cigenſchaften unmittelbar mit in ihre ſelbſtſtaͤndige 
Eriftenz hinübernimmt, fondern auch nad} ihrer Trennung vom elter- 


Geſqhlechtliche Fortpflonzung oder Ampfigonie. 175 


fihen Individuum ſich zu einem vielgelligen Körper enttwidelt, und 
in diefem die Formen und die Lebenderfcheinungen des urfprüng- 
fihen, zeugenden Organismus wieber zu Tage treten läßt. Diefe 
legte Form der monogonen Fortpflanzung, die Keimzellen- oder Spo- 
venbildung, führt und hierdurch bereitd unmittelbar zu der am ſchwie⸗ 
rigften zu erflärenden Form der Fortpflanzung, zur gefchlechtlichen 
Zeugung,, binüber. 

Die gefhlehtlihe (amphigone oder feruelle) Zeu- 
gung (Amphigonia) ift die gewöhnliche Fortpflanzungsart bei allen 
höheren Thieren und Pflanzen. Offenbar hat fich diefelbe erſt fehr 
fät im Verlaufe der Erdgeſchichte aus der ungefclechtlihen Fort- 
pflanzung,, und zwar zunächft aus der Keimzellenbildung entwidelt. 
In den früheften Perioden der organifchen Erdgeſchichte pflanzten 
fi) alle Organismen nur auf ungefchlechtlichem Wege fort, wie es 
gegenwärtig noch zahlreiche niedere Organismen thun, insbeſondere 
alle Diejenigen, welche auf der niedrigften Stufe der Organifation 
ſtehen, welche man weder ala Thiere noch ala Pflanzen mit vollem 
Rechte betrachten fann, und melde man daher am beften ala Ur- 
wefen oder Brotiften aus dem Thier- und Pflanzenreich ausfcheidet. 
Allein bei den höheren Thieren und Pflanzen erfolgt gegenwärtig die 
Vermehrung der Individuen in der Regel größtentheil® durch ge⸗ 
ſchlechtliche Fortpflanzung. 

Während bei allen vorhin erwähnten Hauptformen ber unge 
ſchlechtlichen Fortpflanzung, bei der Theilung, Anospenbildung, Reim- 
nospenbildung und Keimzellenbildung, die abgefonderte Zelle oder 
Zellengruppe für ſich allein im Stande war, fi zu einem neuen 
Individuum auszubilden, fo muß diefelbe dagegen bei der geſchlecht⸗ 
lichen Fortpflanzung erft durch einen anderen Zeugungäftoff befruch⸗ 
tet werden. Der befruchtende männliche Samen muß fi) erft mit 
der weiblichen Keimzelle, dem Ei, vermiſchen, ehe ſich dieſes zu 
einem neuen Individuum entwideln kann. Diefe beiden verfchieder 
nen Zeugungaftoffe, der männliche Samen und da8 weibliche Ei, 
werden entweder von einem und demfelben Individuum erzeugt (Zwit⸗ 


176 Zwitterbildung und Geſchlechtetrennung . 

terbildung, Hermaphroditismus) oder von zwei verſchiedenen In- 
dividuen (Geſchlechtstrennung, Gonochorismus) (Gen. Morph. II, 
58—59). 

Die einfachere und ältere Form ber geſchlechtlichen Fortpflan⸗ 
zung ift die Zwitterbifdung (Hermaphroditismus). Sie findet 
fi) bei der großen Mehrzahl der Pflanzen, aber nur bei einer großen 
Minderzahl der Thiere, 3.2. bei den Gartenfcpneden, Blutegeln, Re- 
genwürmern und vielen anderen Würmern. Jedes einzelne Individuum 
erzeugt ald Zwit ter (Hermaphroditus) in ſich beiderlei Geſchlechts⸗ 
foffe, Eier und Samen. Bei den meiften höheren Pflanzen enthält 
jede Blüthe ſowohl die männlichen Organe (Staubfäden und Staub- 
beutel) als die weiblichen Drgane (Griffel und Fruchtknoten). Jede 
Gartenſchnede erzeugt an einer Stelle ihrer Gefchlechtsdrüfe Eier, 
an einer andern Samen. Biele Zwitter können fich felbft befruch- 
ten; bei anderen dagegen ift eine Ropulation und gegenfeitige Be- 
fruchtung zweier Zwitter notwendig, um bie Eier zur Entwidelung 
zu veranlaffen. Diefer legtere Fall ift offenbar fon der Uebergang 
zur Geſchlechtstrennung. 

Die Geſchlechtstrennung (Gonochorismus), die verwidel« 
tere von beiden Arten der gefchlechtlichen Zeugung, hat fi) offen- 
bar erft in einer viel fpäteren Zeit der organiſchen Erdgefchichte aus 
der Zwitterbildung entwidelt. Sie ift gegenwärtig die allgemeine 
Fortpflanzungsart der höheren Thiere, findet ſich dagegen nur bei 
einer geringeren Anzahl von Pflanzen (. 3. manden Bafferpflan- 
jen: Hydrocharis, Vallisneria; und Bäumen: Weiden, Pappeln). 
Jedes organifhe Individuum als Nichtz witter (Gonochoristus) 
erzeugt in ſich nur einen von beiden Zeugungäftoffen, entweder maͤnn · 
lichen oder weiblichen. Die weiblichen Individuen bilden ſowohl 
bei ben Thieren, als bei den Pflanzen Eier ober Eizellen. Die 
Eier der Pflanzen werden gewöhnlich bei den Blüthenpflanzen (Bha- 
nerogamen) „Embryobläschen“, bei den Blüthenlofen (Rryptogamen) 
„Befruchtungäfugeln” genannt. Die männlichen Individuen fondern 
bei den Thieren den beftuchtenden Samen (Sperma) ab, bei den 


Jungfrãuliche Zeugung oder Parthenogeneſis. 177 


Mengen dem Sperma entſprechende Körperchen (Pollenförner oder 
Blüthenftaub bei den Phanerogamen, bei den Kryptogamen ein 
Eperma, welches gleich demjenigen der meiften Thiere aus lebhaft 
beweglichen, in einer Flüffigkeit ſchwimmenden Flimmerzellen befteht, 
den Zoofpermien, Spermatozoen oder Spermazellen). 

Eine intereffante Uebergangaform von der gefchlechtlihen Zeu- 
gung zu der (diefer nächftftehenden) ungeſchlechtlichen Keimzellenbil- 
dung bietet die fogenannte jungfräulihe Zeugung (Partheno- 
genesis) dar, welche bei den Inſekten in neuerer Zeit, befonders 
durch Siebold's verbienftvolle Unterfuhungen, vielfach nachgewie⸗ 
fen worden iſt. Hier werden Keimzellen, die fonft den gewöhnlichen 
Eizellen ganz ähnlich erfcheinen und ebenfo entftehen, fähig, zu neuen 
Individuen ſich zu entwideln, ohne des befruchtenden Samens zu be⸗ 
dürfen. Die merkwürdigſten und lehrreichſten von den verfchiedenen 
parthenogenetiſchen Erfheinungen bieten und diejenigen Fälle, in 
denen diefelben Keimzellen, je nachdem fie befruchtet werden ober 
nicht, verſchiedene Individuen erzeugen. Bei unferen gewöhnlichen 
Honigbienen entfteht aus den Eiern der Königin ein männliches In— 
dividuum (eine Drohne), wenn das Ei nicht befruchtet wird; ein 
weiblihes (eine Königin oder Arbeiterin), wenn das Ei befruchtet 
wird. Es zeigt ſich hier deutlih, daß in der That eine tiefe Kluft 
wwiſchen geſchlechtlicher und geſchlechtsloſer Zeugung nicht eriftirt, 
daß beide Formen vielmehr unmittelbar zufammenhängen. Uebri-⸗ 
gend iſt die Parthenogeneſis der Inſekten wohl ale Rüdfhlag 
der geſchlechtlichen Fortpflanzung (welche die Stammeltern der In- * 
fetten befaßen) in die frühere ungefehlechtliche Fortpflanzung aufzufaf- 
fen (Gen. Morph. II, 56). Jedenfalls ift ſowohl bei Pflanzen ala 
bei Thieren die gefchledhtlihe Zeugung, die ala ein fo wunderbarer 
Vorgang erfcheint, erft in fpäterer Zeit aus der älteren ungeſchlecht⸗ 
lichen Zeugung hervorgegangen. In beiden Fällen ift die Berer- 
bung eine nothwendige Theilerſcheinung der Fortpflanzung. 

Bei allen verfdiedenen Formen der Fortpflanzung ift das We- 


ſentliche dieſes Vorgangs immer die Ablöfung eines Theiles des elter- 
Hardel, Natürl. Schopfungegeſch. 5. Aufl. 12 


178 Bererbung durch geſchlechtliche Fortpflanzung. 


lichen Organismus und die Befähigung deffelben zur individuellen, 
felbftftändigen Exiſtenz. In allen Fällen dürfen wir daher von vom- 
berein ſchon erwarten, daß die findlichen Individuen, die ja, wie 
man fih ausdrüdt, Fleiſch und Bein der Eltern find, zugleich im- 
mer biefelben Lebenderfheinungen und Fomeigenſchaften erlangen 
werben, welche die elterlichen Individuen befigen. Immer ift ed 
nur eine größere ober geringere Quantität von der elterlichen Ma- 
terie, und zwar von dem eiweißartigen Protoplasma oder Zellftoft, 
welche auf das kindliche Individuum übergeht. Mit der Materie 
werben aber auch deren Lebenseigenſchaften, die molefularen Bewe ⸗ 
gungen des Plasma, übertragen, welche fih dann in ihrer Form 
äußern. Wenn Sie fi die angeführte Kette von verſchiedenen Fort- 
pflanzungsformen in ihrem Zufammenhange vor Augen ftellen, fo 
verliert die Vererbung durch gefchlechtlihe Zeugung fehr Biel von 
dem Räthfelhaften und Wunderbaren, das fie auf den erjten Blid 
für den Laien befigt. Es erfheint anfänglich höchft wunderbar, daß 
bei der geſchlechtlichen Fortpflanzung des Menſchen, wie aller hi 
beren Thiere, das kleine Ei, eine winzige, für das bloße Auge oft 
taum fihtbare Zelle, im Stande ift, alle Eigenfhaften des müt- 
terlihen Organismus auf den findlihen zu übertragen; und nicht 
weniger rätbfelhaft muß es erfheinen, daß zugleich die weſentlichen 
Eigenfchaften des väterlichen Organismus auf den kindlichen über 
tragen werben vermittelft des männlichen Sperma, welches die Ei- 
zelle befruchtete, vermittelt einer fhleimigen Maffe, in der feine 
Geißelzellen, die Zoofpermien fih umberbewegen. Sobald Sie aber 
jene zufammenhängende Stufenfeiter der verfchiedenen Fortpflanzungs- 
arten vergleichen, "bei welcher der kindliche Organismus als über 
ſchuͤſſiges Wachsthumsprodukt des Elternindividuums fid immer mebr 
von erſterem abfondert, und immer frühgeitiger die felbftitändige 
Laufbahn betritt; fobald Sie zugleich erwägen, daß aud dad Wade: 
thum und die Ausbildung jedes höheren Organismus bloß auf der 
Vermehrung der ihn zufammenfegenden Zellen, auf der einfachen 





Materieller Vorgang ber geſchlechtlichen Bererbung. 179° 


Fortpflanzung dur Theilung beruht, fo wird es Ihnen Mar, da. 
alle diefe merkwürdigen Vorgänge in eine Reihe gehören. 

Das Leben jedes organifhen Individuums ift Nichts weiter, 
als eine zufammenhängende Kette von fehr vermidelten materielfen 
Bewegungserſcheinungen. Diefe Bewegungen find als Beränderun- 
gen in der Lage und Zufammenfegung der Molekeln zu denfen, ber 
Mleinften (aus Atomen in hoͤchſt mannichfaltiger Weife zufammenge- 
festen) Theilchen der belebten Materie. Die fpecififch beftimmte Rich- 
tung diefer gleihartigen, anhaltenden, immanenten Lebensbewegung 
wird in jedem Organismus durch die hemifche Miſchung des eiweiß⸗ 
artigen Zeugungäftoffes bedingt, welcher ihm den Urfprung gab. 
Bei dem Menfchen, wie bei ben höheren Thieren, weldhe gefchlecht- 
lich ſich fortpflangen, beginnt die individuelle Lebensbewegung in 
dem Momente, in welchem die Eizelle von den Samenfäden des 
Sperma befruchtet wird, in welchem beide Zeugungäftoffe ſich that- 
ſaͤchlich vermifhen; von da an wird nun die Richtung der Lebenabe- 
wegung durch die fpecififche, oder richtiger individuelle Beſchaffen⸗ 
beit ſowohl des Samens ald de3 Eies beftimmt. Weber die rein 
mechaniſche, materielle Natur dieſes Borganges kann fein Zweifel 
fein. Aber ftaunend und bewundernd müflen wir hier vor der un« 
endlich verwidelten Mofefular- Struktur der eimeißartigen Materie 
Mill ſtehen. Staunen müffen wir über bie unleugbare Thatfache, 
daß die einfache Eizelle der Mutter, der einzige Samenfaden. oder 
die flimmernde Spermazelle des Vaters fo genau bie molekulare 
individuelle Lebensbewegung diefer beiden Individuen auf das Kind 
überträgt, daß nachher die feinften körperlichen und geiftigen Eigen- 
thümlicgteiten der beiden Eltern an diefem wieder erfcheinen. 

Hier ſtehen wir vor einer mechanifchen Naturerſcheinung, von 
weldyer Birhom, der geiftolle Begründer der „Eellularpatholo- 
gie“, mit vollem Rechte fagt: „Wenn der Naturforicher dem Ge— 
brauche der Geſchichtſchreiber und Kanzelredner zu folgen liebte, un⸗ 
geheure und in ihrer Art einzige Erſcheinungen mit dem hohlen Ge- 
pränge fehwerer und tönender Worte zu überziehen, fo wäre hier 

12* 


180 Bererbung durch geſchlechtliche und ungeſchlechtliche Fortpflanzung. 


„der Ort dazu; denn wir find an eines der großen Myſterien der 
thierifhen Natur getreten, welche die Stellung des Thiered gegen- 
über der ganzen übrigen Erfcheinungsmwelt enthalten. Die Frage 
von der Zellenbildung, die Frage von ber Erregung anhaltender 
gleichartiger Beregung, endlich die Fragen von der Selbftftändig- 
feit des Nervenfyftem® und der Seele — das find die großen Auf- 
gaben, an denen der Menfchengeift feine Kraft mißt. Die Bezie« 
bung des Mannes und des Weibes zur Eizelle zu erkennen, heißt 
fat fo viel, als alle jene Mofterien löfen. Die Entftehfung und 
Entwidelung der Eizelle im mütterlihen Körper, die Uebertragung 
törperliher und geiftiger Eigenthumlichkeiten des Vaters durch den 
Samen auf biefelbe, berühren alle Fragen, welche der Mienfchengeift 
je über des Menſchen Sein aufgetvorfen hat.” Und, fügen wir 
hinzu, fie löfen diefe höchften Kragen mittelft der Defcendenztheorie 
in rein mechaniſchem, rein moniftifhem Sinne! 

Daß alfo auch bei der gefchlechtlihen Fortpflanzung des Men- 
ſchen und aller höheren Organismen die Vererbung, ein rein me 
chaniſcher Vorgang, unmittelbar durch den materiellen Zufammen- 
bang des zeugenden und des gezeugten Organismus bedingt ift, ebenſo 
mie bei der einfachften ungeſchlechtlichen Fortpflanzung der niederen 
Organismen, darüber kann fein Zweifel mehr fein. Doch will ich 
ie bei diefer Gelegenheit fogleih auf einen wichtigen Unterſchied 
aufmerffam machen, welchen die Vererbung bei der geſchlechtlichen 
und bei der ungeſchlechtlichen Fortpflanzung barbietet. Es ift eine 
längft befannte Thatſache, dag die indivibuellen Eigentbümlichteiten 
des zeugenden Organismus viel genauer durch die ungeſchlechtliche 
als durch die geſchlechtliche Fortpflanzung auf das erzeugte Indivi« 
duum übertragen werden. Die Gärtner machen von diefer That- 
ſache ſchon lange vielfach Gebraud. Wenn 3. B. von einer Baum 
art mit’ fteifen, aufrecht ftehenden Aeſten zufällig ein einzelnes Indie 
viduum herabhängende Zweige befömmt, fo kann der Gärtner in der 
Regel diefe Eigenthümlichkeit nicht durch gefchlechtlihe, fondern nur 
durch ungefchlechtliche Fortpflanzung vererben. Die von einem fol- 





Bererbung durch geſchlechtliche und ungefchlechtliche Fortpflanzung. 181 


den Trauerbaum abgefhnittenen Zweige, ald Stedlinge gepflanzt, 
bilden fpäterhin Bäume, welche ebenfall® hängende Yefte haben, 
wie 3. B. die Trauerweiden, Trauerbuchen. Samenpflanzen dage- 
gen, welche man aus den Samen eines ſolchen Trauerbaumes zieht, 
erhalten in der Regel wieder die urfprüngliche, fteife und aufrechte 
Zweigform der Boreltern. In fehr auffallender Weife kann man 
daffelbe auch an den fogenannten „Blutbäumen“ wahrnehmen, d. h. 
Spielarten von Bäumen, welche ſich dur rothe oder rothbraune 
Farbe der Blätter auszeichnen. Abkömmlinge von folhen Blutbäu- 
men (3.8. Blutbuchen), welche man durch ungeſchlechtliche Fortpflan- 
jung, durch Stedlinge erzeugt, zeigen die eigenthümfiche Farbe und 
Beſchaffenheit der Blätter, welche das elterlihe Individuum auszeich- 
net, während andere, aus den Samen der Blutbäume gezogene In- 
dioiduen in die grüne Blattfarbe zurüdichlagen. 

Diefer Unterfied in der Vererbung wird Ihnen fehr natürlich 
vortommen, fobald Sie erwägen, daß der materielle Zufammenhang 
zwiſchen zeugenden und erzeugten Individuen bei der ungefchlechtli- 
chen Fortpflanzung viel inniger ift und viel länger dauert, als bei 
der geſchlechtlichen. Die individuelle Richtung der molekularen Le— 
bensbewegung fann ſich daher bei der ungefchlechtlichen Fortpflan- 
jung viel länger und gründficher in dem kindlichen Organismus be 
fefigen, und viel ftrenger vererben. Alle diefe Erfheinungen im 
Zufammenhang betrachtet bezeugen Mar, daß die Vererbung ber kör⸗ 
perliden und geiftigen Eigenfhaften ein rein materieller, mechani— 
ſcher Borgang ift. Durch die Fortpflanzung wird eine größere oder 
geringere Quantität eimeißartiger Stofftheilhen, und damit zugleich 
die diefen Protoplagma-Molefein anhaftende individuelle Beregungs- 
form vom elterlichen Organismus auf ben kindlichen übertragen. 
Indem diefe Bewegungsform fi) beftändig erhält, müſſen auch die 
feineren Eigenthümlichfeiten,, die am elterlihen Organismus haften, 
früher oder fpäter am findlichen Organismus wieder erfcheinen. 


Neunter Vortrag. 
Bererbungsgefege. Anpafiung und Ernährung. 





unterſcheidung der erhaltenden und fortſchreitenden Vererbung. Geſede der 
erhaltenden oder Tonfervativen Erblichteit: Vererbung ererbter Charaktere. Unun ⸗ 
terbrochene oder kontinuirliche Vererbung. Unterbrochene oder latente Vererbung. 
Generationswechſel. Nüdfchlag. Verwilderung. Geſchlechtliche oder ſexuelle Ber» 
erbung. Sekundäre Serualcharaktere. Gemiſchte oder amphigone Vererbung. Ba- 
Rardzeugung. Abgelüirzte oder vereinfachte Vererbung. Gefetge der fortfchreitenden 
oder progteffiven Erblichteit: Vererbung erworbener Charaktere. PAngepafite oder 
erworbene Vererbung. Befeftigte ober konſtituirte Vererbung. Gleichzeitliche oder 
homochrone Vererbung. Gleichortliche oder homotope Vererbung. Anpafiung und 
Beränderficfeit. Bufammenhang der Anpaffung und der Ernäfrung. Unterfdei- 
dung der indireften und direkten Anpaffung. 


Meine Herren! Bon den beiden allgemeinen Lebensthaͤtigkei ⸗ 
ten der Organismen, der Anpaffung und der Vererbung, melde in 
ihrer Wechfelwirkung die verſchiedenen Organismenarten heroorbrin- 
gen, haben wir im fepten Bortrage die Vererbung betrachtet und 
wir haben verfucht, diefe in ihren Wirkungen fo räthfelhafte Lebens 
thätigfeit zurüdguführen auf eine andere phyfiologifche Funktion der 
Organismen, auf die Fortpflanzung. Diefe feptere berubt ihrerfeitd 
wieder, wie alle anderen Lebenserſcheinungen der Thiere und Bilan- 
zen, auf phyſikaliſchen und chemiſchen Berhältnifien. Allerdings er- 
feinen diefe bisweilen äußerft verwidelt, laſſen fi aber doch im 
Grunde auf einfache, mechaniſche Urfachen, auf Anziehungs- 


Unterfjeidung der erhaltenden und fortichreitenden Vererbung. " 183 


und Abſtoßungsverhältniſſe der Stofftheilden oder Mo— 
leteln, auf Bewegungserſcheinungen der Materie zurädführen. 

Bevor wir num zur zeiten, der Vererbung entgegenwirkenden 
Funftion, der Erſcheinung der Anpaffung oder Abänderung, über- 
geben, erfcheint e8 zwedmäßig, zuvor noch einen Blick auf die ver- 
fhiedenen Aeußerungsmeifen der Erblichkeit zu werfen, welche man 
vielleicht ſchon jept ala „Bererbungsgefepe” aufftellen kann. Lei⸗ 
der ift für diefen fo außerordentlich wichtigen Gegenftand ſowohl in 
der Zoologie, als auch in der Botanik, bisher nur fehr Wenig 
geihehen, und fait Alles, was man von den verfchiedenen Verer⸗ 
bungsgeſetzen weiß, beruht auf den Erfahrungen der Landwirthe und 
der Gärtner. Daher ift es nicht zu verwundern, daß im Ganzen 
diefe Außerft intereffanten und wichtigen Erſcheinungen nicht mit der 
wůnſchenswerthen wiſſenſchaftlichen Schärfe unterfucht und in die 
Form von naturwiſſenſchaftlichen Gefepen gebracht worden find. Was 
id Ihnen demnad im Folgenden von den verfdiedenen Vererbungs⸗ 
geſehen mittheilen werde, find nur einige vorläufige Bruchftüde, her- 
ausgenommen aus dem unendlich reihen Schatze, welder für bie 
Erkennmiß hier offen liegt. 

Wir können zunächft alle verſchiedenen Erblichkeitserſcheinungen 
in zwei Gruppen bringen, welche wir ald Vererbung ererbter Cha- 
taftere und Vererbung ermorbener Charaktere unterfheiden; und 
wir fönnen die erftere ala die erhaltende (fonfervative) Vererbung, 
die zweite ald die fortſchreitende (progreffive) Vererbung bezeich- 
nen. Diefe Unterfheidung beruht auf der Außerft wichtigen That 
fade, daß die Einzelwefen einer jeden Art von Thieren und Pflan- 
zen nicht allein diejenigen Eigenſchaften auf ihre Nachkommen ver- 
erben tönmen, welche fie felbft von ihren Vorfahren ererbt haben, 
fondern auch die eigenthümlichen, individuellen Eigenſchaften, die fie 
erſt während ihre Lebens erworben haben. Diefe Iepteren werden 
durch die fortfchreitende, die erfteren durch die erhaltende Erblichkeit 
übertragen. Zunächft haben wir nun hier die Erfcheinungen der 
tonfervativen oder erhaltenden Bererbung zu unterſuchen 


184 Ununterbrochene ober kontinuirliche Vererbung. 


d.h. der Vererbung folcher Eigenfchaften, welche der betreffende Or ⸗ 
ganismus von feinen Eltern oder Vorfahren ſchon erhalten hat Gm 
Morph. II, 180). 

Unter den Erſcheinungen der fonfervativen Vererbung tritt und 
zunãchſt als das allgemeinfte Gefeß dasjenige entgegen, welches wir 
da8 Gefep der ununterbrochenen oder fontinuirlihen 
Bererbung nennen können. Daffelbe hat unter den höheren Thie- 
ten und Pflanzen fo allgemeine Gültigkeit, daß der Laie zunächkt 
feine Wirkſamkeit überfhägen und es für das einzige, allein maß⸗ 
gebende Vererbungsgeſetz halten dürfte. Es befteht dieſes Gefep ein- 
fach darin, daß innerhalb der meiften Thier- oder Pflanzenarten 
jede Generation im Ganzen der andern gleih ift, daß die Eltem 
ebenfo den Großeltern, wie den Kindern ähnlich find. „Gleiches 
erzeugt Gleiches“, fagt man gewöhnlich, richtiger aber: „Aehnliches 
erzeugt Aehnliches. Denn in der That find die Nachkommen oder 
Defcendenten eines jeden Organismus demfelben niemal® im allen 
Stücen abfolut gleih, fondern immer nur in einem mehr oder we⸗ 
niger hohen Grade ähnlich. Diefed Gefep ift fo allgemein befannt, 
daß ich feine Beifpiele anzuführen brauche. 

In einem gewiflen Gegenfage zu demfelben fteht das Gefep 
der unterbrodenen oder latenten Bererbung, welde man 
auch als abwechſelnde oder alternirende Vererbung bezeichnen fönnte. 
Dieſes wichtige Gefep erfheint hauptſächlich in Wirkfamteit bei vie 
fen niederen Thieren und Pflanzen, und äußert ſich hier, im Ge 
genfag zu dem erfteren, darin, daß die Kinder den Eltern nicht 
gleich, fondern fehr unähnlich find, und daß erft die dritte oder eine 
fpätere Generation der erften wieder ähnlich yoird. Die Enfel jind 
den Großeltern gleih, den Eitern aber ganz unähnlich. Es ift das 
eine merkwürdige Erſcheinung, welche befanntermafen in geringerem 
Grade auch in den menſchlichen Familien fehr häufig auftritt. Zwei · 
feldohne wird Jeder von Ihnen einzelne Familienglieder termen, 
welche in dieſer oder jener Eigenthümlichkeit viel mehr dem Groß · 
vater oder der Großmutter, als dem Pater oder der Mutter gleidhen. 





Unterbrochene oder latente Vererbung. Geueratidnswechſel. 185 


Bald find es körperliche Eigenſchaften, z. B. Geſichtszüge, Haarfarbe, 
Körpergröße, bald geiſtige Eigenheiten, z. B. Temperament, Ener⸗ 
gie, Verſtand, welche in dieſer Art ſprungweiſe vererbt werden. 
Ebenſo wie beim Menſchen können Sie dieſe Thatſache bei den Haus— 
thieren beobachten. Bei den am meiften veränderlichen Hausthieren, 
beim Hund, Pferd, Rind, machen die Thierzüchter fehr häufig die 
Erfahrung, daß ihr Züchtungsproduft mehr dem großelterlichen, als 
dem elterfihen Organismus ähnlich ift. Wollen Sie dies Geſetz 
allgemein ausdrüden, und die Reihe der Generationen mit den Buch- 
ftaben des Alphabet? bezeichnen, fo wird A=0—=E, ferner B= 
D=F u. f.f. 

Noch viel auffallender, als bei den höheren, tritt Ihnen bei 
den niederen Thieren und Pflanzen diefe fehr merkwürdige Thatſache 
entgegen, und zwar in dem berühmten Phänomen des Genera- 
tionawechfel® (Metagenesis). Hier finden Sie fehr häufig z. 2. 
unter den Plattwürmern, Mantelthieren, Pflanzenthieren, ferner 
unter den Farnfräutern und Mofen, daß das organifche Individuum 
bei der Fortpflanzung zunächft eine Form erzeugt, die gänzlich von 
der Eiternform verſchieden ift, und daß erft die Nachkommen diefer 
Generation der erftern wieder ähnlich werden. Diefer regelmäßige 
Generationawerhfel wurde 1819 von dem Dichter Chamiffo auf 
feiner Weltumfegelung bei den Salpen entdedt, cylindrifchen und 
glasartig durhfichtigen Mantelthieren, welche an der Oberfläche des 
Meeres ſchwimmen. Hier erzeugt die größere Gentration, welche 
ala Einſiedler lebt und ein hufeifenförmiges Auge befipt, auf unge 
ſchlechtlichem Wege (durch Anospenbildung) eine gänzlich verſchiedene 
tleinere Generation. Die Individuen diefer zweiten Heineren Gene- 
ration leben in Ketten vereinigt und befipen ein fegelförmiges Auge. 
des Individuum einer folhen Kette erzeugt auf geſchlechtlichem 
Wege (als Zwitter) wiederum einen gefchlechtslofen Einſiedler der 
erften, größeren Generation. Es ift alfo hier bei den Salpen immer 
die erfte, dritte, fünfte Generation, und ebenfo die zweite, vierte 
fechöte Generation einander ganz ähnlich. Nun ift es aber nicht 


186 Generationswechjel. Rüdidlag oder Atavismus. 


immer bfoß eine Generation, die fo überſchlagen wird, fondern in 
anderen fällen auch mehrere, fo daß alfo die erfte Generation der 
vierten, fiebenten u. ſ. w. gleicht, die zweite der fünften und achten, 
die dritte der fecheten und neunten, und fo weiter fort. Drei in 
diefer Weife verfchiedene Generationen wechſeln z. B. bei den zier⸗ 
lichen Seetönnden (Doliolum) mit einander ab, Heinen Mantel» 
thieren, welche den Salpen nahe verwandt find. Hier it A=D 
=G, femer B=E=H, und C=F=I Bei den Blattläufen 
folgt auf jede gefchlechtlihe Generation eine Reihe von acht bis zehn 
bis zwolf ungeſchlechtlichen Generationen, bie unter ſich ähnlich und 
von der geſchlechtlichen verſchieden ſind. Dann tritt erſt wieder 
eine geſchlechtliche Generation auf, die der längft verſchwundenen 
gleich ift. 

Wenn Sie diefes merfwürdige Gefep der latenten oder unter- 
brochenen Vererbung weiter verfolgen und alle dahin gehörigen Ex- 
ſcheinungen zufammenfajlen, fo fönnen Sie auch die bekannten Er- 
ſcheinungen des Ruͤckſchlags darunter begreifen. Unter Rüdihliag 
oder Atavismus verfteht man die allen Thierzüchtern befannte 
merfwürdige Thatfache, daß bisweilen einzelne Thiere eine Form an- 
nehmen, welche ſchon feit vielen Generationen nicht vorhanden war, 
welche einer längft entſchwundenen Generation angehört. Eines der 
merfwürdigften hierher gehörigen Beifpiele ift die Thatſache, daß bei 
einzelnen Pferden bisweilen ganz charakteriſtiſche dunkle Streifen auf- 
treten, ähnlich denen des Zebra, Quagga und anderer wilden Pferde 
arten Afrika's. Hauspferde von den verſchiedenſten Raſſen und von 
allen Farben zeigen bisweilen folhe dunkle Streifen, z. B. einen 
Längsftreifen des Rüdens, Querftreifen der Schultern und der Beine 
u. ſ. m. Die plöplihe Erfheinung diefer Streifen läßt ſich nur er- 
Mlären als eine Wirkung ber latenten Vererbung, als ein Rüdfchlag 
in die fängft verſchwundene uralte gemeinfame Stammform aller 
Pferdearten, welche zweifeldohne gleich den Zebras, Duaggad u. ſ. w. 
geſtreift war. Ebenſo erſcheinen auch bei anderen Hausthieren oft 
plöglih gewiſſe Eigenſchaften wieder, welche ihre laͤngſt audgefor- 


uchchlag ober Atavisnus. 187 


benen wilden Stammeltern auszeichneten. Auch unter den Pflanzen 
tann man den Rüchſchlag fehr häufig beobachten. Sie kennen wohl 
Alle das wilde gelbe Löwenmaul (Linaria vulgaris), eine auf un- 
feren Aedern und Wegen fehr gemeine Pflanze. Die rachenförmige 
gelbe Blüthe derfelben enthält zwei lange und zwei kurze Staubfäden. 
Bisweilen aber erſcheint eine einzelne Blüthe (Peloria), melde 
tricterförmig und ganz regelmäßig aus fünf einzelnen gleichen Ab⸗ 
ſchnitten zufammengefept ift, mit fünf gleihartigen Staubfäben. 
Diefe Peloria können wir nur erflären als einen Rückſchlag in bie 
längft entſchwundene uralte gemeinfame Stammform aller derjenigen 
Pflanzen, welche gleich dem Lömenmaul eine rachenförmige zweilippige 
Blüthe mit zwei langen und zwei furzen Staubfüden befigen. Jene 
Stammform befaß gleich der Peloria eine regelmäßige fünftheilige 
Blüthe mit fünf gleichen, fpäter erft allmählich ungleich werdenden 
Staubfäden. (Bergl. oben ©. 14, 16.) Alle folhe Rüdfchläge find 
unter das Gefep der unterbrochenen oder latenten Vererbung zu 
bringen, wenn glei die Zahl der Generationen, die überfprungen 
wird, ganz ungeheuer groß fein kann. 

Wenn Kulturpflanzen oder Hauöthiere verwildern, wenn fie 
den Bedingungen des Kulturleben® entzogen werben, fo gehen fie 
Beränderungen ein, welche nicht bloß als Anpaffung an die neu- 
erworbene Lebensweiſe erfheinen, fondern auch theilweife als Rüd- 
ſchlag in die uralte Stammform, aus welcher die Kulturformen er- 
zogen worben find. So fann man die verfchiedenen Sorten des 
Kohle, die ungemein in ihrer Form verſchieden find, durch abfichtliche 
Verilderung allmählich auf die urfprünglihe Stammform zurüd- 
führen. Ebenfo fehlagen die verwildernden Hunde, Pferde, Rinder 
u. ſ. w oft mehr oder weniger in eine längft auögeftorbene‘ Gene- 
ration zurüd. Es kann eine erftaunlich lange Reihe von Genera- 
tionen verfliegen, ehe biefe fatente Vererbungskraft erlifht. 

Als ein drittes Gefep der erhaltenden oder konſervativen Ber- 
erbung können wir das Gefep der geſchlechtlichen oder ſe— 
zuellen Bererbung bezeichnen, nad) welchem jedes Geſchlecht auf 


188 Geſchlechtliche oder ſexuelle Vererbung. Selundäre Serualdaraltere. 


feine Nachkommen beffelben Geſchlechts Eigenthümlichkeiten überträgt, 
welche es nicht auf die Nachkommen des andern Geſchlechts vererbt. 
Die fogenannten „setundären Serualcharaktere”, welche in mehrfacher 
Beziehung von außetordentlichem Intereſſe find, liefern für diefed 
Gefep überall zahlreiche Beifpiele. Als untergeordnete oder fetun- 
däre Serualdaraktere bezeichnet man ſolche Eigenthümlichkeiten ded 
einen der beiden Gefchledhter, welche nicht unmittelbar mit den Ge⸗ 
ſchlechtsorganen felbft zufammenhängen. Solche Charaktere, welche 
bloß dem männlichen Geſchlecht zukommen, find z. B. das Geweih 
des Hirfches, die Mähne des Lowen, ber Sporn des Hahn. Hier- 
ber gehört auch der menfchliche Bart, eine Zierde, welche gemwöhn- 
lich dem weiblichen Geſchlecht verfagt ift. Aehnliche Charakter, 
welche bloß da8 weibliche Gefchlecht auszeichnen, find z. B. die ent- 
widelten Brüfte mit den Milchdrüfen der weiblichen Cäugethiere, der 
Beutel der weiblichen Beutelthiere. Auch Körpergröße und Haut- 
färbung ift bei den weiblichen Thieren vieler Arten abweichend. Alle 
diefe fetundären Gefchlechtseigenfchaften werden, ebenfo wie die Ge- 
ſchlechtsorgane felbft, vom männlichen Organismus nur auf den 
männlichen vererbt, nicht auf den weiblichen, und umgefehrt. Tie 
entgegengefepten Thatſachen find feltene Ausnahmen von der Regel. 

Ein viertes hierher gehöriges Vererbungägefep fteht in gewiſſem 
Sinne im Widerſpruch mit dem letzterwähnten, und befdpränft dafe 
felbe, nämlich das Gefep der gemifchten oder beiderfeitigen 
(ampbigonen) Vererbung. Diefes Gefep fagt auß, daß ein 
jedes organifhe Individuum, welches auf geſchlechtlichem Wege er- 
zeugt wird, von beiden Eitern Eigenthuͤmlichteiten annimmt, ſowohl 
vom Vater ald von der Mutter. Diefe Thatfache, daß von jedem 
der beiden Geſchlechter perjönfiche Eigenſchaften auf alle, ſowobl 
männliche ald weibliche Kinder übergehen, ift fehr wichtig. Goethe 
drüdt fie von fich felbft in dem, hübfchen Verſe aus: 

„Bom Vater hab’ ich die Statur, des Lebens ernftes Führen, 

„Vom Mütterchen bie Frohnatur und Luft zu fabulixen.” 

Diefe Erſcheinung wird Ihnen alten fo befannt fein, daß ich 


Gemiſchte oder amphigone Vererbung. Baſtardzeugung. 189 


hier darauf nicht weiter einzugehen brauche. Durch den verſchiede⸗ 
nen Antheil ihres. Charakters, welchen Vater und Mutter auf ihre 
Kinder vererben, werben vorzüglich die individuellen Verfchieden- 
heiten der Gefchwifter bedingt. 

Unter dieſes Gefep der gemifchten oder amphigonen Vererbung 
gebört auch die fehr wichtige und intereffante Erfeinung der Ba- 
fardbzeugung (Hybridismus). Richtig gewürdigt, genügt fie 
allein ſchon vollftändig, um das herrfchende Dogma von der Konftanz 
der Arten zu widerlegen. Pflanzen ſowohl als Thiere, welche zwei 
ganz verfhiedenen Species angehören, Tönnen fi) mit einander ge⸗ 
ſchlechtlich vermiſchen und eine Nachkommenſchaft erzeugen, die in 
vielen Fällen fi felbft wieder fortpflangen fann, und zwar ent- 
weder (häufiger) durch Vermiſchung mit einem der beiden Stamm- 
eltern, ober aber (feltener) durch reine Inzucht, indem Baftard ſich 
mit Baftard vermifht. Das feptere ift 3. B. bei den Baftarden von 
Hafen und Kaninchen feftgeftellt (Lepus Darwinii, ©. 131). All 
befannt find die Baftarde zwifchen Pferd und Efel, zwei ganz ver⸗ 
fhiedenen Arten einer Gattung (Equus). Diefe Baftarde find ver- 
ſchieden, je nachdem der Vater oder die Mutter zu der einen ober 
zu ber anderen Art, zum Pferd oder zum Efel gehört. Das Maul 
thier (Mulus), welches von einer Pferdeftute und einem Efelhengft 
erzeugt ift, hat ganz andere Eigenſchaften ald der Maufefel (Hin- 
nus), der Baftard vom Pferbehengft und der Efelftute. In jedem 
Fall ift der Baftard (Hybrida), der aus der Kreuzung zweier 
verfdjiedener Arten erzeugte Organismus, eine Mifchform, welde 
Eigenſchaften von beiden Eltern angenommen hat; allein die Eigen» 
fhaften des Baſtards find ganz verfchieden, je nach der Form der 
Kreuzung. So zeigen auch die Mulattenfinder, welche von einem 
Europäer mit einer Negerin-erzeugt werden, eine andere Miſchung 
der Charaktere, als diejenigen Baftarde, welche ein Neger mit einer 
Europäerin erzeugt. Bei diefen Erfheinungen ber Baſtardzeugung 
find wir (mie bei den anderen vorher erwähnten Bererbungägefepen) 
jegt noch nicht im Stande, die bewirkenden Urſachen im Einzelnen 


190 Abgeturzte ober vereinfachte Vererbung. 


nachzuweiſen. Aber fein Naturforfcher zweifelt daran, daß die Ur 
ſachen hier überall rein mechanifh, in der Natur der organiſchen 
Materie felbft begrimdet find. Wenn wir feinere Unterfuchungs- 
mittel als unfere groben Sinnesorgane und deren Hülfsmittel hätten, 
fo würden wir jene Urſachen erfennen, und auf die chemiſchen und 
phyfitalifchen Eigenſchaften der Materie zurüdführen Tönen. 

Als ein fünftes Gefep müffen wir nun unter den Erſcheinun ⸗ 
gen der Tonfervativen ober erhaltenden Vererbung noch das Gefek 
der abgefürzten oder vereinfachten Vererbung anführen. 
Diefes Gefeg ift fehr wichtig für die Embryologie oder Ontogenie, 
d. 5. für die Entwickelungsgeſchichte der organifchen Individuen. Wie 
ich bereits im erften Vortrage (S. 10) erwähnte und fpäter noch 
ausführlih zu erläutern habe, ift die Ontogenie oder die Ent 
wickelungsgeſchichte der Individuen weiter nicht? als eine kurze und 
ſchnelle, durch die Gefepe der Vererbung und Anpaſſung bedingte 
Wiederholung der Phylogenie, d. h. der paläontologifchen Ent- 
wickelungsgeſchichte des ganzen organifhen Stammes oder Phylum, 
zu welchem ber betreffende Organismus gehört. Wenn Sie z. 2. 
die individuelle Entwidelung des Menſchen, des Affen, oder irgend 
eines anderen höheren Säugethieres innerhalb des Mutterleibes vom 
Ei an verfolgen, fo finden Sie, daß der au® dem Ei entftehente 
Keim oder Embryo eine Reihe von fehr verſchiedenen Formen durch ⸗ 
läuft, welche im Ganzen übereinftimmt oder wenigften® parallel ift 
mit der Forimenreihe, welche die hiftorifche Borfahrenkette der höher 
ven Säugetbiere und bdarbietet. Zu dieſen Vorfahren gehören ge 
wiſſe Fiſche, Amphibien, Beutelthiere u. f. w. Allein der Paraller 
lismus oder die Uebereinſtimmung biefer beiden Entwidelungdreiben 
ift niemald ganz vollftändig. Vielmehr find in der Ontogenie im- 
mer Rüden und Sprünge, welche dem Ausfall einzelner Stadien 
der Phylogenie entfpregen. Wie Frip Müller in feiner audge- 
zeichneten Schrift „Für Darwin” !*) an dem Beifpiel der Gruita- 
een ober Krebſe vortrefflich erläutert hat, „wird die in der indivi- 
duellen Gntwidelungsgefähichte erhaltene geſchichtliche Urkunde all- 





Gefete der forf reitenben oder progreffven Bererbung. 191 


mäplich verwifcht, indem die Entwidelung einen immer geraderen 
Weg vom Ei zum fertigen Thiere einfchlägt.” Diefe Verwiſchung 
oder Abkürzung wird dur’ das Gefek der abgefürzten Vererbung 
bedingt, und ich will daffelbe hier deshalb beſonders hervorheben, 
weil ed von großer Bedeutung für das Berftändnig der Embryo» 
logie ift, und die anfangs befrembende Thatſache erklärt, dag nicht 
alle Enttwidelungsformen,, welche unfere Stammeltern durchlaufen 
baben, in der Formenreihe unferer eigenen individuellen Entwides 
lung noch fihtbar find. 

Den biöher erörterten Gefepen der erhaltenden oder konſerva⸗ 
tiven Vererbung ftehen nun gegenüber die Vererbungserſcheinungen 
der zweiten Reihe, die Gefege der fortfchreitenden oder pro— 
greffiven Vererbung. Sie beruhen, wie erwähnt, darauf, daß 
der Organismus nicht allein diejenigen Eigenfchaften auf feine Nach 
tommen überträgt, die er bereit® von den Voreltern ererbt hat, fon- 
den auch eine Anzahl von denjenigen individuellen Eigenthümlich- 
feiten, welche er felbft erft während feined Lebens erworben hat. 
Die Anpaffung verbindet fih hier bereit® mit der Vererbung. (Gen. 
Mowh. II, 186.) 

Unter diefen wichtigen Erfheinungen der fortfchreitenden oder 
progreffiven Vererbung tönnen wir an die Spipe ald das allge 
meinfte da® Gefep der angepaften oder erworbenen Ber- 
erbung ftellen. Daffelbe befagt eigentlich weiter Nicht, als was 
ich eben ſchon ausſprach, daß unter beftimmten Umftänden der Or⸗ 
ganismus fähig ift, alle Eigenfhaften auf feine Nachkommen zu 
vererben, welche er felbft erft während feines Lebens durch Anpaf- 
fung erworben hat. Am deutlichften zeigt ſich dieſe Erfdeinung 
natürlich dann, wenn die neu erworbene Eigenthümlichkeit die ererbte 
Form bedeutend abändert. Das war in den Beifpielen ber Tall, 
welche ich Ihnen in dem vorigen Bortrage von der Vererbung über» 
haupt angeführt habe, *bei den Menfchen mit ſechs Fingern und 
Zehen, den Stachelſchweinmenſchen, den Blutbuchen, Trauermei- 
den u. ſ. w. Auch die Vererbung eriworbener Krankheiten, 3. B. der 


192 Angepafte oder erworbene Vererbung. 


Schwindfuht, des Wahnfinn®, beweift dies Gefep: fehr auffällig. 
ebenfo die Vererbung des Albinismus. Albinos oder Kaferlaten 
nennt man ſolche Individuen, welche ſich durh Mangel der Fard- 
ftoffe oder Pigmente in der Haut auszeichnen. Solche fommen bi 
Menfchen, Tieren und Pflanzen fehr verbreitet vor. Bei Thieren, 
welche eine beftimmte dunkle Farbe haben, werben nicht felten ein- 
zelne Individuen geboren, welche der Farbe gänzlich entbehren, und 
bei ben mit Augen verfchenen Thieren ift diefer Pigmentmangel aub 
auf die Augen ausgedehnt, fo daß die gewöhnlich lebhaft oder dunfel 
gefärbte Regenbogenhaut oder Iris de Auges farblos ift, aber wegen 
der burchfehimmernden Blutgefäße roth erfcheint. ‚Bei manchen Thie- 
ven, z. B. den Kaninchen, Mäufen, find ſolche Albino® mit weißem 
Fell und rothen Augen fo beliebt, da man fie in großer Menge als 
befondere Raffe fortpflanzt. Died wäre nicht möglich ohne das Gefep 
der angepaßten Bererbung. 

Welche von einem Organismus erworbene Abänderungen ſich 
auf feine Nachkommen übertragen werben, welche nicht, ift von vom« 
herein nicht zu beftimmen, und wir fennen leider die beitimmien 
Bedingungen nicht, unter denen die Vererbung erfolgt. Wir wien 
nur im Allgemeinen, daß gewiſſe erworbene Eigenſchaften ſich viel 
feichter vererben als. andere, z. B. als die durch Verwundung ent 
ſtehenden Verftämmelungen. Diefe legteren werden in der Regel 
nicht erblich übertragen; fonft müßten die Defcendenten von Men ⸗ 
ſchen, die ihre Arme oder Beine verloren haben, auch mit dem Man 
gel des entfprechenden Armes ober” Beined geboren werden. Aus- 
nahmen find aber au hier vorhanden, und man hat z. B. eint 
ſchwanzloſe Hunderaffe dadurd gezogen, daß man mehrere Genera 
tionen hindurch beiden Gefchlechtern des Hundes Tonfequent den 
Schwanz abfehnitt. Noch vor einigen Jahren fam hier in der Rübt 
von Jena auf einem Gute der Fall vor, daß beim unvorjichtigen 
Zuſchlagen des Stallthored einem Zuchtſtier der Schwanz an der 
Wurzel abgequetfht wurde, und die von diefem Stiere ereugten 
Kälber wurden ſämmtlich ſchwanzlos geboren. Das ift allerdingd 





Angepaßte oder erworbene Vererbung. 193 


eine Ausnahme. Es ift aber fehr wichtig, die Thatfache feftzuftellen, 
daß unter gewiſſen und unbefannten Bedingungen auch ſolche gewalt⸗ 
fame Beränberungen erblich übertragen werben, in gleicher Weife wie 
viele Krankheiten. 

In fehr vielen Fällen ift die Abänderung, welche durch ange 
paßte Vererbung übertragen und erhalten wird, angeboren, fo bei 
dem vorher-erwähnten Albinismus. Dann beruht die Abänderung 
auf derjenigen Form der Anpaflung, welche wir die indirekte oder 
potentielle nennen. Ein fehr auffallendes Beifpiel dafür liefert dad 
hornloſe Rindvieh von Paraguay in Sübamerifa. Dafelbft wird 
eine befondere Rindviehraſſe gezogen, die ganz der Hörer entbehrt. 
Sie ftammt von einem einzigen Stiere ab, welcher im Jahre 1770 von 
einem gewöhnlichen gehörten Eiternpaare geboren wurde, und bei 
welchem der Mangel der Hörner durch irgend welche unbelannte Ur⸗ 
ſache veranlagt worden war. Alle Nachkommen dieſes Stieres, welche 
er mit einer gehörnten Kuh erzeugte, entbehrten der Hörner voliftän- 
dig. Man fand diefe Eigenſchaft vortheilhaft, und indem man die 
ungehömten Rinder unter einander fortpflangte, erhielt man eine 
hornloſe Rindviehraffe, welche gegenwärtig die gehörnten Rinder in 
Paraguay faft verdrängt hat. Ein ähnliches Beifpiel liefern die 
nordameritanifchen Otterſchafe. Im Jahre 1791 lebte in Maſſachu⸗ 
fett? in Nordamerika ein Landwirth, Seth Wright mit Namen. 
In feiner wohlgebildeten Schafheerde wurde auf einmal ein Lamm 
geboren, welches einen auffallend fangen Leib und ganz kurze und 
frumme Beine hatte. Es konnte daher feine großen Sprünge ma- 
Gen und namentlich nicht über den Zaun in des Nachbars Garten 
fpringen,, eine Eigenfchaft, welche dem Befiger wegen der Abgren- 
jung des dortigen Gebiets durch Heden fehr vortheilhaft erſchien. 
Er tam alfo auf den Gedanken, diefe Eigenfhaft auf die Nachkom⸗ 
men zu übertragen, und in der That erzeugte er durch Kreuzung 
diefes Schafbocks mit mohlgebildeten Mutterſchafen eine ganze Rafle 
von Schafen, die alle die Eigenfhaften des Vaters hatten, kurze 
und gefrümmte Beine und einen langen Leib. Sie konnten alle 

Hecdel, Natürt. Ehöpfungegeid. 5. Aufl. 13 





194 Befeſtigte oder lonſtituirte Vererbung. 


nicht über die Heden fpringen, und wurden deshalb in Maſſachuſetts 
damals fehr beliebt und verbreitet. . 

Ein zweites Gefep, welches ebenfall® unter die Reihe der pro- 
greffiven oder fortfhreitenden Vererbung gehört, können wir das 
Gefep der hefeftigten oder konftituirten Bererbung nen- 
nen. Daffelbe äußert ſich darin, dag Eigenfhaften, die von einem 
Organismus während feines individuellen Lebens erworben wurden, 
um fo fiherer auf feine Rachtommen erblich übertragen werden, je 
längere Zeit hindurch die Urſachen jener Abänderung einwirkten, und 
daß diefe Abänderung um fo fiherer Eigentbum auch aller folgen- 
den Generationen wird, je längere Zeit hindurch auch auf diefe die 
abändernde Urſache einwirkt. Die durch Anpaſſung oder Abände- 
tung neu erworbene Eigenſchaft muß in ber Regel erft bis zu einem 
gewiffen Grade befeftigt oder fonftituirt fein, ehe mit Wahrfcein- 
fichteit darauf zu rechnen ift, daß ſich diefelbe auch auf die Nach⸗ 
tommenſchaft erblich überträgt. In diefer Beziehung verhält fi die 
Vererbung ähnlich wie die Anpaffung. Je längere Zeit hindurch 
eine neuerworbene Eigenſchaft bereit durch Vererbung übertragen 
ift, defto ficherer wird fie auch in den fommenden Generationen ſich 
erhalten. Wenn alfo z. B. ein Gärtner durch methodifhe Behand- 
lung eine neue Yepfelforte gegüchtet hat, fo kann er um fo ficherer 
darauf rechnen, die erwünfchte Eigenthümlichkeit diefer Sorte zu er- 
halten, je länger er biefelbe bereits vererbt hat. Daffelbe zeigt ſich 
deutlich in der Vererbung von Krankheiten. Je länger bereits in 
einer Familie Schwindfucht oder Wahnfinn erblich ift, deſto tiefer 
gewurzelt iſt das Uebel, defto wahrfcheinlicher werden auch alle fol- 
genden Generationen davon ergriffen werben. 

Endlich können wir die Betrachtung der Erblichkeitserſcheinungen 
ſchließen mit den beiden ungemein wichtigen Geſetzen der gleichört- 
lichen und ber gleichjeitlichen Vererbung. Wir verftehen darunter die 
Thatfache, daß Veränderungen, welche von einem Organismus wäh- 
rend feines Lebens erworben und erblich auf feine Nachlommen über- 
tragen wurden, bei diefen an derſelben Stelle des Körpers bervor- 


Gleichzeitliche und gleicjörtfiche Bererbung. 195 


treten, am welcher der elterfiche Organismus zuerft von ihnen be» 
troffen wurde, und daß fie bei den Nachkommen auch im gleichen 
Lebensalter erfeheinen, wie bei dem erfteren. 

Das Gefep der gleichzeitlihen oder homochronen 
Bererbung, welches Darwin das Gefeh der „Bererbung in for- 
vefpondirendem Lebensalter“ nennt, läßt ſich wiederum fehr deutlich 
an der Vererbung von Krankheiten nachweiſen, zumal von folchen, 
die wegen ihrer Erblichkeit fehr verderblich werben. Diefe treten im 
tindlichen Organismus in der Regel zu einer Zeit auf, welche der- 
jenigen entfpriht, in welcher der elterliche Organismus die Krank⸗ 
heit erwarb. Erbliche Erkrankungen der Zunge, der Leber, der Zähne, 
des Gehimd, der Haut u. ſ. w. erfheinen bei den Nachlommen ge- 
wohnlich in ber gleichen Zeit ober nur wenig früher, als fie beim 
elterlichen Organismus eintraten, oder von dieſem überhaupt ermor« 
ben wurden. Das Kalb bekommt feine Hörner in demfelben Le- 
bensalter wie feine Eltern. Ebenſo erhält das junge Hirſchtalb fein 
Geweih in derfelben Lebenszeit, in welcher es bei feinem Bater und 
Großvater hervorgefproßt war. Bei jeder der verfchiedenen Wein- 
forten veifen die Trauben zur felben Zeit, wie bei ihren Boreltern. 
Bekanntlich ift diefe Reifezeit bei den verfehiedenen Sorten fehr ver⸗ 
ſchieden; da aber alle von einer einzigen Art abftammen, ift diefe 
Berfhiedenheit von den Stammeltern der einzelnen Sorten erft er- 
worben worden und hat fih dann erblich fortgepflanzt. 

Das Gefep der gleihörtlihen oder homotopen Ber- 
erbung endlich, welches mit dem leßterwähnten Gefege im engiten 
Zufammenhange fteht, und weldes man auch „das Gefep der Ver⸗ 
erbung an korreſpondirender Körperftelle” nennen könnte, läßt ſich 
wiederum in pathologiſchen Erblichkeitsfällen fehr deutlich erkennen. 
Große Muttermale 3. B. oder Pigmentanhäufungen an einzelnen 
Hautftellen, ebenfo Geſchwülſte der Haut, erfcheinen oft Generatio- 
nen hindurch nicht allein in demfelben Lebensalter, fondern auch an 
derfelden Stelle der Haut. Ebenſo ift übermäßige Fettentwidelung 
an einzelnen Körperftellen erblih. Eigentlich aber find für dieſes 

13 * 


196 Wechſelwirtung der Vererbung und Anpaflung. 


Geſetz, wie für das vorige, zahllofe Beifpiele überall in ber Em- 
bryologie zu finden. Sowohl das Gefep der gleichzeitlihen 
als das Gefep der gleihörtlihenBererbung find Orund- 
gefepe der Embryologie oder Ontogenie. Denn wir erflä- 
ren uns durch dieſe Geſetze die merkwürdige Thatfahe, daß die ver- 
fhiedenen auf einander folgenden Formzuſtände während der indivi- 
duellen Entwicelung in allen Generationen einer und derfelben Art 
ſtets in derfelben Reihenfolge auftreten, und da die Umbildungen des 
Korpers immer an denfelben Stellen erfolgen. Diefe ſcheinbar einfache 
und felbftverftändfihe Erfheinung ift doch überaus wunderbar und 
merkwürdig; wir Rönnen die näheren Urfachen berfelben nicht erklären, 
aber mit Sicherheit behaupten, daß fie auf der unmittelbaren Hebertra- 
gung der organifchen Materie vom elterlihen auf den kindlichen Orga- 
nismus beruhen, wie wir e8 im Borigen für den Vererbungsprozeß im 
Allgemeinen aus den Thatfachen der Fortpflanzung nachgewieſen haben. 

Nachdem wir fo die wichtigften Vererbungsgeſetze hernorgeho- 
ben haben, wenden wir und zur zeiten Reihe der Erfcheinungen, 
welche bei der natürlichen Züchtung in Betracht kommen, nämlich 
zu denen der Anpaffung oder Abänderung. Diefe Erfcheinungen 
ftehen, im Großen und Ganzen betrachtet, in einem gewiſſen &e- 
genfage zu den Vererbungserfcheinungen, und die Schwierigkeit, welche 
die Betrachtung beider barbietet, beftcht zunächſt darin, daß beide 
ſich auf das Bolftändigfte durchkreuzen und verweben. Daher find 
wir nur felten im Stande, bei den Kormveränderungen, die unter 
unfern Augen geſchehen, mit Sicherheit zu fagen, wieviel davon auf 
die Vererbung, wieviel auf die Apänderung zu beziehen ift. Alle 
Formcharaktere, durch welche ſich die Organismen unterſcheiden, find 
entweder durch die Vererbung oder durch die Anpaffung verurfacht; 
da aber beide Funktionen beftändig in Wechſelwirkung zu einander 
ftehen, ift e8 für den Syftematifer außerordentlich ſchwer, den An- 
theil jeder der beiden Funktionen an der fpeciellen Bildung der ein» 
zelnen Formen zu erkennen. Dies ift gegenwärtig um fo fehmieri« 
ger, al® man ſich noch kaum der ungeheuren Bedeutung diefer That- 


- Anpaffung und Beränderlichteit. 197 


ſache bewußt geworden ift, und als die meiften Naturforicher die 
Theorie der Anpaffung,, ebenfo wie die der Vererbung vernachläffigt 
haben. Die foeben aufgeftelften Vererbungsgeſetze, wie die ſogleich 
anzuführenden Gefege der Anpaffung, bilden gewiß nur einen Mei» 
nen Bruchtheil der vorhandenen, meift nod nicht unterfuchten Er- 
ſcheinungen dieſes Gebietes; und da jedes dieſer Gefepe mit jedem 
anderen in Wechfelbeziehung treten kann, fo geht daraus die unend- 
liche Berwidelung von phyſiologiſchen Thätigfeiten hervor, die bei 
der Formbildung der Organismen in der That wirkfam find. 

Was nun die Erfeinung der Abänderung ober Anpaffung im 
Allgemeinen betrifft, fo müffen wir diefelbe, ebenfo wie die That- 
ſache der Vererbung, als eine ganz allgemeine phyfiologifhe Grund- 
eigenfhaft aller Organismen ohne Ausnahme hinftellen, als eine 
Lebensäußerung, welche von dem Begriffe des Organismus gar nicht 
zu trennen ift. Streng genommen müffen wir auch hier, wie bei 
der Vererbung, zwifchen der Anpaſſung felbft und der Anpaffungs- 
fähigkeit untericeiden. Unter Anpaffung (Adaptatio) oder Ab- 
änderung (Variatio) verftehen wir die Thatfache, daß der Dr« 
ganismus in Folge von Einwirkungen der umgebenden Außenwelt 
gewiſſe neue Eigenthümlichteiten in feiner Qebensthätigkeit, Mifchung 
und Form annimmt, welde er niht von feinen Eltern geerbt hat; 
diefe erworbenen individuellen Eigenfchaften ftehen den ererb- 
ten gegenüber, welche feine Eltern und Voreltern auf ihn übertra- 
gen haben. Dagegen nennen wir Anpaffungsfähigfeit(Adap- 
tabilitas) oder Beränberlichfeit (Variabilitas) die allen Orga⸗ 
nismen inne wohnende Fähigkeit, derartige neue Eigenſchaften un- 
ter dem Einfluffe der Außenwelt zu erwerben. (Gen. Morph. II, 191.) 

Die unleugbare Thatfache der organifhen Anpaffung oder Ab- 
änderung ift allbefannt, und an taufend und umgebenden Erſchei⸗ 
nungen jeden Augenblid wahrzunehmen. Allein gerade beshalb, 
weil die Erfheinungen der Abänderung dur äußere Einflüffe felbft- 
verftändfich erſcheinen, hat man bdiefelben bisher noch faft gar nicht 
einer genaueren wiſſenſchaftlichen Unterfuchung unterzogen. Es ge- 


198 Anpefiung und Beränberfileit 


hören dahin alle Erſcheinungen, welche wir ald die Folgen der Ange: 
wöhnung und Abgewöhnung, der Uebung und Richtübung betrach⸗ 
ten, oder als die Folgen der Drefiur, der Erziehung, der Acclimati- 
fation, der Gymnaſtik u. ſ. w. Auch viele bleibende Beränderungen 
durch krankmachende Urfadhen, viele Krankheiten find weiter nichts als 
gefährliche Anpaflungen des Organismus an verberbliche Lebensbedin · 
gungen. Bei den Kulturpflanzen und Hausthieren tritt die Erſchei⸗ 
nung der Abänderung fo auffallend und mächtig hervor, daß eben 
darauf der Thiergühter und Gärtner feine ganze Thätigkeit gründet, 
oder vielmehr auf die Wechſelbeziehung, in weiche er diefe Erſcheinun ⸗ 
gen mit denen der Bererbung fest. Ebenfo ift e8 bei den Pflanzen 
und Thieren im wilden Zuftande allbefannt, daß fie abändern oder 
variiren. Jede foftematifche Bearbeitung einer Thier- oder Pilangen- 
gruppe müßte, wenn fie ganz vollftändig und erihöpfend fein wollte, 
bei jeber einzelnen Art eine Menge von Abänderungen anführen, welche 
mebr oder weniger von der herrſchenden oder typiſchen Hauptform der 
Species abweichen. In der That finden Sie in jedem genauer gear- 
beiteten foftematifchen Specialwerf bei ben meiften Arten eine Anzahl 
von ſolchen Variationen oder Umbildungen angeführt, welche bald als 
individuelle Abweichungen, bald ald fogenannte Spielarten, Raffen, 
Varietäten, Abarten oder Unterarten bezeichnet werden, und welche oft 
außerordentlich weit fi) von der Stammart entfernen, lediglich durch 
die Anpaffung des Organismus an die äußern Lebensbedingungen. 

Wenn wir nun zunädft die allgemeinen Urſachen diefer Anpaf- 
fungserfcpeinungen zu ergründen fuchen, fo fommen wir zu dem Re» 
ſultate, daß diefelben in Wirflichfeit fo einfach find, als die Urſachen 
der Erblickeitderfheinungen. Wie wir für die Vererbungsthatſachen 
die Fortpflanzung als allgemeine Grundurſache nachgewielen, die 
Mebertragung der elterlichen Materie auf ben kindlichen Körper, fo 
tönnen wir für die Thatſachen der Anpaffung oder Abänderung, als 
die allgemeine Grundurſache, die phyſiologiſche Thätigkeit der Er- 
nährung oder des Stoffwechſels hinſtellen. Wenn ich bier die 
„ernährung“ ala Grundurfache der Abänderung und Anpaffung an 


Zuſannnenhang der Anpaffung und der Ernährung. 190 


führe, fo nehme ich diefed Wort im weiteſten Sinne, und verftehe 
darunter die gefammten materiellen Veränderungen, welche der Or- 
ganismus in allen feinen Theilen durch die Einflüffe der ihn umge- 
benden Außenwelt erleidet. Es gehört alfo zur Emährung nicht 
allein die Aufnahme der wirklich nährenden Stoffe und der Einfluß 
der verſchiedenartigen Nahrung, fondern aud z. B. die Einwirkung 
des Waſſers und der Atmofphäre, der Einfluß des Sonnenlichts, der 
Temperatur und aller derjenigen meteorologifchen Erſcheinungen, welche 
man unter dem Begriff „Klima“ zuſammenfaßt. Auch der mittel- 
bare und unmittelbare Einfluß der Bodenbefhaffenheit und des Wohn- 
orts gehört hierher, ferner der Äuferft wichtige und vielfeitige Ein- 
flug, welchen die umgebenden Organismen, bie Freunde und Rachbarn, 
die Feinde und Räuber, die Schmaroper oder Barafiten u. ſ. w. auf jes 
des Thier und auf jede Pflanze ausüben. Alle diefe und noch viele an- 
. dere höchft wichtige Einwirfungen, welche alle ben Organismus mehr 
ober weniger in feiner materiellen Zufammenfegung verändern, müſ⸗ 
fen bier beim Stoffwechfel in Betracht gezogen werden. Demgemäß 
wird die Anpaffung die Folge aller jener materiellen Veränderungen 
fein, welche die äußeren Exiſtenz ⸗Bedingungen, die Einflüffe der umge» 
benden Außenwelt im Stoffmechfel des Organismus hervorbringen. 
Wie fehr jeder Organismus von feiner gefammten äußeren Um⸗ 
gebung abhängt und durch deren Wechfel verändert wird, ift Ihnen 
Allen im Allgemeinen befannt. Denten Sie bloß daran, wie die 
menſchliche Thatkraft von der Temperatur der Luft abhängig ift, ober 
die Gemüthaftimmung von der Farbe des Himmel. Je nachdem 
der Himmel wolkenlos und fonnig ift, oder mit trüben, ſchweren 
Wolfen bedeckt, ift unfere Stimmung heiter ober trübe. Wie an« 
ders empfinden und denfen wir im Walde während einer ftürmi« 
fhen Winternacht und während eines heitern Sommertages! Alle 
diefe verſchiedenen Stimmungen unferer Seele beruhen auf rein ma- 
teriellen Veränderungen unfere® Gehirns, auf molekularen Plaama- 
Bewegungen, welche mittelft der Sinne durch die verſchiedene Ein- 
wirkung des Lichtes, der Wärme, der Feuchtigkeit u. f. w. hervorge · 
bradt werden. „Wir find ein Spiel von jedem Drud der Luft!“ 


200 Zuſaumenhang der Anpaffung und der Emährung. 


Nicht minder wichtig und tiefgreifend find die Einwirkungen, 
melde unfer Geift und unfer Körper durch die verſchiedene Qualität 
und Quantität der Nahrungsmittel im engeren Sinne erfährt. Un- 
fere Geiftesarbeit, die Ihätigkeit unfere® Verſtandes und unferer 
Phantafie ift gänzlich verſchieden, je nachdem wir vor und während 
derfelben Thee und Kaffee, oder Wein und Bier genofien haben. Un- 
fere Stimmungen, Wünſche und Gefühle find ganz anders, wenn 
mir hungern und wenn wir gefättigt find. Der Nationalharakter 
der Engländer und der Gauchos in Südamerika, welde vorzugd- 
weife von Fleiſch, von ftidftoffreiher Nahrung leben, ift gänzlich 
verſchieden von demjenigen ber Tartoffeleffenden Irländer und der 
reiseſſenden Chinefen,, melche vorwiegend ftidftofflofe Nahrung ge= 
nießen. Auch lagern die legteren viel mehr Fett ab, als die erfteren. 
‚Hier wie überall gehen bie Veränderungen des Geifted mit entfpre- 
enden Umbildungen des Körpers Hand in Sand; beide find durch 
rein materielle Urfachen bedingt. Ganz ebenfo wie der Menſch, wer- 
den aber auch alle anderen Organismen durch die verſchiedenen Ein- 
flüffe der Emährung abgeändert und umgebilbet. Ihnen Allen ift 
befannt, dag wir ganz willfürlich die Form, Größe, Farbe u. ſ. w. bei 
unferen Rufturpflanzen und Hausthieren durch Veränderung der Rab« 
rung abändern fönnen, daß wir z. B. einer Pflanze ganz beftimmte 
Eigenfhaften nehmen oder geben können, je nachdem mir fie einem 
größeren oder geringeren Grade von Sonnenlicht und Feuchtigkeit aud- 
fepen. Da bdiefe Erfheinungen ganz allgemein verbreitet und befannt 
find, und wir ſogleich zur Betrachtung der verfchiedenen Anpaffungd- 
‚gefepe übergehen werden, wollen wir un® bier nicht länger bei den 
allgemeinen Thatſachen der Abänderung aufhalten. 

Gleichwie die verfiedenen Vererbungägefepe ſich naturgemäß in 
die beiden Reihen ber fonfervativen und der progreffiven Vererbung 
fondern laſſen, fo fann man unter den Anpaffungsgefepen ebenfalls 
zwei verfchiedene Reihen unterfheiden, nämlich erften® die Reihe der 
indireften ober mittelbaren, und zweitens die Reihe der direkten 
ober unmittelbaren Anpaflungsgefege. Leptere kann man auch al® 
aftuelle, erftere ala potentielle Anpafiungägefepe bezeichnen. 


uUnterſcheidung ber inbireften und direkten Anpafſuug. 201 


Die erſte Reihe, welche die Erſcheinungen der unmittelbaren 
oder in direkten (potentiellen) Anpafjung umfaßt, ift im Ganzen 
biß jept fehr wenig berüdfichtigt worden, und es bleibt das Ver⸗ 
dienft Darmwin’s, auf diefe Reihe von Veränderungen ganz befon« 
derz hingewieſen zu haben. Es ift etwas ſchwierig, diefen Gegen- 
fand gehörig Mar darzuftellen; ich werde verfuhen, Ihnen ben 
felben nachher durch Beifpiele deutlich zu machen. Ganz allgemein 
außgebrüct befteht die indirekte ober potentielle Anpaffung in der 
Thatfadhe, daß gewiſſe Veränderungen im Organismus, welche durch 
den Einfluß der Nahrung (im meiteften Sinne) und überhaupt der 
äuferen Epiftenzbedingungen bewirkt werden, nicht in der indivi- 
duellen Formbeſchaffenheit des betroffenen Organismus felbft, fon- 
dern in derjenigen feiner Nachkommen ſich äußern und in die Er- 
ſcheinung treten. So wird namentfih bei den Organismen, welche 

«fi auf geſchlechtlichem Wege fortpflanzen, das Reproduktionsſyſtem 
oder der Geſchlechtsapparat oft Durch äußere Wirkungen, welche im 
Uebrigen den Organismus wenig berühren, bergeftalt beeinflußt, 
daß die Nachkommenſchaft deijelben eine ganz veränderte Bildung 
zeigt. Sehr auffällig kann man das an den fünftlih erzeugten Mon- 
frofitäten. fehen. Man kann Monftrofitäten oder Mißgeburten da- 
durch erzeugen, daß man ben elterlihen Organismus einer beftimm« 
ten, außerorbentfichen Lebensbedingung unterwirft. Diefe ungewohnte 
Lebensbedingung erzeugt aber nicht eine Veränderung des Drganid- 
muß ſelbſt, fondern eine Veränderung feiner Nachtommen. Dan 
farm das nicht als Bererbung bezeichnen, weil ja nicht eine im 
elterfihen Organismus vorhandene Eigenfhaft als folche erblih auf 
die Nachtommen übertragen wird. Vielmehr tritt eine Abänderung, 
welche den efterlihen Organismus betraf, aber nicht wahmehmbar 
affitirte, erft in der eigenthümlichen Bildung feiner Nachtommen 
wirffam zu Tage. Bloß der Anftoß zu diefer meuen Bildung wird 
durch das Ei der Mutter oder durch den Samenfaden des Baterd 
bei der Fortpflanzung übertragen. Die Neubildung ift im elterlichen 
Organismus bloß der Möglichfeit nad) (potentia) vorhanden; 
im kindlichen wird fie zur Wirklichkeit (actu). 





202 Unterfeeibung der indirelten unb direlten Anpaffung. 


Während man biefe fehr wichtige und fehr allgemeine Erſchei⸗ 
nung bisher ganz vernadhläffigt hatte, war man geneigt, alle wahr ⸗ 
nehmbaren Abänderungen und Umbildungen der organifden Formen 
als Anpaflungserfpeinungen der zweiten Reihe zu betrachten, der⸗ 
jenigen der unmittelbaren oder direk ten (aftuellen) Anpaffung. Des 
Weſen biefer Anpaffungsgefepe liegt darin, daß bie den Organit- 
muß betreffende Beränderung (in der Emährung u. f. w.) bereit® in 
deſſen eigener Umbildung umd nicht erft in derjenigen feiner Rad 
tommen ſich äußert. Hierher gehören alle die befannten Erfcpeinun- 
gen, bei denen wir den umgeftaltenden Einfluß des Klimas, der 
Rabrung, der Erziehung, Dreffur u. ſ. w. unmittelbar an den ber 
troffenen Individuen felbft in feiner Wirkung verfolgen können. 

Wie die beiden Erfheinungsreihen ber fonfervativen und der 
progreffiven Vererbung troß ihred prinzipiellen Unterſchiedes vielfach 
in einander greifen und fid) gegenfeitig mobdifieiren, vielfach zufam« 
menwirfen und ſich durchfreugen, fo gilt das in noch höherem Maße 
von den beiden entgegengefepten und doch innig zuſammenhaͤngenden 
Erſcheinungsreihen der indirekten und ber bireften Anpaffung. Einige 
Raturforfger, namentlih Darwin und Carl Bogt, ſchreiben den 
indirekten oder potentiellen Anpaflungen eine viel bebeutendere oder 
ſelbſt eine faft ausſchließliche Wirffamteit zu. Die Mehtzahl der 
Naturforfcher aber war bisher geneigt, umgefehrt das Hauptgewicht 
auf die Wirkung der direften oder aftuellen Anpafjungen zu legen. 
Ich halte diefen Streit vorläufig für ziemlih unnüg. Rur felten 
find wir in der Rage, im einzelnen Abänderungsfalle beurtheilen zu 
önnen, wieviel davon auf Rechnung der direkten, wieviel auf Redh- 
nung der indireften Anpaffung ömmt. Wir fennen im Ganzen diefe 
außerordentlich wichtigen und verwidelten Berhättmiffe noch viel zu 
wenig, und konnen daher nur im Allgemeinen die Behauptung aufftel- 
len, daß die Umbildung der organifchen Formen entweder bloß der 
direften, oder bloß der indiveften. oder endlich dritten? dem Zuſam · 
menwirken der direften und der indirekten Anpaffung zuzuſchreiben ift. 





Zehnter Vortrag. 
Anpafjungsgefege 





Geſetze der inbireften ober potentiellen Anpafjung. Individuelle Anpaflung. 
Monftröfe oder ſprungweiſe Anpaffung. Gefchlechtliche oder feruelle Anpaffung. 
Gefehe der bireten ober altuellen Anpaffung. Allgemeine oder univerfelle Anpaf» 
fung. Gehänfte oder cumulative Anpaffung. Gehäufte Einwirkung der äußeren 
Erifenybedingungen und gehäufte Gegenwirtung des Organiemus. Der freie Wille, 
Gebrauch und Nichtgebrauch ber Organe. Uebung und Gewohnheit. Wechſelbe - 
sügliche ober forrelative Anpaffung. Wechſelbeziehungen der Entwidelung. Korre- 
Iation ber Organe. Erflärung der indirekten oder potentiellen Anpafjung durch 
die Korrelation der Geſchlechtsorgane und ber übrigen Körpertheile. Abweichende 
ober bivergente Anpaffung. Unbeſchrankte ober unendliche Anpaffung. 


Meine Herren! Die Erſcheinungen der Anpaffung oder Abän- 
derung, welche in Verbindung und in Wechſelwirkung mit den Ver⸗ 
erbungerfheinungen die ganze unendliche Mannichfaltigkeit der Thier- 
und Pflangenformen beroorbringen, hatten wir im fegten Bortrage 
in zwei verfehiedene Gruppen gebracht, erftend die Reihe der in« 
direkten oder potentiellen und zweitens die Reihe der direkten oder 
attuellen Anpaffungen. Wir wenden uns nun heute zu einer nähe» 
tm Betrachtung der verfchiedenen allgemeinen Geſetze, welche wir 
unter biefen beiden Reihen von Abänderungserfcheinungen zu erken⸗ 
nen im Stande find. Laſſen Sie und zunächft die merkwürdigen 
und fehr wichtigen, obwohl bisher fehr vernachläffigten Erſcheinungen 
der inbireften oder mittelbaren Abänderung in’8 Auge faffen. 


204 Gehete der indirekten Anpaflung. Individuelle Anpeffung. 


Die indirekte oder potentielle Anpaffung äußert fih, 
wie Sie fi erinnern werden, in der auffallenden und äußerft wid- 
tigen Thatſache, daß die organiſchen Individuen Umbildungen er- 
leiden und neue Formen annehmen in Folge von Emährungsver- 
änderungen, welche nicht fie felbft, ſondern ihren elterlichen Orga- 
nismus betrafen. Der umgeftaltende Einfluß der äußeren Epiftenz- 
bedingungen, des Klima®, der Nahrung ꝛc. äußert hier feine Wir- 
fung nicht direkt, in der Umbildung des Organismus felbft, fondern 
indireft, in derjenigen feiner Nachtommen (Gen. Morph. II, 202). 

AS das oberfte und allgemeinfte von den Gefepen der indirel- 
ten Abänderung Tönnen wir das Gefeg der individuellen An— 
paffung hinftellen, nämlich den wichtigen Sag, daß alle organi« 
ſchen Individuen von Anbeginn ihrer individuellen Exiſtenz an un 
glei), wenn auch oft höchſt ähnlich) find. Zum Beweis dieſes Gapes 
tönnen wir zunächft auf die Thatſache hinweifen, daß beim Men- 
fhen allgemein alle Geſchwiſter, alle Kinder eined Eltempaared von 
Geburt an ungleich find. Es wird Niemand behaupten, daß zwei 
Geſchwiſter bei der Geburt noch vollkommen gleich find, daß die 
Größe aller einzelnen Körpertheile, die Zahl der Kopfhaare, der Ober« 
hautzellen, ber Blutzellen in beiden Geſchwiſtern ganz gleich fei, dab 
beide diefelben Anlagen und Talente mit auf die Welt gebracht haben. 
Ganz beſonders beweifend für dieſes Gefep der individuellen Ber- 
ſchiedenheit ift aber die Thatfache, daß bei denjenigen Thieren, welche 
mehrere Junge werfen, 3. ®. bei den Hunden und Katzen, alle Jungen 
eines jeden Wurfed von einander verſchieden find, bald durch gerin« 
gere, bald durch auffallendere Differenzen in der Größe, Färbung, 
Länge der einzelnen Körpertheile, Stärke u. |. wm. Run gilt aber 
dieſes Gefeß ganz allgemein. Alle organifchen Individuen find von 
Anfang am durch gewiffe, wenn auch oft höchft feine Unterſchiede 
außgezeichnet und die Urfache diefer individuellen Unterfhiede, werm 
au im Einzelnen und gewöhnlich ganz unbefannt, liegt theilweife 
oder ausſchließlich in gewiſſen Einwirfungen, welche die Fortpilan- 
zungsorgane des elterlichen Organismus erfahren haben. 


Monftröfe oder ſprungweiſe Anpaffung. 205 

Weniger wichtig und allgemein, als dieſes Gefeg der indivi- 
duellen Abänderung, ift ein zweites Geſetz der indirekten Anpaffung, 
weldhes wir das Gefek der monftröfen oder fprungmeifen 
Anpaffung nennen wollen. Hier find die Abweichungen des kind⸗ 
lichen Organismus von der elterlichen Form fo auffallend,“ daß wir 
fie in der Regel als Mißgeburten oder Monftrofitäten bezeichnen 
tönnen. Diefe werden in vielen Fällen, wie e® durch Erperimente 
nachgewiefen ift, dadurch erzeugt, da man den elterlihen Organis⸗ 
mus einer beftimmten Behandlung unterwirft, in eigenthümliche Er- 
naͤhrungsverhaltniſſe verfegt, z. B. Luft und Licht ihm entzieht oder 
andere auf feine Emährung mächtig einwirkende Einflüffe in ber 
fimmter Weife abändert. Die neue Eriftenzbedingung bewirkt eine 
flarte und auffallende Abänderung ber Geftalt, aber nicht an dem 
unmittelbar davon betroffenen Organismus, fondern erft an deſſen 
Rachkommenſchaft. Die Art und Weife diefer Einwirkung im Ein« 
zelnen zu erfennen, ift un® auch bier nicht möglich, und mir können 
nur ganz im Allgemeinen ben urfächlihen Zufammenhang zwiſchen 
der monftröfen Bildung des Kindes und einer gewiſſen Veränderung 
in den Eriftengbedingungen feiner Eftern, fowie deren Einfluß auf 
die Fortpflanzungsorgane der Iepteren, feftftellen. In diefe Reihe 
der monftröfen ober fprungweifen Abänderungen gehören wahrfchein- 
lich die früher erwähnten Erſcheinungen des Albiniemus, fowie die 
einzelnen Fälle von Menſchen mit fech® Fingern und Zehen, von 
ungehömten Rindern, fowie von Schafen und Ziegen mit vier oder 
ſechs Hömern. Wahrſcheinlich verdankt in allen dieſen Fällen die 
monftröfe Abänderung ihre Entftehung einer Urfache, welche zunächft 
nur das Reproduftionsfgftem des elterlihen Organismus, das Ei 
der Mutter oder das Sperma des Baterd afficirte. 

Als eine dritte eigenthämliche Aeußerung der indireften Anpaf- 
fung fönnen wir das Gefeh der geſchlechtlichen oder feguel- 
len Anpaffung bezeichnen. So nennen wir die merkwürdige That- 
ſache, daß beftimmte Einflüffe, welche auf die männlichen Fortpflan- 
dungdorgane einwirken, nur in der Formbildung der männlichen Nach⸗ 





206 Geſchlechtliche Anpaffung. Urſachen der indireften Anpaffung. 


tommen, und ebenfo andere Einflüffe, welche die weiblichen Ge 
ſchlechtsorgane betreffen, nur in der Geftaltveränderung ber weib- 
lichen Nachkommen ihre Wirkung äußern. Diefe merkwürdige Gr 
ſcheinung ift noch fehr dunkel und wenig beachtet, wahrſcheinlich aber 
von großer Bedeutung für die Entftehung der früher betrachteten 
‚setundären Sexualcharaktere“. 

Alle die angeführten Erſcheinungen der gefchledhtlichen, der 
fprungweifen und der indiniduellen Anpaffung, welche wir ald „Ge⸗ 
fege der indirekten oder mittelbaren (potentiellen) Anpailung“ zu 
fammenfaffen können, find uns in ihrem eigentlichen Weſen, in ihrem 
tieferen urſächlichen Zufammenhang noch äußerft wenig belannt. 
Nur foviel läßt ſich ſchon jept mit Sicherheit behaupten, daß fehr 
zahlreiche und wichtige Umbildungen ber organifcen Formen diefem 
Borgange ihre Entftehung verdanken. Viele und auffallende Fom ⸗ 
veränderungen find lediglich bedingt durch Urſachen, welche zunächſ 
nur auf die Gmährung des elterlihen Organismus und zwar auf 
deſſen Fortpflanzungsorgane einwirften. Offenbar find hierbei die 
wichtigen Wechfelbegiehungen , in denen die Geſchlechtsorgane zu den 
übrigen Körpertheilen ftehen, von ber größten Bedeutung. Bon die 
fen werben wir ſogleich bei dem Geſehe der wechſelbezüglichen An- 
paffung noch mehr zu fagen haben. Wie mächtig überhaupt Ber- 
änderungen in den Rebendbedingungen, in der Emährung auf die 
Fortpflanzung der Organismen einwirten, beweifi allein ſchon die 
merfoürbige Thatſache, daß zahlreiche wilde Thiere, die wir in um 
feren zoologifhen Gärten halten, und ebenfo viele in unfere bota 
niſchen Gärten verpflanzte egotifche Gerwächfe nicht mehr im Stande 
find, fi fortzupflanzen, fo z. B. die meiften Raubvögel, Papogenen 
und Affen. Aud der Elephant und die bärenartigen Raubthiert 
werfen in der Gefangenfchaft faft niemald Junge. Ebenfo werden 
viele Pflanzen im Kufturzuftande unfrudhtbar. Es erfolgt zwar die 
Verbindung der beiden Gefchlechter, aber feine Befruchtung oder feine 
Entwidelung der befruchteten Keime. Hieraus ergiebt ſich unzweifel 
haft, daß die durch den Kulturzuſtand veränderte Ernaͤhrungẽewerne 





Geſetze der direlten Anpaffung. 207 


die Fortpflanzungsfähigfeit gänzlich aufzuheben, alfo den größten 
Einfluß auf die Geſchlechtsorgane auszuüben im Stande if. Ebenfo 
tonnen andere Anpaffungen oder Emährungsveränderungen des elter⸗ 
lien Organismus zwar nicht den gänzlihen Ausfall der Nachkom⸗ 
menſchaft, wohl aber bedeutende Umbilbungen in deren Form ver» 
anlaffen. 

Viel befannter ald die Erſcheinungen der indirekten oder poten- 
tiellen Anpafjung find diejenigen der direkten oder aktuellen 
Anpaffung, zu deren näherer Betrachtung wir und jept wenden. 
63 gehören hierher alle diejenigen Abänderungen der Organismen, 
welche man als die Folgen der Hebung, Gewohnheit, Dreflur, Er- 
siehung u. ſ. w. betrachtet, ebenfo diejenigen Umbildungen der orga- 
nifhen Formen, welche unmittelbar dur den Einfluß der Rahrung, 
des Klimas und anderer äußerer Eriftenzbedingungen bewirkt werben. 
Wie ſchon vorher bemerkt, tritt hier bei der direkten oder unmittele 
baren Anpaffung der umbildende Einfluß der äußeren Urſache un⸗ 
mittelbar in der Form des betroffenen Organismus felbft, und nicht 
erſt in derjenigen feiner Nachkommenſchaft wirkſam zu Tage (Gen. 
Morph. II, 207). 

Unter den verfchiedenen Gefepen der direkten oder aftuellen An- 
paſſung fönnen wir als das oberfte und umfaffendfte das Gefep 
der allgemeinen oder univerfellen Anpaffung an bie 
Spige ftellen. Daſſelbe läßt fih fur, in dem Sage ausſprechen: 
„Alle organifchen Individuen werben im Laufe ihre® Lebens durch 
Anpaflung an verfhiedene Lebensbedingungen einander ungleich, ob⸗ 
wohl die Individuen einer und derfelben Art ſich meiſtens fehr ähn- 
lich bleiben.“ Gine gewiſſe Ungfeichheit der organiſchen Individuen 
wurde, wie Sie fahen, ſchon durch das Geſetz der individuellen (in« 
direkten) Anpaffung bedingt. Allein diefe urfprüngfiche Ungfeichheit 
der Eingelwefen wird fpäterhin dadurch noch gefteigert, daß jedes 
Individuum ſich während feines felbftftändigen Lebens feinen eigen- 
thümlichen Epiftenzbedingungen unterwirft und anpaßt. Alle ver» 
ſchiedenen Einzelweſen einer jeden Art, fo ähnlich fie in ihren erften 


208 Allgemeine oder univerfelle Anpaffung. 


Lebensſtadien auch fein mögen, werden im weitern Berfaufe der Eri- 
ftenz einander mehr ober minder ungleich. In geringeren ober be 
deutenderen Eigenthümfichkeiten entfernen fie fi von einander, und 
das ift eine natürliche Folge der verfchiedenen Bedingungen, unter 
denen alle Individuen leben. Es giebt nicht zwei einzelne Weſen 
irgend einer Art, die unter ganz gleihen äußeren Umftänden ihr 
Leben vollbringen. Die Lebensbedingungen der Nahrung, der Feud- 
tigkeit, der Quft, des Lichtes, ferner die Lebensbebingungen der Gr 
ſellſchaft, die Wechfelbeziehungen zu den umgebenden Individuen ders 
felben Art und anderer Arten, find bei allen Einzelweſen verſchieden; 
und diefe Berfchiebenheit wirkt zunächft auf die Funktionen, weiter 
hin auf die Formen jedes einzelnen Organismus umbildend ein. 
Wenn Geſchwiſter einer menſchlichen Familie fhon von Anfang an 
gewiſſe individuelle Ungfeichheiten zeigen, die wir ald folge der in- 
dividuellen (indirekten) Anpaffung betrachten fönnen, fo erfcheinen 
und diefelben noch weit mehr verfchieben in fpäterer Lebenszeit, mo 
die einzelnen Gefchwifter verſchiedene Erfahrungen durchgemacht, und 
fi) verſchiedenen Lebensverhältniſſen angepaßt Haben. Die urfprüng- 
lich angelegte Verſchiedenheit des individuellen Entwidelungsganges 
wird offenbar um fo größer, je länger das Leben dauert, je mehr 
verfehiebenartige äußere Bedingungen auf die einzelnen Individuen 
Einfluß erlangen. Das können Sie am einfachften an den Menſchen 
ſelbſt, fowie an den Hausthieren und Kulturpflanzen nachweifen, bei 
denen Sie willführlih die Lebensbedingungen modificiren fönnen. 
Zwei Brüder, von denen der eine zum Arbeiter, der andere zum 
Priefter erzogen wird, entwideln ſich in körperlicher und geiſtiger 
Beziehung ganz verſchieden; ebenfo zwei Kunde eines und deſſelben 
Wurfed, von denen der eine zum Jagdhund, der andere zum Ketten 
hund erzogen wird. Daſſelbe gilt aber auch von den organiſchen 
Individuen im Naturzuftande. Wenn Sie z. 2. in einem Kiefem- 
ober in einem Buchenmwalde, der bloß aus Bäumen einer einzigen 
Art befteht, forgfältig alle Bäume mit einander vergleichen, fo finden 
Sie allemal, daß von allen hundert oder taufend Bäumen nidt 





Gehäufte oder cumulative Anpaffung. 209 


zwei Individuen in der Größe ded Stammes und der einzelnen 
Theile, in der Zahl der Zweige, Blätter, Früchte u. ſ. w. völlig - 
übereinftimmen. Weberali finden Sie individuelle Ungleichheiten, 
welche zum Theil wenigſtens bloß die Folge der verſchiedenen Lebens⸗ 
bedingungen find, unter denen ſich alle Bäume entwidelten. Frei⸗ 
lich läßt ſich niemal® mit Beftimmtheit fagen, wie viel von diefer 
Ungleichheit aller Einzelweſen jeder Art urfprünglih (durch die in» 
direfte individuelle Anpaffung bedingt), wie viel davon erworben 
urd) die direkte univerfelle Anpaffung bewirkt) fein mag. 

Nicht minder wichtig und allgemein als die univerfelle Anpaffung 
ift eine zweite Erfheinungßreihe der direften Anpaffung, welche wir 
das Gefep dergehäuften oder cumulativen Anpaffung 
nennen können. Unter diefem Namen faſſe ih eine große Anzahl 
von fehr wichtigen Erfeheinungen zufammen, die man gewöhnlich 
in zwei ganz verſchiedene Gruppen bringt. Man unterfdheidet in 
der Regel erſtens foldhe Veränderungen der Organismen, welde un- 
mittelbar durch den anhaltenden Einfluß äußerer Bedingungen (durch 
die dauernde Einwirfung der Nahrung, des Klimas, der Umgebung 
u. f. m.) erzeugt werben, und zweitens foldhe Veränderungen, welche 
dur Gewohnheit und Uebung, durch Angewöhnung an beftimmte 
Lebensbebingungen, durch Gebrauch oder Nichtgebrauch der Organe 
entftehen. Diefe lepteren Einflüffe find insbeſondere von Lamard 
als wichtige Urſachen der Umbildung der organifhen Formen her- 
vorgehoben, während man die erfteren ſchon fehr lange in weiteren 
Kreifen als ſolche anerfannt hat. 

Die feharfe Unterfheidung, welche man zwiſchen diefen beiden 
Gruppen der gehäuften oder cumulativen Anpaffung gewöhnlich macht, 
und welche au Darwin noch fehr hervorhebt, verſchwindet, ſo⸗ 
bald man eingehender und tiefer über das eigentliche Wefen und den 
urſãchlichen Grund der beiden ſcheinbar fehr verfhiedenen Anpaflungs- 
reihen nachdenkt. Man gelangt dann zu der Ueberzeugung, daß man 
es in beiden Fällen immer mit zwei verfehiedenen wirkenden Urfachen 
zu thun bat, nämlich einerfeit? mit der äußeren Einwirkung 

Hurdel, Raturl. Schöpfungsgeih. 5. Aufl. 14 





210 Einwirkung der Umgebung und Gegenmwirkung des Organismus. 


oder Aktion der anpaiiend wirkenden Lebensbedingung, und andrer- 
ſeits mit der inneren Gegenwirkung oder Reaktion ded Cr 
ganismus, welcher fi) jener Lebensbedingung unterwirft und anpaft. 
Wenn man die gehäufte Anpaſſung in erfterer Hinficht für ſich be 
tradhtet, indem man die umbildenden Wirkungen der andauemden 
äußeren Eriftenzbedingungen auf diefe letzteren allein bezieht, fo legt 
man einfeitig das Hauptgewicht auf die äußere Einwirkung, und 
man vernadhläffigt die nothwendig eintretenbe innere Gegenwirkung 
des Organismus. Wenn man umgefehrt die gehäufte Anpailung 
einfeitig in der zweiten Richtung verfolgt, indem man die umbildende 
Selbftthätigfeit ded Organismus, feine Gegenwirkung gegen den 
äußeren Einfluß, feine Peränderung durch Uebung, Gewohnkeit, 
Gebrauch ober Richtgebraud der Organe hervorhebt , fo vergißt man, 
daß diefe Gegenwirkung ober Reaktion erft durch die Einwirkung der 
äußeren Eyiftenzbedingung hervorgerufen wird. Es ift alfo nur ein 
Unterfchied der Betrachtungsweife, auf welchem die Unterſcheidung 
jener beiden verfchiedenen Gruppen beruht, und ich glaube, daß man 
fie mit vollem Rechte zufammenfaffen kann. Das Wefentlichfte bei 
diefen gehäuften Anpailungserfheinungen ift immer, daß bie Berr 
änderung des Organismus, welche zunächft in feiner Funktion und 
weiterhin in feiner Formbildung ſich äußert, entweder durch lange 
andauernde ober durch oft wiederholte Einwirfungen einer äußeren 
Urfache veranlagt wird. Die kleinſte Urfahe kann durch Häufung 
oder Cumulation ihrer Wirkung die größten Erfolge erzielen. 

Die Beifpiele für diefe Art der direften Anpaflung find unendtid 
zahlreich. Wo Sie nur hineingreifen in das Leben der Thiere und 
Pflanzen, finden Sie überall einleuchtende und überzeugende Per 
änderungen dieſer Art vor Augen. Wir wollen hier zunädpft einige 
dur die Nahrung ſelbſt unmittelbar bedingte Anpaflungserkheinun 
gen hervorheben. Jeder von Ihnen weiß, daß man die Haudthiere, 
die man für gewiſſe Zwede züchtet, verſchieden umbilden kann durd 
die verfehiedene Duantität und Qualität der Rahrung, melde man 
ihnen darreiht. Wenn der Landwirth bei der Schafzucht feine Wolle 


Gehäufte oder cumufative Aupaſſung. 211 


ergeugen will, fo giebt er den Schafen anderes Futter, als wenn 
er gutes Fleiſch ober reichliches Fett erzielen will. Die auderlefenen 
Rennpferde und Luxuspferde erhalten beijeres Futter, als die ſchwe⸗ 
ren Laftpferde und Karrengaule. Die Körperform des Menfchen felbft, 
der Grad der Fettablagerung z. B., ift ganz verfihieden nach ber 
Nahrung. Bei ftihftoffreicher Koft wird wenig, bei ſtickſtoffarmer Koft 
viel Fett abgelagert. Leute, die mit Hülfe der neuerdings beliebten 
Banting- Kur mager werden wollen, eſſen nur Fleiſch und Eier, 
fein Brod, feine Kartoffeln. Welche bedeutenden Beränderungen man 
an Kulturpflanzen hervorbringen kann, lediglich durch veränderte 
Quantität und Qualität der Nahrung, ift allbefannt. Diefelbe 
Pflanze erhält ein ganz anderes Ausfehen, wenn man fie an einem 
trodenen, warmen Ort dem Sonnenlicht auögefegt hält, oder wenn 
man fie an einer fühlen, feuchten Stelle im Schatten hält. Diele 
Pflanzen befommen, wenn man fie an den Meereöfttand verfept, 
nad) einiger Zeit die, fleifchige Blätter; und diefelben Pflanzen, an 
außnehmend trodene und heiße Standorte verfept, befommen dünne, 
behaarte Blätter. Alle diefe Formveränderungen entftehen unmittel- 
bar dur den gehäuften Einfluß der veränderten Nahrung. 

Aber nicht nur die Quantität und Qualität der Nahrungsmittel 
wirft mächtig verändernd und umbildend auf den Organismus ein, 
fondern auch alle anderen äußeren Exiſtenzbedingungen, vor Allen 
die nächfte organifhe Umgebung, die Gefellfhaft von freundlichen 
oder feindlichen Organismen. in und derfelbe Baum entwidelt ſich 
ganz ander an einem offenen Standort, wo er von allen Seiten 
frei fteht, ald im Walde, wo er fih) den Umgebungen anpaffen muß, 
wo er ringsum von den nächften Nachbarn gedrängt und zum Empor 
hießen gezwungen wird. Im erften Fall wird die Krone weit aus⸗ 
gebreitet, im letzten dehnt fi der Stamm indie Höhe und die 
Krone bleibt Mein und gedrungen. Wie mächtig alle diefe Umftände, 
wie mächtig der feindliche oder freundliche Einfluß der umgebenden 
Drganismen, der Parafiten u. f. w. auf jedeö Tier und jede Pflanze 
einwirken, ift fo befannt, daß eine Anführung weiterer Beifpiele 

14* 


212 Das Dogma von ber freiheit des Willens. 


überfläffig erſcheint. Die Veränderung der Form, die Umbildung 
welche dadurch bewirkt wird, ift niemal® bloß die unmittelbare Folge 
des äußeren Einfluſſes, fondern muß immer zurüdgeführt werden 
auf die entfprechende Gegenwirtung, auf die Selbftthätigkeit des 
Organismus, die man als Angewöhnung, Uebung, Gebraud) oder 
Nichtgebrauch der Organe bezeichnet. Daß man dieſe lepteren Er- 
feinungen in der Regel getrennt von der erfteren betrachtet, liegt 
erftend am der ſchon heroorgehobenen einfeitigen Betrachtungsweiſe, 
und dann zweitens daran, daß man ſich eine ganz falfche Vorftel- 
fung von dem Wefen und dem Einfluß der Willensthätigfeit bei den 
Thieren gebildet hatte. 

Die Inätigkeit des Willens, welche der Angewöhnung, der 
Uebung, dem Gebrauch oder Nichtgebrauch der Organe bei den Thie ⸗ 
ten zu Grunde liegt, ift gleich jeder anderen Thaͤtigkeit der thierifhen 
Seele durch materielle Vorgänge im Centralnervenſyſtem bedingt, 
durch eigenthümliche Bewegungen, weldhe von der eiweißartigen Ma- 
terie der Ganglienzellen und der mit ihnen verbundenen Nervenfalern 
außgehen. Der Wille der höheren Thiere ift in diefer Beziehung, 
ebenfo wie die übrigen Geifteöthätigfeiten, von demjenigen des Men 
fhen nur quantitativ (nicht qualitativ) verfhieden. Der Wille des 
Thieres, wie des Menfchen ift niemal® frei. Das weitverbreitete 
Dogma von der Freiheit des Willens ift naturwiſſenſchaftlich durd- 
aus nicht haltbar. Jeder Phyfiologe, der die Erfcheinungen der 
Wiltensthätigkeit bei Menfchen und Thieren naturwiſſenſchaftlich unter- 
ſucht, kommt mit Nothwendigfeit zu der Webergeugung, daß der 
Bille eigentlich niemals frei, ſondern ſtets durd äußere oder 
innere Einflüffe bedingt ift. Diefe Einflüffe find größtentheils Bor- 
ftellungen,, die entweder durch Anpaſſung oder durch Bererbung er- 
worben, und auf eine von diefen beiden phyſiologiſchen Funktionen 
zurädführbar find. Sobald man feine eigene Willensthätigkeit ftreng 
unterſucht, ohne dad herfömmliche Vorurtheil von der Freiheit des 
Willens, fo wird man gewahr, daß jede ſcheinbar freie Willenshand ⸗ 
fung bewirkt wird durch vorhergehende Borftellungen, die entweder 


Gehäufte oder cumulative Anpaffung. 213 


in ererbten ober in anbermweitig erworbenen Vorftellungen twurzeln, 
und in lepter Linie alfo wiederum durch Anpaffungs» oder Bererbungd- 
geſetze bedingt find. Daffelbe gilt von der Willensthätigfeit aller 
Thiere. Sobald man diefe eingehend im Zufammenhang mit ihrer 
Lebensweiſe betrachtet, und in ihrer Beziehung zu den Veränderungen, 
welche die Lebensweiſe durch die äußeren Bebingungen erfährt, fo 
überzeugt man fi alabald, daß eine andere Auffaffung nicht möglich 
if. Daher müſſen auch die Veränderungen der Willendbewwegung, 
welche aus veränderter Emährung folgen, und welche als Uebung, 
Gewohnheit u. f. w. umbildend wirken, unter jene materiellen Bor- 
gänge der gehäuften Anpaffung gerechnet werben. 

Indem fid) der thierifche Wille den veränderten Eriſtenzbedingun⸗ 
gen durch andauernde Gewöhnung , Uebung u. f. w. anpaßt, vermag 
ex die bedeutendften Umbildungen der organifchen Formen zu bewirfen. 
Mannigfaltige Beifpiele hierfür find überall im Thierfeben zu finden. 
So verfümmern z. B. bei den Haudthieren manche Organe, indem 
fie in Folge der veränderten Lebensweiſe außer Thätigfeit treten. Die 
Enten und Hühner, welche im wilden Zuftande ausgezeichnet fliegen, 
verlernen diefe Bewegung mehr oder weniger im Kulturzuſtande. 
Sie gewöhnen fih daran, mehr ihre Beine, als ihre (Flügel zu ge« 
brauchen, und in Folge davon werben die dabei gebrauchten Theile 
der Muskulatur und des Skelets in ihrer Ausbildung und Form 
weſentlich verändert. Für die verfchiedenen Raſſen der Hausente, 
welche alle von der wilden Ente (Anas boschas) abftammen, hat 
dies Darwin durd eine fehr forgfältige vergleichende Meffung und 
Wägung der betreffenden Stelettheile nachgewieſen. Die Knochen 
des Flügels find bei der Hausente ſchwäͤcher, die Knochen des Beines 
dagegen umgefehrt ftärfer entwickelt, als bei der wilden Ente. Bei 
den Straußen und anderen Laufvögeln, welche ſich das (Fliegen gänz« 
lich abgewöhnt haben, ift in Folge deſſen der Flügel ganz verküm ⸗ 
mert, zu einem völlig „rubimentären Organ” herabgeſunken (©. 10). 
Bei vielen Hauöthieren, indbefondere bei vielen Raflen von Hunden 
und Kaninchen bemerfen Cie ferner, daß diefelben duch den Kultur 


214 Umbildung durch Gewohnheit, Uebung und Gebrand; der Organ. 


zuſtand herabhängende Ohren befommen haben. Dies ift einfah 
eine Folge des verminderten Gebrauch® der Ohrmuskeln. Im wil⸗ 
den Zuftande müſſen diefe Thiere ihre Ohren gehörig anflrengen, 
um einen nahenden Feind zu bemerken, und es hat fich dadurch 
ein ftarter Muötelapparat entwidelt, welcher die äußeren Ohren in 
aufrechter Stellung erhält, und nach allen Richtungen dreht. Im 
KRufturzuftande haben diefelben Thiere nicht mehr nöthig, fo aufmert- 
fam zu laufen, fie fpigen und drehen die Ohren nur wenig; bie 
Ohrmußteln fommen außer Gebrauch, verfümmern allmählich, und 
die Ohren finten nun fhlaff herab ober werden rudimentär. 

Wie in diefen Fällen die Funktion und dadurch auch die Form 
des Organs durch Nichtgebrauch rüdgebildet wird, fo wird biefelbe 
andrerfeit® durch ſtaͤrkeren Gebrauch mehr entwidelt. Dies tritt und 
befonder8 deutlich entgegen, wenn wir das Gehirn und die dadurch 
bewirkten Seelenthätigfeiten bei den wilden Thieren und den Haus 
thieren, welche von ihnen abftammen, vergleichen. Insbeſondere der 
Hund und das Pferd, welche in fo erftaunlihem Maße durch die 
Kultur veredelt find, zeigen im Vergleiche mit ihren wilden Stamm- 
verwandten einen auferordentlichen Grad von Ausbildung der Geifted- 
thätigfeit, und offenbar ift die damit zufammenhängende Umbildung 
des Gehirns größtentheild dur die andauernde Uebung bedingt. 
Allbekannt ift es ferner, wie ſchnell und mädhtig die Muskeln durch 
anhaltende Uebung wachfen und ihre Form verändern. Vergleichen 
Sie z. B. Arme und Beine eined geübten Turner mit denjenigen 
eines unbeweglichen Stubenfigerd. 

Wie mächtig äußere Einflüffe die Gewohnheiten der Thiere, ibre 
Lebensweiſe beeinfluffen und dadurch weiterhin auch ihre Form um- 
bilden, zeigen fehr auffallend mande Beifpiele von Amphibien und 
Reptilien. Unſere häufigfte einbeimifhe Schlange, die Ringelnatter, 
fegt Eier, welche zu ihrer Entwidelung noch drei Wochen braucen. 
Wenn man fie aber in Gefangenfhaft bält und in den Käfig feinen 
Sand freut, fo legt fie die Eier nicht ab, fondern behält fie bei fib. 
fo fange bis die Jungen entroidelt find. Der Unterſchied zwiſchen 


Gehäufte oder cumulative Aupeſſung. 215 
lebendig gebärenden Thieren und folhen, die Eier legen, wird hier 
einfach durch die Veränderung des Bodens, auf welchem das Thier 
lebt, verwifcht. 

Außerordentlich intereffant find in diefer Beziehung auch die 
Waſſermolche oder Tritonen, welche man gezwungen bat, ihre ur» 
fprünglichen Riemen beizubehalten. Die Tritonen, Amphibien, welche 
den Froſchen nahe verwandt find, befipen glei diefen in ihrer Ju- 
gend äufere Athmungsorgane, Riemen, mit welchen fie, im Waſſer 
lebend, Waſſer athmen. Später tritt bei ben Tritonen eine Meta- 
morphofe ein, wie bei den Fröfchen. Sie gehen auf das Land, ver- 
lieren die Kiemen und gewöhnen fih an da8 Lungenathmen. Wenn 
man fie nun daran verhindert, indem man fie in einem gefchloffenen 
Baflerbeden hält, fo verlieren fie die Kiemen nicht. Diefe bleiben 
vielmehr beftehen, und der Waſſermolch verharrt zeitlebens auf jener 
niederen Ausbildungäftufe , welche feine tiefer flehenden Verwandten, 
die Kiemenmolche oder Sozobrandien niemald überfchreiten. Der 
Waſſermolch erreicht feine volle Größe, wird geſchlechtsreif und pflanzt 
ih fort, ohne die Riemen zu verlieren. 

Großes Auffehen erregte unter den Zoologen vor Kurzem der 
Arolotel (Siredon pisciformis), ein dem Triton nahe verwandter 
Kiemenmolch aus Meyico, welchen man fchon feit langer Zeit kennt, 
und in den legten Jahren im Parifer Pflanzengarten im Großen ge⸗ 
züchtet hat. Diefes Thier hat auch äußere Riemen, wie der Waffer- 
mol , behäft aber diefelben gleich allen anderen Sozobranchien zeit- 
lebens bei. Für gewöhnlich bleibt diefer Kiemenmold mit feinen 
Waſſerathmungsorganen im Waſſer und pflanzt fih hier auch fort. 
Nun krochen aber plöplich im Pflangengarten unter Hunderten diefer 
Thiere eine geringe Anzahl aus dem Waſſer auf das Land, verloren 
ihre Kiemen, und verwanbelten fi) in eine fiemenlofe Molchform, 
welche von einer norbamerifanifhen Tritonengattung (Amblystoma) 
nicht mehr zu unterfcheiden ift, und nur noch durch Lungen athmet. 
In diefem fepten hödhft merkwürdigen alle können wir unmittelbar 
den großen Sprung von einem wafferathmenden zu einem luftath⸗ 


216 Wechſelbezugliche ober torrelatine Anpaffung. 

menden Thiere verfolgen, einen Sprung, der allerdings bei der indivi ⸗ 
duellen Entwidelungẽgeſchichte der Froſche und Salamander in jedem 
Frühling beobachtet werden fann. Ebenſo aber, wie jeder einzelne 
Froſch und jeder einzelne Salamander aus dem urſprünglich fiemen- 
athmenden Amphibium fpäterhin in ein lungenathmendes ſich ver- 
wandelt, fo ift auch die ganze Gruppe der Fröſche und Salamander 
urſprünglich aus fiemenathmenden, dem Siredon verwandten Thieren 
entftanden. Die Sozobrandien find noch bis auf den heutigen Tag 
auf jener niederen Stufe ftehen geblieben. Die Ontogenie erläutert 
aud hier die Phylogenie, die Entwickelungsgeſchichte der Individuen 
diejenige der ganzen Gruppe (©. 10). 

An die gehäufte oder cumulative Anpaffung fchließt fi) ala eine 
dritte Erſcheinung der direkten oder aktuellen Anpaffung das Ge- 
fep der wechſelbezüglichen oder forrelativen Anpaffung 
an. Nach diefem wichtigen Geſetze werden durch die aktuelle An- 
paffung nicht nur diejenigen Theile des Organismus abgeändert, 
welche unmittelbar durch die äußere Einwirkung betroffen werden, 
fondern auch andere, nicht unmittelbar davon berührte Theile. Dies 
ift eine Folge des organifchen Zufammenhanges, und namentlid der 
einheitlichen Ernaͤhrungsverhaͤltniſſe, melde zwiſchen allen Tpeilen 
jedes Organismus beftehen. Wenn z. B. bei einer Pflanze durch Ber- 
fepung an einen trodenen Standort die Behaarung der Blätter zu 
nimmt, fo wirft diefe Beränderung auf die Ernährung anderer Theile 
zurück, und kann eine Verkürzung der Etengelglieder und fomit eine 
gedrungenere Form der ganzen Pflanze zur Folge haben. Bei einigen 
Raſſen von Schweinen und Hunden, 5. 3. bei dem türkiſchen Hunde, 
welche durch Anpaffung an ein mwärmere® Klima ihre Behaanıng 
mehr ober weniger verloren, wurde zugleich das Gebiß zurüdgebilder. 
So zeigen au die Walfifhe und die Edentaten (Schuppenthiere, 
&ürtelthiere 2c.), welche ſich durch ihre eigenthümliche Hautbedefung 
am meiften von den übrigen Säugethieren entfernt haben, bie größ- 
ten Abmeihungen in der Bildung des Gebiffed. Ferner bekommen 
ſolche Raffen von Hausthieren (3. ®. Rindern, Schweinen), bei denen 





Bechfelbezligliche oder lorrelative Anpaffung. 217 


fi die Beine verkürzen, in der Regel auch einen kurzen und gedrun« 
genen Kopf. So zeichnen fi u. a. die Taubenraffen, welche die läng- 
. fen Beine haben, zugleich auch durch die längften Schnäbel aus. 
Diefelbe Wechfelbeziehung zwiſchen der Länge der Beine und des 
Schnabels zeigt fih ganz allgemein in der Ordnung der Stelgoögel 
(Grallatores), beim Storch, Kranich, der Schnepfe u. f.w. Die 
Bechfelbeziehungen, welche in diefer Weife zwiſchen verfchiebenen Thei⸗ 
len des Organismus beſtehen, find äußerft merhwürdig, und im Ein- 
zelnen ihrer Urſache nach uns unbelannt. Im Allgemeinen können 
wir natürlich fagen: die Gmährungsveränderungen, die einen eingel- 
nen Theil betreffen, muſſen nothwendig auf die übrigen Theile zurüd- 
wirken, weil die Emährung eines jeden Organismus eine zufammen- 
haͤngende, centralifirte Thätigkeit ift. Allein warum nun gerade dies 
fer oder jener Theil in diefer merkwürdigen Wechfelbeziehung zu einem 
andern fteht, ift und in den meiften Fällen ganz unbelannt. Wir 
kennen eine große Anzahl folcher Wechfelbeziehungen in der Bildung, 
namentlidy bei den früher bereits ermähnten Abänderungen der Thiere 
und Pflanzen, die ſich durch Pigmentmangel auszeichnen, den Albinos 
oder Katerlafen. Der Mangel des gewöhnlichen Farbeftoffs bedingt 
bier gewwiffe Veränderungen in der Bildung anderer Theile, z. B. des 
Mustelſyſtems, des Knochenfyſtems, alfo organifcher Syfteme, die 
zunaͤchſt gar nicht mit dem Syſteme der äußeren Haut zufammenhän« 
gen. Sehr häufig find diefe ſchwaͤcher entwidelt und daher der ganze 
Körperbau zarter und ſchwaͤcher, als bei den gefärbten Thieren derfel- 
ben Art. Ebenfo werden auch die Sinneöorgane und dad Nerven- 
foftem dur diefen Pigmentmangel eigenthümlich afficirt. Weiße 
KRapen mit blauen Augen find faft immer taub, Die Schimmel 
zeichnen ſich vor den gefärbten Pferden durch die befondere Neigung 
zur Bildung fartomatöfer Geſchwülſte aus. Auch beim Menſchen 
ift der Grad der Pigmententwidelung in der äußeren Haut vom 
größten Einfluffe auf die Empfänglichkeit de Organismus für ge- 
wiſſe Krankheiten, fo daß z. B. Europäer mit dunkler Hautfarbe, 
ſchwarzen Haaren und braunen Augen fich leichter in den Tropen« 


216 Wechſelbeʒugliche ot id der übrigen Rörpertäeile. 


menden Thiere verfolgen, eine r den dort herrſchende 
duellen Entwidelungsgefchit er u. ſ. w.) unterm 
Frühling beobachtet werd Sem Haar un! 
Froſch und jeder einzeln 
athmenden Amphibiur Bed” 
wandelt, fo ift auch 
urfprünglich aus fi- us Körpers . 
entftanden. Die ſo mädtig zurüd auf du 
auf jener nied- „ante Behandlung der Geſchlechn 
auch hier die ..he bei Schweinen, Schafen u. [.w. 
diejenige d- ‚en wollen, entfernen die Gefchlechtsorgene 
An « (Gaftration), und zwar gefchieht dies bei Thie⸗ 
dritte © ‚biete. In Folge davon tritt übermäßige Fettent- 
fep ® 1. Daffelbe thut aud) Seine Heiligkeit, der „unfehlban” 


an. ‚cı den Caſtraten, welche in der Peterskirche zu Ehren Gotted 
Pa müffen. Diefe Unglüdfichen werben in früher Jugend caftrirt, 

ut fie ihre bohen Rnabenftimmen beibehalten. In Folge dieſer 
Antümmelung der Genitalien bleibt der Kehltopf auf der jugendlichen 
«ntwidelungöftufe ftehen. Zugleich bleibt die Muskulatur des ganzen 
Körperd ſchwach entwidelt, während fi unter der Haut reichlihe 
‚Nettmengen anfammeln. Aber aud) auf die Ausbildung des Central 
nervenfoftemd, der Willendenergie u. ſ. w. wirkt jene Berftümmelung 
mächtig zurüd, und es ift befannt, daß die menſchlichen Caſtraten 
oder Eunuchen ebenfo wie bie caftrirten männlichen Hausthiere der 
beftimmten pfychiſchen Charakters, welcher das männliche Geſchlecht 
auszeichnet, gänzlich entbehren. Der Mann iſt eben Leib und Seele 
nah nur Mann durch feine männliche Generationdbrüfe. 

Diefe aͤußerſt wichtigen und einflugreihen Wechfelbegiehungen 
aroifcben den Geſchlechtsorganen und den übrigen Rörpertheilen, vor 
allem dem Gehirn, finden fich im gleicher Weife bei beiden Gefchieh- 
tem. Es laͤßt fi) dies ſchon von vomberein deöhalb erwarten, weil 
bei den meiften Tieren die beiderfei Urgane aus gleicher Grumdloge 

ſich entwiceln. Beim Menfchen, wie bei allen übrigen Wirbeltbier 


»e Anpaflung- 221 


* Angewöhnung an das 
ihre grünen Blätter, 


Wechſelbeʒugliche oder 


' der urfprünglichen 
Organe neben 


'h ein Zwit b Orobanche, La- 
en naͤch felöftftändig und 
Hhlich ‘fe auf andern 

> Tätigkeit 

. der beiden On... r Berluft 

, beim Manne allein der Teſue. fie ber 
oder 


„gegen bie andere Geſchlechlsdrũſe verkümu. 
‚ıung bed weiblichen Eierftod® äußert eine nicht min. 
„ende Rücdwirtung auf den gefammten weiblichen Organien_, 
wie jede Veränderung des Teftiteld auf den männlihen Organidmus 
Die Wichtigkeit diefer Wechfelbegiehung hat Birch om in feinem vor, 
trefflichen Auffap „das Weib und die Zelle” mit folgenden Worten 
ausgeſprochen: „Das Weib ift eben Weib nur dur feine Genera- 
tionsdrüfe; alle Eigenthümlichteiten feine® Körpers und Geiftes oder 
feiner Emährung und Nerventhätigkeit: die füge Zartheit und Run- 
dung der Glieder bei der eigenthümlichen Ausbildung des Beckens, 
die Entwickelung der Brüfte bei dem Stehenbleiben der Stimmorgane, 
jener fchöne Schmud des Kopfhaares bei dem faum merflichen, wei⸗ 
hen Flaum der übrigen Haut, und dann wiederum dieſe Tiefe des 
Gefühle, diefe Wahrheit der unmittelbaren Anfhauung, diefe Sanft- 
muth, Hingebung und Treue — kurz, Alles, was wir an dem wahr 
ten Weibe Weibliches bewundern und verehren, ift nur eine Des 
pendenz des Eierflodd. Man nehme den Eierftod hinweg, und das 
Mannweib in feiner häglichften Hafbheit ſteht vor una.“ 

Diefelbe innige Korrelation ober Wechſelbeziehung zwiſchen den 
Geſchlechtsorganen und den übrigen Körpertheilen findet ſich auch bei 
den Pflanzen ebenfo allgemein wie bei den Thieren vor. Wenn man 
bei einer Gartenpflanze reichlichere Früchte zu erzielen wünfeht, be» 
ſchränkt man den Blätterwuchs durch Abſchneiden eined Theild der 
Blätter. Wunſcht man umgekehrt eine Zierpflange mit einer Fülle 
von großen und fhönen Blättern zu erhalten, fo verhindert man die 


218 Wechſelbeziehungen ber Geſchlechtsorgane und der übrigen Koörpertheile 


gegenden afflimatifiren, und viel tweniger den dort berrfchenden 
Krankheiten (2eberentzündungen, gelbem Fieber u. ſ. w.) unterworfen 
find, als Europäer mit heller Hautfarbe, biondem Haar und blauen . 
Augen. (Bergl. oben ©. 134.) 

Vorzugsweiſe merfoürbig find unter diefen Wechſelbeziehungen 
der Bildung verfehiedener Organe diejenigen, welche zwiſchen den 
Geſchlechtsorganen und ben übrigen Theilen des Körpers beitehen. 
Keine Veränderung eines Theiles wirft fo mächtig zurüd auf die 
übrigen Körpertheile, als eine beftimmte Behandlung der Gefchlechtd 
organe. Die Landwirthe, welche bei Schweinen, Schafen u. ſ. m. 
reichliche Fettbildung erzielen wollen, entfernen die Geſchlechtsorgane 
durch Herausfchneiden (Caftration), und zwar gefchieht dies bei Thie- 
ven beiderlei Geſchlechts. In Folge davon tritt übermäßige Fettent- 
widelung ein. Daffelbe thut auch Seine Heiligkeit, der „unfehlbare“ 
Papſt, bei den Caſtraten, welche in der Peteröfirche zu Ehren Gottes 
fingen müffen. Diefe Unglüdfichen werben in früher Jugend caftrirt, 
damit fie ihre hohen Knabenſtimmen beibehalten. In Folge diefer 
Berftümmelung der Genitalien bleibt der Kehltopf auf der jugendlichen 
Entroidelungäftufe ftehen. Zugleich bleibt die Muskulatur ded ganzen 
Körpers ſchwach entwidelt, während ſich unter der Haut reichliche 
Fettmengen anfammeln. Aber auch auf die Ausbildung des Eentral- 
nervenſyſtems, der Willensenergie u. f. mw. wirkt jene Verſtümmelung 
mädtig zurüd, und es ift befannt, daß bie menfchlihen Gaftraten 
oder Eunuchen ebenfo wie die caftrirten männlichen Hausthiere des 
beftimmten pfychifhen Charakters, welcher das männliche Geſchlecht 
auszeichnet, gänzlich entbehren. Der Mann iſt eben Leib und Seele 
nah nur Mann durd feine männliche Generationsbrüfe. 

Diefe äußerft wichtigen und einflußreihen Wechſelbeziehungen 
awoifchen den Geſchlechtsorganen und den übrigen Körpertheilen, vor 
aflem dem Gehirn, finden fich in gleicher Weife bei beiden Geſchlech - 
tern. Es läßt ſich dies ſchon von vornherein dedhalb erwarten, weil 
bei den meiften Tbieren die beiderlei Organe aus gleicher Grundlage 

ſich entwideln. Beim Menſchen, wie bei allen übrigen Wirbeitbie- 


Bethfelbezügliche oder Torrelative Anpaffung. 219 


ven, find in ber urfprünglihen Anlage des Keims die männlichen 
und weiblihen Organe neben einander vorhanden. Jedes Indivi⸗ 
duum ift urfprünglich ein Zwitter oder Hermaphrodit (©. 176), wie 
es die ben Wirbelthieren nächftvermandten Aseidien noch heute zeit- 
lebens find. Erſt allmählich entfiehen im Laufe der embryonalen 
Entwidelung (beim Menfchen in der neunten Woche feines Embryo- 
lebens) die Unterſchiede der beiden Gefchlechter, indem beim Weihe 
allein der Eierftod, beim Manne allein der Teftitel zur Entwidelung 
gelangt, hingegen die andere Geſchlechladrůſe verfümmert. Jede 
Veränderung des weiblichen Eierſtods äußert eine nicht minder bes 
deutende Rüctwirtung auf ben gefammten weiblichen Organismus, 
mie jebe Veränderung bed Teſtikels auf den männlihen Organismus. 
Die Wichtigkeit diefer Wechfelbegiehung hat Birchom in feinem vor⸗ 
trefflichen Auffap „das Weib und die Zelle” mit folgenden Worten 
ausgefproden: „Das Weib ift eben Weib nur durch feine Genera- 
tionadrüfe; alle Eigenthümlichkeiten feine® Körperd und Geiftes oder 
feiner Ernährung und Nerventhätigkeit: die füge Zartheit und Run⸗ 
dung der Glieder bei der eigenthümlichen Ausbildung des Bedens, 
die Entwidelung der Brüfte bei dem Stehenbleiben der Stimmorgane, 
jener ſchoͤne Schmuck des Kopfhaares bei dem kaum merklichen, wei⸗ 
hen Flaum der übrigen Haut, und darm wiederum diefe Tiefe des 
Gefühle, diefe Wahrheit der unmittelbaren Anſchauung, dieſe Sanft- 
muth, Hingebung und Treue — kurz, Alles, was wir an dem wah⸗ 
ren Weibe Weibliches bemundern und verehren, ift nur eine Der 
pendenz des Eierſiocks Man nehme den Eierftod hinweg, und dad 
Mannmeib in feiner häffichften Halbheit fteht vor und.“ 

Diefelbe innige Korrelation oder Wechfelbeziehung zwiſchen den 
Geſchlechtsorganen und den übrigen Körpertheilen findet fih auch bei 
den Pflanzen ebenfo allgemein wie bei den Thieren vor. Wenn man 
bei einer Gartenpflanze reichlichere Früchte zu erzielen wünfcht, be- 
ſchränkt man den Blätterwuchd durch Abfchneiden eines Theild der 
Blätter. Wünfht man umgefehrt eine Zierpflane mit einer Fülle 
von großen und ſchdnen Blättern zu erhalten, fo verhindert man die 


220 Erllãrung der inbirelten ober potentiellen Anpaffung. 


Blüthen- und Fruchtbildung durch Abſchneiden ber Blüthentnospen. 
In beiden Fällen entwidelt fih da8 eine Organſyſtem auf Koften des 
anderen. Co ziehen auch die meiften Abänderungen der vegetativen 
Blattbildung bei den wilden Pflanzen eine entſprechende Umbildung 
in den generativen Blüthentheilen nach fih. Die hohe Bedeutung 
diefer „Rompenfation ber Entwidelung“, dißfer „Rorrelation der 
Theile“ ift bereit? von Goethe, von Geoffroy ©. Hilaire und 
von anderen Naturphifofophen hervorgehoben worden. Sie beruht 
weſentlich darauf, daß die direkte oder aktuelle Anpaffung feinen 
einzigen Körpertheif weſentlich verändern fan, ohne zugleich auf 
den ganzen Organismus einzuwirfen. 

Die torrelative Anpaflung ber Fortpflanzungdorgane und ber 
übrigen Körpertheile verdient deshalb eine ganz befondere Berückſich⸗ 
tigung, weil fie vor allen geeignet ift, ein erflärendes Licht auf die 
vorher betrachteten dunkeln und rätbfelhaften Erſcheinungen der in⸗ 
direften oder potentiellen Anpaffung zu werfen. Denn ebenfo wie 
jede Beränderung der Gefchlechtdorgane mächtig auf den übrigen 
Körper zurückwirkt, fo muß natürlich umgefehrt aud jede eingrei« 
fende Veränderung eined anderen Rörpertheil® mehr oder weniger 
auf die Generationdorgane zurückwirlen. Diefe Rückwirkung wird 
ſich aber erft in der Bildung der Nachlommenfchaft, welche aus den 
veränderten Generationstheilen entfteht, wahrnehmbar äußern. Ge⸗ 
rade jene merkwürdigen, aber unmerflihen und an fi ungeheuer 
geringfügigen Veränderungen des Genitalfyftem®. der Eier und des 
Sperma, welche durch ſolche Wechfelbesiehungen hervorgebracht wer« 
den, find vom größten Einfluffe auf die Bildung der Nachkommen - 
ſchaft, und alle vorher erwähnten Erfheinungen der indireften oder 
potentiellen Anpaflung können ſchließlich auf die mechfelbezügliche 
Anpaffung zurüdgeführt werden. 

Eine weitere Reihe von ausgezeichneten Beifpielen der forrela- 
tiven Anpaffung liefern die verſchiedenen Thiere und Pflanzen, welche 
durch das Schmaroperleben oder den Parafitismus rüdgebildet find. 
Keine andere Veränderung ber Lebensweiſe wirft fo bedeutend auf Die 


Berhjelbegüglidie oder torrelative Anpaffung. 221 
Formbildung der Organismen ein, wie die Angewöhnung an das 
Schmaroperleben. Pflanzen verlieren dadurch ihre grünen Blätter, 
wie 4. B. unfere einheimifhen Schmarogerpflanzen: Orobanche, La- 
thraea, Monotropa. Thiere, welche urfprünglich felbftftändig und 
frei gelebt haben, dann aber eine parafitifche Lebensweiſe auf andern 
Thieren oder auf Pflanzen annehmen, geben zunächit die Ihätigkeit 
ihrer Bewegungsorgane und ihrer Sinnesorgane auf. Der Berluft 
der Thätigfeit zieht aber den Verluſt der Organe, durch welche fie be⸗ 
wirft wurde, nad fih, und fo finden wir z.B. viele Kreböthiere ober 
Eruftaceen, die in der Jugend einen ziemlich hohen Organifationd« 
grad, Beine, Fühlhörner und Augen befagen, im Alter als Para- 
fiten volltommen degenerirt wieder, ohne Augen, ohne Bewegungs ⸗ 
werfjeuge und ohne Fühlhörner. Aus der munteren, beweglichen 
Jugendform ift ein unförmlicher, unbeweglicher Klumpen geworben. 
Nur die nöthigften Ernährungs» und Fortpflanzungsorgane find noch 
in Thätigfeit. Der ganze übrige Körper ift rüdgebildet. Offenbar . 
find diefe tiefgreifenden Umbildungen großentheil® direfte Folgen der 
gehäuften oder cumulativen Anpaffung, des Nichtgebrauchs und der 
mangelnden Uebung der Organe; aber zum großen Theile kommen 
diefelben ſicher auch auf Rechnung der werhfelbezüglichen oder korre- 
lativen Anpaffung. (Bergl. Taf. X und XI, ©. 487.) - 

Ein fiebentes Anpaffungsgefep, das vierte in der Gruppe ber 
direften Anpaffungen, ift da® Gefep der abweichenden ober 
divergenten Anpaffung. Wir verftehen darunter die Erfchei- 
nung, daß urfprünglich gleichartig angelegte Theile ſich durch den 
Einfluß äußerer Bedingungen in verſchiedener Weife ausbilden. Die 
ſes Anpaffungsgefeg ift ungemein wichtig für die Erflärung der Ar- 
beitötheilung ober des Bolymorphismus. An uns felbft fönnen wir 
es fehr leicht erkennen, z. B. in der Thätigfeit unferer beiden Hände. 
Die rechte Hand wird gemöhnlich von und an ganz andere Arbeiten 
gewöhnt, als die linke; es entfteht in Folge der abweichenden Be- 
fhäftigung auch eine verfdjiedene Bildung der beiden Hände. Die 
rechte Hand, welche man gewöhnlich viel mehr braucht, al8 die linke, 


22 Abweichende ober divergente Aleveichang. 
zeigt ſtärker entwidelte Rerven, Muskeln und Knochen. Daſſelbe gilt 
auch vom ganzen Arm. Knochen und Fleiſch des rechten Arms find 
bei den meiften Menſchen in Folge ſtärleren Gebrauchs ſtärker und 
ſchwerer als die des linken Armd. Da nun aber der bevorzugte Ge- 
brauch des rechten Arms bei der mittelländifhen Menſchenart (S. 604) 
ſchon feit Jahrtaufenden eingebürgert und vererbt if, fo ift auch 
die ftärfere Form und Größe des rechten Arms bereits erblich gewor- 
den.“ Der treffliche bolländifche Naturforſcher P. Harting bat durch 
Meſſung und Bägung an Reugeborenen gezeigt, daß auch bei dieſen 
bereit8 der rechte Arm den linken übertrifft. " 

Nach demfelben Gefepe der divergenten Anpaffung find auch 
häufig die beiden Augen verfchieden entwidelt. Wenn man ſich ®. 
als Naturforſcher gewöhnt, immer nur mit den einen Auge (am ber 
ften mit dem finfen) zu mifroffopiren, und mit dem anderen nicht, jo 
erlangt das eine Auge eine ganz andere Beichaffenheit, ald das andere, 

. und diefe Arbeitstheilung ift von großem Bortheil. Das eine Auge 
wird kurzſichtiger, geeignet für das Sehen in die Rähe, das andere 
Auge weitfichtiger, fchärfer für den Blick in die Ferne. Wenn man 
Dagegen abwechſelnd mit beiden Augen mitroftopirt, fo erlangt man 
nicht auf dem einen Auge den Grab der Kurzfichtigkeit, auf dem an- 
dern ben Grad der Weitjichtigkeit, welchen man durch zweckmaͤßige Ber- 
teilung diefer verfchiedenen Gefichtöfunttionen auf beide Augen er: 
reiht. Zunaͤchſt wird auch hier wieder durch die Gewohnheit die 
Funktion, die Thätigkeit der urſprünglich gleich gebildeten Organe 
ungleich, divergent; allein die Funktion wirft wiederum auf die Zonn 
und die innere Struftur des Organs zurüd. 

Unter den Pflanzen önnen wir die abweichende oder divergente 
Anpaſſung befonder® bei den Schlinggewaͤchſen fehr leicht wahmeb- 
men. Aeſte einer und derfelben Schlingpflanze, welche urfpränglih 
gleichartig angelegt find, erhalten eine ganz verfhiebene Form und 
Ausdehnung, einen ganz verſchiedenen Krämmungsgrad und Durch · 
mefier der Epiralwindung, je nachdem fie um einen dünneren oder 
dideren Stab fi) berumminden. Ebenſo ift aud die abweichende 


Unbeſchränkte oder unendliche Anpaffung. 223 
Veränderung der Formen urfprünglich gleich angelegter Theile, welche 
divergent nach verſchiedenen Richtungen unter abweichenden äußeren 
Bedingungen fih entwideln, in vielen anderen Fällen deutlich nach» 
weiäbar. Indem diefe abweichende oder divergente Anpaffung mit 
der fortfchreitenden Bererbung in Wechſelwirkung tritt, wird fie die 
Urfache der Arbeitstheilung der verfchiedenen Organe. " 

Ein achte® und letztes Anpaffungsgefe können wir ala das 
Geſetz der unbefhräntten oder unendblihen Anpaffung 
bezeichnen. Wir wollen damit einfach ausdrüden, dag uns feine 
Grenze für die Veränderung der organifchen Formen durch den Ein- 
Auß der äußeren Epgiftenzbedingungen befannt ift. Wir fönnen von 
feinem einzigen Theil ded Organismus behaupten, daß er nicht mehr 
veränderlich fei, daß, wenn man ihn unter neue äußere Bedingun- 
gen brächte, er durch diefe nicht verändert werben roürde. Noch nie- 
mals hat fid) in der Erfahrung eine Grenze für die Abänderung nach⸗ 
weifen laſſen. Wenn 5.2. ein Organ durch Nichtgebrauch degenerirt, 
fo geht diefe Degeneration ſchließlich bis zum vollftändigen Schwunde 
des Organs fort, wie e8 bei den Augen vieler Thiere der Fall ift. 
Anbdrerfeits önnen wir durch forttwährende Uebung, Gewohnheit, und 
immer gefteigerten Gebrauch eines Organs baffelbe in einem Mage 
veroollfommnen, wie wir e8 von vornherein für unmögfich gehalten 
haben würden. Wenn man’ die uncivilifirten Wilden mit den Kul- 
turoöltern vergleicht, fo findet man bei jenen eine Ausbildung der 
Einnesorgane, Gefiht, Geruh, Gehör, von der die Kulturvölter 
feine Ahnung haben. Umgekehrt ift bei den höheren Kulturoöltern 
das Gehim, die Geiftesthätigkeit in einem Grade entwidelt, von 
welchem die rohen Wilden feine Borftellung befigen. 

Allerdings ſcheint für jeden Organismus eine Grenze der An⸗ 
paffungsfähigkeit durch den Typus feines Stammes oder Phylum 
gegeben zu fein, d. h. durch die wefentlihen Grundeigenſchaften diefes 
Stammes, welche von dem gemeinfamen Stammvater deifelben 
ererbt find und ſich durch konfervative Vererbung auf alle Defcen- 
denten deſſelben übertragen. So fann z. B. niemals ein Wirbel- 


224 Unbefggränfte oder unendliche Anpaffung. 


thier ftatt des charakteriſtiſchen Rüdenmarts der Wirbelthiere das 
Bauchmark der Gliederthiere fi erwerben. Allein innerhalb dieſer 
exblihen Grundform, innerhalb dieſes unveräußerfihen Typus, ift 
der Grad der Anpaſſungsfähigkeit unbeſchränkt. Die Biegfamteit 
und Flüffigkeit der organifchen Form äußert ſich innerhalb befjelben 
frei nad) allen Richtungen hin, und in ganz unbefchränttem Um- 
fang. Es giebt aber einzelne Thiere, wie z. ®. die durch Parafitis: 
mus rüdgebildeten Kreböthiere und Würmer, welche felbft jene Grenze 
des Typus zu überfpringen fcheinen, und durch erftaunfich weit ge- 
hende Degeneration alle wefentlihen Charaktere ihre8 Stammes ein- 
gebüßt haben. Was die Anpaffungsfähigfeit des Menſchen betrifft, 
fo ift diefelbe, wie bei allen anderen Thieren, ebenfall® unbegrenzt, 
und ba ſich diefelbe beim Menfchen vor allen in der Umbildung des 
Gehirns äußert, fo läßt ſich durchaus feine Grenze der Erkenntniß 
fepen, welche der Menſch bei weiter fortfchreitender Geiftesbildung 
nicht würde überfhreiten können. Auch der menfchliche Geift genießt 
nad dem Gefepe der unbefchräntten Anpaſſung eine unendliche Per⸗ 
fpettive für feine Bervolltommnung in der Zukunft. 

Diefe Bemerkungen genügen wohl, um bie Tragweite der An- 
paffungserfheinungen hervorzuheben und ihnen daB größte Gewicht 
zuzuſchreiben. Die Anpaffungägefege, die Thatfachen der Veraͤnde ⸗ 
rung duch den Einfluß äußerer Bedingungen, find von ebenfo großer 
Bedeutung, wie die Vererbungsgefepe. Alle Anpajlungserfheinungen 
laſſen fih in lepter Linie zurüdführen auf die Ernährungsverhältniſſe 
des Organismus, in gleicher Weife wie die Vererbungserſcheinungen 
in den Fortpflanzungsverhältniffen begründet find; biefe aber ſowohl 
als jene find weiter zurüdzuführen auf chemiſche und phyſilaliſche 
Gründe, alfo auf mechaniſche Urfahen. Lediglich durch die Wech- 
ſelwirkung derfelben entftehen nah Darwin’s Selektionstheorie die 
neuen Formen der Organismen, die Umbildungen, welche die fünft- 
liche Züchtung im Kulturguftande, die natürliche Züchtung im Ra- 
turzuftande hervorbringt. 


Eifter Vortcag. 


Die natürliche Züchtung dnrd den Kampf um's Dafein. 
Arbeitstheilung und Fortſchritt. 


Wechſelwirkung der beiden organiſchen Bildungstriebe, der Vererbung und 
Anpaffung. Natürliche und kunſtliche Züchtung. Kampf um's Dafein oder Wett- 
kampf um bie Leben&bebürfniffe. Mißverhaltniß zwiſchen der Zahl der möglichen 
(potentiellen) und der Zahl der wirklichen (aktuellen) Individuen. Verwickelte Wech- 
ſelbezichungen aller benachbarten Organismen. Wirkungsweife ber natiltlichen 
Zaqtung. Gleichfarbige Zuchtwahl als Urſache ber ſympathiſchen Farbungen. 
Geſchlechtliche Zuchtwahl als Urſache der ſekundären Sexualcharaktere. Geſetz ber 
Sonderung oder Arbeitstheilung (Polymorphismus, Differenzirung, Divergenz des 
Charakter). Uebergang der Barietäten in Species. Begriff der Species. Baftard- 
zeugung. Gefeg des Fortſchritts oder der Vewolllommnung (Progreffus, Teleofis). 


Meine Herren! Um zu einem richtigen Verftändnig des Dar- 
winismus zu gelangen, ift es vor Allem nothwendig, die beiden 
organifhen Funktionen genau in das Auge zu fallen, die wir in 
den legten Vorträgen betrachtet haben, die Bererbung und An- 
paffung. Wenn man nicht einerfeitd die rein mechanische Natur 
diefer beiden phyfiologifchen Thätigfeiten und die mannichfaltige Wir- 
tung ihrer verfchiebenen Gefepe in’® Auge faßt, und wenn man 
nit andrerfeit® erwägt, wie verwidelt die Wechſelwirkung diefer 
verfjiedenen Vererbungs⸗ und Anpaflungägefepe nothwendig ſein 
muß, ſo wird man nicht begreifen, daß dieſe beiden Funktionen für 
ſich allein die ganze Mannichfaltigkeit der Thier- und Pflanzenfor- 


men follen ergeugen können; und doch ift das in ber That der Fall. 
Hecdel, Netürt. Shöpfungsgeiä. 5. Hufl. 15 


226 Die beiden organiſchen Bildungstriebe: Bererbung nnd Anpaffung. 


Wir find wenigſtens bis jetzt nicht im Stande geweſen, andere form ⸗ 
bildende Urſachen aufzufinden, als dieſe beiden; und wenn wir die 
nothwendige und unendlich verwidelte Wechſelwirkung der Vererbung 
und Anpaffung richtig verſtehen, fo haben wir auch gar nicht mehr 
nöthig, noch nad) anderen unbefannten Urſachen der Umbildung der 
organifchen Geftalten zu fuchen. Jene beiden Grundurfachen erſchei⸗ 
nen und dann völlig genügend. 

Schon früher, lange bevor Darwin feine Selectionätheorie 
aufftellte, nahmen einige Naturforſcher, insbefondere Goethe, ald 
Urfache der organifhen Formenmannichfaltigkeit die Wechſelwirkung 
zweier verfchiedener Vildungätriebe an, eined fonfervativen oder er- 
baltenden, und eines umbildenden oder fortfehreitenden Bildungstrier 
bes. Erfteren nannte Goethe den centripetalen oder Cpesififa- 
tionstrieb, letzteren den centrifugalen oder den Trieb der Metamor⸗ 
phofe (©. 81). Diefe beiden Triebe entfprechen vollftändig den bei ⸗ 
den Funktionen der Vererbung und ber Anpaflung. Die Berer- 
bung ift der centripetale ober innere Bildungstrieb, wel- 
her beftrebt ift, die organifche Form in ihrer Art zu erhalten, bie 
Nachkommen den Eltern gleich zu geftalten, und Generationen hin 
durd immer Gleichartiges zu erzeugen. Die Anpaffung dagegen, 
welche der Vererbung entgegenwirkt, ift der centrifugale oder 
äußere Bildungötrieb, welcher beftändig beftrebt ift, durch die 
veränderlihen Einftüffe der Anßenwelt die organifhen Formen um- 
zubilden, neue formen aus den vorhandenen zu ſchaffen und die 
KRonftanz der Species, die Beftändigfeit der Art, gänzlich aufzuheben. 
Je nachdem die Vererbung oder die Anpaſſung das Uebergewicht 
im Kampfe erhält, bleibt die Speciedform beftändig ober fie bildet 
fi in eine neue Art um. Der in jedem Augenblid ftatt 
findende Grad der Formbeftändigfeit bei den verfdie- 
denen Thier- und Pflanzenarten ift einfach das notb- 
mwendige Refultat des augenblidlihen Webergewidtd, 
weldes jede diefer beiden Bildungäfräfte (oder pbn- 
fiofogifhen Kunftionen) über die andere erlangt bat. 


Künftliche oder natürliche Züchtung. 227 


Wenn wir nun zurüdfehren zu der Betrachtung des Züchtungs- 
vorgangs, der Außlefe oder Selection, die wir bereits im fiebenten 
Bortrag in ihren Grundgügen unterfuchten, fo werden wir jept um 
fo klarer und beflimmter erfennen, daß fowohl die fünftliche als die 
natürliche Züchtung einzig und allein auf der Wechſelwirkung diefer 
beiden Funktionen oder Bildungätriebe beruhen. Wenn Sie die 
Tpätigfeit des fünftlichen Züchter, des Landwirths oder Gaͤrtners, 
ſcharf ins Auge fallen, fo erkennen Sie, daß nur jene beiden Bil- 
dungäfräfte von ihm zur Herborbringung neuer Formen benupt wer⸗ 
den. Die ganze Kunft der künſtlichen Zuchtwahl beruht eben nur auf 
einer denfenden und vernünftigen Anwendung der Bererbungd- und 
Anpaffungagefege, auf einer kunſtvollen und planmäßigen Benupung 
und Regulirung derfelben. Dabei ift der vervollfommnete menfch- 
fie Wille die außlefende, züchtende Kraft. - 

Ganz ähnlich verhäft fih die natürliche Züchtung. Auch diefe 
benußt bloß jene beiden organifhen Bildungsträfte, jene phyfiologi« 
fen Grunbeigenfchaften der Anpaflung und Vererbung, um bie ver. 
ſchiedenen Arten oder Species hervorzubringen. Dasjenige züchtende 
Prinzip aber, diejenige außlefende Kraft, welche bei der fünftlihen 
Züchtung durch den planmäßig wirkenden und bemußten Willen 
des Menſchen vertreten wird, ift bei der natürlichen Züchtung 
der planlos wirkende und unbewußte Rampf um’ Dafein. Was 
wir unter „Kampf um's Dafein“ verftehen, haben wir im fiebenten 
Bortrage bereit auseinandergefegt. Es ift gerade die Erkenntniß 
dieſes äußerft wichtigen Verhaͤltniſſes eines ber größten Berbienfte 
Darwin's. Da aber dieſes Verhaͤltniß fehr häufig unvollkommen 
oder falfch verftanden wird, ift e8 nothwendig, baffelbe jet noch näher 
in’? Auge zu faffen, und an einigen Beifpielen die Wirkfamfeit des 
Kampfes um's Dafein, die Thätigkeit der natürlichen Züchtung durch 
den Kampf um's Dafein zu erläutern. (Gen. Morph. II, 231.) 

Wir gingen bei der Betrachtung des Kampfes um's Dafein von 
der Thatfache aus, daß die Zahl der Keime, weldye alle Thiere und 
Bilanzen erzeugen, unendlich viel größer ift, al8 die Zahl der Indivi- 

\ 15* 


228 Kampf um's Defein. 


duen, welche wirklich in das Leben treten und ſich längere oder kürzere 
Zeit am Leben erhalten können. Die meiſten Organismen erzeugen 
während ihres Leben® Taufende oder Millionen von Keimen, aus 
deren jedem ſich unter günftigen Umftänden ein neues Individuum 
entwideln fönnte. Bei den meiften Thieren und Pflanzen find diefe 
Keime Eier, d. h. Zellen, welche zu ihrer weiteren Entwidelung ber 
geſchlechtlichen Befruchtung bedürfen. Dagegen bei den Protiften, 
niederften Organismen, welche weder Thiere noch Pflanzen find, und 
welche ſich bloß ungeſchlechtlich Fortpflanzen, bebürfen die Keimgellen 
oder Sporen feiner Befruchtung. In allen Fällen ftebt die Zahl fo- 
wohl diefer ungefchlechtfihen als jener gefchlechtfihen Keime in gar 
feinem Berhältnig zur Zahl der wirklich lebenden Individuen. 

Im Großen und Ganzen genommen bleibt die Zahl der leben ⸗ 
den Thiere und Pflanzen auf unferer Exde durchſchnittlich immer die- 
felbe. Die Zahl der Stellen im Naturhaushalt ift befhränkt, und an 
den meiften Punkten der Erdoberfläche: find diefe Stellen immer an ⸗ 
nähernd befept. Gewiß finden überall in jedem Jahre Schwankungen 
in der abfoluten und in der relativen Individuenzahl aller Arten ftatt. 
Allein im Großen und Ganzen genommen werben diefe Schwanfun- 
gen nur geringe Bedeutung haben gegenüber der Thatſache, daß die 
Gefammtzahl aller Individuen durchſchnittlich beinahe konſtant bleibt. 
Der Wechfel, der überall ftattfindet, befteht darin, daß in einem 
Jahre diefe und im anderen Jahre jene Reihe von Thieren und Pflan- 
zen überwiegt, und daß in jedem Jahre der Kampf um's Dafein 
dieſes Verhältnig wieder etwas anders geftaltet. 

Jede einzelne Art von Thieren und Pflanzen würde in kurzer 
Zeit die ganze Erdoberfläche dicht bevölkert haben, wenn fie nicht mit 
einer Menge von Feinden und feindlichen Einflüſſen zu kãmpfen bätte. 
Schon Linne beredhnete, daß, wenn eine einjährige Pflange nur zwei 
Samen hervorbrädhte (und es giebt feine, die fo wenig erzeugt), fie in 
20 Jahren fhon eine Million Individuen geliefert haben würde. 
Darwin berechnete vom Glephanten, der fid) am langfamiten vom 
allen Thieren zu vermehren ſcheint, daß in 500 Jahren die Radıtom- 





Zahlenverhältniß der möglichen und wirffichen Imbivibuen. 229 
menfchaft eines einzigen Paares bereit3 15 Millionen Individuen be 
tragen würde, vorausgeſetzt, daß jeder Elephant während der Zeit 
feiner Fruchtbarkeit (vom 30. bis 90. Jahre) nur 3 Paar Junge er- 
zeugte. Ebenfo würde die Zahl der Menſchen, wenn man die mitt⸗ 
lere Fortpflanzungszahl zu Grunde legt, und wenn feine Hinderniſſe 
der natürlichen Bermehrung im Wege ftünden, bereits in 25 Jahren 
fi verdoppelt haben. In jedem Jahrhundert würde die Gefammt- 
zahl der menfchlihen Bevölkerung um das ſechszehnfache geftiegen 
fein. Run wiffen Sie aber, daf die Gefammtzahl der Menſchen 
nur fehr langfam wählt, und daß die Zunahme der Bevölkerung 
in verfehiedenen Gegenden fehr verfhieden ift. Während europäifche 
Stämme fi) über den ganzen Erdball ausbreiten, gehen andere 
Stämme, ja fogar ganze Arten oder Specied des Menſchengeſchlechts 
mit jedem Jahre mehr ihrem völligen Ausſterben entgegen. Died 
gilt namentlih von den Rothhäuten Amerita® und ebenfo von den 
ſchwarzbraunen Eingeborenen Auftraliend. Selbft wenn diefe Völter 
ſich reichlicher fortpflanzten, als die weise Menfchenart Europas, 
würben fie dennoch früher oder fpäter der lepteren im Kampfe um's 
Dafein erliegen. Bon allen menſchlichen Individuen aber, ebenfo 
wie von allen übrigen Organismen, geht bei weitem bie über« 
wiegende Mehrzahl in der früheſten Lebenszeit zu Grunde. Von der 
ungeheuren Maffe von Keimen, die jede Art erzeugt, gelangen nur 
febr wenige wirklich zur Entridelung , und von diefen wenigen ift es 
wieder nur ein ganz kleiner Bruchtheil, welcher das Alter erreicht, in 
dem er fi fortpflanmen fann. (Bergl. ©. 145.) 

Aus diefem Mifverhäftniß zwiſchen der ungeheuren Ueberzahl 
der organiſchen Keime und der geringen Anzahl von auserwählten 
Individuen, die wirklich neben und mit einander fortbeftehen fönnen, 
folgt mit Nothwendigkeit jener allgemeine Kampf um's Dafein, jenes 
beftändige Ringen um die Epiftenz,- jener unaufhörliche Wettkampf 
um die Lebenäbedürfniffe, von welchem ich Ihnen bereits im fieben- 
ten Bortrage ein Bild entwarf. Jener Kampf um's Dafein ift e8, 
welcher die natürliche Zuchtwahl ausübt, welcher die Wechſelwir⸗ 


230 Urſachen und folgen des Kampfes um's Daſein. 


tung ber Vererbungs · und Anpaffungderfheinungen züchtend benupt 
und dadurd an einer beftändigen Umbildung aller organifchen For- 
men arbeitet. Immer werden in jenem Kampf um die Erlangung 
ber nothwendigen Cpiftenzbedingungen diejenigen Individuen ihre 
Nebenbuhler befiegen, welche irgend eine indivibuelle Begünftigung, 
eine vortheilhafte Eigenfhaft befipen, die ihren Mitbewerbern fehlt. 
Freilich können wir nur in den wenigften Fällen, bei und näher 
befannten Thieren und Pflanzen, und eine ungefähre Borftellung 
von der unendlich fompligirten Wechfelwirtung der zahlreichen Ber« 
bälmiffe machen, welche alle hierbei in Frage kommen. Denfen 
Sie nur daran, wie unendlih mannichfaltig und verwidelt die Be⸗ 
ziehungen jedes einzelnen Menſchen zu den übrigen und überhaupt 
zu der ihm umgebenden Außenwelt find. Aehnlihe Beziehungen 
walten aber auch zwifchen allen Thieren und Pflanzen, die an einem 
Orte mit einander leben. Alle wirken gegenfeitig, aktiv oder paffio, 
auf einander ein. Jedes Thier, jede Pflanze fämpft Direkt mit einer 
Anzahl von Feinden, welche denfelben nachſtellen, mit Raubtbhieren, 
parafitifhen Thieren u. ſ. w. Die zufammenftehenden Pflanzen käm ⸗ 
pfen mit einander um den Bodenraum, den ihre Wurzeln bedürfen, 
um die nothmwendige Menge von Licht, Luft, Feuchtigkeit u. f. w. 
Ebenfo ringen die Tpiere eines jeden Bezirks mit einander um ihre 
Nahrung, Wohnung u. ſ. w. Es wird in diefem äußerit lebhaften 
und verwidelten Kampf jeder noch fo kleine perfönlihe Borzug, jeder 
individuelle Bortheil möglicherweife den Ausſchlag geben können, zu 
Gunften feines Beſihers. Dieſes bevorzugte einzelne Individuum 
bleibt im Kampfe Sieger und pflanzt fi) fort, während feine Mit- 
bewerber zu Grunde geben, ehe fie zur Fortpflanzung gelangen. 
Der perfönliche Vorzug, welcher ihm den Sieg verlieh, wird auf 
feine Nachkommen vererbt, und kann durch weitere Ausbildung die 
Urſache zur Bildung einer neuen Art werden. 

Die unendlich verwidelten Werhfelbesiehungen, welche zwiſchen 
den Organismen eined jeden Bezirtd beftehen, und melde als die 
eigentlichen Bedingungen des Kampfes um's Dafein angefehen wer- 


Verwidelte Bechfelbeziehungen aller benachbarten Organiämen. 231 


den müflen, find und größtentheild unbetannt und meiften® auch 
fehr ſchwierig zu erforfchen. Nur in einzelnen fällen haben wir 
diefelben bißher bis zu einem geroiffen Grade verfolgen können, fo 
4. B. in dem von Darwin angeführten Beifpiel von den Bezie- 
hungen der Kapen zum vothen Klee in England. Die rothe Klee⸗ 
art (Trifolium pratense), melde in England eined der vorzüglich- 
ſten Futterkräuter für das Nindvieh bildet, bedarf, um zur Samen⸗ 
bildung zu gelangen, des Beſuchs der Hummeln. Indem diefe In⸗ 
fetten den Honig aus dem Grunde ber Kleeblüthe faugen, bringen 
fie den Blüthenfaub mit der Narbe in Berührung und vermitteln 
fo die Befruchtung der Blüthe, welche ohne fie niemals erfolgt. 
Darwin hat durd Verſuche gezeigt, daß vother Klee, den man 
von dem Befuche der Hummeln abfpertt, feinen einzigen Samen 
liefert. Die Zahl der Hummeln ift bedingt durd die Zahl ihrer 
Feinde, unter denen die Feldmäufe die verderblichften find. Je mehr 
die Feldmäufe überhand nehmen, defto weniger wird der Klee be» 
fruchtet. Die Zahl der Feldmänfe ift wiederum von der Zahl ihrer 
Feinde abhängig, zu denen namentlich die Kapen gehören. Daher 
giebt es in der Nähe der Dörfer und Städte, wo viel Kapen ge- 
balten werden, befonders viel Hummeln. Eine große Zahl von 
Kapen ift alfo offenbar von großem Bortheil für die Befruchtung 
des Klees. Man kann nun, wie ed von Karl Bogt geicheben ift, 
dieſes Beifpiel noch weiter verfolgen, wenn man erwägt, daß das 
Rindvieh, welches fih von dem rothen Klee nährt, eine der wich» 
tigften Grundlagen des Wohlftanded von England if. Die Eng- 
länder konſeriren ihre körperlichen und geiftigen Kräfte vorzugsmeife 
dadurch, daß fie ſich größtentheild von trefflichem Fleiſch, namentlich 
ausgezeichnetem Roftbeaf und Beaffteat nähren. Diefer vorzüglichen 
Fleiſchnahtung verdanken die Britten zum großen Theil da8 Weber 
gewicht ihre Gehirns und Geiftes über die anderen Nationen. Offen 
bar ift dieſes aber indireft abhängig von den Kapen, welche die 
Feldmäufe verfolgen. Man kann auch mit Huxley auf die alten 
Zungfern zurüdgehen, welche vorzugsweiſe die Kapen hegen und 


232 Wechſelnde Bedingungen des Kampfes um's Dafein. 

pflegen, und fomit für die Befruchtung des Klees und den Wohl⸗ 
fand Englands von größter Wichtigkeit find. An diefem Beiſpiel 
konnen Sie erfennen, daß, je weiter man daſſelbe verfolgt, deſto 
größer der Kreis der Wirkungen und der Wedhfelbegiehungen wirt. 
Man kann aber mit Beftimmtheit behaupten, daß bei jeder Pflanze 
und hei jedem Thiere eine Maſſe folder Wechſelbeziehungen egiftiren. 
Nur find wir felten im Stande, die Kette derfelben fo berzuftellen, 
und zu überfehen, wie es hier der Fall ift. 

Ein anderes merkwürdige Beilpiel von wichtigen Wechfelbe 
siehungen ift nah Darwin folgendes: In Paraguay finden fidh feine 
verwilderten Rinder und Pferde, wie in den benachbarten Theilen 
Südamerikas, nördlich und füblih von Paraguay. Diefer auffal- 
lende Umftand erflärt ſich einfach dadurch, daß in diefem Lande eine 
kleine Fliege fehr häufig ift, welche die Gewohnheit hat, ihre Gier 
in den Nabel der neugeborenen Rinder und Pferde zu legen. Die 
neugeborenen Thiere fterben in Folge dieſes Eingriffs, und jene kleine 
gefürchtete Fliege ift alfo die Urſache, daß die Rinder und Pferde 
in diefem Diſtrikt niemald verwildern. Angenommen, dag durch 
irgend einen infeftenfreffenden Bogel jene (liege zerftört wide, fo 
würden in Paraguay ebenfo wie in den benachbarten Theilen Süd 
amerikas dieſe großen Säugethiere maflenhaft verwildern, und da 
diefelben eine Menge von beftimmten Pflanzenarten verzehren, würde 
die ganze Flora, und in Folge davon wiederum die ganze Fauna 
diefed Landes eine andere werben. Daß dadurch zugleich aud bie 
ganze Defonomie und fomit der Charakter der menſchlichen Benötte- 
zung ſich ändern würde, braucht nicht erft gefagt zu werden. 

So kann das Gebeihen oder felbft die Eriftenz ganzer Bölfer- 
ſchaften durch eine einzige kleine, am ſich höchſt unbedeutende Thier- 
oder Pflanzen» Form indirekt bedingt werden. Es giebt Meine oca 
niſche Infein, deren menſchliche Bewohner wefentlih nur von einer 
Palmenart leben. Die Befruchtung diefer Palme wird vorgäglid 
durch Inſekten vermittelt, die den Blüthenftaub von den männligen 
auf die weiblichen Palmbäume übertragen. Die Eyiftenz diefer müg 





Wechſelnde Bedingungen bed Kampfes um's Dafein. 233 


lien Inſekten wird durch infektenfreffende Vögel gefährdet, die ihrer- 
feits wieder von Raubvögeln verfolgt werden. Die Raubvögel aber 
unterliegen oft dem Angriffe einer kleinen parafitifchen Milbe, die ſich 
zu Millionen in ihrem Federkleid entwidelt. Diefer kleine gefährliche 
Parafit kann wiederum durch parafitifhe Pilze getödtet werden. Pilze, 
Raubvögel und Infekten würden in biefem Falle das Gedeihen der 
Palmen und fomit der Menfchen begünftigen, Bogelmilben und in- 
feftenfrefiende Vögel dagegen gefährden. 

Intereſſante Beifpiele für die Veränderung der Wechfelbeziehungen 
im Kampf um's Dafein liefern auch jene ifolirten und von Menſchen 
unbewohnten oceanifchen Inſeln, auf denen zu verſchiedenen Malen 
von Seefahrern Ziegen oder Schweine auögefept wurden. Dieſe 
Thiere verwilderten und nahmen aus Mangel an Feinden an Zahl 
bald fo übermäßig zu, daß die ganze übrige Thier- und Pflanzen 
bevölterung darunter litt, und dag ſchließlich die Infel beinahe ver- 
ödete, weil den zu maffenhaft ſich vermehrenden großen Säugethieren 
die hinreichende Nahrung fehlte. In einigen Fällen wurden auf 
einer folhen von Ziegen oder Schweinen übervölterten Infel fpäter 
von anderen Seefahrern ein Paar Hunde ausgeſetzt, die ſich in diefem 
Futteräberfluß ſehr wohl befanden, ſich wieber fehr raſch vermehrten 
und furchtbar unter ben Heerden aufräumten, fo daß nach einer An⸗ 
zahl von Jahren den Hunden felbft das Futter fehlte, und auch fie 
beinahe auöftarben. So wechſelt beftändig in der Dekonomie der 
Ratur das Gleichgewicht der Arten, je nachdem die eine oder andere 
Art fih auf Koften der übrigen vermehrt. In den meiften Fällen 
find freilich Die Beziehungen der verſchiedenen Thier⸗ und Pflanzen» 
arten zu einander viel zu verwickelt, ald daß wir ihmen nadhfommen 
önnten, und ich überlaffe es Ihrem eigenen Nachdenten, fich aus: 
zumalen, welches unendlich verwidelte Getriebe an jeder Stelle der 
Exde in Folge diefed Kampfes ftattfinden muß. In lepter Inſtanz 
find die Triebfedern, welche den Kampf bedingen, und welche den 
Kampf an allen verſchiedenen Stellen verfchieden geftalten und mobi» 
fieiren, die Triebfedern der Selbfterhaltung, und zwar fowohl ber 


234 Xrichfebern des Kampfes um’® Dafein: Hunger und Bicke. 
Erhaltungstrieb der Individuen (Emährungdtrieb), als der Exrhal- 
tungstrieb ber Arten (Fortpflanzungätrieb). Diefe beiden Grundtriebe 
der organifchen Selbfterhaltung find es, von denen fogar Schiller, 
der Idealiſt (niht Goethe, der Realift!) fagt: 

„Einftweilen bis ben Bau der Welt 

„PSilofophie zufammenhält, 

„Erhält ſich ihr Getriebe 

„Dur Hunger und durch Liebe.“ 

Diefe beiden maͤchtigen Grundtriebe find es, weldhe durch ihre 
verfepiedene Ausbildung in den verfchiedenen Arten den Kampf um's 
Dafein fo ungemein mamichfaltig geftalten, und welche den Erſchei ⸗ 
nungen der Vererbung und Anpaflung zu Grunde liegen. Bir konn 
ten alle Bererbung auf die Fortpflanzung, alle Anpaffung auf die Gr 
nährung ald die materielle Grundurfache zurüdführen. 

Der Kampf um das Dafein wirft bei der natürlichen Züchtung 
ebenfo züchtend oder außlefend, wie der Wille des Menfchen bei der 
fünftlihen Züchtung. Aber diefer wirft planmäßig und bemußt, jener 
planfo® und unbewußt. Diefer wichtige Unterfchied zwifchen der fünft- 
lichen und natürlichen Züchtung verdient befondere Beachtung. Denn 
wir fernen hierdurch verftehen, warum zwedmäßige Einrichtun⸗ 
gen ebenfo durch zwed[o8 wirfende mechaniſche Urſachen. 
wie durch zwekmäßig thätige Endurfahen erzeugt werben 
tonnen. Die Produkte der natürlichen Züchtung find ebenſo und noch 
mehr zweckmaͤßig eingerichtet, wie die Runfiprodufte des Menſchen. 
und dennoch verbanfen fie ihre Entftehung nicht einer zmedimäßig 
thätigen Schöpferfraft, fondern einem unbewußt und planlos wir- 
enden mechaniſchen Verhältniß. Wenn man nicht tiefer über die 
Wechſelwirkung der Vererbung und Anpaffung unter dem Einfluk 
des Kampfes um's Dafein nachgedacht hat, fo it man zunaͤchſt mit 
geneigt, ſolche Erfolge von diefem natürlichen Züdhtungsprogep zu 
erwarten, wie derfelbe in der That liefert. Es iſt daher wohl an- 
gemeſſen, bier ein Paar beſonders einleudhtende Beifpiele von der 
Wirffamfeit der natürlichen Züchtung anzuführen. 





Gleichſarbige Zudtwahl als Urfache der fgmpathifcen Färbungen. 235 


Laffen Sie und zunächft die von Darwin hervorgehobene 
gleihfarbige Zuchtwahl oder die fogenannte „ſympathiſche Far⸗ 
benwahl” der Thiere befrachten. Schon frühere Naturforfcher haben 
es ſonderbar gefunden, daß zahlreiche Thiere im Großen und Ganzen 
diefelbe Färbung zeigen wie der Wohnort, oder die Umgebung, in der 
fie ſich beftändig aufhalten. So find z. B. die Blattläufe und viele 
andere auf Blättern lebende Inſekten grün gefärbt. Die Wüftenbe- 
wohner: Springmäufe, Wüftenfüchfe, Gazellen, Löwen u. f. w. find 
meift gelb oder gelblichbraun gefärbt, wie der Sand der Wüſte. Die 
Polarthiere, welche auf Eis und Schnee leben, find weiß oder grau, 
wie Eis und Schnee. Diele von diefen ändern ihre Färbung im 
Sommer und Winter. Im Sommer, wenn der Schnee theilweis 
vergeht, wird dad Fell diefer Bolarthiere graubraun oder ſchwärzlich 
wie der nadte Erdboden, während e3 im Winter wieder weiß wird. 
Schmetterlinge und Kolibri, welche die bunten, glänzenden Blüthen 
umſchweben, gleichen diefen in der Färbung. Darwin erflärt nun 
diefe auffaltende Thatfache ganz einfach dadurch, da eine ſolche Fär- 
bung, die mit der de Wohnortes übereinftimmt,, ben betreffenden 
Thieren von größtem Nupen ift. Wenn diefe Thiere Raubthiere find, 
fo werden fie ſich dem Gegenftand ihres Appetit viel fiherer und un⸗ 
bemerkter nähern fönnen, und ebenfo werden die von ihnen verfolgten 
Thiere viel leichter entfliehen können, wenn fie ſich in der Zärbung 
moglichſt wenig von ihrer Umgebung unterſcheiden. Wenn alfo ur 
ſprünglich eine Thierart in allen Farben varüirte, fo werden diejenigen 
Individuen, deren Farbe am meiften derjenigen ihrer Umgebung glich, 
im Kampf um’® Dafein am meiften begünftigt gewefen fein. Sie 
blieben unbemertter, erhielten ſich und pflangten fidh fort, während die 
anderd gefärbten Individuen oder Spielarten ausſtarben. 

Aus derfelben gleihfarbigen Zuchtwahl habe ich verfucht, die merk⸗ 
würdige Wafferäpnlichkeit der pelagifhen Glasthiere zu erflären, die 
wunderbare Thatfache, daß die Mehrzahl der pelagifchen Thiere, d. h. 
derer, welche an der Oberfläche der offenen See leben, bläulich oder 
ganz farblos und gladartig durchfichtig ift, tie das Wafler felbft. 


236 Gleihfarbige Zuchtwahl als Urſache der ſympathiſchen Färbungen. 


Solch farblofe, glasartige Thiere kommen in ben verſchiedenſten Alaf- 
fen vor. Es gehören dahin unter den Fiſchen die Helmichthyiden, 
durch deren glashellen Körper hindurch man die Schrift eined Buches 
lefen kann; unter den ‚Weichthieren die Kloffenfchneden und Kiel- 
ſchneden; unter den Würmern die Salpen, Alciope und Sagitta; 
ferner fehr zahlreiche pelagifche Kreböthiere (Gruftaceen) und der größte 
Theil der Medufen (Schirmquallen, Kammquallen u. f. w.). Alle 
diefe pelagifchen Thiere, welche an der Oberfläche des offenen Meeres 
ſchwimmen, find glasartig durchſichtig und farblos, wie das Waſſer 
ſelbſt, während ihre nächften Verwandten, bie auf dem Grunde des 
Meeres leben, gefärbt und undurhfichtig wie die Landbewohner find. 
Auch diefe merkwürdige Thatſache läßt fich ebenfo wie die ſympathiſche 
Färbung der Landbervohner durch die natürliche Züchtung erklären. 
Unter den Boreltern der pelagifhen Glasthiere, welche einen verſchie⸗ 
denen Grad von Farblojigkeit und Durchſichtigleit zeigten, werben dies 
jenigen, welche am meiften farblos und durchſichtig waren, offenbar 
in dem lebhaften Kampf um's Dafein, der an der Meeresoberfläche 
flattfindet, am meiften begünftigt gewefen fein. Cie konnten fi 
ihrer Beute am Teichteften unbemerkt nähem, und wurben felbft von 
ihren Feinden am mwenigften bemerft. So konnten fie ſich leichter er- 
halten und fortpflanzen, als ihre mehr gefärbten und undurchſichtigen 
Verwandten, und ſchließlich erreichte, durch gehäufte Anpaflung und 
Bererbung, durch natürliche Audfefe im Laufe vieler Generationen, der 
Körper denjenigen Grad von glasartiger Durchſichtigkeit und Farb⸗ 
lofigfeit, den wir gegenwärtig an den pelagifchen Glasthieren be- 
wundern (Gen. Morph. II, 242). 

Nicht minder intereffant und fehrreich, als die gleichfarbige Zudht- 
wahl, ift diejenige Art der natürlichen Züchtung, welche Darwin 
die feruelle oder geſchlechtliche Zuchtwahl nennt, und 
welche beſonders die Entftehung der fogenannten „fefundären Serual- 
haraftere” erklärt. Wir haben diefe untergeordneten Gefchlechtecharat- 
tere, die in fo vieler Beziehung lehrreich find, ſchon früber erwähnt, 
und verftanden darunter ſolche Eigenthümlichkeiten der Thiere und 





Geföteftlide Zuchtwohl als Urface der fehundären Serualiieraere. 237 


Pflanzen, welche bloß einem der beiden Geſchlechter zukommen, und 
welche nicht in unmittelbarer Beziehung zu der Fortpflanzungsthätig- 
feit felbft fteben. (Bergl. oben ©. 188.) Solche fefundäre Geſchlechts⸗ 
charaktere fommen in großer Mannichfaltigkeit bei den Thieren vor. 
Cie wiſſen Alle, wie auffallend fich bei vielen Vögeln und Schmetter- 
fingen die beiden Geſchlechter durch Größe und Färbung unterſcheiden. 
Meiſtens ift hier dad Männchen das größere und ſchönere Gefchlecht. 
Oft befigt dafjelbe befondere Zierrathe oder Waffen, wie z. ®. der 
Spom und Federkragen des Hahns, das Geweih der männlichen 
Hirſche und Rehe u. ſ. w. Alle diefe Eigenthümlicpfeiten des einen 
Geſchlechtes haben mit der Fortpflanzung felbft, welche durch die „pri⸗ 
mären Sexualcharaktere“, die eigentlichen Geſchlechtsorgane, vermit- 
telt wird, unmittelbar Nicht? zu thun. 

Die Entftehung diefer merfwürdigen „felundären Serualcharat- 
tere“ erflärt nun Darwin einfach durd) die Ausleſe oder Selection, 
welche bei der Fortpflanzung der Thiere gefchieht. Bei den meiften 
Thieren ift die Zahl der Individuen beiderlei Geſchlechts mehr oder 
weniger ungleich; entweder ift die Zahl der weiblichen oder die der 
männlichen Individuen größer, und wenn die Kortpflanzungseit heran- 
naht, findet in der Regel ein Kampf zwiſchen den betreffenden Neben- 
buhlern um Erlangung der Thiere des anderen Gefchlechtes ſtatt. Es 
it befannt, mit welder Kraft und Heftigfeit gerade bei den höchſten 
Thieren, bei den Säugethieren und Bögeln, beſonders bei den in 
Polygamie lebenden, diefer Kampf gefochten wird. Bei den Hühner- 
vögeln, wo auf einen Hahn zahlreiche Kennen kommen, findet zur Er⸗ 
langung eines möglihft großen Harems ein lebhafter Kampf zwiſchen 
den mitbewerbenden Hähnen ftatt. Daffelbe gilt von vielen Wieder 
täuern. Bei den Hirfchen und Rehen z. B. entftehen zur Zeit der 
Fortpflanzung gefährliche Kämpfe zwifhen den Männden um den 
Befig der Weibchen. Der fetundäre Sexualcharakter, welcher hier die 
Männcyen auszeichnet, das Geweih der Hirfche und Nehe, das den 
Weibchen fehlt, it nah Darwin die Folge jened Kampfes. Hier ift 
alfo nicht, wie beim Kampf um die individuelle Eriftenz, die Selbft« 


238 GEntfefung ber fekunbären Geruafeparatere buch gefeleitfihe Budhtmaht. 


erhaltung, fondern die Erhaltung der Art, die Fortpflanzung, das 
Motiv und die beftimmende Urfache des Kampfes. Es giebt eine ganze 
Menge von Waffen, die in diefer Weile von den Thieren erworben 
wurden, ſowohl paffive Schugmwaffen als aktive Angriffswaffen. Cine 
folhe Schugwaffe ift zweifelsohne die Mähne des Löwen, die dem 
Weibchen abgeht; fie ift bei den Biflen, die die männlichen Löwen 
fi am Halfe beizubringen ſuchen, wenn fie um die Weibchen füm- 
pfen, ein tüchtiges Schugmittel; und daher find die mit der ſtärkſten 
Mähne verfehenen Männchen in dem feruellen Kampfe am Meiſten 
begünftigt. Eine ähnlihe Schupwaffe ift die Wamme des Stier 
und der Federkragen des Hahns. Aktive Angriffewaffen find da- 
gegen das Geweih des Hirſches, der Hauzahn des Eberd, der Spom 
des Hahns und der entwidelte Oberkiefer des männlichen Hirſch⸗ 
kaͤfers; alles Inftrumente, welche beim Kampfe der Männchen um die 
Weibchen zur Vernichtung oder Vertreibung der Rebenbubler dienen. 

In den Tepterwähnten Fällen find es die unmittelbaren Ber- 
nichtungsfämpfe der Nebenbubler, welche die Entftehung des fefun- 
dären Sexualcharakters bedingen. Außer diefen unmittelbaren Ber- 
nichtungskaͤmpfen find aber bei der geſchlechtlichen Außlefe aud die 
mehr mittelbaren Wettkämpfe von großer Wichtigkeit, welche auf die 
Nebenbuhler nicht minder umbildend einwirken. Diefe beftehen vor- 
zugsweiſe darin, daß das werbende Geſchlecht dem anderen zu ger 
fallen ſucht: durd äußeren Pup, durch Schönheit, oder durch eine 
melobifhe Stimme. Darwin meint, daß die ſchoͤne Stimme der 
Singvögel wefentlih auf diefem Wege entitanden ift. Bei vielen 
Bögeln findet ein wirklicher Sängerfrieg zwiſchen den Männchen 
ſtatt, die um den Befig der Weibchen Fämpfen. Von mehreren Eing- 
vögeln weiß man, da zur Zeit der Kortpflangung die Männden 
ſich zahlreih vor den Weibchen verfammeln und vor ihnen ihren 
Gefang erſchallen laffen, und daß dann die Weibchen denjenigen 
Sänger, welcher ihnen am beften gefällt, zu ihrem Gemabl erwäh- 
len. Bei anderen Singvögeln laffen die einzelnen Maͤnnchen in ber 
Ginfamtfeit des Waldes ihren Gefang ertönen, um die Weibchen an- 





Mufilaliſche Zuchtwahl im Kampf um bie Fortpflanzung. 239 


zulocken, und diefe folgen dem amziehendften Lodtone. Ein ähnlicher 
muſitaliſcher Wetttampf, der alferding® weniger melodifch ift, findet 
bei den Cikaden und Heufchreden ftatt. Bei den Cikaden hat das 
MRaͤnnchen am Unterleib zwei trommelartige Inftrumente und erzeugt 
damit die feharfen zirpenden Töne, welche die alten Griechen felt- 
famer Weife als fchöne Mufit priefen. Bei den Heufchreden bringen 
die Männchen, theild indem fie die Hinterfchenfel wie Violinbogen 
an den Flügeldecken reiben, theild durd; Reiben der Flügeldeden an 
einander, Töne hervor, die für und allerdings nicht melodifch find, 
bie aber den weiblichen Heuſchrecken fo gut gefallen, daß fie die am 
beften geigenden Männchen ſich ausfuchen. 

Bei anderen Inſekten und Vögeln ift es nicht der Gefang oder 
überhaupt die mufitalifche Leiftung, fondern der Putz oder die Schön- 
beit des einen Geſchlechts, welches das andere anzieht. So finden wir, 
daß bei den meiften, Hühnervögeln die Hähne durch Hautlappen auf 
dem Kopfe ſich auszeichnen, oder durch einen fhönen Schweif, den 
fie rabartig ausbreiten, wie 3. ®. der Pfau und der Trutbahn. Auch 
der prachtvolle Schweif des Paradiesvogels ift eine ausſchließliche 
Zierde de männlichen Geſchlechts. Ebenfo zeichnen ſich bei fehr vielen 
anderen Bögeln und bei fehr vielen Inſekten, namentlih Schmetter- 
fingen, die Männchen durch befondere Karben oder andere Zierden 
vor den Weibchen aus. Offenbar find diefelben Produfte der feguel- 
len Züchtung. Da den Weibchen diefe Reize und Verzierungen fehlen, 
fo müflen wir fehließen, daß diefelben von den Männchen im Wett- 
tampf um die Weibchen erft mühfam erworben worden find, wobei 
die Weibchen ausleſend wirkten. 

Die Anwendung diefes intereffanten Schluffes auf die menſchliche 
Geſellſchaft können Sie ſich felbft leicht im Einzelnen ausmalen. Of- 
fenbar find auch hier diefelben Urfachen bei der Ausbildung der ſekun⸗ 
dären Sexualcharaktere wirkſam geweſen. Ebenſowohl die Borzüge, 
welche den Mann, als diejenigen, welche das Weib auszeichnen, ver⸗ 
danken ihren Urſprung ganz gewiß groͤßtentheils der ſexuellen Ausleſe 
des anderen Geſchlechts. Im Alterthum und im Mittelalter, beſon ⸗ 


240 Aeſthetiſche und pfychiſche Zuchtwahl im Kampf um bie Fortpflanzung. 


ders in der romantifchen Rittergeit, waren es die unmittelbaren Ber- 
nichtungskämpfe, die Turniere und Duelle, welche die Brautwahl ver- 
mittelten; der Stärfere führte die Braut heim. In neuerer Zeit da- 
gegen find die mittelbaren Wettkämpfe der Nebenbuhler beliebter, 
welche mittelft muſikaliſcher Leiftungen, Spiel und Gefang, oder mit« 
telſt Törperlicher Reize, natürlicher Schönheit oder fünftlichen Pupes, 
in unferen fogenannten „feinen“ und „hocheivilifirten” Gefellfchaften 
ausgefämpft werden. Bei weitem am Wichtigften aber von dieſen 
verfchiedenen Formen ber Geſchlechtswahl des Menfchen ift die am 
meiften verebeite Form derfelben, nämlich die pſychiſche Ausleſe, 
bei welcher die geiftigen Borzüge des einen Geſchlechts beftimmend auf 
die Wahl des anderen einwirken. Indem der am hödhiten veredelte 
Kulturmenfh fi bei der Wahl der Lebensgefährtin Generationen 
hindurch von den Seelenvorzügen derfelben leiten ließ, umd biefe auf 
die Nachtommenſchaft vererbte, half er mehr, ala durch vieles Andere, 
die tiefe Kluft fhaffen, welche ihn gegenwärtig von den roheſten Ra- 
turoöffern und von unferen gemeinfamen thierifchen Boreltern trennt. 
Ueberhaupt ift die Rolle, welche die gefteigerte feruelle Zuchtmahl, 
und ebenfo die Rolle, welche die vorgefchrittene Arbeitätheilung zwi ⸗ 
ſchen beiden Geſchlechtern beim Menſchen fpielt, höchft bedeutend, und 
ich glaube, daß hierin eine der mächtigften Urfachen zu fuchen if, 
welche die phylogenetifche Entftehung und bie hiftorifche Entwicelung 
des Menſchengeſchlechts bewirkten (Gen. Morph. II, 247). 

Da Darwin in feinem 1871 erfjienenen, höchſt intereifanten 
Werke über „die Abftammung des Menfchen und die gefchledhtlide 
Zuchtwahl” «*) diefen Gegenftand in der geiftreichften Weiſe erörtert 
und durch die merfwürdigften Beifviele erläutert hat, verweiſe ih 
Sie bezüglich des Näheren auf dieſes Werk. Laſſen Sie und du 
gegen jept noch einen Blid auf zwei äußerft wichtige organiſche Grund · 
‚gefepe werfen, welche ſich durch die Selectionstheorie als nothwen- 
dige Folgen der natürlichen Züchtung im Kampf unrs Dafein erflären 
faffen, nämlich das Gefep der Arbeitstheilung oder Diffe- 
renzirung und das Gefep des Fortſchritts oder der Rer- 


Rothwendige Folgen ber natürlichen Züchtung. 24 


volltommnung. Man war früher, ald man in der geſchichtlichen 
Entwidelung, in ber individuellen Entwiclelung und in der verglei- 
enden Anatomie der Thiere und Pflanzen durch die Erfahrung diefe 
beiden @efepe fernen lernte, geneigt, diefelben wieber auf eine uns 
mittelbare ſchoͤpferiſche Einwirkung zurüczuführen. Es follte in dem 
zwedmaͤßigen Plane des Schöpfers gelegen haben, die Formen der 
Thiere und Pflanzen im Laufe der Zeit immer mannichfaltiger aus- 
zubilden und immer volltommener zu geftalten. Wir werden offen- 
bar einen großen Schritt in der Erfenntniß der Ratur thun, wenn 
wir diefe teleologifche und anthropomorphe Vorftellung zurückweiſen, 
und die beiden Gefepe der Arbeitötheilung und Bervolllommnung 
ala nothwendige Folgen der natürlichen Züchtung im Kampfe 
um's Dafein nachweiſen können. 

Das erfte große Gefeg, weiches unmittelbar und mit Nothwen- 
digkeit aus der natürlichen Züchtung folgt, ift dasjenige der Sonde- 
tung oder Differenzirung, welche man auch häufig ala Ar- 
beitstheilung oder Polymorphis mus bezeichnet und welche 
Darwin als Divergenz des Charakters erläutert. (Gen. 
Mowh. II, 249.) Wir verfteben darunter die allgemeine Reigung 
aller organifchen Individuen, fi in immer höherem Grade ungleich" 
artig auszubilden und von dem gemeinfamen Urbilve zu entfernen. 
Die Urſache diefer allgemeinen Neigung zur Sonderung und ber da- 
durch bewirften Hervorbildung ungleihartiger Formen 
aus gleihartiger Grundlage ift nah Darwin einfach auf 
den Umftand zurüdzuführen, dag der Kampf um's Dafein zwifchen je 
wei Organiämen um fo heftiger entbrennt, je näher ſich diefelben 
in jeder Beziehung ftehen, je gleichartiger fie find. Dies ift ein un- 
gemein wichtiges und eigentlich äußerft einfaches Verhaͤltniß, welches 
aber gewöhnlich gar nicht gehörig in’® Auge gefaßt wird. 

. &3 wird Jedem von Ihnen einleuchten, daß auf einem Ader von 
beftimmter Größe neben den Kornpflanzen, die dort auögefäet find, 
eine große Anzahl von Unkräutern egiftiren können, und zwar an Stel 


len, welche nicht von den Kornpflanzen eingenommen werden könnten. 
Hecdel, Naturl Schöpfungsgeid. 5. Aufl. 16 \ 


242 Geſetz ber Sonderung ober Arbeitötheilung. 


Die trodeneren, fterileren Stellenebe® Bodens, auf denen feine Korn⸗ 
pflanze gedeihen würde, koͤnnen noch zum Unterhalt von Unkraut ver 
ſchiedener Art dienen; und zwar werden davon um fo mehr verfhie, 
dene Arten. und Individuen neben einander eriftiren können, je befier 
bie verfchiedenen Unfrautarten geeignet find, fich den verichiedenen 
Stellen des Aderboden® anzupafien. Ebenfo ift e8 mit den Thieren. 
Offenbar können in einem und demfelben befchräntten Bezirk eine wiel 
größere Anzahl von thierifchen Individuen zufammenleben, wenn die ⸗ 
felben von mannichfach verſchiedener Ratur, als wenn fie alle gleich 
find. Es giebt Bäume (wie z. B. die Eiche), auf welchen ein paar 
Hundert verfehiedene Infektenarten neben einander leben. Die einen 
näbren fi von den Früchten des Baumes, die anderen von den Blät- 
tern, noch andere von der Rinde, der Wurzel u. f. f. Es wäre ganz 
unmöglich, daß die gleiche Zahl von Individuen auf diefem Baume 
lebte, wenn alle von einer Art wären, wenn z. B. alle nur von der 
Rinde oder nur von den Blättern lebten. Ganz daffelbe iR in der 
menſchlichen Geſellſchaft der Fall. In einer und derfelben Keinen 
Stadt kann eine beftimmte Anzahl von Handwerkern nur-leben, wenn 
diefelben verſchiedene Geſchaͤfte betreiben. Die Arbeitätheilung, welche 
ſowohl der ganzen Gemeinde, als auch dem einzelnen Arbeiter den 
größten Nupen bringt, ift eine unmittelbare Folge des Kampfes um's 
Dafein, der natürlichen Züchtung; denn diefer Kampf ift um fo leichter 
zu beftehen, je mehr ſich die Ihätigfeit und fomit aud die Form 
der verfhiedenen Individuen von einander entfernt. Natürlich wirkt 
die verfhiedene Funktion umbildend auf die Form zurüd, und die 
phyſiologiſche Arbeitstheilung bedingt nothwendig die morphologiſche 
Differenzirung, die „Divergenz des Charakters” 37), 

Run bitte ih Sie wieder zu erwägen, daß alle Thier- und Plan» 
zenarten veränderlid find, und die Fähigkeit befigen, fid) an verſchie · 
denen Orten den lokalen Berhältniffen anzupafien. Die Spielarten, 
Varietäten oder Raſſen einer jeden Species werben ſich den Anpaf- 
fungägefegen gemäß um fo mehr von der urfprünglichen Stammart 
entfernen, je verfchiedenartiger die neuen Berhältniffe find, denen fie 


Geſetz ber Sonderung oder Arbeitstheilung. 243 


fih anpaffen. Wenn wir nun diefe von einer gemeinfamen Grund» 
form ausgehenden Barietäten uns in Form eines verzweigten Strah ⸗ 
lenbũſchels vorftellen, fo werben diejenigen Spielarten am beten neben 
einander exiſtiren umd ſich fortpflanzen können, welde am weiteften 
von einander entfernt find, welche an den Enden der Reihe oder auf 
enigegengefepten Seiten des Buͤſchels ftehen. Die in der Mitte ſte⸗ 
henden Uebergangsformen dagegen haben den ſchwierigſten Stand 
im Kampfe um's Dafein. Die nothivendigen Lebensbebärfniffe find 
bei den eptremen, am weiteften auseinander gehenden Spielarten am 
meiften verfhieden, und daher werben diefe in dem allgemeinen 
Kampfe um's Dafein am menigften in ernftlihen Konflikt gerathen. 
Die vermittelnden Zwiſchenformen dagegen, welche ſich am wenigften 
von der unfprünglichen Stammform entfernt haben, theilen mehr oder 
minder diefelben Lebensbedürfniſſe, und daher werden fie in der Mit« 
bewerbung um diefelben am meiften zu Nimpfen haben und am ger 
fährlichſten bedroht fein. Wenn alfo zahlreiche Varietäten oder Spiel- 
arten einer Species auf einem und demfelben Fleck der Erde mit ein. 
ander leben, fo konnen viel eher die Eytreme, die am meiften ab» 
weichenden Formen, neben einander fort beftehen, als die vermittelnden 
Zwiſchenformen, welche mit jebem ber verfhiedenen Eytreme zu kaͤm⸗ 
pfen haben. Die lepteren werben auf die Dauer den feindlichen Ein» 
flüffen nicht widerftehen können, welche die erfteren fiegreich überwin« 
den. Diefe allein erhalten ſich, pflanzen fi) fort, und find nun nicht 
mehr durd) vermittelnde Uebergangsformen mit der urfpränglicen 
Stammart verbunden. So entftehen aus Varietäten „gute Arten“. 
Der Kampf um's Dafein begünftigt nothwendig die allgemeine Die 
vergenz oder das Außeinandergehen der organifchen Formen, die 
beftändige Neigung der Organismen, neue Arten zu bilden. Diefe 
beruht nicht auf einer myftifchen Eigenfchaft, auf einem unbefannten 
Bildungstrieb der Organismen, fondern auf der Wechſelwirkung ber 
Vererbung und Anpaflung im Kampfe um's Dafein. Inden von 
den Varietäten einer jeden Species die vermittelnden Zwifchenformen 
erlöfhen und die Uebergangsglieder aufterben, geht der Divergenz« 
16* 


244 Entſtehung der Arten aus Varietäten durch Divergenz. 


projeß immer weiter, und bildet in den Ertremen Geftalten aus, 
die wir als neue Arten unterfcheiden. 

Obgleich alle Naturforfher die Variabilität oder Beränderlichteit 
aller Thier- und Pflanzenarten zugeben müffen, haben doch die mei- 
ften bisher beftritten, daß die Abänderung oder Umbildung der orga- 
niſchen Form die urfprüngfiche Grenze bed Spetiescharalters über- 
fhreite. Unfere Gegner haften an dem Sage feft: „Soweit auch eine 
Art in Barietätenbüfhel aus einander gehen mag, fo find die Spiel- 
arten oder Barietäten derfelben doch niemal® in dem Grade von ein- 
ander unterfchieden, wie zwei wirkliche gute Arten.“ Diefe Behaup- 
tung, die gewöhnlich von Darwin's Gegnern an die Spipe ihrer 
Beweisführung geftellt wird, ift vollfommen unhaftbar und unbe 
gründet. Dies wird Ihnen fofort Mar, fobald Sie kritiſch die ver- 
ſchiedenen Verſuche vergleichen, den Begriff ber Species oder 
Art feftzuftellen. Was eigentlich eine „echte oder gute Art“ („Bona 
species“) fei, dieſe Frage vermag fein Naturforfcher zu beantworten, 
tropbem jeber Syuftematiter täglich diefe Ausbrüde gebraucht, und 
tropdem ganze Bibliotheken über die Frage gefchrieben worden find, 
ob dieſe oder jene beobachtete Form eine Species oder Barietät, eine 
wirklich gute,ober ſchlechte Art fei. Die am meiften verbreitete Ant- 
wort auf diefe Frage war folgende: „Zu einer Art gehören alle In⸗ 
dividuen, die in allen wefentlihen Merkmalen übereinftimmen. We⸗ 
fentlihe Speciescharaltere find aber foldhe, welche beftändig oder fon- 
ftant find, und niemals abändern oder varliren.” Sobald nun aber 
der Fall eintrat, daß ein Merkmal, dad man biöher für wefentlich 
hielt, dennoch abänderte, fo fagte man: „Diefed Merkmal ift für 
die Art nicht wefentfich geweſen, denn weſentliche Charaktere variiren 
nit.” Man bewegte fi) alfo in einem offenbaren Zirkelfchluß, und 

* bie Raivetät ift wirffich erſtaunlich, mit der diefe Kreisbewegung der 
Artdefinition in Taufenden von Büchern ald unumftößliche Wahrheit 
bingeftellt und immer noch wiederholt wird. 

Ebenfo wie diefer, fo find auch alle übrigen Berfuche, melde 
man zu einer feften und logiſchen Begriffsbeftimmung der organiſchen 





Entfichung der Arten durch Baftarbjeugung. 245 


„Specie8” gemacht hat, völlig fruchtlos und vergeblich gewefen. Der 
Natur der Sache nach kann e3 nicht anders fein. Der Begriff der 
Species ift ebenfo gut relativ, und nicht abfolut, wie ber Begriff der 
Barietät, Gattung, Familie, Ordnung, Klaſſe u.f.w. Ich habe dies 
in der Kritik des Speciesbegriffs in meiner generellen Morphologie 
theoretifch nachgewiefen (&en. Morph. II, 323—364). Praktifh 
babe ich diefen Beweis in meinem „Syſtem der Raltihwänme” ge» 
fiefert>°). Bei diefen merkwürdigen Thieren erfeheint die übliche 
Spetie -Unterfpeidung völlig willkurlich. Ich will mit diefer Er⸗ 
örterung bier feine Zeit verlieren, und nur noch ein paar Worte über 
dad Berhältniß der Species zur Baftardzeugung fagen. 
Früher galt es ald Dogma, daß zwei gute Arten niemald mit ein- 
ander Baftarde zeugen fönnten, welche ſich als ſolche fortpflanzten. 
Man berief ſich dabei faft immer auf die Baftarde von Pferd und 
Eel, die Maulthiere und Maulefel, die in der That nur felten ſich 
fortpflanzen Tönnen. Allein folhe unfruchtbare Baftarde find, wie 
fi) herausgeſtellt hat, feltene Ausnahmen, und in der Mehrzahl der 
Fälle find Baftarde zweier ganz verfhiedenen Arten fruchtbar und 
önnen ſich fortpflangen. Faſt immer können fie mit einer ber beiden 
Elternarten, bisweilen aber auch rein unter ſich fruchtbar ſich ver⸗ 
mifhen. Daraus fönnen aber nady dem „Gefepe der vermifchten 
Bererbung” ganz neue Formen entſtehen. 

In der That ift fo die Baftardzeugung eine Quelle der 
Entftehung neuer Arten, verfhieden von der bisher betrachte 
ten Quelle der natürlichen Züchtung. Schon früher habe ich ger 
legentlich folhe Baftard-Arten (Species hybridae) angeführt, 
indbefondere dad Haſenka ninchen (Lepus Darwinii), welches 
aus der Kreuzung von Hafen -Männden mit Kaninchen - Weibchen 
entfprungen ift, das Ziegenfhaf (Capra ovina), welches aus der 
Paarung des Ziegenbodd mit dem weiblichen Schafe entftanden ift, 
ferner verſchiedene Arten ber Difteln (Cirsium), der Brombeeren 
(Rabus) u. ſ. w. (S. 130-132). Vielleicht find viele wilde Spe- 
ties auf dieſem Wege entftanden, wie e8 au Linné fon annahm. 


"246 uUnmoglichteit der Unterfeheibung von Art und Barietät. 


Jedenfalls aber beweiſen diefe Baftarb- Arten, die fih fo gut wie reine 
Species erhalten und fortpflanzen, daß die Baftardzeugung nicht dazu 
dienen fann, den Begriff der Specied irgendwie zu charafterifiren. 

Daß die vielen vergeblichen Verſuche, den Spetiesbegriff theo- 
retiſch feitzuftellen, mit der praktiſchen Speciesunterſcheidung gar 
Nichts zu thum haben, wurde ſchon früher angeführt (©. 45). Die 
verfehiedenartige praktiſche Berwerthung des Spetiesbegriffs, wie fie 
fich in der foftematifhen Zoologie und Botanik durchgeführt findet, 
iſt ſehr lehrreich für die Erfenntnig der menſchlichen Thorheit. Die 
bei weiter überwiegende Mehrzahl der Zoologen und Botaniker war 
bisher bei Unterfheidung und Befchreibung der verſchiedenen Thier- 
und Pflanzenformen vor Allem beftrebt, bie verwandten Formen ale 
„gute Species“ ſcharf zu trennen. Allein eine fharfe und folgerichtige 
Unterfeeidung folcher „echten und guten Arten“ zeigte ſich faft nirgends 
möglich. Es giebt nicht zwei Zoologen, nicht zwei Botanifer, melde 
in allen Fällen darüber einig wären, welche von ben nahe verwand ⸗ 
ten Formen einer Gattung gute Arten feien und welche nicht. Alle 
Autoren haben darüber verfchiedene Anfichten. Bei der Gattung 
Hieracium z. B., einer der gemeinften deutſchen Pflanzengattungen, 
hat man über 300 Arten in Deutſchland allein unterfieven. Der 
Botaniker Fries läßt davon aber nur 106, Rod mur 52 al® „gute 
Arten“ gelten, und Andere nehmen deren faum 20 an. Gbenfo 
groß find die Differenzen bei den Brombeerarten (Rubus). Wo der 
eine Botaniter tiber hundert Arten macht, nimmt der zweite bloß etwa 
die Hälfte, ein britter nur fünf bis ſechs ober noch weniger Arten an. 
Die Vögel Deutfhlande fennt man feit längerer Zeit fehr genau. 
Bechſtein hat in feiner forgfältigen Naturgefhichte ber deutſchen 
Bögel 367 Arten unterfhieden, 2. Reihenbad 379, Meyer 
und Wolf 406, und der vogellundige Paſtor Brehm fogar mebr 
als 900 verfhiebene Arten. Bon den Kalkſchwäͤmmen habe ich felbft 
gezeigt, daß man darunter nad) Belieben 3 Arten, oder 21 oder 111 
oder 289 oder 591 Specieß unterſcheiden kann 5°). 


Geſctz bes Fortſchritts oder der Bervollfommmmung. 247 


Sie fehen alfo, dag die größte Willfür- hier wie in jedem an⸗ 
deren Gebiete der zoologiſchen und botaniſchen Syftematit herrfht, 
und der Ratur der Sache nach herrſchen muß. Denn es ift ganz 
unmöglich, Varietäten, Spielarten und Raffen von den fogenannten 
„guten Arten“ ſcharf zu unterſcheiden. Barietäten find begin« 
nende Arten. Aus der Bariabilität oder Anpaflungsfähigteit der 
Arten folgt mit Nothwendigkeit unter dem Einfluffe des Kampfes 
um’® Dafein die immer weiter gehende Sonderung oder Differen« 
zirung der Spielarten, die beftändige Divergeng der neuen Formen; 
und indem diefe durch Erblichkeit eine Anzahl von Generationen 
hindurch konſtant erhalten werden, während bie vermittelnden Zwi- 
ſchenformen auöfterben, bilden fie felbftftändige „neue Arten“. Die 
Entſtehung neuer Species durch. die Arbeitötheilung oder Sonberung, 
Divergenz oder Differengtrung der Barietäten,, ift mithin eine noth- 
wendige Folge der natürlihen Züchtung”). 

Daſſelbe gilt nun aud) von dem zweiten großen Geſetze, welches 
wir unmittelbar aus der natürlichen Züchtung ableiten, und welches 
dem Divergenzgefehe zwar fehr nahe verwandt, aber keineswegs damit 
identiſch ift, nämlich) von dem Gefepe des Fortſchritts (Progres- 
sus) oder der Bervolltommnung (Teleosis). (Gen. Morph. 
U, 257.) Auch dieſes große und wichtige Geſetz ift gleich dem Diffe- 
vengirumgögefege laͤngſt empiriſch durch die paläontologifche Erfahrung 
feftgeftellt worden, ehe und Darwin’ Selectionstheorie den Echlüf« 
fel zu feiner urfädhlichen Erklärung lieferte. Die meiflen ausgegeich- 
neen Paläontologen haben das Fortſchrittsgeſetz als allgemeinftes 
Refultat ihrer Unterfuchungen über die Verfteinerungen und deren 
hiſtoriſche Reihenfolge bingeftellt, fo namentlich der verbienftoolfe - 
Bronn, deſſen Unterfuhungen über die Geftaltungsgefege 1°) und 
Entwidelungögefege *?) der Organismen, obwohl wenig gewürdigt, 
dennoch vortrefflich find, und die allgemeinfte Beachtung verdienen. 
Die allgemeinen Refultate, zu welchen Bronn bezüglich des Diffe- 
renzirungs⸗ und Fortſchrittsgeſetes auf rein empiriſchem Wege, durch 





248 Geſetz des Fortfehritts oder der Bervolllommmung. 
außerordentlich fleigige und forgfältige Unterfuhungen gekommen ift, 
find glänzende Beftätigungen der Selectiondtheorie. 

Das Gefep des Fortſchritts ober der Vervolllommnung Tonfte- 
tirt auf Grund der paläontologifhen Erfahrung die äußerſt wichtige 
Thatfache, daß zu allen Zeiten des organifhen Lebens auf der Erde 
eine beftändige Zunahme in der Bolltommenheit der organiſchen Bil- 
dungen flattgefunden hat. Seit jener unvorbenflihen Zeit, in wel 
Her das Leben auf unferem ‘Planeten mit der Urzeugung von Mo 
neren begann, haben ſich die Organidmen aller Gruppen beftänbig 
im Ganzen wie im Einzelnen verollfommmet und höher ausgebildet. 
Die ftetig zunehmende Mannichfaltigfeit der Qebendformen war flet 
zugleich von Fortſchritten in der Organifation begleitet. Je tiefer Sie 
in die Schichten der Erde hinabfteigen, in welchen die Refte der aus · 
geftorbenen Tiere und Pflanzen begraben liegen, je älter die Iekte- 
ven mithin find, defto einförmiger, einfacher und unvollfonmener 
find ihre Geftalten. Dies gilt ſowohl von den Organismen im 
Großen und Ganzen, als von jeber einzelnen größeren oder kleineren 
Gruppe derfelben, abgefehen natürfih von jenen Ausnahmen, die 
dur Rüdbilbung einzelner Formen entftehen. 

Zur Betätigung dieſes Gefeges will ich Ihnen bier wieder nur 
die wichtigſte von allen Thiergruppen, den Stamm der Wirbelthier, 
Anführen. Die äfteften foffilen Wirbelthierrefte, welche wir fennen, 
gehören ber tiefftehenben Fifhflaffe an. Auf diefe folgten fpäterhin 
die volltommneren Amphibien, dann die Reptilien, und endlid in 
nod viel fpäterer Zeit die höchftorganifirten Wicbelthierflaffen, die 
Bögel und Säugethiere. Bon den lepteren erſchienen zuerft nur die 
niebrigften und unvolltommenften Formen, ohne Placenta, die Beu- 
telthiere, und viel fpäter wieberum die volltommneren Säugethiert. 
mit Placenta. Auch von diefen traten zuerft nur niedere, fpäter 
höhere Formen auf, und erft in der jüngeren Tertiärzeit entwidelte 
ſich aus den Iepteren allmählich der Menſch. 

Verfolgen Sie die hiſtoriſche Entwidelung des Pflanzenmeist, 
fo finden Cie hier daſſelbe Gefep beftätigt. Auch von den Pflanzen 


Geſetz des Fortſchritts ober ber Bervolllommmung. 249 


exiſtirte anfänglich bloß die niedrigfte und unvolltommenfte Klaffe, 
diejenige ber Algen oder Tage. Auf diefe folgte fpäter die Gruppe 
der farnkrautartigen Pflanzen ober Filieinen. Aber noch eriftirten 
feine Blüthenpflanzen oder Phanerogamen. Diefe begannen erſt fpä- 
ter mit den Gymmofpermen (Nadelhölzern und Cycadeen), welche in 
ihrer ganzen Bilbung tief unter ben übrigen Blüthenpflanzen (Angio- 
fpermen) ftehen, und den Uebergang von den Filicinen zu den An« 
giofpermen vermitteln. Diefe lepteren entwidelten fi wiederum viel 
ſpãter, und zwar waren aud) hier anfangs bloß fronenlofe Blüthen- 
pflanzen (Monosotyledonen 'und Monochlamydeen), fpäter erft kro⸗ 
nenblüthige (Dichlamydeen) vorhanden. Endlich gingen unter diefen 
wieder die niederen Diapetalen den höheren Gamopetalen voraus. 
Diefe ganze Reihenfolge ift ein unmiderleglicher Beweis für das Geſetz 
der fortfchreitenden Entwidelung. 

Fragen wir nun, wodurch dieſe Thatfache bedingt ift, fo kom⸗ 
men wir wiederum, gerade fo wie bei der Thatfache der Differen- 
zirung, auf die natürliche Züchtung im Kampf um das Dafein zurüd. 
Wenn fie noch einmal den ganzen Borgang der natürlichen Züch⸗ 
tung, wie er durch die verwidelte Wechſelwirkung der verſchiedenen 
BVererbungd- und Anpaffungägefepe ſich geftaftet, fih vor Augen 
ftellen, fo werben Sie al8 die nächfte nothwendige Folge nicht allein 
die Divergenz des Charakterd, fondern auch die Vervolltommnung 
deffelben erfennen. Wir fehen ganz daffelbe in der Geſchichte des 
menſchlichen Geſchlechts. Auch hier ift es natürlich und nothwendig, 
da die fortſchreitende Arbeitötheilung beftändig die Menfchheit för- 
dert, und in jedem einzelnen Zweige der menſchlichen Thätigkeit zu 
neuen Erfindungen und Verbefferungen antreibt. Im Großen und 
Ganzen beruht der Fortſchritt felbft auf der Differenzirung und ift 
daher glei diefer eine unmittelbare Folge der natürlichen Züchtung 
durdy den Kampf um's Dafein. 


Zwölfter Vortrag. 


Entwidelungsgefege der organifhen Stämme und 
Judividuen. Phylogenie und Ontogenie. 





Entroidelungsgefetge der Menfchheit: Differerzirung und Bervollloummung. 
Mechaniſche Urfache biefer beiden Grundgefege. Fortſchritt ohne Differengirung und 
Differenzirung ohne Fortſchritt. Entftehung der rudimentären Organe durch Richt- 
gebrauch und Abgerößnung. DOntogenefiß oder inbivibuelle Enttvidelung der Orga- 
nismen. Allgemeine Bebeutung derfelben. Ontogenie ober indididuelle Eutwick 

lungẽgeſchichte der Wirbelthiere, mit Inbegriff bed Menſchen. Eifurchung. Bildung 
der brei Reimblätter. Entwickelungegeſchichte bes Eentralnervenfgflem, der Egtre- 
mitäten, ber Kiemenbogen und des Schwanzes bei ben Wirbelthieren. Urfächlider 
Zuſammenhang und Parallelismus der Ontogenefis und Phylogeneſis, der imbini« 
duellen und der Stammesentwidelung. Urſächlicher Zufammenhang und Baralle- 
lismus der Phylogeneſis und der foftematifhen Entwidelung. Paraletismus ber 
drei organifchen Entiwidelungsreißen. . 


Meine Herren! Wenn der Menfch feine Stellung in der Ratur 
begreifen un fein Berhältniß zu der für ihn erfennbaren Erſcheinungẽ · 
welt naturgemäß erfaffen will, fo iſt e8 durchaus nothwendig, daß er 
objektiv die menſchlichen Erſcheinungen mit den außermenſchlichen ver- 
gleicht, und vor allen mit den thierifchen Erſcheinungen. Wir haben 
bereits früher gefehen, daß bie ungemein wichtigen phyſiologiſchen 
Gefege der Vererbung und der Anpaffung in ganz gleicher Weile 
für den menföplihen Organismus, wie für das Reich der Thiere 


Differenztrung in der Entwidelung Ber Menfchheit. 251 


und Pflanzen ihre Geltung haben, und hier wie dort in MWechfel- 
wirfung mit einander ſtehen. Daher wirkt auch die natürliche Züch- 
tung dur den Kampf um's Dafein ebenfo in der menfchlihen Ge- 
ſellſchaft, wie im Leben der Thiere und Pflanzen umgeftaltenb ein, 
ruft hier wie dort immer neue Kormen hervor. Ganz befonder® 
wichtig ift diefe Dergleihung der menſchlichen und der thierifchen Um⸗ 
bilbungsphänomene bei Betrachtung des Divergenzgefeped und bes 
Fortfcprittögefepes, der beiden Grundgefege, bie wir am Ende des 
legten Bortrags al3 unmittelbare und nothiwendige Folgen der natür« 
tigen Züchtung im Kampf um's Dafein nachgewiefen haben. 

Ein vergleihender Ueberblid über die Voͤllergeſchichte oder die 
fogenannte „Weltgefihichte” zeigt Ihnen zunächſt als allgemeinftes 
Refultat eine beftändig zunehmende Mannihfaltigkeit der 
menſchlichen Thätigkeit, im einzelnen Menfchenleben ſowohl als im 
Familien» und Staatenleben. Diefe Differenzirung oder Sonderung, 
diefe ftetig zunehmende Divergenz des menſchlichen Charakters und 
der menfchlichen Lebensform wird hervorgebracht durch die immer 
weiter gehende und tiefer greifende Arbeitötheilung der Individuen. 
Während die älteften und niedrigften Stufen der menfchlihen Kultur 
uns überall nahezu biefelben rohen und einfachen Berhäftniffe vor 
Augen führen, bemerken wir in jeder folgenden Periode der Gefchichte 
eine größere Mannichfaltigkeit in Sitten, Gebräuchen und Einrichtun ⸗ 
gen bei ben verfchiedenen Nationen. Die zunehmende Arbeitötheilung 
bedingt eine fteigende Mannichfaltigkeit der Formen in jeber Beziehung. 
Das fpricht ſich felbft in der menſchlichen Geſichtsbildung aus. Unter 
den nieberften Bolfaftämmen gleichen ſich die meiften Individuen fo 
fehr, da die europäifchen Reiſenden diefelben oft gar nicht untere 
ſcheiden förmen. Mit zunehmender Kultur differenzirt fih die Phy- 
fiognomie der Individuen. Endlich bei den höͤchſt enttwidelten Kul- 
tumöltern, bei Engländern und Deutſchen, geht die Divergenz der 
Geſichtsbildung bei allen flammverwandten Individuen fo weit, daß 
wir nur felten in die Verlegenheit fommen, zwei Geſichter gänzlich 
mit einander zu verwechſeln. 


252 Fortſchritt in der Entwidelung der Menſchheit. 


Als zweites oberſtes Grundgefep tritt und in ber Bölfergefchichte 
das große Gefep des Fortſchritts oder der Bervolltommnung entgegen. 
Im Großen und Ganzen ift die Geſchichte der Menſchheit die Ge- 
ſchichte ihrer fortfchreitenden Entwidelung. Freilich kommen 
überall und zu jeder Zeit Rüdfepritte im Einzelnen vor, oder e8 wer- 
den ſchiefe Bahnen des Fortſchritts eingeſchlagen, welche nur einer 
einſeitigen und aͤußerlichen Vervolllommnung entgegenführen, und 
dabei von dem höheren Ziele der inneren und werthvolleren Ber- 
vollkommnung fi mehr und mehr entfernen. Allein im Großen 
und Ganzen ift und bleibt die Entwidelungsbewegung ber ganzen 
Menſchheit eine fortſchreitende, indem der Menſch fih immer weiter 
von feinen affenartigen Borfahren entfernt und immer mehr feinen 
felbftgeftedtten idealen Zielen nähert. 

Wenn fie nun erfennen wollen, durch welche Urſachen eigent- 
lich diefe beiden großen Entwidelungögefepe der Menfchheit, das Die 
vergenzgefeg und das Fortſchrittsgeſetz bedingt find, fo müflen Sie 
diefelben mit den entfprechenden Entwickelungsgeſetzen der Thierheit 
vergleihen, und Sie werden bei tieferem Eingehen nothwendig zu 
dem Schluffe fommen, dag ſowohl die Erſcheinungen wie ibre Ur- 
fachen in beiden Fällen ganz diefelben find. Ebenfo in dem Entwide- 
lungsgange der Menfchenwelt wie in demjenigen der Thierwelt find 
die beiden Grundgefepe der Differenzirung und Bervolltommnung 
lediglich durch rein mechanifhe Urfachen bedingt, lediglich die noth- 
wendigen Folgen der natürlichen Züchtung im Kampf um's Dafein. 

Vielleicht hat fi Ihnen bei der vorhergehenden Betrachtung die 
Frage aufgebrängt: „Sind nicht diefe beiden Gefepe identiſch? Iſt 
nicht immer der Fortſchritt nothwendig mit der Divergenz verbun- 
den?” Diefe Frage ift oft bejaht worden, und Carl Ernft Bär 
3. B., einer der größten Forſcher im Gebiete der Enttwidelungäge- 
ſchichte, hat al® eines der oberiten Gefepe in der Ontogeneſis des 
Ihierförperd den Sap auögefproden: „Der Grad der Ausbildung 
(oder Bervollfommmung) befteht in der Stufe der Sonderung (oder 
Differenzirung) der Theile” *%). So richtig diefer Sap im Ganen 


Fortfägritt ohne Differenzirung. 253 
it, fo hat er dennoch feine allgemeine Gültigkeit. Pielmehr.zeigt ſich 
in vielen einzelnen Fällen, daß Divergenz und Fortſchritt keineswegs 
durchweg zufammenfallen. Richt jeder Fortſchritt ift eine 
Differenzirung, und nicht jede Differenzirung ift ein 
Fortſchritt. 

Was zunaͤchſt die Vervolllommnung oder den Fortſchritt betrifft, 
fo hat man ſchon früher, durch rein anatomiſche Betrachtungen ge⸗ 
leitet, das Gefep aufgeftellt, daß allerdings die Bervolllommnung des 

Erganiömus größtentheild auf der Arbeitsrheilung der einzelnen Or ⸗ 
gane und Körpertheile beruht, daß es jedoch auch andere organifche 
Umbildungen giebt, welche einen Fortſchritt in der Organifation be» 
dingen. Eine folde ift befonders die Zahlverminderung gleidh- 
artiger Theile. Wenn Sie z.B. die niederen krebsartigen Glieder« 
thiere, welche fehr zahlreiche Beinpaare befigen, vergleichen mit den 
Spinnen, die ſtets nur vier Beinpaare, und mit den Inſekten, die 
ſteis nur drei Beinpaare befigen, fo finden Sie diefes Gefep, für 
welches eine Maffe von Beifpielen ſich anführen läßt, beftätigt. Die 
Zahlreduftion der Beinpaare ift ein Fortſchritt in der Organifation 
der Bliederthiere. Ebenfo ift Die Zahlreduktion der gleichartigen Wirbel- 
abſchnitte des Rumpfes bei den Wirbelthieren ein Fortſchritt in deren 
Drganifation. Die Fifhe und Amppibien mit einer fehr großen An⸗ 
zahl von gleihartigen Wirbeln find ſchon deshalb unvollkommener 
und niedriger als die Vögel und Säugethiere, bei denen die Wirbel 
nicht nur im Ganzen viel mehr differengirt, fondern auch die Zahl der 
gleichartigen Wirbel viel geringer ift. Nach demfelben Gefepe ber 
Zahlverminderung find ferner die Blüthen mit zahlreihen Staub» 
fäden unvolltommener al8 die Blüthen der verwandten Pflanzen mit 
einer geringen Staubfädenzahl u. ſ. w. Wenn alfo urfprünglid eine 
fehr große Anzahl von gleichartigen Theilen im Körper vorhanden 
war, und wenn biefe Zahl im Laufe zahlreicher Generationen all» 
mãhlich abnahm, fo war diefe Umbildung eine Bervolltommnung. 

Ein anderes Fortfehrittägefep, welches von ber Differenzirung 

ganz unabhängig, ja fogar diefer gewiſſermaßen entgegengefegt er- 


254 Differenzirung ohne dortſchritt. 


ſcheint, ift da8 Gefep der Gentralifation. Im Allgemeinen if 
der ganze Organismus um fo vollfommener, je einheitlicher er orga- 
nifirt ift, je mehr die Theile dem Ganzen untergeordnet, je mehr die 
Funttionen und ihre Organe centralifirt find. Co ift z. B. das 
Blutgefäßſyſtem da am volltommenften, wo ein centralifirte® Hey 
exiſtirt. Ebenſo ift die zufammengebrängte Markmafle, welche das 
Rückenmark der Wirbelthiere und das Bauchmark der höheren Glieder- 
thiere bildet, volltommener, als die decentralifirte Ganglientette der 
niederen Gliederthiere und das zerſtreute Ganglienfyftem der Weich- 
thiere. Bei der Schwierigkeit, melde die Erläuterung diefer ver- 
widelten Fortſchrittsgeſete im Einzelnen hat, kann ich hier nicht näher 
darauf eingehen, und muß Sie bezüglich derfelben auf Bronn's 
treffliche „Morphologifhe Studien“ 1°) und auf meine generelle Mor- 
phologie verweilen (Gen. Morph. I, 370, 550; II, 257—266). 
Während Sie hier Fortſchrittserſcheinungen fennen lernten, die 
ganz unabhängig von der Divergenz find, fo begegnen Cie andrer- 
ſeits fehr häufig Differenzirungen, welche feine Bervolltommnungen, 
fondern vielmehr dad Gegenteil, Rüdfchritte find. Es iſt leicht ein- 
zuſehen, daß die Umbildungen, welche jede Thier- und Prlangenart 
erleidet, nicht immer Berbefferungen fein können. Vielmehr find viele 
Differenzirungserfpeinungen,, welche von unmittelbarem Vortheil für 
den Organismus find, infofern ſchädlich, als fie die allgemeine Lei- 
ſtungsfaͤhigkeit deffelben beeinträghtigen. Häufig findet ein Rüchſchriti 
zu einfacheren Lebensbedingungen und durch Anpaffung an biefelben 
eine Differenzirung in rückſchreitender Richtung flat. Wenn z. B. 
Organismen, die bisher frei lebten, ſich an das parafitifhe Leben ge» 
möhnen, fo bilden fie fih dadurch zurüd. Sole Thiere, die bisher 
ein wohlentwidelted Nervenſyſtem und ſcharfe Sinnesorgane, fowie 
freie Bervegung befaßen, verlieren biefelben, wenn fie fi an para - 
fitifche Lebensweiſe gewöhnen; fie bilden ſich dadurch mehr oder min« 
der zurüd. Hier ift, für ſich betrachtet, die Differenzirung ein Rüdt- 
ſchritt, obwohl fie für den parafitifchen Organismus felbft von Bor- 
theil if. Im Kampf um's Dafein würde ein ſolches Thier, das ſich 





Aubdimentäre ober verkümmerte Organe. 255 


gewöhnt hat, auf Koften Anderer zu leben, burch Beibehaltung feiner 
Augen und Bewegungswerkzeuge, die ihm nichte mehr nüpen, nur 
an Material verlieren, und wenn e8 diefe Organe einbüßt, fo kommt 
dafür eine Maſſe von Ernährungsmaterial, das zur Erhaltung diefer 
Theile verwandt wurde, anderen Theilen zu Gute. Im Kampf um's 
Dafein zwiſchen den verfchiedenen Parafiten werden daher diejenigen, 
welche am wenigften Aufprüdhe machen, im Bortheil vor den anderen 
fein, und dies begünftigt ihre Rüdbildung. 

Ebenſo wie in diefem Falle mit den ganzen Organismen, fo ver- 
hält es ſich auch mit den Körpertheilen des einzelnen Organismus. 
Auch eine Differenzirung dieſer Theile, welche zu einer theilweifen 
Rücbildung, und ſchließlich felbft zum Verluft einzelner Organe führt, 
iſt an ſich betrachtet ein Rüdfhritt, kann aber für den Organismus 
im Kampf um's Dafein von Bortheil fein. Man kämpft leichter und 
beſſer, wenn man unnüpes Gepäd fortwirft. Daber begegnen wir 
überall im entwidelteren Thier- und Pflangenkörper Divergenzpro ⸗ 
zeſſen, welche weſentlich die Rüdbildung und ſchließlich den Berluft 
einzelner Theile bewirfen. Hier tritt und nun vor Allen die höchft 
wichtige und lehrreiche Erſcheinungöreihe der rubimentären oder 
verfümmerten Organe entgegen. 

Sie erinnern ſich, daß ich fehon im erften Bortrage diefe außer⸗ 
ordentlich merkwürdige Erſcheinungsreihe ald eine der wichtigften in 
tbeoretifcher Beziehung hervorgehoben habe, als einen ber fchlagend- 
ſten Beweisgründe für die Wahrheit der Abſtammungsölehre. Wir 
bezeichneten als rudimentäre Organe ſolche Theile des Körpers, die für 
einen beftimmten Zweck eingerichtet und dennoch ohne Funktion find. 
Ic erinnere Sie an die Augen derjenigen Thiere, welche in Höhlen 
oder unter der Erde im Dunfeln leben, und daher niemals ihre Augen 
gebrauchen konnen. Bei dieſen Thieren finden wir unter der Haut 
verſtedt wirkliche Augen, oft gerade fo gebildet wie die Augen der 
wirklich fehenden Thiere, und dennoch funftioniren diefe Augen nie- 
mals, und können nicht fumktioniven, ſchon einfach aus dem Grunde, 
weil diefelben von dem undurchfichtigen Zelle überzogen find und da- 


256 Nubimentäre Flügel vieler Bögel’und Infekten. 


ber fein Lichtſtahl in fie hineinfällt (vergl. oben ©. 13). Bei den 
Vorfahren diefer Thiere, welche frei am Tageslichte lebten, waren die 
Augen wohl entwidelt, von der durchſichtigen Hornhaut überzogen 
und dienten wirklich zum Sehen. Aber als fie fich nach und nad an 
unterirdiſche Lebensweiſe gewoͤhnten, fich dem Tageslicht entzogen und 
ihre Augen nicht mehr brauchten, wurben diefelben rüdgebilbet. 
Sehr anfchauliche Beifpiele von rubimentären Organen find fer⸗ 
ner die Flügel von Thieren, welche nicht fliegen können, 3. B. unter 
den Vögeln die Flügel der ftraußartigen Laufoögel, (Strauß, Ga 
fuar u. ſ. w.), bei welchen ſich die Beine außerordentlich entwidelt 
haben. Diefe Vögel haben ſich das Fliegen abgewöhnt und haben 
dadurch den Gebrauch der (Flügel verloren, allein die (Flügel find 
noch da, obwohl in verfümmerter Form. Sehr häufig finden Sie 
folche verfümmerte Flügel in der Klaffe der Infetten, von denen bie 
meiften fliegen können. Aus vergleichend anatomiſchen und anderen 
Gründen können wir mit Sicherheit den Schluß ziehen, daß alle 
jept lebenden Infekte (alle Nepflügler, Heufhreden, Käfer, Bienen, 
Warzen, Fliegen, Schmetterlinge u, f. w.) von einer einzigen ger 
meinfamen Elternform, einem Stamminfeft abftammen, welches jwei 
entwidelte Flügelpaare und drei Beinpaare beſaß. Run giebt es 
aber fehr zahlreiche Infelten, bei denen entweder eines oder beide 
Flügelpaare mehr oder minder rüdgebilbet, und viele, bei denen fie 
fogar völlig verſchwunden find. In der ganzen Ordnung der dlie⸗ 
gen oder Dipteren z. B. ift das hintere Flügelpaar, bei den Dre 
flüglern oder Strepfipteren dagegen das vordere Flügelpaar verküm- 
mert ober ganz verſchwunden. Außerdem finden Sie in jeder In 
feftenordnung einzelne Gattungen oder Arten, bei denen die Flügel 
mehr oder minder rüdgebildet oder verſchwunden find. Inöbefon- 
dere ift lehteres bei Parafiten der Fall. Oft find die Weibchen 
flügellos, während die Männchen geflägelt find, z. B. bei den Benht- 
täfern oder Johannisfäfern (Lampyris), bei den Strepfipteren u.j.w. 
Offenbar ift diefe theilweife oder gänzlige Rüdbildung der Infel: 
tenflägel durch natürliche Züchtung im Kampf um's Dafein entfan- 





Nubimentäre oder verkünnmerte Flügel vieler Infelten. 257 


den. Denn wir finden bie Inſekten vorzugsweiſe dort ohne Flügel, 
wo das fliegen ihnen nußlos ober fogar entſchieden [häblih fein 
würde. Wenn z. B. Inſekten, weldhe Infeln bewohnen, viel und 
gut fliegen, fo kann e8 leicht vorfommen, daß fie beim liegen durch 
den Wind in das Meer geweht werben, und wenn (mie e immer 
der Fall ift) das Flugvermögen individuell verſchieden entwicelt ift, 
fo haben die ſchlechtfliegenden Individuen einen Vorzug vor den 
gutfliegenden; fie werben meniger leicht in ba® Meer geweht, und 
bleiben länger am Leben ala die gutfliegenden Individuen berfelben 
Art. Im Berlaufe vieler Generationen muß durch die Wirkfamteit 
der natürlichen Züchtung diefer Umftand nothwendig zu einer voll- 
fändigen Berfümmerung der Flügel führen. Wenn man fich dieſen 
Schluß rein theoretifch entwickelt hätte, fo fönnte man nur befriedigt 
fein, thatſaͤchlich denfelben bewahrheitet zu finden. In der That ift 
auf ifolirt gelegenen Infeln das Verhältniß der flügellofen Infelten 
zu den mit Flügeln verfehenen ganz auffallend groß, viel größer als 
bei den Inſekten des Feſtlandes. So find 5. B. nah Wollafton 
von den 550 Käferarten, welche bie Infel Madeira bewohnen, 200 
flügello8 oder mit fo unvolltommenen Flügeln verfehen, daß fie nicht 
mehr fliegen fönnen; und von 29 Gattungen, welche jener Infel aus⸗ 
ſchließlich eigenthümlich find, enthalten nicht weniger als 23 nur ſolche 
Arten. Offenbar iſt diefer merkwurdige Umftand nicht durch die be- 
fondere Weisheit des Schöpfers zu erflären, fondern durch die natür- 
liche Züchtung, indem bier der erbliche Nichtgebrauch der Flügel, die 
Abgewöhnung des Fliegens im Kampfe mit den gefährlihen Winden, 
den trägeren Käfern einen großen Bortheil im Kampf um's Dafein 
gewährte. Bei anderen flügellofen Inſekten war der Flügelmangel 
aus anderen Gründen vortheilhaft. An fich betrachtet ift der Verluſt 
der Flügel ein Rüdfpritt; aber für den Organismus unter diefen be⸗ 
fonderen Lebensverhaͤltniſſen ift er ein Bortheil im Kampf um's Dafein. 

Bon anderen rudimentären Organen will id) hier noch beifpield- 
weife die Lungen der Schlangen und ber ſchlangenartigen Eidechſen 
erwähnen. Alle Wirbelthiere, welche Lungen befigen, Amphibien, 

Hurdel, Ratürl. Shöpfungegeih. 5. Aufl. 17 


258 Nubimentäre Organe de8 Menſchen. 


Reptifien, Vögel und Säugethiere, haben ein Paar Lungen, eine 
echte und eine linke. Wenn aber der Körper ſich außerordentlich ver« 
dünnt und in die Länge ftredt, wie bei den Schlangen und ſchlangen ⸗ 
artigen Eidechfen, fo bat die eine Runge neben der andern nicht 
mehr Plap, und es ift für den Mechanismus der Athmung ein offen- 
barer Bortheil, wenn nur eine Zunge entwidelt ift. Eine einzige große 
Runge feiftet hier mehr, als zwei Meine neben einander, und daher 
finden wir bei diefen Thieren faft durchgängig die rechte oder die linfe 
Lunge allein auögebildet. Die andere ift ganz verfümmert, obwohl 
als unnüges Rudiment vorhanden. Ebenfo ift bei allen Vögeln der 
rechte Eierſtod verfümmert und ohne Funktion; der linke Gierftod 
allein ift entwidelt und liefert alle Eier. 

Daß aud) der Menſch ſolche ganz unnüge und überflüffige rudi- 
mentäre Organe befipt, habe ich bereits im erften Vortrage erwähnt, 
und damald die Muskeln, welche die Ohren bewegen, als ſolche an« 
geführt. Außerdem gehört hierher da® Rudiment des Echwanzes, 
welches der Dienfch in feinen 3—5 Schwanzwirbeln befipt, und wel» 
ches beim menſchlichen Embryo während der beiden erften Donate der 
Entwickelung noch frei hervorfteht. (Bl. Taf. II und IIL) Späterhin 
verbirgt es ſich vollftändig im Fleiſche. Diefes vertümmerte Schwaͤnz · 
chen des Menſchen ift ein unwiderleglicher Zeuge für die unleugbare 
Thatſache, daß er von gefchwwänzten Voreltern abftammt. Beim Weibe 
ift das Schwänschen gemöhnlih um einen Wirbel länger, als beim 
Manne. Auch rudimentäre Muskeln find am Schwarze des Men- 
ſchen noch vorhanden, welche denfelben vormald bewegten. 

Ein anderes rudimentäred Drgan des Menfchen, welches aber 
bloß dem Manne zufommt, und welches ebenfo bei ſaͤmmtlichen männ- 
lichen Säugethieren fi findet, find die Milchdrüſen an der Bruft, 
welche in ber Regel bloß beim weiblichen Geſchlechte in Tbätigteit 
treten. Indeſſen kennt man von verſchiedenen Säugethieren, nament» 
li vom Menfhen, vom Schafe und von der Ziege, einzelne Fälle. 
in denen die Milhdrüfen auch beim männlichen Geſchlechte wohl ente 
wickelt waren und Mil zur Emährung des Jungen lieferten. DaB 





Unfpätsbare philoſophiſche Bedeutung der rubimentären Organe. 259 


auch die rudimentären Ohrenmuskeln des Menfchen von einzelnen 
Perfonen in Folge andauernder Uebung noch zur Bewegung der Ohren 
verwendet werden fönnen, wurde bereit® früher ermäbnt (©. 12). 
Ueberhaupt find die rudimentären Organe bei verfhiedenen Indivi⸗ 
duen derſelben Art oft fehr verfchieden entwickelt, bei den einen ziem⸗ 
lid groß, bei den anderen fehr klein. Diefer Umftand ift für ihre Era 
Märung fehr wichtig, ebenfo wie der andere Umftand, daß fie allge- 
mein bei den Embryonen, ober überhaupt in fehr früher Lebenszeit, 
viel größer und ftärfer im Verhaͤltniß zum übrigen Körper find, als 
bei den ausgebildeten und erwachſenen Organismen. Insbeſondere 
ift dies leicht nachzuweiſen an den rudimentären Geſchlechtsorganen 
der Pflanzen (Staubfäden und Griffen), welche ich früher bereits an- 
geführt habe. Diefe find verhältnigmäßig viel größer in der jungen 
Blũthenknospe als in der enttoidelten Blüthe. 

Schon damald (©. 14) bemerkte ich, daß die rudimentären oder 
verfümmerten Organe zu den ftärfften Stühen der moniftifchen oder 
mechaniftifchen Weltanfhauung gehören. Wenn die Gegner derfelben, 
die Dualiften und Teleologen, das ungeheure Gewicht diefer That⸗ 
ſachen begriffen, müßten fie dadurch zur Verzweiflung gebracht wer- 
den. Die lächerlichen Erflärungsverfuche derfelben, daß die rudimen- 
tären Organe vom Schöpfer „der Symmetrie halber’ oder „zur for- 
malen Ausftattung” oder „aus Rüdfiht auf feinen allgemeinen 
Schöpfungspfan” den Organismen verliehen fein, beweifen zur Ge- 
nüge die völlige Ohnmacht jener verkehrten Weltanfhauung. Ich muß 
bier wiederholen, daß, wenn wir auch gar Nichts von ben übrigen 
Enttoidelungserfcheinungen wüßten, wir ganz allein ſchon auf Grund 
der rudimentären Organe die Defcendenztheorie für wahr halten 
müßten. Sein Gegner derfelben hat vermocht, auch nur einen ſchwa⸗ 
Gen Schimmer von einer annehmbaren Erklärung auf diefe äußerft 
mertwwärdigen und bedeutenden Erſcheinungen fallen zu laſſen. Es 
giebt beinahe feine irgend höher entiwidelte Thier- oder Pflanzenform, 
die nicht irgend welche rudimentäre Organe hätte, und faft immer 
läßt fi) nachweifen , daß diefelben Produkte der natürlichen Züchtung 

17* 


260 Entflehung der rubimentären Organe durch Nichtgebrauch. 


find, daß fie durch Nichtgebrauch oder durch Abgewöhnung verfüm- 
mert find. Es ift der umgefehrte Bildungsprogeß, wie wenn neue 
Organe durch Angewöhnung an befondere Lebensbebingungen und 
dur Gebrauch eines noch unentwidelten Theiles entftehen. Zwar 
wird gewöhnlich von unfern Gegnern behauptet, daf die Entſtehung 
ganz neuer Theile ganz und gar nicht durch die Defcendenztheorie 
zu erflären fei. Indeſſen kann ich Ihnen verfihern, daß diefe Er- 
Märung für denjenigen, der vergleichend- anatomifhe und phyfio« 
logiſche Kenntniffe befigt, micht die mindefte Schwierigfeit hat. Jeder, 
der mit der vergleichenden Anatomie und Entwickelungsgeſchichte ver- 
traut ift, findet in der Entftehung ganz neuer Organe ebenfo wenig 
Schwierigkeit, als hier auf der anderen Seite in dem völligen 
Schwunde ber rudimentären Organe. Das Bergehen der lepteren 
ift an ſich betrachtet da® Gegentheil vom Entftehen der erfteren. 
Beide Prozeffe find Differenzirungseriheinungen, die wir gleih allen 
übrigen ganz einfach und mechaniſch aus der Wirkſamkeit der natür- 
lien Zuͤchtung im Kampf um das Dafein erlären können. 

Die unendlich wichtige Betradhtung der rubimentären Organe 
und ihrer Entſtehung, die Vergleihung ihrer paläontologifhen und 
ihrer embryologifhen Entwidelung führt uns jegt naturgemäß zur 
Ermägung einer der wichtigften und größten biologifchen Erſchei⸗ 
nungßreihen, nämlich des Parallelismus, welchen und die Fortfchritte- 
und Divergenzerfpeinungen in dreifach verſchiedenet Beziehung dar- 
bieten. Als wir im Borhergehenden von Bervolllommnung und Ar- 
beitstheifung fprachen, verftanden wir darunter diejenigen Fortfchritte- 
und Sonderungsbewegungen, und diejenigen dadurch bewirkten Um · 
bildungen, welche in dem langen und langſamen Verlaufe der Exdge- 
ſchichte zu einer beſtändigen Veränderung der Flora und Fauna, zu 
einem Entſtehen neuer und Vergehen alter Thier- und Pflanzenarten 
geführt haben. Ganz denfelben Erfheinungen des Fortfchritt® umd 
der Differenzirung begegnen wir nun aber auch, und zwar in derfel- 
ben Reihenfolge, wenn wir die Entftehung, die Entwidelung und den 
Lebenslauf jedes einzelnen organifchen Individuums verfolgen. Die 


Differemirung und dortjchritt im ber Ontogenefis. 261 
individuelle Enttwidelung ober die Ontogenefis jedes einzelnen Dfga- 
nismus vom Ei an aufmärt® bis zur vollendeten Form, befteht in 
nichts anderem, ald im Wachsathum und in einer Reihe von Differen- 
zitungs⸗ und Fortfhrittöbewegungen. Dies gilt in gleicher Weife von 
den Thieren, wie von den Pflanzen und Protiften. Wenn Sie z. B. 
die Ontogenie irgend eines Säugethierd, des Menfchen, des Affen 
oder des Beutelthierd betrachten, oder die individuelle Entwidelung 
irgend eines anderen Wirbelthierd aus einer anderen Klaffe verfolgen, 
fo finden Sie überall weſentlich dieſelben Erſcheinungen. Jedes diefer 
Thiere entwidelt fi urſprünglich aus einer einfachen Zelle, dem Ei. 
Die Zelle vermehrt ſich durch Theilung, bildet einen Zellenhaufen, 
und durch Wachsthum diefes Zellenhaufens, durch urigleichartige Aus⸗ 
bildung der urſprünglich gleichartigen Zellen, durch Arbeitstheilung 
und Vewollkommnung derfelben, entfteht der volltommene Organis- 
muß, deffen verwidelte Zufammenfegung wir bewundern. 

Hier fcheint es mir nun unerlaͤßlich, Ihre Aufmerkfamteit etwas 
eingehender auf jene unendlich wichtigen und intereffanten Vorgänge 
hinzulenken, welde die Ontogenefiß oder die individuelle 
Entwidelung der Organismen, und ganz vorzüglich diejenige 
der Wirbeithiere mit Einfchlug des Menſchen begleiten. Ich möchte 
diefe außerordentlich merkwuͤrdigen und lehrreichen Erſcheinungen ganz 
beſonders Ihrem eingehendften Nachdenken empfehlen, einerfeits, weil 
diefelben zu den ftärfften Stüpen der Defcenbenztheorie gehören, an« " 
dererſeits, weil fie bißher nur don Wenigen entfprechend ihrer uns 
ermeßlichen allgemeinen Bedeutung gewürdigt worben find. 

Man muß in der That erflaunen, wenn man bie tiefe Unkennt⸗ 
niß erwägt, welche noch gegenwärtig in den weiteften Kreiſen über 
die Thatfachen der individuellen Entwidelung des Menfchen und der 
Organismen überhaupt herrſcht. Diefe Thatfachen, deren allgemeine 
Bedeutung man nicht hoch genug anfchlagen fann, wurden in ihren 
wichtigſten Grundzügen ſchon vor mehr al8 einem Jahrhundert, im 
Jahre 1759, von dem großen deutfchen Naturforſcher Caspar Frie⸗ 
drih Wolff in feiner Haffifhen „Theoria generationis“ feft- 


262 Individuelle Entwidielungegefdhichte oder Ontogenie. 

geftelt. Aber gleihwie Lamarck's 1809 begründete Deicenden- 
theorie ein halbes Jahrhundert hindurch ſchlummerte und erſt 1859 
durch Darwin zu neuem unfterblihem Leben erwedt wurde, fo blieb 
auch Wolff's Theorie der Epigenejis faft ein halbes Jahrhunder 
hindurch unbefannt, und erft nachdem Oken 1806 feine Entwide 
iungegeſchichte des Darmfanald veröffentlicht und Medel 1812 
Wolff's Arbeit über denfelben Gegenftand in's Deutſche überfept 
hatte, wurde Wolff's Thesrie allgemeiner bekannt und bilbete feit- 
dem die Grundlage aller folgenden Unterſuchungen über inbivibwele 
Entwidelungsgeſchichte. Das Studium der Ontogenefid nahm num 
einen mächtigen Aufſchwung, und bald erfihienen die klaſſiſchen Un- 
terfuchungen der beiden (freunde Ehriftian Pander (1817) und 
Carl Ernft Bär (1819). Insbeſondere wurde durch Bär’s epoche ⸗ 
machende Entwidelungsgeſchichte der Thiere“ *%) die Ontogenie der 
Wirbelthiere in allen ihren bedeutendften Thatfachen durch fo vortrefi- 
liche Beobachtungen feftgeftellt, und durch fo vorzügliche philoſophiſche 
Neflegionen erläutert, daß fie für das Verſtändniß dieſer wichtigſten 
Thiergruppe, zu welcher ja auch der Menſch gehört, die unentbehrlich 
Grundlage wurde. Jene Thatfachen würden für fi) allein ſchon aus 
reihen, die Frage von der Stellung des Menſchen in der Ratur und 
fomit das hoöchſte aller Probleme zu löfen. Betrachten Sie aufmert- 
fam und vergleichend die acht Figuren, welche auf den nachſtehenden 
Tafeln II und II abgebildet find, und Sie werden erkennen, da} 
man die philoſophiſche Bedeutung der Embryologie nicht body genug 
anfplagen kann. (Siehe ©. 272, 273.) 

* Nun darf man wohl fragen: Was wiflen unfere fogenannten 
„gebildeten“ Kreife, die auf die hohe Kultur des neunzehnten Jaht ⸗ 
hundert fih fo Biel einbilden, von dieſen wichtigften biologifgen 
Thatſachen, von diefen unentbehrlihen Grundlagen für dad Berftänt- 
niß ihreö eigenen Organismus? Was willen unfere jpefulativen Phi. 
tofophen und Theologen davon, welche durch reine Spekulationen 
oder durch göttliche Infpirationen das Verſtaͤndniß des menſchlichen 
Organismus gewinnen zu fönnen meinen? Ja, was wifien felb die 





Unermeßliche allgemeine Bereutung ber Ontogenie. 263 


meiften Raturforfcher davon, die Mehrzahl der fogenannten „Zoo⸗ 
logen“ (mit Einfluß der Entomologen!) nicht ausgenommen? 

Die Antwort auf diefe Frage fällt fehr befhämend aus, und 
wir mäffen wohl oder übel eingeftehen, daß jene unfhäpbaren That⸗ 
ſachen der menſchlichen Ontogenie noch heute den Meiften entweder 
garg unbefannt find, oder doch keineswegs in gebührender Weife ge- 
würdigt werden. Hierbei werden wir deutlich gewahr, auf welchem 
ſchiefen und einfeitigen Wege fi) die vielgerühmte Bildung des neun⸗ 
zehnten Jahrhunderts noch gegenwärtig befindet” Unwiſſenheit und 
Aberglauben find die Grundlagen, auf denen fi) die meiften Men- 
ſchen das Verſtaͤndniß ihres eigenen Organismus und feiner Bezie- 
hungen zur Gefammtheit der Dinge aufbauen, und jene handgreif- 
lien Thatſachen der Entrwidelungsgefhichte, welche das Licht der 
Wahrheit darüber verbreiten könnten, werden ignorirt. Allerdings 
find diefe Thatſachen nicht geeignet, Wohlgefallen bei denjenigen zu 
erregen, welche einen durchgreifenden Unterfchied zwifchen dem Men⸗ 
fen und der übrigen Natur annehmen und namentlich den thierifchen 
Urfprung des Menfchengefchlecht8 nicht zugeben wollen. Insbeſondere 
müffen bei denjenigen Böltern, bei denen in Folge von falfcher Auf⸗- 
faffung der Erblichkeitsgeſetze eine erbliche Kafteneintheilung exiſtirt, 
die Mitglieder der herrſchenden privilegirten Kaften dadurch fehr un« 
angenehm berührt werden. Bekanntlich geht heute noch in vielen 
Kulturländern die erbliche Abftufung ber Stände fo weit, daß z. 2. 
der Adel ganz anderer Natur, ald der Bürgerftand zu fein glaubt, und 
daß Edelleute, weldhe ein entehrendes Verbrechen begehen, zur Strafe 
dafür aus der Adelskaſte ausgeſtoßen und in die Pariakaſte des „ger 
meinen‘ Bürgerftandes hinabgeſchleudert werden. Was follen diefe 
Edelleute noch von dem Bollblut, das in ihren privilegirten Adern 
rollt, denken, wenn fie erfahren, daß alle menſchlichen Embryonen, 
abelige ebenfo wie bürgerliche, während der erften beiden Monate der 
Enttvidelung von den geſchwaͤnzten Embryonen des Hundes und an- . 
derer Säugethiere faum zu unterfcheiden find? 

Da die Abficht diefer Vorträge lediglich ift, die allgemeine Erkennt⸗ 


264 Das Ei des Menſchen. 


niß der natürlichen Wahrheiten zu fördern, und eine naturgemäße An⸗ 
ſchauung von den Beziehungen des Menfchen zur übrigen Natur in 
weiteren Kreifen zu verbreiten, fo werben Sie e8 hier gewiß gerecht · 
fertigt finden, wenn ich jene weit verbreiteten Borurtheile von einer 
privilegirten Ausnahmeftellung des Menſchen in der Schöpfung nicht 
berüdfichtige, und Ihnen einfach die embryologifhen Thatſachen vor- 
führe, aus denen Sie felbft fih die Schlüffe von der Grundlofigfeit 
jener Borurtheile bilden können. Ich möchte Sie um fo mehr bitten, 
über diefe Thatfachen der Ontogenie eingehend nachzudenken, als es 
meine fefte Ueberzeugung ift, daß die allgemeine Kenntniß derſelben 
nur bie intellektuelle Veredelung und fomit die geiftige Bervolltomm- 
nung des Menſchengeſchlechts fördern kann. 

Aus dem unenblich reichen und intereffanten Erfahrungsmateriat, 
welches in der Ontogenie oder individuellen Enttwidelungsgefdhichte 
der Wirbelthiere vorliegt, befchränte ich mich hier darauf, Ihnen einige 
von denjenigen Thatfahen vorzuführen, welche fowohl für die Defcen- 
denztheorie im Allgemeinen, als für deren befondere Anwendung auf 
den Menfchen von der hochſten Bedeutung find. Der Menſch ift im 
Beginn feiner individuellen Eriftenz ein einfaches Ei, eine einzige Meine 
Zelle, fo gut wie jeder andere thierifche Organismus, welcher auf 
dem Wege der gefchlechtlichen Zeugung entfteht. Bas menfchlihe Ei 
ift wefentlich demjenigen aller anderen Säugethiere gleih, und na- 
mentfih von dem Ei der höheren Säugethiere abfolut nicht zu 
unterſcheiden. Das in Fig. 5 abgebildete Ei fönnte ebenfo gut vom 
Menfchen oder vom Affen, ald vom Hunde, vom Pferde oder irgend 
einem anderen höheren Säugethiere herrühren. Nicht allein die Form 
und Struftur, ſondern auͤch die Größe des Eied ift bei den meiften 
Säugethieren diefelbe wie beim Menſchen, nämlich ungefähr „u“ 
Durchmeſſer, der 120fte Theil eines Zolle®, fo daß man das Ei 
unter günftigen Umftänden mit bloßem Auge eben al® ein feines 
Punttchen wahrnehmen fann. Die Unterſchiede, welche zwiſchen den 
Eiern der verſchiedenen Säugethiere und Menſchen wirklich vorhan- 
den find, beftehen nicht in der Formbildung, fondern in der demi« 


Bufammenfegung des Sängethiereied. 265 


ſchen Mifhung, in der molekularen Zufammenfegung der eiweißar⸗ 
tigen Kohlenftoffverbindung, aus welcher das Ei weſentlich befteht. 
Diefe feinen individuellen Unterfehiede aller Eier, welche auf der in- 
direkten oder potentiellen Anpaffung (und zwar fpeciell auf dem Ge- 
fege ber individuellen Anpaffung) beruhen, find zwar für die außer 
ordentlich groben Erkenntnißmittel des Menſchen nicht direkt ſinnlich 
wahmehmbar, aber durch wohlbegründete indirefte Schlüffe ala die 
erften Urfachen des Unterſchiedes aller Individuen erfennbar. 
Fig. 5. J 
Big. 5. Das Ei des Menſchen, hundertmal ver- 
größert. a Kernlörperchen ober Nucleolus (fogenann- 
ter Keimfleck des Eies); 5 Kern oder Nucleus (fo- 
genanntes „Reimbläschen des Eieb); c Zellſtoff oder 
Protoplasma (fogenannter Dotter de Eies); d Zeil- 
haut ober Membrana (Dotterhaut des Eies, beim 
Saugethier wegen ihrer Durchſichtigkeit Zona pel- 
lucida genannt). Die Eier ber anderen Säuge- 
thiere haben ganz biefelbe Form. 

Das Ei des Menfchen ift, wie da8 aller anderen Säugethiere, 
ein Pugeliged Bläschen, welches alle wefentlichen Beftandtheile einer 
einfachen organifchen Zelle enthält (Fig. 5). Der wefentlichfte Theil 
deifelben ift der fchleimartige Zellftoff ober das Protoplasına (c), 
welches beim Ei „Dotter“ genannt wird, und der davon umfchlofs 
fene Zellentern oder Nucleus (b), welcher hier den befonderen 
Ramen des „Reimbläschens” führt. Der leptere ift ein zartes, glas⸗ 
helles Eiweißfügelchen von ungefähr 25" Durchmeffer, und umſchließt 
noch ein viel kleineres, ſcharf abgegrenztes rundes Körnchen (a), das 
Kerntörperchen oder den Nucleolus der Zelle (beim Ei „Reim- 
fled” genannt). Nach außen ift die fugelige Eizelle des Säugethierd 
durch eine dide, glasartige Haut, die Zellenmembran ober Dot- 
terhaut, abgeſchloſſen, welche hier den befonderen Namen ber Zona 
pellucida führt (d). Die Eier vieler niederen Thiere (4.2. vieler 
Medufen) find dagegen nadte Zellen, ohne jede äußere Hülle. 

Sobald das Ei (Ovulum) des Säugethierd feinen vollen Reife- 
grad erlangt hat, tritt daſſelbe aus dem Eierftod des Weibes, in dem 





266 Beginnende Entwidelung des Sängethiereied. . 

es entftand, heraus, und gelangt in den Eileiter und durch diefe enge 
Nöhre in den weiteren Keimbehälter oder Fruchtbehälter (Uterus). 
Wird inzwiſchen das Ei durch den entgegenfommenden männlichen 
Samen (Sperma) befruchtet, fo entwickelt e8 ſich in diefem Behälter 
weiter zum Keim (Embryon), und verläßt denfelben nicht eber, ala 
bis der Keim volltommen auögebildet und fähig ift, ald junges 
Säugethier durch den Geburtsatt in die Welt zu treten. 

Die Formveränderungen und Umbildungen, welche das befruch⸗ 
tete Ei innerhalb des Keimbehälterd durchlaufen muß. ehe ed Die 
Geftalt de3 jungen Säugethiered annimmt, find äuferft meroürbig, 
und verlaufen vom Anfang an beim Menſchen ganz ebenfo wie bei 
den übrigen Säugethieren. Zunächſt benimmt fih das befruchtete 
Säugethierei gerade fo, wie ein einllliger Organismus, weldher 
fih auf feine Hand felbftftändig fortpflanzen und vermehren will 
3. 2. eine Amoebe (vergl. Fig.2, ©. 169). Die einfache Eizelle zer- 
fällt nämlich durch den Prozeß der Zellentheilung, welchen ih Ihnen 
bereit früher befchrieben habe, in zwei Zellen. Zunächft entitehen 
aus dem Keimfled (dem Kernkörperchen der urfprünglichen einfachen 
Eizelle) zwei neue Kernförperhen und ebenfo dann aus dem Keim- 
bläschen (dem Nucleus) zwei neue Zellenterne. Run erft ſchnürt fich 
das fugelige Protoplagma dur eine Aequatorialfurche dergeftalt im 
zwei Hälften ab, daß jede Hälfte einen der beiden Kerne nebft Kern- 
törperchen umfchließt. So find aus der einfachen Eizelle innerhalb 
der urfprünglichen Zellenmembran zwei nadte Zellen geworden, jede 
mit ihrem Kern verfehen (Fig. 6). (Bergl. auch Taf. XVI, Fig. 1, 2) 





Fig. 6. Erfler Beginn der Entroidelung bed Säugetbiereied, fogenannte „E- 
furchung (Fortpflanzung der Eizelle durch wiederholte Selbſttheilungh. 4 Das 


Biederholte Theilung ober Furchung ded Sargethiereies. 267 
& zerfaut durch Bildung ber erflen Furche in zwei Zellen. 2. Diefe jerfallen 
durch Halbirung in vier Zellen. C. Diefe letzteren find in acht Zellen zerfallen. 
D. Durd; fortgefegte Teilung ift ein fugeliger Haufen von zahlreichen Zellen 
entflanben, bie Brombeerſorm oder der Manlbeerbotter (Morula). 


Derfelbe Borgang der Zellentheilung wiederholt ſich nun mehr⸗ 
mals hinter einander. In ber gleichen Weife entitehen aus zwei Zellen 
(Fig. 6A) vier (Big. 6 B); aus vier werden acht (Fig.6C), aus acht 
ſechszehn, aus diefen zweiunddreißig u. ſ. w. Jedesmal geht die Thei- 
lung des Kernförperchen® derjenigen des Kernes, und biefe wiederum 
derjenigen des Zellftoffd oder Protoplasma vorher. Weil die Thei⸗ 
lung des letzteren immer mit der Bildung einer oberflächlichen ring» 
förmigen Furche beginnt, nennt man den ganzen Borgang gemöhn- 
fi die Furchung des Eies, und die Produfte deijelben, die feinen, 
durch fortgefeßte Zweitheilung entftehenden Zellen die Furchungs⸗ 
tugeln. Indeſſen ift der ganze Vorgang weiter Nichts als eine ein⸗ 
face, oft wiederholte Zellentheilung, und die Produkte beffel- 
ben find echte, nadte Zellen. Schließlich entiteht aus der fortge- 
fepten Theilung oder „Furchung“ des Säugethiereied eine maulbeer- 
förmige oder brombeerförmige Kugel (Morula), welche aus fehr zahl» 
reihen Meinen Kugeln, nadten kernhaltigen Zellen zufammengefept 
iſt (Fig. 6 D). Diefe Zellen find die Baufteine, aus denen ſich der 
Leib des jungen Säugethierd aufbaut. Jeder von und war einmal 
eine ſolche einfache, brombeerförmige, aus lauter Heinen gleichen Zel« 
fen zufammengefepte Kugel, eine Morula. (Bergl. Taf. XVI, Fig. 3.) 

Die weitere Entwidelung des fugeligen Zellenhaufen®, welcher 
den jungen Säugethierkörper jept präfentirt, beftcht zunächft darin, 
daß derfelbe fich in eine kugelige Blaſe verwandelt, indem im In» 
neren ſich Flüffigkeit anfammelt. Diefe Blafe nennt man Keimblaſe 
(Vesicula blastodermica). Die Wand berfelben ift anfangs aus 
lauter gleihartigen Zellen zufammengefeßt. Bald aber entfteht an 
einer Stelle der Wand eine feheibenförmige Verdickung, indem ſich 
bier die Zellen raſch vermehren, und dieſe Verdidung ift nun die 
Anlage für den eigentlichen Leib des Keimes oder Embryo, während 
der übrige Theil der Keimblaſe bloß zur Ernährung des Embryo ver- 


268 Bildung und Vebentung ber vier Reimblätter. 

wendet wird. Die verdiete Scheibe ber Embryonalanlage nimmt bald 
eine länglih runde und dann, indem rechter und linker Seitenrand 
ausgeſchweift werden, eine fohlenförmige oder bisquitförmige Geſtalt 
an (Fig. 7, Seite 271). In diefem Stadium ber Enttwidelung, in 
der erften Anlage des Keimd oder Embryo, find nicht allein alle 
Säugethiere mit Inbegriff des Menfchen, fondern fogar alle Wirbel- 
thiere überhaupt, alle Säugetiere, Bögel, Reptilien, Amphibien 
und Fiſche, entweder gar nicht oder nur durch ihre Größe, ober 
durch ganz unweſentliche Formdifferenzen, ſowie durch die Bildung 
der Eihüllen von einander zu unterſcheiden. Bei Allen beſteht der 
ganze Leib aus weiter Nichts, als aus einer ganz einfachen, Täng« 
lichtunden, dünnen Scheibe, welche anfangs aus wei, fpäter aus 
vier-über einander liegenden, eng verbundenen Blättern zuſammen ⸗ 
gefept ift. Jedes der vier Keimblätter befteht auß weiter Nichts, als 
aus gleichartigen Zellen; jedes hat aber eine andere Bedeutung für 
den Aufbau des Wirbelthierörperd. Aus dem oberen ober äuferen 
Keimblatt entfteht bloß die äußere Oberhaut (Epidermis) nebft den 
Gentraltheilen de3 Nervenfyftemd (Nüdenmart und Gehim); aus 
dem unteren ober inneren Blatt entfteht bloß die innere zarte Haut 
(Epithelium), welche den ganzen Darmfanal vom Mund bis zum 
After, nebft allen feinen Anhangsdrüfen (Runge, Leber, Speidel- 
brüfen u. f. w.) auskleidet; aus den zwiſchen jenen gelegenen mittle- 
ven beiden Reimblättern entitehen alle übrigen Organe. 

Die Borgänge nun, durch welche aus fo einfachen Baumate- 
rial, aus den vier einfachen, nur aus Zellen zufammengefepten Keim · 
blättern, die verfchiedenartigen und höchſt verwidelt aufammengefeg- 
ten Theile des reifen Wirbelthiertörpers entftehen, find erſtens wie- 
derholte Theilungen und dadurch Vermehrung der Zellen, zweitens 
Arbeitötheilung oder Differenzirung dieſer Zellen, und drittens Ber- 
bindung der verfchiedenartig ausgebildeten oder differenzirten Zellen 
zur Bildung der verſchiedenen Organe. So entfteht der ftufenweile 
Fortſchritt oder die Vervolllommnung, welche in der Ausbildung des 
embryonalen Leibes Schritt für Schritt zu verfolgen ift. Die ein 


Bergleidjung des mehrgelligen Organismus mit einem Staat. 269 


fahen Embryonalzellen, welche den Wirbelthierörper zufammenfepen 
wollen, verhalten fih wie Bürger, welche einen Staat gründen 
tollen. Die einen ergreifen diefe, die anderen jene Thätigfeit, und 
bilden diefelbe zum Beften des Ganzen aus. Durch diefe Arbeits- 
theilung oder Differenzirung, und die damit im Zufammenhang 
ſtehende Bervolltommnung (den organifchen Fortſchritt), wird ed dem 
ganzen Staate möglich, Leiftungen zu vollziehen, welche dem einzel⸗ 
nen Individuum unmöglich wären. Der ganze Wirbelthierlörper, 
wie jeder andere mehrzellige Organismus, ift ein republifanifcher 
Zellenftaat,, und daher kann derfelbe organifhe Funktionen vollzie⸗ 
ben, welche die einzelne Zelle als Einfiedler (z. B. eine Amoebe ober 
eine einzellige Pflanze) niemals leiften könnte 27). 

Es wird feinem vernünftigen Menfchen einfallen, in den zwed⸗ . 
mäßigen Einrichtungen, welche zum Wohle des Ganzen und der Ein- 
zelnen in jedem menfchlihen Staate getroffen find, bie zweckmäßige 
Thaͤtigkeit eines perfönlichen überirdifchen Schöpfers erkennen zu wol» 
len. Vielmehr weiß Jedermann, daß jene zwedmäßigen Organifa- 
tionseinrichtungen des Staates die Folge von dem Zuſammenwirken 
der einzelnen Bürger und ihrer Regierung, ſowie von deren Anpaffung 
an die Eriftenzbedingungen der Außenwelt find. Ganz ebenfo müffen 
wir aber auch den mehrzelligen Organismus beurtheilen. Auch in 
biefem find alle zweckmäßigen Einrichtungen lediglich die natürliche 
und nothwendige Folge des Zufammenwirten®, der Differenzirung 
und Vervolllommnung der einzelnen Stantbürger, der Zellen; und 
nit etwa die fünftlihen Einrichtungen eines zweckmaͤßig thätigen 
Schöpfer. Wenn Sie diefen Vergleich recht erwägen und weiter ver- 
folgen, wird Ihnen deutlich die Verkehrtheit jener dualiſtiſchen Natur- 
anfgauung lar werden, weldhe in der Zmedmäßigkeit der Organi« 
fation die Wirkung eines fhöpferifhen Bauplans fucht. 

Laffen Sie und nun die individuelle Entwidelung des Wirbel- 
thierförper8 noch einige Schritte weiter verfolgen, und fehen, was 
die Staatöbürger dieſes embryonalen Organismus zunächft anfangen. 
In der Mittellinie der geigenförmigen Scheibe, welche aus den vier- 


270 Entſtehung bed Rüdenmarke der Wirbelthiere. 


zelligen Keimblättern zufammengefegt ift, entfteht eine gerade feine 
Furche, die fogenannte „Brimitivrinne“, durch welche der geigenför« 
mige Leib in zwei gleiche Seitenhälften abgetheilt wird, ein rechtes 
und ein linfe® Gegenftüd oder Antimer. Beiderſeits jener Rinne oder 
Wurde erhebt ſich das obere ober äußere Keimblatt in Form einer 
Längsfalte, und beide Falten wachen dann über der Rinne in ber 
Mittellinie zufammen und bilden fo ein cylindriſches Rohr. Dieſes 
Rohr Heißt dad Markrohr oder Medullarrohr, weil es die Anlage des 
Centralnervenſyſtems, des Rüdenmart® (Medulla spinalis) ifl. 
Anfangs ift dafielbe vorn und hinten zugefpigt, und fo bleibt daffelbe 
bei ben nieberften Wirbelthieren, den gehirnlofen und ſchaͤdelloſen Lan- 
zetthieren (Amphioxus) zeitlebens. Bei allen übrigen Wirbelthieren 
aber, die wir von letzteren ald Schädelthiere oder Kranioten unter 
ſcheiden, wird aldbald ein Unterfchied zwifchen vorderem und binterem 
Ende des Medullarrohrs fihtbar, indem das erftere fih aufbläht und 
in eine rundliche Blafe, die Anlage des Gehirns verwandelt. 

Bei allen Kranioten, d. h. bei allen mit Schädel und Gehim 
veriehenen Wirbelthieren, zerfällt das Gehirn, welches anfangs bloß 
die blafenförmige Auftreibung vom vorderen Ende des Rüdenmartd 
ift, bald in fünf hinter einander fiegende Bfafen, indem ſich vier 
oberflächliche quere Einſchnürungen bilden. Diefe fünf Hirnbla- 
fen. aus denen ſich fpäterhin alle verfchiedenen Theile des fo ver- 
widelt gebauten Gehims hervorbilden, find an dem in fig. 7 ab» 
gebildeten Embryo in ihrer urfprünglihen Anlage zu erbliden. Es 
ift ganz gleih, ob mir den Embryo eine® Hundes, eined Huhnes, 
einer Schildfröte oder irgend eines anderen höheren Wirbelthieres 
betrachten. Denn die Embryonen der verſchiedenen Schäbelthiere (min« 
deftend der drei höheren Klaffen; der Reptilien, Bögel und Säuger 
thiere) find in dem, Fig. 7 dargeftellten Stadium noch gar nicht zu 
unterfdpeiden. Die ganze Körperform ift noch höchſt einfach, eine 
dünne, blattförmige Scheibe. Gefiht, Beine, Eingemeide u. |. w. 
feblen noch gänzlich. Aber die fünf Himbiafen find fon deutlich 
von einander abgefeht. 


Entſtehung des Gehirns der Wirbelthiere. 971 


Fig. 7. Embryo eined Säugethieres ober Bo- 
gels, in dem focben die fünf Hirnblafen angelegt 
find. © Vorderhirn. = Zwilhenhien. m Mittel» 
Bien. A Hinterfien. m Nahhirn. p Riüdenmart, 
= Augenblafen. w Urwirbel. d Rudenſtraug oder 
Chorda. 

Die erfte Blaſe, das Borberhirn(v) 
ift infofern die Juichtigfte, als fie vorzugs ⸗ 
voeife die fogenannten großen Hemifphä- 
ren, ober die Halbkugeln des großen Ge⸗ 
hirns bildet, desjenigen Theiles, welcher der 
Sitz der höheren Geiftesthätigkeiten ift. Je 
höher diefe Iepteren ſich bei dem Wirbelthier 
entwideln, deſto mehr wachſen die beiden 
Seitenhälften des Vorderhirns oder die gro- 
pen Hemifphären auf Koften der vier übri⸗ 
gen Blafen und legen fih von vom und 
oben her über die anderen herüber. Beim Menfchen, wo fie ver 
hältmigmäßig am ftärfften entwidelt find, entfprechend der höheren 
Geiftegentwidelung,, bedecken fie fpäter die übrigen Theile von oben 
ber faft ganz. (Vergl. Taf. II und II.) Die zweite Blaſe, das 
Zwifchenhirn (z) bildet beſonders denjenigen Gehimtheil, welchen 
man Sehhügel nennt, und fteht in der nächften Beziehung zu den 
Augen (a), welche ald zwei Blafen rechts und links aus dem Vor 
derhim hervorwachſen und fpäter am Boden des Zwiſchenhirns lie⸗ 
gen. Die dritte Blafe, das Mittelhirn (m) geht größtentheile 
in der Bildung der ſogenannten Bierhügel auf, eines hochgewölb⸗ 
ten Gehirntheiles, welcher beſonders bei den Neptilien und bei den 
Vögeln ftart auögebildet ift (Big. E, F, Taf. II), während er bei 
den Säugethieren viel mehr zurüctritt (Fig. G, H, Taf. III). Die 
vierte Blafe, das Hinterhirn (h) bildet die fogenannten klei⸗ 
nen Hemifphären oder die Halbkugeln nebft dem Mitteltheil des 
feinen Gehirns (Gerebellum), einen Gehirntheil, über deffen Bedeutung 





272 Bildung und Bedeutung ber fünf Hirnblafen der Wirbelthiere. 


man die widerfprechendften Vermuthungen hegt, der aber vorzuge 
weife die Coordination der Bewegungen zu regeln ſcheint. Endlich 
die fünfte Blafe, da8 Nach hirn (n), bildet fih zu demjenigen 
fehr wichtigen Theile des Centralnervenſyſtems aus, welchen man das 
verlängerte Mark (Medulla oblongata) nennt. Es ift das Gen- 
tralorgan der Athembewegungen und anderer wichtiger Funktionen, 
und feine Berlegung führt fofort den Tod herbei, während man die 
großen Hemifphären des Vorderhirns (oder das Drgan der „Seele“ 
im engeren Sinne) ſtückweiſe abtragen und zuleßt ganz vernichten 
kann, ohne daß das Wirbelthier deßhalb ftirbt; nur feine höheren 
Geiftesthätigkeiten ſchwinden dadurch. 

Dieſe fünf Hirnblaſen find urſprünglich bei allen Wirbelthieren, 
die überhaupt ein Gehirn befigen, gleihmäßig angelegt, und bilden 
ſich erft allmählich bei den verſchiedenen Gruppen fo verfdhiedenartig 
aus, daß es nachher fehr ſchwierig ift, in den ganz entwickelten Ge 
himen bie gleichen Theile wieder zu erkennen. In dem frühen Ent- 
widelungsftadium, welches in Fig. 7 bargeftellt ift, erſcheint es nob 
ganz unmöglich, die Embryonen der verfchiedenen Säugethiere, Bögel 
und Reptilien von einander zu unterſcheiden Wenn Sie dagegen 
die viel weiter entwiclelten Embryonen auf Taf. II und IIT mit ein- 
ander vergleichen, werben Sie ſchon deutlich die ungleichartige Aus- 
bildung erfennen, und namentlich wahrnehmen, daß das Gehim der 
beiden Cäugethiere (G)'und (H) ſchon ſtark von dem der Tögel 
(F) und Reptilien (E) abweicht. Bei letzteren beiden zeigt beit 
dad Mittelhirn, bei den erfteren dagegen das Vorderhirn fein Meber« 
gewicht. Aber auch noch in diefem Stadium ift das Gehim dei 
Vogels (F) von dem der Schilbfröte (E) kaum verſchieden, und 
ebenfo iſt das Gehirn des Hundes (G) demjenigen des Menſchen (H) 
jept noch faft gleich. Wenn Sie dagegen die Gehirne biefer vier 
Wirbelthiere im ausgebildeten Zuftande mit einander vergleichen, ſo 
finden Sie diefelden in allen anatomiſchen Einzelheiten fo fehr ver- 
ſchieden, daß Sie nicht einen Augenblick darüber in Zweifel fein fön- 
nen, welchem Thiere jedes Gehim angehört. 





Entwidelung der Extremitäten der Wirbelthiere. 273 


Ich habe Ihnen hier die urfprüngliche Gleichheit und die erft 
allmählich eintretende und dann immer wachfende Sonderung oder 
Differenzirung des Embryo bei den verfehiedenen Wirbelthieren fpe- 
ciell an dem Beifpiele des Gehirns erläutert, weil gerade biefes 
Drgan der Seelenthätigkeit von ganz befonderem Intereffe ift. Ich hätte 
aber ebenfo gut das Herz oder die Gliedmaßen, kurz jeden anderen 
Körpertpeil ftatt deſſen anführen können, da fi) immer daſſelbe Schd- 
pfungswunder hier wiederholt: nämlich die Thatfadhe, daß alle Theile 
urfprüngfich bei den verſchiedenen Wirbelthieren glei) find, und daß 
erſt allmählich ihre Verſchiedenheiten fich ausbilden. In meinen Bor- 
trägen über „Entwidelungsgefchichte des Menfchen“ 5°) fin- 
den Sie den Beweis für jedes einzelne Organ geführt. . 

Es giebt gewiß wenige Körpertheile, welche fo verfchiedenartig 
ausgebildet find, wie die Gliedmaßen oder Ertremitäten ber 
verſchiedenen Wirbelthiere. (DBergl. Taf. IV, ©. 363, und deren Er- 
tlaͤrung im Anhang). Nun bitte ih Sie, in Fig. A—H auf Taf. I 
und III die vorderen Egtremitäten (bv) der verſchiedenen Embryonen 
mit einander zu vergleichen, und Sie werden faum im Stande fein, 
irgend welche bedeutende Unterſchiede zwifchen dem Arm des Men- 
fen (Hbv), dem Flügel des Vogels (Fbv), dem ſchlanken Bor- 
derbein des Hundes (Gbv) und dem plumpen Borderbein der Schild- 
tdte (Ebv) zu erfennen. Ebenſo wenig werben Sie bei Verglei⸗ 
chung der hinteren Egtremität (bh) in diefen Figuren herausfinden, 
wodurd das Bein des Menfhen (Hbh) und des Vogels (Fbh), 
das Hinterbein bed Hundes (G bh) und der Schildfröte (Ebh) fi 
unterfepeiden. Vordere ſowohl als hintere Extremitäten find jetzt noch 
kutze und breite Platten, an deren Endausbreitung die Anlagen ber 
fünf Zehen noch durch Schwimmhaut verbunden find. In einem 
nod früheren Stadium (Fig. A—D) find die fünf Zehen noch nicht 
einmal angelegt, und es ift ganz unmöglih, aud nur vordere und 
bintere Gliedmaßen zu unterfheiden. Diefe fowohl als jene find 
nichts als ganz einfache, rundliche Yortfäge, welche aus der Seite des 
Rumpfes hervorgefproßt find. In dem frühen Stadium, welches 

Huedel, Ratürl. Sqhopfungegeſch. 5. Auf. 18 


274 Entividelung der Kiemenbogen ber Wirbeltgiere. 


Big. 7 darftellt, fehlen diefelben überhaupt noch ganz, und der ganze 
Embryo ift ein einfacher Rumpf ohne eine Spur von Gliedmaßen. 

An den auf Taf. II und III dargeftellten Embryonen aus ber 
vierten Woche der Entwidelung (Fig. A—D), in denen Sie jept wohl 
noch feine Spur des erwachſenen Thiered werden erfennen können, 
mochte ich Sie noch befonderd aufmerffam machen auf eine äußerft 
wichtige Bildung, melde allen Wirbelthieren urfprünglich gemeinfam 
ift, melde aber fpäterhin zu den verfchiedenften Organen umgebildet 
wird. Sie tennen gewiß Alle die Kiemenbogen ber Fiſche, jene 
Mnöchernen Bogen, welche zu drei oder vier hinter einander auf jeder 
Seite des Halfes liegen, und welche die Athmungsorgane der Fiſche, 
die Riemen, tragen (Doppelreihen von rothen Blättchen, welche das 
Bolt „Fiihopren“ nennt). Diefe Kiemenbogen mın find beim Men- 
ſchen (D) und beim Hunde (C), beim Huhne (B) und bei der Schild- 
fröte (A) urſprünglich ganz ebenfo vorhanden, wie bei allen übrigen 
Wirbelthieren. (In Fig. A—D find die drei Kiemenbogen der red» 
ten Halfeite mit den Buchftaben k 1, k2, k3 bezeichnet). Allein 
nur bei den Fiſchen bleiben diefelben in der urfprünglihen Anlage 
beftehen und bilden fi zu Athmungsorganen aus. Bei den übri- 
gen Wirbelthieren werden diefelben theil® zur Bildung des Geſichts, 
theils zur Bildung des Gehdrorgand verwendet. 

Endlich will ih nicht verfehlen, Sie bei Bergleihung der auf 
Taf. II und ILL abgebildeten Embryonen nochmals auf das Shwänz- 
Hen des Menfhen (8) aufmerffam zu machen, welches derſelbe 
mit allen übrigen Wirbeltpieren in der urfprünglichen Anlage theilt. 
Die Auffindung „geſchwaͤnzter Menfchen“ wurde lange Zeit von vielen 
Moniften mit Sehnſucht erwartet, um darauf eine nähere Berwandt- 
ſchaft des Menſchen mit den übrigen Säugethieren begründen zu fün- 
nen. Und ebenfo hoben ihre dualiſtiſchen Gegner oft mit Stolz her 
vor, daß der gänzliche Mangel des Schwanzes einen der wichtigfien 
törperlichen Unterſchiede zwifchen dem Menfchen und den Thieren bilde, 
wobei fie nit an die vielen ſchwanzloſen Ihiere dachten, die es wirk- 
lich giebt. Nun befipt aber der Menfch in den erften Monaten der 


Der Schwanz des Meuſchen. 275 


Entwidelung ebenfo gut einen wirklichen Schwanz, wie die nähf- 
verwandten ſchwanzloſen Affen (Drang, Schimpanfe, Gorilla) und 
wie die Wirbelthiere überhaupt. Während derfelbe aber bei den mei« 
fien, 4.8. beim Hunde (Fig. C, G) im Laufe der Entwidelung immer 
länger wird, bildet er ſich beim Menſchen (Fig. D, H) und bei den 
ungefehtoängten Säugethieren von einem gewiſſen Zeitpunft der Ent⸗ 
widelung an zurüd und verwächft zulept völlig. Indeſſen ift auch 
beim audgebilbeten Menſchen der Reft des Schwanzes al vertümmer- 
te8 oder rudimentäre® Organ noch in den brei bis fünf Schwanzwir⸗ 
bein (Vertebrae coccygeae) zu erfennen, welche das hintere oder 
untere Ende der Wirbelfäule bilden (©. 258), 

Die meiften Menſchen wollen noch gegenwärtig die wichtigfte 
Folgerung der Defeendengiheorie, die paläontologifche Entwiclelung 
des Menfchen aus affenähnlihen und weiterhin aus niederen Säuge- 
thieren nicht anerkennen, und halten eine folhe Umbildung der orga⸗ 
niſchen Form für unmöglich. Ich frage Sie aber, find die Erſchei⸗ 
nungen der individuellen Entwidelung des Menſchen, von denen ich 
Ihnen hier die Grundzüge vorgeführt habe, etwa weniger wunder- 
bar? Iſt es nicht im höchften Grade merkwürdig, daß alle Wirbelr 
thiere aus den verſchiedenſten Klaſſen, Fiſche, Amphibien, Reptilien, 
Vögel und Säugetbiere, in den erften Zeiten ihrer embryonalen Ent- 
widelung geradezu nicht zu unterfcheiden find; und daß felbft viel ſpä⸗ 
ter noch, in einer Zeit, wo bereits Reptilien und Bögel ſich deutlich 
von den Säugethieren unterſcheiden. Hund und Menſch noch beinahe 
identifch find? Fürwahr, wenn man jene beiden Entwidelungsreihen 
mit einander vergleicht, und ſich fragt, welde won beiden wunder- 
barer ift, fo muß und die Ontogenie ober die kurze und ſchnelle 
Entwidelungsgefhichte ded Individuums viel räthfelhafter er- 
feinen, ald die Phylogenie oder die lange und langſame Ent» 
twidelungsgefichte ded Stammes. Denn eine und diefelbe groß. 
artige Formwandelung und Umbildung wird von der lepieren im 
Lauf von vielen taufend Jahren, von der erfteren dagegen im Laufe 
weniger Monate vollbracht. Offenbar ift diefe überaus ſchnelle und 

18* 


276 Urfählicer Zufammenhang ber Ontogenefis und Phylogeneſis. 


auffallende Umbildung des Individuums in der Ontogenefi, welde 
wir jeden Augenblick thatſächlich durdy direlte Beobachtung feftftellen 
tönnen, an fich viel wunderbarer, viel erftaunlicher, als die entfpre- 
ende, aber viel fangfamere und allmählichere Umbifdung, welche die 
lange Borfahrentette deſſelben Individuums in der Phylogenefis durch · 
gemacht hat. 

Beide Reihen der organiſchen Entwidelung, die Ontogeneſis des 
Individuums, und die Phylogenefis des Stammes, zu welchem daf- 
felbe gehört, ftehen im innigften urfächlichen Zufammenhange. Ih 
habe diefe Theorie, welche ic) für äußerft wichtig halte, im zweiten 
Bande meiner generellen Morphologie +) ausführlich zu begründen 
verſucht. Wie id dort zeigte, ift die Ontogenefid, oder die 
Entwidelung des Individuums, eine kurze und ſchnelle, 
dur die Gefepe der Bererbung und Anpaffung bedingte 
Wiederholung (Recapitulation) der Phylogenefis oder 
der Entwidelung ded zugehörigen Stammes, d. h. der 
Borfahren, welche die Ahnenkette des betreffenden Individuums bil- 
den. Diefer fundamentale Sat ift das wichtigfte allgemeine Gefep der 
organiſchen Entwidelung, da8 biogenetifihe &rundgefeg. (Gen. 
Morph. I, ©. 110—147, 371.) 

In diefem innigen Zufammenhang der Ontogenie und Phylo⸗ 
genie erblide ich einen der wichtigften und unwiderleglichften Beweife 
der Defcendergtheorie. Es vermag Niemand diefe Erſcheinungen zu 
erflären, wenn er nicht auf die Bererbungs- und Anpaſſungegeſehe 
zurückgeht; durch dieſe erft find fie erflärlich. Can befonder® verdie · 
nen dabei die Geſetze unfere Beachtung, welche wir früher als die 
Gefege der abgekürzten, ber gleichzeitlihen und der 
gleihdrtlihen Vererbung erläutert haben. Indem fich ein fo 
hochſtehender und verwidelter Organismus, wie es ber menſchliche 
ober der Organismus jebed anderen Säugethiers if, von jener ein- 
fachen Zellenftufe an aufwärts erhebt, indem er fortfhreitet in feiner 
Differenzirung und Vervollfommnung, durdläuft er dieſelbe Reihe 
von Umbildungen, welche feine thierifchen Ahnen vor undenklichen 





Baraliefismn der inbivibuellen und der paläontologifegen Entwidelung. 277 


Zeiten, während ungeheurer Zeiträume durchlaufen haben. Schon 
früher habe ich auf dieſen äußerft wichtigen Parallelismus der indivi- 
duellen und Stammesentwidelung hingewieſen (©. 10). Gewiſſe, fehr 
frühe umd tief ftehende Entwidelungsftadien des Menſchen und der 
höheren Wirbelthiere überhaupt entfprehen durchaus gewiflen Bil- 
dungen, welche zeitleben® bei niederen Fifchen fortdauern. Es folgt 
dann eine Umbildung bes fifhähnlihen Körpers zu einem amphibien⸗ 
artigen. Piel fpäter erft enttwidelt fih aus diefem der Säugethier« 
Törper mit feinen beftimmten Charakteren, und man kann hier wieder 
in den auf einander folgenden Enttwidelungsftadien eine Reihe von 
Stufen fortföpreitender Umbildung erfennen, welche offenbar den Ber- 
ſchiedenheiten verfhiebener Säugethier-Orbnungen und Familien ent 
ſprechen. In derfelben Reihenfolge fehen wir aber auch die Vorfahren 
des Menſchen und der höheren Säugethiere in der Erdgeſchichte nad) 
einander auftreten: zuerft Fifche, dann Amphibien, fpäter niedere und 
zuletzt erft höhere Säugetbiere. Hier ift alfo die embryonale Ent- 
widelung ded Individuums durchaus parallel der paläontologifchen 
Entwidelung des ganzen zugehörigen Stammes; und diefe äußerft 
intereffante und wichtige Erſcheinung ift einzig und allein durch die 
Wechſelwirkung der Dererbungs- und Anpaſſungsgeſetze zu erflären. 

Daß zufept angeführte Beifpiel von dem Parallelismus der pa« 
laͤontologiſchen und der individuellen Entwidelungsreipe lenkt nun 
unfere Aufmerffamfeit noch auf eine dritte Entwidelungsreihe, welche 
zu diefen beiden in den innigften Beziehungen fteht und denfelben eben- 
fans im Ganzen parallel läuft. Das ift nämfich diejenige Entwide- 
lungsreihe von Formen, welche das Unterfuhungsobject der ver- 
gleihenden Anatomie ift, und welde wir kurz bie foftema« 
tiſche oder fpecififhe Entwidelung nennen wollen. Wir 
verftehen darunter die Kette von verſchiedenartigen, aber doch ver- 
wandten und zufammenhängenden Formen, welche zu irgend einer 
Zeit der Erdgeſchichte, alfo 3. B. in der Gegenwart, neben einan« 
der eriftiren. Indem die vergleichende Anatomie die verſchiedenen 
außgebilbeten Kormen der entwickelten Organismen mit einander ver⸗ 


278 vVaralleliemus ber inbivibuellen und ber fuftematifhen Entiwicelung. 


gleicht, fucht fie das gemeinfame Urbild zu erkennen, welched den man- 
nichfaltigen Formen der verwandten Arten, Gattungen, Klaſſen u.f.w. 
zu Grunde liegt, und welches durch deren Differengirung nur mehr 
oder minder verſtedt wird. Sie ſucht die Stufenleiter des Fortichritte 
feftguftellen, welche durch den verfchiedenen Bervolltommnungagred 
der divergenten Zweige des Stammes bedingt ift. Um bei dem ange 
führten Beifpiele zu bleiben, fo zeigt uns die vergleichende Anatomie, 
wie bie einzelnen Organe und Organfgfteme des Wirbelthierſtammes 

“in den verſchiedenen Klaſſen, Familien, Arten deſſelben ſich ungleich⸗ 
artig entwickelt, differenzirt und vewolllkommnet haben. Sie erklärt 
uns, in welchen Beziehungen die Reihenfolge der Wirbelthierllaſſen 
von den Fiſchen aufwärts durch die Amphibien zu den Säugetbieren, 
und bier wieder von ben niederen zu den höheren Säugethierorbnun- 
gen, eine auffteigenbe Stufenleiter bildet. Diefem Beſtreben, eine 
jufammenhängende anatomiſche Entwidelungsreihe herzuſtellen, ber 
gegnen Sie in den Arbeiten der großen vergleichenden Anatomen aller 
Zeiten, in den Arbeiten von Goethe, Medel, Cuvier, Johan⸗ 
nes Müller, Gegenbaur, Hurley. 

Die Entwidelungdreibe ber auögebifdeten formen, welche die 
vergleichende Anatomie in den verſchiedenen Divergenz- und Yert- 
ſchritteſlufen des organiſchen Syftem® nachweiſt, und weiche wir bie 
ſyſtematiſche Entwidelungsreihe nannten , ift parallel der paläontelo- 
giſchen Entwicelungsreihe, weil fie dad anatomifche Refultat der Iep- 
teren betrachtet, und fie ift parallel der individuellen Entwidelungd- 
teibe, weil diefe felbft wiederum der paläontologifden parallel iR. 
Wenn zwei Parallelen einer dritten parallel find, fo müflen fie auch 
unter einander parallel fein. 

Die mannichfaltige Differenzirung und der ungleihe Grab von 
Bervollfommmung, welchen die vergleichende Anatomie in der Ent- 
vwidelungüreibe des Syſtems nachweiſt. ift weſentlich bedingt durch die 
zunebinende Mannichfaltigkeit der Eriſtengbedingungen, denen ſich die 
verſchiedenen Gruppen im Kampf um das Daſein anpaßten, und 
durch den verfiedenen Grab von Schnelligkeit und Bolftändigkeit, 


Niebere tonfervative und Höhere progreifive Gruppen. 279 


mit welchem dieſe Anpaflung geſchah. Die konfervativen Gruppen, 
welche die ererbten Eigenthümlichfeiten am zäheften fefthielten, blieben 
in Folge deffen auf der tiefften und toheften Entwidelungsftufe ftehen. 
Die am ſchnellſten und vielfeitigften fortfpreitenden Gruppen, weiche 
fih ben vervollfommmneten Eyiftenzbedingungen am bereitwilligften 
anpaßten, erreichten ſelbſt den höchſten Bolllommenheitögrad. Je 
weiter ſich die organifche Welt im Laufe der Erdgeſchichte entwidelte, 
deſto größer mußte die Divergenz der niederen Tonfervativen und der 
höheren progreffiven Gruppen werden, wie das ja eben fo auch aus 
der Volkergeſchichte erfichtlich ift. Hieraus erflärt fich aud) die Hifto- 
riſche Thatſache, daß die volffommenften Thier- und Pflangengruppen 
fi in verhäftnigmäßig kurzer Zeit zu fehr bedeutender Höhe entwickelt 
haben, während die-niebrigften, konſervativſten Gruppen durch alte 
Zeiten hindurch auf der urfprünglihen, toheften Stufe ftehen geblie- 
ben, oder nur fehr langfam und allmähfich etwas fortgefehritten find. 
Auch die Ahnenreihe des Menfchen zeigt died Verhaͤltniß deutlich. 
Die Haififche der Jeptzeit ftehen den Urfifchen, welche zu den älteften 
Wirbelthierahnen des Menſchen gehören, noch ſeht nahe, ebenfo die 
heutigen niedetſten Amphibien (Kiemenmolche und Salamander) den 
Amphibien, welche ſich aus jenen zunächft entwidelten. Und ebenfo 
find unter den fpäteren Vorfahren des Menfchen die Monotremen 
und Beutelthiere, die älteften Säugethiere, zugleich die unvolltom- 
menften Thiere diefer Klaſſe, die heute noch leben. Die uns bekann⸗ 
ten Gefepe der Vererbung und Anpaffung genügen vollftändig, um 
diefe äußerft wichtige und intereffante Erſcheinung zu erklären, bie 
man kurz als den Paralleliamus der individuellen, der 
paläontologiſchen und der ſyſtematiſchen Entwidelung, 
de betreffenden Fortfchritte® und der betreffenden Differen- 
zirung bezeichnen lann. Kein Gegner der Defcendenztheorie ift im 
Stande getvefen, für diefe hochſt wunderbare Thatſache eine Erklärung 
zu liefern, während fie ſich nach der Defcendenztheorie aus den Ge⸗ 
fegen der Vererbung und Anpaſſung volllommen erklärt. 

Denn Sie diefen Parallelismus der drei organifchen Enttwide- 


280 Varollelismus ber drei orgauiſchen Entwidelungbreigen. 
lungoreihen ſchaͤrfet in’® Auge falen, fo müffen Sie noch folgende 
nähere Beftimmung hinzufügen. Die Ontogenie ober die indivi⸗ 
duelle Entwickelungsgeſchichte jedes Organismus (Embryofogie und 
Metamorphologie) bilbet eine einfache, unverzweigte oder leiter- 
förmige Kette von Formen; und ebenfo derjenige Theil der Phy⸗ 
logenie, welcher die paläontologiſche Entwicelungsgeſchichte der 
direften Borfahren jenes individuellen Organismus enthält. 
Dagegen bildet bie ganze Phylogenie, welde und in dem na- 
türfihen Syftem jedes organifchen Stammes oder Phylum ent- 
gegentritt, und welche die paläontologifche Entwidelung aller Zweige 
dieſes Stammes unterſucht, eine verzweigte ober baumförnige 
Entwidelungsreihe, einen wirffihen Stammbaum. Unterfuchen Sie 
vergleichend die enttwidelten Zweige dieſes Stammbaums und flellen 
Sie diefelben nad) dem Grabe ihrer Differenzirung und Bervolllomm- 
nung zufammen, fo erhalten Sie die baumfdrmig verzweigte fyfte- 
matifhe Entwidelungsreihe der vergleihenden Anatomie. 
Genau genommen ift alfo diefe Teptere der ganzen Phylogenie und 
mithin nur theilweife der Ontogenie parallel; denn die Ontogenie 
felbft ift nur einem Theile der Phyfogenie parallel. 

Alle im Vorhergehenden erläuterten Erſcheinungen der organi- 
fen Entwidelung, indbefondere dieſer dreifache genealogifche Paralle- 
lismus, und die Differenzirungs- und Wortfchrittägefege, welche im 
jeder biefer drei organifhen Entwidelungsreihen fihtbar find, ſodann 
die ganze Erſcheinungsreihe der rudimentären Organe, find äußerft 
wichtige Belege für die Wahrheit der Deſcendenztheorie. Denn fie 
find nur durch Diefe zu erflären, während die Gegner berfelben auch 
nicht die Spur einer Erflärung dafür aufbringen fönnen. Ohne die 
Abftammungslehre laͤßt ſich die Thatſache der organiſchen Entwide- 
lung überhaupt nicht begreifen. ir twürden daher gezwungen fein, 
auf Grund derfelben Lamarck's Defcendenztheorie anzunehmen, auch 
wenn wir niht Darwin'd Züchtungstheorie befäßen. J 


Dreizehnter Vortrag. 
Entwidelungstheorie des Weltalls und der Erde. Ur. 
zeugung. Kohlenfofitheorie. Plaſtidentheorie. 


Entwidelungsgefchichte der Erde. Kant's Eitwidelungstheorie des Weltalls 
oder die koomologiſche Gastheorie. Eutwicelung der Sonnen, Planeten und Monde. 
Erfte Entſtehung des Waſſers. Vergleichung ber Organismen und Anorgane. Or- 
ganiſche und anorganiſche Stoffe. Dichtigkeitsgrade oder Apgregatzuftände. Eitveiß- 
artige Koßlenftoffverbindungen. Organifche und anorganifdje Formen. Kruftalle 
und ſtrutturloſe Organismen ohne Organe. Stereometriſche Grundformen der Kry- 
Relle und der Organismen. Organiſche und anorganiſche Kräfte. Lebenskraft. 
Behetfum und Anpafjung bei Kryſtallen und bei Organismen. Bildungstriebe 
der Kruftalle. Einheit der organifchen und anorganifchen Natur. Urzeugung oder 
Ardigonie. Autogonie und Plasınogonie. Entſtehung ber Moneren durch Urzen- 
gung. Entftehung der Zellen aus Moneren. Zellentheorie. Plaſtidentheorie. Plaſtiden 
oder Bilbnerinnen. Cytoden umb Zellen. Bier verſchiedene Arten von Plaftiden. 


Meine Herren! Durch unfere biöherigen Betrachtungen haben 
wir vorzugsweiſe die frage zu beantworten verfucht, durch welche 
Urſachen neue Arten vom Thieren und Pflanzen aus beftehenden Ar- 
ten hervorgegangen find. Wir haben diefe Frage nah Darwin’d 
Theorie dahin beantwortet, daß die natürliche Züchtung im Kampf 
um's Dafein, d. 5. die Wechfelwirtung der Bererbungd- und Anpaf- 
fingögefepe völlig genügend ift, um die unendliche Mannichfaltigkeit 
der verſchiedenen, ſcheinbat zwedmaͤßig nad) einem Bauplane orga- 
niſitten Tpiere und Pflanzen mechaniſch zu erzeugen. Inzwiſchen wird 


282 Entſtehung der erſten Organismen. 


fih Ihnen ſchon wiederholt die Frage aufgedrängt haben: Wie ent- 
ftanden aber nun die erften Organismen, oder der eine urſprüngliche 
Stammorganismus, von welchem wir alle übrigen ableiten? 

Diefe Frage hat Lamard?) durch die Hypothefe der Urzeu- 
gung oder Arhigonie beantworte. Darwin dagegen geht 
über diefelbe hinweg, indem er außbrüctlich hervorhebt, daß er „Ridhts 
mit dem Urfprung ber geiftigen Grundfräfte, nod mit dem des Le⸗ 
bens felbft zu fchaffen Habe“. Am Schluffe feines Werkes ſpricht er 
ſich darüber beftimmter in folgenden Worten au: „Ih nehme an, 
daß wahrſcheinlich alle organifchen Wefen, die jemals auf diefer Erde 
gelebt, von irgend einer Urform abftammen, welcher das Leben zuerft 
vom Schöpfer eingehaucht worden ift.“ Außerdem beruft fih Dar- 
win zur Beruhigung Derjenigen, welche in der Defcendengtheorie den 
Untergang ber ganzen „fittlihen Weltordnung“ erbiiden,, auf einen 
berühmten Schriftfteller und Geiſtlichen, welcher ihm gefchrieben 
hatte: „Er habe allmählich einfehen gelernt, daß es eine ebenfo er- 
habene Borftellung von der Gottheit fei, zu glauben, daß fie nur 
einige wenige, der Selbftentwidelung in andere und nothwendige 
Formen fähige Urtypen gefhaffen, als daß fie immer wieder new 
Schöpfungsafte nöthig gehabt habe, um die Lücen außzufüllen, 
welche dur bie Wirkung ihrer eigenen Geſehe entftanden feien.“ 
Diejenigen, denen der Glaube an eine übernatürlihe Schöpfung ein 
Gemũthsbeduͤrfniß ift, fönnen ſich bei diefer Borftellung beruhigen 
Sie können jenen Glauben mit der Defcendenztheorie vereinbaren; 
denn fie fönnen in der Erſchaffung eines einzigen urfprüngfichen Cr- 
ganidmus, der die Fähigfeit befaß, alle übrigen durch Bererbung und 
Anpaffung aus fi) zu entwideln, wirflid weit mehr Erfindungäfrait 
und Weisheit des Schöpferd bewundern, als in der unabhängigen Et 
ſchaffung der verſchiedenen Arten. 

Wenn voir und in diefer Weife die Entſtehung der erflen irdi ⸗ 
fen Organismen, von denen alle übrigen abſtammen, durch die 
zwedmaͤßige und planvolle Thaͤtigkeit eined perfönlichen Schöpfer er 
tären wollten, fo würden wir damit auf eine wiſſenſchaftliche Gr 








dene Rinde und fenerfläffiger Kern deb Erdballs. 283 


kenntniß berfelben verzichten, und aus dem Gebiete der wahren Bif- 
ſenſchaft auf das gänzlich getrennte Gebiet der dichtenden Glauben- 
haft Hinübertreten. Wir würden durch ‚die Annahme eined über- 
natürlichen Schöpfungsaktes einen Sprung in das Unbegreifliche thun. 
Che wir und zu diefem lepten Schritte entfchliegen und damit auf 
eine wiffenfchaftfiche Erkenntniß jenes Vorgangs verzichten, find wir 
jebenfall® zu dem Berfuche verpflichtet, denfelben durch eine mecha- 
niſche Hypotheſe zu beleuchten. Wir müflen jedenfalls unterfuchen, 
ob denn wirklich jener Vorgang fo wunderbar ift, oder ob wir und 
eine haltbare Vorftellung von einer ganz natürlichen Erftehung je . 
nes erften Stammorganismus machen tönnen. Auf da8 Wunder 
der Schöpfung würden wir Dann gänzlich verzichten Können. 

Es wird bierbei nothiwendig fein, zunaͤchſt etwas weiter auszu⸗ 
holen und bie natürliche Schöpfungögefchichte der Erde und, noch 
weiter zurüdgehend, bie natürliche Schöpfungsgefchichte des ganzen 
Weltalls in ihren allgemeinen Grumdzügen zu betrachten. Es wird 
Ihnen Allen wohl befannt fein, daß aus dem Bau der Erbe, wie 
wir ihn gegenwärtig kennen, die Vorftellung abgeleitet und bis jept 
noch wicht widerlegt ift, daß das Innere unferer Erde ſich in einem 
feurigfläffigen Zuftande befindet, und daß die aus verſchiedenen 
Schichten zufammengefegte fefte Rinde, auf deren Oberfläche Die Or⸗ 
ganismen leben, nur eine fehr dünne Krufte oder Schale um den 
feurigftüffigen Kern bildet. Zu diefer Anfehauung find wir durch 
verfhtedene übereinftimmende Erfahrungen und Schlüffe gelangt. Zu- 
naͤchſt fpricht dafür die Erfahrung, daß die Temperatur der Erdrinde 
nad dem Innern hin ftetig zunimmt. Je tiefer wir binabfteigen, 
deito höher fteigt die Wärme des Erdbodens, und zwar in dem Ver⸗ 
hältniß. daß auf jede 100 Fuß Tiefe die Temperatur ungefähr um einen 
Grab zunimmt. In einer Tiefe von 6 Meilen würde demnach bereits 
eine Hipe von 1500° herrſchen, hinreichend, um bie meiften feften 
Stoffe unferer Exdrinde in geſchmolzenem feuerflüffigem Zuſtande zu 
erhalten. Diefe Tiefe ift aber erſt der 286ſte Theil des ganzen Erd⸗ 
durchmeſſers (1717 Meilen). Wir wiffen ferner, daß Quellen, bie 





284 Bormafiger geſchmolzener Zuftanb bes ganzen Erdballs. 


aus betraͤchtlicher Tiefe herborkommen, eine fehr hohe Temperatur ber 
figen, und zum Theil felbft das Waffer im kochenden Zuftande an die 
Oberfläche befördern. Sehr wichtige Zeugen find endlich die vulfa- 
niſchen Erfpeinungen, das Heworbrechen feuerflüffiger Geſteinsmaſſen 
durch einzelne berſtende Stellen der Erdrinde hindurch. Alle dieſe 
Erſcheinungen führen und mit großer Sicherheit zu der wichtigen An- 
nahme, daß die fefte Erbrinde nur einen ganz geringen Bruchtheil. noch 
lange nicht den taufendften Theil von dem ganzen Durchmeſſer der 
Erdkugel bildet, und daß biefe fi) noch heute größtentheil® in ge 
ſchmolzenem oder feuerflüffigem Zuftande befindet. 

Wenn wir mun auf Grund diefer Annahme über die einftige Ent- 
widelungsgeſchichte des Erdballs nachdenken, fo werben wir folgerih- 
tig noch einen Schritt weiter geführt, nämlich zu der Annahme, daß 
in früherer Zeit die ganze Erbe ein feurigflüffiger Körper, und daf 
die Bildung einer dünnen erftarrten Rinde auf der Oberfläche dieſes 
Balles erſt ein fpäterer Vorgang war. Erft allmählih, dur Aud- 
ſtrahlung der inneren Gluthhitze an den falten Weltraum , verdichtett 
ſich die Oberflähe des glühenden Erdballs zu einer dünnen Rinde. 
Daß die Temperatur der Erde früher allgemein eine viel höhere war, 
wird durch viele Erfheinungen bezeugt. Unter Anderen fpricht dafür 
die gleihmäßige Vertheilung der Organidmen in früheren Zeiten ber 
Erdgeſchichte. Während bekanntlich jetzt den verſchiedenen Erdzonen 
und ihren örtlichen Temperaturen verſchiedene Bevolkerungen von 
Thieren und Pflanzen entſprechen, war dies früher entfdyieden nicht 
ber Fall, und wir fehen aus ber Vertheilung der Berfteinerungen in 
den älteren Zeiträumen, daß erft fehr fpät, im einer verhaͤltnißmaͤßig 
neuen Zeit der organifhen Erdgefchichte (im Beginn der fogenannten 
caͤnolithiſchen ober Tertiärgeit), eine Sonderung der Zonen und dem 
entſprechend auch ihrer organifchen Bevölkerung ftattfand. Während 
der ungeheuer langen Brimär- und Sekundaͤrzeit lebten tropifche Pilan- 
zen, welche einen fehr hohen Temperaturgrad bebürfen, nit allen 
in ber heutigen heißen Zone unter dem Yequator, fondern auch in der 
heutigen gemäßigten und falten Zone. Auch viele andere Erſcheinun · 


Kant’S Entwidelungdtheorie des Weltalls. 285 


gen haben eine allmähliche Abnahme der Temperatur des Erdkörpers 
im Ganzen, und insbeſondere eine erft fpät eingetretene Abtühlung 
der Erdrinde von den Polen her kennen gelehrt. In feinen ausge⸗ 
zeichneten „Unterfuchungen über die Entwidelungögefege der organi« 
ſchen Welt“ hat der vortrefflihe Bronnt?) die zahlreichen geologi⸗ 
fen und paläontologifhen Beweiſe dafür zufammengeftellt. 

Auf diefe Erfheinungen einerſeits und auf die mathematifch-aftro- 
nomifhen Erkenntniſſe vom Bau des Weltgebäudes andererfeit® grün- 
det fi nun die Theorie, daß die ganze Erde vor undenklicher Zeit, 
lange vor der erften Entftehung von Organismen auf derfelben, ein 
feuerflüffiger Ball war. Dieſe Theorie aber fteht wiederum in Ueber 
einftimmung mit ber großartigen Theorie von der Entftehung des Welt- 
gebäudes und fpeciell unferes Planetenfyftems, welche auf Grund von 
mathematifchen und afttonomifchen Thatfachen 1755 unfer kritiſcher 
Philoſoph Kant ?*) aufftellte, und weldhe fpäter die berühmten Ma- 
thematiter La place und Herfchel ausführlicher begründeten. Diefe 
Kodmogenie oder Entwidelungstheorie des Weltalls ſteht noch heute 
in faft allgemeiner Geltung; fie ift durch feine beffere erfept worden, 
und Mathematifer, Aftronomen und Geologen haben biefelbe durch 
mannichfaltige Beweiſe immer fefter zu ftügen verfucht. 

Die Kosmogenie Kant's behauptet, daß das ganze 
Weltall in unvordenflihen Zeiten ein gasförmiges Chaos bil- 
dete. Alle Materien, welche auf der Erde und anderen Weltkörpern 
gegenwärtig in verſchiedenen Dihtigkeitgzuftänden, in feſtem, feft-flüfe 
figem, tropfbar-flüffigem und elaftifch-flüffigem oder gasformigem Ag- 
gregatzuftande ſich gefondert finden, bildeten urſprünglich zufammen 
eine einzige gleichartige, den Weltraum gleihmäßig erfüllende Maſſe, 
welche in Folge eines außerorbentlih hohen Temperaturgrades in 
gasförmigern oder Iuftförmigem, äußert dünnem Zuftande ſich ber 
fand. Die Millionen von Weltlörpern, welche gegenwärtig auf die 
verſchiedenen Sonnenſyſteme vertheilt find, exiſtitten damals noch 
nit. Sie entftanden erft in Folge einer allgemeinen Drehbewegung 
oder Rotation, bei welcher ſich eine Anzahl von fefteren Maffengrup- 


286 Entwidelung ber Sonnen, Planeten und Monde. 


pen mehr als die übrige gasfdrmige Maſſe verdichteten, und nun 
auf leptere ald Anziehungsmittelpunfte wirkten. So entſtand eine 
Scheidung des chaotiſchen Urnebeld oder Weltgafed in eine Anzahl 
von rotirenden Nebelbällen, welche fi mehr und mehr verbidketen. 
Auch unfer Sonnenſyſtem war ein folder riefiger gaBförmiger Dunfl- 
ball, deſſen Theilchen fich fämmtlih um einen gemeinfamen Mittel- 
punft, den Sonnenkern, herumbrehten.. Der Nebelball felbft nahm 
durch die Rotationsbewegung, gleich allen übrigen, eine Sphäroid- 
form oder abgeplattete Kugelgeſtalt an. 

Während die Gentripetalfraft die rotirenden Theilchen immer 
näher an den feften Mittelpunkt des Nebelballd heranzog, und fo 
diefen mehr und mehr verdichtete, war umgekehrt die Centrifugal- 
kraft beftrebt, die peripherifchen Theilchen immer weiter von jenem 
zu entfernen und fie abzufchleudern. An dem Yequatorialrande der 
an beiden Polen abgeplatteten Kugel war diefe entrifugaltraft am 
ftärfften, und fobald fie bei weiter gehender Verdichtung das Ueber- 
gewicht über die Centripetaltraft erlangte, Löfte fi) hier eine ring. 
förmige Rebelmafje von dem rotirenden Balle ab. Diefe Rebelringe 
zeichneten die Bahnen der zufünftigen Planeten vor. Allmaͤhlich ver- 
dichtete ſich die Nebelmaſſe des Ringes zu einem Planeten, der ſich 

- um feine eigene Age drehte und zugleich um den Gentralförper rotirte. 
In ganz gleicher Weife aber wurden von dem Aequator der Plane» 
tenmaffe, fobald die Gentrifugaltraft wieder das Uebergewicht über 
die Gentripetaltraft gewann, neue Rebelringe abgeſchleudert, melde 
in gleicher Weife um die ‘Planeten ſich bewegten, wie diefe um die 
Sonne. Auch dieſe Rebelringe verdichteten ſich wieder zu rotiren- 
den Bällen. So entftanden die Monde, von denen nur einer um 
die Erde, aber vier um den Jupiter, fechd um den Uranus ſich be 
wegen. Der Ring des Satumus ftellt und noch heute einen Mond 
auf jenem früheren Entwidelungsftadium dar. Indem bei immer 
weiter fchreitender Abkühlung fi diefe einfachen Vorgänge der Ber- 
Dichtung und Abſchleuderung vielfach wiederholten, entftanden die ver- 
ſchiedenen Sonnenfofteme, die Planeten, welche ſich rotivend um ihre 


Rant’s toßmelegifche Gadtheorie. 287 
centrale Sonne, und die Trabanten ober Monde, welche ſich dre- 
hend um ihren Planeten beivegten. 

Der anfängliche gasförmige Zuftand der rotirenden Weltkörper 
ging allmaͤhlich durch fortfehreitende Abkühlung und Verdichtung in. 
den feurigflüffigen oder geſchmolzenen Aggregatzuftand über. Durch 
den Verdichtungsvorgang felbft wurden große Mengen von Wärme 
frei, und fo geftalteten ſich die rotirenden Somnen, Planeten und 
Monde bald zu glühenden Feuerbällen, gleich riefigen geſchmolzenen 
Metalltropfen, welche Licht und Wärme ausftrahlten. Durch den da- 
mit verbundenen Wärmeverluft verdichtete fich wiederum die geſchmol ⸗ 
zene Maſſe an der Oberfläche der feuerflüfjigen Bälle und fo entftand 
eine dünne fefte Rinde, welche einen feurigflüffigen Kern umſchloß. 
In allen diefen Beziehungen wird fi) unfere mütterliche Erde nicht 
weſentlich verſchieden von den übrigen Weltkörpern verhalten haben. 

Für den Zwec diefer Borträge bat eB weiter Bein beſonderes In⸗ 
tereffe, die „natürlihe Schöpfungsgefhichte des Weltalls” 
mit feinen verſchiedenen Sonnenfyftemen und Planetenfoftemen im 
Eingelnen zu verfolgen und durch alle verſchiedenen aftronomifchen 
und geologifjen Beweismittel mathematifch zu begründen. Ich ber 
gnüge mich daher mit den eben angeführten Grundzügen derfelben 
und verweiſe Sie bezüglich de3 Näheren auf Kant's „Allgemeine 
Raturgeſchichte und Theorie des Himmels“.22) Nur die Bemerkung 
will ih noch hinzufügen, daß diefe bewunderungswürdige Theorie, 
welche man auch die foamologifche Gastheorie nennen könnte, 
mit allen uns bis jept befannten allgemeinen Erſcheinungsreihen im 
Einklang, und mit feiner einzigen derfelben in unvereinbarem Wider- 
ſpruch ſteht. Ferner ift diefelbe rein mechaniſch oder moniſtiſch, nimmt 
ausſchließlich die ureigenen Kräfte der ewigen Materie für fih in An- 
ſpruch, und ſchließt jeden übernatürlichen Borgang, jede zwecmaͤßige 
und bewußte Thätigkeit eine perfönlichen Schopfers vollftändig aus. 
Kant's tosmologifche Gastheorie nimmt daher in der Anorgano« 
logie, und insbeſondere in der Geologie eine ähmfiche herrſchende 
Stellung ein, und kroͤnt in ähnlicher Weife unfere Gefammterfenntnip, 


288 Unendlichteit und Ervigteit des Weltalls. 
wie Lamard’3 biologiſche Deſcendenztheorie in der ganzen Biolo⸗ 
gie, und namentlih in der Anthropologie. Beide ſtühen ſich 
ausſchließlich auf mechanifche oder bemußtlofe Urfachen (Causae effi- 
cientes), nirgend8 auf zmedthätige ober bewußte Urſachen (Causse 
finales). (Bergl. oben ©. 8992.) Beide erfüllen fomit alle An- 
forderungen einer wiſſenſchaftlichen Theorie und werden baber in all- 
gemeiner Geltung bleiben, bis fie durch befiere erfegt werben. 
Allerdings will ich andererſeits nicht verhehlen, daß der großartis 
gen Kodmogenie Kant's einige Schwächen anhaften, welde und 
nicht geftatten, ihr daſſelbe unbedingte Vertrauen zu ſchenken, wie 
Lamarck's Defcendenztheorie. Große Schwierigkeiten verfdiedener 
Art hat die Borftellung des uranfänglichen gadförmigen Chaos, dad 
den ganzen Weltraum erfüllte. Eine größere und ungelöfte Schwit · 
rigfeit aber liegt darin, daß die kosmologiſche Gadtheorie und gar 
feinen Anhaltepunft liefert für die Erklärung des erften Anftoßes, der 
die Rotationsbewegung in dem gaserfüllten Weltraum verurſachte 
Beim Suchen nad einem ſolchen Anftoß werden wir unwilllürlich zu 
der falfchen Frage nach dem „erften Anfang“ verführt. Einen erften 
Anfang konnen wir aber für die ewigen Bemegungderfcpeinungen 
des Weltall ebenfo wenig denken, als ein ſchließliches Ende. 
Das Weltall ift nah Raum und Zeit unbefhränft und unermef- 
lich. Es ift ewig und es ift unendlich. Aber auch für die ununter- 
brochene und ewige Bewegung, in welcher fi alle Theilchen dei 
Weltalls beftändig befinden, können wir und feinen Anfang und 
fein Ende denken. Die großen Gefepe von der Erhaltung der 
Kraft ®®) und von der Erhaltung des Stoffes, die Grund⸗ 
lagen unferer ganzen Naturanſchauung, laffen feine andere Borfel- 
lung zu. Die Welt, foweit fie dem Ertenntnigvermögen de Men- 
ſchen zugänglich ift, erſcheint ald eine zufammenhängende Kette von 
materiellen Beregungderfcheinungen, die einen fortwaͤhrenden urfäd- 
lichen Wechſel der Formen bedingen. Jede Form, als das zeittweilige 
Refultat einer Summe von Bervegungserfheinungen, ift als foldes 
vergänglich und von befchränfter Dauer. Aber in dem beftändigen 


Kant's kosmologiſche Gastheorie. 289 


Wechſel der Formen bleibt die Materie und die davon untrennbare 
Kraft ewig und ungerftörbar. 

Wenn nun auch Kant's tosmologifhe Gaßtheorie nicht im 
Stande ift, die Entwidelungsgeſchichte des ganzen Weltalls in be- 
friedigender Weife über jenen Zuftand des gasförmigen Chaos hinaus 
aufzuflären, und wenn auch außerdem noch mancherlei gewichtige Ber 
denten, namentlich von chemiſchet und geologiſcher Seite her, ſich ge- 
gen fie auftverfen laſſen, fo müflen wir ihr doch anderfeitd das große 
Berdienft laifen, den ganzen Bau des unferer Beobachtung zugäng- 
lichen Weltgebaͤudes, die Anatomie der Sonnenfyfteme und fpeciell 
unſeres Planetenfyftemd, vortrefflich durch ihre Entwickelungsgeſchichte 
zu erflären. Bielleiht war diefe Entwidelung in der That eine ganz 
andere; vielleicht entftanden die Planeten, und alfo auch unfere Erde, 
durch Aggregation aus zahlloſen Heinen, im Weltraum zerftreuten 
Meteoriten? Aber bisher hat noch Niemand eine andere derartige Ent- 
wickelungstheorie ftichhaltig zu begründen, und etwas Beffered an die 
Stelle von Kant's Kosmogenie zu fehen vermodt. . 

Nach diefem allgemeinen Blick auf die moniftifche Kodmogenie 
oder die natürliche Entwicelungsgeſchichte des Weltalld laſſen Sie 
und zu einem winzigen Bruchtheil deffelben zurüdkehren, zu unferer 
mütterlichen Erde. Wir hatten diefelbe im Zuſtande einer feurig-flüffi- 
gen, an beiden Polen abgeplatteten Kugel verlaifen, deren Oberfläche 
ſich durch Abkühlung zu einer ganz dünnen feften Rinde verdichtet 
hatte. Die erfte Erſtarrungskruſte wird, die ganze Oberfläche de? 
Erdſphaͤroids als eine zufammenhängende, glatte, dünne Schale gleidj- 
mäßig überzogen haben. Bald aber wurde diefelbe uneben und höde- 
rig. Indem nämlich bei fortfepreitender Abkühlung der feuerfläffige 
Kern fi) mehr und mehr verdichtete und zufammenzog, und fo der 
gange Grddurchmeffer ſich verfleinerte, mußte die dünne, ftarre Rinde, 
welche der weicheren Kernmaſſe nicht nachfolgen fonnte, über derfelben 
vielfach zuſammenbrechen. Es würde zwiſchen beiden ein leerer Raum 
entftanden fein, wenn nicht der äußere Atmofphärendrud die zerbrech ⸗ 
liche Rinde nad immen hinein gebrüdt hätte. Andere Unebenheiten 

Heedel, Natärl. Säöpfungsgeid. 5. Aufl. 19 


290 Erſte Eutſtehung der Berge und des Waſſers. 


entitanden wahrſcheinlich dadurch, daß an verfdiedenen Stellen die 
abgekũhlte Rinde durch den Erftarrungäprogeß feldft fh zufammenzog 
und Sprünge oder Riffe belam. Der feurigflüfjige Kern quoli von 
Neuem durch diefe Sprünge hervor und erftarrte abermald. So ent- 
fanden fhon frühzeitig mancherlei Erhöhungen und Bertiefungen, 
welche die erften Grundlagen der Berge und der Thäler wurden. 

Nachdem die Temperatur ded abgelühlten Erdballs bis auf einen 
gewillen Grad geſunken war, erfolgte ein ſehr wichtiger neuer Bor- 
gang, nämlich die erfte Entfiehung ded Waſſers. Das Wal 
fer war bisher nur in Dampfform in der den Erbball umgebenden 
Atmofphäre vorhanden gewefen. Offenbar konnte das Waller fih 
erft zu tropfbar-flüffigem Zuftande verdichten, nachdem die Temperatur 
der Atmofphäre bedeutend gefunten war. Run begann bie weitere 
Umbildung der Exdrinde durch die Kraft des Waſſers. Indem dafielbe 
beftändig in Form von Regen niederfiel, hierbei die Erhöhungen der 
Erdrinde abipülte, die Vertiefungen durch den abgefpülten Schlamm 
ausfüllte, und diefen ſchichtenweiſe ablagerte, bewirkte es bie außer- 
ordentlich wichtigen neptuniſchen Umbildungen der Erdrinde, welche 
feitdem ununterbrochen fortdauerten, und auf welche wir im naͤchſten 
Vortrage noch einen näheren Blid werfen werden. 

Erſt nachdem die Erdrinde fo weit abgefühlt war, daß das Baf- 
fer ſich zu tropfbarer Form verdichtet hatte, exft als die. bis dahin 
trodene Erdfrufte zum erften Male von flüffigem Waſſer bedertt wurde, 
tonnte die Entftehung der erften Organismen erfolgen. Denn ale 
Thiere und alle Pflanzen, alle Organismen überhaupt, beftehen zum 
großen Theile oder zum größten Theile aus tropfbar-flüfjigern Baier, 
welche mit anderen Materien in eigenthümlicher Weiſe ſich verbindet, 
und dieſe in den fetflüffigen Aggregatzuftand verfept. Wir konnen 
alfo aus diefen allgemeinen Grundzügen der anorganiſchen Cröge- 
ſchichte zunächt die wichtige Thatſache folgen, daß zu irgend einer be - 
ſtimmten Zeit das Leben auf der Exde feinen Anfang hatte, daß die 
irdiſchen Organismen nicht von jeher egiftirten, fondern in irgend einem 
beftunmten Zeitpunkte zum erſten Mal entftanden. 


Urzeugung. Bergleichung ber Organismen und Anergane, 291 


Wie haben wir ung nun diefe Entflehung der erften Organismen 
zu denken? Hier ift derjenige Punkt, an welchem die meiften Ratur- 
forfeher noch heutzutage geneigt find, den Verſuch einer natürlichen 
Erklärung aufzugeben, und zu dem Wunder einer unbegreiflichen 
Schöpfung zu flüchten. Mit diefem Schritte treten fie, wie fhon vor- 
ber bemerkt wurde, außerhalb des Gebietes der natunviffenfchaftlichen 
Erkenniniß und verzichten. auf jede weitere Einficht in den nothwendi⸗ 
gen Zufammenhang ber Naturgeſchichte. Ehe wir muthlos dieſen let ⸗ 
ten Schritt thun, ehe wir an der Möglichkeit jeder Erlenntniß dieſes 
wichtigen Vorgangs verzweifeln, wollen wir wenigſtens einen Verſuch 
machen, denfelben zu begreifen. Laſſen Sie ums fehen, ob denn wirk⸗ 
lich die Entftehung eines erften Organismus aus anorganifchem Stoffe, 
die Entftehung eines lebendigen Körpers aus lebloſer Materie etwas 
ganz Undenkbores, außerhalb aller befannten Erfahrung Stehendes 
fei? Laſſen Sie und mit einem Worte die Frage von der Urzeu⸗ 
gung oder Arhigonie unterfuchen! Bor Allem ift hierbei erfor- 
derlich, ſich die hauptfächlichften Eigenfchaften der beiden Hauptgrup- 
pen von Naturkörpern, der fogenannten feblofen oder anorganiſchen 
und der befebten oder organifchen Körper Klar zu machen, und dad 
Gemeinfome einerfeits, das Unterſcheidende beider Gruppen andrer- 
ſeits feftzuftellen. Auf diefe Bergleihung der Organismen 
und Anorgane müſſen wir hier um fo mehr eingehen, als fie ge⸗ 
wöhnlich fehr vernachläffigt wird, und als fie Doch zu einem richtigen, 
einheitlichen ober moniftifhen Verſtändniß der Gefammtnatur ganz 
nothwendig ift. Am zwechmäßigſten wird es hierbei fein, die brei 
Grundeigenſchaften jedes Naturkörpers, Stoff, Form und Kraft, ge- 
fondert zu betrachten. Begimmen wir zunächft mit dem Stoff. 
(Gen. Morph. I, 111.) 

Durch die Chemie find wir dahin gelangt, ſämmtliche und be» 
kannte Körper zu zerlegen in eine geringe Anzahl von Elementen ober 
Grundftoffen, nicht weiter zerlegbaren Körpern, z. B. Kohlenſtoff. 
Sauerftofi, Stidftoff, Schwefel, ferner die verſchiedenen Metalle: Ka- 
lium, Natrium, Eifen, Gold u. ſ. w. Man zählt jept gegen ſiebzig 

19* 


292 Grundſtoffe und Berbindungen ber Organismen und Unorgane. 


folder Elemente oder Grundftoffe. Die Mehrzahl derfelben ift ziem- 
fi unwichtig und felten; nur die Minderzahl ift allgemeiner verbrei- 
tet und feßt nicht allein die meiften Anorgane, fondern auch fämmt- 
liche Organismen zufammen. Vergleichen wir nun diejenigen Ele 
mente, welche den Körper der Organismen aufbauen, mit denjenigen, 
welche in ben Anorganen fich finden, fo haben wir zunächft die höchft 
wichtige Thatſache hervorzuheben, dag im Thier- und Pflanzenkörper 
fein Grundftoff vorkommt, der nicht auch außerhalb deffelben in der 
lebloſen Natur zu finden wäre. Es giebt feine befonberen organifchen 
Elemente oder Grundftoffe. 

Die chemiſchen und phyſikaliſchen Unterſchiede, welche zwiſchen 
den Organismen und den Anorganen exiſtiren, haben alſo ihren mas 
teriellen Grund nicht in einer verſchiedenen Natur der fie zufammen- 
fegenden Grundftoffe, fondern in der verfehiedenen Art und Weile, 
in welcher die fepteren zu chemifhen Berbindungen zufammen- 
gefept find. Diefe verſchiedene Verbindungsweiſe bedingt zunächſt ge 
wiſſe phyſilaliſche Eigenthümlichfeiten, indbefondere in der Dichtig ⸗ 
keit der Materie, welche auf den erften Blid eine tiefe Kluft zwi⸗ 
fchen beiden Körpergruppen zu begründen feinen. Die geformten 
anorganiſchen oder feblofen Naturförper, die Kryſtalle und die amor- 
phen Gefteine, befinden ſich in einem Dichtigkeitszuſtande, den wir 
den feften nennen, und den wir entgegenfepen dem tropfbar-fläffigen 
Dichtigkeitszuſtande des Waſſers und dem gasfrmigen Dichtigfeitt- 
zuſtande der Luft. Es ift Ihnen befannt, daß dieſe drei verſchiedenen 
Dichtigkeitägrade oder Aggregatzuftände der Anorgane durchaus nicht 
den verföhiedenen Elementen eigenthümlich, fondern die Folgen eines 
beftimmten Temperaturgrades find. Jeder anorganifche feite Körper 
fann durd Erhöhung der Temperatur zunächft in den tropfbar-fiffi« 
gen oder gefhmolgenen, und durch weitere Erhihung in den gadfdr- 
migen oder elaftifch-flüffigen Zuftand verfept werden. Gbenfo fann 
jeder gadförmige Körper durch gehörige Emiedrigung der Temperatur 
zunaͤchſt in den tropfbar-flüffigen und weiterhin in den feſten Dichti · 
teitözuftand übergeführt werden. 


Dichtigleitszuſande der Organismen und Anorgane, 293 

Im Gegenfage zu diefen drei Dichtigfeitäzuftänden der Anore 
gane befindet fich der lebendige Körper aller Organiömen, Thiere fo- 
wohl als Pflanzen, in einem ganz eigenthümlichen, vierten Aggregat- 
zuſtande. Diefer ift weber feft, wie Geftein, noch tropfbar-flüffig, wie 
Waſſer, vielmehr hält er zwiſchen diefen beiden Zuftänden die Mitte, 
und kann daher ald der feft-flüffige ober gequollene Aggregatzuftand 
bezeichnet werden. In allen lebenden Körpern ohne Ausnahme ift 
eine geroiffe Menge Waſſer mit fefter Materie in ganz eigenthümlicher 
Art und Weiſe verbunden, und eben durch diefe charakteriſtiſche Ber- 
bindung des Wafferd mit der organifchen Materie entfteht jener weiche, 
weder fefte noch flüffige, Aggregatzuftand, welcher für die mechanifche 
Erflärung der Lebenerfheinungen von ber größten Bedeutung ift. 
Die Urfache deffelben liegt wefentlih in den phufitafifchen und che⸗ 
miſchen Eigenſchaften eines einzigen unzerlegbaren Grundftoffs, des 
Kohlenſtoffs. (Gen. Morph. I, 122130.) 

Bon allen Elementen ift der Kohlenſtoff für uns bei weiten das 
wichtigfte und intereffantefte, weil bei allen uns bekannten Thier- 
und Pflanzenkörpern diefer Grundftoff die größte Rolle fpielt. Er ift 
dasjenige Element, weiches durch feine eigenthümliche Neigung zur 
Bildung verroidelter Verbindungen mit den anderen Elementen die 
größte Mannichfaltigkeit in der chemiſchen Zufammenfegung, und da» 
ber auch in den Formen imd Lebendeigenfchaften der Thier- und 
Pflangentörper hervorruft. Der Kohlenſtoff zeichnet fih ganz befon- 
ders dadurch aus, daß er ſich mit den andern Elementen in unendlich 
mannidjfaltigen Zahlen⸗ und Gewichtsverhältniſſen verbinden ann. 
Es entftehen zunädft durch Verbindung des Kohlenftoffs mit drei an« 
dern Elementen, dem Sauerftoff, Waſſerſtoff und Stidftoff (zu denen 
fi) meift auch noch Schwefel und häufig Phosphor gefellt), jene 
äußerft wichtigen Verbindungen, welche wir ald das erfte und un⸗ 
entbehrlichfte Subftrat aller Lebenserſcheinungen kennen gelernt haben, 
die eiweißartigen Verbindungen ober Albuminförper (Proteinftoffe). 
Schon früher (S. 164) haben wir in den Moneren Drganidmen 
der allereinfachften Art fennen gelernt, deren ganzer Körper in voll« 


294 Bebentung der eiweißartigen Kohfenfoffoerbinbungen. 

kommen außgebilbetem Zuſtande aus weiter Nichts befteht, ala aus 
einem fefiflüffigen eimweißartigen Rlümpchen; Organiömen, welche für 
die Lehre von der erften Entſtehung des Lebens von der allergrößten 
Bedeutung find. Aber auch die meiften übrigen Organismen find zu 
einer gewiſſen Zeit ihrer Grifteng, wenigften® in der erften Zeit ihres 
Lebens, als Eizellen ober Keimzellen, im Weſentlichen weiter Nichts 
als einfache Mümpdpen eines ſolchen eiweißartigen Bildungsftofies, 
de Plasma oder Protoplasma. Sie find dann von den Mo- 
neten nur dadurch verſchieden. daß im Innern des eiweißartigen Rör- 
perchens ſich der Zellenfem (Ruclens) von dem umgebenden Zellſtoff 
(Brotoplasına) gefonbert bat. ie wir fehon früher zeigten, find 
Zellen von ganz einfacher Befchaffenheit die Staatsbürger, melde 
durch ihr Zuſammenwirken und ihre Sonderung den Körper auch der 
vollfommenften Organismen , einen republikaniſchen Zellenſtaat, auf 
bauen (€. 269). Die entwidelten Formen und Lebenderſcheinungen 
des Iepteren werben lediglich durch die Thätigfeit jener eiweihartigen 
Körperen zu Stande gebracht. 

Es darf als einer der größten Triumphe ber neueren Biologie, 
indbefondere ber Gewebelehre, angefehen werden, daß mir jept um 
Stande find, das Wunder der Lebenserſcheinungen auf diefe Stoffe 
zurüdzuführen, daß wir die unendlich mannichfaltigen und 
verwidelten phyfifalifden und 'hemifhen Eigenfhaf- 
ten der Eiweißkörper als die eigentliche Urſache der or- 
ganifhen ober Lebenserfheinungen nachgewieſen haben. 
Alte verſchiedenen Formen der Organismen find zunächft und ummit- 
telbar das Refultat der Zufammenfegung aus verfihiebenen Formen 
von Zellen. Die unendlih mannichfaltigen Verſchiedenheiten in der 
Form, Größe und Zufammenfegung der Zellen find aber erſt allmäh- 
lich durch die Arbeitsteilung und Vervollkommnung der einfahen 
gleichartigen Plasmaklũmpchen entftanden, welche urfprünglich allein 
den Jellenleib bifdeten. Daraus folgt mit Notwendigkeit, daß auch 
die Grunderfheimungen des organifchen Lebens, Ernährung und Fort 
pflanzung, ebenfo in ihren höchſt zufammengefepten wie in ihren ein- 


Lebenserfcheinungen und Formbildung ber Organismen und Anorgane. 295 


fachften Aeußerungen, auf die materielle Beſchaffenheit jenes eiweiß · 
artigen Bilbungaftoffes, des Plasma, zurüczuführen find. Aus 
jenen beiden haben ſich die übrigen Lebenäthätigkeiten erft allmählich 
bervorgebildet. So hat denn gegenwärtig die allgemeine Erflärung 
des Lebens für und nicht mehr Schwierigkeit, als die Erklärung der 
phyſilaliſchen Eigenfchaften der anorganifhen Körper. Alle Lebend- 
erſcheinungen und Geftaltungsprogeile -der Organismen find ebenfo 
unmittelbar durch die chemiſche Zufammenfepung und die phyfifali- 
fhen Kräfte der organifchen Materie bedingt, wie die Lebenderſchei⸗ 
nungen der anorganifchen Kryſtalle, d. b. die Vorgänge ihres Wachs⸗ 
thums und ihrer ſpecifiſchen Formbildung, die unmittelbaren Folgen 
ihrer chemifhen Zufammenfegung und ihres phyſikaliſchen Zuftandes 
find. "Die legten Urfachen bfeiben und freilich in beiden Fällen 
gleich verborgen. Wen Gold und Kupfer im tefferalen, Wismuth 
und Antimon im beragonalen, Jod und Schwefel im rhombiſchen 
Kryſtallſyſtem kryſtalliſiren, fo ift un® dies im Grunde nicht mehr und 
nicht weniger räthfelhaft, als jeder elementare Borgang der organifchen 
Tormbildung. jede Selbftgeftaltung der organifhen Zelle. Auch in 
diefer Beziehung fönnen wir gegentwärtig den fundamentalen Un- 
terfehied zwifchen Organismen und anorganifhen Körpern nicht mehr 
fefthalten,, von welchem man früher allgemein überzeugt war. 
Betrachten wir zweitens die Uebereinftimmungen und Unterfchiede, 
welche die Kormbildung der organifehen und anorganifhen Na« 
turförper un darbietet (Gen. Morph. I, S. 130). Als Hauptunter- 
ſchied in diefer Beziehung fah man früher die einfache Struktur der 
fepteren, den zufammengefepten Bau der erfteren an. Der Körper aller 
Organismen follte aus ungleihartigen oder heterogenen Theilen zu⸗ 
fammengefept fein, aus Werkjeugen oder Organen, welche zum Zweck 
des Lebens zuſammenwirken. Dagegen follten auch die volllommen⸗ 
fien Anorgane, die Kryftalle, durch und durch aus gleichartiger oder 
homogener Materie beftehen. Diefer Unterfchied erſcheint fehr we⸗ 
fentlich. Allein er verliert alle Bedeutung dadurch, daß wir in den 
legten Jahren die höchft merkwürdigen und wichtigen Moneren fen- 


296 Struktur und Form der Organismen und Anorgane. 


nen gelernt haben 1°). (Vergl. oben ©. 164— 167). Der ganze 
Körper diefer einfachften von allen Organismen, ein feftsfläffiges, 
formloſes und ſtrukturloſes Eiweißkluͤmpchen, befteht in der That mur 
aus einer einzigen chemiſchen Verbindung, und ift ebenfo vollfom« 
men einfach in feiner Struktur, wie jeder Kryſtall, der aus einer 
einzigen organifchen Verbindung, 3. B. einem Metallſalze, oder einer 
fehr zufammengefepten Kiefelerde-Berbindung befteht. 

Ebenfo wie in der inneren Struftur oder Zufammenfegung, hat 
man auch in der äußeren Form durdhgreifende Unterſchiede zwiſchen 
den Organismen und Anorganen finden wollen, in8befondere in der 
mathematiſch beflimmbaren Kryſtallform ber letteren. Allerdings ift 
die Kryftalfifation vorzugsweiſe eine Eigenfchaft der fogenannten An- 
organe. Die Kryſtalle werben begrenzt von ebenen Flaͤchen, melde 
in geraden Linien und unter beftimmten meßbaren Winfeln zufam- 
menftogen. Die Thier- und Pflanzenwelt dagegen ſcheint auf den 
erften Blick feine derartige geometrifche Beftimmung zuzulaſſen. Sie 
ift meiften® von gebogenen Flächen und frummen inien begrenzt, 
welche unter veränderlihen Winfeln zufammenftogen. Allein wir 
haben in neuerer Zeit in den Radiolarien *°) und in vielen anderen 
Protiften eine große Anzahl von niederen Organismen fernen ge 
lernt, bei denen der Körper in gleicher Weife, wie bei ben Aryflal- 
fen, auf eine mathematifh beftimmbare Grundform ſich zurüdfüh- 
ven läßt, bei denen die Geftalt im Ganzen wie im Einzelnen dur 
geometriſch beftimmbare Flächen, Kanten und Winkel begrenzt wird. 
In meiner allgemeinen Grundformenlehre oder Bromorpho- 
Togie habe ich hierfür die ausführlichen Beweiſe geliefert, und zu- 
gleich ein allgemeine® Formenſyſtem aufgeftellt, deſſen ideale fierro- 
metriſche Grundformen eben fogut die realen Formen der anorganiſchen 
Kryſtalle wie der organifchen Individuen erflären (Gen. Morpb. I, 
375—574). Außerdem giebt e8 übrigen® auch vollfommen amorpbe 
Drganismen, wie die Moneren, Amöben u. f.1o., welche jeden Augen ⸗ 
blid® ihre Geftaft wechfeln, und bei denen man ebenfo wenig eine be+ 
fimmte Grundform nachweiſen kann, ald es bei den formlofen oder 


Bewegungßerfcheinungen der Organismen unb Anorgane. 297 


amorphen Anorganen, bei den nicht kryftallifirten Gefteinen, Nieder⸗ 
ſchlägen u. ſ. w. der Fall iſt. Wir find alfo nit im Stande, irgend 
einen prinzipiellen Unterſchied in der äußeren Form oder in der inne⸗ 
ven Struftur der Anorgane und Organismen aufzufinden. 

Wenden wir und drittens an die Kräfte oder an die Bewer 
gungserfheinungen dieſer beiden verſchiedenen Körpergruppen 
(Gen. Morph. I, 140). Hier flogen wir auf die größten Schwierig« 
feiten. Die Lebenderfheinungen, wie fie die meiften Menfchen nur 
von hoch ausgebildeten Organismen, von volltommneren Thieren und 
Pflanzen termen, erfheinen fo räthfelhaft, fo wunderbar, fo eigen» 
thuͤmlich, daß die Meiften der beftimmten Anſicht find, in der anor- 
ganifhen Natur komme gar nicht? Aehnliches oder nur entfernt damit 
Vergleichbare? vor. Man nennt ja eben deshalb die Organismen be- 
lebte und die Anorgane leblofe Raturförper. Daher erhielt fih bis in 
unfer Jahrhundert hinein, felbft in der Wiffenfehaft, die ſich mit der 
Erforfhung der Lebenserſcheinungen befchäftigt, in der Phyfiologie, 
die irrthtimliche Anficht, daß die phyſikaliſchen und chemiſchen Eigen- 
ſchaften der Materie nicht zur Erflärung der Lebenderfheinungen aus⸗ 
teihten. Heutzutage, namentlich feit dem letzten Jahrzehnt, darf biefe 
Anfiht als völlig überwunden angefehen werden. In der Phyſiologie 
wenigften® hat fie nirgends mehr eine Stätte. Es fällt heutzutage 
feinem Phyſiologen mehr ein, irgend welche Lebenserſcheinungen als 
das Refultat einer wunderbaren Lebens kraft aufzufailen, eineribe- 
fonderen zwedmäßig thätigen Kraft, welche außerhalb der Materie 
ſteht, und welche die phyfitalifch-hemifchen Kräfte gewiffermaßen 
nur in ihren Dienft nimmt. Die heutige Phyfiologie ift zu der ſtreng 
moniftifchen Uebergeugung gelangt, daß fämmtliche Lebenserſcheinun ⸗ 
gen, und vor allen die beiden Grunderſcheinungen der Emährung 
und Fortpflanzung, rein phyſilaliſch⸗chemiſche Vorgänge, und ebenfo 
unmittelbar von der materiellen Befchaffenheit de Organismus ab» 
hängig find, wie alle phyſikaliſchen und chemiſchen Eigenfchaften oder 
Kräfte eines jeden Kryſtalles lediglich durch feine materielle Zufam- 
menfepung bedingt werden. Da nun derjenige Grundftoff, welcher 


298 Kohlenfloffoerbinbungen als Urſachen der Lebenskraft. 


die eigenthümliche materielle Zuſammenſetzung der Organismen be» 
dingt, der Kohlenſtoff ift, fo müflen wir alle Lebenserſcheinungen. 
und vor allen die beiden Grunderſcheinungen der Emährung und Kort- 
pflanzung, in fepter Linie auf bie Eigenfihaften des Kohlenftoffs. 
aurädführen. Lediglich die eigenthümlichen, hemifh-phy- 
fitalifden Eigenfhaften des Kohlenftoffs, und na» 
mentlich der feftflüffige Aggregatzuftand und die leichte 
Zerfegbarkeit der höchſt zuſammengeſetzten eimeißarti- 
gen Kohlenftoffverbindungen, find bie mehanifhen Ur- 
fahen jener eigenthümlichen Bewegungserſcheinungen, 
dur melde fih die Organismen von den Anorganen 
unterfheiden, und die man im engeren Sinne das „Le- 
ben“ zu nennen pflegt. 

Um diefe „Roblenftofftheorie”, welche id im zweiten Buche 
meiner generellen Morphologie ausführlich begründet habe, richtig 
zu würdigen, ift e8 vor Allem nöthig, diejenigen Bewegungserfchei- 
nungen ſcharf in's Auge zu faflen, welche beiden Gruppen von Ra- 
turförpern gemeinfam find. Unter diefen fteht obenan dad Wachs- 
thum. Wenn Sie irgend eine anorganifche Satzlöfung langfam 
verdampfen laſſen, fo bilden ſich darin Salzkryſtalle, welche bei wei ⸗ 
ter gehender Berdunftung des Waflerd fangfam an Größe zunehmen. 
Diefed Wachsthum erfolgt dadurch, daß immer neue Theilden aus 
dem flüffigen Aggregatzuftande in den feften übergeben und fih an 
den bereit gebildeten feften Kryſtalllern nach beftimmten Gefepen 
anfagern. Durd folche Anlagerung ober Appofition der Theilchen 
entſtehen die mathematifch beftimmten Kroftallformen. Ebenſo durch 
Aufnahme neuer Theilchen gefchieht auch das Wachsthum der Orga- 
nismen. Der Unterſchied ift nur der, dag beim Wachsthum der Or⸗ 
ganismen in Folge ihres feftflüffigen Aggregatzuftandes die neu auf 
genommenen Theilhen in’® Innere ded Organismus vorrüden (In⸗ 
tusſusception), während die Anorgane nur durch Appofition, durch 
Anfag neuer, gleichartiger Materie von außen her zunehmen. Indeß 
ift diefer wichtige Unterfchied des Wachsthums durch Intusfugception 


Wachethum und Anpaffung bei Kryſtallen und bei Organismen. 299 


und durch Appofition augenſcheinlich nur die nothwendige und unmit« 
telbare Folge des verſchiedenen Dichtigkeitszuſtandes oder Aggregat · 
zuſtandes der Organismen und der Anorgane. 

Ih kann Hier am diefer Stelle leider nicht näher die mander- 
lei höchft intereffanten Parallelen und Analogien verfolgen, welche 
fih zwiſchen ber Bildung der vollfommenften Anorgane, der Kry⸗ 
falle, und ber Bildung ber einfachften Organismen, der Moneren 
und ber naͤchſt verwandten Kormen, vorfinden. Ih muß Sie in 
diefer Beziehung auf bie eingehende Vergleichung der Organismen 
und der Anorgane verweifen, welche ich im fünften Kapitel meiner 
generellen Morphologie durchgeführt Habe (Gen. Morph. I, 111— 
166). Dort habe ich ausführlich bewieſen, daß durchgreifende Un⸗ 
terfchiede zwiſchen den organifchen umd anorganifchen Naturkörpern 
weder in Bezug auf Form und Struktur, noch in Bezug auf Stoff 
und Kraft eriftiren, daß die wirklich vorhandenen Unterfhiebe. von 
der eigenthümlichen Ratur des Kohlen ſtoffs abhängen, und dag 
keine unüberfteiglihe Kluft zwifchen organiſcher und anorganifiher 
Natur exiſtirt. Beſonders einleuchtend erkennen Sie dieſe höchſt 
wichtige Thatſache, wenn Sie die Entftehung der Formen bei den 
Kryſtallen und bei den einfachften organifhen Individuen vergleis 
hend unterfuchen. Auch bei der Bildung der Kryftallindividuen 
treten zweierlei verfehiedene, einander entgegenwirfende Bildungs» 
triebe in Wirkſamkeit. Die innnere Geftaltungstraft oder 
der innere Bildungstrieb, welcher der Erblichteit der Organismen 
entfpricht, ift bei dem Kryſtalle der unmittelbare Auafluß feiner 
materiellen Gonftitution oder feiner chemiſchen Zufammenfegung. 
Die Form des Kryſtalles, ſoweit fie durch diefen inneren, ureigenen 
Bildungstrieb beftimmt wird, ift das Refultat der ſpecifiſch beftimm- 
ten Art und Weife, in welcher ſich die Mleinften Theilhen der fry- 
ſtalliſirenden Materie nach verſchiedenen Richtungen hin gefegmäßig 
an eimanber lagern. Jener felbftftändigen inneren Bildungskraft, 
welche der Materie felbft unmittelbar anhaftet, wirft eine zweite „ 
formbildende Kraft geradezu entgegen. Diefe äußere Geftal- 


300 Xeufere und innere Bildungekraft der Organismen und Anergene. 

tungskraft oder den äußeren Bildungstrieb können wir bei den 
Kryſtallen ebenfo gut wie bei den Organimen ald Anpaffung be 
zeichnen. Jedes Kryftallindividuum muß fi während feiner Ent 
ftebung ganz ebenfo wie jedes organifche Individuum den umgeben- 
den Einflüffen und Epiftenzbedingungen der Außenwelt unterwerfen 
und anpafien. In der That ift die Form und Größe eines jeden 
Kryſtalled abhängig von feiner gefammten Umgebung, 3. B. von dem 
Gefäß, in welchem die Kroftallifation ftattfindet, von der Temperatur 
und von dem Luftdrud, unter welchem der Kroftall fi bildet, von 
der Anweſenheit oder Abweſenheit ungleichartiger Körper u. ſ. w. 
Die Form jedes einzelnen Kryſtalles ift daher ebenfo wie die Form 
jedes einzelnen Organismus das Refultat der Gegenwirkung zweier 
einander gegenüber ftehender Faltoren, des inneren Bilbungätrie- 
bed, der durch die dhemifche Konſtitution der eigenen Materie ge- 
geben ift, und des äußeren Bildungstriebes, welcher durch die Ein- 
wirfung der umgebenden Materie bedingt iſt. Beide in Wechfel- 
wirkung ftehende Geſtaltungskraͤfte find im Organismus ebenfo wie 
{m Kroftall rein mechaniſcher Ratur, unmittelbar an dem Stoffe des 
Rörpers baftend. Wenn man das Wachsthum und die Geſtaltung 
der Organismen als einen Lebensprozeß bezeichnet, fo lann man bafr 
felbe eben fo gut von dem fi) bildenden Aryftall behaupten. Die 
teleologifche Raturbetrachtung, welche in den organifchen Formen zwed · 
mäßig eingerichtete Schöpfungsmafchinen erblidt, muß folgeridptiger 
Weife diefelben aud in den Kryſtallformen anertennen. Die Untere 
ſchiede, welche ſich zwiſchen den einfachiten organiſchen Individuen 
und den anorganiſchen Kryſtallen vorfinden, ſind durch den feſten 
Agaregatzuſtand ber lepteren, durch den feſtflüſſigen Zuſtand der 
erfteren bedingt. Im Webrigen find die bewirkenden Urſachen der 
Form in beiden vollftändig diefelben. Ganz befonder® Mar drängt 
ſich Ibnen diefe Ueberzeugung auf, wenn Sie die hödhft merhoür- 
digen Erſcheinungen von dem Wachsthum, der Anpaffung und der 
„Wedhfelbegiebung oder Gorrelation der Theile” bei den entitehenden 
Kroftallen mit den entfpreddenden Erſcheinungen bei der Entſtehung 


Einfeit ber organiſchen und anorganifden Ratur. 301 


der einfachften organifchen Individuen (Moneren und Zellen) verglei- 
en. Die Analogie zwiſchen Beiden ift fo groß, daß wirklich feine 
ſcharfe Grenze zu ziehen ift. In meiner generellen Morphologie habe 
ih hierfür eine Anzahl von ſchlagenden Thatſachen angeführt (Gen. 
Morph. I, 146, 156, 158). 

Wenn Sie diefe „Einheit der organifhen und anorga- 
niſchen Natur”, diefe wefentliche Nebereinftimmung der Organis« 
men und Anorgane in Stoff, Form und Kraft, ſich lebhaft vor Augen 
halten, wenn Sie fi) erinnern, daß wir nicht im Stande find, 
irgend welche fundamentalen Unterfehiede zwiſchen dieſen beiderlei 
Körpergruppen feftuftellen (wie fie früherhin allgemein angenommen 
wurben) , fo verliert die Frage von ber Urzeugung fehr viel von der 
Schwierigkeit, welche fie auf den erften Blick zu haben ſcheint. Es 
wird un® dann die Entwidelung des erften Organismus aus anor- 
ganifcher Materie als ein viel leichter denfbarer und verftändlicher 
Prozeß ericheinen, als es bisher der Fall war, wo man jene künft- 
liche abfolute Scheidewand zwifchen organifcher ober belebter und an⸗ 
organifcher ober lebloſer Natur aufrecht erhielt. 

Bei der Frage von der Urzeugung oder Archigonie, die 
wir jept beftimmter beantworten tönnen, erinnern Sie fi zunächft 
daran, daß wir unter biefem Begriff ganz allgemein die eltern- 
lofe Zeugung eines organifhen Individuums, die Ent- 
ſtehung eines Organismus unabhängig von einem elterlichen ober 
jeugenden Organismus verftehen. In diefem Sinne haben wir früher 
die Urgeugung (Archigonia) der Elternzeugung ober Fortpflanzung 
(Tocögonia) entgegengefeßt (©. 164). Bei ber Iepteren entfteht das 
organifche Individuum dadurch, daß ein größerer ober geringerer 
Theil von einem bereitd beftehenden Organismus ſich ablöft und 
felbftftändig weiter wächft (Gen. Morph. II, 32). 

Bon der Urzeugung, welde man auch oft al freiwillige ober 
urfprünglide Zeugung bezeichnet (Generatio spontanen, aequivoca, 
primaria ete.), müffen wir zunächft zwei wefentlich verfhiedene Ar« 
ten unterfcheiden, nämlich die Autogonie und die Pladmogonie, 


300 Aenfere und innere Bildungstroft der Orgenäßeren % 4 ie 


tungäfraft ober den äußeren — 198: 
Kryſtallen ebenfo gut wie bei den Organiag FF Fr 
zeichnen. Jedes Kryftallindividuum my“ f * n und 


ftehung ganz ebenfo wie jedes ung f£ 4 ‚Am 
den Einflüffen und Epiftengbedingr 7 £ 






und anpaffen. In ber That if z FH —* 
Kryſtalles abhängig von feiner £ 1 £ 27 fett 
Gefäß, in welchem bie np?’ 47* Z hen I 
und von dem Suftbrud, ° "5 € 5 euneih, Fe 
der Anweſenheit o) 8). " . 


Die Form jedes einy £ 
jedes einzelnen Orr 
einander gegenüf 


als der Plasmogonie iſt 
Sicherheit beobachtet. In älterer 
“ver die Möglichkeit oder Wirklichtkeit der 


erden u „ge und zum Tpeil aus) interejfante Berfuge 
8 deſe Gpperimente begehen fi fa fänmtih ig 


mi wire „‚gonie, ſondern auf die Pindmogonie, auf die Entfehung 
—* anismus aus bereits gebildeter organiſchtr Materie. Diffen- 
MM aber für unfere Schöpfungägeichihte diefer leptere Borgang 
‚in untergeordnetes Intereffe. Es fommt für uns vielmehr 
auf an, die Frage zu löfen: „Giebt es eine Autogomie? A 
# möglich, daß ein Organismus nicht aus vorgebildeter organifcher, 
[onbern aus rein anorganiſcher Materie entfteht?" Daber können wir 
vier auch ruhig alle jene zahfreichen Eyperimente, welche ſich nur auf 
die Plasmogonie beziehen, und in dem lepten Jahrzehnt mit ber 
fonderem Eifer betrieben worden find, bei Seite lafien; zu⸗ 
mals fie meiſt ein negatives Refultat hatten. Angenommen aus, 
«8 würde dadurch die Wirklichfeit der Pladmogonie ſtreng berviefen, 
fo wäre damit noch nicht die Autogonie erflärt. 

i Die Berfuche über Autogonie haben bis jept ebenfalls Bein fihe- 
res pofitive® Nefultat geliefert. Jedoch müſſen wir und von vom 
herein auf das beftimmtefte dagegen verwahren, daß durch diefe 6 
perimente die Unmöglichkeit der Urzeugung überhaupt nachgewieſen 


Beweidtraft der Verſuche über Urzeugung. 303 


eiſten Naturforſcher, welche beſtrebt waren, dieſe Frage 

iſcheiden, und welche bei Anwendung aller mög- 

‘ein unter ganz beftimmten Berhäftniffen feine 

“en, ftellten auf Grund diefer negativen Re- 

rauf: „Es ift überhaupt unmöglich, daß 

»lterlihe Zeugung, entftehen.” Diefe 

“ıptung ftügen fie einfach ımd allein 

“ ’mente, welche doc weiter Nichts 

oder jenen, hoͤchſt künftlichen 

‚perimentatoren gefchaffen wurden, 

. Dan tann auf feinen Fall aus jenen 

nens unter den unnatürlichften Bedingungen in 

-ı Weife angeftellt wurden, den Schluß ziehen, daß 

„gung überhaupt unmöglich fei. Die Unmöglichkeit eines 

„pen Borganges Tann überhaupt niemals bewieſen werden. Denn 

wie fönnen wir wiffen, daß in jener äfteften unvordenflichen Urzeit 

nicht ganz andere Bedingungen, als gegenwärtig, egiftirten, welche 

eine Uneugung ermöglichten? Ja, wir können fogar mit voller 

Sicherheit pojitiv behaupten, daß die allgemeinen Lebensbedingungen 

der Primordialzeit gänzlich von denen der Gegentart verſchieden ge» 

weien fein müffen. Denfen Sie allein an die Thatfadhe, daß die 

ungebeuren Maſſen von Kohlenftoff, welche wir gegenwärtig in den 

primären GSteintohlengebirgen abgelagert finden, erft durch die Thä- 
tigfeit des Pflangenlebens in fefte Form gebracht, und die mächtig _ 

zuſammengepreßten und verdichteten Ueberrefte von zahlloſen Pflan- 

jenleichen find, die ſich im Laufe vieler Millionen Jahre anhäuften. 

Allein zu der Zeit, als auf der abgefühlten Erdrinde nad) der Ent ⸗ 

fiehung des tropfbar-flüffigen Wafferd zum erften Male Organismen 

dur Urzeugung fidh bildeten, waren jene unermeßlichen Kohlenſtoff 

quantitäten in ganz anderer Form vorhanden, wahrſcheinlich größten“ 

theils in Form: von Kohlenfäure in der Amofphäre vertheilt. Die 

ganze Zufammenfegung ber Atmofphäre war alfo außerordentlich von 

der jegigen verfehieden. Ferner waren, wie ſich aus chemiſchen, phy⸗ 








302 Ureugang oder Archigonie. Autegonie · und Platmogonie. 

Unter Autogonie verſtehen wir die Entſtehung eines einfachſten 
organiſchen Individuums in einer anorganiſchen Bildungs- 
flüſſigkeit, d. h. in einer Flüſſigkeit, welche die zur Zufammen- 
ſetung des Organismus erforderlichen Grundſtoffe in einfachen und 
beftändigen Verbindungen gelöft enthält (z. B. Kohlenſäure, Am- 
moniat, binäre Sale u. ſ. w); Pladmogonie dagegen nennen 
wir die Urgengung dann, wenn der Organismus in einer organi« 
[hen Bildungsflüſſigkeit entſteht, d. h. in einer Klüffigkeit, 
welche jene erforderlichen Grundftoffe in form von verwidelten und 
Ioderen Koblenftoffverbindungen geldft enthält (3. B. Eiweiß, Bett, 
Kohlenhydraten x.) (Gen. Morph. I, 174; II, 33). 

Der Borgang der Autogonie ſowohl ald der Plasmogonie iſt 
bis jept noch nicht direft mit voller Sicherheit beobachtet. In älterer 
und neuerer Zeit hat man über die Möglichkeit oder Wirklichkeit der 
Vrgeugung fehr zahlreiche und zum Theil auch intereffante Verſuche 
angeftellt. Allein diefe Erperimente beziehen ſich faſt ſämmtlich nicht 
auf die Autogonie, fondern auf die Plasmogonie, auf die Entftehung 
eines Organismus aus bereit? gebildeter organifcher Materie. Dffen- 
bar hat aber für unfere Schöpfungägefchichte dieſer lehtere Borgang 
nur ein untergeordnetes Intereſſe. Es kommt für uns vielmehr 
darauf an, die Frage zu löfen: „Giebt es eine Autogomie? Iñt 
es möglich, daß ein Organismus nicht aus vorgebildeter organifcher, 
fondern aus rein anorganifcher Materie entfteht?" Daher können wir 
bier auch ruhig alle jene zahlreichen Eyperimente, welche fih nur auf 
die Pladmogonie beziehen, und in dem lepten Jahrzehnt mit be» 
fonderem Eifer betrieben worden find, bei Seite laſſen; zu ⸗ 
mals fie meift ein negatives Refultat hatten. Angenommen aud, 
es würde dadurch die Wirklichleit der Plasmogonie ftreng bewiefen, 
fo wäre damit noch nicht die Autogonie erklärt. 

Die Verſuche über Autogonie haben bis jept ebenfalls fein fiche- 
res pofitived Refultat geliefert. Jedoch müffen wir und von vom 
herein auf das beftummtefte Dagegen verwahren, daß durch diefe Ei⸗ 
perimente die Unmöglichfeit der Urgeugung überhaupt nachgewieſen 


Beweietraft der Verſuche über Urzeugung. . 303 


fei Die alfermeiften Naturforfcher, welche beftrebt waren, diefe Frage 
egperimentell zu entfcheiden, und welche bei Anwendung aller mög- 
lichen Vorſichtsmaßregeln unter ganz beftimmten Verhältniffen feine 
Drganiömen entftehen ſahen, ftellten auf Grund dieſer negativen Ne- 
fultate fofort die Behauptung auf: „Es ift überhaupt unmöglich, daß 
Drganismen von felbft, ohne elterlihe Zeugung, entftehen.” Diefe 
leigtfertige und unüberlegte Behauptung ftügen fie einfach und allein 
auf das negarive Refultat ihrer Epperimente, welche doc weiter Nichts 
beweifen fonnten, als daß unter diefen oder jenen, höchſt künftlichen 
Verhältniffen, wie fie dur die Eyperimentatoren geſchaffen wurden, 
fein Organismus fi bildete. Man kann auf feinen Fall aus jenen 
Berfuchen , welche meiften® unter den unnatürlichſten Bedingungen in 
hoͤchſt fünftlicher Weife angeftellt wurden, den Schluß ziehen, daß 
die Urzeugung überhaupt unmöglich fei. Die Unmöglichkeit eines 
folden Vorganges kann überhaupt niemals bewiefen werden. Denn 
wie fönnen wir wiflen, daß in jener äfteften unvordenklichen Urzeit 
nicht ganz andere Bedingungen, ald gegenwärtig, egiftirten, welde 
eine Uneugung ermöglichten? Ja, wir können fogar mit voller 
Sicherheit poſitiv behaupten, daß die allgemeinen Lebensbedingungen 
der Primordialzeit gänzlich von denen der Gegenwart verſchieden ge⸗ 
wefen fein müflen. Denten Sie allein an die Thatſache, daß die 
ungeheuren Maſſen von Kohlenſtoff, welche wir gegenwärtig in den 
primären Steintohlengebirgen abgelagert finden, erft durd die Thä- 
tigkeit des Pflanzenlebens in feſte Form gebracht, und die mächtig 
sufammengepreßten unb verdichteten Weberrefte von zahlloſen Pflan- 
zenleichen find, die fi im Laufe vieler Millionen Jahre anhäuften. 
Allein zu ber Zeit, als auf der abgefühlten Erdrinde nach der Ent 
ftehung des tropfbar-flüffigen Waſſers zum erften Male Organismen 
durch Urzeugung ſich bildeten, waren jene unermeßlichen Koplenftoff- 
quantitäten in ganz anderer Form vorhanden, wahrſcheinlich größten- 
theil® in Form von Kohlenfäure in der Atmofphäre vertheilt. Die 
ganze Zufammenfegung der Atmofphäre war alfo außerordentlich von 
der jegigen verkhieden. Werner waren, wie ſich aus chemifchen, phy⸗ 


304 ntfehung organiſcher Verbindungen außerhalb ber Organismen. 


filaliſchen und geologifhen Gründen ſchließen läßt, der Dichtigfeite- 
zuſtand und die eleftrifchen Berhältniffe der Atmofphäre ganz an- 
dere. Ebenſo war auch jebenfalls die chemiſche und phyfitalifche 
Beſchaffenheit ded Urmeered, welches damald als eine ummterbro- 
chene Wafferhülfe die ganze Erdoberfläche im Zufammenhang be ⸗ 
dedte, ganz eigenthümlich. Temperatur, Dichtigkeit, Salzgehalt u. ſ. w. 
müffen fehr von denen der jepigen Meere verſchieden geweſen fein. 
Es bleibt alfo auf jeden Fall für und, wenn wir au fonft Nichts 
weiter davon wiſſen, die Annahme wenigftend nicht beftreitbar, daß 
zu jener Zeit unter ganz anderen Bedingungen eine Urzeugung mög- 
lich gewefen fei, die heutzutage vielleicht nicht mehr mögfich ift. 
Run kommt aber dazu, daß durd) die neueren Fortſchritte der 
Chemie und Phyfiologie dad Räthfelhafte und Wunderbare, da8 zu- 
nächft der viel beftrittene und doch nothwendige Vorgang der Urzeu⸗ 
gung an fih zu haben fcheint, größtentheils ober eigentlich ganz zer⸗ 
flört worben iſt. Es ift noch nicht fünfzig Jahre her, daß ſaͤmmtliche 
"Chemifer behaupteten, wir feien nicht im Stande, irgend eine zufam- 
mengefepte Kohlenſtoffverbindung ober eine fogenannte „organifhe Ver- 
bindung“ Fünftlich in unferen Saboratorien herzuftellen. Nur die ıny- 
ſtiſche „Lebenskraft“ ſollte diefe Berbindungen zu Stande bringen Tön- 
nen. Als daher 1828 Wöhler in Göttingen zum erften Male dieſes 
Dogma thatfächlih wiberlegte, und auf künſtlichem Wege aus rein 
anorganifhen Körpern (Tyan- und Ammoniatverbindungen) den rein 
„organiſchen Harnſtoff darftellte, war man im höchften Grade erftaunt 
und überrafeht. In der neueren Zeit ift e8 num durch die Kortfchritte 
der fonthetifchen Chemie gelungen, derartige „organifche” Koblenftoff- 
verbindungen rein fünftlih in großer Mannicfaltigkeit in unferen La⸗ 
boratorien aus anorganifchen Subftanzen herzuftellen, 3. B. Altohol, 
Effigfäure, Ameifenfäure u. ſ. w. Selbft viele höchſt verwidelte Kob- 
tenftoffverbindungen werden jept fünftlich zufammengefegt, fo daß alle 
Ausfiht vorhanden ift, auch die am meiften zufammengefepten und zu · 
gleich die wichtigſten von allen, die Eimeißverbindungen oder Pladma- 
körper, früher oder fpäter künſtlich in unferen chemiſchen Werkätten 


Bebeutung der Moneren für die Urzeugung. 305 


zu ergeugen. Dadurch ift aber die tiefe Kluft zwiſchen organifchen 
und anorganifchen Körpern, die man früher allgemein fefthielt, größ- 
tentheil oder eigentlich ganz befeitigt, und für die Vorftellung der 
Urzeugung der Weg gebahnt. 

Bon noch größerer, ja don ber allergrößten Wichtigfeit für die 
Sypothefe der Urzeugung find endlich die höchſt merkwürdigen Mo- 
neren, jene ſchon vorher mehrfach erwähnten Lebeweſen, welche 
nicht nur die einfachften beobachteten, fondern auch überhaupt die 
denkbar einfachiten von allen Organismen find 15). Schon früher, als 
wir die einfahften Erfheinungen der Kortpflanzung und Vererbung 
unterfuchten, habe ich Ihnen diefe wunderbaren „Organismen 
ohne Drgane” befchrieben. Wir kennen jept fhon acht verfchie- 
dene Gattungen folder Moneren, von benen einige im füßen Wafler, 


andere im Meere leben (vergl. oben ©. 164 — 167, fowie Taf. I. 
und deren Erflärung im Anhang, ©. 663). In volllommen ausge " 


bifdetem und frei beweglihem Zuftande ftellen fie fämmtlich weiter 
Nichts dar, als ein ftrufturlofes Klümpchen einer eiweißartigen Koh⸗ 
ienftoffverbindung. Nur durd die Art der Fortpflanzung und Ent- 
widelung, ſowie der Nahrungsaufnahme, find die einzelnen Gattungen 
und Arten ein wenig verfchieden. Dur die Entdedung diefer Or- 
ganismen, die von der allergrößten Bedeutung ift, verliert die An- 
nahme einer Urzeugung den größten Theil ihrer Schwoierigteiten. Denn 
da denfelben noch jede Organifation, jeder Unterſchied ungleichartiger 
Theile fehlt, da alle Lebenserfcheinungen von einer und derfelben 
gleihartigen und formlofen Materie vollzogen werden , fo können wir 
uns ihre Entftehung durch Urzeugung fehr wohl denken. Geſchieht 
diefelbe durch Plasmagonie, ift bereit lebensfaͤhiges Plasma vor- 
banden, fo braucht daffelbe bloß ſich zu individualifiren, in gleicher 
Beife, wie bei der Kroftallbildung fi die Mutterlauge der Kryſtalle 
individualifirt. Gefchieht dagegen die Urgeugung der Moneren durch 
wahre Autogonie, fo ift dazu noch erforderlich, daß vorher jenes 
lebensfaͤhige Plasma, jener Urfchleim, aus einfacheren Koblenftoffver- 
bindungen fih bildet. Da wir jept im Stande find, in unferen 
deeael, Natürt. Shöpfungegeid. 5. Huf. 20 


306 Entſtehung der Moneren durch Urzeugung. 


chemiſchen Laboratorien ähnliche zufammengefepte Kohlenſtoffverbin ⸗ 
dungen kuͤnſtlich herzuſtellen, fo liegt durchaus fein Grund für die 
Annahme vor, daß nicht auch in der freien Ratur ſich Berhältniffe 
finden, unter denen ähnliche Verbindungen entftehen fönnen. So- 
bald man fräherhin die Borftellung der Urzeugung zu fallen ſuchte. 
feiterte man fofort am der organifhen Zufammenfegung auch der 
einfachften Organismen, welche man damals kannte. Erſt ſeitdem 
wir mit den hoͤchſt wichtigen Moneren befannt geworden find, erſt 
ſeitdem wir in ihnen Organismen kennen gelernt haben, welche gar 
nicht aus Organen zufammengefept find, welche bio aus einer ein- 
sigen chemifchen Verbindung beftehen, und dennoch wachen, ſich er- 
nähren und fortpflanzen, ift jene Hauptfchwierigfeit gelöft, und Die 
Hypothefe der Urzeugung hat dadurch denjenigen Grad von Wahr- 
feinlifeit gewonnen, welder fie berechtigt, die Lücke zwiſchen 
Kant'd Rodmogenie und Lamarck's Defcendenztheorie auszufüllen. 
Ed giebt fogar fhon unter den bis jept befannten Moneren eine Art, 
die vielleicht noch heutzutage beftändig durch Urzeugung entftcht. 
Das ift der wunderbare, von Huzley entdedie und befchriebene 
Bathybius Haeckelii. Wie id) ſchon früher erwähnte (©. 165), fin- 
det ſich diefed Moner in den größten Tiefen des Meere, zwiſchen 
12,000 und 24,000 Fuß, wo es den Boden theild in Form von 
nepförmigen Pladmafträngen und Geflechten, tbeil® in Form von 
unregelmäßigen größeren und fleineren Pladmaklumpen überzieht. 
Nur ſolche homogene, noch gar nicht differenzirte Organismen, 
welche in ihrer gleihartigen Zufammenfegung aus einerlei Theilchen 
den anorganifhen Kryſtallen gleichftehen, konnten durch Urzeugung ent 
ftehen, und konnten die Ureltern aller übrigen Organiämen werden. 
Bei der weiteren Entwidelung derfelben haben wir ald den wichtig · 
ſten Vorgang zunächft die Bildung eines Kernes (Nucleus) in dem 
ſtrutkturloſen Eiweißllümpchen anzuſehen. Diefe koͤnnen wir und rein 
phyſilaliſch als Verdichtung der innerften, centralen Eimeißtheilden 
vorftellen. Die dichtere centrale Maſſe, welche anfangs allmählich 
in das peripheriſche Plasma überging, fonberte ſich fpäter ganz von 





Entftefung der Bellen aus Moteren. 307 


diefem ab und bildete fo ein felbftftändiges rundes Eiweißkörperchen, 
den Kern. Durch diefen Vorgang ift aber bereit? au® dem Moner 
eine Zelle geworden. Daß nun die weitere Entwidelung aller übri- 
gen Organismen aus einer folhen Zelle feine Schroierigfeit hat, muß 
Ihnen aus den biherigen Vorträgen klar geworden fein. Denn jedes 
Thier und jede Pflanze ift im Beginn ihres individuellen Lebens eine 
einfache Zelle. Der Menſch To gut wie jedes andere Thier ift an« 
fangs weiter Nichts, ala eine einfache Eizelle, ein einziges Schleim- 
tlũmpchen, worin ſich ein Kern befindet (S. 170, Fig. 3). 

Ebenfo wie der Kern der organifchen Zellen durch Sonderung 
aus der inneren oder centralen Maſſe der urfprünglich gleichartigen 
Plasmatlũmpchen entftand, fo bildete fi) die erfte Zellbaut oder 
Membran an deren Oberfläche. Auch diefen einfachen, aber höchſt 
wichtigen Vorgang können wir, wie ſchon oben bemerkt, einfach phy- 
filaliſch erklären, entweder durch einen chemifchen Niederſchlag oder 
eine phufitalifcde Verdichtung in der oberfläglichften Rindenfchicht, ober 
duch eine Ausfcheidung. ine der erften Anpaffungsthätigkeiten, 
welche die durch Urzeugung entftandenen Moneren ausübten, wird 
die Verdichtung einer äußeren Rindenfchicht geweſen fein, welche ald 
ſchuͤende Hülle das weichere Innere gegen die angreifenden Einfluͤſſe 
der Außenwelt abſchloß. War aber erft durch Verdichtung der ho⸗ 
mogenen Moneren im Inneren ein Zellkern, an ber Oberfläche eine 
Zellhaut eniſtanden, fo waren damit alle die fundamentalen Formen 
der Baufteine gegeben, aus denen durch unendlih mannichfaltige 
Zufammenfepung ſich erfahrungsgemäß der Körper fänmtlicher höhe- 
en Organidmen aufbaut. 

Wie ſchon früher erwähnt wurde, beruht unfer ganzes Berftändniß 
ded Organismus weſentlich auf der von Schleiden und Shwann 
vor dreißig Jahren aufgeftellten Zellentheorie. Danach ift jeder 
DOrganidmus entweder eine einfache Zelle oder eine Gemeinde, ein 
Staat von eng verbundenen Zellen. Die gefammten Formen und 
Xebenderfgeinungen eines jeden Organismus find das Gefammtre- 
fultat der Formen und Lebenserſcheinungen aller einzelnen ihn zu⸗ 

20* 


308 Zellentheorie und Plaftidentkeorie. 


fammenfependen Zellen. Durd die neueren Fortſchritte der Zellen- 
lehre ift es nöthig geworben, die Elementarorganiamen oder die or- 
ganifhen „Individuen erfter Ordnung“, welche man gewöhnlich ala 
„Zellen“ begeichnet, mit dem allgemeineren und paffenberen Ramen 
der Bildnerinnen oder Plaftiden zu belegen. Wir unterfdei- 
den unter diefen Bildnerinnen zwei Hauptgruppen, nämlich Cytoden 
und echte Zellen. Die Eytoden find fernlofe Plasmaftüde, gleich 
den Moneren (S. 167, Fig. 1). Die Zellen dagegen find Plasına- 
ftüde, welche einen Kern oder Nucleus enthalten (S. 169, Fig. 2). 
Jede diefer beiden Hauptformen von Plaftiden zerfällt wieder in zwei 
untergeordnete Formgruppen, je nachdem fie eine äußere Umbüllung 
(Haut, Schale oder Membran) befigt oder nicht. Wir können dem- 
nad allgemein folgende Stufenleiter von vier verſchiedenen Plaftiden- 
arten unterfheiden: 1. Urcytoden (©. 167, Fig. 1A); 2. Hülf- 
cptoden; 3. Urzellen (6.169, Fig.2B); 4. Hüllzellen (S. 169, 
Fig. 2 A) (Gen. Morph. I, 269-289). 

Was das Berhältnig diefer vier Plaftidenformen zur Uneugung 
betrifft, fo ift folgendes das Wahrſcheinlichſte: 1. die Urcytoden 
(Gymnocytoda), nadte Plasmaftüde ohne Kern, glei den heute 
noch lebenden Moneren, find die einzigen Plaſtiden, welche ummittel- 
bar durch Urzeugung entftanden; 2. die Hüllcytoden (Lepocy- 
toda), Plasmaftüce ohne Kern, welche von einer Hülle (Membran 
oder Schale) umgeben find, entftanden aus den Urcytoden entweder 
durch Verdichtung der oberflächfichften Pladmafchichten oder durch Aus · 
ſcheidung einer Hülle, 3. die Urzellen (Gymnocyta) oder nadie 
Zellen, Plagmaftüde mit Kern, aber ohne Hülle, entftanden aus den 
Ureytoden Durch Verdichtung ber innerften Plasmatheile zu einem Kerne 
oder Nucleus, durch Differenzirung von centralem Kerne und peri« 
pherifchem Zellſtoff; 4. die Hüllzellen (Lepocyta) oder Hautzellem, 
Plasmaftüde mit Ken und mit äußerer Hülle (Membran oder Schale), 
entftanden entweder aus den Hüllcytoden durch Bildung eined Kemes 
oder aus den Urzellen durch Bildung einer Membran. Alle übrigen 
Formen von Bildnerinnen oder Plaftiden, welche außerdem noch vor · 


Die Plaſtidentheorie unb bie Urzeugungehypotheſe. 309 


fommen,, find erft nachträgfich durch natürliche Züchtung, durch Ab- 
ſtammung mit Anpaffung,, durch Differenzirung und Umbildung aus 
jenen vier Grundformen entftanden. 

Durch diefe Plafidentheorie, durch biefe Ableitung aller 
verſchiedenen Plaſtidenformen und fomit auch aller aus ihnen zufam- 
mengefeßten Organismen von den Moneren, kommt ein einfacher und 
natürlicher Zufammenhang in die gefammte Entwidelungstheorie. 
Die Entftehung der erften Moneren durch Urzeugung erſcheint uns 
als ein einfacher und notwendiger Borgang in dem Entwidelungd- 
progeß des Erdtorpers. Sch gebe zu, daß diefer Vorgang, fo lange 
er noch nicht direft beobachtet ober durch das Erperiment wiederholt 
if, eine reine Hypothefe bleibt. Allein ich wiederhole, daß diefe 
Hypotheſe für den ganzen Zufammenhang der natürlichen Schöpfungs- 
geſchichte unentbehrlich ift, daß fie an fich durchaus nichts Gezwun⸗ 
gened und Wunderbares mehr hat, und daß fie keinenfalls jemals 
pofitiv widerlegt werben fann. Auch ift zu berüdfichtigen, daß der 
Vorgang der Urzeugung,, felbft wenn er alltäglich und ftündli noch 
heute ftattfände, auf jeden Fall äußerft ſchwierig zu beobachten und 
mit untrügfiher Sicherheit als foldher feftzuftellen fein würde. Den 
heute noch lebenden Moneren gegenüber finden wir und aber in fol- 
gende Alternative verſetzt: Entweder flammen diefelben wirklich 
direft von den zuerft entftandenen oder „erſchaffenen“ älteſten Mo- 
neren ab, und dann müßten fie fih ſchon viele Millionen Jahre 
binburd) unverändert fortgepflangt und in der urfprünglichen Form 
einfacher Plasmaſtũckchen erhalten haben. Oder die heutigen Mo« 
neren find erft viel fpäter im Laufe der organifchen Erdgeſchichte durch 
wiederholte Urzeugungs-Alte entftanden, und dann kann die Urzeu⸗ 
gung ebenfo gut noch heute ftattfinden. Offenbar hat die leptere An- 
nahme viel mehr Wahrſcheinlichkeit für ſich ald die erftere. 

Benn Sie die Hypothefe der Urzeugung nicht annehmen, fo 
müfen Cie an diefem einzigen Punfte der Enttwidelungstheorie zum 
Wunder einer übernatürlihen Schöpfung Ihre Zuflucht neh- 
men. Der Schöpfer muß dann den erften Organismus oder bie wer 


310 Die Einheit der Natur und ber Naturgeſetze. 


nigen erften Organismen, von denen alle übrigen abflammen, jeden- 
falls einfachſte Moneren oder Urcytoden, als ſolche gefchaffen und ib- 
nen die Fähigkeit beigelegt haben, ſich in mechanifcher Weife weiter 
zu entwickeln. Sch überlaffe e8 einem Jeden von Ihnen, zwifchen die: 
fer Vorftellung und der Hypothefe der Urgeugung zu wählen. Mir 
ſcheint die Vorftellung, daß der Schöpfer an diefem einzigen Puntir 
willkürlich in den gefegmäßigen Entridelungdgang der Materie ein- 
gegriffen habe, der im Uebrigen ganz ohne feine Mitwirkung verläuft, 
ebenfo unbefriedigend für das gläubige Gemüth, wie für den wihlen- 
ſchaftlichen Verftand zu fein. Nehmen wir dagegen für die Entftehung 
der erften Organismen die Hypotbefe der Urzeugung an, welche aus 
den oben erörterten Gründen, in&befondere durch die Entdedung der 
Moneren, ihre frühere Schwierigkeit verloren hat, fo gelangen wir 
zur Herftellung eines ununterbrochenen natürlichen Zufammenhanges 
zwiſchen der Entwidelunf der Erde und der von ihr geborenen Drga- 
nismen, und wir erfennen auch in dem Tepten noch zweifelhaften Punkte 
die Einheit der gefammten Ratur und die Einheit ihrer 
Entwidelungdgefege (Gen. Morph. I, 164). 





Vierzehnter Vorteng. 


Wanderung und Berbreitung der Organismen. 
Die Chorologie und die Eiszeit der Erbe. 





Chorologifche Thatſachen und Urſachen. Einmalige Entſtehung ber meiften 
Arten an einem einzigen Orte: „Schöpfungsmittelpuntte”. Ausbreitung durch 
Wanderung. Aktive und paffive Wanderungen ber Thiere und Pflanzen. Trans- 
pertmittel. Transport der Keime durch Waſſer und Wind. Beſtandige Beränbe- 
tung ber Berbreitungsbezirte durch Hebungen und Senkungen des Bodens. Cho- 
rologiſche Bedeutung der geologiſchen Borgänge. Einfluß des Klima -Wechſels. Eis- 
zeit ober Glacial-Periode. Ihre Bedeutung für die Ehorofogie. Bedeutung der 
Wanderungen für die Entftehung neuer Arten. Sfolirung der Koloniften. Wag- 
ners „Migrationsgeſetz“. Berhältniß der Migrationstheorie zur Selectiondtheorie. 
Uebereinfiunung ihrer Folgerungen mit ber Deſcendenztheorie. 


Meine Herren! Wie ih fhon zu wiederholten Malen hervor- 
gehoben habe, wie aber nie genug betont werden fann, liegt der 
eigentliche Werth und die unüberwindliche Stärke der Deſcendenz⸗ 
theorie nicht darin, daß fie ums diefe oder jene einzelne Erſcheinung 
erläutert, fondern darin, daß fie und die Gefammtheit der biologi- 
fen Phänomene erklärt, daß fie una alle botanifhen und z00logi« 
ſchen Erſcheinungsreihen in ihrem inneren Zufammenhange verftänd- 
lich mat. Daher wird jeder dentende Forſcher um fo fefter und tie- 
fer von ihrer Wahrheit durchdrungen, je mehr er feinen Blid von ein- 
zelnen biologifchen Wahrnehmungen zu einer allgemeinen Betrachtung 
des Gefammtgebieted des Thier- und Pflanzenlebens erhebt. Laſſen 


312 Chorologiſche Thatſachen und Urſachen. 


Sie und nun jetzt, von dieſem umfaſſenden Standpunkt aus, ein bio- 
logiſches Gebiet überbliden, deffen mannichfaltige und verwidelte Er- 
ſcheinungen befonders einfach und lichtvoll durch die Selectiondtheorie 
erflärt werden. Ich meine die Chorologie ober die Lehre von der 
räumlichen Berbreitung der Organismen über die Erd- 
oberfläde. Darunter verftehe ich nicht nur die geographifche 
Verbreitung der Thier- und Pflanzenarten über die verſchiedenen Erd⸗ 
theile und deren Provinzen, über Feſtländer und Infeln, Meere und 
Flüſſe; fondern auch die topographifche Verbreitung berfelben in 
verticaler Richtung, ihr Hinauffteigen auf die Höhen der Gebirge, 
ihr Hinabfteigen in die Tiefen des Dceand (Gen. Morph. IL, 286). 

Wie Ihnen bekannt fein wird, haben die fonderbaren chorolo⸗ 
giſchen Erſcheinungsreihen, welche die horizontale Verbreitung der 
Organismen über die Erdtheile, und ihre verticale Verbreitung in 
Höhen und Tiefen darbieten, ſchon feit längerer Zeit allgemeines 
Intereſſe erwedt. In neuerer Zeit haben namentlih Alegander 
Humboldt ?°) und Frederid Schoum die Geographie der Pflan- 
gen, Berghaus und Schmarda die Geographie der Thiere in 
weiterem Umfange behandelt. Aber obwohl diefe und mande an« 
dere Naturforfcher unfere Kenntniffe von der Verbreitung der Thier« 
und Pflanzenformen vielfach gefördert und und ein weites Gebiet des 
Wiſſens voll wunderbarer und intereffanter Erfheinungen zugänglich 
gemacht haben, fo blieb doc die ganze Chorologie immer nur ein 
zerſtreutes Wiflen von einer Maffe einzelner Thatfahen. Eine 
Wiſſenſchaft konnte man fie nicht nennen, fo lange und die wirkenden 
Urſachen zur Erklärung dieſer Thatfachen fehlten. Diefe Urſachen 
hat und erft die Selectiondtheorie mit ihrer Lehre von den Wande- 
rungen der Thier- und Pflanzenarten enthüllt, und erft feit Dar- 
win und Wallace können wir von einer felbftftändigen dhorologi- 
ſchen Wiffenfhaft reden. . 

Wenn man die gefammten Erfheinungen der geographiſchen und 
topographiſchen Verbreitung der Organismen an und für ſich betrach ⸗ 
tet, ohne Rüdficht auf die altmählihe Entwidelung der Arten, und 


Einmalige Entſtehung jeder Art an einem Orte. 313 


wenn man zugleich, dem berfömmlichen Aberglauben folgend, die ein- 
zelnen Thier- und Pflanzenarten als jelbftftändig erſchaffene und von 
einander unabhängige Formen betrachtet, fo bleibt nichts anderes 
übrig, als jene Erfheinungen wie eine bunte Sammlung von un» 
begreiflichen und unerklärlihen Wundern anzuftaunen. Sobald man 
aber diefen niederen Standpunkt verläßt und mit ber Annahme einer 
Blutsverwandtſchaft der verfchiebenen Species fih zur Höhe der Ent- 
widelungötheorie erhebt, fo jällt mit einem Male ein vollftändig er- 
Märendes Licht auf jenes myſtiſche Wundergebiet, und wir fehen, daß 
fh alle jene Horofogifhen Thatſachen ganz einfah und leicht aus 
der Annahme einer gemeinfamen Abftammung ber Arten und ihrer 
paffiven und aktiven Wanderung verftehen laſſen. 

Der wichtigfte Grundfag, von dem wir in der Ehorologie aus⸗ 
gehen müffen, und von defien Wahrheit und jede tiefere Betrachtung 
der Selectiondtheorie überzeugt, ift, daß in der Regel jede Tpier- 
und Pflanzenart nur einmal im Lauf der Zeit und nur an einem 
Orie der Erbe, an ihrem fogenannten „Schöpfungsmittelpunfte”, 
durch natürliche Züchtung entſtanden ift. Ich theile dieſe Anſicht 
Dar win's unbedingt in Bezug auf die große Mehrzahl der höheren 
und volltommenen Organismen, in Bezug auf die allermeiften Thiere 
und Pflanzen, bei denen die Arbeitötheilung ober Differenzirung der 
fie zufammenfegenden Zellen und Organe einen gewiflen Grad er- 
reicht hat. Denn es ift ganz unglaublich, oder könnte doch nur durch 
einen höchft feltenen Zufall gefhehen, daß alle die mannichfaltigen 
und vermwidelten Umftände, alle die verfhiedenen Bedingungen bed 
Kampfes ums Dafein, die bei der Entftehung einer neuen Art durch 
natũrliche Züchtung wirkfam find, genau in berfelben Vereinigung 
und Verbindung mehr ald einmal in der Erdgeſchichte, ober gleich- 
zeitig an mehreren verſchiedenen Punkten ber Erdoberflaͤche zufammen 
gewirkt haben. 

Dagegen halte id) es für fehr wahrfcheinlich, daß gewiſſe hoͤchſt 
unvolllommene Organismen vom einfachften Bau, Speciesformen 
von höchft indifferenter Ratur, wie z. B. manche einzeflige Protiften, 


314 Die Schäpfungsmittelpuntte aber Uxheimathen. 
namentli aber die einfachften von allen, die Moneren, in ihrer fpe- 
tifiſchen Form mehrmals oder gleidyeitig an mehreren Stellen der 
Erde entſtanden feien. Denn die wenigen fehr einfachen Bedingum- 
gen, durch welche ihre fpecififche Form im Kampfe um's Dafein um- 
gebildet wurbe, können ſich wohl öfter im Laufe der Zeit, oder um- 
abhängig von einander an verſchiedenen Stellen der Erde wiederholt 
haben. Ferner können auch diejenigen höheren fpecififchen Formen, 
welche nicht durch natürliche Züchtung, fondern durch Baftardzeu- 
gung entftanden find, die früher erwähnten Baftardarten (©. 130, 
245) wiederholt an verfdiedenen Orten neu entftanden fein. Da 
und jedoch diefe verhältnigmäßig geringe Anzahl von Organismen 
bier vorläufig noch nicht näher intereffirt, fo können wir in choro⸗ 
logiſcher Beziehung von ihmen abfehen, und brauden bloß die Ber- 
breitung der großen Mehrzahl der Thier⸗ und Pflanzenarten in Ber 
tracht zu ziehen, bei denen die einmalige Entſtehung jeder 
Speciedan einemeinzigen Orte, anihrem fogenannten „Schd- 
Pfungamittelpunfte”, aus vielen wichtigen Gründen als hinreichend 
gefichert angefehen werden kann. 

Jede Thier- und Pflanzenart hat nun von Anbeginn ihrer Eri- 
ſtenz an das Streben befeffen, ſich über die befchräntte Lokalitäͤt ihrer 
Entftepung, über die Schranten ihre „Schöpfungsmittelpunftes” oder 
beffer gefagt ihrer Urheimath oder ihred Geburtsortes hinaus 
auszubreiten. Das ift eine nothwendige Folge der früher erörterten 
Bevdlterungd- und Uebervölterungsverhältniffe (©. 144, 228). Ie 
flärter eine Thier- oder Pflanzenart ſich vermehrt, defto weniger 
reicht ihr befehränfter Geburtsort für ihren Unterhalt aus, deſto befe 
tiger wird der Kampf um's Dafein, defto rafcher tritt eine Ueber- 
vdlferung der Heimath und in Folge deilen Auswanderung 
ein. Diefe Wanderungen find allen Organiömen gemeinfam und 
fie find die eigentliche Urſache der weiten Verbreitung der verſchide · 
nen Organismenarten über die Erdoberfläche. Wie die Menſchen aus 
den übervölferten Staaten, fo wandern Thiere und Pflanzen allge» 
mein aus ihrer überoöfterten Urheimath aus. 





Altive Wanderungen ber fliegenden Thiere. 315 

Auf die hohe Bedeutung diefer fehr interefianten Wanderungen 
der Organismen haben ſchon früher viele außgezeichnete Naturforſcher, 
indbefondere Lyell au), Schleiden u. A. wiederhoft aufmerkſam ge» 
macht. Die Trandportmittel, durch welche biefelben geſchehen, find 
äuferft mannichfaltig. Darwin hat diefelben im elften und zwölf- 
ten Kapitel feines Werts, welche der „geographifchen Verbreitung” 
ausſchließlich gewidmet find, vortrefflich erörtert. Die Transport 
mittel find theils aftive, theils paſſive; d. h. ber Organismus bewerk⸗ 
ftelligt feine Wanderungen theild durch freie Ortsbewegungen, die 
von ihm felbit auögeben, theil® durch Bewegungen anderer Natur 
törper, an denen er fi) nicht felbftthätig betheiligt. 

Die attiven Wanderungen fpielen felbfiverftändfih die 
größte Rolle bei den frei beweglichen Thieren. Je freier die Bewe⸗ 
gung eined Thiered nad allen Richtungen hin durch feine Organi« 
fation erlaubt ift, defto leichter kann diefe Thierart wandern, und 
defto rafcher fih über die Erde auöbreiten. Am meiften begünftigt 
find in diefer Beziehung natürlich die fliegenden Thiere, und ind» 
befondere unter den Wirbelthieren die Vögel, unter den Gliederthie⸗ 
ven die Inſekten. Leichter als alle anderen Thiere konnten ſich diefe 
beiden Klaſſen alsbald nach ihrer Entftehung über die ganze Erde 
verbreiten, und daraus erklärt fih auch zum Theil die ungemeine 
innere Einförmigteit, welche diefe beiden großen Thierklaſſen vor allen 
anderen außjeichnet. Denn obwohl diefelben eine außerordentliche 
Anzahl von verſchiedenen Arten enthalten, und obwohl die Infelten- 
Maffe allein mehr verfchiedene Species befigen foll, als alle übrigen 
Thiertlaſſen zufammengenommen, fo ftimmen dennod alle diefe un⸗ 
sähligen Inſektenarten, und ebenfo andererfeits bie verſchiedenen Bö- 
gelarten, in allen weſentlichen Eigenthümlichkeiten ihrer Drganifation 
ganz auffallend überein. Daher kann man fowohl in ber Klaſſe der 
Inſekten, als in derjenigen ber Vögel, nur eine fehr geringe Anzahl 
von größeren natürlichen Gruppen oder „Drbnungen” unterfcheiben, 
und diefe wenigen Orbnungen weichen im inneren Bau nur fehr 
wenig von einander ab. Die artenreihen Bögelorbnungen find fange 


316 Altive Wanderungen ber Thiere und Pflanzen. 


nicht fo weit von einander verſchieden, wie die viel weniger arten- 
reichen Ordnungen der Säugethierflaife, und die an Genera- und 
Speciedformen äußerft reichen Infektenordnungen ftehen fih im in- 
neren Bau viel näher, als die viel Meineren Drbnungen der Krebd- 
tlaſſe. Die durchgehende Parallele zwiſchen den Vögeln und Infel« 
ten ift auch in diefer foftematifchen Beziehung fehr intereffant; und 
die größte Bedeutung ihres Formenreichthums für die wiffenfchaft- 
liche Morphologie liegt darin, daß fie und zeigen, wie innerhalb des 
engften anatomifchen Spielraum®, und ohne tiefere Beränderungen 
der weſentlichen inneren Organiſation, bie größte Mannicfaltigkeit 
der äußeren Körperform erreidht werden kann: Dffenbar liegt ber 
Grund dafür in der fliegenden Lebensweiſe und in ber freieften Orts⸗ 
bewegung. In Folge deſſen haben ſich Bögel fowohl ald Inſekten 
fehr raſch über die ganze Erdoberfläche verbreitet, haben an allen 
möglichen, anderen Thieren unzugänglichen Lokafitäten ſich angefie- 
delt, und nun durch oberflädliche Anpaffung an beftimmte Local» 
verhaͤltniſſe ihre ſpecifiſche Form vielfach modifizirt. 

Nãchſt den fliegenden Thieren haben natürlich am rafcheften und 
meiteften ſich diejenigen ausgebreitet, die nächſtdem am beften wan- 
dern konnten, die beiten Läufer unter ben Landbewohnern, die beften 
Schwimmer unter ben Waſſerbewohnern. Das Vermögen derartiger 
aktiver Wanderungen ift aber nicht bloß auf diejenigen Thiere be 
ſchraͤnkt, welche ihr ganzes Leben hindurch ſich freier Ortöberegung 
erfreuen. Denn auch die feftfigenden Tpiere, wie z. B. die Korallen, 
die Röhrenwürmer, die Seefcheiden, die Seelilien, bie Taſcheln, die 
Rantentrebfe und viele andere niedere Thiere, die auf Seepflangen, 
Steinen u. dgl. feſtgewachſen find, genießen doc in ihrer Jugend we · 
nigften® freie Ortöberoegung. Sie alle wandern, ebe ſie ſich feit- 
fegen. Gewöhnlich ift der erfte frei bewegliche Jugendzuſtand derfel- 
ben eine jlimmernde Larve, ein rundliches Sörperden, welches 
mittelft eined Kleides von beweglichen Flimmerhaaren im Waſſer 
umherſchwaͤrmt und den Ramen Gaftrula führt. (Berg. ©. 443.) 

Aber nicht auf die Thiere allein ift dad Bermögen der freien 


Baffive Wanderungen der Thiere und Pflanzen. 317 


Ortsbewegung und fomit auch der aktiven Wanderung befchräntt, 
fondern felbft viele Pflanzen erfreuen ſich deſſelben. Viele niedere 
Bafferpflanzen, insbefondere aus der Tangklaſſe, ſchwimmen in ihrer 
erften Jugend, gleich den eben ermähnten niederen Thieren, mittelft 
eines beweglichen Flimmerkleides, einer ſchwingenden Geißel ober 
eines zitternden Wimperpelzes frei im Waſſer umher und fepen ſich 
erft fpäter feft. Selbft bei vielen höheren Pflanzen, die wir als 
triechende und kletternde bezeichnen, können wir von einer aktiven 
Wanderung ſprechen. Der langgeftredte Stengel oder Wurzelftod 
derfelben friecht oder Flettert während feines langen Wachsthums nach 
neuen Standorten und erobert fh mittelft feiner weitverzweigten Aefte 
einen neuen Wohnort, in dem er fid) durch Knospen befeftigt, und 
neue Kolonien von anderen Individuen feiner Art hervorruft. 

So einflußreih nun aber auch diefe aktiven Wanderungen ber 
meiften Thiere und vieler Pflanzen find, fo würden fie allein doch 
bei weiten nicht ausreichen, uns bie Chorologie der Organismen zu 
erflären. Vielmehr find bei weiten wichtiger und von ungleich grö- 
Herer Wirkung, wenigften® für die meiften Pflanzen und für viele 
Thiere, von jeher die paffiven Wanderungen gemwefen. . Solche 
paffive Ortöveränderungen werben durch äußerſt mannichfaltige Ur- 
ſachen hervorgebracht. Luft und Wafler in ihrer ewigen Bewegung, 
Wind und Wellen in ihrer mannichfaltigen Strömung fpielen dabei . 
die größte Rolle. Der Wind hebt allerorten und allerzeiten leichte 
Organismen, Heine Thiere und Pflanzen, namentlich aber die jugend- 
lichen Keime derfelben, Thiereier und Pflanzenfamen, in die Höhe, 
umd führt fie weithin über Land und Meer. Wo diefelben in das 
Waſſer fallen, werden fie von Strömungen oder Wellen erfaßt und 
nad anderen Orten bingeführt. Wie weit in vielen Fällen Baum- 
fämme, hartſchalige Früchte und andere ſchwer vermesliche Pflan ⸗ 
zentheile durch den Lauf der Flüffe und durd die Strömungen des 
Meeres von ihrer urfprünglihen Heimath weggeführt werben, ift 
aus zahlreichen Beifpielen bekannt. Palmenftämme aus Weſtindien 
werden durch den Golfftrom nad) den britiſchen und norwegiſchen 


318 Transport durch Wafler nad ſchwimmende Eitberge. 


Küften gebracht. Ale großen Ströme führen Treibholz aus den Ge- 
birgen und oft Alpenpflanzen aus ihrer Duellen-Heimath in die Ebe⸗ 
nen hinab und weiter bi® zu ihrer Ausmündung in da® Meer. 
Zwiſchen dem Wurzelivert diefer fortgetriebenen Pflanzen, zwiſchen 
dem Gezweige der fortgeſchwemmten Baumftämme fihen oft zahl⸗ 
reiche Bewohner derfelben,, welche an der paffiven Wanderung The 
nehmen müffen. Die Baumrinde ift mit Moos, Flechten und pa- 
raſitiſchen Infekten bededt. Andere Inſekten, Spinnen u. dergl, ſelbſt 
Meine Reptilien und Säugethiere, figen geborgen in dem hohlen 
Stamme oder halten ſich feit an den Zweigen. In der Exde, die 
zwiſchen die Wurzelfafern eingeflemmt ift, in dem Staube , welcher 
in den Rindenfpalten feftfigt, befinden ſich zahllofe Reime von Meine 
ven Thieren und Pflanzen. Landet nun der fortgetriebene Stamm 
glüdtih an einer fremden Küfte ober einer fernen Infel, fo können 
die Gäfte, welche an der unfreimilligen Reife Theil nehmen mußten, 
ihr Fahrzeug verlaffen und ſich in dem neuen Paterlande anfiebeln. 

Eine feltfame befondere Form diefed Waſſertransportes vermitteln 
bie ſchwimmenden Eißberge, die fid) alljährlih von dem ewigen Eife 
der Polarmeere ablöfen. Obwohl jene kalten Zonen im Ganzen fehr 
fpärlich bevölfert find, fo können doch manche von ihren Bewohnern, 
die fich zufällig auf einem Eisberge während feiner Ablöfung befan- 
den, mit demfelben von den Strömungen fortgeführt und an wärme» 
ven Küften gelandet werben. So ift fhon oft mit abgelöften Eis- 
blöden des nördlichen Eismeeres eine ganze Meine Bevöllerung von 
Thieren und Pflanzen nad den nördlichen Küften von Europa und 
Amerika geführt worden. Ya fogar einzelne Eisfüchſe und Eisbären 
find fo nah Island und den britifhen Infeln gelangt. 

Keine geringere Bedeutung als der Waflertransport, befigt für 
die paffiven Wanderungen der Qufttransport. Der Staub, der unfere 
Straßen und Dächer bededt, die Erdfrufte, welche auf trodenen Felr 
dern und ausgetrodneten Waſſerbeden fih findet, die leichte Humus- 
dede des Waldbodens, furz die ganze Oberfläche des trodenen Landes 
enthält Millionen von Meinen Organismen und von Keimen derfelben. 


Transport durch Wirbelwinde und Stürme. 319 


Biele von diefen Meinen Thieren und Pflanzen können ohne Schaden 
vollftändig austrodinen und erwachen wieder zum Leben, fobald fie 
befeuchtet werden. Jeder Windftoß hebt mit dem Staube unzählige 
folche kleine Lebeweſen in die Höhe und führt fie oft meilenweit nad 
anderen Orten hin. Aber auch größere Organismen, und namentlich 
Keime von folhen, tönnen oft weite paffive Zuftreifen machen. Bei 
vielen Pflanzen find die Samenkorner mit leichten Federkronen ver- 
feben, die wie Fallſchirme wirten und ihr Schweben in der Luft er⸗ 
leichtern, ihr Riederfallen erſchweren. Spinnen machen auf ihrem leich ⸗ 
ten Fadengefpinnfte, dem fogenannten „fliegenden Weiber- Sommer“, 
wmeilenweite Luftreifen. Junge Fröſche werden durch Wirbelwinde oft 
zu Taufenden in die Luft erhoben und fallen als fogenannter Froſch⸗ 
wegen” an einem entfernten Orte nieder. Bögel und Inſekten konnen 
durch Stürme über den halben Erdkreis tweggeführt werben. Sie fal- 
len in den vereinigten Staaten nieder, nachdem fie ſich in England er⸗ 
hoben hatten. In Kalifornien aufgeflogen, tommen fie in Ehina erft 
wieder zur Ruhe. Dit den Bögeln und Inſekten tönnen aber wieder 
viele andere Organidmen die Reife von einem Kontinent zum andern 
machen. Gelbftuerftändlih wandern mit allen Organismen die auf 
ihmen wohnenden Parafiten, deren Zahl Legion ift: die Flöhe, Läufe, 
Milben, Pie u. f. w. In der Erde, die oft zwiſchen den Zehen der 
Bögel beim Auffliegen hängen bleibt, fipen wiederum Meine Tiere 
und Pflanzen oder Keime von folhen. Und fo kann die freiwillige 
oder unfreiwillige Wanderung eined einzigen größeren Organismus 
eine feine Flora oder Fauna mit vielen verfdiedenen Arten aus 
einem Welttheil in den andern hinüber führen. 

Außer den angegebenen Trandportmitteln giebt e& nun auch noch 
viele andere, die die Verbreitung der Thier- und Pflanzen-Arten über 
weite Stredten der Erboberfläche, und insbefondere die allgemeine Ber- 
breitang der fogenannten fosmopofitifhen Species erklären. Doch 
würden wir uns hieraus allein bei weitem nicht alle chorologifchen 
Thatſachen erflären können. Wie kommt es z. B. daß viele Suͤßwaſ ⸗ 
ſerbewohner in zahlreichen, weit von einander getrennten und ganz ger 


320 Chorologiſche Bedeutung ber geelogiſchen Vorgänge. 
fonderten Flußgebieten oder Seen leben? Wie kommt es, daß vie 
Gebirg3bervohner, die in der Ebene gar nicht exiſtiren können, auf 
gänzlich getrennten und weit entfernten Gebirgäfetten gefunden wer- 
den? Daß jene Süßwafferbewohner die zwifchen ihren Waflergebie 
ten liegenden Landſtrecken, daß diefe Gebirgsbewohner die zwiſchen 
ihren Gebirgsheimathen liegenden Ebenen in irgend einer Weiſe altiv 
oder paffiv durchwandert hätten, ift ſchwer anzunehmen und in vielen 
Fällen gar nicht denkbar. Hier kommt und num al® mächtiger Bun- 
deögenofle die Geologie zur Hülfe. Sie löft und jene ſchwierigen 
Raͤthſel voltftändig. 

Die Entwidelungsgeſchichte der Erde zeigt und, daß die Berthei- 
fung von Land und Waffer an ihrer Oberfläche ſich in ewigem und un 
unterbrochenem Wechſel befindet. Ueberall finden in Folge von geolo- 
giſchen Beränderungen des Erdinnern, bald bier bald dort ftärfer vor- 
tretend oder nachlaſſend, Hebungen und Sentungen bed Bodend 
ftatt. Wenn biefelben auch fo fangfam gefchehen, da fie im Laufe 
des Jahrhunderts die Meerestüfte mur um wenige Zolle, oder felbt 
nur um ein paar Linien heben oder ſenken, fo bewirken fie doch im 
Laufe langer Zeiträume erftaunfiche Refultate. Und an langen, on 
unermeßlih langen Zeiträumen hat es in der Erdgeſchichte niemals 
gefehlt. Im Laufe der vielen Millionen Jahre, feit ſchon organi ⸗ 
ſches Leben auf der Exde eriftirt, haben Sand und Meer ſich befän- 
dig um die Herrſchaft geſtritten. Kontinente und Infeln find umter 
Meer verfunten, und neue find aus feinem Schooße emporgefiegen. 
Seen und Meere find langfam gehoben worden und auögetrodnet, 
und neue Waflerbedten find durch Senfung des Bodens entſtanden 
Halbinfeln wurden zu Infeln, indem die ſchmale Landzunge, die fit 
mit dem Feſtlande verband, unter Waffer fant. Die Inſein eines 
Ardipelagus wurden zu Epipen einer zufammenhängenden Gebitze 
fette, wenn der ganze Boden ihred Meeres bedeutend gehoben wurde 

So war einft das Mittelmeer ein Binnenfee, als noch an Etelt 
der Gibraltarftraße Afrika durch eine Landenge mit Spanien yufam- 
menbing. England hat mit dem europäifchen Fefllande floh wib- 


Geologiſche Veränderung ber geographiſchen Grenzen. 321 


menb der neueren Erdgeſchichte, als ſchon Menſchen eriftirten, wieder⸗ 
holt zuſammengehangen und iſt wiederholt davon getrennt worden. 
Ja fogar Europa und Nordamerika haben unmittelbar in Zuſam⸗ 
menbang geftanden. Die Sübfee bildete einft einen großen paci« 
fiſchen Kontinent, und die zahllofen feinen Infeln, die heute in der- 
felben zerftreut fiegen, waren bloß die höchften Kuppen der Gebirge, 
die jenen Kontinent bededten. Der indifhe Dcean eriftirte in Form 
eined Kontinents, der von ben Sunda-Inſeln längs des füblichen 
Afiens fi bis zur Ofttüfte von Afrika erftredte. Diefer einftige große 
Kontinent, den der Engländer Sclater wegen der für ihn charak⸗ 
teriftifchen Halbaffen Lemuria genannt hat, ift zugleich von großer 
Bedeutung als die wahrfcheinliche Wiege des Menfchengefchlechts, 
das bier fi vermuthlich zuerft aus anthropoiden Affen hervorbil- 
dete. . Ganz beſonders intereffant ift aber ber wichtige Nachweis, 
welchen Alfred Wallace>s) mit Hülfe horologifher Thatſachen 
geführt hat, daß der heutige malayifche Archipel eigentlich aus zwei 
ganz verfhiedenen Abtheilungen befteht. Die weſtliche Abtheilung, 
der indo-malayifche Archipel, umfaßt bie großen Inſeln Borneo, 
Java und Sumatra, und hing früher durch Malakta mit dem afia- 
tifchen Feſtlande und wahrſcheinlich aud mit dem eben genannten 
Remurien zufammen. Die öftliche Abtheilung dagegen, der auftral- 
malayifche Archipel, Celebes, die Molulten, Reuguinea, die Salo- 
mon?» Inſeln u. f. w. umfaffend, ftand früherhin mit Auſtralien in 
unmittelbarem Zufammenhang. Beide Abtheilungen waren vormals 
wei durch eine Meerenge getrennte Kontinente, find aber jept größten- 
theils unter den Meereöfpiegel verfunten. Die Rage jener früheren 
Meerenge, deren Südende zwiſchen Bali und Lombok hindurch gebt, 
hat Wallace blog auf Grund feiner genauen chorologiſchen Beob- 
achtungen in der fharffinnigften Weiſe feit zu beftimmen vermocht. 

So haben, ſeitdem tropfbar-flüffige® Waffer auf der Erde exiſtirt, 
die Grenzen von Wafler und Land fi) in ewigem Wedhfel verändert, 
und man fann behaupten, daß bie Umriffe ber Kontinente und In« 


fein nicht eine Stunde, ja nicht eine Minute hindurch fid jemals gleich 
Herdel, Ratürt. Etäpfungegeiä. 5. Auf. 21 


322 Chorologiſche Bedeutung ber geologifchen Vorgänge. 


geblieben find. Denn ewig und ununterbrochen nagt die Brandung 
an dem Eaume der Küften; und was dad Land an diefen Stellen 
beftändig an Ausdehnung verliert, das gewinnt ed an anderen Stellen 
durch Anhäufung von Schlamm , der fi) zu feitemi Geſtein verdichtet 
und wieder über den Meereöfpiegel ald neues Land ſich erhebt. Nichts 
fann irriger fein, ald die Borftellung von einem feften und unverän- 
derlichen Umriffe unferer Kontinente, wie fie uns in früher Jugend 
ſchon durch unferen mangelhaften, der geologifchen Baſis entbehrenden 
geographifchen Unterricht eingeprägt wird. 

Nun brauche ih Sie wohl kaum noch darauf aufmerkfam zu 
machen , wie äußerft wichtig von jeher diefe geologifchen Beränderun- 
gen ber Erdoberfläche für die Wanderungen der Organismen und in 
Folge deffen für ihre Chorologie geweſen fein müflen. Wir lernen 
dadurch begreifen, wie Diefelben oder ganz nahe verwandte Thier- und 
Pflanzen-Arten auf verſchiedenen Inſeln vortommen können, obwohl 
fie nicht dad Waſſer zwifchen denfelben durchwandern können, und wie 
andere, das Suͤßwaſſer bewohnende Arten in verſchiedenen geſchloſ- 
fenen Seebeden wohnen fönnen, obgleich fie nit das Land zwiſchen 
denfelben zu überfepreiten vermögen. Jene Infeln waren früher Berg- 
fpigen eined zufammenhängenden Feſtlandes, und diefe Seen ftanden 
einſtmals in unmittelbarem Zufammenhang. Durch geologifhe Sen- 
fung wurden die erfteren, durch Hebung bie lepteren getrennt. Wenn 
wir num ferner bedenken, wie oft und wie ungleihmäßig an den ver- 
ſchiedenen Stellen der Erde folche wechfelnde Hebungen und Sentun- 
gen ftattfanden und in Folge deffen die Grenzen der geogtaphiſchen 
Verbreitungäbegirte der Arten ſich veränderten, wenn wir bedenken, 
mie außerordentlich mannichfaltig dadurch die aktiven und paſſiven 
Wanderungen der Organismen beeinflußt werden mußten, fo lemen 
wir vollftändig die bunte Mannichfaltigteit des Bildes begreifen, wel- 
ches uns gegenwärtig die Vertheilung der Thier- und Pflanzen - Ar- 
ten darbietet. 

Noch ein anderer wichtiger Faktor ift aber bier hervorzuheben, 
der ebenfalls für die volle Erklärung jenes bunten geograpbifchen Bil- 


Chorologifche Bebentung des irbifcen Klimawechſels. 323 


des von großer Bedeutung ift, und manche fehr dunkle Thatfachen 
aufhellt, die wir ohme ihm nicht begreifen würden. Das ift nämlich 
der allmählihe Klima» Wechfel, welcher während des langen Ver⸗ 
lauf der organiſchen Erdgefchichte ftatigefunden hat. Vie wir ſchon 
im vorhergehenden Vortrage geſehen haben, muß beim Beginne des 
organiſchen Lebens auf der Erde allgemein eine viel höhere und gleich“ 
mäßigere Temperatur geherrfcht haben, als gegenwärtig ftattfindet. Die 
Zonen « Unterſchiede, die jept ſehr auffallend hervortreten, fehlten da- 
mals noch gänzlih. Wahrſcheinlich viele Millionen Jahre hindurch 
herrſchte auf der ganzen Erde ein Klima, welches dem heifeften Tro- 
penflima der Septzeit nahe ftand oder daſſelbe noch übertraf. Der 
hoͤchſte Norden, bis zu welchem der Menſch jeßt vorgedrungen ift, 
war damald mit Palmen und anderen Tropengewächlen bedeckt, de⸗ 
ten verfteinerte Reſte wir noch jeßt dort finden. Sehr langfam und 
allmählich nahm fpäterhin diefes Klima ab: aber immer noch blie- 
ben die Pole fo warm, daß die ganze Erdoberfläche für Drganis- 
men bewohnbar war. Erft in einer verhältnigmäßig fehr jungen 
Periode der Erdgefchichte, nämlich im Beginn der Tertiärzeit, er- 
folgte, wie e8 ſcheint, die erfte wahrnehmbare Abkühlung der Erd- 
rinde von den beiden Polen her, und fomit die erfte Differenzirung 
oder Sonderung verfchiedener Temperatur» Gürtel oder klimatiſcher 
Zonen. Die langfame und allmählihe Abnahme der Temperatur 
bildete fi nun innerhalb der Tertiärperiode immer weiter auß, bie 
zuleßt an beiden Polen der Erde das erfte Eid entftand. 

Wie wichtig dieſer Klima-Wechfel für die geographifche Verbrei⸗ 
tung der Organismen und für die Entftehung zahlreicher neuer Arten 
werden mußte, braucht faum ausgeführt zu werden. Die Thier- und 
Pflanzen - Arten, die bis zur Tertiärzeit hin überall auf der Erde bis 
zu den Polen ein angenehmes tropifhes Klima gefunden hatten, wa⸗ 
ten nunmehr geziwungen, entweder ſich der eindringenden Kälte an⸗ 
zupaſſen oder vor derfelben zu fliehen. Diejenigen Species, welche 
ſich anpaßten und an die ſinkende Temperatur gemöhnten, wurden 
durch diefe Acclimatiſation felbft unter dem Einfluffe der natürlichen 

21* 





324 Die Eidʒeit oder Glacialperiode. 


Züchtung in neue Arten umgewandelt. Die anderen Arten, welche 
vor der Kälte flohen, mußten auswandern und in nieberen Breiten 
ein milderes Klima ſuchen. Dadurch mußten die biöherigen Ber- 
breitung3+ Bezirke der Arten gewaltig verändert werden. 

Run blieb aber in dem legten großen Abfchnitte der Exdgefchichte, 
in ber auf die Tertiärgeit folgenden Duartär- Periode (oder in der 
Diluvial « Zeit) die Wärme - Abnahme der Erde von den Polen ber 
teineswegs ftehen. Vielmehr ſank die Temperatur nun tiefer und tie- 
ter, ja felbft weit unter den heutigen Grad herab. Das nördliche 
und mittlere Afien, Europa und Rord-Amerifa bededte ſich vom Rord- 
pol her in großer Ausdehnung mis einer zufammenhängenden Eis 
dede, welche in unferem Erbtheile bis gegen die Alpen gereicht zu haben 
ſcheint. In ähnlicher Weife drang auch vom Cübpol her die Kälte 
vor, und überjog einen großen, jept eisfreien Theil ber füblichen 
Halbkugel mit einer ftarren Eißdede. So blieb zwiſchen diefen gewal · 
tigen febentöbtenden Eißfontinenten nur noch ein ſchmaler Gürtel 
übrig, auf welchen das Leben der organiſchen Welt ſich zurüdziehen 
tonnte. Diefe Periode, während welcher der Menſch oder menigften® 
der Affenmenfch bereit® eriftirte, und welche den erften Hauptabſchnitt 
der fogenannten Diluvialzeit bildet, ift jept allgemein unter dem 
Ramen der Eiszeit oder Glacialperiode befannt und berühmt. 

Der erfte Raturforfcher, der den Gedanten der Eißjeit Mar er- 
faßte und mit Hülfe der fogenannten Wanderblöde ober erratifchen 
Steinblöde, forie der „Gletfcher-Schliffe” die große Ausdehnung der 
früheren Bergletfcherung von Mittel-Europa nachwies, war der geift- 
volle Karl Schimper. Bon ihm angeregt, und durch die felbftftän- 
digen Unterfuchungen des ausgezeichneten Geologen Charpentier 
bedeutend gefördert, unternahm es fpäter der Schweiger Naturforſcher 
Louis Agaffiz, die Theorie von der Eiszeit weiter außzuführen. 
In England machte fi) befonderd der Geologe Forbes um fie ver · 
dient, und verwerthete fie auch bereits für die Theorie von den Wan- 
derungen und der dadurch bebingten geographifden Verbreitung der 
Arten. Agaffiz hingegen ſchadete fpäterhin der Theorie durch einſei · 


Chorologiſche Bebeutung der Glacialperiobe. 325 


tige Uebertreibung, indem er, der Rataftrophen-Theorie Cuvier’s zu 
Liebe, durch die plöplich hereinbrechende Kälte der Eiszeit und bie da- 
mit verbundene „Revolution“ den gänzlichen Untergang der damald 
lebenden Schöpfung erklären wollte. 

Auf die Eißgeit felbft und die fcharffinnigen Unterfuhungen über 
ihre Grenzen näher einzugehen, habe id) hier feine Beranlaffung, und 
fann um fo mehr darauf verzichten, als die ganze neuere geologiſche 
Literatur davon voll ift. Sie finden eine ausführliche Erörterung der- 
felben vorzüglich in den Werken von Eotta°!),Ryell?),Bogt??), 
Zittel®®) u.f.w. Für uns ift hier nur das hohe Gewicht von Be- 
deutung, welches fie für die Erklärung der ſchwierigſten chorologiſchen 
Probleme befigt, und welches von Darwin fehr richtig erfannt wurde. 

Es kann nämlich feinem Zweifel unterliegen, daß diefe Verglet⸗ 
ſcherung der heutzutage gemäßigten Zonen einen außerordentlich be ⸗ 
deutenden Einfluß auf die geographiſche und topographifche Berthei- 
lung der Organismen ausüben und dieſelbe gänzlich umgeftalten 
mußte. Während die Kälte langfam von den Polen her gegen den 
Aequator vorrüdte und Land und Meer mit einer zufammenhängen- 
den Eisdede überzog, mußte fie natürlich die ganze lebende Organid- 
men-Welt vor ſich her treiben. Thiere und Pflanzen mußten aus- 
wandern, wenn fie nicht erfrieren wollten. Da nun aber zu jener 
Zeit vermuthlich die gemäßigte und die Tropenzone bereits nicht wer 
niger Dicht als gegenwärtig mit Pflanzen und Thieren bevöffert gewe · 
fen fein wird, fo muß ſich zwiſchen dieſen und den von den Polen 
ber kommenden Eindringlingen ein furchtbarer Kampf um's Dafein 
erhoben haben. In diefem Kampfe, der jedenfall® viele Jahrtaufende 
dauerte, werben viele Arten zu Grunde gegangen, viele Arten abge- 
ändert und zu neuen Species umgebilbet worden fein. Die bisheri⸗ 
gen Berbreitungäbezirte der Arten aber mußten völlig verändert wer⸗ 
den. Und diefer Kampf muß aud dann noch fortgedauert haben, ja 
er muß von Reuem entbrannt, und in neuen Formen weiter geführt 
worden fein, als die Eißzeit ihren Höhenpuntt erreicht und überfchrit- 
ten hatte, und als nunmehr in der poftglacialen Periode die Tempe- 


326 Chorologiſche Bedeutung der Glacialperiode. 
ratur wieder zunahm und die Organismen nad) den Polen Hin zurüd- 
zuwandern begannen. 

Jedenfalls ift Diefer gewaltige Klimawechſel. mag man fonft dem- 
felben eine größere oder eine geringere Bedeutung zufchreiben, eines 
derjenigen Ereigniffe in der Erdgefchichte, die am bedeutendften auf 
die Bertheilung der organijchen Formen eingewirtt haben. Rament- 
lich wird aber ein fehr wichtige® und ſchwieriges chorologiſches Ver⸗ 
hältniß dadurch in der einfachften Weile erflärt: das ift bie ſpeciſiſche 
Uebereinftimmung vieler unferer Alpenbewohner mit vielen Bewoh ⸗ 
nern der Polarländer. Es giebt eine große Anzahl von ausgezeichne ⸗ 
ten Thier- und Pflanzen Formen, die diefen beiden, weit getrenn- 
ten Erdgegenden gemeinfam find und nirgends in dem weiten, ebenen 
Zwiſchenraume zwifchen beiden gefunden werden. Eine Wanderung 
derfelben von den Polarländern nach den Alpenhöhen oder umgekehrt 
vwoäre unter den gegenwärtigen klimatiſchen Verhältniſſen undenkbar 
oder doch hoͤchſtens nur in wenigen feltenen Fällen anzunehmen. Cine 
ſolche Wanderung konnte aber ftattfinden, ja fie mußte ftattfinden 
während des allmählichen Eintritte® und Rüczuges der Eiszeit. Da 
die Bergletfherung von Nord-Europa bis gegen unfere Alpentette vor- 
drang, fo werden die davor zurüdweichenden Polarbewohner, Gen- 
tianen und Sazifragen, Eisfüchſe und Schneehafen, damals unfer 
deutfche® Baterland und überhaupt Mitteleuropa bevöltert haben. 
Als nun die Temperatur wieder zunahm, zog ſich nur ein Theil die ⸗ 
fer arttifchen Bevölkerung mit dem zurüdweichenden Eife in die Po- 
farzone wieder zurüd. in anderer Theil derfelben ftieg ftatt deſſen 
an.den Bergen der Alpenkette in die Höhe und fand hier das ihm zu- 
fagende kalte Klima. So erklärt fih ganz einfach jenes Problem. 

Wir haben die Lehre von den Wanderungen der Organismen 
oder die Migrationdtheorie bisher vorzüglich infofern verfolgt, 
als fie und die Ausftrahlung jeder Thier- und Pflanzenart von einer 
einzigen Urheimath, von einem „Schöpfungsmittelpunfte” aus erklärt, 
und ihre Ausbreitung über einen größeren oder geringeren Theil der 
Erdoberfläde erläutert. Nun find aber die Wanderungen der Thiere 


Entfiehung neuer Arten durch Wanderung. 327 


und Pflanzen für die Entwidelungstheorie aud noch außerdem des⸗ 
bald von großer Bedeutung, weil wir darin ein fehr wichtiges Hülfe- 
mittel für die Entftehung neuer Arten erbliden müflen. Wenn 
Ihiere und Pflanzen auswandern, fo treffen fie, ebenfo wie aus⸗ 
wandernde Menfhen, in der neuen Heimath Berhältniffe an, bie 
mehr oder weniger von den gewohnten, Generationen hindurch er- 
erbten, Eriftengbedingungen verfchieden find. Diefen neuen, unge» 
wohnten Lebensbebingungen müffen fi die Auswanderer entweder 
fügen und anpaffen, oder fie gehen zu Grunde. Durch die Anpaf- 
fung feloft wird aber ihr eigenthuͤmlicher, fpecififcher Charakter ver- 
ändert, um fo mehr, je größer der Unterſchied zwifchen der neuen 
und der alten Heimath if. Das neue Klima, die neue Nahrung, 
vor Allem aber die neue Nachbarſchaft der Thiere und Pflanzen wirft 
auf den ererbten Charakter der eingewanderten Specied umbildend 
ein, und wenn diefelbe nicht zäh genug ift, diefen Einflüffen zu 
wiberftehen, fo muß früher ober fpäter eine neue Art daraus her 
vorgehen. In den meiften Fällen wird diefe Umformung der ein- 
gewanderten Specied unter dem Einfluffe des veränderten Kampfes 
um's Dafein fo raſch vor ſich geben, daß ſchon nad) wenigen Ger 
nerationen eine neue Art daraus entftanden ift. 

Bon befonderer Bedeutung ift in diefer Beziehung die Wande- 
rung für alle Organismen mit getrennten Geſchlechtern. Denn bei 
biefen wird die Entftehung neuer Arten durch natürliche Züchtung 
immer dadurch erſchwert oder verzögert, daß fich die variirenden Ab- 
tömmlinge gelegentlich wieder mit der unveränderten Stammform 
geſchlechtlich vermiſchen, und fo durch Kreuzung in die urfprüngliche 
Form zurüdiglagen. Wenn dagegen ſolche Abarten ausgewandert 
find, wenn fie durch weite Entfernungen ober durch Schranten der 
Wanderung, durd Meere, Gebirge u. f. w. von der alten Heimath 
getrennt find, fo ift die Gefahr einer Vermiſchung mit der Stamm- 
form aufgehoben, und die Sfolirung der ausgewanderten Form, die 
durch Anpaſſung in eine neue Art übergeht, verhindert ihre Kreu⸗ 
zung und dadurch ihren Rüdfchlag in die Stammform. 


328 Entftehung neuer Arten durch Wanderung. 


Diefe Bedeutung der Wanderung für die Ifolirung der neu ent- 
ftehenden Arten und die Berhütung baldiger Rückkehr in die Stamm- 
formen ift vorzüglich von dem geiftreihen Reifenden Morip Wag- 
ner in Münden hervorgehoben worden. In einem befonderen Schrift- 
hen über „Die Darwin ſche Theorie und das Migrationdgefep der Or- 
ganismen“ +9) führt Wagner auß feiner eigenen reihen Erfahrung 
eine große Anzahl von treffenden Beifpielen an, welche die von Dar« 
win im elften und zwölften Kapitel feines Buches gegebene Migra- 
tionätheorie beftätigen, und welche ganz befonder® den Rupen der 
völligen Iſolirung der ausgewanderten Organismen für die Entftehung 
neuer Species erörtern. Wagner faßt bie einfachen Urfachen, „welche 
die Form räumlich abgegrenzt und in ihrer typiſchen Berfchiedenheit 
begründet haben“ in folgenden drei Sägen zufammen: „1. Je größer 
die Summe der Veränderungen in den bißherigen Lebensbedingungen 
ift, welche emigrirende Individuen bei Einwanderung in einem neuen 
Gebiete finden, defto intenfiver muß die jedem Organismus inne 
wohnende Bariabilität fih äußern. 2. Je weniger dieſe gefteigerte 
individuelle Veränderlichkeit der Organismen im ruhigen Fortbildung®- 
prozeß durch die Bermifchung zahlreicher nachrüdender Einwanderer 
der gleichen Art geftört wird, deſto häufiger wird der Natur durch 
Summirung und Vererbung der neuen Merkmale die Bildung einer 
neuen Varietät (Abart oder Raffe), d. i. einer beginnenden Art, ger 
lingen. 3. Je vortheilhafter für die Abart die in den einzelnen Or⸗ 
ganen erlittenen Veränderungen find, je beſſer Ieptere den umgeben« 
den Verhaͤltniſſen fi anpafien, und je länger die ungeftörte Züch- 
tung einer beginnenden Barietät von Koloniften in einem neuen Ter- 
ritorium ohne Mifhung mit nadprüdenden Einwanderern derfelben 
Art fortdauert, defto häufiger wird aus der Abart eine neue Art 
entftehen.“ 

Diefen drei Sägen von Morip Wagner fann eber beiftim- 
men. für vollkommen irrig müffen wir dagegen feine Vorſtellung 
halten, daß die Wanderung und bie darauf folgende Iſolirung der 
ausgewanderten Individuen eine nothwendige Bedingung für die 





Moritz Wogner’s Bigrationegefeh. 329 
Entftehung neuer Arten fei. Wagner fagt: „Ohne eine lange Zeit 
dauernde Trennung der Roloniften von ihren früheren Artgenoffen 
tann die Bildung einer nenen Raſſe nicht gelingen, kann die Zucht» 
wahl überhaupt nicht ftattfinden. Unbefchräntte Kreuzung, ungehin- 
derte geſchlechtliche Bermifhung aller Individuen einer Species wird 
ſtets Gleichförmigfeit erzeugen und Varietäten, deren Merkmale nicht 
durch eine Reihe von Generationen figirt worden find, wieder in 
den Urſchlag zurädtogen.“ 

Diefen Sag, in welchem Wagner felbft das Hauptrefultat feir 
ner Arbeit zufammenfaßt, würde er nur in dem falle überhaupt 
vertheibigen können, wenn alle Organismen getrennten Geſchlechts 
wären, wenn jebe Entftehung neuer Individuen nur durch Vermi⸗ 
(hung männlicher und weiblicher Individuen möglich wäre. Das ift 
num aber durchaus nicht der Fall. Merkwürdiger Weife fagt Wag- 
ner gar Nichts von den zahlreichen Zwittern, die, im Befig von bei- 
derlei Geſchlechtsorganen, der Selbſtbeftuchtung fähig find, und ebenfo 
Nicht? von den zahllofen Organismen, die überhaupt noch nicht ges 
ſchlechtlich differenzirt find. 

Nun hat e8 aber feit frühefter Zeit der, organifchen Erdgeſchichte 
taufende von Organißmenarten gegeben, und giebt deren taufende 
noch heute, bei denen noch gar fein Geſchlechtsunterſchied, überhaupt 
noch gar feine geſchlechtliche Fortpflanzung vorfömmt, und die fi 
ausſchließlich auf ungefchlechtlihem Wege, durch Theilung, Knospung, 
Sporenbildung u. ſ. w. fortpflanzen. Die ganze große Maſſe der 
Protiſten, die Moneren, Amoeboiden, Myromyceten, Rhizopoden 
u. ſ. w., kurz alle die niederen Organismen, die wir in dem zwi⸗ 
ſchen Thier« und Pflanzenreich ftehenden Protiftenreich aufführen wer« 
den, pflanzen fih ausfhieplih auf ungefhlehtlihem Wege 
fort! Und zu dieſen gehört eine der formenreichften Organismen» 
Ylaffen, ja fogar in gewiſſer Beziehung die formenreichfte von allen, 
indem alle möglichen geometriſchen Grundformen in ihr verkörpert 
find. Das ift die wunderbare Klaffe der Rhizopoden oder Wurzel« 





330 Moritz Wagner's Migrationsgefeh. 
füßer, zu welcher die kalkſchaligen Acyttarien und die kieſelſchaligen 
Radiolarien gehören. (Vergl. den XVI. Vortrag). 

Auf alle dieſe ungeſchlechtlichen Organismen würde alfo felbft- 
verftändlich die Wagner ſche Theorie gar nicht anwendbar fein. Daf- 
felbe würde aber ferner auch von allen jenen Zwittern oder Herma- 
phroditen gelten, bei denen jede® Individuum, im Befige von männ- 
lihen und weiblihen Organen, der Selbftbefruchtung fähig ift. Das 
ift 5.8. bei den Strubelwürmern, Saugwürmern und Bandiär- 
mern, wie überhaupt bei fehr vielen Würmern ber Fall, ferner bei 
den wichtigen Mantelthieren, ben wirbellofen Verwandten der Bir 
beithiere, und bei fehr vielen anderen Organismen aus verſchiedenen 
Gruppen. Viele von dieſen Arten find durch natürliche Züchtung 
entftanden, ohne daß eine „Kreuzung“ ber entftehenden Speties mit 
ihrer Stammform überhaupt möglich war. 

Wie ih fhon im achten Bortrage Ihnen zeigte, ift die Ent- 
ftehung der beiden Geſchlechter und fomit die ganze geſchlechtliche 
Fortpflanzung überhaupt als ein Vorgang aufzufaffen, der erft in 
fpäterer Zeit der organifchen Erbgefchichte in Folge von Differenzi- 
rung oder Arbeitötheilung eingetreten ift. Die älteften Orga⸗ 
nismen der Erde können ſich jedenfall® nur auf dem einfachften un- 
gefchlechtlichen Wege fortgepflanzt haben. Selbſt jept noch vermehren 
fi alle Protiften, ebenfo wie alle die zahlloſen Zellenformen, welche 
den Körper der höheren Organismen zufammenfepen, nur durch un 
geſchlechtliche Zeugung. Und doch entftehen hier überall durch Dif- 
ferenzirung in Folge von natürlicher Züchtung „neue Arten“. 

Aber felbft wenn wir bloß die Thier- und Pflanzenarten mit 
getrennten Gefchledhtern hier in Betracht ziehen wollten, fo würden 
wir doch auch für diefe Wagner's Hauptfap, daß „die Migra- 
tion der Organismen und deren Koloniebildung die nothwen- 
dige Bedingung der natürlihen Zuchtwahl feien“, be 
ſtreiten müffen. Schon Auguft Beismann bat in feiner Schrift 
‚Meber den Einfluß der Jfolirung auf die Artbildung” **) jenen 
‚Cap hinreichend widerlegt und gezeigt, da aud in einem und 





Moritz Wagner's Migrationdgefeg. 331 


demſelben Wohnbezirke eine Species ſich in mehrere Arten durch na⸗ 
türliche Züchtung ſpalten kann. Indem ich mich dieſen Bemerkungen 
anſchließe, möchte ich aber noch beſonders den hohen Werth nodh- 
mals hervorheben, den die Arbeitstheilung oder Differen- 
sirung als die nothwendige Folge der natürlichen Züchtung. befigt. 
Alle die verfhiedenen Zellenarten, die den Körper der höheren Or⸗ 
ganidmen zufammenfepen, die Nervenzellen, Muskelzellen, Drüfen- 
jellen u. ſ. w., alle diefe „guten Arten“, diefe „bonae species“ von 
Glementarorganismen,, find bloß durch Arbeitstheilung in Folge von 
natürlicher Züchtung entftanden, trogdem fie nicht nur niemal® räum- 
lich ifolirt, fondern fogar feit ihrer Entftehung immer im engften 
täumlichen Berbande neben einander eriftirt haben. Daffelbe aber, 
was von diefen Elementarorganiamen oder „Individuen erfter Ord⸗ 
nung” gilt, das gilt auch von den vielzelligen Organismen höherer 
Ordnung, die als „gute Arten“ erft fpäter aus ihrer Zufammen- 
fegung entftanden find®?). 

Wir find demnad zwar mit Darwin und Wallace der An- 
fiht, daß die Wanderung der Organismen und ihre Iſolirung in 
der neuen Heimath eine fehr günftige und vortheilhafte Bebin- 
gung für die Entftehung neuer Arten ift. Daß fie aber dafür eine ® 
nothwendige Bedingung fei, und daß ohne biefelbe feine neuen 
Arten entftehen können, wie Wagner behauptet, fönnen wir nicht 
zugeben. Wenn Wagner diefe Anficht, „daß die Migration die noth- 
wendige Bedingung der natürlichen Zuchtwahl fei“, ald ein’ befonde- 
18 „Migrationagefep” aufftelit, fo halten wir daffelbe durch die 
angeführten Thatſachen für widerlegt. Wir haben überdies ſchon frü- 
ber gezeigt, daß eigentlich die Entftehung neuer Arten durch natürliche 
Züdtung eine mathematifche und logiſche Nothwendigkeit 
ift, welche ohne Weiteres aus der einfachen Verbindung von drei gro« 
sen Thatſachen folgt. Diefe drei fundamentalen Thatſachen find: der 
Kampf um's Dafein, die Anpaffungsfähigkeit und die Bererbungs- 
fähigfeit der Organismen (vergl. ©. 151). 

Auf die zahlreichen intereffanten Erſcheinungen, welche die geo- 


332 Bebeutung ber Chorologie für die Defernbemthestie. 


graphiſche und topographiſche Verbreitung der Organiömenarten im 
Einzelnen darbietet, und welche ſich alle wunderfchön auß der Theorie 
der Selection und Migration erflären, können wir hier nidht eingehen. 
Ich verweife Sie in diefer Beziehung auf die angeführten Schriften 
von Darmwin!), Wallacess) und Morig Wagner*®), in denen 
die wichtige Lehre von den Verbreitungsſchranken, den Zlüffen, 
Meeren und Gebirgen, vortrefflih erörtert und durch zahlreiche Bei- 
fpiele erläutert it. Nur drei Erſcheinungen mögen noch wegen ihrer 
befonderen Bedeutung hier namentlich hervorgehoben werden. Das 
ift erftend die nahe Formverwandtſchaft. die auffallende „Familien 
aͤhnlichkeit“, welche zroifchen den charakteriftifchen Lofalformen jedes 
ErdtHeild und ihren ausgeftorbenen, foffilen Borfahren in demfelben 
Erdtheil exiſtirt; — zweitens die nicht minder auffallende „Familien- 
Ähnlichkeit” zwiſchen den Bewohnern von Infelgruppen und denjeni- 
gen des nächft angrenzenden Feſtlandes, von welchem aus die Imfeln 
bevöffert wurden, — und endlich drittend der ganz eigenthümlide 
Charakter, welchen die Flora und Fauna der Infeln überhaupt in 
ihrer Zufammenfegung zeigt. 
Alle diefe von Darwin, Wallace und Wagner angeführten 
o chorologiſchen Thatfachen, namentlich die merkwurdigen Erfceinungen 
der beſchraͤnkten Lokal ⸗ Faunen und Floren, die Berhättniffe der In- 
felbewohner zu den Feitlandbevölferungen , die weite Verbreitung der 
fogenannten „Rodmopolitifchen Specied“, die nahe Verwandtſchaft lo 
Taler Species der Gegenwart mit den audgeftorbenen Arten defielben 
befhränften Gebietes, die nachweisliche Ausſtrahlung jeder Art von 
einem einzigen Schöpfungsmittelpunkte — alle diefe und alle übri- 
gen Erſcheinungen, welche und die geographifche und topograpbilde 
Verbreitung der Organismen darbietet, erflären ſich einfach und vell- 
fländig aus der Selectiond- und Migrationdtheorie, während fie ohne 
diefelbe überhaupt nicht zu begreifen find. Wir erbliden baber ın 
alten diefen Erſcheinungöreihen einen neuen gewichtigen Beweis für 
die Wahrheit der Defcendenztheorie. 





Fünfgehnter Vortrag. 
Schöpfungsperioden und Schöpfungsurfunden. 


Reform der Syſtematit durch die Defcendenztheorie. Das natürliche Syſtem 
als Stammbaum. Paläontologifde Urklunden des Stammbaumes. Die Verflei- 
nerungen als Denfmünzen ber Schöpfung. Ablagerung der neptunifchen Schichten 
und Einſchluß der organifchen Reſte. Eintheilung der organifden Erdgeſchichte in 
fünf Hauptperioden: Zeitalter der Tangwälber, Zarnwälder, Nabelmälder, Laub- 
walder und Kulturwälber. Syſtem der neptuniſchen Schichten. Unermehliche Dauer 
der während ihrer Bildung verfloffenen Zeiträume. Ablagerung der Schichten nur 
während der Senkung, nicht während der Hebung de8 Bodens. Andere Lucken 
der Säpfungsurkunde. Metamorphiſcher Zuſtand ber älteften neptuniſchen Schich- 
ten. Geringe Auedehnung der paläontologifchen Erfahrungen. Geringer Bruch- 
theil der verfleinerungsfäßigen Organismen und organifdjen Körpertheile. Selten- 
heit vieler verfteinerten Arten. Mangel foffiler Zwifchenformen. Die Schöpfungs- 
urtunden ber Ontogenie und ber vergleichenden Anatomie. 


Meine Herren! Bon dem umgeftaltenden Einfluß, welchen die Ab- 
ſtammungslehre auf alle Wiſſenſchaften ausüben muß, wird wahrſchein⸗ 
lich nächft der Anthropologie fein anderer Wiſſenſchaftszweig fo fehr 
betroffen werden, als der beſchreibende Theil der Naturgefchichte, die 
foftematifche Zoologie und Botanik. Die meiften Naturforſcher, die 
ſich bißher mit der Syſtematik der Thiere und Pflanzen beſchäftigten, 
fammelten, benannten und orbneten die verfdhiedenen Arten diefer 
Raturförper mit einem ähnlichen Intereffe, twie die Alterthumsforſcher 
und Ethnographen die Waffen und Geräthfchaften der verſchiedenen 


334 Das natürliche Syſtem als Stammbaum der Organismen. 


Völker fammeln. Biele erhoben ſich felbft nicht über denjenigen Grat 
der Wißbegierde, mit dem man Wappen, Briefmarken und ähnliche 
Kuriofitäten zu fammeln, zu etiettiren und zu ordnen pflegt. In 
ähnlicher Weife wie diefe Sammler an der Formenmannichfaltigkeit, 
Schönheit oder Seltfamteit der Wappen, Briefmarken u. f. w. ihre 
Freude finden, und dabei die erfinderifche Bildungafunft der Men- 
fen bewundern, in ähnlicher Weife ergöpen fich die meiften Ratur- 
forſcher an den mannichfaltigen Formen der Thiere und Pflanzen, une 
erftaunen über die reihe Phantafie des Schöpferd, über feine uner- 
müblihe Schöpfungsthätigfeit und über die feltfame Laune, in wel⸗ 
her er neben fo vielen fhönen und nüglihen Organismen auch eine 
Anzahl haͤßlicher und unnüger Formen gebildet habe. 

Diefe kindliche Behandlung der fuftematifchen Zoologie und Bo: 
tanif wird durch die Abſtammungslehre gründlich vernichtet. An die 
Stelle des oberflächlichen und fpielenden Intereſſes, mit welchem die 
Meiften bisher die organifchen Geftalten betrachteten, tritt das weit 
höhere Intereffe des erfennenden Perftandes, welcher in der yorm- 
verwandtfhaft der Organismen ihre wahre Blut3verwandt- 
Thaft erblid. Das natürlihe Syftem der Thiere und 
Pflanzen, welches man früher entweder nur als Ramenregifter 
zur überfichtfichen Ordnung der verfchiedenen Formen oder ald Sad⸗ 
vegifter zum kurzen Ausdrud ihres Aehnlichkeitsgrades ſchätzte, erbält 
durch die Abftammungslehre den ungleich höheren Werth eines wab- 
ren Stammbaumes der Drganidmen. Diefe Stammtafel jol 
und den genealogifhen Zufammenhang der kleineren und größeren 
Gruppen enthüllen. Sie foll zu zeigen verſuchen, in welcher Weiſt 
die verſchiedenen Klaffen, Ordnungen, Familien, Gattungen und 
Arten des Ihier- und Pflanzenreichs den verfchiedenen Zweigen. 
Aeſten und Aftgruppen ihres Stammbaumd entſprechen. Jede wei: 
tere und höher ftehende Kategorie oder Gruppenftufe des Syftem 
. B. Kaffe, Ordnung) umfaßt eine Anzahl von größeren und fär- 
teren Zweigen ded Stammbaums, jede engere und tiefer ſtehende 
Kategorie (4. B. Gattung, Art) nur eine Meinere und ſchwäcen 


Palãontologiſche Urkunden des Stammbaumes. 335 


Gruppe von Aefthen. Nur wenn wir in diefer Weife dad natür« 
liche Syſtem als Stammbaum betrachten, fönnen wir den wahren 
Werth defielben erfennen. (Gen. Morph. I, ©. XVII, 397). 

Indem wir an diefer genenlogifhen Auffaffung des organifchen 
Syſtems, welcher ohne Zweifel allein die Zukunft gehört, fefthalten, 
Tonnen wir und jegt zu einer der wefentlichften, aber auch fehtwierig- 
ften Aufgaben der „natürlihen Schöpfungsgeſchichte wenden, näm- 
ich zur wirklichen Konſtruktion der organifchen Stammbäume. Laf- 
fen Sie uns fehen, wie weit wir vielleicht ſchon jept im Stande find, 
alte verfchiedenen organifchen Formen als die divergenten Nachkom⸗ 
men einer einigen oder einiger wenigen gemeinfchaftlihen Stamm- 
formen nachzuweiſen. Wie können wir uns aber den wirklichen 
Stammbaum der thierifchen und pflanzlichen Formengruppen aus 
den dürftigen und fragmentarifchen, bis jept darüber getvonnenen 
Erfahrungen konſtruiren? Die Antwort hierauf liegt ſchon zum Theil 
in demjenigen, was wir früher über den Parallelismus der drei 
Entwidelungsreihen bemerkt haben, über den wichtigen urfächlichen 
Zuſammenhang, welcher die paläontologifhe Enttvidelung der gan« 
zen organifhen Stämme mit der embryologifhen Entwidelung der 
Individuen und mit der foftematifchen Entwidelung der Gruppen⸗ 
ſtuſen verbindet. 

Zunãchſt werden wir uns zur Löfung diefer fehwierigen Auf- 
gabe an die Paläontologie oder Berfteinerungsfunde zu 
wenden haben. Denn wenn wirklich die Defeendenztheorie wahr ift, 
wenn wirklich die verfteinerten Reſte der vormals lebenden Thiere 
und Pflanzen von den auögeftorbenen Urahnen und Vorfahren der 
jegigen Organismen herrühten, fo müßte uns eigentlich ohne Wei- 
tered die Kenntniß und Vergleichung der Berfteinerungen den Stamm 
baum der Organismen aufdeden. So einfad und einleuchtend nad 
dem theoretiſch entwidelten Prinzip Ihnen dies erfcheinen wird, fo 
außerordentlich ſchwierig und verwickelt geftaltet fich die Aufgabe, 
wenn man fie wirklich in Angriff nimmt. Ihre praktiſche Löfung 
würde ſchon fehr ſchwierig fein, wenn die Berfteinerungen einiger- 


336 Ablagerung der verfteinerungsführenden Erdſchichten. 


maßen vollftändig erhalten wären. Das ift aber keineswegs der Fall. 
Vielmehr ift die handgreiflihe Schöpfungsurfunde, welche in den 
Verfteinerungen begraben liegt, über alle Maaßen unvollftändig. 
Daher erfcheint es jept vor Allem nothwendig, diefe Urkunde kritiſch 
zu prüfen, und den Werth, melden die Berfteinerungen für die Ent- 
widelungsgefhichte der organifhen Stämme befigen, zu beftimmen. 
Da ih Ihnen die allgemeine Bedeutung der Berfteinerungen ald 
„Dentmünzen der Schöpfung” bereit® früher erörtert habe, ala 
wir Euvier'3 Verdienfte um bie Petrefaktenkunde betrachteten, io 
tönnen wir jegt fogleih zur Unterfuchung der Bedingungen und 
Verhältniffe übergehen, unter denen die organifchen Körperrefte ver- 
fteinert und in mehr oder weniger fenntlicher Form erhalten wurden. 

In der Regel finden wir Verfteinerungen oder Petrefaften nur 
in denjenigen Gefteinen eingeſchloſſen, melde ſchichtenweiſe als 
Schlamm im Waffer abgelagert wurden, und welche man deshalb 
neptunifche, gefchichtete oder fedimentäre Gefteine nennt. Die Ab- 
lagerung ſolcher Schichten Tonnte natürlich erft beginnen, nachdem 
im Verlaufe der Erdgefchichte die Verdichtung des Waſſerdampfes 
zu tropfbar-flüffigem Waffer erfolgt war. Seit diefem Zeitpuntt. 
welchen wir im Iepten Vortrage bereitd betradptet hatten, begann 
nicht allein da® Leben auf der Erde, fondern auch eine ununterbro- 
chene und höchft wichtige Umgeftaltung der erftarrten anorganifchen 
Grorinde. Das Waffer begann feitdern jene außerordentlich wichtige 
mechaniſche Wirffamfeit, durch welche die Erdoberfläche fortwährend, 
wenn auch langſam, umgeftaltet wird. Ich darf wohl als befannt 
voraudfegen, weldhen außerordentlich bedeutenden Einfluß in diefer 
Beziehung noch jept dad Waſſer in jedem Augenblid ausübt. In ⸗ 
dem es ald Regen nieberfällt,, die oberften Schichten der Erdrinde 
durdjfidert und von den Erhöhungen in die Pertiefungen berabfliekt. 
töft es verfchiedene mineralifche Beftandtheile des Bodens chemiſch 
auf und fpült mechaniſch die loder zufammenhängenden Theilchen 
ab. An den Bergen herabfliegend führt das Waffer den Schutt 
derfelben in die Ebene oder lagert ihn als Schlamm im febenden 





Ablagerung ber verfleinerungsführenben Erdſchichten. 337 


Waſſer ab. So arbeitet es beftändig an einer Emiedrigung der 
Berge und Ausfüllung der Thäler. Ebenfo arbeitet die Brandung 
des Meeres ununterbrochen an der Zerftörung der Küften und an 
der Auffüllung des Meerbodend durch die herabgefhlämmten Trüm- 
mer. So würde ſchon die Thätigkeit des Waſſers allein, wenn fie 
nicht durch andere Umftände wieder aufgeivogen würde, mit der 
Zeit die ganze Erde nivelliren. Es fann feinem Zweifel unterliegen, 
daß die Gebirgsmaſſen, welche alljährlich als Schlamm dem Meere 
zugeführt werben und fi auf deflen Boden abſetzen, fo bedeutend 
find, daß im Verlauf einer längeren oder fürzeren Periode, viel- 
leicht von wenigen Millionen Jahren, die Erdoberfläche vollkom ⸗ 
men geebnet und von einer zufammenhängenden Waſſerſchale um- 
hloffen werden würde. Daß dies nicht gefhieht, verdanken wir der 
fortdauernden vulfanifhen Gegenwirkung des feurig-flüffigen Erdin- 
neren. Diefe Reaktion des geſchmolzenen Kerns gegen die fefte Rinde 
bedingt ununterbrochen wechfelnde Hebungen und Senkungen an den 
verfehiedenften Stellen der Erdoberfläche. Meiften® gefchehen diefe 
Hebungen und Senkungen fehr langfam; allein indem fie Jahrtau- 
fende hindurch fortdauern, bringen fie durch Summirung der Mei 
nen Eingelwirtungen nicht minder großartige Reſultate hervor, wie 
die entgegenwirtende und nivellirendeThätigteit des Waſſers. 
Indem die Hebungen und Senkungen der verfchiebenen Erbtheile 
im Laufe von Jahrmillionen vielfach mit einander wechſeln, kümmt 
bald diefer bald jener Theil der Erdoberfläche über ober unter den 
Spiegel des Meeres. Beifpiele dafür habe ich ſchon in dem vorherge- 
henden Vortrage angeführt (S. 321.) Es giebt wahrſcheinlich feinen 
DOberflächentheil der Erbrinde , der nicht in Folge deflen ſchon wieder⸗ 
holt über oder unter dem Meeresſpiegel gewefen wäre. Durch diefen 
vielfachen Wechfel erklärt fi) die Mannichfaltigkeit und die verfhieden« 
artige Zufammenfegung der zahlreichen neptuniſchen Geſteinſchichten, 
welche ſich an den meiften Stellen in beträchtlicher Dice über einander 
abgelagert haben. In den verſchiedenen Geſchichtsperioden, während 
deren die Ablagerung ftatt fand, lebte eine mannichfach verſchiedene 
Herdel, Ratürl. Gchöpfungsgefä. 5. Aufl. 22 


338 Cintfeifung der organifgien Crbgefgichte in geologilje Perioden. 


Bevölterung von Thieren und Pflanzen. Wenn bie Leichen derfelben 
auf den. Boden der Gewäfler herabfanfen, drüdten fie ihre Körper- 
form in dem weichen Schlamme ab, und unvertweßliche Theile, harte " 
Knochen, Zähne, Schalen u. f. w. wurden umgerftört in demfelben 
eingefehloffen. Sie blieben in dem Schlamm, der ſich zu neptuniſchen 
Geftein verdichtete, erhalten, und dienten nun als Berfteinerungen 
zur Charafteriftit der betreffenden Schichten. Durch forgfältige Ber- 
gleiyung ber verſchiedenen über einander gelagerten Schichten und der 
in ihnen enthaltenen Berfteinerungen ift es fo möglich geworden, for 
wohl das relative Alter der Schichten und Schichtengruppen zu beſtim⸗ 
men, als aud) die Hauptmomente der Phylogenie oder der Eutwice ⸗ 
lungsgeſchichte der Thier- und Pflanzenftimme empiriſch feitzuftellen. 

Die verfhiedenen über einander abgelagerten Schichten der nep- 
tuniſchen Gefteine, welche in ſehr mannichfaltiger Weife aus Kalk, 
Thon und Sand zufammengefegt find, haben die Geologen gruppen- 
weife in ein ideales Syſtem zufammengeftellt, welches dem gangen 
Zufammenhange der organifhen Erdgeſchichte entfpriht, d. h. dedje- 
nigen Theiles der Erdgeſchichte, während deſſen organiſches Leben 
eriftirte. Wie die fogenannte „Weltgefchichte“ in größere oder kleinerr 
Perioden zerfällt, welche durch den zeitweiligen Entwickelungszuſtand 
‚der bedeutendften Bölfer charalterifirt und durch hervorragende Creig · 
niffe von einander abgegrenzt werden, fo theilen wir auch bie umend- 
fi) längere organifche Erdgefchichte in eine Reihe von größeren oder 
tleineren Perioden ein. Jede dieſer Perioden ift durch eine charalkie · 
riftifche Flora und Fauna, durd die befonderd ftarte Cutwickelung 
einer beftimmten Pflanzen» oder Thiergruppe ausgezeichnet, und jede 
ift von der vorhergehenden und folgenden Periode durch einen auffale 
lenden theilweiſen Wechfel in der Zufammenfepung der Thier- und 
Pflangenbevöfferung getrennt. 

Für Die nachfolgende Weberficht des hiſtoriſchen Entwoidelungs- 
ganged, den die großen Thier- und Pflanzenftämme genommen ba- 
ben, ift e8 nothwendig, zunächft hier Die ſyſtematiſche Klaſſifilatien 
der neptuniſchen Schichtengruppen umd der denfelben entſprechenden 


Geologiſche Klaſſiſtlation der neptuniſchen Schirhtengruppen. 339 


größeren und kleineren Geſchichtsperioden anzugeben. Wie Sie fo- 
gleich fehen werden, find wir im Stande, die ganze Mafle der über- 
einanderliegenden Sebimentgefteine in fünf oberfie Hauptgruppen oder 
Terraind, jedes Terrain in mehrere untergeordnete Schichtengrup- 
pen oder Syfteme und jedes Syftem von Schichten wiederum in noch 
tleinere Gruppen oder Formationen einzutheilen, endlich kann 
aud jede Formation wieder in Etagen oder Unterformationen, und 
jede von biefen wiederum in noch fleinere Sagen, Bänfe u. ſ. w. 
eingetheilt werden. Jedes der fünf großen Terrain® wurde während 
eines großen Hauptabſchnittes der Erdgeſchichte, während eines Zeit- 
alter®, abgelagert; jedes Syſtem während einer kürzeren Periode, 
jede Formation während einer noch kürzeren Epoche u. f. w. Indem 
wir fo die Zeiträume der organifchen Erdgefchichte und die während 
derfelben abgelagerten neptunifchen und nerfteinerungsführenden Erd» 
ſchichten in ein gegliedertes Syſtem bringen, verfahren wir genau 
wie die Hiftorifer, welche die Völkergeſchichte in die drei Hauptab- 
ſchnitte de Alterthums, des Mittelalters und der Neuzeit, und jeden 
dieſer Abſchnitte wieber in untergeordnete Perioden und Epochen ein» 
teilen. Wie aber der Hiſtoriker durch diefe ſcharfe ſyſtematiſche Ein- 
theilung und durch die beftimmte Abgrenzung der Perioden durch ein- 
seine Zahredzaplen nur die Ueberſicht erleichtern und keineswegs den 
ununterbrochenen Zufammenhang ber Greignifle und der Bölterent« 
widelung leugnen will, fo gilt ganz daſſelbe auch von unferer fuftema- 
tiſchen Eintheilung, Speeifitation ober Mlaffifitation der organifchen 
Erdgeſchichte. Auch hier geht der rothe Faden ber zufammenhängen- 
den Entwidelung überall ununterbrochen hindurch. Wir verwahren 
uns alfo ausdrüdlih gegen die Anfchauung, als wollten wir durch 
unfere ſcharfe Abgrenzung der größeren und Heineren Schichtengrup⸗ 
pen und ber ihnen entfprechenden Zeiträume irgendivie an Guwier'3 
Lehre von den Erbrenolutionen und von den wiederholten Neufchd- 
pfungen der organifhen Benölterung anknüpfen. Daß diefe irrige 
Lehte durch Lyell längft gründlich widerlegt ift, habe ih Ihnen be» 
weite früher gezeigt. (Bergl. ©. 113.) 
22* 


340 Die fünf Zeitalter der organiſchen Exbgefchichte. 


Die fünf großen Hauptabfchnitte der organiſchen Erdgeſchichte 
oder der paläontologifchen Entwickelungsgeſchichte bezeichnen wir ald 
primordiales, primäre®, ſekundaͤres, tertiäre® und quartäre® Zeitalter. 
Jedes ift durch die vorwiegende Entwickelung beftimmter Thier- und 
Pflanzengruppen in demfelben beftimmt darafterifirt, und wir fünn- 
ten demmach auch die fünf Zeitalter einerfeit® burd die natürlichen 
Hauptgruppen des Pflanzenteih8, andererſeits durch die verſchiedenen 
Klaſſen des Wirbelthierſtammes anſchaulich bezeichnen. Dann wäre 
das erfte oder primordiale Zeitalter dasjenige der Tange und Schä- 
delloſen, da® zweite oder primäre Zeitalter das der Fame und 
Fiſche, das dritte oder fefundäre Zeitalter das der Rabelwälder und 
Schleicher, das vierte oder tertiäre Zeitalter da® der Laubtwälber 
und Säugethiere , endlich das fünfte ober quartäre Zeitalter dat 
jenige des Menſchen und feiner Kultur. Die Abſchnitte oder Perio- 
den, welche wir in jedem der fünf Zeitalter unterfcheiden (5. 344), 
werden durch die verſchiedenen Syfteme von Schichten beftimmt, 
in die jedes der fünf großen Terrains zerfällt (©. 345). Laſſen 
Sie und jept noch einen flüchtigen Blick auf die Reihe diefer Syſte me 
und zugleih auf die Bevölkerung der fünf großen Zeitalter werfen. 

Den erften und längften Hauptabſchnitt der organiſchen Erd- 
geſchichte bildet die Primordialzeit oder dad Zeitalter der 
Tangwaͤlder, dad aud) das archolithiſche oder archozoiſche Zeitalter 
genannt werden kann. Es umfaßt ben ungeheuren Zeitraum von 
ber erften Urzeugung, von der Entftehung des erften irdiſchen Orga- 
nismus, bis zum Ende der flurifhen Schichtenbildung. Während 
diefeß unermeßlichen Zeitraums, weldher wahrſcheinlich viel länger 
war, als alle übrigen vier Zeiträume zufammengenommen, lagerten 
fi die drei mädhtigften von allen neptuniſchen Schichtenfoftemen ab. 
nämli zu unterft das faurentifche, darüber das cambrifche und 
darüber das ſiluriſche Syftem. Die ungefähre Dide oder Mäc- 
tigfeit diefer drei Syſteme zufammengenommen beträgt fiebzigtaufend 
Fuß. Davon kommen ungefähr 30,000 auf das laurentiſche, 18,000 
auf das cambriſche und 22,000 auf das filurifhe Syſtem. Die 


Primorbielzeit ober Zeitalter der Tangwälber. 341 


durchſchnittliche Maͤchtigkeit aller vier übrigen Terrains, des primären, 
ſekundaͤren, tertiären und quartären zufammengenommen, mag da- 
gegen etwa höchften® 60,000 Fuß betragen, und ſchon hieraus, ab- 
gefehen von vielen anderen Gründen, ergiebt ſich, daß die Dauer der 
Primordialzeit wahrſcheinlich viel laͤnger war, ald die Dauer der fol« 
genden Zeitalter bis zur Gegenwart zuſammengenommen. Biele Mil- 
tionen von Jahrhunderten müſſen zur Ablagerung folder Schichten- 
maffen erforderlich gewvefen fein. Leider befindet ſich der bei weiten 
größte Theil der primorbialen Schiehtengruppen in dem fogleih zu 
erörternden metamorphifchen Zuftande, und dadurch find die in ihnen 
enthaftenen Berfteinerungen,, die älteften und wichtigſten von allen, 
groͤßtentheils zerftört und unkenntlich geworden. Nur aus einem Theile 
der cambrifchen und ſiluriſchen Schichten find Petrefalten in größerer 
Menge und in enntlihem Zuftande erhalten worden. Die ältefte von 
allen deutlich erhaltenen Berfteinerungen, das fpäter noch zu beſchrei⸗ 
bende „tanadifche Morgenmweien“ (Eozoon canadense) ift in den un« 
terften Iaurentifhen Schichten (in der Ditamaformation, am Lorenzo⸗ 
frome) gefunden worden. . 

Tropdem die primordialen oder arholithifchen Verfteinerungen 
und nur zum bei weitem kleinſten Theile in kenntlichem Zuftande er- 
halten find, befigen diefelben dennoch den Werth unfchäpbarer Doku- 
mente für dieſe äftefte und dunkelſte Zeit der organischen Erdgeſchichte. 
Zunädft fcheint daraus hervorzugehen, daß während dieſes ganzen 
ungeheuren Zeitraums nur Wafferbervohner egiftirten. Wenigftens ift 
bis jept unter allen archolithiſchen Petrefatten nod fein einziges ge- 
funden worben, welches man mit Sicherheit auf einen landbewohnen ⸗ 
den Organismus beziehen könnte. Alle Pflangenrefte, die wir aus 
der Primorbiafgeit befigen, gehören zu der niebrigften von allen 
Pflanzengruppen, zu der im Waſſer lebenden Klafje der Zange oder 
Algen. Diefe bildeten in dem warmen Urmeere der Primordialzeit 
mãchtige Wälder, von deren Formenreichthum und Dichtigfeit und 
noch heutigen Tages ihre Epigonen, die Tangmwälder des atlantifchen 
Sargaflomeered, eine ungefähre Vorftellung geben mögen. Die to- 


342 Primärgeit oder Zeitalter der Faruwalder. 


loſſalen Zangwälder der archolithiſchen Zeit erfepten damals die noch 
gänzlich fehlende Waldvegetation des Feftlandes Gleich den Pflan- 
zen lebten au alle Thiere, von denen man Refte in den archolithiſchen 
Schichten gefunden hat, im Waſſer. Bon den Gliederfüßern finden 
fid) nur Kreböthiere, noch feine Spinnen und Inſekten. Bon den 
BWirbelthieren find nur fehr wenige Fiſchreſte bekannt, welche ſich in 
den jüngften von allen primordialen Schichten, in der oberen Si⸗ 
Aurformation vorfinden. Dagegen müffen die kopfloſen Wirbelthiere, 
welche wir Schädellofe oder Alranien nennen, und aus denen 
ſich die Fiſche erft entwideln konnten, maſſenhaft während ber Pri« 
mordialzeit gelebt haben. Daher können wir fie ſowohl nad den 
Schädellofen ald nach den Tangen benennen. 

Die Primärzeit oder das Zeitalter der Farnwälder, 
der zweite Hauptabſchnitt Der organiſchen Erdgeſchichte, welchen man 
aud das paläolithif—he ober palaͤozoiſche Zeitalter nennt, dauerte vom 
Ende der filurifhen Schiehtenbildung bis zum Ende der permiſchen 
Schihtenbildung. Auch biefer Zeitraum war von fehr langer Dauer 
und zerfällt wiederum in. drei Perioden, während deren ſich drei 
mächtige Schichtenſyſteme ablagerten, nämlich zu unterft das de vo⸗ 
niſche Syftem oder der alte rothe Sanbftein, darüber das car» 
boniſche ober Steinkohlenfoften, und darüber dad permiſche 
Syftem ober der neue rothe Sandftein und der Zechftein. Die durch⸗ 
ſchnittliche Dide diefer drei Syfteme zufanmengenommen mag etwa 
42,000 Fuß betragen, woraus ſich ſchon die ungeheure Länge der für 
ihre Bildung erforderlichen Zeiträume ergiebt. 

Die devoniſchen und permifchen Formationen find vorzüglich 
reich an Fiſchreſten. fowohl an Urfiſchen, ald an Schmelzfiſchen. Aber 
noch fehlen in der primären Zeit gänzlidy die Knochenſiſche. In der 
Steinfohle finden ſich die älteften Refte von Iandbewohnenden Tpieren, 
und zwar fowohl Gliederthieren (Spinnen und Inſekten) ald Wirbel- 
tbieren (Amphibien). Im permifchen Syftem fommen zu den Am ⸗ 
pbibien noch die höher entwidelten Schleicher oder Reptilien, und 
zwar unferen Eidechſen nahverwandte Formen (Proterossurus x.) 





Sekundärgeit oder Zeitalter ber Nabelwälber. 343 


Tropdem können wir da® primäre Zeitalter das der Fifche nennen, 
weil diefe wenigen Amphibien und Reptilien ganz gegen die unge 
heure Menge der paläolithifchen Fiſche zurüdtreten. Ebenſo wie die 
Fiſche unter den Wirbelthieren, fo herrſchten unter den Pflanzen wäh 
rend diefes Zeitraums die Farmpflanzen oder Filieinen vor, und zwar 
ſowohl echte Famkräuter und Farnbaͤume (Laubfame oder Phyllo- 
pteriden) ala Schaftfarne (Calamophyten) und Schuppenfarne (Repi- 
dophyten). Diefe landbewohnenden Farne oder Filicinen bildeten 
die Hauptmaffe der dichten paläolithifhen Infelwälder, deren foffile 
Reſte und in den ungeheuer mächtigen Steintohlenlagern des carbo- 
niſchen Syſtems und in den ſchwächeren Kohlenlagern des devoni« 
fen und permifhen Syſtems erhalten find. Sie berechtigen und, 
die Primärzeit eben ſowohl das Zeitalter der Farne, ald das der 
Fiſche zu nennen. 

Der dritte große Hauptabſchnitt der paläontologifchen Entwicke⸗ 
lungsgeſchichte wird durd die Setundärzeit oder das Zeitalter 
der Nadelwälder gebildet, welches auch das mefolithifhe oder 
meſozoiſche Zeitalter genannt wird. Es reiht vom Ende ber per- 
mifchen Schitenbildung bis zum Ende der Kreidefhichtenbilbung, 
und zerfällt abermald in drei große Perioden. Die während deffen 
abgelagerten Schichtenfyfteme find zu unterft das Triasfoftem, in 
der Mitte dad Jura ſyſtem, und zu oberft das Kreidefuftem. Die 
durchſchnittliche Dide diefer drei Spfteme zufammengenommen bleibt 
ſchon weit Hinter derjenigen der primären Syfteme zurüd und beträgt 
im Ganzen nur ungefähr 15,000 Fuß. Die Sefundägeit wird dem⸗ 
nad) wahrſcheinlich nicht halb fo lang als die Primärzeit geweſen fein. 

Wie in der Primärzeit die Fiſche, fo herrfchen in der Sekundär- 
zeit die Schleicher oder Reptilien über alle übrigen Wirbel- 
thiere vor. Zwar eniftanden während diefed Zeitraums die erften 
Bögel und Säugethiere, aud lebten damals wichtige Amphibien, 
nämlich die riefigen Labyrinthodonten, im Meere ſchwammen die 
wunderbaren Seedradyen oder Halifaurier umber, und zu den zahl⸗ 
reich vorhandenen Urfifchen und Schmelzfifchen der älteren Zeit gefell- 


344 


Aeberſiqt 
ber palaͤontologiſchen Perioden oder der größeren Zeitabſchnitie 
der organiſchen Erdgeſchichte. 


I. Erſter Zeitraum: Archolithiſches Zeitalter. Primorbial-Zeit. 


Geitalter ber Schäbellofen und ber Tangwalder.) 
1. Aeltere Archolith- Zeit oder Laurentiſche Periode. 
2. Mittlere Archolith- Zeit Cambriſche Periode. 
3. Neuere Archolith· Zeit Siluriſche Periode. 


II. Zweiter Zeitraum: Paläolithiſches Zeitalter. Primär-geit. 
(Beitalter der Fiſche und der Faruwälder.) 


4. Heltere Paläclith-Zeit ober Devanifde Periode. 
5. Mittlere Paläolith-Zeit . Steintoßlen- Periode. 
6. Neuere Baldclith-Zeit . Vermiſche Periode. 


II. Dritter Zeitraum: Mefolithifhes Zeitalter. Sekundär-Zeit. 
(Beitafter der Reptilien und ber Nadelwälder.) 


7. Aeltere Mefolith-Zeit ober Trias · Periode. 
8. Mittlere Meſolith-Zen - Iura-Periode, 


9. Neuere Mefolith-Zeit - Kreide- Periode. 


IV. Vierter Zeitraum: Caenolithiſches Zeitalter. Tertiär-Zeit. 
(Zeitalter ber Säugetiere und ber Laubwälder.) 


10. Aeltere Eoenolith- Zeit ober Cocaene Periode. 
11. Mittlere Eaenolith-Zeit . Miocaene Periode. 
13. Neuere Eaenolith-Zeit . Pliocaene Periode. 


V. Fünffer Zeitraum: Authropolithiſches Zeitalter. Quartär-zeit. 
(Zeitalter ber Menſchen und der Kulturwälder.) 


18. Aeliere Anthrobolith- Zeit ober eiczeit. Oldciele Perioe. 
14. Mittlere Anthropofi-Zeit . Bofglaciale Periode 
18. Neuere Anthropolitf-Zeit . Rultar- Periode. 


(Die Kulturperiode iſt die hiſtoriſche Zeit oder die Periode der Ueberficherungen.: 


345 


Acherfidt 
der palaͤontologiſchen Kormationen oder der verfteinerungsführenden 
Schichten der Erdrinde. 


























derrein⸗ Svſleme | Formationen ver Aermationen 








v. Arthtelizhiſche zıv. Recent 36, Praefent Oberalluviale 
(Muoinm) 85. Rec Unterallnviale 
zu. Bleifocaen je Poſtlacial Oberbiluviale 


ober 
———— 
Gachkengruppen @itwium) ° Tas. Glaiel Unteriluniae 


IV. Caenolithiſche XIL Bliocaen ,32. Arvers Oberpliocaene 


Terrains Reutertiär) 31. Iubapennin Unterpliocaene 
oder XL Miocaen 80, Salun Obermiocaene 
caenogoifche (Mitteltertiär) |29, Limburg Untermioeaene 
(textiäre) x. Eocaen 28. Gpps Dberexcoene 
Schichtengruppen Quttertiar) 27. Srobkalk Mitteleocaeue 
26. Londonthon Untereocaene 
IX. Kreide 124. Grünfand Mitteltreide 


25. Weißkreide Obertreide 
DL Meſolithiſche 


Terrains 
oder 21. Portland Dberoouch 
mejoyoifche vu. Jura IR Orfırd Mitteloofith 
(jetunbäre) 19, Bath Unteroolith 
Schichtengruppen 18, Lia⸗ Liasformation 


J 17. Aeuper Obertrias 
VL Zrias he Aufielkeik Mitteltrias 
15. Suntfand Untertrine 


u. Baläolithife | VI. Permiſches (14. Behfein Oberpermiſche 


Terrains Meurothſand) 18. Wentothfand Unterpermiſche 
ober V. Carboniſches 12, Kohlenfand Obercarbonifche 
palãozoiſche (Steinkohle) 11. Aohlenkalk Untercarbonifche 
(primäre) IV. Devonifdes * Kr — 

Oct f . —* 
Alirottſand g. Zinen  Umterböbonifche 

1. Arqholithiſche 7. Sublem 2 Oberfilurifdie 
Terrain m Silurifäes | 6 Mittelſiluriſche 

oder 5. unterſiluriſche 
archez oiſche D. Cambriſches | 4 Obertambriſche 
(peimorbiale) 3 Untercambrifche 
Oberlaurentiſche 





Schichtengruppen i. gaurentifäet | —* Mr aa 
. lawa Interfau: 


346 Xertiärgeit oder Zeitalter der Laubwalder. 


ten ſich die erften Knochenfifche. Allein die ganz charakteriftifche und 
überwiegende Wirbelthierflaffe der Sekundaͤrzeit bildeten die hahk 
mannichfaltig entwickelten Reptilien. Neben ſolchen Schleichern, welche 
den heute noch lebenden Eidechfen, Krokodilen und Schildkröten fehr 
nahe ftanden, wimmelte es in der meſolithiſchen Zeit überall von 
abenteuerlich geftalteten Drachen. Insbeſondere find die merkwürbi- 
gen fliegenden Eidechſen oder Pterofaurier und die koloſſalen Sand- 
drachen oder Dinofaurier der Sekundärzeit ganz eigenthumlich, da fie 
weder vorher noch nachher lebten. Wie man demgemäß die Sekun- 
därgeit .da® Zeitalter der Schleier oder Reptilien mennen 
tönnte, fo tönnte fie andrerfeits auch das Zeitalter der Radelwäl- 
der, oder genauer der Gymnofpermen oder Raltfamen- 
pflanzen heißen. Denn diefe Pflangengruppe, vorzugsweiſe durch 
die beiden wichtigen Klaſſen der Nadelhöler oder Coniferen und 
der Balınfarne oder Cydaceen vertreten, fepte während ber Se— 
kundärgeit ganz überwiegend den Beſtand der Wälder zufammen. Die 
farnartigen Pflanzen traten dagegen zurüd und die Laubhöler ent- 
widelten ji) erft gegen Ende des Zeitalterd, in der Kreibezeit. 
Biel fürzer und weniger eigenthümlich ald dieſe drei erſten Jeit- 
alter war der vierte Hauptabfehnitt der organifcden Erdgeſchichte, die 
Tertiärgeit oder da® Zeitalter der Laubwälder. Tiefer 
Zeitraum, welcher auch caenolithiſches oder caenozoiſches Zeitalter heißt. 
erftredte fi vom Ende der Kreidefhichtenbildung bis zum Ende der 
pliocaenen Schichtenbildung. Die während defien abgelagerten Schich · 
ten erreichen nur ungefähr eine mittlere Mächtigkeit von 3000 Zus 
und bleiben demnach weit hinter den drei erften Terrain zurüd. Auch 
find die drei Syſteme, welche man in dem tertiären Terrain unter 
ſcheidet nur ſchwer von einander zu trennen. Das ältefte derfeiben 
beißt eocaene8 ober alttertiäres, das mittlere miocaene® oder mıl- 
teltertiäred und das jüngfte pliocaene® oder neutertiäred Eyfem. 
Die gefammte Bevölkerung ber Tertiärzeit nähert ſich im Gar 
zen und im Einzelnen ſchon viel mehr derjenigen der Gegenwart, alö 
es in den vorhergehenden Zeitaltern der Fall war. Unter den Bır 


Duartärgeit ober Zeitalfer ber Kultunvalder. 347 


beithieren überwiegt von nun an die Alaffe der Säugethiere bei 
weitem alle übrigen. Ebenſo herricht in der Pflanzenwelt die formen- 
reiche Gruppe der Dedfamenpflanzen oder Angiofpermen 
vor, deren Laubhdlzer die charakteriſtiſchen Raubmwälder ber Tertiär- 
jeit bildeten. Die Abtheilung der Angiofpermen befteht aus ben bei» 
den Rlaffen der Einteimblättrigen oder Monocotyledonen und 
der Zweileimblättrigen oder Dicotyledonen. Zwar hatten fi 
Angiofpermen auß beiden Kiaffen ſchon in der Kreibegeit gezeigt, und 
Saͤngethiere traten ſchon in der Jurageit ober felbft in ber Triaszeit 
auf. Allein beide Gruppen, Säugethiere und Dedfamenpflangen, er- 
reichen ihre eigentliche Entwiclelung und Oberherrfehaft erft in der Ter« 
tiaͤrzeit, ſo daß man diefe mit vollem Rechte danach benennen kann. 

Den fünften und Iepten Hauptabfepnitt der organifchen Exdge- 
ſchichte bildet die Duartärzeit oder Kulturzeit, derjenige, gegen 
die Ränge der vier übrigen Zeitalter verſchwindend kurze Zeitraum, den 
wir gemöhnfich in komiſcher Selbftüberhebung die „Weltgefhichte” 
zu nennen pflegen. Da die Ausbildung des Menfchen und feiner 
Kultur, welche mächtiger ald alle früheren Vorgänge auf die orga- 
nifche Belt umgeftaltend einwirkte, dieſes Zeitalter charakteriſirt, fo 
tönnte man daffelbe auch die Menfchenzeit, das anthropolithifche 
oder anthtopozoiſche Zeitalter nennen. Es Förmte allenfalls auch 
das Zeitalter der Kulturwälder heißen, weil felbft auf den 
niebrigeren Stufen der menſchlichen Kultur ihr umgeftaltender Einfluß 
fich bereitö in der Benugung der Wälder und ihrer Erzeugniffe, und 
fomit auch in der Phofiognomie der Landſchaft bemerkbar macht. 
Geologiſch wird der Beginn dieſes Zeitalter, welches bis zur Gegen- 
wart reidht, Durch das Ende der pliocaenen Echichtenablagerung begrenzt. 

Die neptunifchen Schichten, welche während des verhältnipmäßig 
turgen quartären Zeitraums abgelagert wurden, find an den verſchie⸗ 
denen Stellen der Erde von fehr verichiedener, meift aber von fehr 
geringer Dide. Man bringt diefelben in zwei verſchiedene Syſteme, 
von denen man daB ältere ald diluvial oder pleiftocaen, dad 
neuere als allunial oder recent bezeichnet. Das Diluvial-Ey- 


348 Glatiale und pofglaciale Periode. 


ftem zerfällt felbft wieder in zwei Formationen, in die älteren gla- 
eialen und die neueren poftglacialen Bildungen. Während der 
älteren Diluvialzeit nämlid fand jene außerordentlich merkwürdige 
Erniedrigung der Erdtemperatur ftatt, welche zu einer ausgedehnten 
Vergletſcherung der gemäßigten Zonen führte. Die hohe Bedeutung, 
welche biefe „Eiszeit“ oder Olacial- Periode für die geogr 
phiſche und topograppifche Berbreitung der Organismen gewonnen hat. 
ift bereitd im vorhergehenden Vortrage auseinander gefept worden 
(©. 324). Auch die auf die Eiszeit folgende Nacheiszeit“, die poft- 
glaciale Periode oder die neuere Diluvialzeit, während welcher 
die Temperatur wiederum flieg, und das Eis fid) nach den Bolm 
zurüdgog, war für die gegenwärtige Geſtaltung der chorologiſchen Ber- 
haͤltniſſe hochſt bedeutungsvoll. 

Der biologiſche Charakter der Quartätzeit liegt weſentlich in der 
Entwidelung und Ausbreitung des menfchlihen Organismms und 
feiner Rultur. Weit mehr als jeder andere Organismus hat der 
Menſch umgeftaltend, zertörend und neubildend auf die Thier- und 
Pflanzenbevölterung der Erde eingewirkt. Aus diefem Grunde, — 
nicht weil wir dem Menfchen im Uebrigen eine privilegirte Aus- 
nahmeftellung in der Ratur einräumen, — können wir mit vollem 
Rechte die Ausbreitung des Menſchen mit feiner Kultur als Begim 
eines befonderen festen Hauptabſchnitts der- organifchen Erdgeſchichte 
bezeichnen. Wahrſcheinlich fand allerdings die korperliche Entwoidelung 
de3 Urmenfchen aus menfchenähnlichen Affen bereit in der jüngerm 
oder pliocaenen, vielleicht ſogar ſchon in der mittleren oder miocaenen 
Tertiärgeit ftatt. Allein die eigentliche Entwidelung der menſchli · 
den Sprache, welche wir ald den wichtigften Hebel für die Ausbil 
dung der eigenthümlichen Vorzüge des Menfchen und feiner Herrſchan 
über die übrigen Organismen betrachten, fällt wahrſcheinlich erft m 
jemen Zeitraum, welchen man au geologifhen Gründen ala pleite 
taene oder diluviale Zeit von der vorhergehenden Bliocaenperiode trennt. 
Jedenfalls ift derjenige Zeitraum, welcher feit der Entwidelung der 
menſchlichen Sprache bis zur Gegenwart verfloß, mag berfelbe aud 


Relative Dice der fünf gefchichteten Terrains. 349 


viele Jahrtaufende und vielleicht Hunderttaufende von Jahren in An- 
ſpruch genommen haben, verſchwindend gering gegen die unermeß- 
lie Länge der Zeiträume, welche vom Beginn des organifchen Lebens 
auf der Erde bis zur Entftehung des Menſchengeſchlechts verflofien. 

Die vorftehende tabellarifche Ueberſicht zeigt Ihnen rechts (6.345) 
die Reihenfolge der paläontologifhen Terrains, Syſteme und Forma- 
tionen, d. h. der größeren und Mleineren neptuniſchen Schichtengrup- 
pen, welche Verfteinerungen einſchließen, von den oberften oder allu⸗ 
vialen bis zu den unterſten oder laurentifchen Ablagerungen hinab. 
Die links gegenüberftehende Tabelle (S. 344) führt Ihnen die hifto- 
riſche Eintheilung der entfprechenden Zeiträume vor, der größeren und 
Neineren paläontologifhen Perioden, und zwar in umgekehrter Reihen- 
folge, von der älteften Taurentifchen bis auf die jüngfte quartäre Zeit 
hinauf. (Bergl. auch ©. 352.) 

Man hat viele Berfuche angeftellt, die Zahl der Jahrtaufende, 
welche diefe Zeiträume zufammenfepen, annähernd zu berechnen. Man 
verglich die Dide der Schlammſchichten, welche erfahrungsgemäß waͤh ⸗ 
tend eine® Jahrhunderts ſich abfegen, und welche nur wenige Linien 
oder Zolle betragen, mit der gefammten Dice der gefchichteten Ge- 
fleindmaffen, deren ideales Syſtem wir foeben überblidt haben. Diefe 
Die mag im Ganzen durfchnittfih ungefähr 130,000 Fuß betra- 
gen, und hiervon kommen 70,000 auf da8 primorbiale oder archoli⸗ 
thiſche, 42,000 auf da8 primäre oder paläolithiſche, 15,000 auf das 
fefundäre oder mefolithifche und endlich nur 3000 auf das tertiäre 
oder caenofithifche Terrain. Die fehr geringe und nicht annähernd be⸗ 
fimmbare durchſchnittliche Dicke des quartären oder anthropolithifchen 
Terraind fommt dabei gar nicht in Betracht. Dan kann fie höch⸗ 
ftens durchſchnittlich auf 500—700 Fuß anſchlagen. Selbftverftänd- 
lich haben aber alle diefe Mafangaben nur einen ganz durchſchnitt ⸗ 
lien und annähernden Werth, und follen nur dazu dienen, dad 
relative Mafverhäftnig der Schihtenfyfteme und der ihnen ent- 
ſprechenden Zeitabfepnitte ganz ungefähr zu überbliden. 

Wenn man nım die gefammte Zeit der organifhen Exdge- 


350 Relative Länge ber “fünf geologifcien Zeitalter. 


ſchichte, d. h. den ganzen Zeitraum feit Beginn bes Lebens auf der 
Erde bis auf den heutigen Tag, in hundert gleiche Theile teilt, 
und wenn man dann, dem angegebenen durchſchnittlichen Didenwer: 
bältniß der Schichtenſyſteme entſprechend, die relative Zeitdauer der 
fünf Hauptabſchnitte oder Zeitalter nach Progenten beredjnet, fo er: 
giebt fi folgendes Refultat. (Vergl. S. 352.) 





I. Accholithiſche oder Primordiaeit . . . . . - 53,6 
I. Palaͤolithiſche oder Primäret . . 2.2... 32,1 
TIL Mefolithifge oder Selundägeit . . . . . . . 115 
IV. Gaenolithifhe oder Tertiänet . » 2.220. 23 
V. Anthropolithifhe oder Quartägeit . . . . . . 05 

Summa 100.0 


Es beträgt demnach die Ränge bed archolithiſchen Zeitraumd, 
während deffen noch gar feine landbewohnenden Thiere und Pflan- 
zen eriftirten, mehr als die Hälfte, mehr ald 53 Progent, dagegen die 
Länge des anthropolithiſchen Zeitraums, während deffen der Menſch 
exiſtirte, kaum ein halbes Prozent von der ganzen Länge der organi ⸗ 
ſchen Erdgeſchichte. Es ift aber gang unmoglich, bie Länge diefer 
Zeiträume auch nur annähernd nad) Jahren zu berechnen. 

Die Dide der Schlammſchichten, welche während eines Jabr- 
hundert ſich in der Gegenwart ablagem, und welche man als Bas 
für diefe Berechnung benupen wollte, ift an den verichiedenen Stellen 
der Erde unter den ganz verfdiedenen Bedingungen, under denen 
überall die Ablagerung flattfindet, natürlid) ganz verſchieden. Sie ik 
fehr gering auf dem Boden des hohen Meeres, in den Betten breiter 
Flüſſe mit kurzem Laufe, und in Landſeen, welche fehr dürftige Zu- 
flüffe erhalten. Sie ift verhaͤltnißmaͤßig bedeutend an Meeredlüſten 
mit ftarfer Brandung, am Ausflug großer Ströme mit langem bauj 
und in Landſeen mit ftarten Zuflüffen. An der Mündung des Rifi- 
fippi, welcher fehr bedeutenbe Schlammmaffen mit ſich fortführt, wär- 
den in 100,000 Jahren nur etwa 600 Fuß abgelagert werden. Auf 
dem Grunde des offenen Meered, weit von ben Rüflen entfemt, wer 
den ſich während diefes langen Zeitraums nur wenige Fuß Schlamm 


Unmeßbere Länge ber organiſchen Exbgeichichte. 351 


abfegen. Selbft an ben Küften, wo verhältnigmäßig viel Schlamm 
abgelagert wird, mag die Dice der dadurch während eines Jahrhun⸗ 
derts gebildeten Schichten, wenn fie nachher ſich zu feitem Gefteine 
verdichtet haben, doch mur wenige Zolfe oder Linien betragen. Jeden⸗ 
falls aber bleiben alle auf diefe Verhältniſſe gegründeten Berechnun- 
gen ganz unfiher, und wir fönnen und auch nicht einmal annähernd 
die ungeheure Länge der Zeiträume vorftellen, welche zur Bildung 
jener neptuniſchen Schichtenſyſteme erforderlich waren. Nur relative, 
nicht abfolute Zeitmaße find hier anwendbar. 

Man würde übrigens auch volllommen fehlgehen, wenn man 
die Maͤchtigkeit jener Schichtenfofteme allein als Mafıftab für die in- 
zwiſchen wirklich verfloffene Zeit der Erdgefchichte betrachten wollte. 
Denn Hebungen und Senfungen ber Erdrinde haben beftändig mit 
einander gewechſelt, und aller Wahrſcheinlichkeit nach entſpricht der 
mineralogiſche und paläontologifche Unterfhied, den man zwifchen je 
zwei auf einanderfolgenden Schichtenſyſtemen und zwiſchen je zwei 
Formationen derfelben wahrnimmt, einem beträchtlihen Zwifchen- 
raum von vielen Zahrtaufenden, während deſſen die betreffende Stelle 
der Erbrinde über das Waffer gehoben war. Erſt nad) Ablauf diefer 
Zwiſchenzeit, als eine neue Senkung diefe Stelfe wieder unter Waſſer 
brachte, fand die Ablagerung einer neuen Bodenſchicht ftatt. Da aber 
inzwiſchen die anorganifchen und organifchen Berhältniffe an diefem 
Orte eine beträchtliche Umbildung erfahren hatten, mußte die neuge- 
bildete Schlammſchicht aus verfchiedenen Bodenbeftandtheilen zufam- 
mengefegt fein und ganz verfhiebene Verfteinerungen einfchliefen. 

Die auffallenden Unterfhiede, die zwiſchen den Verfteinerungen 
weier übereinander liegenden Schichten fo häufig ftattfinden, find ein- 
fach und leicht nur durch die Annahme zu erklären, daß derfelbe 
Punkt der Erdoberfläße wiederholten Senkungen und He- 
bungen auögefept wurde. Noch gegenwärtig finden ſolche wechſelnde 
Sebungen und Senfungen, welche man der Reaktion des feuer-flüffi- 
gen Erdkerns gegen die erftarrte Rinde zufchreibt, in weiter Ausbeh- 
nung ftatt. So zeigt 3. B. die Küfte von Schweden und ein Theil 


352 Relative Dicke der fünf gefchichteten Terrains. 














TV. Eaenstithifhe Shicten-Eyfeme. 3000 Zuß.| Soroen, Miscaen, Pliocaen. | 
IX. Freibe-Syfem. 







IM. Mejolithiſche Sqhichten ⸗Syſteme. 
Ablagerungen der Sekundaͤrzeit. 
Citta ib ooo giß. .4 










































m. valüolithiſche 
Sagiten · Syſteme. Open. | 
Wblogerungen V. Gteintohlen- | 
der Primärgeit. Syfem. 
Circa aa ooo Te BEE 
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Tabelle | 
1. Are: . 
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1 ESykeme. 
Schichten · Syſteme n. Gemtriid 
der Erdrinde Ablagerungen Syke. ' 
wit Bun af im “ ek 
verfätrifmäßi R 
ducchfehnittliche j 
ı Dide, 
(130,000 Fuß , 
dire.) 


Wechſel der Senkungszeiträume und Hebungseiträume, 353 


von der Weftfüfte Südamerikas beftändig langfam empor, während 
die Küfte von Holland und ein Theil von der Ofttüfte Sudamerikas 
allmählich unterfintt. Das Steigen wie das Sinken gefchieht nur fehr 
langſam und beträgt im Jahrhundert bald nur einige Linien, bald 
einige Zoll oder höchſtens einige Fuß. Wenn aber diefe Bervegung 
hunderte von Jahrtaufenden hindurch ununterbrochen andauert, wird 
fie fähig, die höchften Gebirge zu bilden. 

Dffenbar haben ähnliche Hebungen und Sentungen, wie fie an 
jenen Stellen noch heute zu meffen find, während des ganzen Ber- 
laufs der organifchen Erdgeſchichte ununterbrochen an verſchiedenen 
Stellen mit einander gewechſelt. Das ergiebt ſich mit Sicherheit aus 
der geographifchen Verbreitung der Organismen (vergl. S. 320). Nun 
ift es aber für die Beurtheilung unferer paläontologifhen Schöpfungd- 
urtunde außerordentlich wichtig, fih klar zu machen, daß bleibende 
Schichten ſich bloß während langſamer Senfung des Bodens unter 
Waſſer ablagern können, nicht aber während andauernder Hebung. 
Wenn der Boden langfam mehr und mehr unter den Meereöfpiegel 
verfinft, fo gelangen die abgelagerten Schlammfchichten in immer 
lieferes und ruhigeres Waffer, wo ſie ſich ungeftört zu Geftein ver- 
dichten fönnen. Wenn fid) dagegen umgekehrt der Boben langfam 
hebt, fo kommen die foeben abgelagerten Schlammſchichten, welche 
Refte von Pflanzen und Thieren umſchließen, fogleich wieder in den 
Bereich des Wogenfpield, und werden durch die Kraft der Brandung 
alsbald nebft den eingeſchloſſenen organiſchen Reſten zerftört. Aus 
diefem einfachen, aber fehr gewichtigen Grunde können alfo nur wäh- 
rend einer andauernden Senkung des Bodens fi) reichlichere Schich⸗ 
ten ablagern, in denen die organifchen Reſte erhalten bleiben. Wenn 
je zwei verfchiedene übereinander liegende Formationen oder Schichten 
mithin zwei verfdhiedenen Senfungsperioden entfprehen, fo müſſen 
wir zwifchen diefen leteren einen langen Zeitraum ber Hebung an⸗ 
nehmen, von dem wir gar nichts willen, weil uns feine foffilen Refte . 
von den damals lebenden Thieren und Pflanzen aufbewahrt werden 


tonnten. Offenbar verdienen aber diefe ſpurlos dahingegangenen He⸗ 
Hertel, Ratte, Ehäpfungsgeid. 5. Aufl. 23 


354 Berfieinerungßlofe Hebungseiträume. 


bungsgeiträume nicht geringere Berüdfihtigung als die damit 
abwechſelnden Sentungszeiträume, von deren organifcher Ber 
völerung und die verfteinerungsführenden Schichten eine ungefähre 
Borftellung geben. Wahrſcheinlich waren die erfteren durchſchnittlich 
von nicht geringerer Dauer als die letzteren. 

Schon hieraus wird fi) Ihnen ergeben, wie unvollftändig un- 
fere Urkunde nothwendig fein muß, um fo mehr, da fi) theoretiſch 
erweifen läßt, daß gerade während der Hebungggeiträume das Thier- 
und Pflangenleben an Mannichfaltigfeit zunehmen mußte. Denn in- 
dem neue Streden Landes über das Waffer gehoben werden, bilden 
ſich neue Infeln. Jede neue Infel ift aber ein neuer Schöpfungd- 
mittelpunft, weil die zufällig dorthin verfchlagenen Thiere und Pflan ⸗ 
zen auf dem neuen Boden im Kampf um's Dafein reiche Gelegen- 
heit finden, ſich eigenthümlich zu entwideln, und neue Arten zu bil» 
den. Gerade die Bildung neuer Arten hat offenbar während diefer 
Zwiſchenzeiten, aus denen uns leider feine Verfteinerungen erhalten 
bleiben konnten, vorzugsweiſe jtattgefunden, während umgekehrt bei 
der langfamen Senkung des Bodens eher Gelegenheit zum Aufter- 
ben zahlreicher Arten, und zu einem Rüdfchritt in der Artenbildung 
gegeben war. Auch die Zwifchenformen zwiſchen den alten und den 
neu ſich bildenden Specied werben vorzugsweiſe während jener Her 
bungözeiträume gelebt haben, und konnten daher ebenfalls feine foſ⸗ 
filen Refte hinterlaffen. 

Zu den fehr bedeutenden und empfindlichen Rüden der paläonto- 
logifhen Schöpfungsurtunde, welche durch die Hebungszeiträume ber 
dingt werden, fommen nun leider noch viele andere Umftände binzu, 
welche den hohen Werth derfelben außerordentlich verringern. Dahin 
gehört vor Allen der metamorphifche Zuftand der älteften 
Schichtengruppen, gerade derjenigen, welche die Nefte der älter 
ten Flora und Fauna, der Stammfonnen aller folgenden Organis- 
‚ men enthalten, und dadurch von ganz befonderem Intereſſe fein wür- 
den. Gerade diefe Gefteine, und zwar der größere Theil der primor- 
dialen oder archolithiſchen Schichten, faft das ganze laurentiſche und 


Meiamorphiſcher Zuſtand ber älteRen neptunifhen Schichten. 355 


ein großer Theil des cambriſchen Syſtems enthalten gar feine kennt⸗ 
lichen Refte mehr, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil diefe 
Schichten durch den Einfluß des feuer-flüffigen Erdinnern nachträglich 
wieder verändert oder metamorphofirt worden find. Durch die Hipe 
des glühenden Erdkerns find diefe tiefften neptunifchen Rindenfchichten 
in ihrer urfprünglichen Schichtenſtruktur gänzlich umgewandelt und in 
einen kryſtalliniſchen Zuftand übergeführt worden. Dabei ging aber 
die Form der darin eingefchloifenen organifchen Refte ganz verloren. 
Rur hie und da wurde fie durch einen glücklichen Zufall erhalten, wie 
es bei dem älteften befannten Petrefatte, bei dem Eozoon canadense 
aus den unterften laurentifchen Schichten, der Fall ift. Jedoch können 
wir aus den Lagern von kryſtalliniſcher Kohle (Graphit) und kryſtalli⸗ 
niſchem Kalt (Marmor), welche fi) in den metamorphifchen Gefteinen 
eingelagert finden, mit Eicherheit auf die frühere Anmefenheit von 
verfteinerten Pflanzen» und Thierreften in denfelben- fchließen. 
Außerordentlich unvollftändig wird unfere Schöpfungsurfunde 
durch den Umftand, daß erſt ein fehr Meiner Theil der Erdoberfläche 
genauer geologiſch unterfucht ift, vorzugsweiſe England, Deutfchland 
und Franfreih. Dagegen wiſſen wir nur fehr Wenig von den übri« 
gen Theilen Europas, von Rußland, Spanien, Ztalien, der Türkei. 
Hier find und nur einzelne Stellen der Erdrinde aufgeſchloſſen; der 
bei weitem größte Theil derfelben ift un® unbekannt. Daffelbe gilt 
von Nordamerita und von Oftindien. Hier find wenigften® einzelne 
Streden unterfudht. Dagegen vom größten Theil Afien®, des um- 
fangreichſten aller Welttheile, wiffen wir faft Nichts, — von Afrika 
faſt Nichts, ausgenommen das Kap der guten Hoffnung und die Mit- 
telmeerfüfte, — von Reuholland faft Nichts, von Südamerika nur 
{ehr Wenig. Sie fehen alfo, daß erft ein ganz kleines Stüd, wohl 
taum der taufendfte Theil von der gefammten Erdoberfläche gründ- 
li) palaͤontologiſch erforfht ift. Wir können daher wohl hoffen, 
bei weiterer Ausbreitung der geologifchen Unterfuchungen, denen 
namentlich die Anlage von Eifenbahnen und Bergwerken fehr zu 
Hilfe fommen wird, nod einen großen Theil wichtiger Berfteine« 
23 * 


356 Geringere Außbehnung ber paläontofogifchen Erfahrungen. 


rungen aufzufinden. Ein Fingerzeig dafür ift und durch die merf- 
würdigen Verfteinerungen gegeben, die man an den wenigen, ges 
nauer unterfuchten Punkten von Afrika und Afien, in den Kapge 
genden und am Himalaya aufgefunden hat. Eine Reihe von ganz 
neuen und fehr eigenthümlichen Thierformen ift und dadurch bekannt 
geworden. Freilich müflen wir andrerfeit8 erwägen, daß der aud- 
gedehnte Boden der jegigen Meere vorläufig für die paläontologi- 
fen Forfhungen ganz unzugaͤnglich ift, und daß wir den größten 
Theil der hier feit uraften Zeiten begrabenen Berfteinerungen ent- 
weder niemals oder im beften Fall erft nach Verlauf vieler Jahr⸗ 
taufende werden kennen lernen, wenn durch alimähliche Hebungen 
der gegenwärtige Meeresboden mehr zu Tage getreten fein wird. 
Wenn Sie bedenken, daß die ganze Erdoberfläche zu ungefähr drei 
Fünftheilen aus Waſſer und nur zu zwei Fünftheilen aus Feſtland 
befteht, fo können Sie ermeffen, daß auch in diefer Beziehung die 
paläontologifche Urkunde eine ungeheure Lüde enthält. . 

Nun tommen- aber noch eine Reihe von Schwierigkeiten für die 
Paläontologie hinzu, welche in der Natur der Organismen felbft be- 
gründet find. Bor allen ift hier hervorzuheben, daß in der Regel nur 
harte und fefte Körpertheile der Organismen auf den Boden des Mee ⸗ 
res und -ber füßen Gewäller gelangen und hier in Schlamm einge 
ſchloſſen und verfteinert werden können. Es find alfo namentlich die 
Knochen und Zähne der Wirbelthiere, die Kalkſchalen der Weichthiere, 
die Chitinfkelete der Gliederthiere, die Kalkſtelete der Sternthiere und 
Eorallen, ferner die holzigen, feften Theile der Pflanzen, die einer 
ſolchen Berfteinerung fähig find. Die weichen und zarten Theile da- 
gegen, welche bei den allermeiften Organismen den bei weiten größ- 
ten Theil des Körpers bilden, gelangen nur fehr felten unter fo gün- 
fligen Verhäftniffen in den Schlamm, daß fie verfteinern , oder daR 
ihre äußere Form deutfich in dem erhärteten Schlamme fi) abdrüdt. 
Run bedenken Sie, daß ganze große Klaſſen von Organismen, wie 
3. B. die Medufen, die nadten Mollusken, welche feine Echale haben, 
ein großer Theil der Gliederthiere, faft alle Wünner und felbft die 


Geringer Bruchtheil ber verfteinerungsfähigen Organismen. . 957 
nieberfien Wirbelthiere gar feine feften und harten, verfteinerungsfä« 
higen Körpertheile befigen. Ebenſo find gerade die wichtigften Pflan- 
zentheile, die Blüthen, meiften® fo weich und zart, daß fie ſich nicht 
in kenntlicher Form konſerviten fönnen. Bon allen diefen wichtigen 
Drganiömen werben wir naturgemäß auch gar feine verfteinerten Refte 
zu finden erwarten. fönnen. Ferner find die Jugendzuftände faft aller 
Organismen fo wei) und zart, daß ſie gar nicht verfteinerungsfähig 
find. Was wir alfo von Berfteinerungen in den neptunifchen Schich ⸗ 
tenfyftemen der Exdrinde vorfinden, das find im Ganzen nur wenige 
Formen, und meiften® nur einzelne Bruchftüde. 

Sodann ift zu berüdfichtigen, daß die Meerbewohner in einem 
viel höheren Grade Ausficht haben, ihre todten Körper in den abgela« 
gerten Schlammfchichten verfteinert zu erhalten, als die Bewohner der 
fügen Gewäller und des Feſtlandes. Die das Land bemohnenden 
Organismen können in ber Regel nur dann verfteinert werden, wenn 
ihre Leichen zufällig ind Wafler fallen und auf dem Boden in erhär- 
tenden Schlammſchichten begraben werden, was von mandherlei Be- 
dingungen abhängig ift. Daher fann es uns nicht Wunder nehmen, 
daß die bei weitem größte Mehrzahl der Verfteinerungen Organismen 
angehört, die im Meere lebten, und daß von den Landbewohnern 
verhältnigmäßig nur fehr wenige im fofjlen Zuftend erhalten find. 
Welche Zufälligkeiten hierbei in’® Spiel fommen, mag Ihnen allein 
der Umftand beweifen, daß man von vielen foffilen Säugethieren, 
in8befondere von faft allen Säugethieren ber Sefundärzeit, weiter 
Nichts Tennt, ald den Unterkiefer. Diefer Knochen ift erſtens verhält 
nißmãßig feft und loſt ſich zweitens fehr leicht von dem todten Gada- 
ver, das auf dem Waſſer fhwimmt, ab. Während die Leiche vom 
Waſſer fortgetrieben und zerftört wird, fällt der Unterkiefer auf den 
Grund ded Waſſers hinab und wird hier vom Schlamm umſchloſſen. 
Daraus erklärt fi) allein die merkwürdige Thatfache, daß in einer 
Kaltſchicht des Juraſyſtems bei Orford in England, in den Schiefern 
von Stonesfield, bis jept bloß die Unterkiefer von zahlreichen Beutel- 
thieren gefunden worden find, den älteften Säugethieren, welche wir 


358, Mangelhaftigteit ber palaontologiſchen Schöpfungsurtunde. 


tennen. Bon dem ganzen übrigen Körper derfelben war auch nicht 
ein Knochen mehr vorhanden. Die Gegner der Entwickelungstheorie 
würden nad) der bei ihnen gebräuchlichen Logik hieraus den Schlug 
ziehen müffen, daß der Unterkiefer der einzige Knochen im Leibe je- 
ner Thiere war. 

Für die kritiſche Würdigung der vielen unbedeutenden Zufälle, 
die unfere Verfteinerungserkenntniß in der bedeutendften Weife beein- 
fluſſen, find ferner auch die Fußfpuren fehr lehrreich, welche ſich in 
großer Menge in verfhiedenen ausgedehnten Sandfteinlagern, z. 2. 
in dem vothen Sandftein von Connecticut in Nordamerika, finden. 
Diefe Fußtritte rühren offenbar von Wirbelthieren, wahrſcheinlich 
von Reptilien her, von deren Körper felbft und nicht die geringfte 
Spur erhalten geblieben if. Die Abdrüde, welche ihre Füße im 
Schlamm Hinterlaffen haben, verrathen uns allein die vormalige 
Epiftenz von diefen uns fonft ganz unbekannten Thieren. 

Welche Zufälligkeiten außerdem noch die Grenzen unferer pa- 
läontofogifhen Kenntniſſe beftimmen, fönnen Sie daraus ermeſ⸗ 
fen, daß man von fehr vielen wichtigen Verfteinerungen nur ein 
einzigeß ober nur ein paar Gremplare fennt. Es ift faum zehn 
Sabre her, feit wir mit dem unvollftändigen Abdrud eined Vogels 
aus dem Juraſyſtem befannt wurden, deſſen Kenntnig für die Phy⸗ 
logenie der ganzen Vogelklaſſe von der allergrögten Wichtigkeit if. 
Alle bisher bekannten Vögel fteliten eine fehr einförmig orgamifirte 
Gruppe dar, und zeigten feine auffallenden Uebergangsbildungen 
zu anderen Wirbelthierkiaffen, auch nicht zu den nächſtwerwandten 
Reptilien. Jener foffile Vogel aus dem Jura dagegen befaß feinen 
gewöhnlichen Vogelſchwanz, fondern einen Eidechſenſchwanz, und 
beftätigte dadund die aus anderen Gründen vermuthete Abfam- 
mung der Vögel von den Gidechfen. Durch diefes einzige Petrefaft 
wurde alfo nicht nur unfere Kenntniß von dem Alter der Bogel- 
Mafie, fondern auch von ihrer Blutsverwandtſchaft mit den Reptie 
lien weſentlich erweitert. Ebenſo find unfere Renntniffe von ande 
ren Thiergruppen oft durch die zufällige Entdedung einer einzigen 





Urfachen des Mangels foffiler Zwiſchenformen. 359 


Berfteinerung weſentlich umgeftaltet worden. Da wir aber wirklich 
von fehr vielen wichtigen Petrefalten nur fehr wenige Exemplare 
oder nur Bruchftüde fennen, fo muß auch aus diefem Grunde die 
paläontologifche Urkunde hoͤchſt unvoliftändig jein. 

Eine weitere und fehr empfindliche Rüde derfelben ift durch den 
Umftand bedingt, dag die Zwifchenformen, melde die verfchie- 
denen Arten verbinden, in der Regel nicht erhalten find, und zwar 
aus dem einfachen Grunde, weil diefelben (nach dem Prinzip der 
Divergenz des Charakters) im Kampfe um's Dafein ungünftiger ge 
ftellt waren, ald die am meiften divergirenden Varietäten, die ſich 
aus einer und derfelben Stammform entwidelten. Die Zwiſchen⸗ 
glieder find im Ganzen immer raſch auögeftorben und haben ſich 
nur felten vollftändig erhalten. Die am ftärkften divergivenden For- 
men dagegen konnten fi längere Zeit hindurch als felbftftändige 
Arten am Leben erhalten, fih in zahlreichen Individuen ausbreiten 
und demnach aud leichter werfteinert werden. Dadurch ift jedoch 
nicht ausgeſchloſſen, daß nicht in vielen Fällen auch die verbinden- 
den Zwifchenformen der Arten fi fo volftändig verfteinert erhiele 
ten, daß fie noch gegenwärtig die ſyſtematiſchen Paläontologen in 
die größte DBerlegenheit verfegen und endlofe Streitigkeiten über die 
gang willfürlihen Grenzen der Species hervorrufen. 

Ein ausgezeichnetes Beifpiel der Art liefert die berühmte viel- 
geftaltige Suͤßwaſſerſchnecke aus dem Stubenthal bei Steinheim in 
Würtemberg, welche bald als Paludina, bald ala Valvata, bald 
als Planorbis multiformis befchrieben worden ift. Die ſchneewei⸗ 
sen Schalen diefer kleinen Schnede feßen mehr als die Hälfte von 
der ganzen Maſſe eines tertiären Kalkhügels zufammen, und offen« 
baren dabei an diefer einen Lofalität eine folhe wunderbare For⸗ 
men - Mannichfaltigfeit, daß man die am meiften divergirenden Er⸗ 
treme als wenigften® zwanzig ganz verfchiedene Arten befchreiben 
und diefe fogar in vier gang verfchiedene Gattungen verfegen könnte. 
Aber alle diefe ertremen Yormen find dur fo maſſenhafte verbin- 
dende Zwiſchenformen verfnüpft, und diefe liegen fo gejepmäßig 


360 Große Bedeutung einzelner Berfteinerungen. 


über und neben einander, daß Hilgendorf daraus auf das Klarſte 
den Stammbaum ber ganzen Formengruppe entwideln fonnte. Eben- 
fo finden fi bei fehr vielen anderen foſſilen Arten (4. B. vielen 
Ammoniten, Terebrateln, Seeigeln, Seelilien u. f. w.) die ver 
fnüpfenden Zwifchenformen in folder Maſſe, daß fie die „foffilen 
Specieöfrämer” zur Verzweiflung bringen. 

Wenn Sie nun alle vorher angeführten Verhältniſſe ertvägen, 
deren Reihe ſich Teicht noch vermehren ließe, fo werden Sie fich nicht 
darüber wundern, daß der natürliche Schöpfungebericht ober die 
Schöpfungsurkunde, wie fie durd die Berfteinerungen gebildet wird, 
ganz außerordentlich Lüdenhaft und unvollftändig ift. Aber dennoch 
haben die wirkfih gefundenen Zerfteinerungen den größten Werth. 
Ihre Bedeutung für die natürliche Schöpfungsgeſchichte ift nicht ger 
ringer als die Bedeutung, welche die berühmte Infhrift von Ro- 
fette und das Decret von Kanopus für die Völfergefchichte, für die 
Arhäologie und Philologie befigen. Wie e8 durch diefe beiden ur- 
alten Infehriften möglich, wurde, die Gefehichte des alten Egyptens 
außerordentlich zu erweitern, und die ganze Hieroglyphenſchrift zu 
entziffern, fo genügen uns in vielen Fällen einzelne Knochen eines 
Thieres oder unvollftändige Abdrüde einer niederen Ihier« oder 
Pflanzenform, um bie wichtigften Anhaltspunfte für die Geſchichte 
einer ‚ganzen Gruppe und die Erfenntniß ihres Stammbaumd zu 
gewinnen. Ein paar Meine Badzähne, die in der Keuper - Forma. 
tion der Tria® gefunden wurden, haben für fi) allein den ficheren 
Beweis geliefert, dab fhon in der Triadzeit Säugethiere egiftirten. 

Bon der Unvolltommenheit des geologifhen Schöpfungßberid- 
te8 fagt Darwin, in Mebereinftimmung mit Lyell, dem größten 
aller jept lebenden Geologen: „Der natürliche Schöpfungäbericht, wie 
ihn die Paläontologie liefert, ift eine Geſchichte der Erde, unvol- 
Mändig erhalten und in wechſenden Dialekten gefhrieben, wovon 
aber nur der fepte, bloß auf einige Theile der Erdoberfläche fich ber 
siehende Band bi® auf und gefommen ift. Doch aud von diefem 
Bande ift nur hie und da ein kurzes Kapitel erhalten, und von je 


Unvolltonnmenheit der paläontologifhen Schöpfungsurtunde. 361 


der Seite find nur da und dort einige Zeilen übrig. Jedes Wort 
der langſam wechfelnden Sprache diefer Befchreibung, mehr oder 
weniger verfhieden in der ununterbrochenen Reihenfolge der einzel- 
nen Abſchnitte, mag den anfcheinend plöglich wechfelnden Lebendfor- 
men entfprechen, welde in den unmittelbar auf einander liegenden 
Schichten unferer weit von einander getrennten Formationen begra- 
ben liegen.” ” 

Wenn Sie diefe außerordentliche Unvoliftändigeit der paläon- 
tologiſchen Urkunde ſich beftändig vor Augen halten, fo wirb es 
Ihnen nicht wunderbar erfcheinen, daß wir noch auf fo viele uns 
ſichere Hypothefen angeiwiefen find, wenn wir wirffih den Stamm⸗ 
baum der verfhiedenen organifchen Gruppen entwerfen wollen. Je⸗ 
doch befigen wir glüdlicher Weife außer den Berfteinerungen auch 
noch andere Urkunden für die Stammesgefchichte der Drganismen, 
welche in vielen Fällen von nicht geringerem und in manden fogar 
von viel höherem Werthe find als die Petrefakten. Die bei wei- 
tem wichtigfte von diefen anderen Schöpfungsurfunden ift ohne Zwei⸗ 
fel die Ontogenie oder die Entwickelungsgeſchichte des organifchen 
Individuums (Embryologie und Metamorphologie). Diefe wieder 
holt und kurz in großen, marfigen Zügen da® Bild der Formenreibe, 
welche die Vorfahren ded betreffenden Individuums von der Wur- 
jel ihres Stammes an durchlaufen haben. Indem wir diefe palä- 
ontologifhe Entwidelungsgeſchichte der Vorfahren als Stammege- 
ſchichte oder Phylogenie bezeichneten, konnten wir das höchſt wich- 
tige biogenetifhe Örundgefeg außfprehen: „DieOntogenie 
ift eine kurze und ſchnelle, dur die Gefege der Verer— 
bung und Anpaffung bedingte Wiederholung oder Re— 
tapitulation der Phylogenie.” Indem jedes Thier und jedes 
Gewaͤchs vom Beginn feiner individuellen Eyiftenz an eine Reihe 
don ganz verfhiedenen Formzuſtaͤnden durchläuft, deutet e8 uns in 
ſchneller Folge und in allgemeinen Unnriffen die lange und langfam 
wechſelnde Reihe von Formzuftänden an, welche feine Ahnen feit 
den älteften Zeiten durchlaufen haben (Gen. Morph. II, 6, 110, 300). 


362 Das biogenetifche Gruudgeſetz. 


Allerdings ift die Skizze, welche uns die Ontogenie der Orga» 
nigmen von ihrer Phylogenie giebt, in den meiften Fällen mehr 
oder weniger verwifcht, und zwar um fo mehr, je mehr die Anpai- 
fung im Laufe der Zeit das Uebergewicht über die Vererbung er- 
langt hat, und je mächtiger das Gefep der abgefürzten Vererbung 
und das Gefep der wechſelbezüglichen Anpaſſung eingewirkt haben. 
Allein dadurch wird der hohe Werth nicht vermindert, welchen die 
wirklich treu erhaltenen Züge jener Skizze beipen. Befonders 
für die Erfenntniß der früheften paläontologifhen Ent- 
widelungszuftände ift Die Ontogenie von ganz unfhäg- 
barem Werthe, weil gerade von den älteften Entwidelungsjufän- 
den der Stämme und Rlajlen und gar feine verfteinerten Refte er- 
balten worden find und aud ſchon wegen der weichen und zarten 
Korperbeſchaffenheit derfelben nicht erhalten bleiben konnten. Keine 
Berfteinerung fönnte und von der unfchäpbar wichtigen Thatſache be- 
richten, welche die Ontogenie und erzählt, daß die älteften gemeinfa- 
men Vorfahren aller verſchiedenen Tpier- und Pflanzenarten gang ein- 
fache Zellen, glei den Eiem waren. Keine Berfteinerung könnte 
und die unendlich werthvolle, durch die Ontogenie feftgeftellte Thatſache 
beweifen, dab durch einfache Vermehrung, Gemeindebildung und Ar- 
beitötheilung jener Zellen die unendlich mannichfaltigen Körperformen 
der vieljelligen Organismen entftanden. So hilft und die Ontogenie 
über viele und große Lüden der Paläontologie hinweg. 

Ju den unfhäpbaren Schöpfungsurfunden der Paläontologie 
und Ontogenie gejellen jih nun dritten® die nicht minder wichtigen 
Zeugniſſe für die Blutsverwandtſchaft der Organidmen, welche und 
die vergleibende Anatomie liefert. Wenn äußerlich fehr ver- 
ſchiedene Organismen in ibrem inneren Bau nahezu übereinfimmen, 
fo Können Sie daraus mit Sicherheit fchließen, daß dieſe Ueberen- 
funmung ihren Grund in der Bererbung, jene Ungleichheit dagegen 
ibren rund in der Anpaſſung bat. Betrachten Sie z. B. vergleichend 
die Haͤnde oder Vorderpfoten der neun verſchiedenen Säugethere, 
welche auf der gegenüberftebenden Tafel IV abgebildet find. und bei 


Hand von neun verschiedenen : 

















Die Schöpfungsurkunde ber vergleihenden Anatomie. 363 


denen das Mnöcherne Sfelet-Gerüft im Innern der Hand und der 
fünf Finger ſichtbar ift. Ueberall finden ſich bei der verſchiedenſten 
äußeren Form diefelben Knochen in derfelben Zahl, Lagerung und 
Verbindung wieder. Daß die Hand des Menfchen (Fig. 1) von 
derjenigen feiner nächiten Verwandten, des Gorilla (Fig. 2) und 
des Drang (Fig. 3) fehr wenig verſchieden ift, wird vielleicht fehr 
natürlich erfheinen. Wenn aber auch die Vorderpfote des Hundes 
(Fig. 4), fowie die Bruftfloffe (die Hand) des Seehundes (Fig. 5) 
und de Delphins (Fig. 6) ganz denfelben wefentlihen Bau zeigt, 
fo wird dies ſchon mehr überraſchen. Und noch wunderbarer wird 
es Ihnen vortommen, daß auch der Flügel der Fledermaus (Fig. 7), 
bie Grabfhaufel des Maulmurfs (Fig. 8) und der Vorderfuß des 
unvolffommenften aller Säugethiere, de8 Schnabelthiers (Fig. 9) 
ganz aus denfelben Knochen zufammengefept ift. Nur die Größe 
und Form der Knochen ift vielfach geändert. Die Zahl und die Art 
ihrer Anordnung und Verbindung ift Diefelbe geblieben. (Bergl. auch 
die Erflärung der Taf. IV im Anhang.) Es ift ganz undenfbar, 
daß irgend eine andere Urfache als bie gemeinfchaftliche Vererbung 
von gemeinfamen Stammeltern diefe wunderbare Homologie oder 
Gleichheit im wefentlihen ingeren Bau bei fo verfhiedener äußerer 
Form verurfacht habe. Und wenn Cie nun im Syftem von den 
Säugethieren weiter hinunterfteigen, und finden, daß fogar bei den 
Bögeln die Flügel, bei den Reptilien und Amphibien die Border- 
füße, weſentlich in derfelben Weife aus denfelben Knochen zufammen- 
gefegt find, wie die Arme ded Menſchen und. die Borderbeine der 
übrigen Säugethiere, fo fönnen Sie ſchon daraus auf die gemeinfame 
Abſtammung aller diefer Wirbeithiere mit voller Sicherheit fehließen. 
Der Grad der inneren Formverwandtſchaft enthüllt Ihnen hier, wie 
überall, den Grad der Blutsverwandtfchaft. 





Sechzehnter Vortrag. 
Stammbaum und Geſchichte des Protiſteureichs. 





Spetielle Durchführung ber Deſcendenztheorie in dem natiktfichen Syſtem ber. 
Organismen. Konftrultion ber Stammbäume. Abſtamunung aller mehrzeffigen 
Organismen von einzelligen. Abflammung ber Zellen von Moneren. Begriff ber 
organifchen Stämme oder Phylen. Zahl der Stämme des Thierreiche und des | 
Vlangenreicht. Einheitliche oder monophyletifche und viefkeitliche ober polnpfale- | 
tildhe Defeendenzhppothefe. Das Reid ber Protiften ober Urweſen. Acht Kiafien 
des. Protiftenreiche, Moneren. Amdboiden oder Protoplaften. Geikelfikeärmer 
oder Flagellaten. Flimmerkugeln oder Katallalten. Labyrinthläufer oder Laby- 
rinthulten. Kieſelzellen oder Diatomeen. Schleimpilze ober Myromiceten. Bur- 
selfüßer oder Rhizopoden. Bemerkungen zur allgemeinen Naturgeſchichte der Pro- 
tiflen: Ihre debenderſcheinungen, chemiſche Bufammenfegung und Bormbibung 
(Individualität und Grundform). Phylogenie des Protifienteiche. 


Meine Herren! Durch die denkende Vergleihung der individuel⸗ 
ten und paläontofogifhen Entwidelung, ſowie durch die vergleichende 
Anatomie der Organißmen, durch die vergleihende Betrachtung ihrer 
entwickelten Rormverbältniffe, gelangen wir zur Erkenntniß ibrer Au- 
fenweis verſchiedenen Formverwandt ſchaft. Dadurd gewinnen 
wir aber zugleich einen Finblid in ihre wahre Bluto verwandt ⸗ 
ſchaft. welde nad der Defcendengtheorie der eigentliche Grund der 
dormverwandtſchaft it. Wir gelangen alfo , indem wir die empin- 
ſchen Refultate der Embroologie. Paläontologie und Anatomie zufam- 
menſtellen. vergleiben, und zur gegenfeitigen Grgänzung benugen, 
aur annäbernden Erkenntniß des natürlihen Syſtems, welches nad 


Sperielle Durchführung ber Defcenbenzteorie. 365 


unferer Anficht der Stammbaum der Organismen ift. Allerdings 
bleibt unfer menſchliches Wiffen, wie überall, fo ganz befonder® hier, 
nur Stückwerk, ſchon wegen der außerordentlihen Unvoliftändigkeit 
und Lückenhaftigfeit der empirifchen Schöpfungsurfunden. Indeſſen 
dürfen wir und dadurch nicht abſchrecken laſſen, jene höchſte Aufgabe 
der Biologie in Angriff zu nehmen. Laſſen Sie und vielmehr fehen, 
wie weit es ſchon jetzt möglich iſt, trotz des unvollfommenen Zuftan- 
des unſerer embryologiſchen, paläontologiſchen und anatomiſchen 
Kenntniſſe, eine annähernde Hypotheſe von dem verwandtſchaftlichen 
Zufammenhang der Organismen aufzuftellen. 

Darwin giebt uns in feinen Werken auf diefe fpeciellen Fra- 
gen der Defcendenztheorie feine Antwort. Er äußert nur gelegent- 
fi) feine Vermuthung, „daß die Thiere von hoöchſtens vier ober fünf, 
und die Pflanzen von eben fo vielen oder noch weniger Stamm- 
arten berrühren.” Da aber auch) diefe wenigen Hauptformen noch 
Spuren von verwandtſchaftlichet Berkettung zeigen, und da felbft 
Pflanzen « und Thierreich durch vermittelnde Uebergangsformen ver⸗ 
bunden find, fo gelangt er weiterhin zu der Annahme, „daß wahre 
ſcheinlich alle organifhen Weſen, die jemals auf diefer Erde gelebt, 
von irgend einer Urform abftammen.” Gleich Darwin haben auch 
alle amderen Anhänger der Defcendenztheorie diefelbe bloß im Allge- 
meinen behandelt, und nicht den Berfuch gemacht, fie auch fpeciell 
durchzuführen, und das „natürliche Syſtem“ wirklich als „Stamm- 
baum der Organismen” zu behandeln. Wenn wir daher hier dieſes 
ſchwierige Unternehmen wagen, fo müllen wir un ganz auf unfere 
eigenen Füße ftellen. 

Ich habe 1866 in der ſyſtematiſchen Einleitung zu meiner all« 
gemeinen Entwidelungagefhichte (im zweiten Bande der generellen 
Morphologie) eine Anzahl von hypothetiſchen Stammtafeln für die 
größeren Organismengruppen aufgeftelft, und damit thatfächlih den 
erften Berfuch gemacht, die Stammbäume der Organismen in der 
Weiſe, wie es die Entwidelungstheorie erfordert, wirklich zu fon« 
firuiren. Dabei war ih mir der außerorbentlihen Schwierigkeiten 





366 Konſtruktion der Stammbärme. 


diefer Aufgabe volllommen bewußt. Indem ich troß aller abfärel: 
tenden Hinderniffe diefelbe dennoch in Angriff nahm, beanfpructe 
ich weiter Nichts, als den erften Verſuch gemacht und zu weiteren 
und beſſeren Berfuchen angeregt zu haben. Vermuthlich werben die 
meiften Zoologen und Botanifer von diefem Anfang fehr wenig be · 
friedigt gemwefen fein, und am wenigften in dem engen Special 
gebiete, in welchem ein Jeder befonder® arbeitet. Allein wenn it 
gendwo, fo ift gewiß hier das Tadeln viel leichter ald das Beiler- 
machen, und daß bisher noch fein Naturforfcher meine Stammbäume 
durch befiere oder überhaupt durch andere erfept hat, beweift am 
beften die ungeheure Schwierigkeit der unendlich verwidelten Aufgabe. 
Aber gleich allen anderen wiſſenſchaftlichen Hypotheſen, welche jur 
Erklärung der Thatſachen dienen, werben auch) meine genealogiſchen 
Hypothefen fo lange auf Berüdfihtigung Anfprudy machen dürfen, 
bis fie durch beffere erfept werden. 

Hoffentlich wird diefer Erfap recht bald gefhehen. und ib 
wünfchte Nichte mehr, als daß mein erfter Berfuch recht viele Ratur- 
forſcher anregen möchte, wenigſtens auf dem engen, ihnen genau be 
tannten Specialgebiete des Thier- oder Pflanzenreichs die genaueren 
Stammbäume für einzelne Gruppen aufjuftellen. Durch zahlreiche 
derartige Berfuche wird unfere genealogifche Ertenntmiß im Laufe der 
Zeit langſam fortfhreiten, und mehr und mehr der Vollendung näber 
tommen, obwohl mit Beftimmtheit vorauszuſehen ift, daß ein vollen- 
deter Stammbaum niemal® wird erreicht werden. Es fehlen ums und 
werden und immer fehlen die unerläßlichen paläontologiihen Grund 
lagen. Die älteften Urkunden werden und ewig verfchloffen bleiben 
aus den früher bereits angeführten Urſachen. Die älteften, durch Ur- 
zeugung entftandenen Organismen, die Stammeltern aller folgenden. 
müffen wir und nothroendig ala Dioneren denten, als einfache weiche 
ftrufturlofe Eiweißflümpihen, ohne jede beftimmte Form, ohne ırgent 
welche harte und geformte Theile. Diefe und ihre nächften Abfönm- 
finge waren daher der Erhaltung im verfteinerten Zuftande durdaus 
nicht fähig. Ebenſo fehlt und aber aus den im legten Bortrage aus 


Abftommung aller mehrzelligen Organismen von einzelligen. 367 
führlich erörterten Gründen der bei weitem größte Theil von den 
zahlloſen paläontologifhen Dokumenten, die zur fiheren Durdfüh- 
tung der Stammesgefhichte oder Phylogenie, und zur wahren Er- 
tenntniß der organifchen Stammbäume eigentlich erforderlich wären. 
Wenn wir daher dad Wagniß ihrer hypothetiſchen Konftruktion den- 
noch unternehmen, fo find wir vor Allem auf die Unterftügung der 
beiden anderen Urkundenreihen hingewiefen, welche dad paläontolos 
giſche Archiv in wefentlichfter Weife ergänzen, der Ontogenie und der 
vergleichenden Anatomie. 

Ziehen wir diefe höchft werthvollen Urkunden gehörig dentend 
und vergleihend zu Rathe, fo machen wir zunächſt die außerordentlich 
bedeutungsvolle Wahrnehmung, daß die allermeiften Organismen, 
insbefondere alle höheren Thiere und Pflanzen, aus einer Vielzahl von 
Zellen zufammengefept find, ihren Urfprung aber aus einem Ei neh« 
men, und daß dieſes Ei bei den Thieren ebenfo mie bei den Pflanzen 
eine einzige ganz einfache Zelle ift: ein Rlümpchen einer Eimeißver- 
bindung, in welchem ein anderer eimeißartiger Körper, der Zellkern, 
eingeföhloffen ift. Diefe fernhaltige Zelle wächſt und vergrößert fich. 
Durch Theilung bildet ſich ein Zellenhäufchen, und aus diefem entftehen 
durch Arbeitstheifung in der früher beſchriebenen Weife die vielfach 
verfdiedenen Formen, welche die ausgebildeten Thier- und Pflanzen» 
arten und vor Augen führen. Diefer unendlich wichtige Vorgang, 
welchen vwir alltäglich bei der embryologifchen Entwidelung jedes thie- 
rifhen und pflanzlichen Individuums mit unferen Augen Schritt für 
Schritt unmittelbar verfolgen können, und welchen wir in ber Regel 
durchaus nicht mit der verdienten Ehrfurcht betrachten, belehrt uns 
fiherer und vollftändiger, als alle Berfteinerungen es thun könnten, 
über die urfprüngfiche paläontologifche Entwickelung aller mehrzelligen 
Drganiömen, aller höheren Thiere und Pflanzen. Denn da die On- 
togenie oder die embryologiihe Entwickelung jedes einzelnen Indivi⸗ 
duums nichts weiter ift, als ein kurzer Auszug der Phylogenie, eine 
Recapitulation der paläontologifchen Entwidelung feiner Borfahren« 
tette, fo können wir daraus zunächft mit voller Sicherheit den ebenfo 


368 Abſtammung aller mehrzelligen Drganißmen von einzeffigen. 


einfachen als bedeutenden Schluß ziehen, daß alle mehrzelligen 
Thiere und Pflanzen urfprüänglih von einzelligen Or— 
ganismen abftammen. Die uralten primorbialen Vorfahren dei 
Menſchen fo gut wie aller anderen Thiere und aller aus vielen Zellen 
aufammengefegten Pflanzen waren einfache, iſolirt lebende Zellen. Die 
ſes unſchaͤzbare Geheimniß des organifchen Stammbaumes wird und 
durch da8 Ei der Thiere und durch die wahre Eizelle der Pflanzen mit 
untrüglicher Sicherheit verrathen. Wenn die Gegner der Defcenbem- 
theorie un® entgegenhalten, es fei wunderbar und unbegreiflih, der 
ein äußerft compficirter viefgelliger Organismus aus einem einfachen 
einzelligen Organismus im Laufe der Zeit hervorgegangen fei, fo ent- 
gegnen wir einfach, daß wir diefes unglaubliche Wunder jeden Augen- 
blick demonftriren und mit unferen Augen verfolgen fönnen. Denn 
die Embryologie der Thiere und Pflanzen führt und in fürzefter Zeu 
denfelben Vorgang greifbar vor Augen, welcher im Laufe ungebeurer 
Zeiträume bei der Entftehung des ganzen Stammes ftattgefunden bat. 
Auf Grund der embryologifhen Urkunden Fönnen wir alfo mıt 
voller Sicherheit behaupten, daß alle mehrzelligen Organismen eben 
fo gut wie alle eingelligen urfprüngfich von einfachen Zellen abftam- 
men; hieran würde ſich fehr natürlich der Schluß reihen, daß die äl- 
tefte Wurzel des Thier- und Pflanzenreich® gemeinfam ift. Denn bie 
verfehiedenen uralten „Stammzellen“, aus denen ji) die wenigen 
verfiedenen Kauptgruppen oder „Stämme“ (Phylen) des Ibier 
und Pflangenreich® entmwidelt haben, könnten ihre Verfchiedenpeit ſelbã 
erft erworben haben, und könnten felbft von einer gemeinfamen „Ur- 
ftammgelle” abftammen. Wo kommen aber jene wenigen .Stamm 
zellen“ oder diefe eine „Urftammitelle” her? Zum Beantwortung die: 
fer genealogiſchen Grundfrage müffen wir auf die früher erörterte Pla 
ſtidentheorie und die Utzeugungshypotheſe zurüdgreifen. (8. 300} 
Wie wir damals zeigten, können wir und durch Urzeugung un 
mittelbar nicht Zellen entftanden denken, fondern nur Moneren 
Unvefen der denkbar einfachften Art, gleich den noch jept lebenden 
Protamoeben, Protompren u. f. w. (©. 167, Fig. 1). Rum ſoide 


Abftammung der Zellen von Moneren. 369 


ftrufturlofe Schleimkörperchen, deren ganzer eimeißartiger Reib fo gleich» 
artig in fi) wie ein anorganifher Aryftall ift, und die dennoch die 
beiden organifchen Grundfunktionen der Ernährung und Fortpflan⸗ 
zung volfgiehen, konnten unmittelbar im Beginn ber faurentifchen Zeit 
aus anorganifher Materie durch Autogonie entftehen. Während 
einige Moneren auf der urfprünglichen einfachen Bildungsftufe ver- 
barrten, bildeten ſich andere allmählich zu Zellen um, indem der in- 
nere Kem des Eiweißleibes fi) von dem äußeren Zellftoff fonderte. 
Andererfeits bildete ſich durch Differenzirung der äußerften Zellftoff- 
ſchicht ſowohl um einfache (fenlofe) Cytoden, al® um nackte (aber 
ternhaltige) Zellen eine äußere Hülle (Membran oder Schale). Durch 
diefe beiden Sonderungsvorgänge in dem einfachen Urfchleim des Mo- 
nerenleibes, durch die Bildung eines Kerns im Inneren, einer Hülle 
an der äußeren Oberfläche des Plasmakörpers, entftanden aus den 
urfprüngfichen einfachften Cytoden, den Moneren, jene vier verfchie- 
denen Arten von Plaſtiden oder Individuen erfter Ordnung, aus 
denen weiterhin alfe übrigen Organismen durch Differenzirung und 
Zufammenfegung fih entwideln konnten. (Berg. oben ©. 308.) 

‚Hier wird fi Ihnen nun zunächft die Frage aufbrängen: Stam- 
men alle organifhen Eytoden und Zellen, und mithin auch jene 
Stammzellen, welche wir vorher ald die Stammeltern der wenigen 
großen Hauptgruppen des Thier- und Pflangenreich® betrachtet haben, 
von einer einigen urfprünglichen Monerenform ab, ober giebt es 
mehrere verfchiedene organifche Stämme, deren jeder von einer eigen« 
thũmlichen, felbftftändig dur Urzeugung entftandenen Monerenart 
abzuleiten iſt. Mit anderen Worten: Iſt die ganze organiſche 
Belt gemeinfamen Urfprung®, oder verdankt fie mehr- 
fachen Urzeugungsakten ihre Entftehung? Diefe genenlo- 
giſche Grundfrage ſcheint auf den erften Blick ein außerorbentliches Ge- 
wicht zu haben. Indeſſen werden Sie bei näherer Betrachtung bald 
sehen, daß fie daflelbe nicht befipt, vielmehr im Grunde von fehr uns 
tergeorbneter Bebeutung ift. 


Laſſen Sie uns hier zunähft den Begriff des organiſchen 
Hacdel, Ratürl. Schöpfungsgeih. 5. Aufl. 24 





370 Begriff der organiſchen Stämme oder Philen. 


Stammes näher in's Auge fallen und feſt begrenzen. Wir ver- 
ftehen unter Stamm oder Phylum die Gefammtheit aller derjeni⸗ 
gen Organismen, deren Blutsverwandtſchaft, deren Abftammung von 
einer gemeinfamen Stammform aus anatomifchen und entwidelungsd« 
geſchichtlichen Gründen nicht zweifelhaft fein kann, oder doch wenig- 
ften® in hohem Maße wahrfcheinlich if. Unfere Stämme oder Phy- 
len fallen alfo weſentlich dem Begriffe nach zufammen mit jenen wer 
nigen „großen Klaſſen“ oder „Haupttlaſſen“, von denen auch Dar- 
win glaubt, daf eine jede nur blutsverwandte Organismen enthält, 
und von denen er ſowohl im Thierreih als im Pflanzenreih nur fehr 
wenige, in jedem Reiche etwa vier bid fünf annunmt. Im Ihierreich 
würden diefe Stämme im Wefentlihen mit jenen vier bis jieben 
Hauptabtheilungen zufammenfallen, welche die Zoologen feit Bär 
und Cuvier ala „Hauptformen, Generalpläne, Zweige oder Kreife“ 
des Thierreich® unterfcheiden. (Vergl. ©. 48.) Bär und Cuvier un- 
terſchieden deren nur vier, nämlich 1.die Wirbeithiere(Vertebrata) ; 
2. die Gliederthiere (Articulata); 3. die Weichthie re (Mol- 
lusca) und 4. die Strahlthiere (Radiata). Gegenwärtig unter- 
ſcheidet man gewöhnlich fieben, indem man den Stamm der Slieder- 
thiere in die beiden Stämme der @liederfüßer (Arthropoda) und 
der Würmer (Vermes) trennt, und ebenfo den Stamm der Strabl« 
thiere in die drei Stämme der Sternthiere (Echinoderma), der 
Pflangenthiere (Zoophyta) und der Urthiere(Protozoa) zerlegt. 
Innerhalb jedes der fieben Stämme zeigen alle dazu gehörigen Thiere 
trop großer Mannichfaltigkeit in der äußeren Korn und im innern Bau 
dennoch fo zahlreiche und wichtige gemeinfame Grundzüge, daß wir 
an ihrer Blutsverwandtſchaft nicht zweifeln önnen. Daſſelbe gilt auch 
von den fech® großen Hauptklaſſen, welche die neuere Botanik im 
Pfñlanzenreiche unterfcheidet, nämlich 1. die Blumenpflangen (Pha- 
nerogamae); 2. die Jarne (Filicinse); 3. die Mofe (Muscinae); 
4. die Flechten (Lichenes); 5. die Pilze (Fungi) und 6. dieTange 
(Algae). Die legten drei Gruppen zeigen felbft wiederum unter ſich 
fo nahe Besiehungen, daß man fie ala Thalluspflanzen (Thallo- 


Zahl ber Stämme des Thierreichs und des Pflangenreiche. 371 


phyta) den drei erften Hauptklaſſen gegenüber ftellen, und fomit die 
Zahl der Phylen oder Hauptgruppen des Pflanzenreichs auf vier be 
ſchraͤnken tönnte. Auch Mofe und Farne könnte man als Pro«- 
thalluspflanzen (Prothallota) zufammenfaffen und dadurch die 
Zahl der Pflangenftämme auf drei erniedrigen: Blumenpflanzen, Pro- 
thalluspflanzen und Thalluspflanzen. 

Nun ſprechen aber ſehr gewichtige Thatſachen der Anatomie und 
der Entwickelungsgeſchichte ſowohl im Thierreich als im Pflanzenreih 
für die Vermuthung, daß auch dieſe wenigen Hauptklaſſen oder 
Stämme noch an ihrer Wurzel zufammenhängen, d. h. daß ihre nie⸗ 
derften und älteften Stammformen unter fi wiederum blutsverwandt 
find. Ja bei weiter gehender Unterfuchung ‚werden wir noch einen 
Schritt weiter und zu Darwin '3 Annahme bingedrängt, daß auch 
die beiden Stammbäume des Thier- und Pflanzenreichs an ihrer tiefe 
fen Wurzel zufammenhängen, daß auch die niederften und älteften 
Thiere und Pflanzen von einem einzigen gemeinfamen Urmefen ab+ 
fammen. Natürlich önnte nach unferer Anficht diefer gemeinfame 
Urorganismus nur ein durch Urzeugung entftandenes Moner fein. 

Borfichtiger werden wir vorläufig jedenfall® verfahren, wenn wir 
diefen legten Schritt noch vermeiden, und wahre Blutsverwandtſchaft 
nur innerhalb jedes Stammes oder Phylum annehmen, wo fie durch 
die Thatſachen der vergleichenden Anatomie, Ontogenie und Phylo- 
genie unzweifelhaft ſicher geftellt wird. Aber ſchon jept förmen wir 
bei diefer Gelegenheit darauf hinweiſen, daß zwei verfchiebene Grund- 
formen der genenlogifchen Hypothefen möglich find, und daß alle ver- 
ſchiedenen Unterfuchungen der Defcendenztheorie über den Urfprung 
der organifchen Formengruppen fich fünftig entiweber mehr in der einen 
söer mehr in der andern von diefen beiden Richtungen beivegen wer⸗ 
den. Die einheitliche (einftämmige oder monophyletiſche) 
Abſtammungehypotheſe wird beftrebt fein, den erften Urfprung for 
wohl aller einzelnen Organismengruppen al® auch der Geſammtheit 
derſelben auf eine einzige gemeinfame, durch Urzeugung entftandene 
Monerenart zurädzuführen (©. 398). Die vielheitliche (iels 

24* 


372 Gegenſat ber monophnletiſchen und polypäyletifdien Ohpotheſen. 


fämmige oder polyphyletifche) Deſcendenzhypotheſe dagegen 
wird annehmen, daß mehrere verfchiedene Monerenarten durch Urzeu⸗ 
gung entftanden find, und daß diefe mehreren verſchiedenen Haupt- 
Haffen (Stämmen oder Phylen) den Urfprung gegeben haben (S. 399). 
Im Grunde ift der ſcheinbar fehr bedeutende Gegenfak zwifchen diefen 
beiden Hypothefen von fehr geringer Wichtigkeit. Diefe beiden, ſowohl 
die einheitliche oder monophyletiſche, als die vielheitliche oder polyphy⸗ 
letiſche Deſcendenzhypotheſe, müflen nothwendig auf Moneren als 
auf die ältefte Wurzel des einen oder der vielen organiſchen Stämme 
zurüdgehen. Da aber der ganze Körper aller Moneren nur aus einer 
einfachen, firußturlofen und formlofen Maffe, einer eiweißartigen 
Kohlenſtoffverbindung befteht, fo Tönnen die Unterſchiede der verſchie⸗ 
denen Moneren nur chemiſcher Ratur fein und nurin einer verfchie- 
denen atomiftifhen Zufammenfegung jener ſchleimartigen Gimeißver- 
bindung beftehen. Diefe feinen und verwicelten Miſchungsverſchie ⸗ 
denheiten der unendlich mannichfaltig zufammengefepten Eiweißverbin ⸗ 
dungen find aber vorläufig für die rohen und groben Erkenntnißmittel 
des Menfchen gar wicht erfennbar, umb daher auch für unfere vorlie ⸗ 
gende Aufgabe zunaͤchſt von weiter feinem Intereſſe 

Die Frage von dem einheitlichen oder vielbeitlihen Urfprung wird 
ſich auch innerhalb jedes einzelnen Stammes immer wiederholen, wo 
es fih um den Urfprung einer kleineren oder größeren Gruppe han ⸗ 
delt. Im Pflanzenreihe z. B. werden die einen Botaniker mehr ge- 
neigt fein, die fämmtlihen Blumenpflanzen von einer einzigen Fam ⸗ 
form abzuleiten, während die andern bie Borftellung vorziehen wer- 
den, daß mehrere verſchiedene Phanerogamengruppen aus mehreren 
verſchiedenen Farngruppen hervorgegangen find. Ebenfo werden im 
Thierreiche die einen Zoologen mehr zu Gunften der Annahme fein, 
daß fämmtliche placentalen Säugethiere von einer einzigen Bentelthier- 
form abflammen, die andern dagegen mehr zu Gunften der entgegen- 
gefegten Annahme, daß mehrere verſchiedene Gruppen von Placental- 
thieren aus mehreren verfchiedenen Beutelthiergruppen hervorgegangen 
find. Was das Menſchengeſchlecht felbft betrifft, fo werden die Einen 


der monophjletifchen wor den polyphijletifchen Hypotheſen. 373 


Aben aus einer einzigen Affenform vorziehen, wäh- 
6 “ mehr zu der Borftellung neigen werben, daß 
“henarten unabhängig von einander aus meh- 
 entftanden find. Ohne und hier ſchon 

. andere Auffaffung auszufprechen, wol⸗ 

„tung nicht unterdrüden, daß im Allgemei« 

“igen oder monopbyletifhen Defcen- 

‚en mehr innere Wahrſcheinlichkeit befigen, 
‚elftämmigen oder polyphyletifhen Abftam« 

„shypothefen. Der früher erörterte chorologiſche Sap von 

“m einfachen „Schöpfungsmittelpuntte” oder ber einzigen Urhei⸗ 
math der meiften Specied führt zu der Annahme, daß auch die Stamm- 
form einer jeden größeren und Mleineren natürlichen Gruppe nur ein⸗ 
mal im Laufe der Zeit und nur an einem Orte der Erde ent- 
fanden ift. Insbeſondere darf man für alle einigermaßen differen- 
zirten und höher entwidelten Gruppen des Thier- und Pflanzenreichs 
diefe einfache Stammeswurzel, diefen monophyletifchen Urfprung ala 
gefihert annehmen (vergl. 6.313). Dagegen ift es fehr wohl mög- 
lich, dag die entwideltere Deftendenztheorie der Zukunft den poly« 
phyletifchen Urfprung für viele fehr niedere und unvolllommene Grup» 
pen ber beiden organiſchen Reiche nachweiſen wird. 

Aus diefem Grunde nehme ich gegenwärtig für das Thierreich 
einerfeits, für das Pflanzenreich andrerfeits eine einftfämmige oder 
monopbpyletifche Defcendenz an. Hiernach würden alfo die 
oben genannten fieben Stämme oder Phylen des Thierreichs an ihrer 
unterften Wurzel zufammenbängen, und ebenfo die erwähnten drei 
bis ſechs Hauptllaffen oder Phylen des Pflanzenreich® von einer gemein- 
famen älteften Stammform abzuleiten fein. Wie der Zufammenhang 
diefer Stämme zu denfen ift, werde ih in den nächften Vorträgen 
erläutern. Zunädhft aber müffen wir und bier noch mit einer fehr 
merhwürdigen Gruppe von Organismen befhäftigen, welche weder im 
den Stammbaum des Pflanzenreichs, nod) in den Stammbaum bed 





374 Das Reich der Protiften oder Urweſen. 


Thierreih3 ohne Rünftlichen Zwang eingereiht werden fönnen. Diefe 
intereffanten und wichtigen Organismen find die Urwefen oder 
Brotiften. 

Sämmtliche Organismen, welche wir ald Protiften zufammen- 
faffen, zeigen in ihrer äußeren Form, in ihrem inneren Bau und in 
ihren gefammten Lebenserſcheinungen eine fo merhvürdige Miſchung 
von thierifchen und pflanzlichen Eigenfchaften, daß fie mit Marem 
Rechte weder dem Thierreiche, noch dem Pflanzenreiche zugetheilt wer- 
den können, und daß feit mehr als zwanzig Jahren ein endlofer und 
fruchtloſer Streit darüber geführt wird, ob fie in jenes oder in dieſes 
einzuordnen feien. Die meiften Protiften oder Urweſen find von fo 
geringer Größe, daß man fie mit bloßem Auge gar nit wahr- 
nehmen kann. Daher ift die Mehrzahl derfelben erft im Laufe der 
tepten fünfzig Jahre befannt geworden, feit man mit Hülfe der 
verbefierten und allgemein verbreiteten Mikroſtope diefe winzigen 
Organismen häufiger beobachtete und genauer unterfuchte. Aber for 
bald man dadurch näher mit ihnen vertraut wurde, erhoben ſich auch 
alsbald unaufhörlihe Streitigkeiten über ibre eigentliche Ratur und ihre 
Stellung im natürlichen Sufteme der Organismen. Biele von diejen 
‚weifelhaften Urweſen wurden von den Botanifern für Thiere, von den 
Zoologen für Pflanzen erflärt; es wollte fie feiner von Beiden haben. 
Andere wurden umgefehrt ſowohl von den Botanifern für Pflanzen, 
als von den Zoologen für Thiere erklärt; Jeder wollte fie haben. Tiefe 
Widerfprüche find nicht etwa durch unfere unvolltommene Kenntnig der 
BProtiften, fondern wirklich durch die Ratur diefer Wefen bedingt. In 
der That zeigen die meiften Protiften eine fo bunte Dermifchung von 
mancherlei thierifchen und pflanzlichen Charakteren, daß es lediglich der 
Willkür des einzelnen Beobachterd überlaffen bleibt, ob er fie dem 
Thier- oder Pflanzenreich einreihen will. Je nachdem er diefe beiden 
Reiche definirt, je nachdem er dieſen oder jenen Charakter ald beftim- 
wend für die Thiernatur oder für die Pflanzennatur anfieht, wird er 
die einzelnen Protiftenflailen bald dem Ihierreiche, bald dem Pilangen- 
reiche zuertheilen. Diefe foftematifhe Schwierigkeit ift aber dadurch 


Acht Klafien des Protiſtenreichs. 375 


zu einem gang unauflögfichen Knoten geworden, daß alle neueren Un- 
terſuchungen über bie niederften Organismen die bißher angenommene 
ſcharfe Grenze zwiſchen Thier⸗ und Pflanzenreich völlig verwifcht, oder 
wenigften® bergeflalt zerftört haben, daß ihre Wiederherftellung nur 
mittelft einer ganz fünftlichen Definition beiber Reiche möglich iſt. 
Aber auch in diefe Definition wollen wiele Protiften durchaus nicht 
hineinpaſſen. 

Aus dieſen und vielen andern Gründen iſt es jedenfalls, wenig · 
ſtens vorläufig, das Beſte, die zweifelhaften Zwitterweſen ſowohl aus 
dem Thierreiche als aus dem Pflanzenreiche auszuweiſen, und in einem 
wiſchen beiden mitten inneſtehenden dritten organiſchen Reiche zu ver⸗ 
einigen. Dieſes vermittelnde Zwiſchenreich habe ich ala Reich der 
Urmefen (Protista) in meiner allgemeinen Anatomie (im erſten 
Bande der generellen Morphologie) ausführlich begründet (Gen. 
Morpp. J. S. 191— 238). In meiner Monographie der Moneren 5) 
habe ich kürzlich daljelbe in etwas veränderter Begrenzung und in 
ſchärferer Definition erläutert. Als felbftftändige Klaſſen des Proti⸗ 
ſtenreichs Tann man gegenwärtig etwa folgende acht Gruppen anſe⸗ 
ben: 1. die gegenwärtig noch lebenden Moneren; 2. die Amoeboiden 
oder Loboſen; 3. die Geißelſchwaͤrmer oder Flagellaten; 4. bie Flim⸗ 
merkugeln oder Katallakten; 5. die Labyrintpläufer oder Labyrinthu ⸗ 
leen; 6. die Kiefeßgellen oder Diatomeen; 7. die Schleimpilze oder 
Myromycelen; 8. die Wurzelfüßer oder Rhizopoden. 

Die wihtigften Gruppen, welche gegenwärtig in diefen acht Bro- 
tiftenflaffen unterſchieden werden können, find in der nachſtehenden 
foftematifchen Tabelle (S. 377) namentlich angeführt. Wahrſcheinlich 
wird die Anzahl diefer Protiften durch die fortfchreitenden Unterfuchun« 
gen über die Ontogenie ber einfachften Lebensformen, die erit feit 
tutzer Zeit mit größerem Gifer betrieben werden, in Zukunft noch be 
traͤchtlich vermehrt werden. Mit den meiften der genannten Klafien 
iR man erſt in den leßten zehn Jahren genauer bekannt geworden. Die 
höchn intereffanten Momeren und Labyrinthuleen, ſowie die Ratallat- 
ten, find fogar erft vor wenigen Jahren überhaupt entdedt worden. 


376 Der Stammbaum des Protiſtenreiche. 


Wahrſcheinlich find auch fehr zahlreiche Protiflengruppen in früheren 
Perioden auögeftorben, ohne und bei ihrer größtenteils fehr weichen 
Korperbeſchaffenheit foffile Refte hinterlaffen zu haben. Einen ſehr 
beträchtlichen Zuwachs würde unfer Protiftenreich erhalten, wenn wir 
auch bie formenreiche Rlaffe der Pilze (Fungi) an daffelbe annecti ⸗ 
ven wollten. In der That weichen die Pilze durch fo wichtige Ei- 
genthümlichfeiten von den echten Pflanzen ab, daß man fie ſchon 
mehrmals von biefen feßteren ganz hat trennen wollen (vergl. ©. 415). 
Nur proviſoriſch faffen wir fie hier im Pflanzenreich ftehen. 

Der Stammbaum des Protiftenreih3 ift noch in dad 
tieffte Dunkel gehuͤllt. Die eigenthümliche Verbindung von thieriſchen 
und pflanzlichen Eigenſchaften, der indifferente und unbeftimmte Cha- 
vafter ihrer Formverhaͤltniſſe und Lebenserſcheinungen, dabei andrer- 
ſeits eine Anzahl von mehreren, ganz eigenthümfichen Merkmalen, 
welche die meiften der genannten Klaſſen ſcharf von den anderen tren- 
nen, vereiteln vorläufig noch jeden Berfuch, ihre Blutsverwandtſchaft 
untereinander, oder mit den niederften Thieren einerfeit®, mit den 
nieberften Pflanzen andrerfeits, beftimmter zu erfennen. Es ift fehr 
wahrſcheinlich, daß die genannten und noch viele andere und unbe- 
kannte Protiftenklaffen ganz felbftftändige organifhe Stämme oder 
Phylen darftellen, deren jeder ſich aus einem, vielleicht fogar aus meh- 
teren, durch Urzeugung entftandenen Moneren unabhängig entwidelt 
bat. Will man diefer vielftämmigen ober polyphyletifchen Defcendenz- 
hypotheſe nicht beipflihten, und zieht man die einftämmige oder mo- 
nophyfetifhe Annahme von der Blutsverwandtſchaft aller Organismen 
vor, fo wird man die verſchiedenen Protiftenklaffen als niebere Wurzel- 
ſchoößlinge zu betrachten haben, aus derfelben einfachen Monerenwurzel 
herausſproſſend, aus welcher die beiden mächtigen und vielverzweigten 
Stammbäume einerfeit des Thierreich®, andrerfeit® des Pflanzenreiche 
entftanden find. (Bergl. ©. 398 und 399.) Bevor id) Ihnen die 
ſchwierige Frage näher erläutere, wirb es wohl pafiend fein, noch 
Einiges über den Inhalt der vorftehend angeführten Protiſtenklaſſen 
und ihre allgemeine Raturgefchichte vorauszufchiden. 


377 


Syſtematiſche Aeberſicht 
über die 
größeren und Mleineren Gruppen des Protiftenreiche. 

















Alafen Sukematifher 
des Protiken- ame der 
reichs. Alaſen. 
1 
1. Moneren | Mosera | ri 
3. Amoeben |Amosboian | * 
2. 
Seh 1. 
* Bi [mot I» 
! 3. 
4. Blinmertugeln Catallacta 1. 
5. Gabprinthläufer Labyrinthulese 1. 
1. 
6. Lieſelzellen | Distomen | 8. 
3. 
1. 
T. Schleimpilge Myzomycetes , 
i 4 
1. 
8. Burgelfüßer | 7 Amtes 1. 
ober Rhigopo- | IL. Heliozon 1. 
den 


m. Badia | 











Ordnungen | un Hattungs- 
oder Familien name als 
der Maffen, | Beifpiel. 
Gymnomonera .. . . Bathybius 
Lepomonera ...... Protomyza 
Gymnamoebae . . . . Amoeba 
Lepamoebas . .. . » Arcolla 
Nudißagellsta . ... . Eugiena 
Cilioflngellata .. . . Peridinium 
+ Noctiluca 
Catallacta ...... Magosphaera 
Labyrinthuleae . . . Labyrinthula 
Navicula 
Tabellaria 
Coselnodiscus 
Aethaliam 
« Stemonitis 
areyria 
. Lycogalene ...... Reticularia 
Monothalamia . . . . Gromia 
Polythalamia .... . Nummulina 
Heliozon........ Actinosphaerium 
Monoeyttaria . ... . Cyrtidosphaera 
Polyeyttarie. ... Collosphaera. 


378 Die neutralen Moneren ber Gegenwart. 


Daß ich hier wieder mit den merfwürdigen Moneren (Monera) 
als erfter Klaſſe des Protiftenreih® beginne, wird Ihnen vielleicht ſelt- 
fam vortommen, da ich ja Moneren als die älteften Stammformen 
aller Organismen ohne Ausnahme anfehe. Allein was jollen wir 
fonft mit den gegenwärtig noch lebenden Moneren anfangen? 
Wir wiffen Nicht? von ihrem paläontologifhen Urfprung, wir wiſſen 
Nichts von irgend welchen Beziehungen derfelben zu niederen Thieren 
oder Pflanzen, wir willen Nichts von ihrer möglichen Entwidelungs- 
fähigfeit zu höheren Organismen. Das frufturlofe und homogene 
Schleimkluͤmpchen, welches ihren ganzen Körper bildet (Fig. 8). it 





Fig. 8. Protamoeba primitiva, ein Moner des fühen Waffers, ſtart vergrö 
fert. A. Das ganze Dromer mit feinen fornwechſelnden Fortfägen. 2. Daffeibe 
beginnt fid in zwei Hälften zu theilen. C. Die Trennung der beiben Häfften it 
vollftändig geworden und jede ftellt nun ein ſelbſtſtändiges Judividuum der. 
ebenfo die ältefte und urfprünglichfte Grundlage der thierifchen wie der 
pflanzlichen Plaſtiden. Offenbar würde es daher ebenfo willfürfig und 
grundlos fein, wenn man jie dem Thierreiche, ald wenn man fie dem 
Pflangenreiche anſchließen wollte. Jedenfalls verfahren wir vorkäufig 
am vorfihtigften und am meiften fritifch, wenn wir die gegenwärtig 
noch lebenden Doneren, deren Zahl und Berbreitung vielleicht febr 
groß ift, als eine ganz befondere felbititändige Klaſſe zuſammenfaſſen. 
welche wir allen übrigen Klaifen ſowohl des Protiftenreiche, ala dee 
Planzenreich® und des Thierreichs gegenüber ftellen. Durd) die voll- 
tommene Gleichartigkeit ihrer ganzen eiweißartigen Körpermajle. durch 
den völligen Mangel einer Jufammenfegung aus ungleichartigen Tbeil- 
hen ſchließen ſich, rein morphologiſch betrachtet, die Moneren näber 
an die Anorgane als an die Organismen an, und vermitteln offenbar 





Die neutralen Moneren und Amoeben der Gegenwart. 379 


den Uebergang zwifchen anorganifcher und organifcher Körperwelt, wie 
ihn die Hypothefe der Urzeugung annimmt. Die Formen und die Les 
benderfcheinungen der jept noch Iebenden Moneren (Protamoeba, Pro- 
togenes, Protomyza etc.) habe id in meiner „Monographie der 
Moneren“ 15) ausführlid befehrieben und abgebildet, aud) dad Wich⸗ 
tigfte davon kurz im achten Bortrage angeführt (S. 164—167). Da- 
her wieberhole ich hier nur als Beifpiel die Abbildung der ſüßwaſſer⸗ 
bewohnenden Protamoeba (Fig. 8). Die Lebensgeſchichte der orange⸗ 
rothen Protomyxa aurantiaca, welche ich auf der canariſchen 
Infel Lanzerote beobachtet habe, ift auf Tafel I (S. 168) abgebildet 
(vergl. die Erklärung bdefielben im Anhang). Außerdem füge ich 
hier noch die Abbildung einer Form des Bathybius hinzu, jenes 
merfwürdigen von Hurley entdedten Moneres, das in Geftalt von 
nadten Protoplasma-Alumpen und Schleimnepen die größten Mee- 
reötiefen bewohnt (S. 165). 


Fig. 9. Bathybins Hacckelii, das 
„Urſchleim ⸗Weſen“ der größten Mee⸗ 
restiefen. Die Figur zeigt in ſtarter 
Vergrößerung bloß jene Form bes 
Vathybius, welche ein nadtes Pro- 
topladına Nebrwert darſtellt, ohne die 
Distolithen und Cyatholithen, welche 
in anderen Formen deſſelben Dioneres 
gefunden werden, nnd melde wahr- 
ſcheinlich als Ausfcheidungs-Produfte 
deffefben anzufehen find. 





Nicht weniger genealogifhe Schwierigeiten, al® die Moneren, 
bieten und die Amoeben der Gegenwart, und die ihnen näcft- 
verwandten Organismen (Arcelliden und Gregarinen), welche 
wir hier als eine zweite Protiftentlaffe unter dem Namen der Amoe- 
boiden (Lobosa) zufammenfaflen. Man ftellt diefe Urweſen jept 
gewöhnlich in das Thierreih, ohne dag man eigentlich einfieht, was 
wm? Denn einfache nadte Zellen, d. h. hüllenlofe und kernfühs 


380 Die neutralen Amoeben der Gegenwart. 


rende Plaftiden, fommen eben ſowohl bei echten Pflanzen, als bei 
echten Thieren vor. Die Fortpflanzunggellen z. B. von vielen A- 
gen (Sporen und Eier) eyiftiren längere oder kürzere Zeit im Waſſer 
in Form von nadten, Ternhaltigen Zellen, die von ben nadten Giem 
mandjer Thiere (4. B. der Siphonophoren -Medufen) geradezu nicht 
zu unterfheiden find. (Vergl. die Abbildung vom nadten Ei des 
Blaſentangs im XVII. Bortrag, ©. 412.) Eigentlich ift jede nadte 
einfache Zelle, gleichviel 05 fie aus dem Ihier« oder Pflanzgenkörper 
tömmt, von einer felbftftänbigen Amoebe nicht wefentlich verſchieden. 
Denn dieſe letztere ift felbft Nicht weiter ala eine einfache Urzelle, 
ein nadtes Klümpchen von Zellftoff oder Plasma, welches einen 
Kern enthält. Die Zufammenziehungsfähigkeit oder Contractilität 
dieſes Plasma aber, welche die freie Amoebe im Audftreden und 
Einziehen formwechſelnder Fortfäpe zeigt, ift eine allgemeine Lebens · 
eigenſchaft des organifchen Plasma eben fowohl in den thierifchen 
mie in den pflanzlichen Plaftiden. Wenn eine frei bewegliche, ihre 
Form beftändig ändernde Amoebe in den Ruhezuſtand übergeht, fo 
sieht fie ſich kugelig zuſammen und umgiebt fih mit einer ausge 
ſchwitzten Membran. Dann ift fie ber Form nad ebenfo wenig 
von einem thierifchen Ei al® von einer einfachen kugeligen Pilan- 
zenzelle zu unterſcheiden (Fig. 10 4). 





Fig. 10. Amorba sphaeracoceus (eine Amocbenform des fühen Waſſers obue 
eontractile Blaje) ſtart vergrößert. A. Die eingelapfelte Amoche im Ruhezukand, 
beftehend aus einem kugeligen Plasmallumpen (c), welcher einen Kern (8) uchr 
Kernlörperchen (a) einſchließt. Die einfache Zelle ift von einer Cyſte oder Zeilen- 
membran (4) umſchloſſen. 2. Die freie Amoebe, welche die Chſte oder Zeifkant 
geiprengt und verlaffen hat. C. Diefelbe beginnt ſich zu theilen, indem iht Kern 


Amoeboiden ober Protopfaften. 381 


in zwei Kerne zerfällt und ber Zeilfioff zwiſchen beiben ſich einfehnärt. D. Die 
Teilung ift vollendet, indem auch der Zeifoff vollfändig in zwei Hälften zer- 
fallen if (Da und DB). 

Nadte Ternhaltige Zellen, gleich den in Fig. 10B abgebildeten, 
welche in beſtaͤndigem Wechfel formlofe fingerähnliche Fortfäge aus- 
fireden und wieder einziehen, und welche man deshalb ala Amoeben 
bezeichnet, finden ſich vielfach und fehr weit verbreitet im fühen Wafler 
und im Meere, ja fogar auf dem Lande friechend vor. Dielelben 
nehmen ihre Nahrung in derfelben Weife auf, wie e8 früher (©. 166) 
von den Protamoeben befchrieben wurde. Bisweilen kann man ihre 
Fortpflanzung durch Theilung (Fig. 10C, D) beobachten, die ih bes 
reitd in einem früheren Vortrage Ihnen gefhildert habe (©. 169). 
Viele von diefen formlofen Amoeben find neuerdings ald jugendliche 
Entwidelungszuftände von anderen Protiften (namentlich den Mygo- 
myceten) oder als abgelöfte Zellen von niederen Thieren und Pflan- 
zen erkannt worden. Die farblofen Blutzellen der Thiere z. B. auch 
die im menſchlichen Blute, find von Amoeben nicht zu unterfcheiden. 
Sie tönmen gleich diefen fefte Körperchen in ihr Inneres aufnehmen, 
wie ich zuerft durch Fütterung derſelben mit feinzertheilten Farbſtof⸗ 
fen nachgewiefen habe (Gen. Morph. I, 271). Andere Amoeben da- 
gegen (wie bie in fig. 10 abgebildete) ſcheinen felbftftändige „gute 
Species“ zu fein, indem fie fih viele Generationen hindurch unver- 
ändert ‚fortpflangen. Außer den eigentlichen oder nadten Amoeben 
(Gymnamoebae) finden wir weitverbreitet, beſonders im fügen Waf- 
fer, auch beſchalte Amoeben (Lepamoebae), deren nadter Plasma- 
leib theilweis durch eine feſte Schale (Arcella) oder felbft ein aus 
Steindyen zufammengefiebted Gehäufe (Difflugia) geſchützt iſt. Ob⸗ 
gleich diefe Schale mannichfaltige Formen annimmt, entfpricht den- 
noch ihr Tebendiger Inhalt nur einer einzigen einfachen Zelle, die ſich 
wie eine nadte Amoebe verhält. 

Die einfachen nadten Amoeben find für die gefammte Biologie, 
und inöbefondere für die allgemeine Genealogie, nächft den Mone- 
ven bie wichtigften von allen Organismen. Denn offenbar entftanden 


382 Bedeutung der Amoeben für bie allgemeine Genealogie. 


die Amoeben urfprünglich aus einfachen Moneren (Protamoeba) da 
durch, daß der erfte wichtige Sonderungsvorgang in ihrem homo⸗ 
genen Schleimkörper ſtattfand, die Differenzirung des inneren Kemd 
von dem umgebenden Plasma. Dadurch war der große Kortichritt 
von einer einfachen (fernlofen) Cytode zu einer echten (fernhaltigen) 
Zelle gefhehen (vergl. Fig. 8A und Fig. 10B). Indem einige von 
diefen Zellen ſich frühzeitig durch Ausfchwigung einer erſtarrenden 
Membran abtapfelten, bildeten fie die erften Pflanzenzellen, wäh. 
tend andere, nackt bleibende, ſich zu den erften Zellen des Thierkör- 
pers entwickeln fonnten. In der Anmefenheit oder dem Mangel einer 
umhuͤllenden flarren Membran liegt der wichtigfte, obwohl feines 
wegs durchgreifende Formunterſchied der pflanzlichen und der thieri- 
ſchen Zellen. Indem die Pflanzenzellen ſich ſchon frübgeitig durch Ein, 
ſchließung in ihre ftarre, dicke und feſte Gellulofe - Schale abtapfeln, 
gleich der ruhenden Amoebe, Fig. 10A, bleiben fie jelbftftändiger 
und den Einflüffen der Außenwelt weniger zugänglich, als bie wei- 
Gen, meiftend nadten oder nur von einer dünnen und biegfamen 
Haut umhüllten Thierzellen. Daher vermögen aber auch die erfteren 
nicht fo wie die legteren zur Bildung höherer, zufammengefepter Ger 
webötheile, z. B.Nervenfafern, Muskelfaſern zufammenzutreten. Zu- 
glei wird fi) bei den älteften einzelligen Organismen fon früh- 
zeitig der wichtigfte Unterfchied in der thierifhen und pflanzlichen 
Nahrungsaufnahme ausgebildet haben. Die älteften einzelligen Thiert 
tonnten als nadte Zellen, fo gut wie die freien Amoeben (Fig. 10B) 
und die farblofen Blutzellen, fefte Körperchen in das Imere ihres 
weichen Leibe aufnehmen, während die älteften einzelligen Pilan- 
zen, dur ihre Membran abgekapfelt, hierzu nicht mehr fähig we 
ten und bloß flüffige Rahrung (mittelſt Diffufion) durch biefelbe 
durchtreten laffen Tonnten. 

Nicht minder zweifelhaft als die Natur der Amoeben ift dieie · 
nige der Geißelſchwärmer (Flagellata), welde wir als eine dritte 
Alaſſe des Protiftenreih® betrachten. Auch diefe zeigt gleich nahe und 
wichtige Beziehungen zum Pflanzenreich wie zum Thierreich. Gimige 





Geißelf wärmer oder Flagellaten. 383 
Slagellaten find von den frei beweglichen Jugendzuftänden echter 
Pilanzen, namentlih den Schwärmfporen vieler Tange, nicht zu 
unterfcheiden, während andere fid) unmittelbar den echten Thieren, 





















Fig. 11. Ein eingefner Geißelſchwärmer (Euglena striata) ſtart 
vergrößert. Oben ift die fadenförmige ſchwingende Geißel fihtbar, 
in der Mitte der runde Zellenkern mit feinem Kernkörperchen. 


und zwar den bewimperten Infuforien (Ciliata) anſchlie- 
fen. Die Geißelf wärmer find einfache Zellen, welche 
entweder einzeln (Fig. 11) oder zu Kolonien vereinigt im 
füpen und falzigen Waffer leben. hr charakteriftifcher 
Körpertheil ift ein fehr beweglicher, einfacher oder mehr: 
facher, peitfhenförmiger Anhang (Geißel ober Flagellum), 
mittelft deſſen fie Tebhaft im Waffer umherſchwaäͤrmen. 
Die Klaffe zerfällt in drei Ordnungen: die erfte Ordnung 
(Nudiflagellata) wird vorzüglich durch die grünen Eugfenen und 
Volvocinen gebildet; die zweite Ordnung (Cilioflagellata) durch die 
tieſelſchaligen Peridinien ; die dritte Ordnung (Cystoflagellata) durch 
die pfirfichförmigen Noctilufen. Die beiden legteren Ordnungen ge» 
hören zu den Haupturſachen des Meerleuchtens. Die grünen Eugle— 
nen erfeheinen oft im Frühjahr zu Milliarden in unferen Teichen 
und färben durch ihre ungeheuren Maffen das Wafler ganz grün. 
Eine fehr merfwürdige neue Protiftenform, welche ih Flim— 
merfugel (Magosphaera) genannt habe, ift im Eeptember 1869 
von mir an ber nowegiſchen Küfte entdeckt und im meinen biologi- 
ſchen Studien ?5) eingehend gefhildert worden (©. 137, Taf. V). 
Bei der Inſel Gis-Oe in der Nähe von Bergen fing ich an ber 
Oberfläche des Meeres ſchwimmende äußerft zierfihe Meine Kugeln 
(Fig. 12), zufammengefegt aus einer Anzahl von (ungefähr 30—40) 
wimpernden bimförnigen Zellen, die mit ihren fpigen Enden ftrah- 
lenattig im Mittefpunft der Kugel vereinigt waren. Nach eimiger 
Zeit Töfte fih die Kugel auf. Die einzelnen Zellen ſchwammen 


384 Flimmerkugeln oder Katallaften. 
















dig. 12. Die norwegiſche Slim- 
merfngel (Magosphaera planula) 
mittelft ihres Flimmerkleides amher · 
ſchwimmend, von der Cherfläde ge- 
fchen. 
ſelbſtſtändig im Waſſer umber 
ähnlich gewiſſen bewimperten 
Infuforien oder Siliaten. Die 
‚Zellen jenkten jich nachber zu 
Boden, zogen ibre Wimperbaar 
in den Yeib zuric und qingen 
allmählih in die Form einer 
triechenden Amoebe über (ähnlich Fig. 10 B). Die letztere Fapfelte jid 
fpäter ein (wie in Fig. 10A) und zerfiel dann durch fortgefept: 
Zweitheilung in eine große Anzahl von Zellen (gan; mie bei der 
Eifurhung, Fig. 6, S. 266). Die Zellen bededten ſich mit Flim- 
merhäärchen, durchbrachen die Kapfelhülle und ſchwammen nun wie 
der in der Form einer wimpernden Kugel umher (Fig. 12). Dffen- 
bar läßt fi) diefer wunderbare Organismus, der bald ala einfache 
Amoebe, bald ala einzelne bewimperte Zelle, bald als vielzellige 
Wimperkugel erfceint, in feiner ber anderen Protiftenklaiien un- 
terbringen und muß ald Repräfentant einer neuen felbftftändigen 
Gruppe angefehen werden. Da diefelbe zwifchen mehreren Protiften 
in der Mitte jteht und diefelben mit einander verknüpft, fann fie 
den Namen der Vermittler oder Katallakten führen. 

Nicht weniger räthfelhafter Natur find ‚die Protiften der fünften 
Kaffe, die Labyrinthläufer (Labyrinthuleae), welche erſt fürz- 
ih von Cienkowski an Pfählen im Seewailer entdedt wurden 
(Fig. 13). 68 find fpindelförmige, meiften® bottergelb gefärbte Zei- 
len, welche bald in dichten Haufen zu Alumpen vereinigt figen, bald 
in höchſt eigenthümlicher Weife ſich umherbewegen. Sie bilden dann 
in noch unerklärter Weife ein nepförmiges Gerüft von labyrinthiſch 
verfeplungenen Strängen, und in der flarren „Fadenbahn“ dieſes 
Gerüftes rutfhen fie umher. Der Geftalt nah würde man Dre 


Labyrinthuleen und Diatomeen. 385 


Fig. 13. Tabyrinthula macro- 
eystis (ſtark vergrößert). Unten eine 
Gruppe von zufammengehäuften Zel- 
Ten, von denen ſich liuls eine foeben 
abtrennt; oben zwei einzelne Zellen, 
welche in dem ſiarren negförmigen @e- 
rüfte ihrer „Badenbahn“ umberrutfchen. 


Zellen der Labyrinthuleen für 
einfachfte Pflanzen, der Bewe⸗ 
gung nach für einfachfte Thiere- 
halten. In der That find fie 
weder Thiere noch Pflanzen. 










Fig. 14. Navicula hippocampus (flart vergrößert). In 
ber Mitte der kieſelſchaligen Zeile in der Zellentern (Mucleus) 
nebft feinem Kerntörperchen (Nucleolus) ſichtbar. 

Den Labyrinthuleen vielleicht nahverwandt find 
die Kieſelzellen (Diatomeae), eine fehfte Proti⸗ 
ftenflaffe. Diefe Urweſen, welche jegt meiſtens für 
Pflanzen, aber von einigen berühmten Naturfor- 
ſchern noch heute für Thiere gehalten werden, bes 
völtern in ungeheuren Maffen und in einer unend- 
lichen Mannichfaltigteit der zierlichften Formen das 
Meer und die fügen Gewäſſer. Meift find es mi- 
kroftopifh Meine Zellen, welche entweder einzeln (Fig. 14) oder in 
großer Menge vereinigt leben, und entweder feſtgewachſen find ober 
fh in eigenthümlicher Weife rutfchend, ſchwimmend oder friechend 
umberbewegen. Ihr weicher Zellenleib, der durch einen charakteri⸗ 
ſtiſchen Farbftoff bräunlich "gelb gefärbt ift, wird ſtets von einer 
feften und ſtarren Kieſelſchale umſchloſſen, welche die zierlichften und 
mannichfaltigften Formen befigt. Diefe Kiefelpülle it nur durch eine 
oder ein paar Spalten nach außen geöffnet und läßt dadurch den 
eingefchloffenen weichen Plasmaleib mit der Außenwelt communici= 

Hacdel, Ratürl. Schöpfungegeih. 5. Aufl. 25 


386 Schleimpilze oder Myromyceten. 


ren. Die Kiefelfepalen finden ſich maflenhaft verfeinert vor und 
fepen manche Gefteine, z. B. den Biliner Polirfhiefer, das ſchwe⸗ 
diſche Bergmehl, vorwiegend zuſammen. 

Big. 15. Ein gefielter Fruchttörper (Sporenblefe, mit 
Sporen angefüllt) von einem Myromyceten (Physarum al- 
bipes) , ſchwach vergrößert. 

Eine fiebente Protiftenflaife bilden die merfwür- 
digen Schleimpilze (Myxomycetes). Diefe 
galten früher allgemein für Pflanzen, für echte 
Pilze, bis vor zehn Jahren ber Botaniker de Barv 
durch Entdeckung ihrer Ontogenie nachwies, daß 
diefefben gänzlich von den Pilzen verſchieden, und 
eher als niedere Thiere zu betrachten find. Allerdings ift der reife 
Fruchtkdrper derfelben eine rundliche, oft mehrere Zoll große, mit 
feinem Sporenpufver und weichen Floden gefüllte Blafe (Fig. 15), 
wie bei den bekannten Boviften oder Bauchpilzen (Gastromycetes). 
Allein aus den Keimkömern oder Sporen derfelben kommen nicht 
die Garafteriftifchen Radenzellen oder Hyphen der echten Pilze her- 
vor, fondern nadte Zellen, welche anfangs in Form von Geißel- 
ſchwaͤrmern umherſchwimmen (Fig. 11), fpäter nad) Art der Amor 
ben umherkriechen (fig. 10B) und endlich mit anderen ihresgleichen 
zu großen Schleimkörpern oder „PBlagmodien“ zufammenfliehen. Aus 
diefen entfiebt dann unmittelbar der biafenförmige WFruchtkörper. 
Wahrſcheinlich kennen Sie Alle eines von jenen Pladmodien, dad 
jenige von Aethalium septicum, weldes im Sommer als foge 
nannte „Rohblüthe in Form einer fhöngelben, oft mehrere Fuß brei- 
ten, jalbenartigen Schleimmaile nepfönmig die Lohhaufen und Lob- 
beete der Gerber durchzieht. Die fchleimigen frei kriechenden Yu- 
gendzuftände dieſer Myromyceten, welche meiften® auf faulenden 
Pflanzenſtoffen, Baumrinden u. ſ. w. in feuchten Wäldern leben, wer⸗ 
den mit gleichem Recht oder Unrecht won den Zoologen für Thiere, 
wie bie reifen und rubenden blafenförmigen Fruchtzuftände von den 
Votanitern für Pflanzen erflärt. 



















Wurzelfüßer oder Rhizopoben. 387 


Ebenſo zweifelhaft ift auch die Ratur der achten und legten Klaſſe 
des Protiftenreih®, der Wurzelfüher (Rhizopoda). Diefe merk- 
würdigen Organismen bevöltern da8 Meer feit den älteften Zeiten der 
organischen Exdgefchichte in einer außerordentlichen Kormenmanniche 
faltigfeit, theils auf dem Meeresboden kriechend, theild an der Ober- 
fläche ſchwimmend. Rur fehr wenige leben im fügen Waller (z. B. 
Gromia, Actinosphaerium). Die meiften befigen feſte, aus Kalt- 
erde oder Kiefelerde beftehende und höchſt zierlich zufammengefepte 
Schalen, welche in verfteinertem Zuftande ſich vortrefflich erhalten. 
Oft find diefelben zu dicken Gebirgsmaſſen angehäuft, obwohl die ein⸗ 
seinen Individuen fehr klein und häufig für das bloße Auge kaum oder 
gar nicht fihtbar find. Nur wenige erreichen einen Durchmeffer von 
einigen Linien oder felbft von ein paar Zollen. Ihren Namen führt 
die ganze Klaffe davon, daß ihr nadter ſchleimiger Leib an der ganzen 
Oberfläche Taufende von äußerſt feinen Schleunfäden ausſtrahlt, fal- 
fen Füßen, Scheinfüchen oder Pfeudopodien, welche ſich wurjel⸗ 
förmig veräfteln, nepartig verbinden, und in beftändigem Form⸗ 
wechſel glei den einfacheren Schleimfüßdhen der Amoeboiden oder 
Brotoplaften beſindlich find. Diefe veränderlihen Scheinfügchen die- 
nen ſowohl zur Ortsbewegung, als zur Nahrungsaufnahme. 

Die Klaffe der Wurzelfüßer zerfällt in drei verfchiedene Legionen, 
die Kammerweſen oder Acyttarien, die Sonnentvefen oder Heliogoen und 
die Strahlweſen oder Radiolarien. Die erfte und niederfte von diefen 
drei Zegionen bilden die Rammermwefen (Acyttaria). Hier befteht 
nämtich ber ganze weiche Leib noch auß einfachen ſchleimigen Zell- 
Hoff oder aus Protoplasma, das nicht in Zellen differenzixt ift. Allein 
trog dieſer höchft primitiven Leibesbeſchaffenheit fhwigen die Kammer⸗ 
weſen dennoch meiften® eine feite, aus Kalkerde beftehende Schale aus, 
weiche eine große Mannichfaltigkeit zierlicher Formbildung zeigt. Bei 
den älteren und einfacheren Acyttarien ift dieſe Schale eine einfache, 
glodtenförmige, röhrenförmige oder ſchnecenhausformige Kammer, aus 
deren Mündung ein Bündel von Schleimfäden hewortritt. Im Ge- 
genſaß zu diefen Einfammermwefen (Monothalamia) bejigen die 

25* 


388 ‚ Kammerweſen ober Acyttarien. 


Vielkammerweſen (Polythalamia), zu denen die große Mehrzahl 
der Acyttarien gehört, ein Gehäufe, welches aus zahlreihen Kam- 
mern in fehr fünftlicher Weife zufammengefegt ift. Bald fiegen dieſe 
Kammern in einer Reihe hinter einander, bald in concentrifhen Kreis 
fen oder Spiralen ringförmig um einen Mittelpunft herum, und dann 
oft in vielen Gtagen übereinander, gleich den Logen eines großen Am- 
phitheaters. Diefe Bildung befigen z. B. die Nummuliten, deren fin- 
fenförmige Kaltſchalen, zu Milliarden angehäuft, an der Mittelmeer- 
tüfte ganze Gebirge zufammenfegen. Die Steine, aus denen die egyp- 
tifchen Pyramiden aufgebaut find, beftehen aus folhem Nummuliten- 
talk. In den meiften Fällen find die Schalenfammern der Polytha- 
famien in einer Spirallinie um einander gerounden. Die Kammern 
ftehen mit einander durch Gänge und Thüren in Verbindung, gleich 
den Zimmern eine® großen Palaftes, und find nad) außen gewöhnlich 
durch zahfreiche Beine Fenfter geöffnet, aus denen der ſchleimige Kör- 
per formmechfelnde Scheinfüßchen ausftreden fann. Und dennoch, trotz 
des außerordentlich verwidelten und zierlihen Baues dieſes Kalflas 
byrinthes, trotz der unendlichen Mannicfaltigkeit in dem Bau und der 
Berzierung feiner zahlreichen Kammern, troß der Regelmäßigkeit und 
Eleganz ihrer Ausführung, ift diefer ganze fünftlihe Palaft das 
ausgefhwipte Produkt einer volltommen formloſen und ftrufturlofen 
Schleimmaſſe! Fürwahr, wenn nicht ſchon Die ganze neuere Anato- 
mie der thierifhen und pflanzlichen Gewebe unfere Plaftidentheorie 
frügte, wenn nicht alle allgemeinen Refultate derfelben übereinftimmend 
befräftigten, daß das ganze Wunder der Lebenserſcheinungen und Le⸗ 
bensformen auf die aktive Thätigkeit der formlofen Eiweißverbindungen 
des Protoplasma zurüdzuführen it, die Polythalamien allein fon 
müßten unferer Theorie den Sieg verleihen. Denn hier können wir. 
in jedem Augenblid die wunderbare, aber unleugbare und zuerft von 
Dujardin und May Schulze feftgeftellte Thatſache durch das Mi⸗ 
troftop nachweiſen, daß ber formlofe Schleim des weichen Plasma⸗ 
törperd, diefer wahre „Lebensſtoff“, die zierlichiten, vegelmäßigften 
und verwideltften Bildungen auszuſcheiden vermag. Dies if einfach 


Sounenweſen ober Helisgoen. 389 


eine Folge von vererbter Anpaffung, und wir lernen dadurch 
verftehen, wie berfelbe „Urfchleim“, daffelbe Protoplasma, im Kör- 
per der Thiere und Pflanzen die verfchiedenften und compficirteften 
Zellenformen erzeugen kann. 

Bon ganz befonderem Intereſſe ift es noch, daß zu den Poly- 
thalamien auch der ältefte Organismus gehört, deſſen Refte uns in 
verfteinertem Zuftande erhalten find. Dies ift das früher bereitö er⸗ 
wähnte „tanadifche Morgenweſen“, Eozoon canadense, welches vor 
wenigen Jahren in der Ditamaformation (in ben tiefiten Schichten 
des laurentifchen Syſtems) am Ditawafluffe in Canada gefunden 
worden ift. In der That, durften wir überhaupt erwarten, in diefen 
älteften Ablagerungen der Primordialzeit noch organifche Refte zu fin- 
den, fo tonnten wir vor Allen auf diefe einfachften und doch mit einer 
feften Schale bebedten Protiften hoffen, in deren Organifation ber 
Unterfchied zwiſchen Thier und Pflanze noch nicht ausgeprägt ift. 

Bon der zweiten Klaſſe der Wurzelfüßer, von den Sonnenwe- 
fen (Heliozoa), tennen wir nur wenige Arten. Eine Art, das foge- 
nannte „Sonnenthierchen“, findet fi in unferen fügen Gewäflern fehr 
häufig. Schon im vorigen Jahrhundert wurde daffelbe von Paſtor 
Eich horn in Danzig beobachtet und nad ihm Actinosphaerium 
Eichhornii getauft. Es erſcheint dem bloßen Auge als ein gallerti« 
ges graues Schleimfügelehen von der Größe eines Stednadeltnopfes. 
Unter dem Mifroftope fieht man Taufende feiner Schleimfäden von 
dem centrafen Plasmakörper ausftrahlen, und bemerkt, daß eine 
innere zellige Markſchicht von der äuferen blafigen Rindenſchicht zu un⸗ 
terſcheiden iſt. Dadurd erhebt ſich das kleine Sonnenweſen, troß des 
Mangels einer Schale, bereits über die ſtrukturloſen Acytiarien und 
‚bildet den Uebergang von diefen zu den Nadiolarien. Verwandter 
Ratur ift die Gattung Cystophrys. 

Die Strahlwefen (Radiolaria) bilden die dritte und Iepte 
Kaffe der Rhizopoden. In ihren niederen Formen ſchließen fie ſich 
eng an die Sonnenwefen und Kammerweſen an, während fie fih in 
ihren höheren Formen weit über diefe erheben. Bon beiden unter- 


390 Strahlivefen ober Rabiolarien. 


ſcheiden fie fi weſentlich dadurch, daf ber centrale Theil des Kör- 
perd aus vielen Zellen zufammengefept und von einer feiten Bem- 
bran umpüllt ift. Diefe gefchloffene, meiften® fugelige „Centralkap⸗ 
ſel“ ift in eine ſchleimige Plasmaſchicht eingehüllt, von welcher überall 
Taufende von höchft feinen Fäden, die veräftelten und zufammen- 
fliegenden Scheinfüßchen, ausſtrahlen. Dazwiſchen find zahlreiche gelbe 
Zellen von räthfelhafter Bedeutung zerftreut, welche Stärtemehltömer 
enthalten. Die meiften Radiolarien zeichnen fi durch ein fehr ent- 
widelted Stelet aus, welches aus Kiefelerde befteht und eine wun- 
derbare Fülle der zierlichften und feltfamften Formen zeigt. Bald 
bildet dieſes Miefelffelet eine einfache Gitterkugel (Fig. 168), ba 
ein fünftfiches Syftem von mehreren concentrifchen Gitterfugeln, welche 
in einander geſchachtelt und durch radiale Stäbe verbunden find. 
Meiſtens ftrahlen zierliche, oft baumförmig verzweigte Stadyeln von 
der Oberfläche der Kugeln aus. Anderemale befteht da® ganze Skelet 
bloß aus einem Kiefelftern und ift dann meiften® aus zwanzig, nad 
einem beftimmten mathematifchen Gefepe vertheilten und in einem 
gemeinfamen Mittelpuntte vereinigten Stacheln zufammengefept. Bei 
noch anderen Radiolarien bildet das Skelet zierliche vieffammerige 
Gehäufe wie bei den Polythalamien. Es giebt wohl feine andere 
Gruppe von Organißmen, welche eine ſolche Fülle der verſchieden · 
artigften Grundformen unb eine fo geometrifhe Regelmäßigfeit, ver- 
bunden mit der zierlihften Architeltonik, in ihren Steletbildungen 
entwidelte. Die meiften der bis jept befannt gewordenen Formen 
babe id) in dem Atlas abgebildet, der meine Monographie der Ra- 
diofarien begleitet **). Hier gebe ich Ihnen als Beifpiel nur die 
Abbildung von einer der einfachften Geftalten, der Cyrtidosphaers 
echinoides von Riga. Das Stelet befteht bier bloß au® einer ein 
fahen Gitterfugel (8), welche kurze radiale Stacheln (a) trägt. und 
welche die Gentralfapfel (c) loder umfchließt. Bon der Schleimhüe. 
welche bie leptere umgiebt, ftrahlen fehr zahlreiche und feine Schein 
füßchen (p) aus, welche links zum Theil zurüdgezogen und in eine 


Strahlweſen ober Radiolarien. 391 


tlumpige Schleimmaſſe verſchmolzen find. Dazwiſchen find viele gelbe 
Zellen (1) zerſtreut. 





ig. 16. Cyrudosphaera echinoides, 400mal vergrößert. c. Kugelige Cen- 
traltapfel. s. Gitterförmig durchbrochene Kieſelſchale a. Radiale Stacheln, welde 
von derfeiben auoſtrahlen p-"Pfeubopodien oder Scheinfüfichen, welche von ber 
die Gentraltapfel umgebenten Schleimfülle ausſtrahlen. 1. Gelbe kugelige Zellen, 
welche dazwiſchen gerftreut find, und Amylumtörner enthalten. 


Während die Acyttarien meiften® nur auf dem Grunde des 
Meeres leben, auf Steinen und Seepflanzen, zwiſchen Sand und 
Schlamm mittelt ihrer Scheinfüßchen umherkriechend, ſchwimmen 
dagegen die Rabiolarien größtentheild an der Oberfläche des Meere, 
mit rings audgeftredten Pfeudopodien flottirend. Sie finden ſich 
bier in ungeheuren Mengen beiſammen, find aber meiften® fo klein, 
dag man fie faft völfig überfah und erſt feit zwanzig Jahren ge» 


392 Lehenserfcheinungen ber Protiften. 


nauer kennen lernte. Faſt nur biejenigen Radiolarien, welche in 
Geſellſchaften beifammen leben (Bolycyttarien), bilden Gallertfiumpen 
von einigen Linien Durchmeffer. Dagegen die meiften ifolirt leben ⸗ 
den (Monocpttarien) kann man mit bloßem Auge nicht fehen. Trop- 
dem finden ſich ihre verfteinerten Schalen in folden Maſſen ange- 
bäuft, daß fie an manden Stellen ganze Berge zufammenfepen, z. B. 
die Ritobareninfeln bei Hinterindien und bie Infel Barbados in den 
Antillen. 

Da die Meiften von Ihnen mit den eben angeführten acht Pro- 
tiftenflaffen vermuthlich nur fehr wenig ober vielleicht gar nicht ger 
nauer befannt fein werden, fo will ich jetzt zunächft noch einiges All- 
gemeine über ihre Naturgeſchichte bemerfen. Die große Mehrzahl aller 
Protiſten lebt im Meere, theils freiſchwimmend an der Oberfläche der 
See, theild auf dem Meeresboben kriechend , oder an Steinen, Mu- 
ſcheln, Pflanzen u. f. w. feſtgewachſen. Sehr viele Arten von Pro- 
tiften leben auch im fühen Waffer, aber nur eine fehr geringe Anzahl 
auf dem feften Lande (4. B. die Myrompceten, einige Protoplaften). 
Die meiften fönnen nur durch dad Mikroſtop wahrgenommen werden, 
audgenommen, wenn fie zu Millionen von Individuen zufammenge- 
bäuft vorfommen. Nur Wenige erreichen einen Durchmeffer von meh- 
teren Linien oder felbft einigen Zollen. Was ihnen aber an Körper 
größe abgeht, erfepen fie durch die Produktion erftaunficher Maſſen 
von Individuen, und greifen dadurch oft fehr bedeutend in die Deko⸗ 
nomie der Natur ein. Die unvertweslichen Weberrefte der geftorbenen 
Protiſten, wie die Kiefelfchalen der Diatomeen und Radiolarien, die 
Kaltkſchalen der Acyttarien, fepen oft dide Gebirgamaflen zufammen. 

In ihren Lebenderfheinungen, insbefondere in Bezug auf 
Emäbhrung und Fortpflanzung, ſchließen ſich die einen Protiften mehr 
den Pflanzen, die anderen mehr den Thieren an. Die Rahrungsauf- 
nahme ſowohl ald der Stoffwechſel gleichen bald mehr denjenigen der 
niederen Thiere, bald mehr denjenigen der niederen Pflangen. Freie 
Drtöbemwegung kommt vielen Protiften zu, während fie anderen 
fehlt; allein hierin fiegt gar fein entſcheidender Charakter, da wir auch 


Lebenderſcheinungen der Protiften. 393 


unzweifelhafte Thiere kennen, denen die freie Ortsbewegung ganz ab» 
geht, und echte Pflanzen, weiche diefelbe befigen. Eine Seele be 
figen alle Protiften, fo gut wie alle Thiere und wie alle Pflanzen. 
Die Seelenthätigfeit der Protiften äußert fih in ihrer Reizbarkeit, 
d. h. in den Bewegungen und anberen Veränderungen, welche in 
Folge von mechaniſchen, elektriſchen, chemiſchen Reigen u. ſ. w. in 
ihrem contractilen Protoplasma eintreten. Bewußtſein, Willend- und 
Dent» Bermögen find vielleiht in demfelben geringen Grade vor» 
handen, wie bei vielen niederen Thieren, während manche von ben 
höheren Thieren in diefen Beziehungen nicht hinter den niederen 
Menſchen zurüdftehen. Wie bei allen übrigen Organismen, fo find 
auch bei den Protiften die Seelenthätigkeiten auf Molekular - Bewer 
gungen im Protoplasma zurüdzuführen. 

Der wichtigſte phyfiologifhe Charakter des Protiften- 
reichs liegt in der ausſchließlich ungeſchlechtlichen Fort- 
pflanz ung aller hierher gehörigen Organismen. Die höheren Thiere 
und Pflanzen vermehren ſich faſt ausſchließlich nur auf geſchlechtlichem 
Wege. Die niederen Thiere und Pflanzen vermehren fich zwar auch 
vielfach auf ungeſchlechtlichem Wege, durch Theilung, Knospenbildung, 
Keimbildung u. ſ. w.; allein daneben findet ſich bei denfelben doch 
faft immer noch die gefchlechtliche Fortpflanzung, oft mit erfterer regel- 
mäßig in Generationen abwechſelnd (Metagenefis ©. 185). Sämmt- 
liche Protiften dagegen pflanzen ſich ausſchließlich nur auf dem un« 
geſchlechtlichen Wege fort und der Gegenfag der beiden Gefchledhter 
ift bei ifmen überhaupt noch nicht durch Differenzirung entftanden. 
Es giebt weber männliche noch weibliche Protiften. 

Wie die Protiften in ihren Lebenserfcheinungen zwifchen Thieren 
und Pflanzen (und zwar vorzüglich zwifchen den nieberften Formen 
derſelben) mitten inne flehen, fo gilt daſſelbe auch von der chemi⸗ 
Then Zufammenfegung ihres Körpers. Einer der wichtigften Un« 
terſchiede in der chemiſchen Zufammenfegung des Thier- und Pflan- 
jentörperd befteht in feiner harakteriftifchen Sfefetbilbung. Das Sfelet 
oder das fefte Gerüfte des Körpers befteht bei dem meiften echten 


394 Imbivibwalität der Protiften. 


Pflanzen aus der ftidtofffreien Cellulofe, welche ein Ausfchtwigungs- 
produft des ftidftoffhaltigen Zellſtoffs oder Protoplasma ift. Bei den 
meiften echten Thieren dagegen befteht bad Stelet gewöhnlich entweder 
aus ſtickſtoffhaltigen Berbindungen (Chitin u. f. w.), oder auß Kalf- 
erde. In diefer Beziehung verhalten ſich die einen Protiften mehr wie 
Pflanzen, die anderen mehr wie Thiere. Bei Bielen ift das Stelet 
vorzugsweife oder ganz aus Niefelerde gebildet, welche fowohl im 
Thier- als Pflanzenkörper vorfommt. Der aftive Lebensſtoff ift aber 
in alten Fällen das fchleimige Protoplasma. 

In Bezug auf die Form bildung der Protiften ift insbefon- 
dere hervorzuheben, daß die Individunlität ihres Körpers faft 
immer auf einer außerordentlich tiefen Stufe der Entwidelung ftehen 
bleibt. Sehr viele Protiften bleiben zeitlebens einfache Plaftiden oder 
Individuen erfter Orbnung. Andere bilden zwar durch Bereinigung 
von mehreren Individuen Kolonien oder Staaten von Plaſtiden; al⸗ 
fein auch diefe höheren Individuen zweiter Ordnung verharen mir 
ſtens auf einer fehr niedrigen Ausbildungsftufe. Die Bürger bieier 
Blaftidengemeinden bleiben fehr gleichartig, gehen gar nicht oder 
nur in fehr geringem Grade Arbeitötheilung ein, und vermögen 
daher ebenfo wenig ihren ftaatlihen Organismus zu höheren Lei⸗ 
ſtungen zu befähigen, ald etwa in Bezug auf das menſchliche Ge- 
meinwefen die Wilden Neuhollands dies fönnen. Der Zufammen» 
bang ber Plaftiden bleibt auch meiften® fehr (oder, und jebe einzelne 
bewahrt ihre inbivibuelle Selbftftändigfeit. 

Ein zweiter Kormeharakter, welcher näͤchſt der niederen Indivi⸗ 
dualitätäftufe die Protiften beſonders auszeichnet, ifl der niedere Aus⸗ 
bildungagrad ihrer ftereometrifchen Grundform. Wie ich in meiner 
Grundformenlehre (im vierten Buche der generellen Morphologie) ger 
zeigt habe, ift bei den meiften Organismen ſowohl in der Gefammt- 
bildung des Körpers als in der Form der einzelnen Theile eine be- 
fimmte geometrifhe Grundform nachzuweiſen. Diefe idenle Grund- 
form, welde durch die Zahl, Lagerung, Verbindung und Differen- 
zirung der zufammenfependen Theile beftimmt ift, verhält ſich zu der 


Grundformen der Protiſten. 395 


realen orgamifchen Form ähnlich, wie ſich die ideale geometrifche 
Grundform ber Kryftalle zu ihrer unvolltommenen realen Form ver- 
hält. Bei den meiften Körpern und Körpertheilen von Thieren und 
Pflanzen ift diefe Grundform eine Pyramide, und zwar bei den fo 
genannten „frahligregulären” Kormen eine reguläre Pyramide, bei 
den höher bifferenzirten, fogenannten „bilateraf- fommetrifchen” For⸗ 
men eine irreguläre Pyramide. (Vergl. die Tabellen S.556—558 im 
erften Bande der gen. Morph.) Bei den Protiften iſt diefe Pyrami⸗ 
denform, welche im Thier- und Pflanzenreihe vorherrſcht, im Gan- 
zen felten, und ftatt deffen ift die Form entweder ganz unregelmäßig 
(amorph ober irregulär), oder es ift die Grundform eine einfachere, 
reguläre, geometrifche Form; insbeſondere jehr häufig die Kugel, der 
Eylinder, das Ellipfoid, dad Sphäroid, der Doppeltegel, der Kegel, 
das reguläre Polyeder (Tetraeder, Heraeder, Octaeder, Dodetaeder, 
Icoſaeder) u. f. w. Alle diefe niederen Grundformen bed promors 
phologiſchen Syftemd find bei den Protiften vorherrſchend. Jedoch 
tommen daneben bei vielen Protiften auch noch die höheren regu- 
lären und bilateralen Grundformen vor, welche im Thier⸗ und 
Pflanzenreich überwiegen. Auch in dieſer Hinficht ſchließen fih oft 
von nächftverwandten Protiften die einen (j. B. die Acyttarien) 
mebr den Thieren, die anderen (j. ®. die Radiolarien) mehr den 
Pflanzen an. 

Was nun die paläontologifche Entwidelung des Pro- 
tiftenreich® betrifft, fo kann man darüber fehr verfchiedene, aber 
immer nur hoͤchſt umfichere genealogiſche Hypotheſen aufftelien. 
Vielleicht find die einzelnen Klaſſen deffelben felbftftändige Stämme 
oder Phylen, die ſich fowohl unabhängig von einander ald von dem 
Thierreich und von dem Pflanzenreich entwicelt haben. Selbft wenn 
wir die monophyletiſche Deſcendenzhypotheſe annehmen, und für alle 
Drganismen ohne Ausnahme, die jemald auf der Erbe gelebt haben 
und noch jegt leben, die gemeinfame Abftammung von einer einzigen 
Monerenform behaupten, felbft in diefem Kalle ift der Zufammen- 
bang der neutralen Protiſten einerfeit3 mit dem Pflangenftamm, andrers 


396 Einfämmige oder monophyletiſche Defernbenz-Hypothefe. 

ſeits mit dem Thierſtamm nur fehr loder. Wir hätten fie dann (vergl. 
©. 398) als niedere Wurgelfchößlinge anzufehen, welche fih unmit- 
telbar aus der Wurzel jenes zweiſtaͤmmigen organifhen Stammbaum 
entwidelt haben, oder vielleicht als tief unten abgehende Zweige eines 
gemeinfamen niederen Protiftenftammes, welcher in der Mitte zwi⸗ 
hen den beiden divergivenden hohen und mächtigen Stämmen des 
Thier- und Pflanzenreih8 aufgefhoflen ift. Die einzelnen Protiften- 
Maffen, mögen fie nun an ihrer Wurzel gruppenweife enger zufam- 
menhängen oder nur ein lockeres Büfchel von Wurzelfhöhlingen bil- 
den, würden in dieſem Falle weber mit ben rechts nach dem Thier- 
reiche, noch mit den links nach dem Pflanzenreiche einfeitig abgehen- 
den Organismengruppen Etwas zu thun haben. 

Nehmen wir dagegen die vielheitlihe oder polyphyletiſche De 
feendenzhypothefe an, fo würden wir und eine mehr oder minder 
große Anzahl von organifhen Stämmen oder Phylen vorzuſtellen 
haben, welche alle neben einander und unabhängig aus dem ge 
meinfamen Boden ber Urzeugung aufſchießen. (Bergl. ©. 399.) Es 
würden dann zahfreiche verfchiedene Moneren durch Urzeugung ent- 
ftanden fein, deren Unterſchiede nur in geringen, für un® nicht er- 
fennbaren Differenzen ihrer hemifchen Zufammenfegung und in Folge 
deffen auch ihrer Entroidelungsfähigkeit beruhen. Eine geringe An- 
zahl von Moneren würde dem Pflanzenreih, und ebenfo andrerfeits 
eine geringe Anzahl von Moneren dem Thierreih den Urfprung gege- 
ben haben. Zwiſchen biefen beiden Gruppen aber würde fi, unab- 
hängig davon, eine größere Anzahl von felbitftändigen Stämmen ent- 
widelt haben, die auf einer tieferen Organifationäftufe ftehen blieben, 
und fid) weber zu echten Pflanzen, noch zu echten Thieren entwidelten. 

Eine ſichere Entſcheidung zwifchen der monophyletifchen und po⸗ 
lyphyletiſchen Hypothefe ift bei dem gegenwärtigen unvollfommenen 
Zuftande unferer phylogenetifhen Erkenntniß noch ganz unmöglich. 
Die verfchiedenen Protiftengruppen und die von ihnen faum trenn- 
baren nieberften Formen einerſeits des Thierreichs, andrerfeitd des 
Pflanzenreichs, zeigen unter einander einen fo innigen Zufammenhang. 


Bielfämmige oder polyphyletiche Deſcendenz · Hypotheſe. 397 


und eine fo bunte Miſchung der maßgebenden Eigenthümlichkeiten, 
daß gegenwärtig noch jede fuftematifche Eintheilung und Anordnung 
der Formengruppen mehr ober weniger fünftlih und gezwungen er- 
ſcheint. Daher gilt auch der bier Ihnen vorgeführte Verfuh nur 
ald ein ganz proviſoriſcher. Je tiefer man jedoch in die genealogi— 
ſchen Geheimniſſe dieſes dunkeln Forſchungsgebietes eindringt,, deſto 
mehr Wahrſcheinlichkeit gewinnt die Anſchauung, daß einerſeits das 
Pflanzenreich, anderſeits das Thierreich einheitlichen Urſprungs iſt, 
daß aber in der Mitte zwiſchen dieſen beiden großen Stammbäumen 
noch eine Anzahl von unabhängigen kleinen Organismengruppen 
durch vielfach wiederholte Urzeugungsatte entftanden ift, welche durch 
ihren indifferenten, neutralen Charakter, und ihre Mifhung von thie- 
tifhen und pflanzlichen Eigenfchaften auf die Bezeichnung von felbft- 
fändigen Protiften Anſpruch machen können. 

Wenn wir alfo auch einen ganz felbftftändigen Stamm für 
das Pflanzenreih, einen zweiten für das Thierreich annehmen, wür- 
den wir zwiſchen beiden doch eine Anzahl von felbftftändigen Pro- 
tiftenftämmen aufftelfen Tönnen, deren jeder ganz unabhängig von 
jenen aus einer eigenen archigonen Monerenform ſich entwickelt hat. 
Um ſich diefes Verhäftnig zu veranfhaulihen, kann man ſich die 
ganze Drganismenwelt als eine ungeheure Wieſe vorftellen, welche 
größtentheild verdorrt ift, und auf welcher zwei vielverzweigte mäch- 
tige Bäume ftehen, die ebenfalls größtentheild abgeftorben find. Diefe 
legteren mögen das Thierreih und das Pflanzenreich vorftellen, ihre 
friſchen noch grünenden Zweige die lebenden Thiere und Bilanzen, die 
verdorrten Zweige mit weltem Laube dagegen die auögeftorbenen 
Gruppen. Das dürre Gras der Wiefe entfpricht den wahrſcheinlich 
zahlreichen, auögeftorbenen Stämmen, die wenigen noch grünen 
Halme dagegen den jept noch lebenden Phylen des Protiſtenreichs. 
Den gemeinfamen Boden der Wiefe aber, aus dem alle heworge⸗ 
ſproßt find, bildet dad Protoplasma. 


396 Einfämmige oder monophyletifche Defeenbeny” 








—8 
ſeits mit dem Thierſtamm nur fehr loder. u Ä 

©. 398) ala niedere Wurjelſchößlinge [1 Zr 

teilbar aus der Wurzel jenes zweiſtaͤmm⸗ “ 

entwidelt haben, oder vielleicht als *. ji Bu 


gemeinfamen niederen Protiften? 

ſchen den beiden divergivender . 

Thier- und Pflanzenreichs o 

tlaſſen, mögen fie nun o* 2 Beifiere 





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| oa 





Urpflangen Urweſen urtdiere 

Protophyta Protiste, Protoson 

| map In 

| Tamm 7 
ü N 

| Vegetabile Neutrale Animale 

I Moneren Moneren Moneren 


Arqigone Moneren 











‚iger oder polyphyletifcger Stammbaum der Organismen. 399 














1 ıu. 
Vrotiſtenreich Thierreich 
Regnum Bognum 
votistioum animale 
| 
B x u 
Wuryelfüßer 
Rhizopoda 
m 
Kieſelzellen Flimmerkugeln 
Diatomen Cntallaete 
Br Tu Geihel· 
Ihwärmer 


Labyrinth · Flagellata 
fünfee —— 


























Labyrin- 
Urpllanzen — Urthiere 
az | mäniben —— 
Ne Mm 
IH mm ll 
" Begetabite | - Neutrale Animale 
Roxeren Moneren Moneren 
| 

t t + tr + |t | 

ae Ba Eu Be le lalle oo, ro! 
IE Fu + |+ ’ + ei fie lie tr 
Bun! +1 #1 || 1# | | jı nellt 
! Il): j 
AN | | IN AI Bill 



































Die mit einem + begeichneten Einien bebeuten aubgeſtorbene Pro- 
tiſten · Stãmme, welche durch wieberholte Urzeugungs · Alte ſelbſt- 
Rändig entftanden finb. 








398 Einftämmiger oder monophyletiſcher Stammbaum der Organismen. 























u. am. 
Pflanzen Thiere 
\ Plantae Animalia 
| —ñ ç — —— 
Blumenpflanzen Wirbelthiere 
— Vertebrata 
| Gliederthiede 
Arthropoda U 
game Steruthiere h —— 
Filieinae Echinoderma m 
x ! 
! 
| | i 
Mofe 
Muscinae Vermes 
! | Flechten 
Pflangenthiere 
\ Lichenes Zoophyta 
Tange vilze 
Algae Fungi Ürbarmthiere 
’ f f Gastraosda 
| j i 1. | 
| - Reste ——— — 
| Nrpflanzen Urweſen Urthiere 
Protophyta Protiste Protoson 
— — — 
N, ll | Al if! 
I 
hl 
Vegetabile Neutrale Animale 
Moneren Moneren Moneren 
| ll 
IBBBB 





| 
Archigone Moneren 
(Brotoplasmaftüde, durch Urzeugung entflanben.) 





Bielftämmiger ober polyphyletiiher Stammbaum ber Organismen. 399 
















































































ı u 1. u. 
Vllanzenreich Vrotiſtenreich Thierreich 
| Bognum Begaum Begnum 
Vogetabile, protisticum animale 
“ Belle 
Rhizopoda 
Schleimpitge —— 
ı  Myzomyostes 
—— 
. Kiefeljellen Flimmerfugeln 
' Diatomea Catallaeta 
— Ceihel⸗ 
ſchwarmer 
Labyrinth · Flagellata J 
läfee —— 
Labyrin- 
thnlen 
Urpfanzen _— Urtpiere 
— Amdbeiden | — — 
—— |) | | 
I 
u mm ill 
Begelabile Neutrale Auimale 
Roneren Moneren Moneren 
| 
+ +1 + 3 le | 
+ t '| || le Serie Falle oo + 
[rt .7.5,14. 74.7 
11 + I+ | || lt 
j ULLENEEE 
— 
NB. Die niit einem + begeichneten Linien bedeuten ausgeſtorbene Pro- 
tiften Stämme , welche durd) wieberfolte Urzeugungs- Alte felbft- 
Mändig entftanden ſind. 








Siebenzehnter Vortrag. 
Stammbaum und Geſchichte des Pflanzenreichs. 


Das natürliche Syſtem des Pflanzenreichs. Gintheilung des Pilanzenreiht 
in ſechs Hauptffaffen und neungehn Maffen. Unterreich der Blumenlofen (Erupto 
gamen). Stammgruppe ber Thalluspflanzen. Zange oder Algen (Urtange, Grün 
tange, Brauntange, Rotktange, Mostange. Fadenpflauzen ober Inophyten (Fick 
ten und Pilge). Stammgruppe der Prothalluspflanzen. Moſe oder Muteinen 
(Lebermofe, Laubmofe). Farne oder Filicinen (Saubfarne, Schaftfarne, Baflerfarnc, 
Zungenfarne, Schuppenfarne). Unterreich der Blumenpflanzen (Whaneregemen . 
Nadtſamige oder Gymnoſpermen. Palınfarne (Eycabeen). Nadelhöolzer (Eontferen . 
Meningos (Onetaceen). Dedfamige oder Angisfpermen. Monocotylen. Dicothlen. 
Kelchbluthige (Apetalen). Sternblüthige (Diapetalen). Glodenblüthige (Gamepetalcı . 


Meine Herren! Jeder Berfuh, den wir zur Erkenntniß dei 
Stammbaums irgend einer Meineren oder größeren Gruppe von blute 
verwandten Organismen unternehmen , hat fih zunächft an dad x 
ſtehende „natürlihe Suftem“ diefer Gruppe anzulehnen. Denn 
obgleich das natürliche Syſtem der Thiere, Protiften und Planen 
niemald endgültig feftgeftellt werden, vielmehr immer nur einen mebt 
oder weniger annähernden Grad von Erkenntniß der wahren Blur 
verwandtſchaft darſtellen wird, fo wird es nichtadeſtoweniger jeder 
zeit die hohe Bedeutung eines bypothetifhen Stammbaums behalten. 
Allerding3 wollen die meiften Zoologen, Protiftiter und Botamler 
durd ihr „natürliches Syſtem“ nur im Lapidarſtyl die fubjefriven 
Anfhauungen ausbrüden,, die ein jeder von ihnen von der objektiven 


Das natürliche Syſtem des Pflanzenreichs. 401 


„Formverwandtſchaft“ der Organismen beſiht. Allein dieſe 
Formverwandtiſchaft iſt ja im Grunde, wie Sie geſehen haben, nur 
die nothwendige Folge der wahren Blutsverwandtſchaft. Da- 
ber wird jeder Morphologe, welcher unfere Erkenntniß des natürlichen 
ESyſtems fördert, gleichzeitig, er mag wollen oder nicht, auch unfere 
Erkenntniß des Stammbaumes fördern. Ye mehr das natürliche Sy⸗ 
Rem feinen Namen wirklich verdient, je fefter es fi) auf die überein 
flimmenden Refultate der vergleichenden Anatomie, Ontogenie und 
Baläontologie gründet, defto ſicherer dürfen wir baffelbe ald den an- 
nähernden Ausdrud ded wahren Stammbaums betrachten. 

Indem wir und nun zu unferer heutigen Aufgabe die Genenlogie 
des Pflanzenreichs fteden, werben wir, jenem Grundfape gemäß, zu- 
nãchſt einen Blick auf das natürlihe Syftem des Pflanzen- 
reichs zu werfen haben, wie baffelbe heutzutage von den meiften Bo- 
tanifern mit mehr ober minder unbebeutenden Abänderungen ange 
nommen wird. Danach zerfällt zunächft die ganze Maſſe aller Pflan- 
senformen in zwei Hauptgruppen. Diefe oberften Hauptabtheilungen 
oder Unterreiche find noch Diefelben, welche bereits vor mehr als einem 
Jahrhundert Earl Linne, der Begründer der ſyſtematiſchen Ratur- 
geihichte, unterfchied, und weiche er Eryptogamen oder Geheim- 
blühende und Phanerogamen oder Offenblühende nannte. Die 
legteren theilte Linné in feinem künſtlichen Pflanzenfyften nach der 
verſchiedenen Zahl, Bildung und Verbindung der Staubgefäße, ſo⸗ 
wie nach der Bertheilung der Geſchlechtsorgane, in 23 verſchiedene 
offen, und diefen fügte er dann als 2aſte und legte Klaſſe die 
Emptogamen an. 

Die Eryptogamen, die geheimblühenden oder biumenlofen 
Pflanzen, welche früherhin nur wenig beobachtet wurden, haben durch 
die eingehenden Forſchungen der Neuzeit eine fo große Mannichfaltig- 
feit der Formen und eine fo tiefe Verſchiedenheit im gröberen und 
feineren Bau offenbart, daß wir unter denfelben nicht weniger als 
vierzehn verſchiedene Klaſſen unterfheiden müflen, während wir 
die Zahl der Klaſſen unter den Blüthenpflanzgen oder Phaneroga- 

Hurdel, Ratärl. Gätpfungegeid. 5. Huf. 26 


402 Sechs Haupttlaffen umb neunzehn Mafien des Pflanzenreiche. 


men auf fünf befchränfen können. Diefe neunzehn Klaffen 
des Pilanzenreich3 aber gruppiren ſich naturgemäß wiederum 
dergeſtalt, daß wir im Ganzen ſechs Hauptklaffen (oder Kladen, 
d. b. Aeſte) des Pflanzenreichs unterſcheiden können. Zwei von die 
ten ſechs Haupttlaſſen fallen auf die Blüthenpflanzen, vier dagegen 
auf die Blütbenlofen. Wie ſich jene 19 Klaſſen auf dieſe ſechs Haupt- 
Hafen, und die lepteren auf die Hauptabtheilungen des Pilanzenteichd 
vertbeilen, zeigt die nachſlehende Tabelle (©. 404). 

Das Unterrih der Eryptogamen ober Biumenlofen 
fann man zunähft naturgemäß in zwei Hauptabtheilungen oder 
Stammgruppen zerlegen, welche ſich in ihrem inneren Bau und in 
ihrer änferen Form fehr weſentlich unterſcheiden, nämlich die Thal 
luspflanzen und die Prothalluspflangen. Die Stammgruppe der 
Thalluspflangen umfaßt die beiden großen Hauptklaſſen der 
Tange oder Algen, melde im Waſſer leben, und der Faden ⸗ 
pflanzen oder Inophyten (Flechten und Pilze), welche aufer- 
halb des Waffers, auf der Erde, auf Steinen, Baumrinden, auf ver- 
weſenden organifchen Körpern u. ſ. w. wachen. Die Stammgrupp 
der Prothallus pflanzen dagegen enthält die beiden formenrei 
hen Hauptklaffen der Mofe und Karne. 

Ale Thalluspflanzen oder Thallophyten find fofert 
daran zu erfennen, dag man an ihrem Körper die beiden morpbo- 
logiſchen Grundorgane der übrigen Pflanzen, Etengel und Blätter, 
noch nicht unterfeiden fann. Vielmehr ift der ganze Leib aller 
Tange und aller Fadenpflanzen eine aus einfachen Zellen zuſammen 
gefepte Maſſe, welche man ald Raubkörper oder Thallus beyeih- 
net. Diefer Thallus ift noch nicht in Arorgane (Stengel und Bur 
zel) und Blattorgane differengirt. Hierdurch, ſowie durch vide an- 
dere Eigenthumlichkeiten, ſtellen ſich die Thallophyten allen übrigen 
Pflanzen, näͤmlich den beiden Hauptgruppen der Prothalluspflargen 
und der Blüthenpflanzen, gegenüber und man hat deöhalb auch häufig 
die lepteren beiden al® Stodpflanzen oder Cormophoten 
jufammengefaßt. Das Verhältnig diefer drei Stammgruppen yu 


Thalluspflanzen und Stodpflanzen. 403 
einander, entfprechend jenen beiden verſchiedenen Auffaffungen, macht 
Ihnen nachftehende Ueberſicht deutlich: 

4. Thalluspflanzen } 1. Tpalluspflanzen 


1. Blumenloſe (Thallophyta). (Thallophyta). 
(Cryptogamae). B. Prothalluspflanzen 
(Prothallota). IL Stodpflanzen 
1. Blumenpflanzen { ©. Blumenpflanzen (Cormophyta). 
(Phanerogamae). (Phanerogamae). 


Die Stodyflanzen oder Cormophyten, in deren Organifation be 
reits der Unterfchied von Agorganen (Stengel und Wurzel) und Blatt- 
organen entwidelt ift, bilden gegenwärtig und ſchon feit fehr langer 
Zeit die Hauptmaffe der Pflanzenwelt. Allein fo war es nicht im- 
mer. Vielmehr fehlten die Stodpflanzen, und zwar nicht allein die 
Blumenpflanzen, fondern auch die Prothalluspflangen, noch gänzlich 
während jenes unermeßlich langen Zeitraums, welder ala das archo- 
lithiſche oder primordiale Zeitalter den Beginn und den erften Haupt» 
abſchnitt der organifchen Erdgeſchichte bildet. Sie erinnern fih, daß 
während dieſes Zeitraums fi die laurentifchen, cambriſchen und 
filuriſchen Schichtenſyſteme ablagerten,, deren Dide zufammengenom- 
men ungefähr 70,000 Fuß beträgt. Da nun die Dide aller dar- . 
über liegenden jüngeren Schichten, von den devonifchen bis zu den 
Ablagerungen der Gegenwart, zufammen nur ungefähr 60,000 Fuß 
erreicht, fo konnten wir hieraus allein den aud) aus anderen Grün- 
den wahrſcheinlichen Schluß ziehen, daß jenes archolithiſche oder 
primordiale Zeitalter eine längere Dauer beſaß, als die ganze dar- 
auf folgende Zeit bis zur Gegenwart. Während dieſes ganzen un- 
ermeßlichen Zeitraums, der vielleicht viele Millionen von Jahrhun⸗ 
derten umſchloß, fcheint das Pflanzenfeben auf unferer Erde aud- 
ſchließlich durch die Stammgruppe der Thalluspflanzen, und zwar 
nur durch die Hauptklaffe der waſſerbewohnenden Thalluspflanzen, 
dur die Tange oder Algen, vertreten geweſen zu fein. Wenigftens 
gehören alle verfteinerten Pflanzenrefte, welche wir mit Sicherheit 
aus der Primordiafzeit kennen, ausſchließlich diefer Hauptklaſſe an. 

26* 


a0 
Sußematifche Heberficht 


ter ſechs Saupiflaiien und neunzehn Klaſſen des Pflanzenreichs 











ı \ 
Siemmgruppen guuptkiaßen | 
er Aut Alaſſen des 
arteride Oder Maben des | gkfanienreidis 
Mlenjanreiis f 
. N 1. Urpflanzen 

k 1 2. Gruutauge 
Thallud · Zange 3. Bramntange 
Planzen Algae 4. Rothtange 
Thallo- 1 5. Mobtange 
Phyta u 

Fadenpflanzen | 6. Pile 
Inopkyta 7. Flechten 
. uL 8. Lebermoſe 
FE *.18 
Brothatiut- „10. Sanbfarne 
Pllanien 11. Sceftferne 
Protkal- W 
Ieta gerne 12. Bafierfarne 
Fitieinee |, 
N 14. Schuppenfarut 
\ 

e. v. 15. Falmferne 
Viumen · Nadtfamige j16. Rebcihöler 
Maaıca ee 17. Reuingos 
Manu \ ri ins, ECteialiuutru 
mm | Tedi e } 








4 
den 





13 


Hufenetilder 
, Ylame der Aldfen 


1. Protophyta 
3. Ooufervinae 
3. Fucoidene 
4. Floridese 


5. Characene 


6. Fangi 
7. Lichenes 


10. Pteridene 
(Filica) 


(Calamopkyta) 
12. Rhizocarpese 
(Bydrogteride) 
18. Ophioglomse 
(Glossopterider) 
14. Lepidopbyta 
(Belagimeı) 
15 Cycadese 
16. Coniferse 
17. Gnetacene 


18. Monocotyiae 


19. Zweilenmblättrige 19. Dicotylae 


Monophyletifcher Stammbaum des Pflanzenreiche. 405 








Gamopetalae 


Dinpetalae MonocotyLas 
Dieblamydoae 


Monochlamydeae 
Dicorxuax 


Angiospermse 
Abietinene 


N 
Taxodinese 


Capressinene 


| GNETACEAE 


CrcADEAE 
Araucariae Taxaeeae 


— — ere — 
CoNIFEBAE 


Gymnospermae 


Lepidophyta 
Calamariae ¶BRuuioearpea⸗ 


opꝛio iosꝛeae 


Pterideae 








406 Hauptflaffe der Zange oder Algen. 


Da auch alle Thierrefte dieſes ungeheueren Zeitraums nur wafler: 
bemohnenden Thieren angehören, fo ſchließen wir daraus, daß land» 
bewohnende Drganismen damals noch gar nicht exiſtirten. 

Schon aus dieſen Gründen muß die erſte und unvollkommenſte 
Hauptllaffe des Pflanzenreichs, die Abtheilung der Tange oder 
Algen, für und von ganz befonderer Bebeutung fein. Dazu fommt 
noch das hohe Intereffe, welches und diefe Hauptklaſſe, auch an ih 
betrachtet, gemährt. Trotz ihrer höchit einfachen Zufammenfepung 
aus gleihartigen oder nur wenig differenzirten Zellen zeigen die Tange 
dennoch eine außerordentliche Mannichfaltigkeit verfchiedener Formen. 
Einerfeit® gehören dazu die einfachften und unvolltommenften aller 
Gewaͤchſe, andrerfeit® fehr entwidelte und eigenthümliche Geftalten. 
Ebenfo wie in der Bolltommenheit und Mannichfaltigkeit ihrer äuße: 
ven Formbildung unterfeiden ſich die verfchiedenen Algengruppen 
auch in der Körpergröße. Auf der tiefften Stufe finden wir die winzig 
fleinen Protococcuß- Arten, von denen mehrere Hunderttaufend auf 
den Raum eines Stednadelfnopf® gehen. Auf der höchſten Stufe 
bewundern wir in den riefenmäßigen Makrocyſten. weldye eine Länge 
von 300—400 Fuß erreichen, die längften von allen Geftalten des 
Pflanzenreichs. Vielleicht ift auch ein großer Theil der Steinfohlen 
aus Tangen entftanden. Und wenn nicht aus diefen Gründen, fo 
müßten die Algen ſchon deshalb unfere befonbere Aufmerkfamteit 
erregen, weil fie die Anfänge des Pflanzenlebens bilden und die 
Stammformen aller übrigen Pflanzengruppen enthalten, voraudge- 
feßt, daß unfere monophyletiſche Hypotheſe von einem gemeinfomen 
Urfprung aller Pflanzengruppen richtig ift (vergl. ©. 405). 

Die meiften Bewohner des Binnenlandes können ſich nur eine 
fehr unvolltommene Borftellung von diefer höchft intereffanten Haupt 
Mafje des Pflanzenreichs machen, weil fie davon nur die verhältnij ⸗ 
mäßig Meinen und einfachen Vertreter fennen, welche das fühe Waller 
bewohnen. Die ſchleimigen grünen Waflerfäden und Waſſerfloden 
in unferen Teichen und Brunnentrogen, die hellgrünen Schleimüber 
züge auf allerlei Holzwerk, welches längere Zeit mit Waffer in Be 


Ausbehnung der untermeerifchen Tangwälber. 407 


rührung war, die gelbgrünen ſchaumigen Schleimbeden auf den 
Tümpeln unferer Dörfer, die grünen Haarbüfcheln gleichenden Faden- 
maffen, welche überall im ftehenden und fließenden Süßmwaffer vor- 
tommen , find größtentheil® aus verſchiedenen Tangarten zufammens 
gefept. Aber nur Diejenigen, welche die Meeresfüfte befucht Haben, 
welche an den Küften von Helgoland und von Schleswig Holftein 
die ungeheuren Maſſen ausgeworfenen Seetang® bewundert, oder an 
den Felfenufern des Mittelmeeres die zierlich geftaltete und lebhaft ge- 
fürbte Tangvegetation auf dem Meeresboden felbft durch die klare 
blaue Fluth hindurch erblict haben, willen die Bedeutung der Tang- 
Maffe annähernd zu würdigen. Und dennoch geben felbft diefe for- 
menreichen untermeerifhen Algenwälder der europäiichen Küften nur 
eine ſchwache Borftellung von den koloſſalen Sargaflowäldern des at- 
lantifchen Oceans, jenen ungeheuren Tangbänfen, welche einen Flä- 
chenraum von ungefähr 40,000 Quadratmeilen bebeden, und welche 
dem Columbus auf feiner Entdedungsreife die Nähe des Feſtlandes 
vorfpiegelten. Aehnliche, aber weit ausgedehntere Tangwälder wuch · 
fen in dem primordialen Urmeere wahrſcheinlich in dichten Maffen, 
und wie zahllofe Generationen diefer archolithiſchen Tange über ein- 
ander binftarben, bezeugen unter Anderen die mächtigen filurifchen 
Aaunfchiefer Schwedens, deren eigenthümlihe Zufammenfepung we⸗ 
ſentlich von jenen untermeerifhen Algenmaffen herrührt. Nach der 
neueren Anfiht des Bonner Geologen Friedrich Mohr ift fogar 
der größte Theil der Steintohlenflöge aus den zufammengehäuften 
Pflanzenleichen ber Tangwälder im Meere entftanden. 

Wir unterfheiden in der Haupttlaſſe der Tange oder Algen fünf 
verſchiedene Klaſſen, nämlich: 1. Urtange oder Protophyten, 2. Grün- 
tange oder Gonfervinen, 3. Brauntange oder Fucoibeen, 4. Rothtange 
oder Florideen, und 5. Modtange oder Eharaceen. 

Die erfte Klaſſe der Tange, die Urtange (Archephyceae) fönn- 
ten auch Urpflangen (Protophyta) genannt werden, weil dieſelben 
die einfachſten und unvolltommenften von allen Pflanzen enthalten, 
und insbeſondere jene älteften aller pflanzlichen Organismen, welche 


408 Urtange (Hrchepfyeeen ober Protopfpten). 


alfen übrigen Pflanzen den Urfprung gegeben haben. Es gehören 
hierher alfo zunächft jene allerälteften vegetabilifhen Moneren, welche 
im Beginne der faurentifchen Periode durch Urzeugung entftanden find. 
Ferner müffen wir dahin alle jene Pflanzenformen von einfachfter 
DOrganifation rechnen, welche aus jenen ſich zunächft in laurentiſchet 
Zeit entwidelt haben, und welche den Formwerth einer einzigen 
Plaftide beſahen. Zunädhft waren dies ſolche Urpfläͤnzchen, deren 
ganzer Körper eine einfachfte Cytode (eine kernloſe Plaftide) bildete, 
und weiterhin folche, die bereits durch Sonderung eines Kernes im 
Plasma den höheren Formwerth einer einfachen Zelle erreicht batten 
(vergl. oben S. 308). Noch in der Gegenwart leben verſchiedene eins 
fachfte Tangformen, welche von diefen urfprünglichen Urpflanzen ji 
nur wenig entfernt haben. Dahin gehören die Tangfamilien der 
Codiolaceen, Protocorcaceen, Desmidiaceen, Palmellaceen, Hydro: 
dichyeen, und noch manche Andere. Auch die merfwürbige Gruppe 
der Phycodhromaceen (Ehropcoccaceen und Dfeillarineen) würde hier- 
ber zu ziehen fein, falls man diefe nicht lieber als einen felbftftändigen 
Stamm des Protiftenreih® anfehen will (vergl. ©. 376). 

Die monoplaftiden Brotophyten, d.h. die auß einer ein« 
sigen Plaſtide beftehenden Urtange, find vom größten Intereife, weil 
bier der pflanzliche Organismus feinen ganzen Lebenslauf als ein ein- 
fachftes „Individuum erfter Ordnung“ vollendet, entweder als fern- 
loſe Cytode, oder als fernhaltige Zelle. Borzüglich die Unterſuchun ⸗ 
gen von Alegander Braun und von Carl Nägeli, zwei um 
die Entwidelungd« Theorie fehr verdienten Botanitern, haben und 
näher mit denfelben befannt gemacht. Zu den monocytoden Ur- 
pflanzen gehören die höchft merfwürdigen Schlauchalgen oder Si- 
phoneen, deren anfehnlicher Körper in wunderbarer Weife die For⸗ 
men höherer Pflanzen nachahmt („Mimiery“). Manche von diefen 
Siphoneen erreichen eine Größe von mehreren Fußen und gleichen 
einem zierlichen Mofe („Bryopsis“) oder einem Bärlappe oder gar einer 
volltommenen Blüthenpflange mit Stengel, Wurzeln und Blättem 
(Caulerpa, $ig. 17). Und dennoch befteht diefer ganze große und 


Die monoplaftiden Protophyten. 409 





Sig. 17. Caulorpa dentieulata, ein*nonoplaftide Sipgonee in natürlicher 
Größe. Die ganze verzweigte Urpflanze, welche aus einem kriechenden Stengel 
mit Wurgelfofer-Biüfcheln und gezähnten Laubblättern zu beftehen ſcheint, ift in 
Wirklichteit nur eine einzige Plaftide, und zwar eine (Rernlofe) Eytobe, noch 
nicht einmal von dem Formwerth einer (kernhaltigen) Zelle. 
vielfach äußerlich differenzirte Körper innerlich aus einem ganz einfachen 
Schlauche, der nur den Formwerth einer einzigen Cytode befigt. Diefe 
wunderbaren Siphoneen, Vaucherien und Gaulerpen zeigen und, wie 
weit es die einzelne Eytode ala ein einfachftes Individuum erfter Ord⸗ 
nung durch fortgefepte Anpaſſung an die Berhältnifle der Außenwelt 
bringen fann. Auch die eingelligen Urpflanzen, welche fih 
durch den Befig eines Kernes von den monocytoben unterſcheiden, bil 
den durch vielfeitige Anpaffung eine große Mannichfaltigkeit von zier- 
lichen Formen, befonderd die veigenden Dedmidinceen, von denen 
als Beifpiel in Fig. 18 eine Art von Euaftrum abgebildet iſt. Es ift 
fehr wahrſcheinlich, daß ähnliche Urpflanzen, deren weicher Körper aber 


410 Grüntange (Conferbinen oder Chloropfieeen). 


zierliche flernförmige Kärper 


der Urpflanze hat den Forn⸗ 
Im der Mitte derſelben liegt 
der Kerr nebft Lerutorperhen 


nicht der foffilen Erhal⸗ 
tung fäbig rar, in großer 
Maffeund Mannichfaltig- 
feit einft das laurentiſche 
Urmeer bevölferten und 
einen großen Formenreich ⸗ 
thum entfalteten, ohne 
doch die Individualitätsftufe einer einfachen Plaftide zu überfepreiten. 

An die Urpflanzen ober Urtange ſchließt ſich als zweite Klaſſe der 
Agen zunächft die Gruppe der Grüntange oder Grünalgen an 
(Confervinae oder Chlorophyceae). Gleich der Mehrzahl der erſteren 
find auch fämmtlihe Grüntange grün gefärbt, und zwar durch den- 
felden Farbftoff, das Blattgrün oder Ehlorophyli, welches aud die 
Blätter aller höheren Gewaͤchſe grün färbt. Zu biefer Kiaſſe gehören 
außer einer großen Anzahl von niederen Seetangen die allermeiften 
Tange des fügen Waſſers, die gemeinen Wafferfäden oder Conferven. 
die grünen Schleimkugeln oder Gldofphären, der hellgrüne Waſſerſalat 
oder die Ulven, welche einem fehr dünnen und langen Salatblatte 
gleichen, ferner zahlreiche mitroftopifch Meine Tage, welche in dichter 
Maſſe zufammengebäuft einen hellgrünen ſchleimigen Uebergug über 
allerlei im Waſſer liegende Gegenftände, Holz, Steine u. f. w. beiden, 
fi aber durch die Zufammenfegung und Differengirung ihred Körpers 
bereit über die einfachen Urtange erheben. Da die Grüntange, gieih 
den Urtangen, meiften® einen fehr weichen Körper befipen, waren ft 
nur fehr felten der Verfteinerung fähig. Es kann aber wohl nicht ber 
zweifelt werden, daß auch diefe Algenlaffe, welche ſich zunächſt ans 






Branntange (Fucoibeen ober Phäophgceen). 411 


der vorhergehenden entwidelt hat, gleich jener bereits während der 
laurentifchen Zeit die fühen und falzigen Gewäfler der Erbe in der 
größten Ausdehnung und Mannicfaltigteit bevöfferte. 

In der dritten Klaſſe, derjenigen der Brauntange ober 
Schwarztange (Fucoideae ober Phacophyceae), erreicht die Haupt« 
floffe der Algen ihren höchften Entwidelungägrad, wenigſtens in Bes 
zug auf die körperliche Größe. Die harakteriftifche Farbe der Fucoi⸗ 
been ift meift ein mehr oder minder dunkles Braun, bald mehr in 
Dfivengrän und Gelbgrün, bald mehr in Braunroth und Schwarz 
übergehend. Hierher gehören die größten aller Tange, welche zugleich 
die längften von allen Pflanzen find, die koloſſalen Riefentange, unter 
denen Macrocystis pyrifera an der californiſchen Küfte eine Länge 
von 400 Fuß erreicht. Aber auch unter unferen einheimifchen Tangen 
gehören die anfehnlichften Formen zu biefer Gruppe, fo namentlich 
der ftattliche Zudertang (Laminaria), deſſen ſchleimige olivengrüne 
Thallustdrper, riefigen Blättern von 10—15 Fuß Länge, 4—1 Fuß 
Breite gleihend, in großen Maſſen an der Küfte der Nord» und Oſt⸗ 
fee ausgeworfen werden. Auch der in unferen Meeren gemeine Bla⸗ 
fentang (Fucus vesiculosus), deſſen mehrfach gabelförmig gefpalte- 
ned Laub durch viele eingefchloffene Luftblaſen, (mie bei vielen ande» 
ven Brauntangen) auf dem Waſſer ſchwimmend erhalten wird, gehört 
zu biefer Klaſſe; ebenfo der freiſchdimmende Sargaffotang (Sargus- 
sum bacciferum), welcher die ſchwimmenden Wiefen oder Bänke des 
ESargaffomeered bildet. Obwohl jedes Individuum von diefen gro⸗ 
ben Tangbäumen aus vielen Millionen von Zellen zufammengefept 
ift, befteht es dennoch im Beginne feiner Eyiftenz, gleich allen höheren 
Pflanzen, aus einer einzigen Zelle, einem einfachen Ei. Diefes Ei 
ift4. B. bei unferm gemeinen Blafentang eine nadte, hüllenloſe Zelle, 
und ift als ſolche den nadten Eiern niederer Seethiere, z. B. der Me- 
dufen, zum Verwechſeln ähnlich (Big. 19). Fucoideen oder Braun- 
tange find es wahrſcheinlich zum größten Theile geweſen, welche wäh- 
rend der Primorbialeit die charakteriſtiſchen Tangwälder dieſes end» 
loſen Zeitraums zufammengefept haben. Die verfteinerten Refte, welche 





412 Rothtange ( Florideen oder Rhodophixceen). 


Fig. 19. Das Ei des gemeinen Blaſentang 
(Fucus vesiculosus), eine einfache nadte Zeile, ſtart 
vergrößert. In der Mitte der nadten PBrotoplasma. 
Kugel ſchimmert der helle Kern hindurch. 


uns von denfelben (vorzüglih aus der filu- 
riſchen Zeit) erhalten find, Fönnen und aller- 
dings nur eine ſchwache Vorftellung davon 
geben, weil die Formen biefer Tange, gleich 
den meiften anderen, fih nur ſchlecht zur Erhaltung im foſſilen Zu- 
ftande eignen. Jedoch ift vielleicht, wie ſchon bemerft, ein großer 
Theil der Steintohle aus denfelben zufammengefekt. 

Weniger bedeutend ift die vierte Klaſſe der Tange, diejenige der 
Rofentange oder Rothtange (Florideae oder Rhodophyceae). 
Zwar entfaltet auch diefe Klaffe einen großen Reichthum verfchiedener 
Formen. Allein die meiften derfelben find von viel geringerer Größe 
als die Brauntange. Uebrigens ftehen fie den fepteren an Vollkom - 
menheit und Differenzirung der äußeren Form keineswegs nach, über« 
treffen diefelben vielmehr in mancher Beziehung. Hierher gehören die 
f&hönften und zierlihften aller Tange, welche fowohl dur die feine 
Fiederung und Zertheilung ihres Qaubförperd , wie durch reine und 
zarte rothe Färbung zu dem reizendſten Pflanzen gehören. Die da- 
vakteriftifche rothe Farbe ift bald ein tiefe® Purpur, bald ein brennen- 
des Scharlach⸗, bald ein zartes Nofenroth, und gebt einerfeits in 
violette und purpurblaue, andrerfeit® in braune und grüne Tinten in 
bewunberungswürdiger Pracht über. Wer einmal eines umferer nor= 
diſchen Seebäder befucht hat, wird gewiß fhon mit Staunen die 
reizenden Formen diefer Florideen betrachtet haben, welche auf weißen 
Papier, zierlih angetrodnet, vielfadh zum Verkaufe geboten werden. 
Die meiften Rothtange find leider fo zart, da fie gar nicht der Ber- 
fteinerung fähig find, fo die prachtvollen Piloten, Plocamien, Deleſ ⸗ 
ferien u. ſ. w. Doch giebt es einzelne Formen, wie die Chondnen 
und Sphärocoecen, welche einen härteren, oft faft norpelharten Ihal- 
lus befigen, und von diefen find und aud) manche verfteinerte Refte. 





Stammbaum der Zange oder Algen. 413 


namentlich aus den ſiluriſchen, devoniſchen und Kohlenſchichten, ſpä⸗ 
ter beſonders aus dem Jura erhalten worden. Wahrſcheinlich nahm 
auch diefe Klaſſe an der Zufammenfegung der archolithiſchen Tang- 
flora weſentlichen Antheil. 

Die fünfte und legte Kaffe unter den Algen bilden die Mo8- 
tange (Characeae). Hierher gehören die tangartigen Armleuchter- 
pflanzen (Chara) und Glanzmoſe (Nitella), welche mit ihren grünen, 
fadenförmigen, quirlartig von gabelfpaltigen Aeſten umftellten Sten- 
geln in unferen Zeichen und Tümpeln oft dichte Bänke bilden. Einer- 
ſeits nähern fi) die Characeen im anatomifchen Bau , befonder® der 
Fortpflanzungsorgane, den Mofen und werben diefen neuerdings un- 
mittelbar angereiht. Andrerfeits ftehen fie durch viele Eigenſchaften 
tief unter den echten Mofen und ſchließen fi vielmehr den Grüntan- 
gen oder Confervinen an. Man könnte fie baher wohl ald übrig ge⸗ 
bliebene und eigenthümlich ausgebildete Abtömmlinge von jenen Grün- 
tangen betradhten, aus denen ſich die wahren Mofe entwidelt haben. 
Durch mande Eigenthümlidfeiten find übrigend bie Characeen fo 
fehr von allen übrigen Pflanzen verſchieden, daß viele Botanifer fie 
ala eine befondere Hauptabtheilung des Pflanzenreich® betrachten. 

Was die Verwandtfaftäverhättniffe der verfchiedenen Tangklaf- 
fen zu einander und zu den übrigen Pflanzen betrifft, fo bilden höchſt 
wahrſcheinlich, wie [hon bemerkt, die Urtange oder Archephyceen die 
gemeinfame Wurzel des Stammbaums, nicht allein für die verfchie- 
denen Tangklaſſen, fondern für das ganze Pflanzenreih. Deshalb 
tönnen fie aud mit Recht als Urpflanzen oder Protophyten bezeich- 
net werden. Aus den nadten vegetabilifchen Moneren, welche fih im 
erften Beginn der laurentifchen Periode entwidelten, werben zunächft 
Hüllcytoden entftanden fein (S. 308), indem der nadte, firufturlofe 
Eiweißleib der Moneren fi) an der Oberfläche fruftenartig verdichtete 
oder eine Hülle ausſchwitzte. Späterhin werden dann aus diefen 
Hüllcytoben echte Pflanzenzellen geworben fein, indem im Innern ſich 
ein Kern oder Nucleus von dem umgebenden Zellftoff oder Plasma 
fonderte. Die drei Klaſſen der Grüntange, Brauntange und Roth» 


414 Hauptflafje ber Fadenpflamen oder Inophten. 


tange find vielleicht drei gefonderte Stämme, welche unabhängig von 
einander aus der gemeinfamen Wurgelgruppe der Urtange entflanden 
find und fih dann (ein jeder in feiner Art) weiter entwickelt und viel« 
fach in Ordnungen und Familien verzweigt haben. Die Brauntange 
und Rotbtange haben feine nähere Blutsverwandtſchaft zu den übri⸗ 
gen Klaffen des Pflanzenreihs. Diefe Iepteren find vielmehr aus den 
Urtangen entftanden, und zwar entweder direkt oder durch Bermitt« 
lung der Grüntange. Wahrſcheinlich find einerfeits die Mofe (aus 
welchen fpäter die Fame ſich entwidelten) aus einer Gruppe der 
Grüntange, anbdrerfeitd die Pilze und Flechten aus einer Gruppe 
der Urtange hervorgegangen. Die Phanerogamen haben fich jeden- 
falls erft viel fpäter aus den famen entwidelt. 

Als zweite Haupiklaſſe des Pflanzenreih® haben wir oben bie 
Fadenpflanzen (Inophyta) angeführt. Wir verftanden darınter 
die beiden nahevenwandten Klaflen der Flechten und Pilze Es 
ift möglich, daß diefe Thalluspflanzen nicht aus den Urtangen entſtan⸗ 
den find, fondern aus einem ober mehreren Moneren, die unabhängig 
von letzteren durch Urzeugung entftanden. Insbeſondere erſcheint es 
denfbar, daß manche von den niederften Pilsen, wie 3. ®. manche 
Gãhrungspilze, Mikrokokkus ⸗Formen u. ſ. w. einer Anzahl von ver- 
fhiedenen arhigonen (d. h. dur Urzeugung entftandenen) Mo- 
neren ihren Urfprung verdanken. Jedenfalls find die Kadenpflanzen 
nicht als Stammeltern der höheren Pilanzenflafien zu betrachten. 
Sowohl die (Flechten ald die Pilze unterfpeiden fi) von diefen durch 
die Zufammenfepung ihres weichen Körperd aus einem dichten @e- 
flecht von fehr langen, vielfach verſchlungenen, eigenthümlichen Fa - 
dengellen, den fogenannten Hyphen, weöhalb wir fie eben in der 
Hauptllaffe der Fadenpflanzen zufammenfaffen. Irgend bedeutende 
foffile Refte Tonnten diefelben wegen ihrer eigenthümlichen Beihat- 
fenheit nicht hinterlaffen, und fo fönnen wir denn die paläontelo- 
giſche Entwidelung derfelben nur fehr unſicher errathen. 

Die erfte Klaſſe der Fadenpflanzen, die Pilze (Fungi), werden 
irrthümlich oft Schwämme genannt und daher mit den echten thieri« 


Pilze ( Fung. 415 


ſchen Schwämmen oder Spongien verwechſelt. Sie zeigen einerfeitd 
fehr nahe Verwandtſchaftsbeziehungen zu den niederften Algen; ins⸗ 
befondere find die Tangpilze oder Phycomyceten (die Sapro- 
legnieen und PBeronofporen) eigentlich nur durch den Mangel des Blatt- 
grüns ober Ehlorophyli8 von den vorher genannten Schlauch algen 
oder Siphoneen (den Vaucherien und Gauferpen) verſchieden. An⸗ 
drerſeits aber haben alle eigentlichen Pilze fo viel Eigenthümliched und 
weichen namentlich durch ihre Ernaͤhrungsweiſe fo fehr von allen übri- 
gen Pflanzen ab, daß man fie als eine ganz befondere Hauptgruppe 
des Pflanzenreih® betrachten könnte. Die übrigen Pflanzen leben 
größtentheild von anorganifher Nahrung, von einfachen Berbindun- 
gen, welche fie zu verwidelteren zufammenfegen. Sie erzeugen Proto⸗ 
plasma durch Zufammenfegung von Waſſer, Kohlenfäure und Am» 
moniat. Sie athmen Kohlenfäure ein und Sauerftoff aus. Die 
Pilze dagegen leben, glei) den Thieren, von organiſcher Nahrung, 
von verwidelten und loderen Kohlenſtoffverbindungen, welche fie von 
anderen Organismen erhalten und zerfegen. Sie athmen Sauer 
floff ein und Kohlenfäure au, wie die Thiere. Auch bilden fie 
niemals das Blattgrün oder Chlorophyll, welches für die meiften . 
übrigen Pflanzen fo harafteriftifch ift. Ebenfo erzeugen fie niemals 
Stärfemehl oder Amylum. Daher haben ſchon wiederholt hervor- 
ragende Botaniker den Vorſchlag gemacht, die Pilze ganz aus dem 
Pflanzenreiche zu entfernen und als ein befondere® drittes Reich 
zwiſchen Thier- und Pflanzenreich zu fepen. Dadurch würde unfer 
Protiftenreich einen fehr bedeutenden Zuwachs erhalten. Die Pilze 
würden ſich hier den fogenannten „Schleimpilgen“ oder Myromyce⸗ 
ten (bie jebod gar feine Hyphen bilden) zunächft anfhliegen. Da 
aber viele Pilze ſich auf gefchlechtlihem Wege fortpflangen, und da 
die meiften Botanifer, der herfümmlichen Anfchauung gemäß, bie 
Pilze als echte Pflanzen betrachten, laſſen wir fie hier im Pflanzen- 
reihe ſtehen, und verbinden fie mit den Flechten, denen fie jedenfalls 
am nächften verwandt find. Der phyletiſche Urfprung der Pilze wird 
wohl noch lange im Dunteln bleiben. Die bereitd angedeutete nahe 


416 Flechten (Lichenes). 


Verwandtfhaft der Phycomyceten und Siphoneen (beſonders der 
Saprolegnieen und Baucherien) läßt daran denfen, daf fie von lepte- 
en abftammen. Die Pilze würden dann ala Algen zu betrachten 
fein, die durch Anpaffung an das Schmaroperleben ganz eigenthüm- 
lic) umgebildet find. Andrerſeits fpredhen jedoch auch manche That- 
fachen für die Bermuthung, daß die niederften Pilze felbftftändig aus 
ardigonen Moneren entfprungen find. 

Die zweite Klaffe der Inophyten, die Flechten (Lichenes), 
find in phylogenetifcher Beziehung fehr merkwürdig. Die überrafchen- 
den Entdedungen ber legten Jahre haben nämlich gelehrt, daß jede 
Flechte eigentlich) aus zwei ganz verfhiedenen Pflanzen zufammen- 
gefet iſt, aus einer niederen Algenform (Nostochaceae, Chrooooc- 
caceae) und aus einer parafitiihen Pilzform (Ascomyoetes), 
welche auf der erfteren ſchmaroßt, und von den affimilitten Stoffen 
lebt, die biefe bereitet. Die grünen, hlorophylihaftigen Zellen (Go- 
nidien), welche man in jeder (echte findet, gehören ber Alge an. 
Die farblofen Fäden (Hyphen) dagegen, welche dicht verwebt die 
Hauptmaffe des Flechtenkdrpers bilden, gehören dem ſchmaroßenden 
Pilze an. Immer aber find beide Pflanzenformen, Pilz und Alge, die 
man doch als Angehörige zweier ganz verfchiedener Hauptklaſſen be⸗ 
trachtet, fo feſt mit einander verbunden und fo innig durchwachſen. 
daß Jedermann die Fledhte ald einen einheitlichen Organismus betrach- 
tet. Die meiften Flechten bilden mehr ober weniger unanſehnliche. 
formlofe oder unregelmäßig zerriffene, fruftenartige Ueberzüge auf 
Steinen, Baumrinden u. f. w. Die Farbe derfelben wechfelt in allen 
möglichen Abftufungen vom reinften Weiß, durch Gelb, Roth, Grün, 
Braun, bis zum dunfelften Schwarz. Wichtig find viele Flechten in 
der Defonomie der Natur dadurch, daß fie ſich auf den trodenften und 
unfruchtbarſten Orten, indbefondere auf dem nadten Geftein, anfiedeln 
tönnen, auf welchem eine andere Pflanze leben kann. Die harte 
ſchwarze Lava, welche in vulkaniſchen Gegenden viele Cuuadratmeilen 
Boden bebedt, und welche oft Jahrhunderte lang jeder Pflanzenan · 
fiedelung den hartnädigften Widerftand leiftet, wird zuerft immer von 


Brothalluspflanzen (Mofe und Farne). 47 


Flechten bewältigt. Weiße oder graue Steinflechten (Stereocaulon) 
find es, welche auf den ödeften und todteften Lavafeldern mit der 
Urbarmachung des nadten Felſenbodens beginnen und denfelben für 
die nachfolgende höhere Vegetation erobern. Ihre abfterbenden Leiber 
bilden die erfte Dammerde, in welcher nachher Mofe, ame und 
Blüthenpflanzen feften Fuß faſſen können. Auch gegen flimatifche 
Unbilden find die zähen Flechten unempfindlicher als alle anderen 
Pflanzen. Daher überziehen ihre trodenen Kruſten die nackten Felſen 
noch in den hoöchſten, großentheils mit ewigem Schnee bedeckten Ge⸗ 
birgshöhen, in denen feine andere Pflanze mehr ausdauern kann. 

Indem wir num die Pilze, Flechten und Tange, welche gemöhn- 
lich als Thalluspflanzen zufammengefagt werden, verlaffen, betreten 
wir das Gebiet der zweiten großen Hauptabtheilung des Pflanzen- 
reichs, der Protballuspflanzen (Prothallota oder Prothallo- 
phyta), welde von Anderen ala phyllogonifche Kryptogamen begeich- 
net werben (im Gegenfag zu den Thalluspflanzen oder thallogoni« 
fen Kroptogamen). Diefed Gebiet umfaßt die beiden Hauptklaſſen 
der Mofe und Karne. Hier begegnen wir bereit® allgemein (we⸗ 
nige der unterfien Stufen ausgenommen) der Sonderung des Pflan- 
zenkorpers in zwei verſchiedene Grundorgane: Arenorgane (oder Sten- 
gel und Wurzel) und Blätter: (oder Seitenorgane). Hierin glei- 
chen bie Prothalluspflanzen bereitd den Blumenpflanzen, und daher 
faßt man fie neuerdings auch häufig mit biefen als Stodpflanzen 
ober Cormophyten zufammen. Andrerſeits aber gleichen die Mofe 
und Farne den Thalluspflanzen durd den Mangel der Blumenbil- 
dung und der Samenbildung, und daher ftellte fie fhon Linné 
mit diefen ald Kryptogamen zufammen, im Gegenſatz zu den famen- 
bildenden Pflanzen oder Blumenpflanzen (den Phanerogamen oder An⸗ 
tbophyten.) 

Unter dem Namen „Prothalluspflanzen“ vereinigen wir die naͤchſt⸗ 
verwandten Mofe und Farne deshalb, weil bei Beiden ſich ein ſehr 
eigenthümficher und dharafteriftifcher Generationswechſel in der indivi⸗ 
duellen Entwidelung findet. Jede Art nämlich tritt in zwei verſchie⸗ 

Herdel, Naturi. Shöpfungageih. 5. Hufl. 27 





418 Sharakteriftifcher Generationsiwechfel der Prothalluspflanzen. 


denen Generationen auf, von denen man die eine gewöhnlich als Bor- 
keim ober Prothallium bezeichnet, die andere dagegen als den 
eigentlihen Stod oder Cormus bes Mofes oder des Farns betradh- 
tet. Die erfte und urfprüngliche Generation, der Vorkeim oder 
Prothallus, auch das Prothallium oder Protonema genannt, ſteht 
noch auf jener niederen Stufe der Formbildung , welche alle Thallus- 
pflanzen zeitlebens zeigen, d. h. es find Stengel und Blattorgane noch 
nicht gefonbert, und der ganze zellige Körper des Vorkeims ſtellt 
einen einfachen Thallus dar. Die zweite und volltommenere Ger 
neration der Mofe und Farne dagegen, ber Etod oder Cormus, bile 
det einen viel höher organifirten Körper, welcher wie bei den Blu- 
menpflanzen in Stengel und Blatt gefondert ift, außgenommen bei 
den niederften Mofen, bei welchen auch diefe Generation noch auf 
der niederen Stufe der urfprünglichen Thallusbildung ftehen bleibt. 
Mit Ausnahme diefer letzteren erzeugt allgemein bei den Mofen und 
Farnen die erfte Generation, der thallusförmige Vorkeim, eine ftod- 
förmige zweite Generation mit Stengel und Blättern; dieſe erzeugt 
wiederum den Thallus der erften Generation u f. w. Es ift ale, 
wie bei dem gewöhnlichen einfachen Generationdwechſel der Thiere, 
die erfte Generation der dritten, fünften u. f. w., Die zweite Dagegen 
der vierten, ſechſten u. f. m. gleich. (Berg. oben ©. 185.) 

Bon den beiden Haupttlaſſen der Prothalluspflangen ſtehen die 
Mofe im Allgemeinen auf einer viel tieferen Stufe der Ausbildung 
ala die Farne, und vermitteln durch ihre niederſten Formen (namente 
lich in anatomiſcher Beziehung) den Webergang von den Thallus- 
pflanzen und fpeciell von den Tangen zu den Farnen. Der gemen- 
logifhe Zufammenhang der Mofe und Farne, welder dadurd an -⸗ 
gedeutet wird, läßt ſich jedoch nur zwiſchen den unvollfommenpen 
Formen beider Hauptklaffen nachweifen. Die volltommneren und 
höheren Gruppen der Mofe und Farne ftehen in gar feiner nähe- 
ven Beziehung zu einander und entwideln ſich nach ganz enigegem- 
gefegten Richtungen hin. ebenfalls find die Moſe direft aus Thal- 
luspflanzen und zwar wahrfdeinfih aus Grüntangen entftandem. 


Hauptflafie der Mofe oder Mudeinen. Lebermofe und Laubmofe. 419 


Die Farne dagegen ftammen wahrfcheinfih von auögeftorbenen un- 
befannten Museinen ab, die den nieberften der heutigen Lebermofe 
fehr nahe ftanden. Für die Schöpfungsgefhichte find die Fame 
von weit höherer Bedeutung als die Mofe. 

Die Hauptklaſſe der Mofe (Muscinae, auch Musci oder Bryo- 
phyta genannt) enthält die niederen und unvolifommneren Pflanzen 
der Prothalloten- Gruppe, welche noch gefäßlos find. Meiſtens ift 
ihr Körper fo zart und vergänglich, daß er fi nur fehr ſchlecht zur 
tenntlihen Erhaltung in verfleinertem Zuftande eignet. Daher find 
die foffilen Refte von allen Mostklaſſen felten und unbebeutend. -Ber- 
muthlich haben ſich die Mofe fhon in fehr früher Zeit aus den Thal- 
luspflanzen, und zwar aus den Grüntangen entwidelt. Waſſerbe⸗ 
wohnende Uebergangäformen von lepteren zu den Mofen gab es 
wahrſcheinlich ſchon in ber Primordiafgeit und landbewohnende in der 
Primärzeit. Die Mofe der Gegenwart, aus deren flufenweis ver- 
fhiedener Ausbildung die vergleichende Anatomie Einiged auf ihre 
Genealogie fihliegen fann, zerfallen in zwei verſchiedene Klaſſen, näm- 
ih in die Lebermofe und die Laubmoſe. 

Die erfte und äftere Klaſſe der Moſe, melde fih ummittelbar 
an die Grüntange oder Eonfervinen anreiht, bilden die Rebermofe 
(Hepaticae oder Thallobrya). Die hierher gehörigen Mofe find 
meiften® fleine und unanfehnliche, aber zierliche Pflänzchen. Die 
nieberften Formen derfelben befigen noch in beiden Generationen einen 
einfachen Ihaliuß, wie die Thalluepflanzen, fo z. B. die Riecien und 
Marchantien. Die höheren Lebermofe dagegen, die Jungermannien 
und Bermandte, beginnen allmähfih Stengel und Blatt zu fondern, 
und die hoͤchſten ſchließen ſich unmittelbar an die Laubmofe an. Die 
2ebermofe zeigen durch diefe Nebergangabilpung ihre direkte Abftam- 
mung von den Thallophyten, umd zwar von den Grüntangen an. 

Diejenigen Moſe, welche der Laie gewöhnlich allein kennt, und 
welche auch in der That den hauptfächlichften Beftandtheil der gan- 
ven Hauptklaffe bilden, gehöten zur zweiten Rlafle, den Raubmos 
fen (Musci frondosi, Musei im engeren inne oder Phyllobrya). 


27* 


420 Laubıngfe. 


Unter die Laubmoſe gehören die meiften jener zierlichen Pflängchen, die 
zu dichten Gruppen vereinigt den feidenglängenden Moßteppih un- 
ferer Wälder bilden, oder auch in Gemeinfhaft mit Lebenmofen 
und Flechten die Rinde der Bäume überziehen. Als Wafferbehälter, 
weiche die Feuchtigkeit forgfältig aufbewahren, find fie für die Deko⸗ 
nomie der Natur von der größten Wichtigfeit. Wo der Menſch ſcho⸗ 
nungslos die Wälder abholjt und ausrodet, da verſchwinden mit 
den Bäumen aud die Laubmofe, welche ihre Rinde bededen oder 
im Schutze ihres Schattend ben Boden befleiden und die Lüden 
zwifchen den größeren Gewächfen ausfüllen. Mit den Laubmoſen 
verſchwinden aber die nuͤßlichen Wafferbehäfter, welche Regen und 
Thau fammeln und für die Zeiten der Trodnig aufbewahren. So 
entfteht eine troftlofe Dürre ded Bodens, welde dad Aufkommen 
jeder ergiebigen Begetation vereitelt. In dem größten Theile Süd- 
Europas, in Griechenland, Italien, Sicilien, Spanien find durch die 
vüdfichtölofe Ausrodung der Wälder die Mofe vernichtet und da- 
durch der Boden feiner nüplichften Feuchtigleitsvorräthe beraubt wor⸗ 
den; die vormals blühendften umd üppigften Landſtriche find in düre, 
öde Wüften verwandelt. Leider nimmt auch in Deutſchland neuer- 
dings diefe rohe Barbarei immer mehr überhand. Wahrſcheinlich ba- 
ben die Meinen Laubmoſe jene außerordentlich wichtige Rolle ſchon feit 
fehr langer Zeit, vielleicht feit Beginn der Primärzeit gefpielt. Da 
aber ihre zarten Leiber ebenfo wenig wie die der übrigen Mofe für 
die deutliche Erhaltung im foffilen Zuftande geeignet find, fo fam 
un hierüber die Paläontologie feine Auskunft geben. 

Weit mehr ald von den Mofen wiflen wir durd bie Berfleine- 
rungöfunde von den Farnen. Diefe zweite Hauptklaſſe der Protbai- 
luspflanzen hat eine außerordentliche Bedeutung für die Geſchichte 
der Pflanzenwelt gehabt. Die Farne, oder genauer ausgedrädt. 
die „farnartigen Pflanzen (Filicinae oder Pteridoidae, auch Pteri- 
dophyta oder Gefäßfryptogamen genannt), bildeten während einet 
außerordentlich langen Zeitraums, nämlich während des gangen pri 
mären ober paläolithifchen Zeitalterd, die Hauptmaſſe der Pflanzen 


Hanptflaffe der Farne oder dilicinen. 421 


welt, fo daß wir dasſelbe geradezu al8 da8 Zeitalter der Farn— 
mwälder bezeichnen onnten. Seit Anbeginn der devonifchen Zeit, in 
welcher zum erften Mafe landbewohnende Organismen auftraten, 
während der Ablagerung der devoniſchen, carbonifchen und permifchen 
Schichten , uͤberwogen die farnartigen Pflanzen fo fehr alle übrigen, 
daß jene Benennung dieſes Zeitalterd in der That geredhtfertigt ift. 
In den genannten Schichtenfgftemen, vor allen aber in den ungeheuer 
mädtigen Steintohlenflögen der carbonifchen oder Steintohlenzeit, fin- 
den wir fo zahlreiche und zum Theil wohl erhaltene Refte von Farnen, 
daß mir und daraus ein ziemlich lebendiged Bild von der ganz eigen» 
thũmlichen Landflora des paläolithiſchen Zeitalterd machen können. 
Im Jahre 1855 betrug die Geſammtzahl der damals bekannten pa⸗ 
lãolithiſchen Pflanzenarten ungefähr Eintaufend, und unter biefen 
befanden ſich nicht weniger ald 872 farnartige Pflanzen. Unter den 
übrigen 128 Arten befanden fi 77 Gymnofpermen Madelhölzer 
und Palmfarne), 40 Ihalluspflanzen (größtentheild Tange) und ge 
gen 20 nicht fiher beftimmbare Cormophyten. 

Wie ſchon vorher bemerkt, haben fich die Farne wahrſcheinlich aus 
niederen Lebermofen hervorgebildet, und zwar ſchon im Beginn der 
Primärzeit,, in ber devoniſchen Periode, In ihrer Drganifation er- 
heben ſich die ame bereitd bedeutend über die Mofe und ſchließen ſich 
in ihren höheren Formen ſchon an die Blumenpflangen an. Während 
bei den Moſen noch ebenfo wie bei den Thalluspflanzen der ganze Kör- 
per aus ziemlich gleichartige, wenig oder nicht differenzixten Zellen 
iufammengefegt ift, entwideln fi) im Gewebe der Farne bereits jene 
eigenthämlich differenzirten Zellenftränge, welche man als Pflangenge- 
faͤße und Gefäßbünbel bezeichnet, und welche auch bei den Blumen» 
pflanzen allgemein vorfommen. Daher vereinigt man wohl auch die 
Farne als „Gefäßkryptogamen“ mit den Phanerogamen, und ftellt 
diefe „@efähpflangen” den „Zellenpflanzen‘“ gegenüber, d. h. den „Zel- 
Introptogamen” (Mofen und Thalluspftanzen.) Diefer hochtwichtige 
Fortſchritt in der Pflanzenorganifation, die Bildung der Gefäße und 
Gefäßbündel, fand demnach erft in der devoniſchen Zeit ftatt, alfo 


422 Haupillaſſe ber Farne oder Filicinen. 


im Beginn der zweiten und kleineren Hälfte der organiſchen Erdge- 
ſchichte. 

Die Hauptklaſſe der Farne oder Filicinen zerfällt in fünf ver- 
ſchiedene Klaſſen, nämlich 1. die Laubfarne oder Pterideen, 2. die 
Schaftfarne oder Calamarien, 3. die Waflerfarne oder Rhigocarpeen, 
4. die Zungenfarne oder Ophioglofleen, und 5. die Schuppenfame 
oder Lepidophyten. Die bei weiten wichtigfte und formenveichfte von 
diefen fünf Klaſſen, welche den Hauptbeftandtheil der palaͤolithiſchen 
Wälder bildete, waren die Laubfarne, und demnächſt die Schuppenfame. 
Dagegen traten die Schaftfarne und Zungenfarne ſchon damals mehr 
zurück, und von den Waflerfarnen willen wir nicht einmal mit Be 
ftimmtbeit, ob fie damals ſchon lebten. Es muß und ſchwer fallen, 
uns eine Borftellung von dem ganz eigenthümlichen Charakter jener 
düfteren paläolithifhen Fammälder zu bilden, in denen ber game 
bunte Blumenreichthum unferer gegenwärtigen Flora nod völlig 
fehlte, und welche noch von keinem Bogel beiebt wurden. Bon Blu- 
menpflanzen eriftirten damals nur die beiden niederſten Klaſſen. die 
nadtfamigen Radelhöler und Balmfarne, deren einfache umb unfein- 
bare Blüthen faum den Ramen der Blumen verdienen. 

Ueber die Phylogenie der Farne und der aus ihnen entfande 
nen Gymnofpermen find wir vorzüglid) durch die audgejeihnein 
Unterfuchungen aufgeflärt worden, welde 1872 Eduard Strad- 
burger über „die Goniferen und die Gmetaceen“, ſowie „über 
Ayolla' u. {. w. veröffentlicht hat. Diefer denfende Raturforfer ge- 
bört, wie Cbarles Martins in Montpellier, zu der fehr gern 
gen Zabl von Botanifern, welche den fundamentalen Werth der 
DeitendengIbeorie volländig begriffen und den mechaniſchen Gas- 
ſal · Zufanumenbang zwiſchen Untogenie und Phylogenie verbauen 
baden. Während die große Mehrzahl der Botaniker noch heute di 
in der Joologie Kingft eingebürgerte wichtige Unterſcheidung zuwifden 
‚Jomologre und Wnalogit. zwiſchen der morpbologifcen und phye 
loguiden Pergleihung der Ibeile nice kennt. bat Etradbenger ia 
veimer „vergleichenden Anatomie der Gumnofpermen diefe Umderfht 





Laubfarne ober dilices. 423 


dung und das biogenetifipe Grundgefeg berügt, um die Grundzüge 
der Blutöverwandtfhaft diefer wichtigen Pflanzengruppe feftzuftellen. 

Als die Stammgruppe der Farne, die ſich zunächft aus ben 
Lebermofen entwickelt hat, ift die Afafle der Farne im engeren 
Sinne, der Laubfarne oder Wedelfarne, zu betrachten (Filices oder 
Phyliopterides, auch Pteridese genannt). In der gegenwärtigen 
Flora unferer gemäßigten Zonen fpielt diefe Klaſſe nur eine unterge- 
ordnete Rolle, da fie hier meiften® nur durch die niedrigen ftammlofen 
Farnträuter vertreten ift. In ber heißen Zone dagegen, nament« 
lich in den feuchten, dampfenden Wäldern der Tropengegenden, erhebt 
fie ſich noch heutigentags zur Bildung der hochſtaͤmmigen, palmenähn- 
lien Farnbäume. Diefe fhönen Baumfarne der Gegenwart, wel» 
che zu den Hauptzierden unferer Gewächshäuſer gehören, können und 
aber nur eine ſchwache Borftellung von den ftattlichen und prachtvollen 
Laubfarnen der Primärzeit geben, deren mächtige Stämme damals 
dichtgedrängt ganze Wälder zufammenfepten. Dan findet diefe Stäm- 
me namentli in den Steinfohlenflögen der Carbonzeit mailenhaft 
über einander gehäuft, und dazwiſchen vortrefflich erhaltene Abdrüde 
von den zierlihen Wedeln oder Blättern, welche in ſchirmartig audge- 
breitetem Bufche den Gipfel des Stammes frönten. Die einfache oder 
mehrfache Zufammenfegung und Fiederung diefer Wedel, der zierliche 
Berlauf der veräftelten Nerven oder Gefäßbündel in ihrem zarten 
Laube ift an den Abdrücen der palaͤolithiſchen Famwedel nod fo deut ⸗ 
lich zu erfennen , wie an den Farnwedeln der Jeptzeit. Bei vielen kann 
man felöft die Fruchthaͤuſchen, welche auf der Unterflädhe der Wedel 
vertheilt find, ganz deutlich erfennen. Nach der Steintohlenzeit nahm 
das Uebergewicht der Raubfarne bereit ab, und fhon gegen Ende der 
Sekundãrzeit fpielten fie eine faft.fo untergeordnete Rolle wie in der 
Gegenwart. 

Aus den Laubfarnen oder Pterideen ſcheinen ſich als drei diver- 
girende Aefte die Galamarien, Ophiogloſſeen und Rhizocarpeen ent» 
widelt zu haben. Bon diefen drei Klaffen find auf der niederften 
Stufe die Schaftfarne ftehen geblieben (Calamariae oder Calamo- 


421 Schaftfarne ober Ealamarien. Wafferfarne oder Rhizocarpeen. 


phyta). Sie umfailen drei verſchiedene Ordnungen, von denen nur 
eine noch gegenwärtig lebt, nämlich die Schafthalme oder Schach⸗ 
telhalme (Equisetaceae). Die beiden anderen Ordnungen, die 
Riefenhalme (Calamiteae) und die Sternblatthalme (Aste- 
rophyllitese), find fängft auögeftorben. Alle Schaftfarne zeichnen 
fi durch einen hohlen und gegliederten Schaft, Stengel oder Stamm 
aus, an welhem Aefte und Blätter, wenn fie vorhanden find, 
quirlförmig um die Stengelgfieder herumftehen. Die hohlen Sten- 
gelglieder find durch Querſcheidewaͤnde von einander getrennt. Bei 
den Schafthalmen und Calamiten ift die Oberfläche von längsver- 
laufenden parallelen Rippen durchzogen, wie bei einer cannelirten 
Säule, und die Oberhaut enthält fo viel Kieſelerde, daß fie zum 
Scheuern und Poliren verwendet werden kann. Bei den Sternblatt» 
halmen oder Afterophylliten waren die fternförmig in Quirle geſtell- 
ten Blätter ftärker entwidelt als bei den beiden anderen Orbnungen. 
In der Gegenwart leben von den Schaftfarnen nur noch die unan« 
fehnlichen Schafthalme oder Equifetum « Arten umferer Sümpfe und 
Wiefen, welche während der ganzen Primär- und Sekundätzeit durch 
mächtige Bäume aus der Gattung Equisetites vertreten waren. Zur 
felben Zeit lebte auch die nächftvermandte Ordnung der Riefenhalme 
(Calamites), deren ftarfe Stämme gegen 50 Fuß Höhe erreichten. 
Die Ordnung der Sternblatthalme (Asterophyllites) dagegen ent- 
hielt Meinere, zierlihe Pflanzen von fehr eigenthümlicher Zorm, und 
blieb ausſchliehlich auf die Primärzeit beſchraͤnkt. 

Am wenigften befannt von allen Farnen ift und die Geſchichte 
der dritten Klaffe, der Wurzelfarne oder Bafferfarne (Rhizocar- 
peae oder Hydropterides). In ihrem Bau fließen ſich diefe im 
füßen Waſſer lebenden Farne einerfeit3 an die Laubfarne, andrerſeits 
an die Schuppenfarne an. Es gehören hierher die wenig befannten 
Mosfame (Salvinia), Kleefarne (Marsilea) und Pillenſarne (Pilu- 
laria) in den füßen Gewäffern unferer Heimath, ferner die größere 
ſchwimmende Azolla der Tropenteiche. Die meiften Baflerfame find 
von zarter Befchaffenheit und deshalb wenig zur Verfeinerung ge 


Zungenfarne ober Ophiogloſſeen. Schuphenfarne ober Lepibopfpten. 425 


eignet. Daher mag es wohl rühren, da ihre foſſilen Refte fo fel- 
ten find, und daß die älteften derfelben, die wir fennen, im Jura 
gefunden wurden. Wahrſcheinlich ift aber die Klaffe viel älter und 
bat ſich bereits während der paläolithifhen Zeit aus anderen Kamen 
durch Anpaffung an das Waflerleben entwidelt. 

Die vierte Farnklaſſe wird dur die Zungenfarne (Ophio- 
glosseae oder Glossopterides) gebildet. Frũher wurden diefe Farne, 
zu welchen von unferen einheimifchen Gattungen außer dem Opbhio- 
gloſſum auch das Botryhium gehört, nur als eine Meine Unterab⸗ 
teilung der Laubfarne betrachtet. Sie verdienen aber deshalb den 
Rang einer befonderen Klaſſe, weil fie eine wichtige, phylogenetiſch 
vermittelnde Zwifchenform zwifchen den Pterideen und Lepidophyten 
darftellen und demnach auch zu den direkten Vorfahren der Blumen 
pflanzen zu reinen find. 

Die fünfte und legte Farnklaſſe bilden die Shuppenfarne 
(Lepidophyta oder Selagines). Wie die Zungenfarne aus den 
Laubfarnen, fo find fpäter die Schuppenfarne aus den Zungenfars. 
nen entftanden. Die Lepidophyten entwidelten ſich höher ala alle 
übrigen Farne ımd bilden bereits den Uebergang zu den Blumen- 
pflanzen, die ſich aus ihnen zunächft hervorgebildet haben. Nächſt 
den Webelfamen waren fie am meiften an der Zufammenfegung der 
palãͤolithiſchen Farnwaͤlder betheiligt. Auch diefe Klaſſe enthaͤlt, gleich“ 
wie die Klaffe der Schaftfarne, drei nahe verwandte, aber doch mehr- 
fach verſchiedene Orbnungen, von denen nur noch eine am Leben, 
die beiden anderen aber bereit? gegen Ende der Steinkohlenzeit aus⸗ 
geftorben find. Die heute noch lebenden Schuppenfarne gehören zur 
Ordnung der Bärlappe (Lycopodiaceae). Es find meiſtens kleine 
und zierliche, mosähnlihe Pflängchen, deren zarter, in vielen Win⸗ 
dungen fehlangenartig auf dem Boden kriechender und vielveräftelter 
Stengel dicht von ſchuppenaͤhnlichen und fi dedenden Blättchen 
eingehuͤllt ift. Die zierlihen Lycopodium-Ranten unferer Wälder, 
welche bie Gebirgäreifenden um ihre Hüte winden, werden Ihnen 
Allen bekannt fein, ebenfo die noch zartere Selaginella, welche als 


426 Squppenfarne ober Lepidophryten. | 


fogenanntes „Rantenmoo8“ den Boden unferer Gemächähäufer mit 
dichtem Teppich ziert. - Die größten Bärlappe der Gegenwart leben 
auf den Sımdainfeln und erheben fi) dort zu Stämmen von eimem 
halben Fuß Die und 25 Fuß Höhe. Aber in der Primärzeit und 
Setundäygeit waren noch größere Bäume diefer Gruppe weit verbrei« 
tet, von denen die älteften vielleicht zu den Stammeltern der Rabel- 
bölzer gehören (Lycopodites). Die mädhtigfte Entwidelung erreidte 
jedoch die Klaſſe der Schuppenfame während ber Primärzeit nicht in 
den Bärlappbäumen, fondern in den beiden Drbnungen der Schup- 
penbäume (Lepidodendreae) und der Siegelbäume (Bigille- 
rieae). Diefe beiden Ordnungen treten ſchon in der Devongeit mit 
einzelnen Arten auf, erreichen jedoch ihre mafienhafte und erflaun- 
liche Ausbildung erft in der Steinfohlenzeit, und ſterben bereits ge 
gen Ende derfelben oder in der darauf folgenden permifchen Periode 
wieder aus. Die Schuppenbäume oder Lepidodendren waren wahr- 
ſcheinlich den Bärlappen noch näher verwandt, als die Siegelbäumt. 
‚Sie erhoben ſich zu prachtvollen, unveräftelten und gerade auffei ⸗ 
genden Stämmen, die fi am Gipfel nach Art eined Kronleuchter 
gabelfpaltig in zahlreiche Aeſte theilten. Diefe trugen eine mädtige 
Krone von Schuppenblättern und waren gleich dem Stamm in gier- 
lichen Spirallinien von ben Narben ober Anfapftellen der abgefalk- 
nen Blätter bededt. Man kennt Sihuppenbäume von 40—60 Fuß 
Länge und 12—15 Fuß Durchmeſſer am Wurzelende. Gingeine 
Stämme follen felbft mehr ala hundert Fuß lang fein. Roch viel 
maffenhafter finden ſich in der Steinfohle die nicht minder hoben, 
aber ſchlankeren Stämme ber merkwürdigen Siegelbäume oder Ei- 
gillarien angehäuft, die an manchen Orten hauptſächlich die Stein- 
tohlenflöge zufammenfegen. Ihre Wurelftöde hat man früher ald 
eine ganz befondere Pflanzenform (Stigmaria) beichrieben. Die Ei 
gelbäume find in vieler Beziehung den Schuppenbäumen fehr ähn ⸗ 
lid), weichen jedoch durch ihren anatomifhen Bau ſchon mehrfach 
von diefen und von den Farnen überhaupt ab. Vielleicht waren 
fie den auögeftorbenen devonifhen Rycopterideen nahe venvandt. 


Blumenpflanzen ober Phanerogamen. 427 


welche charalteriſtiſche Eigenfchaften der Bärlappe und der Laubfarne 
in fi) vereinigten, und welche Strasburger ala bie hypothe⸗ 
tiſche Stammform der Blumenpflanzen (zunächft der Nadelhölzer) bes 
trachtet. 

Indem wir num die dichten Farnwalder der Primarzeit verlaſſen, 
welche vorzugaweife aus den Laubfarnen, aus den Schuppenbäumen 
und Siegelbäumen zufammengefegt find, treten wir in die nicht min⸗ 
der charatieriſtiſchen Radelwaͤlder der Gekundägeit hinüber. Damit 
treten wir aber zugleich aus dem Bereiche der blumenloſen und famen- 
Iofen Pflanzen oder Aryptogamen in die zweite Hauptabtheilung des 
Plangenreich®,, in das Unterreich der famenbildenden Pflanzen, der 
Blumenpflanzen oder Phanerogamen hinein. Diefe for- 
menreiche Abtheilung, welche die Hauptmaſſe der jept lebenden Pflan- 
jenwelt, und namentlich die große Mehrzahl der landbewohnenden 
Pilangen enthält, ift jedenfalls viel jüngeren Alters, als die Abthei- 
lung der Kroptogamen. Denn fie fann erft im Laufe ded paläolithi- 
ſchen Zeitalters aus diefer lepteren ſich entwidelt haben. Mit voller 
Gewißheit fönnen wir behaupten, daß während des ganzen archolithi⸗ 
ſchen Zeitalters, alfo während der erften und längeren Hälfte der or 
ganiſchen Erdgefchichte, noch gar feine Blumenpflangen egiftirten, und 
daß fie fich erft während der Primärzeit aus farnartigen Kryptogamen 
entwidelten. Die anatomifche und embryologiſche Berwandtfchaft der 
Phanerogamen mit diefen lepteren ift fo innig, daß wir daraus mit 
Sicherheit auch auf ihren genealogiſchen Zufammenhang, ihre wirk⸗ 
liche Blutöverwandtfchaft ſchließen können. Die Blumenpflanzen kön- 
nen unmittelbar weder aus Thalluspflanzen noch aus Mofen, fondern 
wur aus Farnen oder Filicinen entftanden fein. Höchſt wahrſcheinlich 
find die Schuppenfarne oder Lepidophyten, und war die vorher ges 
nannten Lytopterideen, welche der heutigen Selaginella fehr nahe 
verwandt waren, die unmittelbaren Vorfahren der Phanerogamen 
teweſen. 

Schon ſeit langer Zeit hat man auf Grund des inneren anato⸗ 
miſchen Baues und der embryologifchen Entwidelung dad Unterreich 


428 Nacktſamige oder Gymnofpermen. Palmfarne ober Cycadeen. 


der Phanerogamen in zwei große Hauptklaſſen eingetheilt, in die 
Nadtfamigen oder Gymnofpermen und in die Dedfami- 
gen oder Angiofpermen. Diefe lepteren find in jeber Beziehung 
volltommener und höher organifirt ald die erfteren, und haben fh 
erſt fpäter, im Laufe der Sefundärzeit, aus jenen entwidelt. Tie 
Spmnofpermen bilden fowohl anatomiſch al® embryologifch die ver- 
mittelnde Webergangögruppe von ben Farnen zu den Angiofpermen. 

Die niedere, unvolltommnere und ältere von den beiden Haupt- 
Mailen der Blumenpflanzen, die der Nadtfamigen (Gymnosper- 
mae ober Archispermae) erreichte ihre mannidfaltigfte Ausbildung 
und ihre weitefte Verbreitung während der mefolithifchen oder Er 
fundärzeit. Sie ift für dieſes Zeitalter nicht minder harakteriftifh, 
wie die Farngruppe für das vorhergehende primäre, und wie die 
Angiofpermengruppe für das nachfolgende tertiäre Zeitalter. Bir 
tonnten daher die Sefundäygeit auch als den Zeitraum der Gyamo- 
fpermen, oder nad) ihren bedeutenditen Vertretern ald das Zeitalter 
der Nabelhölzer bezeichnen. Die Nadtfamigen zerfallen in drei Klaſ⸗ 
fen, die Coniferen, Cycadeen und Gnetaceen. Wir finden verfei- 
nerte Refte derfelben bereitd in der Steinkohle vor, und müflen dar- 
aus fließen, daß der Uebergang von Schuppenfarnen in Eymno- 
fpermen bereits während der Steinfohlenzeit, oder vielleicht ſelbn 
ſchon in der devoniſchen Zeit, erfolgt if. Immerhin fpielen die 
Radtfamigen während der ganzen folgenden Primärzeit nur eine ſeht 
untergeordnete Rolle und gewinnen die Herrihaft über die Fame erft 
im Beginn der Sekundärzeit. 

Bon den drei Klaffen ber Gymnofpermen fteht biejewige der 
Balmfarne oder Zamien (Oycadeae) auf der niederften Stufe 
und ſchließt ſich, wie ſchon der Rame fagt, unmittelbar an die Fame 
an, fo da fie felbft von manden Botanitern wirklich mit dieler 
Gruppe in Syfteme vereinigt wurde. Im der äußeren Geſtalt glei ⸗ 
hen fie ſowohl den Palmen, ald den Farnbaͤumen oder baumartigen 
Laubfarnen, und tragen eine aus Fiederblaͤttern zuſammengejerte 
Krone, welche entweder auf einem diden miedrigen Strunfe ober aui 


Nabelhölzer oder Eoniferen. 429 


einem fehlanten, einfachen, fäulenförmigen Stamme figt. In ber 
Gegenwart ift diefe einft formenreiche Klaffe nur noch durch wenige, 
in der heißen Zone lebende, Formen dürftig vertreten, durch die nie 
drigen Zapfenfarne (Zamia), die dickſtämmigen Brodfarne (Encephal- 
artos), und bie ſchlankſtaͤmmigen Rollfarne (Cycas). Man findet 
fie häufig in unferen Treibhäufen, wo fie gewöhnlich mit Palmen 
vermwechfelt werben. ine viel größere Kormenmannichfaltigkeit als 
die Iebenden, bieten uns die außgeftorbenen und verfteinerten Zapfen« 
farne, welche namentlich in der Mitte der Sekundärzeit (während der 
Juraperiode) in größter Maffe auftraten und damals vorzugsweiſe den 
Gharakter der Wälder beftunmten. 

In größerer Formenmannichfaltigkeit als bie Klaſſe der Palm- 
fame bat fi bis auf unfere Zeit der andere Zweig der Gymnofper- 
mengruppe erhalten, die Klafje der Nadelhölzer oder Zapfen- 
bäume (Coniferae). Noch gegenwärtig fpielen die dazu gehörigen 
Cypreſſen, Wacholder und Lebensbäume (Thuja), die Taxus und 
Gintobäume (Salisburya), die Araucarien und Gedern, vor allen 
aber die formenreiche Gattung Pinus mit ihren zahlreichen und bes 
deutenden Arten, den verfchiedenen Kiefern, Pinien, Tannen, Fich⸗ 
tem, Lärchen u. f. w. in den verfchiebenften Gegenden der Erde eine 
ſehr bedeutende Rolle, und fepen ausgedehnte Waldgebiete faft allein 
iufammen. Doch erfeheint diefe Entwidelung der Nadelhölger ſchwach 
im Bergfeiche zu der ganz überwiegenden Herrichaft, welche ſich diefe 
Mafje während der älteren Sefundärgeit, in der Triasperiode, über die 
übrigen Pflanzen erworben hatte. Damals bildeten mächtige Zapfen» 
baͤume in verhäftnigmäßig wenigen Gattungen und Arten, aber in 
ungeheuren Mafien von Individuen beifammen ftehend, den Haupt- 
beſtandtheil der mefolithifhen Wälder. Sie rechtfertigen die Benen- 
mmg der Setundängeit als des „Zeitalter der Nadelmälder", obwohl die 
Goniferen ſchon in der Jurazeit von den Cycadeen überflügelt wurden. 

Die Stammgruppe der Coniferen fpaftete ſich ſchon frühzeitig in 
wei Aefte, in die Araucarien einerfeitd, die Taraceen oder Tarbäume 
andererfeitd. Bon den erfteren ftammt bie Hauptmaffe der Nadelhöl- 


430 Dedſamige oder Angiofpermen. 


zer ab. Aus den letzteren hingegen entwidelte fich die britte Klaſſe 
der Gymnoſpermen, die Meningos oder Gnetacese. Diefe eine, 
aber fehr intereffante Klaffe enthält nur drei verichiedene Gattumgen: 
Gnetum, Welwitschia und Ephedra; fie ift aber von großer Be: 
deutung als die unmittelbare Uebergangägruppe von den Goniferen 
zu den Angiofpermen, und zwar fpeciell zu den Dicotylen. 

Aus den Radelwäldern der mefolithifhen oder Setunbägeit 
treten wir in bie Qaubmälder der caenolithiſchen oder Tertiängeit bin- 
über und gelangen dadurch zur Betrachtung der fechöten und lepten 
Hauptllafle des Pflanzenreih®, der Dedfamigen (Angiospermae 
oder Metaspermae). Die erften fiheren Berfteinerungen von Ded- 
famigen finden wir in den Schichten des Kreidefuften®, und zwar fom- 
men bier neben einander Refte von den beiden Klaffen vor, in weiche 
man die Hauptllaffe der Angiofpermen allgemein eintheilt, nämlih 
Einteimblättrige oder Monocotylen und Zweiteimblätt- 
tige ober Dicotylen. Indeſſen ift die ganze Gruppe wahrſchein ⸗ 
lich älteren Urfprungs und ſchon während ber Triad-PBeriobe entftan- 
den. Bir fennen nämlich eine Anzahl von zweifelhaften und mict 
ſicher beftimmbaren foffilen Pflanzenreften aus der Jurageit und aus 
der Triaszeit, welche von manchen Botanikern bereits für Angiofper- 
men, von anderen dagegen für Gymnoſpermen gehalten werden 
Was die beiden Klaſſen der Dedfamigen betrifft, Monocotylen und 
Dicotylen, fo haben ſich höchft wahricheinlich zunaͤchſt aus den One 
taceen die Dicotylen, hingegen die Monocotylen erft fpäter aus einer 
Seitenlinie oder einem Zweige ber Dicotylen entwickelt. 

Die Alaffe der Einfeimblättrigen oder Einfamen- 
lappig en (Monocotylae ober Monocotyledomes, auch Emdogenae 
genannt) umfaßt diejenigen Blumenpflanzen, deren Samen mar ein 
einziges Keimblatt oder einen fogenannten Samenlappen (Gotyledon) 
befipt. Jeder Blattfreiß ihrer Blume enthält in der großen Dehmabi 
der Fälle drei Blätter, und es ift fehr wahrſcheinlich. daß die ge- 
meinfame Mutterpflanze aller Monocotylen eine regehmäßige umb drei 
zaͤhlige Blüthe beſaß. Die Blätter find meiſtens einfach. won am- 





Einteimblättrige oder Monocothlen. 431 


fachen, graden Gefäßbündeln oder fogenannten „Nerven“ durchzogen. 
Zu diefer Klafie gehören die umfangreichen Kamilien der Binfen und 
Gräfer, Lilien und Schtoertlilien, Orchideen und Dioscoreen, ferner 
eine Anzahl einheimifcher Waflerpflanzen, die Wafferlinfen, Rohr⸗ 
kolben, Seegräfer u.f.iw., und endlich die prachtvollen, höchſt ent- 
widelten Samilien der Aroideen und Pandaneen, der Bananen und 
Palmen. Im Ganzen ift die Monototylenklaſſe troß aller Kormen- 
marmichfaltigkeit, die fie in der Tertiärzeit und in der Gegenwart ent⸗ 
widelt bat, viel einförmiger organifirt, als die Dieotylenflaffe, und 
auch ihre gefchichtiche Entwiclelung bietet ein viel geringeres Intereſſe. 
Da ihre verfteinerten Refte meiften® ſchwer zu erfennen find, fo bleibt 
die Frage vorläufig noch offen, in welchem der drei großen felundä- 
ren Zeiträume, Trias⸗, Jura« oder Nreidegeit, die Monocotylen aus 
den Dicotylen entftanden find. Jedenfalls exiſtirten fie bereits in 
der Kreibegeit. 

Viel größeres biftorifche® und anatomifches Intereffe bietet in 
der Entwidelung ihrer untergeordneten Gruppen die zweite Klaſſe der 
Dedfamigen, die Zweileimblättrigen oder Zweiſamen— 
lappigen (Dicotylae oder Dicotyledones, auch Exogenae be- 
nannt). Die Blumenpflangen diefer Klaſſe befigen, wie ihr Name 
fagt, gewöhnlich zwei Samenlappen ober Keimblätter (Cotyledonen). 
Die Grundzahl in der Zufammenfepung ihrer Blüthe ift gewöhnlich 
nicht drei, wie bei den meiften Monocotylen, fondern vier oder fünf, 
oder ein Vielfaches davon. Werner find ihre Blätter gewöhnlich höher 
differengirt und mehr zufammengefept, als die der Monocotylen, und 
von gefrümmten, veräftelten Gefäßbündeln ober „Adern durchzogen. 
Zu diefer Klaſſe gehören die meiften Laubbäume, und da diefelbe in 
der Tertiärgeit ſchon ebenfo wie in der Gegenwart das Uebergetwicht 
über die Öymmofpermen und Farne befaß, fo fonnten wir da® caeno- 
lithiſche Zeitalter auch als das der Laubwälder bezeichnen. 

Obwohl die Mehrzahl der Dicotylen zu den höchſten und voll- 
tommenften Pflanzen gehört, fo ſchließt ſich doch die niederfte Ab- 
tbeifung derfelben unmittelbar an die Gymnofpermen, und zwar an 


432 Zweiteimblättrige ober Dicotylen. 


die Gnetaccen an. Bei den niederen Dicotylen ift, wie bei den 
Monocotylen , Kelch und Blumenfrone noch nicht gefondert. Man 
nennt fie daher Kelch blüthige (Monochlamydeae oder Apetalae). 
Diefe Unterkfaffe ift ohne Zmeifel al8 die Stammgruppe der Angio- 
fpermen anzufehen und egiftirte wahrſcheinlich ſchon während ber 
Trias- oder Jura-Zeit. Es gehören dahin die meiften Läpchentra- 
genden Laubbäume: die Birken und Erlen, Weiden und Pappeln, 
Buchen und Eichen, ferner die neffelartigen Pflanzen: Neffen, Hanf 
und Hopfen,’ Feigen, Maulbeeren und Rüftern, endlich die wolfe- 
mildartigen , forbetrartigen,, amaranthartigen Pflanzen u. ſ. w. 

Erft fpäter, in der Kreidezeit, erfcheint die zweite und voll- 
tommnere Unterflafle der Dieotylen, die Gruppe der Kronenblü- 
thigen (Dichlamydeae oder Corolliflorae). Diefe entitanden aus 
den Kelchblüthigen dadurch, daß ſich die einfache Blüthenhülle der 
letzteren in Kelch und Krone differenzirte. Die Unterklaſſe der Aro- 
nenblüthigen zerfällt wiederum in zwei große Hauptabtheilungen oder 
Xegionen, deren jede eine große Menge von verkhiedenen Ordnun ⸗ 
gen, Familien, Gattungen und Arten enthält. Die erfte Legion 
führt den Namen der Sternblüthigen oder Diapetalen, die zweite 
den Namen der Glodenblüthigen oder Gamopetalen. 

Die tiefer ftehende und unvolltommnere von den beiben Legio- 
nen der Kronenblüthigen find die Sternblüthigen (Diapetalac. 
auch Polypetalae oder Dialypetalae genannt). Hierher gehören die 
umfangreichen Familien der Doldenblüthigen ober Umbelliferen,, der 
Kreuzblüthigen oder Cruciferen, ferner die Ranunculaceen und Grai- 
fulaceen, Wafferrofen und Eiftrofen, Malven und Geranien, und 
neben vielen anderen namentlich noch die großen Abtheilungen der 
Rofenblüthigen (welche außer den Rofen die meiften unferer Obft- 
bäume umfaffen), und der Schmetterling3blüthigen (welche unter an- 
deren die Widen, Bohnen, Klee, Ginfter, Acacien und Mimofen ent« 
halten). Bei allen diefen Diapetalen bleiben die Blumenblätter ge 
trennt und verwachfen nidht mit einander, wie es bei den Gamope · 
talen der Fall ift. Die lepteren haben fich erft in der Tertiärgelt aus 


Ta£V 


‚n-Pflanzen, Phanerogamae. 





























Einheitlicher 
oder monophyletischer 


Stammbaum des Pflanzenreichs 


palaeontologisch begründet. 











Zweileimblattrige oder Dicotylen. 433 


den Diapetalen entwidelt, während diefe fhon in der Kreidegeit neben 
den Kelhbfüthigen auftraten. 

Die hoͤchſte und volltommenfte Gruppe des Pflanzenreich® bildet 
die zweite Abtheilung der Kronenblüthigen, die Legion der Gloden- 
blüthigen (Gamopetalae, auch Monopetalae oder Sympetalde 
genannt). Hier verwachſen die Blumenblätter, welche bei den übri⸗ 
gen Blumenpflanzen meiften® ganz getrennt bleiben, regelmäßig zu 
einer mehr oder weniger gloden«, trichter- oder röhrenförmigen Krone, 
Es gehören hierher unter anderen die Glodenblumen und Winden, 
Primeln und Haidefräuter, Gentianen und Loniceren, ferner die Fa- 
milie der Delbaumartigen (Delbaum, Ligufter, Flieder und Efche) 
und endlich neben vielen anderen Familien die umfangreichen Abthei- 
lungen der Lippenblüthigen (Labiaten) und der Zufammengefeptblü- 
tigen (Compofiten). In diefen fegteren erreicht die Differenzirung 
und Bervolltommnung der Phanerogamenblüthe ihren höchſten Grad, 
und wir müffen fie daher als die vollfonmenften von allen an die 
Spipe des Pflanzenreich® ftellen. Dem entfpredhend tritt die Region 
der Glocken blũthigen oder Gamopetalen am fpäteften von allen Haupt- 
gruppen des Pflanzenteichs in der organifchen Erdgeſchichte auf, näm- 
lich erft in der caenofithifhen oder Tertiärzeit. Selbft in der älteren 
Tertiärgeit ift fie noch fehr felten, nimmt erft in der mittleren langfam - 
zu und erreicht erft in der neueren Tertiärzeit und in der Quartärzeit 
ihre volle Ausbildung. 

Wenn Sie nun, in der Gegenwart angelangt, nochmals die 
ganze gefhichtlihe Entwidelung des Pflanzenreichs 
überbliden, fo werben fie nicht umhin fönnen, darin lediglich eine 
großartige Beftätigung der Defcendenztheorie zu finden. 
Die beiden großen Grundgefege der organiſchen Entwidelung, die wir 
als die nothwendigen Folgen der natürlichen Züchtung im Kampf 
um's Dafein nachgewiefen haben, die Gefege der Differenzirung 
und der Bervollfommnung, machen ſich in der Entwidelung der 
größeren und kleineren Gruppen des natürlihen Pflanzenſyſtems 
überall geltend. Im jeder größeren und kleineren Periode der organi- 

Haedel, Natürl. Schöpfungsgeih. 5. Aufl. 28 


434 NRiüdblid auf die geſchichtliche Entwidelung des Pflanzenreichs. 


ſchen Erdgeſchichte nimmt das Pflangenreich ſowohl an M annichfal- 
tigfeit, ald an Bolltommenbeit zu, wie Ihnen ſchon ein Blid 
auf Taf. IV deutlich zeigt. Während der ganzen langen Primordial- 
zeit egiftirt nur bie nieberfte und unvollkommenſte Hauptflaffe der 
Tange. Zu diefen gefellen fih in der Primätzeit die höheren und 
volltommneren Kryptogamen, insbeſondere die Hauptkllaſſe der Farne. 
Schon während der Steinfohlenzeit beginnen fih aus diefen die Pha- 
nerogamen zu enttideln, anfänglich jedoch nur durch die niedere 
Hauptklaſſe der Radtfamigen oder Gymnoſpermen vepräfentir. 
Erſt während der Sekundärzeit geht aus diefen die höhere Hauptllaſſe 
der Dedfamigen oder Angiofpermen hervor. Auch, von diefen find 
anfänglich nur die niederen, fronenlofen Gruppen, die Monocoty- 
len und die Apetalen vorhanden. Erft während der Kreidegeit 
entwideln fih aus letzteren die höheren Kronenblüthigen. Aber auch 
diefe hochſte Abtheilung ift in der Kreidezeit nur durch die tiefer fir 
henden Sternblüthigen oder Diapetalen vertreten, und ganz zufept 
erſt, in der Tertiärzeit, gehen aus biefen die höher ftehenden Gtloden- 
blüthigen oder Samopetalen hervor, die volltommenften von allen 
Blumenpflanzen. So erhob ſich in jedem jüngeren Abſchnitt der or- 
ganifchen Erdgeſchichte das Pflanzenreich ftufenmweife zu einem höheren 
Grade der Bolltonmenheit und der Mannichfaltigfeit. 


Achtzehnter Vortrag. 


Stammbaum nnd Gefhichte des Thierreichs. 
I. Urthiere, Pflanzenthiere, Wurmthiere. 


Das natürliche Syſtem des Thierreichs. Syſtem von Birne und Lamard. 
Die vier Typen von Bär und Euvier. Vermehrung berjelben auf fieben Typen. 
Genealogiſche Bedeutung der fieben Typen als felbftftändiger Stämme bes Thier- 
reichs. Monophyletiſche und polyphyletiſche Deſcendenzhypotheſe des Thierreichs. 
Abſtammung der Pflanzenthiere und Würmer von ber Gaſträa. Gemeinſamer 
Urfprung der vier höheren Thierſtämme aus dem Würmerflamm. Eintheilung 
der fieben Thierſtänmne in '16 Hanptflafien und 38 Klaſſen. Stamm ber Ur- 
thiere. Urahnthiere (Moneren, Amoeben, Synamoeben, Planäaben). Gregarinen. 
Infufionsthiere (Aeineten und Ciliaten). Stamm der Pflanzenthiere. Gafräaden 
(Gafträa und Gaftrula). Schwaämme oder Spongien (Schleimſchwämme, Fa- 
ſerſchwaͤmme, Kaltſchwämme). Neſſelthiere oder Alalephen (Korallen, Schirmquallen, 
Rammquallen). Stamm der Wurmthiere. Plattiwürmer. Rundwurmer. Mos- 
thiere. Mantelthiere. Raderthiere. Stermwirmer. Ringelwurmer. 


Meine Herren! Das natürliche Syſtem der Organismen, wel⸗ 
heB wir ebenſo im Thierreich wie im Pflanzenreich zunächft als Leit 
faden für unfere genealogifchen Unterfuhungen benugen müffen, ift 
bier wie dort erft neueren Urfprungs, und weſentlich durch die Forte 
f&ritte unfere® Jahrhunderts in der vergleichenden Anatomie und 
Ontogenie bedingt. Die Klaſſifitationsverſuche des vorigen Jahr⸗ 
hunderts bewegten ſich faft ſämmtlich noch in der Bahn des fünft« 
lichen Syſtems, welches zuerſt Carl Linné in ſtrengerer Form 
aufgeſtelli hatte. Das künſtliche Syſtem unterſcheidet fi von dem 

28* 


436 Natürliches und künſtliches Syſtem des Thierreichs. 


natürlichen wefentlich dadurch, daß es nicht die gefammte Organi- 
fation und die innere, auf der Blutsverwandtſchaft beruhende Form- 
verwandtihaft zur Grundlage der Eintbeilung macht, fondern nur 
einzelne und dazu meift noch äußerliche, leicht in die Augen fallende 
Merkmale. So unterſchied Linné feine 24 Klaſſen des Pflanzen- 
reichs weſentlich nach der Zahl, Bildung und Verbindung der Staub: 
gefäße. Cbenfo unterfchied Derfelbe im Ihierreiche ſechs Klaſſen wer 
fentlich nach der Veichaffenheit des Herzen® und des Blutes. Dieſe 
ſechs Alaffen waren: 1. die Säugethiere; 2. die Vögel; 3. die Am- 
phibien; 4; die Fiſche; 5. die Inſekten und 6. die Würmer. 

Diefe ſechs Thierklaſſen Linné's find aber keineswegs von 
gleichem Werthe, und es mar fhon ein wichtiger Fortichritt, ala 
2amard zu Ende des vorigen Jahrhundert® die vier erſten Klaſſen 
als Wirbelthiere (Vertebrata) zufammenfaßte, und biefen Die 
übrigen Thiere, die Infelten und Würmer Linné's, als eine zweite 
Hauptabtheilung, als Wirbellofe (Invertebrata) gegenüberftellte. 
Eigentlih griff Lamard damit auf den Bater der Raturgefchichte, 
auf Ariftoteles zurüd, welcher diefe beiden großen Hauptgruppen 
bereits unterſchieden, und die erfteren Blutthiere, die lepteren 
Blutlofe genannt hatte. 

Den nächſten großen Fortfehritt zum natürlichen Syſtem des 
Thierreichs thaten einige Decennien fpäter zwei der verdienftvolliten 
Zoologen, Karl Ernft Bär und George Cuvier. Wie ſchou 
früher erwähnt wurde, jtellten biefelben faft gleichzeitig, und unab- 
hängig von einander, die Behauptung auf, daß mehrere grundver- 
ſchiedene Hauptgruppen im Thierreich zu unterjcheiden feien, von de- 
nen jede einen ganz eigenthümlichen Bauplan oder Typus befige. 
(Bergl. oben ©. 48.) In jeder diejer Gauptabtheilungen giebt e 
eine baumförmig verzweigte Stufenleiter von fehr einfachen umt 
unvolltommenen bis zu höchft zufammengefepten und entwidcelten 
Formen. Der Ausbildungsgrad innerhalb cines jeden Inpus 
iſt ganz unabhängig von dem eigenthümlihen Bauplan, der dem 
Typus ald befonderer Gharakter zu Grunde liegt. Diefer „Tupus“ 





Die vier Typen des Thierreichs von Bär und Euvier. 437 


wird durd das eigenthümliche Lagerungsverhaͤltniß ber wichtigften 
Körpertheile und die Verbindungsweiſe der Drgane beftimmt. Der 
Ausbildungsgrad dagegen ift abhängig von der mehr oder weniger 
weitgehenden Arbeitätheilung oder Differenzirung der Plaftiden und 
Organe. Diefe außerordentlich wichtige und fruchtbare Idee begrün⸗ 
dete Bär, welcher fih auf die individuelle Entwidelungagefchichte 
der Thiere ftügte, viel flarer und tiefer als Cuvier, welcher ſich 
bloß an die Refultate der vergleichenden Anatomie hielt. Doch er- 
tannte weder diefer noch jener die wahre Urfache jenes merkwürdi⸗ 
gen Verhaͤltniſſes. Diefe wird und erft durd die Defcendenztheorie 
enthüllt. Sie zeigt und, daß der gemeinfame Typ us oder Bauplan 
durch die Bererbung, der Grad der Ausbildung oder Sonderung 
dagegen durch die Anpaffung bedingt ift. (Gen. Morph. II, 10.) 

Sowohl Bär ala Cuvier unterfiheiden im Thierreich vier ver- 
ſchiedene Typen oder Baupläne und theilen daffelbe dem entfprechend 
in vier große Hauptabtheilungen (Zweige oder Kreife) ein. Die erfte 
von diefen wird dur die Wirbelthiere (Vertebrata) gebildet, 
welche die vier erſten Klaffen Linné's umfaifen: die Säugethiere, 
Bögel, Amphibien und Fiſche. Den zweiten Typus bilden die Glie- 
derthiere (Articulata), welche die Inſekten Linné's, alfo die 
eigentlichen Infekten , die Taufendfüße, Spinnen und Krebfe, aufer- 
dem aber aud) einen großen Theil der Würmer, insbeſondere die ge⸗ 
aliederten Würmer, enthalten. Die dritte Hauptabtheilung umfaßt 
die Weichthiere (Mollusca): die Kraden, Schneden, Mufceln, 
und einige verwandte Gruppen. Der vierte und legte Kreis des Thier- 
reichs endlich if aus den verſchiedenen Strahlt hieren (Radiata) 
zuſammengeſetzt, welche ſich auf den erften Blick von den drei vorher⸗ 
gehenden Typen durch ihre „frahlige” , blumenähnliche Körperform 
unterſcheiden. Während nämlich bei den Weichthieren, Gliederthie ⸗ 
ven und Wirbelthieren ber Körper aus zwei fommetrifch-gleichen Sei⸗ 
tenhätften beftcht, aus zwei Gegenftüden oder Antimeren, von denen 
das eine das Spiegelbild des anderen darftellt, fo ift dagegen bei den 
fogenannten Strahlthieren der Körper aus mehr als zwei, gewöhnlich 


438 Die fieben thieriſchen Typen der neueren Zoelogie 


vier, fünf oder ſechs Gegenftüden zufammengefept, welche wie bei 
einer Blume um eine gemeinfome Hauptaxe gruppirt find. So auf 
fallend diefer Unterfchied zunächft auch ericheint, fo ift er doch im 
Grunde nur untergeordnet, und keineswegs hat die Etrahlform bei 
allen „Strahlthieren“ biefelbe Bedeutung. 

Die Aufftellung diefer natürlihen Hauptgruppen, Typen oder 
Kreife des Thierreih® durch Bär und Cuvier war der größte Fort 
ſchritt in der Mafifitation der Thiere feit Rinne. Die drei Gruppen 
der Wirbelthiere, Gliederthiere und Weichthiere find fo naturgemäß. 
daß fie noch heutzutage in wenig verändertem Umfang beibehalten wer« 
den. Dagegen mußte bie ganz unnatürliche Bereinigung der Strahl» 
thiere bei genauerer Erkenntniß alsbald aufgelöft werden. Zuerft wies 
Leuckart 1848 nah, daß darunter zwei grundverfchiebene Typen 
vermiſcht feien, nämlich einerfeit? die Sternthiere (Echinoderma): 

die Seefterne, Seelilien, Seeigel und Seegurken; anbrerfeits die 
Pflanzenthiere (Coelenterata ober Zoophyta): die Schwänme, 
Korallen, Schirmquallen und Kammquallen. 

Schon vorher (1845) hatte der auögegeichnete Münchener Zoologe 
Siebold die Infufionsthierchen oder Infuforien mit den Wurjel⸗ 
füßern oder Rhigopoden in einer befonderen Hauptabtheilung als 
Urthiere (Protozoa) vereinigt. Dadurd flieg die Zahl der thierie 
ſchen Typen oder Kreife auf fech®. Endlich wurde diefelbe noch da- 
dur um einen fiebenten Typus vermehrt, daß die neueren Zoologen 
die Hauptabtheilung der Gliederthiere oder Articulaten in zwei Grup 
pen trennten, einerfeit® die mit gegliederten Beinen verſehenen Glie- 
derfüßer (Arthropoda), welche den Inſekten im Sinne Linne's 
entſprechen, nämlich die eigentlichen (ſechsbeinigen) Infekten, die 
Taufendfüße, Spinnen und Krebſe; andrerfeits die fußlofen oder mit 
ungegliederten üßen verfehenen Würmer (Vermes). Diefe lepte- 
ren umfaffen nur die eigentlichen Würmer (bie Ringelwärmer, Platte 
mürmer u. ſ. w.) und entſprechen daher keineswegs den Würmern 
im Sinne Linnd's, welcher dazu auch noch die Weichtbiere, Strahl. 
thiere und viele andere niedere Thiere gerechnet hatte. 





Stammesurtunden des Thierreiche, 439 


&o wäre benn nach der Anſchauung der neueren Zoologen, 
welche Sie faft in allen Hand⸗ und Lehrbüchern der gegenwärtigen 
Thierkunde vertreten finden, das Thierreich aus fieben ganz verſchie⸗ 
denen Hauptabtheilungen oder Typen zuſammengeſetzt, deren jede 
duch einen charalteriſtiſchen, ihr ganz eigenthümlichen fogenannten 
Bauplan audgezeichnet, und von jeder der anderen völlig verichieden 
ift. In dem natürlichen Syſtem des Thierreichs, welches ih Ihnen 
jebt als den wahrſcheinlichen Stammbaum deffelben entwideln werde, 
ſchließe ih mid im Großen und Ganzen diefer üblichen Eintheilung 
an, jedoch nicht ohne einige Modifitationen, welche ich in Betreff der 
Genealogie für fehr wichtig halte, und welche unmittelbar durch un⸗ 
fere Hiftorifche Auffaflung der thierifchen Formbildung bedingt find. 

Ueber den Stammbaum des Thierreiches erhalten wir 
«ebenfo wie über denjenigen des Pflangenreiches) offenbar die fiher- 
ſten Auffchlüffe durch die vergleichende Anatomie und Ontogenie. 
Außerdem giebt und auch über die hiftorifhe Aufeinanderfolge vieler 
Gruppen die Paläontologie höchſt fhäpbare Auskunft. Zunächit 
tönnen wir aus zahlreichen Thatſachen der vergleichenden Anatomie 
und Ontogenie auf die gemeinfame Abftammung aller derjenigen 
Thiere ſchließen, die zu einem jeden der genannten „Typen“ gehören. 
Denn trop aller Mannichfaltigkeit in der äußeren Form, welche inner 
halb jedes diefer Typen ſich entmwidelt, iſt dennoch die Grundlage des 
inneren Baues, das wefentliche Lagerungsverhältniß der Körpertheile, 
weiches den Typus beftimmt, fo conftant, bei allen Gliedern jedes 
Typus fo übereinftimmend, daf man diefelben eben wegen diefer in⸗ 
neren Formverwandtfhaft im natürlichen Syftem in einer einzigen 
Hauptgruppe vereinigen muß. Daraus folgt aber unmittelbar, daß 
diefe Bereinigung aud im Stammbaum des Thierreichs ftattfinden 
maß. Denn die wahre Urfache jener innigen Formverwandtſchaft 
tann nur die wirkliche Blutsverwandtſchaft fein. Wir fönnen alfo 
ohne Weiteres den wichtigen Sag aufftellen, daß alle Ihiere, welche 
zu einem und demfelben Kreis oder Typus gehören, von einer und 
derfelben urſprünglichen Stammform abftammen. Mit anderen 


440 Volyphyletiſche und monophtletiſche Abftammung. 


Worten, ber Begriff des Kreiſes oder Typus, mie er in ber 
Zoologie feit Bär und Cuvier für die wenigen oberften Haupt ⸗ 
gruppen ober „Unterreihe des Thierreichs gebräuchlich ift, fällt zu- 
fammen mit dem Begriffe de8 Stammes oder Phylum, wie 
ihn die Defcendenztheorie für die Gefammtheit derjenigen Organismen 
anwendet, welche höchftwahrfcheinlich blutsverwandt find, und eine 
gemeinfame Wurzel befigen. 

Wenn wir demgemaß die ganze Dannichfaltigfeit der thieriſchen 
Formen auf jene fieben Grundformen zurüdführen fönnen, fo tritt 
uns als zweites phylogenetifhes Problem die Frage entgegen: Wo 
tommen diefe fieben Thierftämme her? Sind die fieben urfprünglichen 
Stammformen derfelben ganz felbftftändigen Urfprung®, oder find 
auch fie unter einander in entfernterem Grade blutsverwandt? 

Anfänglich Fönnte man geneigt fein, diefe Frage in polypby- 
letiſchem Sinne dahin zu beantworten, daß für jeden der fieben 
großen Thierftämme mindeſtens eine felbftftändige und von den an- 
deren gänzlih unabhängige Stammform angenommen werden muß. 
Allein bei eingehendem Nachdenken über diefes fhwierige Problem ge · 
langt man doc) ſchließlich zu der monophylet iſche n Ueberzeugung 
da auch dieſe fieben Stammformen ganz unten an der Wurzel zu- 
ſammenhangen, daß auch fie wieder von einer einzigen, gemeinſamen 
Urform abzufeiten find. Auch im Thierreih, wieim Pflan— 
jenreih, gewinnt bei näherer und eingehenderer Be- 
trachtung die einftfämmige odermonophyletifhe Defcen- 
denz-Hypothefe das Uebergewicht über die entgegen- 
gefepte, vielftämmige oder polyphyletifhe Hypotheſe. 

Bor Allem und in erfter Linie ift e& die vergleihende On- 
togenie, welche und zu dieſer monophyletiſchen Weberzeugung von 
dem einheitlichen Urfprunge des ganzen Thierreih® (nad) Ausfhluk 
der Protiften natürlich!) führt. Der Zoologe, welder die individuelle 
Entwickelungsgeſchichte der Thierftämme denkend vergleicht und die Ve · 
deutung des biogenetifchen Grundgefepes begriffen hat (S. 361), kann 
ſich der Nebergeugung nicht verfchließen, daß auch für die fieben ange» 








9 


— 


SS 






ZL 
— 


SS] 


ASS 





„Ircholithische_oder primordiale Perioden. 








Historisches Wachsthum_der sechs Thierstämme. Siehe die Erklärung. 

























Aelteſte Thierformen: Moneren, Amoeben. 441 


führten Thierftämme eine gemeinfame Wurzelform angenommen tver- 
den muß, und daß alle Thiere mit Inbegriff des Menfchen von einer 
einzigen gemeinfamen Stammform abftammen. Aus jenen ontogene- 
tiſchen Thatſachen ergiebt ſich die nachftehende phylogenetiſche Hypo⸗ 
theſe, welche ich in meiner „Gaſträa-Theorie und in meiner „Philo⸗ 
fophie der Kalkſchwämme“ näher erläutert habe (Monographie der 
Kaltihwänme 5°), Band I, ©. 464, 465 u. |. w. „Die Keimblätter- 
Theorie und der Stammbaum des Thierreichs“). 

Die erfte Stufe des organifhen Lebens bildeten aud im Thier- 
reihe (wie im Pflanzenreiche und Protiftenreiche) ganz einfache Mo⸗ 
neren, dur Urzeugung entftanden. Noch jept wird die einftmalige 
Eriftenz dieſes denkbar einfachften thierifchen Formzuſtandes dadurch 
bezeugt, daß die Eizelle vieler Thiere nach eingetretener Befruchtung 
zunädhft ihren Kern verliert, fomit auf die niedere Bildungaftufe einer 
ternlofen Cytode zurüdfinft und dann einem Moner gleicht. Diefen 
merkwürdigen Vorgang deute ich nach dem Gefege der fatenten Ber- 
erbung (©. 184) als einen phylogenetifchen Rückſchlag der Zellen- 
form in die urfprüngliche Eytodenform. Die Monerula, wie wir 
diefe fernlofe Ei-Eytode nennen können, wiederholt nach dem biogene- 
tiſchen Grundgefege (S. 361) die ältefte aller Thierformen, die gemein« 
fame Stammform des Thierreihe, dad Moner. 

Der zweite ontogenetifche Borgang befteht darin, daß ſich in der 
Monerula ein neuer Kem bildet, und fomit die kernloſe Ei⸗Cytode 
ſich auf3 Neue zu dem Form » Werthe einer wahren Ei« Zelle erhebt. 
Dem entſprechend haben wir ald die zweite phylogenetifhe Stamm- 
form des Thierreih® die einfache fernhaltige thierifche Zelle, oder 
das einzellige Urthier anzufehen, weldes noch heute in den 
Amoeben ber Gegenwart und lebendig vor Augen tritt. Gleich 
diefen noch jept Tebenden einfachen Amoeben, und gleich den nadten, 
davon nicht zu umterfcheidenden Eizellen vieler niederen Thiere (der 
Schwämme, Medufen u. ſ. w.), waren auch jene uralten phyletifhen 
Stamm -Amoeben ganz einfache nadtte Zellen, die ſich mittelft form⸗ 
wechfeinder Fortfäpe kriechend in dem laurentiſchen Urmeere umberbe- 


442 Aelteſte Thierformen: Synamoebien, Planäen. 


wegten und auf diefelbe Weife, wie die heutigen Amoeben, ernäbrten 
und fortpflangten (vergl. ©. 169 und 380). Die Eyiftenz diefer ein- 
zelligen, einer Amoeba gleihen Stammform des gangen Thier- 
reichs wird unwiderleglich durch die höchft wichtige Thatſache be 
wiefen, daß das Ei aller Thiere, vom Schwamm und vom Wurm bis 
zur Ameife und zum Menſchen hinauf eine einfadhe Zelle ift. 

Aus dem einzelligen Zuftande entwidelte fich in dritter Linie der 
einfachfte vielzellige Zuftand, nämlich ein Haufen oder eine 
kleine Gemeinde von einfachen, gleichartigen Zellen. och jept ent- 
fteht bei der ontogenetifchen Entwickelung jeder thieriſchen Eigelle durch 
wiederholte Theilung derfelben zunächſt ein fugeliger Haufen von lau- 
ter gleihartigen nadten Zellen (vergl. ©. 170 und Taf. XVI, Fig. 3). 
Bir nannten diefen Zellenhaufen wegen feiner Aehnlichkeit mit einer 
Maulbeere oder Brombeere das Maulbeer⸗Stadium (Morula). 
In allen verſchiedenen Thierftämmen kehrt diefer Morula-Körper in 
derfelben einfachen Geftalt wieder, und gerade aus dieſem äuherſt 
wichtigen Umftande können wir nach dem biogenetifchen Grundgefepe 
mit der größten Sicherheit fchließen, daß auch die ältefte vielgel« 
lige Stammform des Thierreich® einer ſolchen Morula glich, 
und einen einfachen Haufen von lauter amoebenartigen, unter fih 
gleichen Urzellen darftellte. Wir wollen diefe ältefte Amoeben-Gefell- 
ſchaft, diefe einfachfte Thierzellen Gemeinde, welche durch die Morula 
tefapitulirt wird, Synamoebium nennen. 

Aus dem Synamoebium entroidelte fih weiterhin in früher lau- 
rentiſcher Urzeit eine vierte Stammform bed Thierreich®, melde wir 
Flimmerſchwärmer ((Planaea) nennen wollen. Diefe leptere 
entftand aus den erfteren dadurch, daß im inneren des kugeligen 
Jellenhaufens ſich Flüffigkeit anfammelte. Dadurd wurden die ſaͤmm · 
lichen gleichartigen Zellen an die Oberfläche gedrängt und bildeten 
nunmehr als einfache Jellenſchicht die dünne Wand einer kugeligen 
Blaſe. Die amoeboiden Fortſähe der Zellen begannen ſich raſcher 
und regelmäßiger zu bewegen und verwandelten ſich in bleibende 
Flimmerhaare. Durch die Flimmerbewegung diefer lepteren wurde 





Aelteſte Thierformen: Planda, Gafträa. 443 


der ganze vielzellige Körper in fräftigere und fehnellere Bewegung 
verfegt, und ging aus ber friechenden in die ſchwimmende Ortsbewe⸗ 
gung über. In ganz derfelben Weife geht noch gegenwärtig in der 
Ontogenefe nieberer Thiere aus den verfchiedenften Thierftämmen die 
Morula in eine flimmernde Larvenform über, welche ſchon feit dem 
Jahre 1847 unter dem Namen der Planula bekannt if. Diefe 
Planula iſt ein blafenförmiger, bald kugeliger, bald eiförmiger oder 
laͤnglich runder Körper, welcher mittelft Fiimmerbewegung im Waſſer 
umherſchwimmt. Die dünne Wand der fugeligen mit Flüffigfeit ge- 
füllten Blaſe befteht aus einer einzigen Schicht von flimmernden Zel- 
Ten, ähnlich wie bei der Magofphära (©. 384). 

Aus diefer Planula oder Flimmerlarve entwickelt fih bei Thie- 
ren aller Stämme weiterhin zunächft eine außerordentlich wichtige 
und intereffante Thierform, welche ich in meiner Monographie der 
Kaltſchwaͤmme mit dem Namen Gastrula (d. h. Magenlarve oder 
Darmlarve) belegt habe (Taf. XVI, Fig. 5, 6). Diefe Gaftrula 
gleicht äußerlich der Planula, unterſcheidet fich aber wefentlich dadurch 
von ihr, daß ihr innerer Hohlraum ſich durch eine Mündung nad 
außen öffnet und daß die Zellenwand deffelben nicht einſchichtig, fon- 
dern zweiſchichtig ift. Der Hohlraum ift der „Urdarım“ oder „Ur- 
magen“ (Progaster), die erfte Anlage des ernährenden Darmfanala; 
feine Deffnung ift der „Urmund“ (Prostoma), die erfte Munböff- 
nung. Die beiden Zellenfchichten der Darmmwand, melde zugleich die 
Körperwand der hohlen Gaftrufa ift, find „bie beiden primaͤren Keim» 
blätter: Hautblatt und Darmblatt”. Die höchſt wichtige Lar- 
venform ber Gaftrula kehrt in derfelben Geftalt in der Ontogenefe 
von Thieren aller Stämme wieder: bei den Schwimmen, Medu- 
fen, Korallen, Würmern, Mantelthieren, Sternthieren, Weich 
thieren, ja fogar bei ben niederften Wirbelthieren (Ampbioxus, 
vergl. ©. 510, Taf. XII, Fig. B4; Ascidia, ebendafelbit Fig. A4). 

Aus der ontogenetifchen Verbreitung der Gaftrula bei den ver- 
ſchiedenſten Thierklaffen, von den Pflangenthieren bis zu den Wirbel- 
thieren hinauf, konnen wir nach dem biogenetifchen Grundgefepe mit 


444 Paralleliomus der Ontogenefe und Phylogenefe. 





Formwerth der fünf erſten 

Perg 
ierkörpers, verglichen in 
der inbieibueilen und 

phyletiſchen Entwidelung 


Erſtes Sntwihelungs- 
Stadinm 

Eine einfachſte Cytode 

(Eine ternlofe Plaftide) 


Zweites Iutwicelungs- 
Htadinm 
Eine einfage Zeile 
(Eine kernhaltige Plaftide) 


Drittes Sntwidelungs- 
Stadium 
Eine folide Gemeinde (ein 
Aggregat) non gleichartigen 
einfachen Zellen 





Viertes „Sutwideluugs- 
Stadium 
ine kugelige ober eiförmige, 
mit. Flüffigteit gefüllte 
Blafe, deren dünne Wand 
and einer einzigen Schicht 
von gleichartigen flim⸗ 
mernden Selten beſteht. 
Hünftes Sutwikelungs- 
Stadium 
Ein kugeliger oder eiförmiger 
Körper mit einfacher 
Darmhöhle und Mi 
öffı : Darmwand aus 
awei Blättern zuſammen · 
geſetzt: außen flimmernbes 
Eroderm (Dermalblatt); 
innen flimmerlofes Entoderm 
(Gaftralblatt) 














Ontogenesis. 
Die fünf erſten 
Stufen der Keimeß- 
Entreidelung 


i. 
Monerula 
Kernlofes Thier-Ei 
(der Eilern ſchwindet 
nach der Befruchtung) 


2. 
Ovalum 
Keruhaltiges Thier⸗Ci 
(einfache Sie) | 
D 
Morula 
(Maufbeerbotter) 
Kugeliger Haufen 
von gleichartigen 
„Break 


4 
Planula 
(Slimmerlarve) 
‚Hoble Blofenförmige 
Larve (oder Embryo), 
deren dünne Wand 
aus einer einzigen 
flimmernden Zellen- 
ſchicht beftcht. 

5. 
Gastrala 
Darmlarve 
Bielʒellige Larve mit 
Darm und Mund; 
Darnuvand 
zweiblattrig 
Wrſpruugliche Keim · 
form ber Darm · 
thiere) 








Stanmform der Darmthiere: Gafträn. 445 


Sicherheit den Schluß zieben, dag während der laurentifchen Pe- 
riode eine gemeinfame Stammform der fech® höheren Thierftämme 
eriftirte, welche im Wefentlihen der Gaftrula gleich gebildet war, 
und welche wir Gastraea nennen wollen. Diefe Gafträa befaß 
einen ganz einfachen, fugeligen, eiförmigen oder länglich runden Kör- 
per, der eine einfache Höhle von gleicher Geftalt, den Urdarm, um- 
ſchloß; an einem Pole der Längsaxe öffnete fih der Urdarm durch 
einen Mund, der zur Nahrungsaufnahme diente. Die Körperwand 
ugleih Darmwand) beftand aus zwei Zellenſchichten, dem flimmer« 
lofen Entoderm oder Darmblatt, und dem flimmernden Exo⸗ 
derm oder Hautblatt; durd die Flimmerbewegung des lepteren 
ſchwamm die Gaſträa im laurentiſchen Urmeere frei umher. Auch 
bei denjenigen höheren Thieren, bei denen die urfprüngliche Gaftrula- 
Form in der Ontogenefe nach dem Gefepe der abgekürzten Verer⸗ 
bung (©. 190) verloren gegangen ift, hat fi dennoch die Zufam- 
menfegung des Gafträn- Körpers auf diejenige Keimform vererbt, die 
zunächft aus der Morula entfteht. Diefe Keimform ift eine länglich 
runde Scheibe, die aus zwei Zellenlagen ober Blättern befteht: die 
äußere Zellenſchicht, das animale oder dermale Keimblatt, 
entfpriht dem Exoderm ber Gafträa; aus ihr entrwidelt ſich die 
äußere Oberhaut (Epidermis) mit ihren Drüfen und Anhängen, fo- 
wie dad Centralnervenſyſtem. Die innere Zellenfhicht, das vege⸗ 
tative oder gaftrale Keimblatt, ift urfprüngli das Ento- 
derm der Gaſträa; aus ihr entwicelt fi die ernäbrende innere Haut 
(Epithelium) des Darmkanals und feiner Drüfen. (Bergl. meine Mo⸗ 
nographie der Kaltſchwaͤmme, Bd. I, ©. 466 x.) 

Wir hätten demnach durd die Ontogenie für unfere Hypotbefe 
von der monophyletifchen Defcendenz des Thierreich® bereit? fünf 
primordiale Entwidelungäftufen gewonnen: 1) das Moner; 2) die 
Amoebe; 3) dad Synamoebium; 4) die Planäa und 5) die Gafträa. 
Die einftmalige Exiſtenz diefer fünf älteften, auf einander folgenden 
Stammformen, welche im laurentiſchen Zeitalter gelebt haben müſſen, 
folgt unmittelbar aus dem biogenetifchen Grundgefep, aus dem Paral- 


448 


Syſtemaliſche Aeberſicht 
der 16 Hauptklaſſ und 38 Klaſſen des Thierreichs. 
stimme e ober. Hanptkla, Alafıen J — 


— des | oder Htammälle u | me 
jierreihs hierteich⸗ Dhierreich⸗ Alafın 


Erfted Unterrcig: Urthiere (Protozoa). 
Thiere ohne Keimblätter , ohne Darm, ohme Gewebe. 























IF 1. Eitpiere j 1. Uraßnthiere 1. Archenon 
Acıiere Opularia 2. Oregarinen 2. Gregarinne 
II. Infufionsthiereg 3 3, Fe 3. Acinetae 


Zweites Unterreih: Darmthiere (Metazon). 
Thiere mit zwei primären Keimblättern, mit Dann, mit Geweben. 








2 11. Säwammthiere) » —E Fr Qustraonda 
Manjentbiere J pv. . Korallen 7. Corolla 
Zeophyta | IV- Raffelthiere Schirmquollen 8. Hydromedusae 
9. Kamtnquallen 9. Ctenophora 
Vv. oistmtrmer . Unvlrmer 10. Archelminthes 
hi 11. Plattwürmer 11. Plathelminthes 
12. Rundwürmer 12. Nemathelminthes 
Warndhie 13. Manteltiere 13. Tunicate 
Vermes VI Brutwürmer 1m montgiere u Bryosoe 
. Mäderthiere 15. Rotatori 
16. Sternwurmer 16. Gephyren 
17. Ringelwürmer 17. Annelida 
vu. leie 18. Taſcheln 18. Spirobranchia 
satin he 9. Muſcheln 19. Lamellibranchia 
vn. — 20. Sihmeden 20. Cochlides 
IA Kraden 21. Cophalopoda 
IX. ————— . Scene 2 Auterida 
8. 2. 
Stra X. Armlofe 24. Serigel 24. Echinida 
Echinoderma Lipobrachia 125. Seegurten 25. Holothuriae 
xl. Riementerfe jes. rebothiere 2. Crusacea 
rat . Spinnen 27. Arachnida 
Pe XI. aut Feel I Myriapoda 
29. n 29. Insocta 


xiu. Saärettofe Iso. Nohrhergen 30. Leptocardia 
xiv. u 
Unpansnafenan. Rundmäuler 81. Cyclostoma 


e. 
Wiebeithlere I XV. Amniontofe |9- Fit 32. Piscos 

Vertebrata Anamnia Fra — — 33. Dipmeasın 

(86. Lurche 85. Amphibia 

RL 86. Schlei 36. Reptilin 
VE 

38. Säugetiere 38. Mammalla 


Monophgletifcier Stammbaum des Thierreiche. 449 








Vertebraten 
(Wirbeitgiere) 
Cranioten 
Arthropoden ! Mollusken 
Gliederthiere) ' Geichthiere) 
Trachenten Eucephalen 
Behinodermen 
(Sternthiere) Crustaceen Acranier 
Lipobrachien handtiden | Tankaten Acophalen 
| | Bryosoen 
Colobrachien 
| Gephyreen | Rotatorien 
— ç GK — —⸗— — — 
Vermes | 
Würmer | 
— — rund 
Coslomaten 
(Würmer mit Leibeshöhle) 
| Plathelminthen 
Zoophyten 
(Blangenthiere) Korelomen 
8pongien Acalephen (Würmer ohne Leibeshöfle) 
! | 
Protaseus Prothelmis 





Gastrasaden 
Protosoen 
Atfiere) 
Infusorien 


PLAABADEN | 
Srumorzun m 
| ! 
| | 
— — 
AMOEBEN 


MOoNEREN 








Huedel, Ratarl Ghöpfungsgeih. 5. Aufl. . 29 


450 Stamm ber Urthiere ober Protogoen. 


Die Gruppe der Urthiere (Protozoa) in dem Umfange, wel⸗ 
hen wir hier diefem Etamme geben, umfaßt die älteften und ein- 
fachften Stammformen des Thierreichs, in3befondere die vier erften vom 
den vorher aufgeführten fünf älteften phyletifchen Entwidelungaftufen, 
und außerdem die Infuforien und Gregarinen, ſowie alle diejenigen 
unvolltommenften Thierformen, welche wegen ihrer einfadyen und in« 
differenten Organifation in feinem der ſechs übrigen Thierſtaͤmme un- 
tergebradht werden fönnen. Die meiften Zoologen rechnen außerdem 
au den Urthieren noch einen größeren oder geringeren Theil von jenen 
niederften Organismen, welche wir in unferem neutralen Protiſten ⸗ 
reiche (im ſechszehnten Vortrage) aufgeführt haben. Diefe Protiten 
aber, namentlich die große und formenreiche Abtheilung der Rhizopo⸗ 
den, fönnen wir aus den oben mitgetheilten Gründen nicht ala edhte 
Thiere betrachten. Wenn wir demnach von diefen hier ganz abfehen, 
fönnen wir als echte Rrotogoen zwei verfchiedene Hauptklaſſen betrach- 
ten: Eithiere (Ovularia) und Infufiondthiere (Infuso- 
ria). Zu den erfteren gehören die beiden Klaſſen der Archezoen und 
Gregarinen, zu den lekteren die beiden Klaſſen der Acineten und Gir 
liaten. 

Die erfte Hauptffaife der Urthiere bilden die Cithiere (Ovula- 
ria). Sie umfaßt die eriten, älteften und niedrigften Stufen der thies 
riſchen Organifation. Ihre Reibe wird eröffnet durch die vier älteften 
und einfachiten Stammformen des Thierreichs, deren einftmalige Eri- 
ftenz wir mittelft des biogenetiichen Grundgefekes voritehend nachge ⸗ 
wiejen haben, alfo: 1) die tbieriichen Moneren; 2) die thierifchen 
Amoeben; 3) die tbierifchen Synamoebien und 4) die thieriichen 
Vlanäaden. Wenn man will, kann man auch einen Theil der noch 
gegenwaͤrtig lebenden Moneren und Amoeben dabin reinen, währent 
ein anderer Tbeil derfelben (nad den Grörterungen des XVI. Bor- 
trags) wegen feiner neutralen Natur zu den Protiften, ein dritter Theil 
wegen feiner venetabilen Natur zu den Pflanzen gerechnet werden 
muß. Alle dieje primitivſten Coularien können wir in der Klaſſe der 
Urabntbiere (Archexzoa) zufammenfafen. 


Eithiere (Ovularien) und Infufionsthiere (Infuforien). 451 


Eine zweite Klaſſe der Eithiere würden die Gregarinen (Gre- 
garinae) bilden, welche im Darme und in der Leibeshöhle vieler 
Thiere fhmaropend leben. Diefe Gregarinen find theild ganz ein- 
fache Zellen, wie die Amoeben; theild Ketten von zwei oder drei 
hinter einander liegenden gleihartigen Zellen. Bon den nadten 
Amoeben unterfheiden fie ſich durch eine dide ftrufturlofe Membran, 
welche ihren Zellförper umhüllt. Man kann fie als thierifhe Amoe- 
ben auffafien, welche fi an parafitifche Lebensweiſe gewöhnt, und 
in Folge deſſen mit einer außgefchtoipten Hülle umgeben haben. Sie 
zeichnen ſich durch eigenthümliche Fortpflanzungs-Berhäftniffe aus. 

Als zweite Hauptklaffe der Urthiere führen wir die echten Infu» 
fiondtbiere (Infusoria) auf, in demjenigen Umfange, auf welchen 
die heutige Zoologie fait allgemein diefe Thierflaffe beſchränkt. Die 
Hauptmafte derfelben wird durch die Meinen Wimper-Infuforien 
(Ciliata) gebildet, die in großen Mengen alle fügen und ſalzigen Ge 
wäffer der Erde bevöltern und mittelft eines zarten Wimperkleides 
umberfhwimmen. Gine zweite Mleinere Abtheilung bilden die feft- 
fienden Saug-Infuforien (Acinetae), die ſich mittelft feiner 
Saugröhren ernähren. Obgleich über diefe Meinen, dem bloßen Auge 
meiften® unfichtbaren Thierchen in den legten dreißig Jahren zahl⸗ 
reiche und fehr genaue Unterſuchungen angeftellt worden find, fo bes 
fanden wir uns dennoch bis vor Kurzem über ihre Entwidelung und 
ihren Formwerth fehr im Unklaren. Viele Zoologen glaubten, daß 
diefelben trog ihrer geringen Körpergröße eine fehr differenzirte Or- 
ganifation befäßen und ftellten fie zu den Würmern. Heute wiffen 
wir, daß die echten Infuforien (fowohl Cifiaten ald Acineten) nur 
den Forfniwerth einer einfachen Zelle befipen, obgleich diefe Zelle fehr 
eigenthũmliche Differenzirungen zeigt. . 

Alle die niederen Organismen, die wir hier als Urthiere oder 
Protozoen aufführen, ſtimmen fowohl unter ſich, al® auch mit 
den früher betrachteten Protiften durch den beftändigen Mangel 
mehrerer, hoͤchſt wichtiger Eigenfchaften überein, welche allen Ange: 
bhörigen der übrigen ſechs Thierſtaͤnme übereinftimmend zutommen. 

29* 


452 Die Gaftrda und die Metazoen. 


Alte übrigen Thiere näͤmlich, von den einfachften Pilanzenthieren bis 
zu ben Wirbelthieren, vom Schwamme bis zum Menfchen hinauf, 
find aus verfehiebenartigen Geweben und Organen zufammengefekt, 
die ſich ſaͤmmtlich aus zwei verſchiedenen Zellenfhichten urſprünglich 
entwideln. Diefe beiden Schichten find die beiden primären 
Keimblätter, die wir vorher ſchon bei der embryonalen Entwide- 
lungsform der Gastrula fennen gelernt haben (©. 443). Die äu- 
Bere Zellenſchicht oder dad animale Keimblatt (dad Hautblatt 
oder Exoderma) ift die Grundlage für die animalen Organe des 
Thierkörperd: Haut, Nervenfuftem, Muskelſyſtem, Stelet u. ſ. w. Die 
innere Zellenfchiht hingegen oder dad vegetative Keimblatt 
(dad Darmblatt oder Entoderma) liefert dad Material für die 
vegetativen Organe: Darm, Gefäßfyftem u. f. w. Bei den niederen 
Repräfentanten aller ſechs höheren Thierftämme treffen wir noch heute 
in der Keimesgefchichte die Gaftrula an, bei welcher jene beiden pri⸗ 
mären Keimblätter in einfachfter Geftalt auftreten und das äftefte 
Primitiv-Drgan, den Ur darm mit dem Urmund, umfchliegen. Wir 
tdnnen daher alle diefe Thiere (im Gegenfape zu den darmlofen Ur- 
tieren) al® Darmthiere (Metazoa) zufammenfaffen. Alle diefe 
Darmthiere können von einer gemeinfamen Etammform — Ga- 
straea — abgeleitet werben und diefe längft ausgeftorbene Stamm ⸗ 
form muß im Wefentlichen der heute noch überall verbreiteten Keim» 
form — Gastrula — gleich gebildet geweſen fein (vergl. ©. 445). 
Aus, diefer Gafträa entwidelten fi, wie vorher gezeigt wurde, einſt ⸗ 
mals zwei verfchiedene Stammformen, Protascus und Prothelmis, 
von denen erftere als Stammform der Pflanzenthiere,, fegtere als 
Stammform der Würmer zu betrachten iſt. (Vergl. die Begründung 
diefer Hypotheſe in meiner Monographie der Kalkſchwämme, Band I, 
und in der „Gafträa-Theorie”, Jena. Zeitfchr. Bd. VIII.) 

Die Pflanzenthiere (Zoophyta oder Coelenterata), welche 
den zweiten Stamm des Thierreichs bilden, erheben fi durch ihre 
gefammte Drganifation bereit bedeutend über die Urthiere, während 
fie noch tief unter den meiften höheren Thieren ftehen bleiben. Bei 


Stamm der Pflanzenthiere oder Zoophyten. 453 
den letzteren werben nämlich allgemein (nur die niebrigften Formen 
auögenommen) die vier verſchiedenen Funktionen ber Emährungs- 
thätigkeit: Berdauung, Blutumlauf, Athmung und Ausfheidung, 
durch vier ganz verfchiedene Drganfyfteme bewerkftelligt, durd den 
Darm, das Blutgefäßſyſtem, die Athmungsorgane und die Harn⸗ 
apparate. Bei den Pflanzenthieren dagegen find diefe Funktionen und 
ihre Organe noch nicht getrennt, und fie werden fämmtli durch ein 
einziged Syſtem von Emährungsfanälen vertreten, durch das foge- 
nannte Gaftrocanalfgftem oder den coelenterifchen Darmgefäßappa- 
rat. Der Mund, welder zugleich After ift, führt in einen Magen, 
in welchen die übrigen Hohlräume des Körper offen einmünden. 
Die Leibeshöhle oder das Coelom, weldes den höheren vier 
Zhierftämmen zutömmt, fehlt den Zoophyten noch völlig, ebenfo das 
Blutgefäßſyſtem und das Blut, ebenfo Athmungsorgane u. ſ. w. 

Alle Pflanzenthiere leben im Waſſer, die meiften im Meere. 
Nur fehr wenige leben im füßen Wafler, nämlich die Süßwaffer- 
ſchwaͤmme (Spongilla) und einige Urpolypen (Hydra, Cordylophora). 
Eine Probe von den zierlihen blumenähnlihen Formen, welche bei 
den Pflanzenthieren in größter Mannichfaltigleit vortommen, giebt 
Tafel V. (Bergi. die Erklärung derfelben im Anhang.) 

Der Stamm der Pflanzenthiere zerfällt in zwei verfchiedene Haupt⸗ 
Hafen, in die Shwämme oder Spongien und bie Neffel- 
thiere oder Atalephen (©. 461). Die leptere ift viel formen- 
reicher und höher organifirt als die erfiere. Bei den Schwämmen 
find allgemein die ganze Körperform ſowohl als die einzelnen Organe 
viel weniger differenzirt und vervollfommnet ald bei den Neffelthieren. 
Insbeſondere fehlen den Schwämmen allgemein die charakteriſtiſchen 
Neffelorgane, melde ſämmtliche Neſſelthiere befigen. 

Als die gemeinfame Stammform aller Pflanzenthiere haben wir 
den Protascus zu betrachten, eine längft ausgeftorbene Thierform, 
deren frühere Exiſtenz nad) dem biogenetifhen Grundgefepe durd die 
Ascula bewieſen wird. Diefe Ascula ift eine ontogenetifhe Entwit - 
telungs⸗ Form, welche fowohl bei den Schwämmen wie bei den Neſ⸗ 


454 Ascula und Protateus. Gaftränben. 


felthieren zunächft aus der Gaftrula hervorgeht (vergl. die Aacula eines 
Kaltſchwammes auf Taf. XVI, Fig. 7, 8). Nachdem nämlidy die 
Gaſtrula der Pflanzenthiere eine Zeit lang im Wafler umhergeſchwom⸗ 
men iſt, finkt fie zu Boden und fept ſich dafelbft feft mit demjeni⸗ 
gen Pole ihrer Age, welcher der Mundöffnung entgegengefept ift. 
Die äußeren Zellen des Eroderm ziehen ihre ſchwingenden fFlimmer- 
haare ein, während umgekehrt die inneren Zellen des Entoderm der⸗ 
gleichen zu bilden beginnen. Die Ascula, wie wir die jo verwandelte 
Larvenform nennen, ift demnach ein einfacher Schlauch, defien Höhle 
(die Magenhöhle oder Darmböhle) fih an dem oberen (ber bafalen 
Anſatzſtelle entgegengefepten) Pole der Längsage durch einen Mund 
nad außen öffnet. Der ganze Körper ift hier gewiffermaßen noch 
Magen oder Darm, wie bei der Gaftrula. Die Wand des Schlau. 
ches, die Körperwand und zugleih Darmmwand der Ascula , befteht 
aus zwei Zellenſchichten oder Blättern, einem flimmernden Ento- 
dern ober Gaftralblatt (entfprechend dem inneren ober vegetativen 
Keimblatt der höheren Thiere) und einem nicht flimmernden Ero- 
derm oder Dermalblatt (entſprechend dem äußeren oder animalen 
Keimblatt der höheren Thiere). 

Sowohl die frei umherſchwimmende Gafträa ald auch der feit- 
figende Protascus werden während der laurentifchen Periode durch 
zahlreiche verichiedene Gattungen und Arten vertreten gewefen fein, 
die wir alle in der Zoophyten ⸗Klaſſe der Gafträaden zufammen- 
faſſen können. Die Defeendenten biefer Gafträaden fpalteten fich in 
zwei Linien oder Zweige: einerfeits die echten Schwämme oder Spon- 
gien, andrerfeit3 die Nefleithiere oder Akalephen. Wie nahe diefe 
beiden Hauptklaffen der Pflanzenthiere verwandt find, und wie fie 
beide als zwei divergente Formen aus ber Protascus- Form abzu- 
leiten find, habe ich in meiner Monographie der Kalfihwämme ge- 
zeigt (Bd. I, S. 485). Die Stammform der Schwämme, welche ih 
dort Archispongia nannte, entftand au dem Protascus durch Bil« 
dung von Hautporen. Die Stammform der Reſſelthiere, welche ich 
ebendafelbft als Archydra bezeichnete, entwidelte fi) aus dem Prot- 


Schwänme ober Spongien. 455 


aseus durd Bildung von Reffelorganen, ſowie durch Chtwidelung von 
Fuͤhlfaͤden oder Tentakeln. 

Die Klaſſe der eigentlichen Shwämme, Spongiae oder Pori- 
fera genannt (ja nicht zu verwechſeln mit dem zum Pflanzenreiche ge- 
börigen Pilgen, ©. 415), lebt im Meere, mit einziger Ausnahme des 
grünen Süßwafler- Schwammes (Spongilla). Lange Zeit galten 
diefe Tiere für Pflanzen, fpäter für Protiften, in den meiften Lehr 
büchern werden fie noch jept zu den Urthieren gerechnet. Seitdem ich 
jedoch die Entwidelung derfelben aus der Gaftrula und den Aufbau 
ihres Körperd aus zwei Keimblättern (wie bei allen höheren Thieren) 
nachgeiwiefen habe, erfcheint ihre nahe Verwandtſchaft mit den Neſſel⸗ 
thieren, und zunächft mit den Hydrapolypen, endgültig begründet. 
Insbeſondere hat der Olynthus, den ih als die gemeinfame 
Stammform der Kalkihwämme betrachte, hierüber vollftändigen und 
ſicheren Aufſchluß gegeben (Taf. XVI, Fig. 9). 

Die mannichfaltigen, aber noch wenig unterfuchten Thierformen, 
welche in der Poriferen-Klafje vereinigt find, laſſen fich auf drei Legio- 
nen und acht Ordnungen verteilen. Die erfte Legion bilden die weis 
Gen, gallertigen Schleimfhmwämme (Myxospongiae), welche ſich 
durch den Mangel aller harten Stelet-Theile auszeichnen. Dahin ger 
hören einerfeit3 die längft ausgeftorbenen Stammformen der ganzen 
Kaffe, als deren Typus und Archispongia gilt, andrerfeit? die noch 
lebenden Gallertfhwänme, von denen Halisarca am beiten befannt 
iſt. Das Porträt der Arhifpongia, des älteften Urſchwammes, er- 
halten wir, wenn wir und aus dem Olynthus (Taf. XVI, Fig. 9) 
die dreiftrahligen Kalknadeln entfernt denten. 

Die zweite Legion der Spongien enthält die Faſerſchwämme 
(Fibrospongiae), deren weicher Körper durch ein feſtes, faferiges 
Stelet geftügt wird. Diefes Fafer- Stelet befteht oft bloß aus fo- 
genannter „Hormfafer“, d. h. aus einer ſchwer zerftörbaren und fehr 
elaſtiſchen organifhen Subftanz; fo namentlich bei unferem gemöhn- 
lichen Badefhmwamme (Euspongia officinalis), deſſen gereinigtes 
Stelet wir jeden Morgen zum Wafchen benupen. Bei vielen Faſer⸗ 


456 Schleimſchwanune, Faferiimwänne, Kallſchwanune. 


ſchwaͤmmen ſind in dieſes hornähnliche Fafer-Stelet viele Kiefelna- 
deln eingelagert, fo 3. B. bei dem Sußwaſſerſchwamme (Spongilla). 
Bei noch anderen befteht das ganze Skelet bloß aus Kiefelnadeln, 
welche oft zu einem äußerft zierlichen Gitterwerke verflodhten find, 
fo namentlich) bei dem berühmten „Benusblumentorb” (Euplectella). 
Nach der verſchiedenen Bildung der Radeln kann man unter den 
Faſerſchwaͤmmen drei Ordnungen unteriheiben, die Chalynthina, 
Geodina und Hexactinella Die Naturgeſchichte der Faſerſchwaͤmme 
iſt von befonderem Intereſſe für die Defcendenz«Theorie, wie zuerft 
Oscar Schmidt, der befte Kenner diefer Thiergruppe, nadhgetvie- 
fen hat. Kaum irgendwo läßt fih die unbegrenzte Biegfamteit der 
Specied- Form und ihr Berhältniß zur Anpaffung und Vererbung 
fo einleuchtend Schritt für Schritt verfolgen, Taum irgendwo läpt 
fih die Speried fo ſchwer abgrenzen und befiniren. 

In noch höherem Maße ald von der großen Legion der Faſer ⸗ 
ſchwaͤmme, gilt diefer Sag von der Meinen, aber höchft intereffanten 
Region der Kalkſchwämme (Calcispongiae), über welche ich 1872 
nad) fehr eingehenden fünfjährigen Unterfuhungen eine ausführliche 
Monographie veröffentlicht habe 5°). Die ſechzig Tafeln Abbildungen, 
welche diefe Monographie begleiten, erläutern die außerordentliche 
Formbiegfamteit diefer Meinen Epongien, bei denen man von „gu- 
ten Arten“ im Sinne der gewöhnlichen Syftematit überhaupt nicht 
ſprechen farm. Hier giebt es mur ſchwankende Formen «Reihen, 
welche ihre Spetied-Form nicht einmal auf die nächften Rachtommen 
rein vererben, fonbern durch Anpafjung am untergeordnete äußere 
Erifteng- Bedingungen unaufhörlid abändern. Hier kommt e8 fogar 
häufig vor, daß aus einem und demfelben Stode verſchiedene Arten 
hervorwachſen, welche in dem üblichen Syſteme zu mehreren gan; 
verſchiedenen Gattungen gehören; fo z. B. bei der merfwürdigen A 
cometra (Taf. XVI, Fig. 10). Die ganze äußere Körper-Geftalt if 
bei den Kalffhwämmen noch viel biegfamer und fläffiger ald bei 
den Kiefelfchwämmen, von denen fie fih durch den Befig von Kalt: 
nadeln unterſcheiden, die ein zierliches Skelet bilden. Bit der größ- 


Haase Nor hrpkingseorschtehen datt Taf A. 


3 














Frese del 





‚twiakelune 


Neſſelthiere oder Aalephen. 457 


ten Sicherheit läßt fi aus der vergleichenden Anatomie und Onto- 
genie der Kalkſchwaͤmme die gemeinfame Stammform der ganzen 
Gruppe ertennen, der fhlaudförmige Olynthus, defien Entwik- 
telung auf Taf. XVI dargeftellt ift (vergl. deren Erklärung im 
Anhang). Aus dem Olynthus (Taf. XVI, ig. 9) hat fi zunächft 
die Stamm-Drdnung der Adconen entwidelt, aus welden die 
beiden anderen Ordnungen der Kaltfhwämme, die Leuconen 
und Syconen, erft fpäter als divergirende Zweige hervorgegangen 
find. Imnerhalb diefer Ordnungen läßt fih wiederum die Defcen- 
denz der einzelnen Formen Schritt für Schritt verfolgen. Co beftä- 
tigen die Kalkſchwaͤmme in jeder Beziehung den ſchon früher von mir 
ausgeſprochenen Sap: „Die ganze Naturgefehichte der Spongien ift 
eine zufammenhängende und fchlagende Beweisführung für Darwin.” 

Die zweite Hauptklaſſe im Stamme der Pflanzenthiere bilden 
die Neffelthiere (Acalephae oder Cnidae). Diefe formenreiche 
und intereffante Thiergruppe fept ſich aus drei verfchiedenen Klaſſen 
jufammen, au® den Schirmquallen (Hydromedusae), den 
Rammgquallen (Ctenophora), und den Korallen (Coralla). 
Als die gemeinfame Stammform der ganzen Gruppe ift die längft 
auögeftorbene Archydra zu betrachten, welche in den beiden noch 
heute lebenden Süßwaffer-Bolypen (Hydra und Cordylophora) zwei 
nahe Berwandte hinterlaffen hat. Die Archydra war den einfach 
ſten Spongien «Formen (Archispongia und Olynthus) fehr nahe 
verwandt, und unterſchied fi von ihnen weſentlich wohl nur durch 
den Befig der Neffelorgane und den Mangel der Hautporen. Aus 
der Archydra entwidelten ſich zunächſt die verfchiedenen Hybdroid- 
Polypen, von denen einige zu den Stammformen der Korallen, 
andere zu den Stammformen der Hydromedufen wurden. Aus einem 
Zweige der letzteren entwickelten ſich fpäter die Etenophoren. 

Die Neffelthiere unterfeiden fih von den Schwämmen, mit 
denen fie in der harakteriftifchen Bildung des ermährenden Kanale 
foftem® wefentlich übereinftimmen , inbefondere durch den conftanten 
Beſiß der Neff: elorgane. Das find Meine, mit Gift gefüllte Bläs- 


48. Korallen. Polypen. 


hen, welche in großer Anzahl, meift zu vielen Millionen, in der 
Haut der Nejlelthiere vertpeilt find, und bei Berührung derſelben 
hervortreten und ihren Inhalt entleeren. Kleinere Thiere werden 
dadurch getödtet; bei größeren bringt das Neffelgift, ganz ähnlich dem 
Gift unferer Brennneifeln, eine leichte Entzündung in der Haut hervor. 
Bei den prachtvollen blauen Seeblafen-oder Phyfalien wirkt das Gift 
fo heftig, daß e8 den Tod des Menfchen zur Folge haben kann. 
Die Klaſſe der Korallen (Coralla) lebt ausſchließlich im Meere 
und ift namentlich in den märmeren Meeren durch eine Fülle von 
zierlichen und bunten ‚blumenähnlichen Geftalten vertreten. Sie heißen 
daher auch Blumenthiere (Anthozoa). Die meiften find auf dem 
Meeresboden feſtgewachſen und enthalten ein inneres Kaltgerüfte. 
Viele von ihnen erzeugen durch fortgefegtes Wachsthum fo gewal- 
tige Stöde, daß ihre Kalkgerüfte die Grundlage ganzer Infeln bil- 
den; fo die berühmten Korallen-Riffe und Atolle der Südfee, über 
deren merfwürdige Formen wir erft durh Darwinıs) aufgeflärt 
worden find. Die Gegenftüde oder Antimeren, d. h. die gleichar⸗ 
tigen Hauptabfepnitte des Körpers, welche ftrahlenfönnig vertheilt 
um die mittlere Hauptage des Körper® herumftehen, find bei den 
Korallen bald zu vier, bald zu ſechs, bald zu acht vorhanden. Da- 
nad unterfceiden wir als drei Legionen die vierzähligen (Te- 
tracoralla), die ſechszaähligen (Hexacoralla) und die achtzäh- 
Ligen Korallen (Octocoralla). Die vierzähligen Korallen bilden die 
gemeinfame Stammgruppe der Klafie, aus welcher ſich die ſechszaͤh ⸗ 
ligen und achtzähligen als zwei divergirende Aefte entwidelt haben. 
Die zweite Klaſſe der Nefieltpiere bilden die Shirmquallen 
(Medusae) oder Bolypenquallen (Hydromedusae), Während 
die Korallen meiften® pflanzenähnlihe Stöde bilden, die auf dem 
Meeresboden feftfigen, ſchwimmen die Schirmquallen meiften® in 
Form gallertiger Glocken frei im Meere umher. Jedoch giebt es auch 
unter ihnen zahlreiche, namentlich niedere Formen, welche auf dem 
Meereöboden feſtgewachſen find und zierlihen Bäumchen gleichen. Die 
niederften und einfachften Angehörigen diefe Klaſſe find die Beinen 


Schirmquallen. Kammquallen. 459 


Süßwafjerpolypen (Hydra und Cordylophora). Wir fönnen fie als 
Die wenig veränderten Nachkommen jener uralten Urpolypen(Archy- 
drae) anfehen, welche während der Primordiafgeit der ganzen Abthei⸗ 
Lung der Neifelthiere den Urfprung gaben. Bon der Hydra kaum zu 
trennen find diejenigen feftfigenden Hydroidpolypen (Campanula- 
ria, Tubularia), welche durch Knospenbildung frei ſchwimmende Me- 
Dufen erzeugen, aus deren Eiern wiederum feftfigende Polypen entſte⸗ 
ben. Diefe frei ſchwimmenden Schirmquallen haben meiſtens die Form 
eine® Hutpilge® ober eined Regenſchitms, von deſſen Rand viele zarte 
und lange Fangfäden herabhängen. Sie gehören zu den ſchönſten 
und interefianteften Bewohnern ded Meered. Ihre merkwürdige Ler 
bensgeſchichte, insbeſondere der verwickelte Generationswechſel der 
Polypen und Meduſen, gehört zu den ſtärkſten Zeugniſſen für die 
Wahrheit der Abftammungslehre. Denn wie noch jept täglich Me 
dufen aus Hydroiden entftehen,, fo ift auch urſprünglich phylogene- 
tiſch die frei ſchwimmende Medufenform aus der feftfigenden Po- 
Inpenform hervorgegangen. Ebenſo wichtig für die Defcendenz-Theo- 
vie ift auch die merkwürdige Arbeitstheilung der Individuen, 
welche namentlich bei den herrlichen Siphonophoren zu einem er- 
ſtaunlich hohen Grade entwidelt ift®”). (Taf. VII, Fig. 13.) 

Aus einem Zweige der Schirmquallen hat ſich wahrſcheinlich 
die dritte Klaſſe der Neſſelthiere, die eigenthümliche Abtheilung der 
Rammquallen (Ctenophora) entwidelt. Diefe Duallen, welche 
oft auch Rippenquallen oder Gurkenquallen genannt werben, befipen 
einen gurfenförmigen Körper, welcher, gleich dem Körper der meiften 
Schirmquallen, kryſtallhell und durchſichtig wie gefchliffene® Glas ift. 
Ausgezeichnet find die Kammquallen oder Rippenquallen durch ihre 
eigenthümlichen Bewegungsorgane, nämlidy acht Reihen von rubern- 
den Wimperblättchen, die wie acht Rippen von einem Ende der Längd- 
age (vom Munde) zum entgegengefepten Ende verlaufen. Bon den 
beiden Hauptabtheilungen derfelben haben fih die Engmündigen 

. (Stenostoma) wohl erft fpäter aus den Weitmündigen (Eury- 
stoma) entwidelt. (Dergl. Taf. VII, Fig. 16.) 


460 
Syſtematiſche Heberficht 


der 5 Alaffen und 32 Ordnungen der Pflangenthiere. 

















Alaffen ee Ornunger Hu Gattungs- 
der sam als 
flauenthiere Hanetfier Fanatfir Veilyiel 
1. 
> 1. Gastrasones Gustraon, 
—— —E 2. Protasoones Protascas 
I. Myzospongiae | 8. Archispongina | Archispongia 
u Säleimfäwänme | 4 Halisareina Halisarca 
Aywimne B 5. Chalynthina 8 le. 
s HII.Fiörospongiae | 5 Geodine pongill 
re Saferfhwämme | 7. Hexactinella Euplectella 
Porifern IV. Caleispongiae f 8. Ascones Olyathus 
. Li 
Aitananme [ükmame | Bin 
am. Y. Teracoralla (11. Ragoss Cyathophylium 
a⸗rauen Bierzählige 113. Paranemata Coreani 
vi. . Cauliculata Antipathes 
ober Sechs zählige 15. Halirhoda Actinia 
‚thoson 16. Alcyonida Lobalaria 
al VIL Oetocorella fir. Gomsonida Is 
Achtzahlige 18. Pennatulida Veretillum 
VIIL Archydrae ſis Hydraria Hydra 
w. Urpolypen el 
8 120. Vesiculata Sertalaria 
Yelgpeng IX. Leptomedusee Jg}. Ocellata Tabalaria 
Bartquallen 122. Siphonophora Physopbora 
Ayiremedume | _ Trachymedusse f23. Mareiporchids | Trachynema 
ober - 24. Phyliorchida Geryonia 
aa M Starrquallen (a5. Elasmorchide Charybdea 
Meine XI. Calycozos jas. Podactinaria Lucernaria 
Haftquallen 
XIL. Discomedusae 37T. Semaeostomene | Aurelia 
Säeibenqualten |29. Rhizostomene Crambessa 
Y- Eur, 
lammgnaten | TU. Zurystome {25 Berolda Beros 
2 BVeitmündige ) 
Oemerlern | zıv. Smantoma f30- Baccata Crdippe 
81. Lobata Eucharis 
Engmündige sa. Taeniata Costum 





Stammbaum der Pflampentfiere. 


461 





| Hexastinelia 





Otenophora Hydromeduse 


Rhizostomese 


Saccata Semacostomeae 
BTENOBTOMA DiscomEDUSAE 


Trachymedusae 


Siphonophora 


Euarstoma Lucernaria 
Calyoozoa 


LEPTOMEDUSAR 


Coralla 
Oetoeoraua 
Hexacoralla | 


Tetracoralla 


Spongise 


Fibrospongiae Gnleispongiae 
Chalynthina Leucones Sycones 
Hydrolda 





Ascones 


Myxospongiae Hrozoma 


Halisareina Procorallum 
Cuarrarzos | Ouraraus 





Arehiwengii Arxrchydro 


| 


Geodina Dyssycus Sycurus Cordylophora 


| Hydroida 


Hydra 


! 
| 








462 Stamm der Würmer. 


Der dritte Stamm des Thierreich®, dad Phylum der Würmer 
oder Wurmthiere (Vermes oder Helminthes) enthält eine Maſſe 
von divergenten Aeſten. Diefe zahlreichen Aeſte haben ſich theils zu 
fehr verſchiedenen und ganz felbftftändigen Würmerklaſſen entwickelt, 
theil® aber in die urfprünglichen Wurzelformen der vier höheren Phy« 
fen umgebildet. Jedes der letzteren (und ebenfo auch den Stamm der 
Pflanzenthiere) fönnen wir uns bildlich als einen hochftämmigen Baum 
vorftellen, deſſen Stamm uns in feiner Verzweigung die verſchiede ⸗ 
nen Klaffen, Ordnungen, Familien u. f. w. repräfentirt. Das Phy- 
lum der Würmer dagegen würden wir un al® einen niedrigen Buſch 
oder Strauch zu denken haben, aus deſſen Wurzel eine Maſſe von 
felöftftändigen Zweigen nad) verfchiedenen Richtungen hin empor- 
ſchießen. Aus dieſem dicht verzweigten niedrigen Bufche, deſſen 
meifte Zweige abgeftorben find, erheben fich vier hohe, viel verzweigte 
Stämme. Das find die vier höheren Phylen, die Sternthiere und 
Gliederthiere, Weichthiere und Wirbeithiere. Nur unten an der 
Wurzel ſtehen diefe vier Stämme dur die gemeinfame Stamm» 
gruppe des Würmerftammes mit einander in entfernter Verbindung. 

Die außerordentlichen Schwierigkeiten, welche die Syftematif der 
Würmer ſchon au diefem Grunde darbietet, werden nun aber Dadurch 
noch fehr gefteigert, daß wir faft gar feine verfteinerten Refte von 
ihnen befipen. Die allermeiften Würmer befaßen und befigen noch 
heute einen fo weichen Leib, daß fie feine charakteriſtiſchen Spuren in 
den neptuniſchen Erdſchichten hinterlaſſen konnten. Wir find daher 
auch hier wieder vorzugämeife auf die Schöpfungsurfunden der Un- 
togenie und der vergleichenden Anatomie angerwiefen, wenn wir den 
äußerft ſchwierigen Verfuch unternehmen wollen, in das Dunkel des 
"Würmer - Stammbaums einige hypothetiſche Streiflichter fallen zu 
laſſen. Ich will jedoch ausdrũcklich hervorheben, daß diefe Skizze, wie 
alle ähnlichen Verſuche, nur einen ganz proviforifchen Werth befipt. 

Die zahlreichen Klaſſen, melde man im Stamme der Würmer 
unterfcheiden kann, und welche faft jeder Zoologe in anderer Weiſe 
nad) feinen fubjeftiven Anfhauungen gruppirt und umfchreibt, zerfale 


Acoelomen. Witrmer ohne Leibeshohle. 463 


len zunächft in zwei wefentlich verſchiedene Gruppen oder Haupfflaffen, 
welche id) (in meiner Monographie der Kalkfhrwämme 5°) als Acoe- 
lomen und Goelomaten unterfdieden habe. Alle die niederen 
Würmer nämlid), welche man in der Klaife der Plattwürmer (Pla- 
thelminthes) zufammenfaßt (bie Strudelmürmer, Saugmwürmer, 
Bandwürmer) unterſcheiden ſich fehr auffallend von den übrigen Wür- 
mern dadurd, daß fie noch gar fein Blut und feine Leibeshöhle (fein 
Coelom) befigen. Wir nennen fie deshalb Acoelomi. Die wahre 
Reibeshöhle oder das Eoelom fehlt ihnen noch eben fo vollftändig, wie 
den fümmtlihen Pflanzenthieren; fie ſchließen fih in biefer wichtigen 
Beziehung unmittelbar an legtere an. Hingegen befigen alle übri- 
gen Würmer (gleich den vier höheren Thierſtämmen) eine wahre 
Leibeshohle und ein damit zufammenhängendes Blutgefäß - Syftem, 
mit Blut gefüllt; wir faſſen fie daher ald Coelomati zufammen. 

Die Hauptabtheilung der blutlofen Würmer (Acoelomi) 
enthält nach unferer phylogenetifhen Auffaffung außer den heute 
noch Tebenden Plattwwürmern aud die unbefannten auögeftorbenen 
Stammformen des ganzen Würmerflammes, welche wir Urwürmer 
(Archelminthes) nennen wollen. Der Typus diefer Urwürmer, die 
uralte Prothelmis, läßt fih*unmittelbar von der Gafträa ableiten 
(©. 449). Noch heute kehrt die Gaſtrula-Form, das getreue hifto- 
rifhe Porträt der Gafträa, als vorübergehende Lawenfotm in ber 
Ontogenefe der verfeiedenften Würmer wieder. Unter den heute noch 
lebenden Würmern ftehen den Urwürmern am nächften die flimmern« 
den Strudelmürmer (Turbellaria), die Stammgruppe der heu- 
tigen Plattwürmer (Plathelminthes). Aus den frei im Waf- 
fer lebenden Strudelwürmern find durch Anpaffung an parafitifche 
Lebensweiſe die fehmaropenden Saugmwürmer (Trematoda) ent- 
ftanden, und aus diefen durch noch weiter gehenden Paraſitismus 
und ftärkere Rüdbildung die Bandmwürmer (Cestoda). 

Aus einem Zweige ber Acoelomen hat fi) die zweite Hauptab- 
theilung des Würmerftammes entwidelt, die Würmer mit Blut 
und mit Reibeshöhle (Coelomati): fieben verſchiedene Klaffen. 


464 


Syſtemaliſche Meberficht 
der 8 Klaſſen und 22 Ordnungen des Würmerftammes. 
Gergl. Gen. Morph. II, Taf. V, 8. LXXVII-LXXV.) 














Alaffen Ordnungen Suftematifger | Sin Gaftungs- 
des des Yame der same als 
Bürmerlammes | Würmerlammes Birn erunauer Reiſriel 
1. Uninmer 1. Archelminthes | Prothelmis 
1. Blattwärmer) 2. Strubelwürmer 2. Turbellaria Planaria 
Plathelointhes | 3. Saugwürner 3. Trematoda Distoma 
4. Bandiirmer 4. Costoda Taenia 
ne Pe 
N indie 9 8 6. Trichina 
7. Ktagwirmer 7. Acanthocephala | Echinorhynchus 
3. Mosthiere | 8, Armwirblet 8. Lophopoda Alcyonella 
Bryozoa | 9. Kreißwirbler 9. Bteimopode Retepora 
4. Mantelthiere,10. Geefeiben 10. Ascidise Phallusia 
Tunicata [fi Seetonnen 11. Thaliaoene Salpa 
5. Rüffelmärmer,13. Eidelwirmer 19. Enteropneusta Balanoglossus 
‚Rhynchocoela 113. Schnurwurmer 18. Nemertina Borlasia 
14. Borftenlofe ai 1 
6.Sternwürmer) Stermolrmer 14. Sipanealida — 
@ 
/ohyrea  |15. Borflentragende 15. Behluride Eehlurus 
Sterniwürmer 
1. RDErÄBieTe ſs. Akberuiknmer 18. Rotatara Hydatina 
‚Rotifera 
17. Bänwürmer 17. Arctisca Macrobiotas 
18. Xrallenwürmer 18. Onychophora | Peripatus 
8.Ringelmärmer)19. Egel 19. Hiradinea Hirado 
Annelida 180. Kahlwinmer 20. Drilomorpha Lumbrieus 
31. Panzenoiteıner 21.Phracthelminthes | Crossopodis 
29. Borſtenwurmer 22. Chastopoda Aphrodite 








Stammbaum der Würmer, 465 





Chastopoda 
Drilomorpha 
Phracthelminthes | 


— 
Echlurida Hirudinea 
Sipuncnlida. | Onychophora 


i 








— — — — 
Coelomati (Würmer mit Leibeshöhle) 


Cestoda 


Tarbellaria 
Fiatyhelminthes 


— 
Aooelomi (Würmer ohne Leibesgöhle) 


Archelminthes 
Prothelmis 


Gastraea 








Hacke, Ratürl. Sääpfungegeid. 5. Kufl. 30 


466 Coelomaten (Würmer mit Leibeshöhle). 


Wie man fi die dunfle Phylogenie der fieben Coelomaten- 
Klaffen annähernd etwa vorftellen kann, zeigt der Stammbaum auf 
Seite 465. Wir wollen diefe Klaſſen hier nur ganz kurz namhaft 
maden, da ihre Verwandtfhaft und Abftammung uns heutzutage 
noch fehr verwidelt und unbekannt erſcheint. Erſt zahlreichere und 
genauere Unterfuchungen über die Ontogenefe ber verfchiedenen Coelo- 
maten werden und künftig einmal auch über ihre Phylogenefe aufflären. 

Die Rundwürmer (Nemathelminthes), die wir als erfte 
Klaſſe unter den Goelomaten aufführen, und die ſich durch ihre dreh⸗ 
runde cplindrifche Geftalt auszeichnen, enthalten zum größten Theile 
parafitifhe Würmer, welche im Innern anderer Tiere leben. Bon 
menſchlichen Barafiten gehören dahin namentlich die berühmten Trichi« 
nen, die Spulwürmer, Peitfehenwürmer u. ſ. w. An die Rundwür⸗ 
mer ſchließen fi die nur im Meere lebenden Sternwürmer (Ge- 
phyrea) an, und an diefe die umfangreiche Klaffe der Ringelwür- 
mer (Annelida). Zu dieſen letzteren, deren langgeftredter Körper 
aus vielen gleihartigen Gliedern zuſammengeſetzt ift, gehören die 
Blutegel (Hirudinea), die Regenwürmer (Lumbricina) und die große 
Maffe der marinen Borftenwürmer (Chaetopoda). Ihnen fehr nahe 
ftehen die Rüffelwürmer (Rhynchocoela) und die miftoffopifh 
tleinen Räderthiere (Rotifera). Den Ringelmürmern nächſt ver- 
wandt waren jedenfall® auch die unbelannten auögeftorbenen Stamm- 
formen der Sternthiere und der Gliederthiere. Hingegen haben wir 
die Stammformen der Weichthiere wahrfcheinlih in auögeftorbenen 
Würmern zu ſuchen, welche den heutigen Mosthieren (Bryozoa) 
nahe fanden, und die Stammformen der Wirbelthiere in unbefann- 
ten Goelomaten, deren nächſte Verwandte in der Gegenwart die 
Mantelthiere, insbefondere die Ascidien, find. 

Zu den merfwürdigften Thieren gehört die Würmer-Klaife der 
Mantelthiere(Tunicata). Sie leben alle im Meere, wo die einen 
(die Seefcheiden oder Ascidien) auf dem Boden feitfigen, die anderen 
(die Seetonnen oder Thaliaceen) frei umberfhwimmen. Bei allen 
befigt der ungeglieberte Körper die Geftalt eines einfachen tonnenför- 


Mantelthiere oder Tunicaten. 467 


migen Sades, welcher von einem bieten Tnorpelähnlichen Mantel eng 
umſchloſſen ift. Diefer Mantel befteht aus derfelben ftidftofflofen 
Kobhlenftoffverbindung, welche im Pflanzenreih al® „Cellulofe“ eine 
fo große Rolle fpielt und den größten Theil der pflanzlichen Zellmem- 
branen und fomit auch des Holzes bildet. Gewöhnlich befigt der ton- 
nenförmige Körper keinerlei äußere Anhänge. Niemand würde darin 
irgend eine Spur von PVerwandtfhaft mit den hoch differenzirten 
Wirbelthieren erfennen. Und doch kann diefe nicht mehr zweifelhaft 
fein, feitdem im Jahre 1867 bie Unterfuhungen von Kowalevski 
darüber plöplih ein höchft überrafchende® und merfwürdiges Licht 
verbreitet haben. Aus diefen hat ſich nämlich ergeben, daß die indi- 
viduelle Entwidelung der feftfigenden einfachen Seeſcheiden (Ascidia, 
Phallusia) in den wichtigften Beziehungen mit derjenigen des nieder- 
ſten Wirbefthieres, des Lanzetthiere® (Amphioxus lanceolatus) über- 
einftimmt. Insbeſondere befigen die Jugendzuftände der Asciden die 
Anlage de3 Rückenmarks und des darunter gelegenen Rüden- 
ftrang3(Chorda dorsalis), d. h. der beiden wichtigften und am mei« 
ften haratteriftifhen Organe des Wirbelthierkörpers. Unter allen ung 
befannten wirbellofen Thieren befigen demnach die Mantelthiere 
zweifelsohne die nächſte Bluts verwandtſchaft mit den 
Wirbelthieren, und find als nächſte Verwandte der Chorba- 
thiere (Chordonia) zu betrachten, d. h. derjenigen Würmer, aus 
denen ſich diefer feßtere Stamm entwickelt hat. (Bergl. Taf. X und XI.) 

Während fo verfhiedene Coelomaten- Zweige des vielgeftaltigen 
BWürmer-Stammes und mehrfache genenlogifhe Antnüpfungspuntte 
an die vier höheren Thierftämme bieten und wichtige phylogenetifche 
Andeutungen über deren Urfprung geben, zeigen anderfeits die niede- 
ven acoelomen Würmer nahe Berwandtfhafts- Beziehungen zu den 
Pflangenthieren und zu den Urthieren. Auf diefer eigenthümlichen 
Mittelftellung beruht das hohe phylogenetifche Interefle des Würmer- 
Stammes. 


so* 


Neunzehnter Vortrag. 


Stammbaum und Geſchichte des Thierreichs. 
1. Weidthiere, Sternthiere, Gliederthiere. 


Stamm der Weichthiere oder Mollusten. Bier Maflen der Weichthiere: Ta - 
ſcheln (Spirobrandien). Muſcheln (Lamelibrandien). Schueden (Codhliben). 
Kroden (Eephalopoden). Stamm ber Sterntfiere oder Edjinodermen. Abſtam- 
mung berfelben von den gegliederten Würmern (Panzenwürmern oder Phratthel- 
minthen). Generationswechſel der Echinodermen. Bier Maflen der Sternthiere: 
Seeſterne (Aeriden). Seelilien (Erinoiden). Seeigel (Echiniden). Seegurten 
Golothurien). Stamm ber Gliederthiere oder Arthropoden. Bier Aaſſen der 
Gliederthiere. Kiemenathmende Gliederthiere oder Erufaceen (Gliederkrebſe. Ban- 
gerkrebfe). Luftröhrenatimende Gliederthiere oder Tracheaten. Spinnen (Stred- 
fpinnen, Rundfpinnen). ZTaufenbfüßer. Infekten. Kauende und faugende Juſekten. 
Stammbaum und Gedichte der acht Infelten-Drbnungen. 


Meine Herren! Die großen natürlichen Hauptgruppen des Thier- 
reichs, welche wir ald Stämme oder Phylen unterfhieden haben (die 
„Typen“ von Bär und Cuvier) find nicht alle von gleicher ſyſte ⸗ 
matifher Bedeutung für unfere Phylogenie oder Stammedgefchichte. 
Diefelben laſſen ſich weder in eine einzige Stufenreihe über einander 
ordnen, noch als ganz unabhängige Phylen, noch als gleichwerthige 
Zweige eines einzigen Stammbaums betrachten. Vielmehr ſtellt ſich, 
wie wir im letzten Bortrage geſehen haben, der Stamm der Urthiere 
als die gemeinfame Wurzelgruppe des ganzen Thierreih® heraus. 


Stamm der Weichthiere ober Molinsten. 469 


Aus einem Zweige ber Urthiere haben fi die Gafträaden, und 
aus dieſen haben fi) dann weiterhin als zwei divergente Aefte einer- 
ſeits die Pflangenthiere, anderfeit® die Würmer entwidelt. Den 
vielgeftaltigen und mweitvergweigten Stamm der Würmer müflen wir 
aber wiederum als die gemeinfame Stammgruppe betradhten, aus wel» 
her (an ganz verſchiedenen Zweigen) die übrigen Stämme, die vier. 
höheren Phylen des Thierreichs, hervorgefproßt find (vergl. den Stamm⸗ 
baum ©. 449). 

Laſſen Sie und nun einen genealogiſchen Blick auf diefe vier 
höheren Thierftämme werfen und verſuchen, ob wir nicht ſchon jept 
die wichtigften Grundzüge ihred Stammbaumd zu erfennen im Stande 
find. Wenn auch diefer Verſuch noch fehr unvolltommen ausfällt, 
fo werden wir damit doch wenigſtens einen erften Anfang gemacht 
und den Weg für fpätere eingehendere Verſuche geebnet haben. 

Welche Reihenfolge wir bei Betrachtung ber vier höheren Stämme 
des Tpierreich® einfhlagen, ift an ſich ganz gleichgüftig. Denn un- 
ter fih haben diefe vier Phylen gar feine näheren vermandtfdaft- 
lichen Beziehungen, und haben fi) vielmehr von ganz verfhiedenen 
Aeften der Würmergruppe abgezweigt (©. 447). Als den unvoll- 
tommenften, am tiefften ftehenden von diefen Stämmen, wenigften® in 
Bezug auf die morpholog iſche Ausbildung, kann man den Stamm 
der Weichthiere (Mollusca) betrachten. Nirgends begegnen wir 
bier der charakteriſtiſchen Gliederung (Artieulation oder Metameren- 
bildung) des Körpers, welche ſchon die Ringelwürmer auszeichnet, 
und welche bei den übrigen drei Stämmen, den Stemthieren, Glie⸗ 
derthieren und Wirbeithieren, die wefentlichfte Urfache der höheren 
Tormentwidelung, Differenzirung und Bervolltommnung wird. Biel- 
mehr ftellt bei allen Weichthieren, bei allen Mufcheln, Schneden u. |. w. 
der ganze Körper einen einfachen ungegliederten Sad dar, in befien 
‚Höhle die Eingeweide liegen. Das Newenſyſtem befteht aus meh- 
veren einzelnen (gewöhnlich drei), nur loder mit einander verbunbe- 
nen Knotenpaaren, und nicht aus einem geglieberten Strang. Aus 
diefen und vielen anderen anatomiſchen Gründen halte ich den Weich 


470 Kopflofe und kopftragende Weichthiere. 

thierftamm (troß der höheren pbyfiologifhen Ausbildung feiner 
vollfommenften Formen) für den morphologifch niederften unter 
den vier höheren Thierſtämmen. 

Wenn wir die Mosthiere und Mantelthiere, die biäher ge- 
woͤhnlich mit dem Weichthierftamm vereinigt wurden, aus den an- 
geführten Gründen ausſchließen, fo behalten wir als echte Mollus- 
ten folgende vier Maffen: die Tafeln, Muſcheln, Schneden und 
Kraden. Die beiden niederen Molluskenklaſſen, Tafeln und Mu- 
ſcheln, befigen weder Kopf noch Zähne, und man kann fie daher 
als Ropflofe (Acephala) oder Zahnlofe (Anodontoda) in einer 
Hauptflaffe vereinigen. Diefe Hauptklaſſe wird auch häufig als die 
der Schalthiere (Conchifera) oder Zweitlappigen (Bivalva) be- 
zeichnet, weil alle Mitglieder derfelben eine zweiflappige Kalkfchale be» 
figen. Diefen gegenüber fann man die beiden höheren Weichthierklaſ⸗ 
fen, Schneden und Kraden, als Ropfträger (Cephalophora) oder 
Zahnträger(Odontophora) in einer zweiten Hauptflaffe zufammen- 
faffen, weil ſowohl Kopf als Zähne bei ihnen ausgebildet find. 

Bei der großen Mehrzahl der Weichthiere ift der weiche fad- 
förmige Körper von einer Kaltfchale oder einem Kafkgehäufe geihügt, 
welches bei den Kopflofen (Tafeln und Muſcheln) aus zwei Map« 
pen, bei ben Kopfträgern dagegen (Schneden und Kraden) aus einer 
meift gewundenen Röhre (dem fogenannten „Schnedenhauß“) befteht. 
Tropbem diefe harten Stelete mafienhaft in allen neptunifchen Schich · 
tem ſich verfteinert finden, fagen uns diefelben dennoch nur fehr wenig 
über die geſchichtliche Entwicelung des Stammes aus. Denn dieſe 
fällt größtentheild in die Primordialzeit. Selbft ſchon in den filu- 
riſchen Schichten finden wir alle vier Klaſſen der Weichthiere neben 
einander verfteinert vor, und dies beweiſt deutlich, in Webereinfium- 
mung mit vielen anderen Zeugniffen, daß ber Weichthierftamm da- 
mals ſchon eine mächtige Ausbildung erreicht hatte, ald die höheren 
Stämme, namentlich Gliederthiere und Wirbeithiere, faum über ben 
Beginn ihrer hiſtoriſchen Entwidelung hinaus waren. In den der 
auf folgenden Zeitaltern, beſonders zunuͤchſt im primären und weiter 


Geſchichte des Weichthierſtaunnes. 471 
hin im fetundären Zeitraum, dehnten ſich dieſe höheren Stämme 
mehr und mehr auf Koften der Mollusfen und Würmer aus, welche 
ihnen im Kampfe um das Dafein nicht gewachfen waren, und dem 
entfpredhend mehr und mehr abnahmen. Die jept noch lebenden 
Weichthiere und Würmer find nur als ein verhältnigmäßig ſchwacher 
Neft von der mächtigen Fauna zu betrachten, welche in primordia« 
fer und primärer Zeit über die anderen Stämme ganz überwiegend 
herrſchte. (Bergl. Taf. VI, ©. 440, nebft Erklärung im Anhang.) 

In feinem Thierftamm zeigt ſich deutlicher, als in dem der 
Mollusken, wie verfhieden der Werth ift, welchen die Verfteinerun« 
gen für die Geologie und für die Phylogenie befigen. Für die Geo- 
Togie find die verfchiedenen Arten der verfteinerten Weichthierſchalen 
von der größten Bedeutung, weil diefelben als „Leitmuſcheln“ vor- 
treffliche Dienfte zur Charakteriftit der verſchiedenen Schichtengruppen 
umd ihres velativen Alters leiften. Für die Genealogie der Mollus⸗ 
ten dagegen befigen fie nur fehr geringen Werth, weil fie einerfeits 
Körpertheile von ganz untergeordneter morphologifcher Bedeutung 
find, und weil andererfeit3 die eigentliche Entwidelung des Stam- 
mes in bie ältere Primordialzeit fällt, auß welcher uns feine deut 
lichen Berfteinerungen erhalten find. Wenn wir daher den Stamm- 
baum der Mollusten konſtruiren wollen, fo find wir vorzugsweiſe 
auf die Urkunden der Ontogenie und der vergleichenden Anatomie 
angeriefen, au8 denen fich etwa folgendes ergiebt. (Gen. Morph. II, 
Taf. VI, &. CH bis CXVL) 

Bon den vier und bekannten Klaffen ber echten Weichthiere fte- 
ben auf der nieberften Stufe bie in ber Tiefe des Meeres feſtgewachſe ⸗ 
nen Tafeln oder Spiralfiemer (Spirobranchia), oft auch un« 
paffend ald Arm füß er (Brachiopoda) bezeichnet. Bon diefer Klaſſe 
leben gegentwärtig nur noch wenige Formen, einige Arten von Lingula, 
Terebratula und Berwandte; ſchwache Ueberbleibfel von der mächtigen 
und formenreihen Gruppe, welche die Taſcheln in älteren Zeiten der 
Etdgeſchichte darftellten. In der Silurzeit bildeten fle die Hauptmaffe 
des ganzen Weichthierftammes. Aus der Uebereinftimmung , welche 


472 Taſcheln (Spirobrandien). Muſcheln (amellibrandien). 
in mancher Beziehung ihre Jugendzuftände mit denjenigen der Mos- 
thiere darbieten, hat man gefehloffen, daß fie fi) aus Würmern ent- 
midelt haben, welche dieſer Klaffe nahe ftanden. Bon den beiden 
Unterklaffen der Tafcheln find die Angellojen (Ecardines) ald die 
niederen und unvollfommneren, die Angelfchaligen (Testicardines) 
als die höheren und weiter entwidelten Tafcheln zu betrachten. 
Der anatomifhe Abftand zwiſchen ben Tafeln und den drei 
übrigen Weichthier -Klaſſen ift fo beträchtlich, daß man die Iepteren 
ala Dtocardier den erfteren gegenüberftellen Tann. Die Otocar- 
dier haben alle ein Herz mit Kammer und Vorkammer, während 
den Tafcheln die Borkammer fehlt. Auch it das Centralneren- 
ſyſtem nur bei den erfteren, nicht bei den Iepteren, in Geftalt eined 
vollftändigen Schlundringes entroidelt. Es Taffen fid) daher die vier 
Mollusten-Rlaffen folgendermaßen gruppiren: 


1. Taſcheln ) 1. Haplocardia 


1. Weichthiere (Spirobranchla) j mit einfachem Herzen) 
ohne Kopf 2. Mufgeln 
Acophala ” 
(Lamellibranchia) I. Otocardia 
IPRR 3. Schneiden (mit Kammer 
1 Bekhtiee (Coohlides) und Berlenuner 
mit Ropf 4. Kaden an Segen) 
Cephalophora 


Für die Stammesgeſchichte der Mollusken ergiebt ſich hieraut. 
was aud die Paläontologie beftätigt, daß die Tafcheln den uralten 
Burgeln des ganzen Moltuötenftammes viel näher ſtehen, als die 
Ototardiet. Aus Mollusken, welche den Tafheln nahe verwandt 
waren, haben ſich wahrſcheinlich als zwei divergente Zweige die 
Muſcheln und Schneden entwidelt. 

Die Muſcheln oder Blattfiemer (Lamellibranchis oder 
Phyllobranchia) befigen eine zweiflappige Schale wie die Taſchela 
Während aber bei den lepteren die eine Schalenflappe den Rüden, 
die andere den Bauch der Tafchel dect, fipen bei den Muſcheln te 
deiden Klappen fommetrifch auf der rechten und finfen Seite dei 





Schneden (Codliden). Kraden (Eephalopoden). 473 


Körper. Die meiften Muſchelthiere leben im Meere, nur wenige im 
fügen Waſſer. Die Klaſſe zerfällt in zwei Unterklaffen, Afiphonien 
und Siphoniaten, von denen ſich die letzteren erft fpäter aus den 
erfteren entwidelt haben. Zu den Afiphonien gehören die Au- 
ſtern, Perlmuttermuſcheln und Teichmuſcheln, zu den Siphoniaten, 
die fih durch eine Athemröhre auszeichnen, die Benusmufcheln, Mef- 
fermufcheln und Bohrmuſcheln. 

Aus den fopflofen und zahnlofen Weichthieren ſcheinen ſich erft 
fpäter die höheren Mollusten entwickelt zu haben, welche ſich durch 
die deutliche Ausbildung eined Kopfes und namentlich durch ein 
eigenthümliches Gebiß vor jenen auszeichnen. Die Zunge trägt hier 
eine befondere Platte, welche mit fehr zahlreichen Zähnen bewaffnet 
ift. Bei unferer gemeinen Weinbergsſchnecke (Helix pomatia) beträgt 
die Zahl diefer Zähne 21,000 und bei der großen Gartenfchnede 
(Limax maximus) fogar 26,000. 

Unter den Schneden (Cochlides oder Gasteropoda) unterfchei« 
den wir wieder zwei. Unterklaffen, Stummelföpfe und Kopfichneden. 
Die Stummeltöpfe (Perocephala) fliegen ſich einerfeit® fehr 
eng an die Mufcheln an (durch die Schaufelſchnecken), anderſeits aber 
an bie Kraden (durch die Floſſenſchnecken). Die höher entwidelten 
Kopffchneden (Delocephala) fann man in Kiemenfchneden (Bran- 
chiata) und Lungenſchneden (Pulmonata) eintheilen. Zu ben letz⸗ 
teren gehören die Landfchneden, die einzigen unter allen Mollusken, 
welche das Waſſer verlaffen und fi) an das Landleben angepaßt ha- 
ben. Die große Mehrzahl der Schneden lebt im Meere, nur wenige 
im fügen Waffer. Einige Flußfchneden der Tropen (die Ampullarien) 
leben amphibiſch, bald auf dem Lande, bald im Waller. Im lette⸗ 
ten Falle athmen fie durch Riemen, im erfteren durch Lungen. Sie 
vereinigen beiderlei Athmungsorgane, wie die Qurchfifche und Kiemen- 
lurche unter den Wirbelthieren. 

Die vierte und legte, und zugleich die höchſt entiwidelte Kaffe 
der Mollusken bilden die Kracken oder Pulpen, auch Tinten« 
fiſche oder Kopffüßer genannt (Cephalopoda). Sie leben alle 


474 


“ Syſtematiſche Ueberſicht 
der 4 Klaſſen, 8 Unterklaſſen und 21 Ordnungen der Weichthiere. 




















Aufn | Yrtektofen Oeumun | Sulanatiger 
der der der NAame der 
Beisttine | Bestie | Beittim | Omumem 








L Weidstbiere chat Mopf und ohne Bühne: Acaphala ober Anodontoda. 





1 Taſqeln oder | 7 Feerdinee ; 1. Zungentafeln 1. Lingulida 
Spiralfiemer Angellofe 2. Sceibentafeln 2. Craniada 
Spirobranchia | IT. Testicardines | 3. Fleiſcharmige 3. Sarcobrachia 


oder Brachiopoda | yngerfnalige | 4. Kallarımige 4. Belerobrachia 
UL Ariphonia | 5. Einmustler 5. Monomya 
—— Muſcheln ein) 6. Ungleichmusller 6. Heteromya 
Lamall Athemröhre | 7. Gleichmustler 7. Ioomya 
oder IV. Siphoniata | 8. Runbmäntel 8. Integripalliata 
Phyllobranchia Muſqheln mit | 9. Budtmäntel 9. Sinupallista 
Athemröhre (10. Röhrenmuſcheln 10. Inclusa 





IL Weißthlere mit Aopf und mit Bühnen: Cephalophara ober Odontephora. 





j11. Schaufelfdgneden 11. Bcaphopoda 


V. Stummel- 
In Bloffenfäueden 12. Pteropoda 


töpfe 
IL Gäneden ‚Perocephala 


Oochlides 18. Hinterliomer 18.Opisthobranchia 
oder VL Ropfe Pa. Vorderfiemer 14. Prosobrauchia 
Gasteropoda fgneden 15. Kielf nalen 15. Heteropoda 


Delocephala 16. Käferfjneden 16. Chitonida 
17. Sungenfeineden 17. Pulmonata 


VIL Kammer- 
traden 18. perlboote 18. Nautilida 
IV. Rraden (Bierfiemige) )19. Ammonsboote 189. Ammonitida 


ober Tetrabranchia 
Bulyen vm Zinten- 
Oephalopoda traden 20. Zehnarmige 20. Decabrachiones 
Bweiliemige) [21. Achtarmige 21. Octobrachiones 
Dibranchia 


Stammbaum der Weichthiere oder Molluslen. 475 











Dibranchien 
Heteropoden 
Pulmonaten ‚Prosobranchien 
| Tetrabranchien 
| Lipobranchien ıphalopoden 
Eraden) 
Gymnobranchien 
Pleurobranchien 
Oretmain Chitoniden 
— — — — 
—— —— 
Inclusen ol 


nn J 
| 


Integripalliaten ‚Perocephalen 


Selerobrachien Biphoniaten Cochliden 
| (Säacden) 
| honi 
Sarcobrachien Lamellibranchien 
Testicardinen (Rufheln) 
. Otocardier 

Spirobrachien Molfusten mit Kammer und 

(Tafeln Borlammer am Herzen) 


i Fromollusken (Umveidthier) — 
Mollusten mit einfachem Herzen 


Würmer 
un 











476 Stamm der Sternthiere oder Echinobermen. 


im Meere und zeichnen fi) vor den Schnecen durch adht, zehn oder 
mehr lange Arme aus, welche im Kranze den Mund umgeben. Die 
Kracken, welche noch jept in unferen Meeren leben, die Sepien, Kal» 
mare, Argonautenboote und Perlboote, find gleich den wenigen Spi- 
ralfiemern der Gegenwart nur dürftige Reſte von der formenreichen 
Schaar, welche diefe Klaſſe in den Meeren der primordialen, primä- 
ven und fefundären Zeit bildete. Die zahlreichen verfteinerten Am- 
mondhörmer (Ammonites), Perlboote (Nautilus) und Donnerfeile 
(Belemnites) legen noch heutzutage von jenem fängft erlofchenen 
Slanze ded Stammes Zeugniß ab. Wahrſcheinlich haben ſich bie 
Pulpen aus einem niederen Zweige der Schnedenflaffe, aus den Flof- 
fenfchnedten (Pteropoden) oder Verwandten berfelben entwidelt. 

Die verſchiedenen Unterflaffen und Ordnungen, welche man in 

. den vier Molluskenklaſſen unterfpeidet, und deren ſyſtematiſche Rei- 
henfolge Ihnen die vorftehende Tabelle (S. 474) anführt, liefern in 
ihrer hiftorifhen und ihrer entfprechenden foftematifchen Entwickelung 
mannichfache Beweife für die Gültigkeit des Fortſchritisgeſeßes. Da 
jedoch diefe untergeorbneten Molluätengruppen an ſich weiter von kei⸗ 
nem befonderen Intereſſe find, verweife ih Sie auf die gegenüberfle- 
hende Skizze ihres Stammbaums (©.475) und auf den ausführlichen 
Stammbaum ber Weichthiere, welchen ich in meiner generellen Wor« 
phologie gegeben habe, und wende mich fogleich weiter zur Betrad- 
tung des Sternthierftammes. 

Die Sternthiere (Echinoderma ober Estrellae), zu weldeh 
die vier Rlaffen der Seefterne, Seelilien, Seeigel und Seegurfen ger 
hören, find eine der intereffanteften, und dennoch wenigit befannten 
Abtheilungen des Thierreichs. Alle Ieben im Meere. Jeder von Ib- 
nen, der einmal an ber See war, wird wenigſtens zwei Formen der- 
felben, die Seefterne und Seeigel, gefehen haben. Wegen ihrer ſehr 
eigenthümlichen Organifation find die Sternthiere als ein ganz jelbft- 
ftändiger Stamm des Thierreichs zu betrachten, und namentlich gänz- 
lich von den Pflangenthieren, den Zoophyten oder Gölenteraten zu tren- 
nen, mit denen fie noch jept oft irrthumlich als Strahlthiere oder Radia- 


Entfchung der Sternthiere aus Gtöden von @fieberwürmern. 477 


ten zufammengefaßt werden (fo 4.8. von Agaffiz, welcher auch diefen 
Irrthum Eupier’d neben manchen anderen vertheibigt). 

Alle Echinodermen find ausgezeichnet und zugleich von allen an⸗ 
deren Thieren verſchieden durch einen fehr merkwürdigen Bewegungd- 
apparat. - Diefer befteht aus einem vermwidelten Syſtem von Canälen 
ober Röhren, die von außen mit Seewaſſer gefüllt werben. Das 
Seewaſſer wird in diefer Wafferleitung theil® durch fchlagende Wim- 
perhaare, theil® durch Zufammenziehungen der musfulöfen Röhren« 
wände felbft, die Gummifchläuchen vergleichbar find, fortbewegt. Aus 
den Röhren wird dad Waffer in fehr zahlreiche hohle Füßchen hinein 
gepreßt, welche dadurch prall ausgedehnt und nun zum Gehen und 
zum Anfaugen benupt werben. Außerdem find die Sternthiere auch 
durch eine eigenthümliche Verkalkung der Haut auögezeichnet, welche 
bei den meiften zur Bildung eines feften, geſchloſſenen, au8 vielen 
Platten zufammengefepten Panzer führt. Bei faft allen Echinoder⸗ 
men ift der Körper aus fünf Strahltheilen (Gegenftüden oder Anti» 
meren) zufammengefebt, welche rings um die Hauptare des Körpers 
fternförmig herum ftehen und fi in diefer Are berühren. Nur bei 
einigen Seeſternarten fteigt die Zahl diefer Strahltheile über fünf hin⸗ 
aus, auf 6—9, 10—12, oder felbft 20—40; und in diefem Falle 
ift die Zahl der Strahltheile bei den verfchiedenen Individuen der 
Species meift nicht beftändig, fondern wechſelnd. 

Die geſchichtliche Entwidelung und der Stammbaum ber Chi« 
nodermen werden und durch ihre zahlreichen und meift vortrefflich er- 
haltenen Verfteinerungen, durch ihre fehr merkwürdige individuelle 
Entwickelungsgeſchichte und durch ihre intereffante vergleichende Ana⸗ 
tomie fo vollftändig enthüllt, wie e8 außerdem bei feinem anderen 
Thierftamme, felbft die Wirbelthiere vielleicht nicht außgenommen, ber 
Fall if. Durch eine kritiſche Benußung jener drei Archive und eine 
dentende Bergleihung ihrer Refultate gelangen wir zu folgender Ge⸗ 
nealogie der Sternthiere, die ich in meiner generellen Morphologie 
begründet habe (Gen. Morph. II, Taf. IV, ©. LXT—LXXVII). 

Die älteſte und urfprünglihe Gruppe ber Sternthiere, die 





478 Eutſtehung der Steruthiere aus Gtöden von Glicherwürmern. 


Stammgruppe bed ganyen Phylum, if die Klaſſe der Seeſterne 
(Asterida). Dafür ſpricht außer zahlreichen und wichtigen Beweis⸗ 
gründen der Anatomie und Entwickelungsgeſchichte vor allen die hier 
noch unbeftändige und wechſelnde Zahl der Strahltheile oder Antime- 
ven, welche bei allen übrigen Echinodermen ausnahmslos auf fünf 
firirt ift. Jeder Seeftern befteht aus einer mittleren Beinen Körper⸗ 
ſcheibe, an deren Umkreis in einer Ebene fünf oder mehr lange geglie«- 
derte Arme befeftigt find. Jeder Arın des Seefternsentfpricht 
in feiner ganzen Organifation weſentlich einem geglie- 
derten Wurme aus der Klaſſe der Ringelwürmer oder Anneliden 
(©. 466). Ich betrachte daher den Seeftern als einen echten 
Stod oder Cormus von fünf oder mehr gegliederten 
Würmern, welche duch ftemförmige Reimtnospenbildung aus einem 
centralen Mutter-Wurme entftanden find. Bon diefem legteren ha⸗ 
ben die fternförmig verbundenen Geſchwiſter die gemeinfchaftliche 
Mundöfinung und die gemeinfame Verdauungshöhle (Magen) über- 
nommen, bie in der mittleren Körperfcheibe liegen. Das verwachſene 
Ende, welches in die gemeinfame Mittelfcheibe mündet, iſt wahr- 
ſcheinlich das Hinterende der urfprünglichen felbRftändigen Würmer. 

In ganz ähnlicher Weile find auch bei den ungegliederten Wür- 
mern bisweilen mehrere Individuen zur Bildung eines fternförmigen 
Stockes vereinigt. Das ift namentlih bei den Botrylliden der 
Fall, zufammengefepten Seefcheiden oder Ascidien, welche zur Klaſſe 
der Mantelthiere (Tunicaten) gehören. Auch hier find die einzelnen 
Würmer mit ihrem hinteren Ende, wie ein Rattentönig, verwachien, 
und haben fi) hier eine gemeinfame Auswurfsöffnung, eine Gentral- 
tloake gebildet, während am vorberen Ende noch jeder Wurm feine 
eigene Mundöffnung befigt. Bei den Seeſternen würde die leptere 
im Laufe der biftorifhen Stoctentwidelung zugewachſen fein, wäh⸗ 
vend fi die Gentralffonle zu einem gemeinfamen Mund für den 
ganzen Stod audbildete. 

Die Seefterne würden demnach Würmerftöde fein, weiche ſich 
durch fiernförmige Knospenbildung aus echten gegliederten Würmern 


Die Seefterne als ſternförmige Würmerftöde. 479 


oder Golelminthen entwidelt haben. Diefe Hypotheſe wird auf das 
Stärffte durch die vergleichende Anatomie und Ontogenie der geglie- 
derten Seefterne (Colastra) und der gegliederten Würmer geftüpt. 
Unter den lepteren ftehen in Bezug auf den inneren Bau die viel» 
gliedrigen Ringelwürmer (Annelida) den einzelnen Armen oder 
Strahltheilen der Seefterne, d. h. den urfprünglichen Einzelwürmern, 
ganz nahe. Jeder der fünf Arme des Seeſterns ift aus einer gro» 
Ben Anzahl hinter einander liegender gleichartiger Glieder oder Me- 
tameren fettenartig zufammengefegt, ebenfo wie jeder gegliederte 
Wurm und jedes Arthropod. Wie bei diefen lepteren, fo verläuft 
aud bei den erfteren in der Mittellinie des Bauchtheils ein centra- 
ler Rervenftrang, das Bauchmart. An jedem Metamere jind ein paar 
ungegliederte Füße und außerdem meiften® ein oder mehrere ftarre 
Stacheln angebracht, ähnlih wie bei den Ringelwürmern. Auch 
vermag der abgetrennte Seeftern-Arm ein felbfttändiges Leben zu 
führen und fann ſich dann duch fternförmige Anodpenbildung an 
einem Ende wieder zu einem fünfftrahfigen Ceefterne ergänzen. 
Die wichtigſten Beweife aber für die Wahrheit meiner Hypo⸗ 
thefe liefert die Ontogenie oder die individuelle Entwickelungsge ⸗ 
ſchichte der Ehinodermen. Die böchft merkwürdigen Thatfachen die- 
fer Ontogenie find erft im Jahre 1848 durch den großen Berliner 
Zoologen Johannes Müller entdedt worden. Einige ihrer wich» 
tigften Berhältniffe find auf Taf. VIII und IX vergleidhend dargeftellt. 
(Bergl. bie nähere Erklärung derfelben unten im Anhang.) Fig. A 
auf Taf. IX zeigt Ihnen einen gemöhnlihen Seeftem (Uraster), 
Fig. B eine Seelilie (Comatula), fig. C einen Seeigel (Echinus) 
und Fig. D eine Seegurfe (Synapta). Trot der auferordentfichen 
Formwerſchiedenheit, welche diefe vier Sternthiere zeigen, ift den⸗ 
noch der Anfang ber Entwidelung bei allen ganz gleih. Aus dem 
Ei entwidelt fi eine Gaftrula, und aus diefer eine Thierform, 
welche gänzlich von dem außgebildeten Sternthiere verfchieden, dagegen 
den bewimperten Larven gewiſſer Gliederwürmer (Sternwürmer und 
Ringelwürmer) hoͤchſt ähnlih ift. Die fonderbare Thierform wird 


480 


Syſtematiſche Aeberſicht 
der 4 Klaſſen, 9 Unterklaſſen und 20 Ordnungen ber Sternthiere. 
Gergl. Gen. Morph. II, Taf. IV, 8. LXII— LXXVIL) 
































Aleſen Anterklofen | ¶ Ordnnngen | Sufemstifger 
der der der Aame der 
S iernthiere S teruthiere Slernthiere Ordunugen 
I. Seefterne 
ı mit —— 3, Stamm) — 
magen 3. —EE 3. Brisingastra 
Geefterne Far * 
eefterne 
Asterlda mit Sgeiben- { 4 Schangenferne 4. Ophiastra 
Dieoluira N 9 Silienflerme 6. Crinsstra 
7. Getäfelte Arm-⸗ 7. Phatnoerinida 
UI. Armlilien lilien 
Brachiata 8. Geglieberte 8. Colocrinida 
Armlilien 
u IV. 8nospen- (9 Regale 9. Pentremitida 
Seelilien en Nro. Amer E20: Wontheroerien 
Ortaside . 11. Stiellofe via- 11. Agelserinida 
“Rieden (1 jr 
5 12. & Bla- 18. Sphaeronitide 
sin ie 
13. Baledjiniden 13. Melonitida 
VI. Xeltere mit mehr aa 10 
HAN ‚mteihen 
mehr al ** 5 
m. Blattenreigem |"* mio — WB 
Geeiget Palechinida I u n Pate 
en 
Eehinlda . —2 — 15. Desmostiche 
VII. Jüngere u mit Bandem- 
Seeigel (mit buiatren 
20 Plotten- Jus. Autediniden 16. Petalostiche 
reihen) mit hate 
Autechinida, Bufaften 
17. Eupobien mit 17. Aspidochirote 
fenfförmigen 
18. Cupobien mit 18. Dendrochirota 
Seegurlen — 


vn Seegur- 
en mit 
W. weiffäßsen 
RA ur- „19. Apodien mit 19. Liodermatide 
W — * dien ohne 20. Symaptida 
Apr 0. \ . 


‚Sternthtere. Erste Öcneration: Wurm_Persen. Tay IE 





‚sternihiere. Stweite Generation, Würm k TarE. 











sternthiere. Sweite Generation , Würm 





Abſtammung der Seefterne von geglieberten Panzerwürmern. 483 


lent der tatonifchen Schiefer Nordamerikas in Deutſchland“ befchrie- 
ben 1867 Geinig und Liebe eine Anzahl von gegliederten 
filurifhen Würmern, welde volltommen den von mir gemadh- 
ten Borausfegungen entſprechen. Diefe höchſt merkwürdigen Wür- 
mer kommen in den Dachfchiefern von Wurzbach im reußifchen Ober- 
lande zahlreich in vortrefflih erhaltenem Zuftande vor. Sie haben 
den Bau eine? gegliederten Seeſternarms, und müffen offenbar einen 
feiten Hautpanzer, ein viel härtere® und feftere® Hautſkelet befeifen 
haben, als es fonft bei den Würmern vorfommt. Die Zahl der 
Körperglieder oder Metameren ift fehr beträchtlich, fo dag die Wür- 
mer bei einer Breite von 4—4 Zoll eine Länge von 2—3 Fuß und 
mehr erreichen. Die vortrefflih erhaltenen Abdrüde, namentlich 
von Phyliodocites thuringiacus und Crossopodia Henrici, gleichen 
auffallend den fleletirten Armen mancher geglieberten Seefterne (Col- 
astra). Ich bezeichne diefe uralte Würmergruppe, zu welcher ver- 
mutblid) die Stammväter der Seefterne gehört haben, als Pan— 
jerwürmer (Phracthelminthes, ©. 460). 

Aus der Klaffe der Seefterne, welche die urfprüngliche Form 
des fternförmigen Wurmftodes am getreueften erhalten hat, haben 
ſich die drei anderen Klaſſen der Echinodermen offenbar erft fpäter 
entwidelt. Am menigften von ihnen entfernt haben fih die See⸗ 
lilien (Crinoida), welche aber die freie Ortsbewegung der übrigen 
Sternthiere aufgegeben, fich feitgefeßt, und dann einen mehr oder 
minder langen Stiel entwidelt haben. Einige Seelilien (. ®. die 
Comateln, Fig. B auf Taf. VIII und IX) löfen ſich jedoch fpäterhin 
von ihrem Stiele wieder ab. Die urfprünglichen Wurmindividuen 
find zwar bei den Grinoiden nicht mehr fo felbftftändig und ausge» 
bildet erhalten, wie bei den Seeſternen; aber dennoch bilden fie ſtets 
mebr oder minder gegliederte, von der gemeinfamen Mittelfcheibe 
abgefegte Arme. Wir konnen daher die Geelilien mit den Seefter- 
nen zufammen in der Hauptklaſſe der Gliederarmigen (Colo- 
brachia) vereinigen. 

In den beiden anderen Echinodermenklaſſen, bei den Seeigeln 

31° 


484 Seeigel Echiniden). Seegurten (Holotfurien). 


und Seegurken, find die gegliederten Arme nicht mehr als felbft- 
fändige Körpertheile erfennbar, vielmehr durch weitgehende Centra- 
liſation des Stodes volllommen in der Bildung der gemeinfamen 
aufgeblafenen Mittelfheibe aufgegangen , jo daß diefe jetzt als eine 
einfache armfofe Büchfe oder Kapfel erfheint. Der urfprüngliche In- 
dividuenftod ift feheinbar dadurch wieder zum Formwerth eines ein- 
fachen Individuums, einer einzelnen Perfon , herabgefunfen. Wir 
fönnen daher diefe beiden Klaſſen als Armiofe (Lipobrachia) den 
Gliederarmigen gegenüberfegen. Die erfte Klaſſe derfelben, die See- 
igef (Echinida), führen ihren Namen von den zahlreichen, oft fehr 
großen Stacheln, welche die fefte, aus Kalkplatten fehr zierlih zus 
fammengefepte Schale bededten (Fig. c, Taf. VIII und IX). Die 
Schale felbft hat die Grundform einer fünffeitigen Pyramide. Wahr- 
ſcheinlich haben fi die Eeeigel unmittelbar aus einem Zweige der 
Seefterne entwidelt. Die einzelnen Abtheilungen der Seeigel beftä- 
tigen in ihrer hiftorifhen Aufeinanderfolge ebenfo wie die Ordnun⸗ 
gen der Seelilien und Seefterne, welche Ihnen die nebenjtehende 
Tabelle aufführt, in ausgezeichneter Weife die Geſetze des Fortihritts 
und der Differenzirung. (Gen. Morph. II, Taf. IV.) 

Während uns die Gefchichte dieſer drei Eternthierflaffen durch 
die zahlreichen und vortrefflich erhaltenen Berfteinerungen fehr genau 
ergaͤhlt wird, wiſſen wir dagegen von der geſchichtlichen Entwidt ⸗ 
tung der vierten Rlaffe, der Seegurfen (Holothurise), faft Richtd. 
Aeußerlich zeigen diefe fonderbaren gurfenförmigen Sternthiere eine 
trügerifche Aehnlichfeit mit Würmern (Fig. D, Taf. VII und IX). 
Die Steletbildung der Haut ift hier fehr unvolltommen und daher 
tonnten feine deutlichen Refte von ihrem Tanggeftredten walzenfot ⸗ 
migen wurmähnlihen Körper in foffilem Juftande erhalten bleiben. 
Dagegen läßt ſich aus der vergleichenden Anatomie der Holothurien 
erfehliegen, daß diefelben wahrfcheinlih aus einer Abtheilung der 
Seeigel durch Erweihung des Hautffelet? entftanden find. 

Bon den Eternthieren wenden wir uns zu dem ſechſten und 
hoͤchſt entwidelten Stamm unter den wirbellofen Thieren, zu dem 





Stamm ber Gliebfüßer ober Arthropoden. 485 


Phylum der Gliederthiere oder Gliedfüßer (Arthropoda). 
Wie ſchon vorher bemerkt wurde, entfpricht diefer Stamm der Klaſſe 
der Kerfe oder Inſekten im urfprünglihen Sinne Linné's. Er 
enthält wiederum vier Klaſſen, nämlich 1. die echten fechöbeinigen 
Inſekten; 2. die achtbeinigen Spinnen; 3. die mit zahlreichen Bein- 
paaren verfehenen Taufendfüße und 4. die mit einer wechfelnden 
Beinzahl verfehenen Krebſe oder Kruftenthiere. Die legte Klaffe ath- 
met Waffer durch Kiemen und fann daher als Hauptklaffe der fie- 
menathmenden Arthropoden oder Kiemenkerfe (Carides) den drei 
erften Klaſſen entgegengefeßt werden. Diefe athmen Luft durch eigen- 
thümliche Zuftröhren oder Tracheen, und fünnen daher paffend in 
der Hauptflaffe der tracheenathmenden Arthropoden oder Tracheen⸗ 
terfe (Tracheata) vereinigt werben. 

Bei allen Gliedfügern find, wie der Name fagt, die Beine deut- 
lich gegliedert, und dadurch, fowie durch die ſtärkere Differenzirung 
der getrennten Körperabfehnitte oder Metameren unterfcheiden fie fih 
wefentlih von den geringelten Würmern, mit denen fie Bär und 
Eupier in ihrem Typus der Articulaten vereinigten. Uebrigens 
ftehen fie den gegliederten Würmern in jeder Beziehung fo nahe, 
daß fie faum ſcharf von ihnen zu trennen find. Insbeſondere thei- 
len fie mit den Ringelwürmern die fehr dharakteriftifche Form des 
centralen Nervenſyſtems, das fogenannte Bauchmark, welches vom 
mit einem den Mund umgebenden Schlundring beginnt. Auch aus 
anderen Thatfachen geht hervor, daß die Arthropoden ſich jedenfall 
aus Gliedwürmern erft fpäter entmicelt haben. Wahrſcheinlich find 
entweder die Räderthiere oder die Ringelwürmer ihre nächſten 
Blutöverwandten im Würmerftamme (Gen. Morph. II, Taf. V, 
©. LXXXV—CIO). 

Wenn nun auch die Abftammung der Arthropoden von geglie- 
derten Würmern als ficher gelten darf, fo fann man doch nicht mit 
gleicher Sicherheit behaupten, daß der ganze Stamm der erfteren nur 
aus einem Ziweige der leßteren entftanden fei. Es ſcheinen nämlich 
mande Gründe dafür zu fprechen, daß die Kiemenkerfe fih aus 


486 Krebfe (Cariden) oder Kruftenthiere ( Cruſtaceen). 


einem anderen Zweige der gegliederten Würmer entwidelt haben, ala 
die Tracheenkerfe. Wahrfceinlicher aber bleibt es vorläufig noch, daß 
beide Hauptflaffen aus einer und derfelben Würmergruppe entftanden 
find. In diefem Falle fönnen fi) die tracheenathmenden Infekten, 
Spinnen und Taufendfüßer erft fpäter von den fiemenathmenden 
Kruftenthieren abgezweigt haben. 

Der Stammbaum der Arthropoden läßt fih im Ganzen aus 
der Paläontologie, vergleichenden Anatomie und Ontogenie feiner vier 
Klaffen vortrefflich erkennen, obwohl auch hier, wie überall, im 
Einzelnen noch fehr vieles dunkel bleibt. Wenn man erft die indivi⸗ 
duelle Entwidelungsgefchichte aller einzelnen Gruppen genauer fennen 
wird, als es jept ber Fall ift, wird jene Dunkelheit mehr und mehr 
fhwinden. Am beten kennt man diefelbe bis jegt von der Klaſſe der 
Kiementerfe oder Krebfe (Carides), wegen ihrer harten kru⸗ 
ftenartigen Körperbebedung auch Kruftenthiere (Crustacea) ge- 
nannt. Die Ontogenie diefer Thiere ift außerordentlich intereffant, und 
verräth uns, ebenfo wie diejenige der Wirbelthiere, deutlich die we- 
fentlichen Grundzüge ihrer Stammesgeſchichte oder Phylogenie. Fri 
Müller hat in feiner ausgezeichneten, bereits angeführten Schrift 
„Für Darwin“ 18) diefes merfwürdige Derhältnig vortrefflich erläutert. 

Die gemeinfhaftlihe Stammform aller Krebfe, welche ſich bei 
den meiften noch heutzutage zunächft aus dem Ei entwidelt, ift ur⸗ 
fprünglich eine und diefelbe: der fogenannte Rauplius. Diefer mert- 
würdige Urkrebs ftellt eine fehr einfache gegliederte Thierform dar, der 
ren Körper meiften® die Geftalt einer rundlichen, ovalen oder birnför- 
migen Scheibe bat, und auf feiner Bauchjfeite nur drei Beinpaare 
trägt. Bon diefen ift das erfte ungefpalten, die beiden folgenden 
Paare gabelfpaltig. Born über dem Munde fipt ein einfaches unpaa ⸗ 
res Auge. Ttoßdem bie verfhiedenen Ordnungen der Cruſtaceen ⸗ 
Klaffe in dem Bau ihres Körpers und feiner Anhänge ſich fehr weit 
von einander entfernen, bleibt dennoch ihre jugendliche Naupliusform 
immer im Weſentlichen diefelbe. Werfen Sie, um ſich hiervon zu 
überzeugen, einen vergleichenden Blick auf Taf. X und XI, deren nd- 











Gemeinfame Abftemmung aller Krebfe vom Nauplins. 487 


here Erklärung unten im Anhange gegeben wird. Auf Taf. XI fehen 
Sie die auögebildeten Repräfentanten von ſechs verſchiedenen Krebs⸗ 
ordnungen, einen Blattfüger (Limnetis, Fig. Ac), einen Rankenkrebs 
(Lepas, Fig. De), einen Wurzelkrebs (Sacculina, Fig. Ec), einen Ru⸗ 
derfreb3 (Cyclops, Fig. Be), eine Fiſchlaus (Lernaeocera, Fig. Ce) 
und endlich eine hoch organifirte Garnele (Peneus, Fig. Fe). Diefe 
ſechs Krebfe weichen in der ganzen Körperform, in der Zahl und Bil- 
dung der Beine u. ſ. w., wie Sie fehen, fehr ftart von einander ab. 
Wenn Sie dagegen die aus dem Ei gefehlüpften früheften Jugendfor- 
men oder „Naupfius” diefer ſechs verſchiedenen Krebfe betrachten, die 
auf Taf. X mit entfprechenden Buchftaben bezeichnet find (Fig. An 
— En), fo werden Sie durch die große Hebereinftimmung dieſer letz⸗ 
teren überrafcht fein. Die verſchiedenen Nauplius-Formen jener ſechs 
Ordnungen unterfcheiden ſich nicht ftärfer, wie etwa fech® verfchiedene 
„gute Species” einer Gattung. Wir können daher mit Sicherheit 
auf eine gemeinfame Abftammung aller jener Ordnungen von einem 
gemeinfamen Urkrebfe fchliegen, der dem heutigen Rauplius im We- 
fentlihen gleich gebildet war. 

Wie man fih ungefähr die Abftammung der auf ©. 488 aufge 
zählten 20 Gruftaceen-Ordnungen von der gemeinfamen Stammform 
des Naupliud gegenwärtig vorftellen kann, zeigt Ihnen der gegenüber- 
ftehende Stammbaum (©. 489). Aus der urfprünglich als felbftftän- 
dige Gattung egiftirenden Nauplius- Form haben ſich ala divergente 
Zweige nach verfchiedenen Richtungen hin die fünf Regionen der nie⸗ 
deren Krebfe entwidelt, welche in der nachftehenden foftematifchen 
Weberfiht der Klaſſe als Gliedertrebfe (Entomostraca) zufam- 
mengefaßt find. Aber auch die höhere Abtheilung der Panzerkrebſe 
(Malacostraca) hat aus der gemeinfamen Raupliusform ihren Ur- 
fprung genommen. Noch heute bildet die Nebalia eine unmittelbare 
Uebergangsform von den Phyllopoden zu den Schigopoden, d. h. zu 
der Stammform der ftieläugigen und fiäugigen Panzerkrebfe. Je⸗ 
doch hat ſich hier der Nauplius zunächft in eine andere Larvenform, die 
fogenannte Zo&a, umgewandelt, welche eine hohe Bedeutung befipt. 


488 


Syſtematiſche Ueberfiht 
der 7 Regionen und 20 Drdnungen der Krebſe oder Eruftaceen. 








‚ober Gliederkrebſe (ohne eigentliche Zo&a-Jugenbform). 





1. Urfrebfe 
1. Branchiopoda |. 2. Blattfüßer 
Kiemenfüßige 3. Paläaden 
Krebfe 4. Waſſerflöhe 
6. Muſcheltrebſe 
11. Poctostraca ! 6. Rantentrebfe 
‚Haftteebfe 7. Wurzjeltrebſe 
III. Copepoda 
8, Ruderkrebſe 
Nuderfühige | . 
Arehfe ®. dichanſe 
IV. Pantopoda 


Gpinnentrebfe } 10. Spinmentrebfe 


V. Poseilopoda 11. Pfeilſchwanger 
Sqildtrebſe 12. Rieſenkrebſe 


1. 
2. 
8. 
4. 
6. 


. Xiphosura 
. Gigantostraca Kurypterus 


Archicarida Nauplius 
Phyllopoda Limnetis 


Trilobita  Paradoxides 
Cladocora  Daphnia 
Ostracoda Cypris 
Cirripedia Lepas 


Rhisocophala Sacculins 


Eucopopoda Cyclops 
Siphonostoma Lernasocera. 


). Pyenogonida Nymphon 


Limulus 





II. Malaoostraca. Söhere Eruhaceen 
ober Panzerkrebfe (mit wahrer Zosa - Jugendform). 





VI. Podophthalma Br 3 —— — 
Ettelängige 15. Maulfüßer 
Pangertrehfe | 16, Zepufüßer 

vn. Bärlophthalma| 17. Ruma-Rrebfe 
Gipängige 18. Flohtrebſe 
Banzertzebfe 19. gehunher 


20. Afleln 


18. 
14. 
15. 
16. 


17. 
18. 
19. 
20. 


Zodpoda Zoda 
Schisopoda Mysis 

Stomatopoda Squilla 
Decapoda  Peneas 


Coma Cuma 
Amphipoda Gammarus 
Laemodipoda Caprella 
Tsopoda Onlscas 


Stammbaum ber Krebfe oder Eruflaceen. 489 














Brachyuren Isopoden 
| Laemodipoden 
„ | 
| Amphipoden 
— | 
Decapoden Btomatopoden pain 
| | Zärlophthalmen 
I | 
Schisopoden 
Podophthalmen 
Zoöpoden 
Malakostraken 
Gigantostraken Rhisocephalen 
Xiphosnren Siphonostomen 
| Zoia 
— Cirripedien 
Poscilopoden Peotostraken 
| Nobalion | | 
R incopepoden | pyonogoniden 
7 Copepoden Pantopoden 
hi Ostra- 
Trilobiten — 
Clndoceren | Phyllopoden 
| | 
— — — — 
Nauplius 
Bu 
Coelomaten 








490 Staumbanm ber Kuehfe. 


Diefe feltfame Zoea hat wahrſcheinlich zunädhft der Ordnung 
der Spaltfüßer oder Schigopoden (Mysis etc.) den Urfprung gegeben, 
welche noch heutigen Tages durch die Nebalien unmittelbar mit den 
Vlattfühern oder Phyllopoden zufammenhängen. Diefe letzteren aber 
ftehen von allen lebenden Krebfen der urfprünglichen Stammform des 
Nauplius am nächſten. Aus den Spaltfühern haben ſich als zwei die 
vergente Zweige nad) verfhiedenen Richtungen hin die ftieläugigen 
und die figäugigen Panzerkrebfe oder Malokoſtraken entwidelt, die 
eriteren durch die Garneelen (Peneus etc.), die letzteren Durch die Ku« 
maceen (Cuma etc.) noch heute mit den Schizopoden zufammenhän- 
gend. Zu den Stieläugigen gehört der Flußkrebs, der Hummer und 
die übrigen Langſchwäͤnze oder Mafruren, aus denen ſich erft fpäter 
in der Kreidegeit durch Rüdbildung des Schwanzes die kurzſchwän ⸗ 
sigen Krabben oder Brachyuren entwidelt haben. Die Sipäugigen 
fpalten fi in die beiden Zweige der Flohtrebfe (Amphipoden) und 
der Affeln (Zfopoden), zu welchen letzteren unfere gemeine Maueraſſel 
und Kelleraffel gehört. 

Die zweite Hauptflaffe der Gliederthiere, die Trachea ten oder 
die luftathmenden Tracheenkerfe (die Spinnen, Taufendfüßer und In- 
fetten) find jedenfall erft im Anfang der palüolithifchen Zeit, nad 
Abflug des arholithifchen Zeitraums entftanden, weil alle dieſe 
Thiere (im Gegenſatz zu den meift wafjerbemohnenden Krebfen) ur- 
ſprunglich Landbewohner find. Offenbar tönnen fi) diefe Luftathmer 
erft entwidtelt haben, als nach Verfluß der filurifchen Zeit das Land⸗ 
leben begann. Da nun aber foffile Refte von Spinnen und Infelten 
bereit in den Steintohlenfhichten gefunden werden, fo fönnen wir 
ziemlich genau den Zeitpunkt ihrer Entitehung feititellen. Es muß 
die Entwidelung der erften Tracheentrefe aus fiemenathmenden Joda · 
trebfen oder aus Würmern zwifchen das Ende der Silurgeit und den 
Beginn ber Steintohlengeit fallen, alfo in die de von iſche Periode. 

Die Entftehung der Tracheaten hat kürzlich Gegenbaur dur 
eine geiftreihe Hypotheſe zu erklären verfucht, in feinen ausgezeichne · 
ten „Örundzügen der vergleichenden Anatomie“ **). Das Iradeen- 


Entftehung ber Tradjenten. 491 


ſyſtem oder Luftröhrenſyſtem und die durd) daffelbe bedingten Modifi⸗ 
cationen der Organifation zeichnen die Inſekten, Taufendfüger und 
Spinnen fo fehr vor den übrigen Thieren aus, daß die Vorftellung 
von feiner erften Entftehung der Phylogenie feine geringen Schwierig. 
teiten bereitet. Nah Gegenbaurs Anficht ſtehen der gemeinfamen 
Stammform der Tracheaten unter allen jept lebenden Tracheenterfen 
die Urflügler oder Archipteren am nächſten. Diefe Infelten, zu 
denen namentlich die zarten Eintagsfliegen (Ephemeren) und die flin- 
ten Waſſerjungfern (Libellen) gehören, befigen in ihrer erften Jugend 
als Larven zum Theil äußere Tracheentiemen, melde in Geftalt 
von bfattförmigen oder pinfelförmigen Anhängen in zwei Reihen auf 
der Rücenſeite des Leibes figen. Aehnliche blattförmige oder pinfel- 
förmige Drgane treffen wir als echte Waſſerathmungsorgane oder Kie- 
men bei vielen Krebfen und Ringelmürmern (Anneliden) an, und zwar 
bei den lepteren als wirkliche Ruͤlengliedmaßen. Wahrſcheinlich find 
die Tracheenkiemen“, welche wir bei den Larven von vielen Urflüglern 
antreffen, al folhe „Rüden-Ertremitäten” zu deuten und aus 
den entfprechenden Anhängen von Anneliden oder vielleicht auch von 
längft auögeftorbenen Eruftaceen wirklich entftanden. Aus der Ath« 
mung dur „Tracheentiemen“ hat ſich erft fpäter die gewöhnliche 
Tracheen · Athmung der Tracheaten hervorgebildet. Die Tracheenkiemen 
ſelbſt aber find theilweife verloren gegangen, theilmeife zu den Flü⸗ 
gelm der Infekten umgebildet worden. Gänzlich verloren gegangen 
find fie in den beiden Klaffen der Spinnen und Taufendfüßer. Diefe 
find demgemäß als rüdgebildete oder eigenthümlich entwidelte Seiten ⸗ 
zweige der Infettenklaffe aufzufaſſen, welche ſich ſchon frühzeitig von 
der gemeinfamen Infelten-Stammgruppe abgezweigt haben, und zwar 
die Spinnen früher al® die Taufendfüßer. Ob jene gemeinfame 
Stammform aller Tracheaten, die ih in der generellen Morphologie 
als Protracheata bezeichnet habe, fich direkt aus echten Ringel- 
würmern oder zunächft aus Zoa-förmigen Gruftaceen („Zoöpoden“, 
©. 489) entwidelt hat, das wird ſich fpäterhin wahrſcheinlich noch 
durch genauere Erkenntniß und Vergleichung der Ontogenefe der Tra- 


492 Spinnen (Arachniden). 


cheaten, Cruſtaceen und Anneliden feftftellen laſſen. Auf jeden Fall 
ift die Wurzel der Tracheaten ebenfo wie der Cruſtaceen in der Gruppe 
der Coelomaten-Würmer zu fuchen. 

Die echten Spinnen (Arachnida) find dur) den Mangel der 
Flügel und durd) vier Beinpaare von den Inſekten unterfchieden. Wie 
jedod) die Storpionfpinnen und die Geißelſkorpione deutlich zeigen, find 
eigentlich auch bei ihnen, wie bei den Inſekten, nur drei echte Bein- 
paare vorhanden. Das fcheinbare vierte Beinpaar der Spinnen (da® 
vorderfte) ift eigentlich ein Kieferpaar. Unter den heute noch leben- 
den Spinnen giebt es eine kleine Gruppe, welche wahrſcheinlich der 
gemeinfamen Etammform der ganzen Klaſſe fehr nahe fteht. Das ift 
die Ordnung der Storpionfpinnen oder Solifugen (Solpuga, 
Galeodes), von der mehrere große, wegen ihres giftigen Biiles ſehr 
gefürchtete Arten in Afrika und Aſien leben. Der Körper befteht bier, 
wie wir es bei dem gemeinfamen Stammvater der Tracheaten voraus 
fegen müffen, aus drei getrennten Abfchnitten, einem Kopfe, weicher 
mehrere Kieferpaare trägt, einer Bruft, an deren drei Ringen brei 
Beinpaare befeftigt find, und einem vielglieberigen Hinterleibe. In 
der Gliederung des Leibes ftehen demnach die Solifugen eigentlich den 
Inſekten näher, ald den übrigen Spinnen. Aus den devonifchen 
Urfpinnen, welche den heutigen Sofifugen nahe verwandt waren, 
haben ſich wahrſcheinlich als drei divergente Zweige die Stredifpinmen, 
Schneiderfpinnen und Rundfpinnen entwidelt. (S. 495.) 

Die Stredfpinnen (Arthrogastres) erfheinen als die älteren 
und urfprünglicheren Formen, bei denen ſich die frühere Leibesgliede ⸗ 
rung befier erhalten hat, ala bei den Rundfpinnen. Die wichtigen 
Formen diefer Unterklaffe find die Skorpione, welche durch die 
Phryniden oder Geißelftorpione mit den Solifugen verbunden werden. 
Als ein rüdgebildeter Seitenzweig erfcheinen die Meinen Bücherflor- 
pione, welche unfere Bibliothefen und Herbarien bewohnen. In der 
Mitte zwifchen den Storpionen und den Rundſpinnen ftehen die lang» 
beinigen Schneiderfpinnen (Opiliones), welche vielleicht aus einem 
befonderen Zweige der Eolifugen entitanden find. Die BPyenogoni- 


Spinnen (Aradjniden). 493 


den oder Spinnentrebfe und die Arktis ken oder Baͤrwurmer, welche 
man gewöhnlich noch jept unter den Spinnen aufführt, find von 
diefer Klaſſe ganz auszuſchließen. Die erfteren find unter die Eru- 
flaceen, die lepteren unter die Gliederwürmer zu ftellen. 

Verfteinerte Reſte von Stredfpinnen finden ſich bereits in der 
Steinkohle. Dagegen kommt die zweite Unterflaffe der Arachniden, 
die Rundfpinnen (Sphaerogastres), verfteinert zuerft im Jura, 
alfo fehr viel fpäter, vor. Sie haben ſich aus einem Zweige der So- 
fifugen dadurch entwickelt, daß die Teibesringe mehr ober weniger 
mit einander verſchmolzen. Bei den eigentlihen Weberfpinnen 
(Araneae), welche wir wegen ihrer feinen Webekünſte bewundern, 
gebt die Verſchmelzung der Rumpfglieder oder Metameren fo weit, 
daß der Rumpf nur noch aus zwei Stüden befteht, einer Kopfbruft, 
welche die Kiefer und die vier Beinpaare trägt, und einem anhangs- 
fofen Hinterleib, an welchem die Spinnwarzen figen. Bei den Mil- 
ben (Acarida), welche wahrſcheinlich aus einem verfümmerten 
Seitenzweige der Weberfpinnen durch Entartung (insbeſondere durch 
Schmaroperleben) entftanden find, verſchmelzen fogar noch diefe bei⸗ 
den Rumpfftüde mit einander zu einer ungegliederten Maſſe. 

Die Kaffe der Taufendfüßer (Myriapoda), die Fleinfte und 
formenärmfte unter den vier Arthropodenklaffen, zeichnet ſich durch 
den fehr verlängerten Leib aus, welcher einem gegliederten Ringel- 
wurme fehr ähnlich ift und oft mehr als hundert Beinpaare trägt. 
Aber auch fie hat ſich urfprüngli aus einer ſechsbeinigen Tracheaten- 
form entwidelt, wie die individuelle Entwidelung der Taufendfüßer 
im Gie deutlich beweiſt. Ihre Embryonen haben zuerſt nur drei 
Beinpaare, gleich den echten Inſekten, und erft fpäter Inospen Stüd 
für Stüd die folgenden Beinpaare aus den wuchernden Hinterleibs- 
ringen hervor. Bon den beiden Ordnungen der Taufendfüßer (welche 
bei und unter Baumrinden, im Mofe u. ſ. w.leben), haben ſich wahr⸗ 
foheinlidy die runden Doppelfüßer (Diplopoda) erft ſpäter au dem 
älteren platten Einfachfüßern (Chilopoda) entwidelt, indem je 


44 


Sakemstifge lleberſicht 
der 3 Mlaien und 17 Ordnungen der Tracheaten. 











Adhen Antertichen Dronuugen | Bwci Getissg- 
uameun als 





der der der 
Trabesien Tragesien Fragesten Beifpiele 
+ 1. Storpionfpimmen (Solpuga 
Solifugae Galoodes 
2. Geißeljtorpione $Phrynus 
L Phrynida 'Thelyphonus 
Stredipinmen } 3. Storpione [heorpie 
L Artkregast Scorpioda Buthus 


4. Bücherflorpione }Obisium 
Pseudoscorpioda |Chelifer 


5. Schmeiberjpinnen |Phalangiam 





\ Opilionida |Opilio 
u 6. Weberſpinuen ‚Epeira 
Rundipinnen Araneae Mygale 
— 11. Bike frame 
u Ginfegfäger( 8. Einfafüher ‚Scolopendra 
ı Chiopoda Chilopoda |Geophilus 
Tanfenfüher Jix. Zoppeifäger) 9- Doppefiäher u 
Rıriagein Diplopoda Diplopoda |Polydesmus 
110, Urflägler Ephemera 
‚Archiptere |Libeltula 
11. Repflägler [Hamerobins 
v. Nearoptera NPhryganea 
Rancnde Im- iz. Gredflägler mean 
fetten Orthoptera Forfeula 
* At Masticantis, 18, Käfer |Cieindela 
g Coleoptera [Melolontha 
14 ‚Apis 
er —— —E 
15. Halbflägler jan 
VL Hemiptere Cimex 
Gengende In- )16. Bliegen [Enter 
Diptera Musca 


fetten 
Sugentie 17. Schmetterlinge „Bombyz 
“ Lepidoptera Papilio 


Stammbaum der Tradjeaten oder Tracheenlerfe. 


495 











Schmetterlinge 
Lepidoptera 
Immen Fliegen 
Hymenoptera Diptera 
Käfer 
Pr | Stier 
| Negflügler 
Gradflagler _Neuroptera _ — 
Orthoptera | 
Urflägter 
Archiptera 
Storpione 
Scorpioda Doppelfüßer 
Schmeiberfpinnen Diplopoda 
Opiliones j 
Bücherflorpione I 
Milben Pseudoscorpioda | 
Acarida | N 
Geißelflorpione Einfachfüher 
Beberfpi Phrynida Chilopoda 
hen Taufendfüßer 
| | Si 
—E 
Solifugae | 
Spinnen ! 
Bun Infelten 
| | 
— —— —— 
Stamminfelten 
Protrachesta 
Coelomati 


| 


Gastraea 


| 








496 ZTaufendfüßer (Myriapoben). Infekten (Herapoben). 


zwei Ringe des Leibes paarweiſe mit einander verſchmolzen. Bon 
den Chilopoden finden ſich fofjile Reſte zuerft im Jura vor. 

Die dritte und fepte Klaſſe unter den tracheenathmenden Arthro- 
poben ift die der Infetten (Insecta oder Hexapoda), die umfang- 
reichte von allen Thierflaffen, und nächſt derjenigen ber Säugethiere 
auch die wichtigſte von allen. Trotzdem die Infetten eine größere 
Mannichfaltigkeit von Gattungen und Arten entwickeln, als die übri- 
gen Thiere zuſammengenommen, find das alle doch im Grunde nur 
oberflählihe Variationen eines einzigen Themas, weldes in feinen 
wefentlihen Charakteren ſich ganz beftändig erhält. Bei allen In- 
fetten find die drei Abfchnitte des Rumpfes, Kopf, Bruft und Hinter- 
leib deutlich getrennt. Der Hinterleib oder dad Abdomen trägt, 
wie bei den Spinnen, gar feine gegliederten Anhänge. Der mittlere 
Abſchnitt, die Bruft oder der Thorag, trägt auf der Bauchſeite die 
drei Beinpaare, auf ber Rüdenfeite urfprünglih zwei Flügel- 
paare. Freilich find bei fehr vielen Infekten eines oder beide Flügel · 
paare verfümmert, oder felbft ganz verſchwunden. Allein die ver- 
gleihende Anatomie der Infekten zeigt una deutlich, daß diefer Mangel 
erft nachträglich durch Berfümmerung der Flügel entftanden ift, und 
daß alle jept lebenden Inſeklten von einem gemeinfamen Stamm- 
inſelt abftammen, welches drei Beinpaare und zwei Flügelpaare be« 
faß (vergl. ©. 256). Diefe Flügel, welche die Inſekten fo auffal- 
lend vor den übrigen Gliebfüßern auszeichen, entftanden, wie fon 
vorher gezeigt wurde, wahrſcheinlich aus den Tradeenfiemen , welche 
wir noch heute an den im Waffer lebenden Larven der Eintagäfliegen 
(Ephemera) beobachten. 

Der Kopf der Infelten trägt allgemein außer den Augen ein 
Paar gegliederte Fühlhörner oder Antennen, und außerdem auf jeder 
Seite ded Mundes drei Kiefer. Diefe drei Kieferpaare, obgleih 
bei alten Inſekten aus derfelben urfprünglichen Grundlage entflan- 
den, haben ſich durch verfchiebenartige Anpaflung bei den verſchiede · 
nen Ordnungen zu höchft mannichfaltigen und merfwürbigen Formen 
umgebildet, fo da man fie hauptfächlih zur Unterfheidung und 


Bedeutung der Mundtheile bei den Juſelten. 497 


Eharakteriftit der Hauptabtheilungen der Kaffe verwendet. Zunächſt 
fann man als zwei Hauptabtheilungen "Infelten mit fauenden 
Mundtheilen (Masticantia) und Infetten mit faugenden Mund» 
werfjeugen (Sugentia) unterfceiden. Bei gemauerer Betrachtung 
tann man no fchärfer jede diefer beiden Abtheilungen in zwei 
Untergruppen vertheilen. Unter den Kauinſelten oder Mafticantien 
tönnen wir die beigenden und die leclenden unterfcheiden. Zu den 
Beigenden (Mordentia) gehören die älteften und‘ urfpränglichften 
Infetten, die vier Ordnungen der Urflügler, Nepflügler, Gradflügler 
und Käfer. Die Leckenden (Lambentia) werden bloß durch die 
eine Drdmung der Hautflügler gebildet. Unter den Sauginfelten 
oder Sugentien können wir die beiden Gruppen der ftehenden und 
fhlürfenden unterfgeiden. Zu den Stechenden (Pungentia) ge- 
hören die beiden Ordnungen der Halbflügler und Fliegen, zu den 
Schlürfenden (Sorbentia) bloß die Schmetterlinge. 

Den älteften Infetten, welche die Stammformen der ganzen 
Kaffe (und fomit wahrſcheinlich auch aller Tracheaten) enthalten, 
ſtehen von den heute noch lebenden Inſekten am nächften die beißen» 
den, und zwar die Ordnung der Urflügler (Archiptera oder Pseudo- 
neuropters). Dahin gehören vor allen die Eintagäfliegen (Ephe- 
mera), deren im Waſſer lebende Larven und wahrſcheinlich noch heute 
in ihren Tracheenkiemen die Organe zeigen, aus denen die Inſekten⸗ 
flügel entftanden. Ferner gehören in diefe Ordnung bie befannten 
Wafferjungfern oder Libellen, die flügellofen Zudergäfte (Lepisma) 
und Springfhwänge (Collembola), die Blafenfüger (Physopoda), und 
die gefürchteten Termiten, von denen jich verfteinerte Refte ſchon in 
der Steinkohle finden. Unmittelbar hat fi) wahrſcheinlich aus den 
Urflüglern die Ordnung der Nepflügler (Neuroptera) entwidelt, 
welche ſich von ihnen weſentlich nur durch die volllommene Berwand- 
lung unterſcheiden. Es gehören dahin die Florfliegen (Planipennia), 
die Schmetterlingafliegen (Phryganida), und die Fächerfliegen 


(Strepsiptera). Foſſile Infetten, welche ben Webergang von den 
Hackel, Ratirt. Shöpfungsgeid. 5. Aufl. 32 


198 Stammbaum und Geſchichte der Infelten. 


Urflügfern (ibellen) zu den Nepflüglern (Sialiden) vermitteln, fommen 
ſchon in der Steinfohle vor (Dictyophlebia). 

Aus einem anderen Zweige der Urflügler hat fi durch Diffe- 
renzirung der beiden Flügelpaare fhon frühzeitig die Ordnung der 
®radflügler (Orthoptera) entwidelt. Diefe Abtheilung beftebt 
aus der formenreihen Gruppe der Schaben, Heuſchrecken, Gryllen 
u. f. w. (Ulonata), und aus der Fleinen Gruppe der befannten Ohr⸗ 
würmer (Labidura), welche durch die Kneifgange am hinteren Körper- 
ende audgezeichnet find. Sowohl von Schaben als von Gryllen 
und Heuſchreden kennt man BVerfteinerungen aus der Steinfohle. 

Auch die vierte Ordnung der beigenden Infekten, die der Käfer 
(Coleoptera), fommt bereit® in der Steinfohle verfleinert vor. Diele 
außerordentlich umfangreiche Orbnung, der bevorzugte Liebling der 
Smfektenliebhaber und Sammler, zeigt am deutlichſten von allen, 
welche unendliche Formenmannichfaltigkeit ih dur Anpaffung an 
verfchiedene Lebensverhältniffe äußerlich entwideln farın, ohne daß 
deshalb der innere Bau und die Grundform des Körpers irgendwie 
weſentlich umgebildet wird. Wahrſcheinlich haben ſich die Käfer aus 
einem Zweige ber Gradflügler entwidelt, von denen fie fih weſent ⸗ 
lich nur durch ihre volltonnmene Verwandlung unterfdeiden. 

An diefe vier Ordnungen der beienden Inſekten ſchließt ſich num 
zunächſt die eine Ordnung der ledenden Infelten an, die inter 
eſſante Gruppe der Immen oder Hautflügler (Hymenoptera). 
Dahin gehören diejenigen Inſekten, welche ſich durch ihre entwickelten 
KRulturzuftände,, durch ihre weitgehende Arbeitstheilung , Gemeinde: 
bildung und Staatenbildung zu bemwunderungswärdiger Höhe des 
Geiſteslebens, der intellektuellen Bervolltommnung und der Gharaf- 
terftärte erhoben haben und dadurd) nicht allein die meiften Wirbel- 
lofen, fondern überhaupt die meiſten Thiere übertreffen. Es find dad 
vor allen die Ameifen und die Bienen, fodann die Wespen, Matt 
wespen, Holzwespen, Schlupfweäpen, Gallwespen u. ſ. w. Sie 
tommen zuerft verfleinert im Jura vor, in größerer Menge jedoch erit 


Stammbanm und Geſchichte der Auſekten. 499 


in den Tertiärſchichten. Wahrſcheinlich Haben. fid) Die Hautflügler aus 
einem Zweige entweder ber Urflügfer oder der Repflügler entwickelt. 
Bon den beiden Ordnungen ber ſtechenden Juſekten, den 
Hemipteren und Dipteren, ift die ältere diejenige der Halbflügler 
(Hemiptera), au Schnabelterfe (Rhynchota) genantt.: Dahin 
gehören die drei Unterorbnungen ber Blattläufe (Homoptera); 
der Wanzen (Heteroptera), und der Läufe (Pediculma).” Bon 
erfteren beiden finden‘ ſich foſſile Refte fhon im Jura. Uber ſchou 
im permiſchen Syſtem fommt ein merfwürdiges Inſelt vor (Euge- 
ron), weldes auf die Abftammung der Hemipieren von ben Neurop⸗ 
teren hinzudeuten ſcheint. Wahrſcheinlich find von ben drei Umerord ⸗ 
nungen der Semipteren die äfteften die Humopteren, zu denem außer 
den eigentlichen Blattläufen auch noch die Schilblaͤuſe, die Blattflöhe 
amd die Zirpen oder Cicaden gehören. Aus zwei verſchiedenen Zweĩ⸗ 
gen ‚der Homopteren werben ſich die Käufe durch weitgehende Emar⸗ 
tung (vorzüglich Verluft der Flügel), Die Wangen dagegen durch Vervoll⸗ 
Tommnung (Somderung ber beiden: Flügelpaare) entwickelt haben. 
Die zweite Ordnung der flechenden Inſekten, die Fliegen oder 
Zweiflügler (Diptera) findet fi zwar auch ſchon im Jüta vers 
Reiner neben den Halbflügfern vor; allein diefelben haben fih body 
wahtiſcheinlich erft nachträglich aus den Hemipteren durch Nüdbildung 
der Hinterflügel entwicen. Rur die. Borberflügel find bei ven Die 
pteren volfiämdig geblieben. Die Hauptmaffe diefer Ordnung bilden 
die langgeitredten Müden (Nemooera) und die gebrungenen eigent« 
lichen liegen (Brachyoera), von denen die erſteren wohl älter find: 
Des) finden fi von Beiden ſchon Refte im Jura vor. Durch Dege · 
neration in Folge von Paraſitigmus haben ſich aus ihnen wahrſchein⸗ 
lich die beiden Meinen Gruppen der puppengebärenden Qausfliegen 
(Papipara) und der fpringenben Flöhe (Aphaniptera) entwickelt. 
Die achte und letzte Inſektenordnung, und zugleich die einzige mit " 
wirkfih ſchlurfenden Mundtheiten find die Schmetterlinge 
(Lepidoptera). Dieſe Ordnung erfheint in mehreren. morphologis 
fen Beziehungen als die volltkommenſte Abtheilung ‘ber Infetten und 
32* 


600 Stammbanm und Geſchichte der Infekten. 


bat ſich demgemäß auch erſt am fpäteften entwidelt. Man kennt 
naͤmlich von diefer Ordnung Verfteinerungen nur aus der Tertiärzeit, 
während die drei vorhergehenden Ordnungen bi® zum Jura, die vier 
beißenden Ordnungen dagegen fogar bi® zur Steintohle hinaufreichen. 
Die nahe Verwandtſchaft einiger Motten (Tinea) und Eulen (Noctua) 
mit einigen Schmetterfingäfliegen (Phryganida) macht es wahrſchein ⸗ 
lich, daß ſich die Schmetterlinge aus diefer Gruppe, alfo aus der 
Drdnung der Repflügler oder Neuropteren entwickelt haben. 

Die Sie ſehen, beftätigt Zhnen die ganze Gefchichte der In- 
fettenttaffe und weiterhin auch die Gefchichte des ganzen Arthropoden- 
ſtammes wefentlich die großen Gefepe der Differenzirung und Ber- 
volllommnung, welche wir nah Darwin’3 Gelectionstheorie ala 
die nothwendigen Folgen der natürlichen Züchtung anerkennen müffen. 
Der ganze formenreihe Stamm beginnt in archolithiſcher Zeit mit der 
Tiemenathmenden Klaffe der Krebſe, und zwar mit den niederfien 
Urkrebſen oder Ardicariden. Die Geftalt diefer Urkrebfe, die ſich 
jedenfalls aus Gliediwürmern entwidelten, ift und noch heute in ber 
gemeinfamen Jugendform der verſchiedenen Krebfe, in dem merkwür⸗ 
digen Rauplius, annähernd erhalten. Aus dem Rauplius ent- 
wickelte fih weiterhin die ſeltſame Zo&a, die gemeinfame Jugendform 
alter höheren oder Panzerfrebfe (Malacostraca) und zugleich vielleicht 
dejenigen, zuerft durch Tracheen Luft athmenden Arthropoden , wel⸗ 
cher der gemeinfame Stammvater aller Trache aten wurde. Diefer 
devonifche Stammvater, der zwiſchen dem Ende der Siluyeit und 
dem Beginn der Steintohlenzeit entftanden fein muß, fand wahr 
ſcheinlich von allen jept noch lebenden netten den Urflüglern oder 
Archipteren am nächſten. Aus ihm entwidelte fi als Haupt ⸗ 
ftamm der Tracheaten die Inſekten klaſſe, von deren tieferen Stu⸗ 
fen fich frühzeitig als zwei divergente Zweige die Spinnen und 

"Taufendfüßer ablöften. Bon den Inſekten eriftirten lange Zeit 
hindurch nur die vier beigenden Ordnungen, Urflügler, Repflügler, 
Gradflügler und Käfer, von demen die erfte wahrfcheinlich die ge- 
meinfame Stammform der drei anderen iſt. Erſt viel fpäter ent- 


Stammbaum und Geidichte der Juſelten. 501 


widelten ſich aus den beienden Inſekten, welche die urfprüngliche 
Form der drei Kieferpaare am reinften bewahrten, als drei divergente 
Zweige die ledenden, jtechenden und fehlürfenden Inſekten. Wie 
diefe Ordnungen in der Erdgefchichte auf einander folgen, zeigt Ihnen 
nochmals uͤberſichtlich die nachſtehende Tabelle. 


. Urflgler ML 





























" Arehipten A. 4. 
[% 1. Beißende |” — * 7 Zuerſ 
Suetten | Suſerten |, Ge u net 
zit Orthoptera ı D.| Steintopie 
Tauenden 4. Käfer n.c 
Rundtpeiten coieoptera AD. 
I. Ledenbe 5. Sentflügler “.c 
Infelten " | “ 
Hymenoptera | A. A. Buch 
Tambensia ne: 
6. Salbflügler JA. 1. J verſteinert 
*. I. Stechen de Hemiptera F al ms 
Infetten Infetten 5, griegen. yM.c. 
mit Diptera A. D. 
ſangenden wv. Sqchlur⸗ Zuerſt 
Mundtheilen 8. Sämetterfinge verfteinert 
j fende Infelten Lepidoptera TA. A. 
agentin Borbensin. im Tertiär 





Anmerkung: Bei den acht eimelnen Ordnungen ber Inſelten ift zugleich 
der Unterfchieb-in der Metamorpheſe oder Berwanblung und im ber Flagelbildung 
duch folgende Buchſtaben angegeben: M. I. — Unvolfändige Detamorphofe. 
=. C. — Bolländige Metamorpheſe (Bergl. Gen. Morph. II, 8.XCIX), A. A. 
— Sleichartige Flügel (Border- und Hinterflügel im Bau und Gewebe nicht ober 
nur wenig berfdieben). A. D. — Ungleichartige Flügel (Borber- und Hinter- 
flügel durch ſtarke Differenzirung im Bau und Gewebe fehr verſchieden). 


Zwanzigſter Vorteng. 


"Stahnabarim und Geſchichte des Thierreichs. 
| 0. Hk Wirbelthiere. " 





\ 
Kun . 

Die Scöpfungsurkunben der Wirbelthiere. (Vergleichende Anktoemie, Eumbeyo- 
Togie und Paldorttolegie.) Das matikeliche Syſtem der Wirbelthiere. Die vier 
affen der Wäbeithiere von Fine und Lamard. Bermehrung derfefben auf neun 
alaſſen. Oauptllaſſe ber Rohrherzen oder Schäbellofen (Lampeitfiere). Blutßber- 
wandtſchaft des Schäbeflofen mit den Mantelthieren. Uebereinftänmung der em · 
bryonalen Entwidelung von Amphiogus und vom den Aseibi Urfprung des 
Wirbelthierſtammes aus der Wiürmergruppe. Hauptllafie der ſen oder 
Rundmänler (Inger und Lampreten). Haupttlaſſe der Anamnien oder Anmion 
ofen. Fiſche Alrfifche, Schmelzfiſche, Knohenfilce). Lurchfiſche oder Dipneuften. 
Seedrachen oder Halifanrier. Funde oder Amphibien Bamerlunke, Rodtturder. 
Haupfflafie der Ammionthiere oder Amnioten. Reptilien (Stammreptilien, Cidech 
fen, Schlangen, Crocodile, Schäbtröten, Flugreptilien, Drachen, Squebeltepti - 
Ten). : Bögel (Gieberfätmängige, Facherſchwanzege, Büfdielfcgeänzige). 


Meine Herren! Unter den natürlichen Hauptgruppen der Drga- 
nidmen, welche wir wegen der Blutsverwandtfchaft aller darin ver- 
einigten Arten ald Stämme oder Phylen bezeichnen, ift feine ein- 
sige von fo hervorragender und überwiegender Bebeutung, als der 
Stamm der Wirbeithiere. Denn nad dem übereinftimmenden Ur- 
theil aller Zoologen ift auch der Menſch ein Glied dieſes Stammes, 
und fann feiner ganzen Organifation und Entwidelung nad un 
möglich von den übrigen Wirbelthieren getrennt werden. Wie wir 
aber aus der individuellen Entwidelungsgefchichte des Menſchen ſchon 


Die Sqhopfungsurtunden ber Wirbelthiert. 503 
früher die unbefiveitbare Thatfache erfannt haben, daß derfelbe in 
feiner Entwidelung aus dem Gi anfänglich nicht von den übrigen 
Wirbelthieren, und namentlich den Säugethieren, verſchieden ift, fo 
mäflen wir nothwendig mit Beziehung auf feine paläontologifhe 
Entwidelungsgefhichte ſchließen, daß das Menſchengeſchlecht fh Hifto- 
riſch wirklich aus niederen Wirbelthieren entwidelt hat, und daß 
daſſelbe zunächit von den Säugethieren abſtammt. Diefer Umftand 
einerfeit®, anderfeit® aber das vielfeitige höhere Intereſſe, das auch 
in anderer Beziehung die Wirbelthiere vor den übrigen Organismen 
in Anfpruch nehmen, wird es rechtfertigen, daß wir den Stamm⸗ 
baum der Wirbelthiere und deffen Ausdrud, dad natürliche Syitem, 
hier befonder3 genau unterſuchen. 

Glüdlicherweile find die Schöpfungsurtunden, melde und bei 
der Aufitellung der Stammbäume immer leiten müffen, grade für 
diefen wichtigen Thierſtamm, aus dem unfer eigenes Geſchlecht ent 
ſproſſen ift, befonderd vollftändig. Durch Cuvier ift fhon im An— 
fange unfered Jahrhunderts die vergleichende Anatomie und Paläon- 
tologie, durh Bär die Ontogenie der Wirbelthiere zu einer fehr 
hohen Ausbildung gelangt. Späterhin haben vorzüglich bie ver« 
gleichend - anatomischen Unterfuchungen von Johannes Müller 
und Rathte, und in neuefter Zeit diejenigen von Gegenbaur 
und Huzley unfere Erfenntniß von den natürlichen Berwandtichafte- 
verhältniffen der verſchiedenen Wirbelthiergruppen bedeutend gefor⸗ 
dert. Insbeſondere haben die klaſſiſchen Arbeiten von Gegenbaur, 
welche überati von dem Grundgedanfen der Defcendenztheorie durch» 
drungen find, den Beweis geführt, daß das vergleichend -anatomifche 
Material, wie bei allen übrigen Thieren, fo ganz bejonder® im 
Wirbelthierſtamm, erft durch die Anwendung der Abftammungslehre 
feine wahre Bedeutung und Geltung erhält. Auch hier, wie überall, 
find die Analogien auf die Anpaffung, die Homologien 
auf die Vererbung zurüdzuführen. Wenn wir fehen, daß die 
Gliedmaßen der verſchiedenſten Wirbelthiere trop ihrer auferorbent« 
lich verfchiedenen äußeren Form dennoch weſentlich denfelben inneren 


504 Die Schöpfungsurtunden der Wirbelthiere. 


Bau befigen, wenn wir fehen, daß dem Arme des Menfchen und 
des Affen, dem Flügel der Fledermaus und des Bogelö, der Bruft- 
floffe der Walfifche und der Seedrachen, den Vorderbeinen der Huf- 
thiere und der Froͤſche immer diefelben Knochen in derfelben dharakte- 
riſtiſchen Lagerung, Gliederung und Verbindung zu Grunde liegen, 
fo fönnen wir dieſe wunderbare Uebereinftimmung und Homologie 
nur durd) die gemeinfame Vererbung von einer einzigen Stamm- 
form erflären. Die auffallenden Unterfchiede diefer homologen Kör- 
pertheile dagegen rühren von der Anpaffung an verſchiedene Eri- 
ftengbedingungen her (vergl. Taf. IV, ©. 363). 

Ebenfo wie die vergleihende Anatomie ift aud die Ontogenie 
oder die individuelle Entwickelungsgeſchichte für den Stammbaum 
der Wirbelthiere von ganz befonderer Wichtigkeit. Die erften aus 
dem Ei entftehenden Entwidelungszuftände find bei allen Wirbel- 
thieren im Wefentlichen ganz gleich, und behalten um fo länger ihre 
Mebereinftimmung,, je näher fi) die betreffenden auögebildeten Wir- 
beithierformen im natürlichen Syftem, d. h. im Stammbaum, ftehen. 
Wie weit diefe Webereinftimmung der Keimformen oder Embryonen 
ſelbſt bei den höchſt entwidelten Wirbelthieren noch jept geht, das 
habe ih Ihnen ſchon früher gelegentlich erläutert (vergl. ©. 264 — 
276). Die völlige Webereinftimmung in Form und Bau, welde z. B. 
zwiſchen den Embryonen des Menfchen und ded Hundes, des Vogels 
und der Echildfröte felbft noch in den auf Taf. II und III darge 
ftellten Entvidelumgsjuftänden befteht, ift eine Thatſache von uner- 
meglicher Bedeutung und liefert und die widhtigften Anhaltspunkte 
zur Conſtruction des Stammbaums. 

Endlich find auch die paläontologifhen Schoͤpfungsurkunden 
grade bei den Wirbelthieren von ganz beſonderem Werthe. Denn 
die verſteinerten Wirbelthierreſte gehören großtentheils dem kndchernen 
Skelete dieſer Thiere an, einem Organſyſteme, welches für das Ver - 
ſtaͤndniß ihres Organismus von ber größten Bedeutung iſt. Aller- 
dings ift auch hier, wie überall, die Verfteinerungdurfunde äußerft 
unvollftändig und lüdenhaft. Allein immerhin find und von den 


Die vier Klaſſen der Wirbelthiere von Linne. 505 


ausgeſtorbenen Wirbefthieren wichtigere Refte im verfteinerten Zu- 
ftande erhalten, als von den meiften anderen Thiergruppen, und 
einzelne Trümmer geben oft die bedeutendften Fingerzeige über das 
Verwandiſchaftsverhaͤltniß und die hiftorifhe Aufeinanderfolge der 
Gruppen. " 

Die Bezeichnung Wirbelthiere (Vertebrata) rührt, wie ich 
ſchon früher erwähnte, von dem großen Lamarck her, welcher zu- 
erft gegen Ende de3 vorigen Jahrhunderts unter diefem Namen die 
vier oberen Thierklaſſen Linne's zufammenfaßte: die Säugethiere, 
Bögel, Amphibien und Fifhe. Die beiden niederen Klaffen Linné's, 
die Inſelten und Würmer, ftellte La marck den Wirbelthieren ge⸗ 
genüber als Wirbellofe (Invertebrata, fpäter aud) Evertebrata 
genamnt). 

Die Eintheilung der Wirbelthiere in die vier genannten Klaſſen 
wurbe auch von Cuvier und feinen Nachfolgern, und in Folge deſſen 
von vielen Zoologen noch bis auf die Gegenwart feftgehalten. Aber 
ſchon 1822 erkannte der auögezeichnete Anatom Biainvilie aus 
der vergleichenden Anatomie, und faft gleichzeitig unfer großer Em⸗ 
bryologe Bär aus der Ontogenie der Wirbelthiere, dag Linné'd 
Klaſſe der Amphibien eine unnatürliche Vereinigung von zwei ganz 
verſchiedenen Klaffen fei. Diefe beiden Klaffen hatte {don 1820 
Merrem aldzwei Hauptgruppen der Amphibien unter dem Namen 
der Pholidoten und Batrachier getrennt: Die Batrachier, welche 
heutzutage gewoͤhnlich als Amphibien (im engeren Sinne!) 
bezeichnet werden, umfaflen die Fröfche, Salamander, Kiemenmolche, 
Gäcilien und die audgeftorbenen Labyrinthobonten. Sie ſchließen fih 
in ihrer ganzen Organifation eng an die Fifche an. Die Pholi— 
doten oder Reptilien dagegen find viel näher den Vögeln ver- 
wandt. Es gehören dahin die Eidechſen, Schlangen, Krokodile und 
Schildkröten und die vielgeftaftige Yormengruppe der mefolithifchen 
Drachen (Dinosauria), der fliegenden Reptilien u. f. w. 

Im Anſchluß an diefe naturgemäße Scheidung der Amphibien 
in zwei Klaffen teilte man nun’ den ganzen Stamm der Wirbelthiere 


506 Einteilung der Wirbelthiere in ueun Klaſſen. 


in zwei Hauptgruppen. Die erfie Hauptgruppe, die File und Am- 
phibien, athmen entweder zeitleben® oder doch in der Jugend durch 
Kiemen, und werden daher ald Kiemenwirbelthiere begeichnet 
(Branchiata oder Anallantoidia). Die zweite Hauptgruppe dagegen, 
Reptilien, Vögel und Säugethiere, athmen zu feiner Zeit ihres Le 
bens durch Kiemen, fondern ausſchließlich durch Lungen, und hei⸗ 
ben deshalb auch paſſend kiemenlofe ‚oder Lungenwirbelthiere 
(Ebranchiata oder Allantoidia). So richtig diefe Unterſcheidung 
auch iſt, fo können wir doch bei derfelben nicht ftehen bleiben, wenn 
wir zu einem wahren natürlichen Syſtem des Wirbelthierftammes, 
und zu einem naturgemaͤßen Berftändnig feines Stammbaums ges 
langen wollen. Bielmehr müſſen wir dann, wie ich in meiner gene 
tellen Morphologie gezeigt habe, noch drei weitere Wirbelthierflaifen 
unterſcheiden, indem wir die bißherige Fiſchllaſſe in vier verſchiedene 
Klaffen auflöfen (Gen. Morph. Bd. IL, Taf. VIL ©. CXVI-CLX). 

Die erfte und niederfte von diefen Klaffen wird durch die Schä- 
dellofen (Acrania) oder Rohrherzen (Leptocardia) gebildet, 
von denen heutzutage nur noch ein einziger Repräfentant lebt, das 
merkwürdige Lanzetthierchen (Amphioxus lanceolatus), Als 
zweite Klaſſe ſchließen ſich an diefe zunächft die Unpaarnafen (Mo- 
norhina) oder Rundmänler(Cyclostoma) an, zu denen die Inger 
Moginoiden) und die Lampreten (Betrompgonten) gehören. Die dritte 
Klaſſe erft würden die echten Fi fche(Pisces) bilden und an diefe wür« 
den ſich als vierte Klafje die Lurchfi ſche (Dipneusta) anſchließen: 
Uebergangsformen von den Fifchen zu den Amphibien. Durch diefe 
Unterfheidung,, welche, wie Sie gleich fehen werden, für die Genea- 
logie der Wirbelthiere fehr wichtig ift, wird die urſpruͤngliche Vierzahl 
der Wirbelthierfiaffen auf da® Doppelte gefteigert. 

In neuefter Zeit endlich ift noch eine neunte Wirbelthierklafſe 
zu dieſen acht Klaſſen hinzugefommen. Durch die kürzlich veröffent« 
lichten vergleihend-anatomifhen Unterfuhungen von Gegenbaur 
nämlich hat ſich herauägeftellt, daß die merkwürdige Abteilung der 
Seedrachen (Halisauria), welche man bisher unter den Reptilien 


Neun Maſſen und vier Haupttlaſſen ber Wirbelthiere. 507 


aufführte, weit von dieſen verſchieden und als eine beſondere Kaffe 
anzufehen iſt, welde ſich noch vor den Amphibien von dem Bir- 
belthierſtamme ahgezweigt hat. Es gehören dahin, die berühmten 
großen Ichthyoſauren und Plefiofauren der Jura - und Kreidggeit, 
und. die älteren Simofauren der Triaszeil, welche ſich alle näher an 
die Fiſche als an die Amphibien anfchließen. 

Diefe neun Klaffen der Wirbelthiere find aber leineswegs von 
gleichem genealogiſchen Werthe. Vielmehr müſſen wir dieſelben in 
der Weiſe, wie es Ihnen bereits die ſyſtematiſche Ueberſicht auf 
©. 448 zeigte, auf vier verſchiedene Haupiklaſſen vertheilen. Zu— 
nächft fönnen. wir die drei hochſten Klaſſen, die Saugethiere, Bögel 
und Schleicher ald eine natürliche Hauptklaffe unter dem Namen 
der Amnionthiere (Amniota) zufammenfaifen. Diefen ftelien ſich 
naturgemäß: al8 eine zweite Hauptflaffe die Amnionlofen (Anam- 
nia) gegenüber, nämlich die vier Klaſſen der Lurche, Seedrachen. 
Lurchſiſche und Fifche. Die genannten fieben Klaſſen, ſowohl bie 
Ammionlofen als: die Amnionthiere, ftunmen unter ſich in zahlreichen 
Merkmalen überein, din; welche fie ſich von den beiden nieberften 
Klaſſen (det Unpnarnafen und Rohrherzen) unterſcheiden. Wir fön- 
nen fie daher in der natürlichen Haupigruppe der Paarnafen 
(Ampkirrhina) vereinigen. Endlich find diefe Paarnaſen wiederum 
viel näher den Rundmäulen oder Unpaarnaſen, ald den Schädelr 
tofen oder Rohrherzen verwandt. Wir können daher mit vollem 
Rechte die Paarnaſen mit den Unpanmafen in einer oberften Haupt» 
geuppe zuſammenſtellen und diefe als Schäbdelthiere (Craniota) 
ober Gentralherzen (Pachycardia) der einzigen Klaſſe der Schä- 
dellofen oder Rohrherzen gegenüberftellen. Dur diefe, von mir 
vorgeſchlagene Klaffifitation der Wichelthiere wird es möglich, die 
wichtigften geuealogiſchen Beziehungen ihrer neun Kiaſſen Mar zu über- 
fehen. Das ſyſtematiſche Verhältniß diefer Gruppen zu einander läßt 
fich durch folgende Meberfiht kutz audbräden. 


508 Syſtematiſche Ueberficht der nenn BWirbelthierflafien. 








A. Sqchädelloſe (Acrania) 1. Rohrhergen 1. Leptocardia 


a. Unpaarnafen 
. PAARE | 2. Rundmänler 2. Cyclostome 
Shäelthiere I. Amnion- ( 3- Bilde 3. Pisces 
‚Craniote) ) b. Baar- loſe 4. Zrrthfiche 4. Dipneusta 
oder naſen Anamnia Fr — —— 


Sentralberzen | Ampkir jr Ynnion i 
p “( 7. Säleiher 7. Reptilie 
(Pachycardia) rkina thiere 8. Bögel 8. Ave 


9. Säugeifiere 9. Mammalis 


Amniota 


Auf der niebrigften Organifationdftufe von allen uns bekannten 
Wirbeithieren ſteht der einzige noch lebende Vertreter der erften Rlaffe, 
das vanzetfiſchchen oder Lanzetthierchen (Amphioxus lan- 
coolatus) (Taf. XIII, Fig. B). Diefes hochſt intereffante und wichtige 
Thierchen. welches über die älteren Wurzeln unſeres Stammbaumes 
ein überrafchendes Licht verbreitet, ift offenbar ber legte Mohikaner, 
der legte überlebende Repräfentant einer formenreihen niederen Wir ⸗ 
beltbierllajie. welche während der Primordialgeit fehr entwiclelt war, 
und aber leider wegen des Mangels aller feſten Skelettheile gar feine 
verfleinerten Refte binterlaffen formte. Das leine Langetfiſchchen lebt 
beute noch weitverbreitet in verſchiedenen Meeren, 3. B. in der Oſt ⸗ 
fee. Rordiee, im Wittelmeere, gewöhnlich auf flachen Grunde im 
Sand vergraben. Der Körper hat, wie der Name fagt, die Geflalt 
eine® ſchmalen. an beiden Enden zugeſpißten, Iangetförmigen Blattes. 
Ewadſen it dajielbe etwa zwei Zoll lang, und röthlich ſchimmernd. 
dald durchſichtig. Aeußerlich hat das Langetthierchen jo wenig Aehn- 
liebfeit wit einem Wirbelthier, daß fein erfter Entbeder, Ballas, 
& für eine unvollkommene Rachtſchnece hielt. Beine befigt es nicht 
und ebenfowenig Kopf. Schädel und Gehim. Das vordere Körper 
ende ift aͤußerlich von dem hinteren faft nur durch die Munddffnung 
au unterſcheiden. Aber dennoch befigt der Amphiorus in feinem im 
nerven Bau die wichtigften Merkmale, durch welche fih alle Wirbel- 
tbiere von allen Wirbeflofen unterfcpeiden, vor allem den Rüdenftrang 


Schäbellofe oder Rohrherzen. Lanzetthierden oder Amphierus. 509 


und dad’ NRüdenmart. Der Nüdenftrang (Chorda dorsalis) ift 
ein cylindriſcher, vorn und hinten zugefbigter, grader Knorpelſtab, 
welcher die centrale Are des inneren Stelet® und die Grundlage ber 
Wirbelfäule bildet. Ummittelbar über diefem Rückenſtrang, auf der 
Nücenfeite deffelben, liegt da8 Nüdenmart (Medulla spinalis), 
ebenfalls urfprüngli) ein grader, vorn und hinten zugefpipter, in« 
wenbig aber hohler Strang, welcher das Hauptftüd und Centrum des 
Nervenfyftems bei allen Wirbeithieren bildet (vergl. oben ©. 270). 
Bei allen Wirbelthieren ohne Ausnahme, auch den Menfchen mit in» 
begriffen, werben dieſe wihtigften Rörpertheile während der embryos 
nalen Entwidelung aus dem Ei urfprünglic in derſelben einfachften 
Form angelegt, welche fie beim Amphioyus zeitlebens behalten. Erſt 
fpäter entwidelt ſich durch Auftreibung des vorderen Endes aus dem 
Nüdenmart das Gehim, und aus dem Rüdenftrang der dad Gehirn 
umſchließende Schädel. Da bei dem Amphiorus diefe beiden wichtis 
gen Organe gar nicht jur Entwidelung gelangen, fo können wir bie 
durch ihn vertretene Thierktaffe mit Recht ald Schädellofe (Acrania) 
bezeichnen, im Gegenfag zu allen übrigen, ben Schädelthieren 
(Craniota). Gewöhnlich werden die Schädellofen Rohrherzen oder 
NRöbrenherzen (Leptocardia) genannt, weil ein centralifirted Herz 
noch fehlt, und das Blut durch die Zufammenziehungen der röhren- 
fürmigen Blutgefäße ſelbſt im Körper umbergetrieben wird. Die Schä⸗ 
delthiere, welche dagegen ein centralifirte®, beutelförmiges Herz be- 
figen, müßten dann im Gegenfap dazu Beutelherzen ober Gen- 
tralherzen (Pachycardia) genannt werben. 

Dffenbar haben fi) die Schädelthiere oder Gentralherzen erft in 
fpäterer Primordialzeit aus Schädellofen oder Rohrherzen, welche dem 
Amphiorus nahe ftanden, allmählich entwidelt. Darüber läßt und 
die Ontogenie der Schäbdelthiere nicht in Zweifel. Wo flammen nun 
aber biefe Schädeltofen felbft her? Auf diefe wichtige Frage hat un, 
wie ich ſchon im vorlepten Vortrage erwähnte, erft die jüngfte Zeit 
eine hochſt überrafchende Antwort gegeben. Aus den 1867 veröffent« 
lichten Unterfuhungen von Komwalemäfi über die individuelle Ent⸗ 


510 Blnteverwanbtfchaft ber Schäbellofen und Seeſcheiden. 

widelung de Amphiorus und der feftfipenden Seefcheiden (Ascidiae) 
[au8 der Klaſſe der Mantelthiere (Tunicata)] hat ſich ergeben, das 
die Ontogenie diefer beiden ganz verſchiedenen Thierformen in ihrer 
erften Jugend merkwürdig übereinftimmt. Die frei umherſchwimmen · 
den Larven der Ascidien (Taf. XII, Fig. A) entwideln die ungwei- 
felbafte Anlage zum Rüdenmart (Fig. 5g) und zum Rückenſtrang 
(Fig. 56) und zwar ganz in derfelben Weife, wie der Amphiorus 
(Taf. XII, Fig. B). Allerdings bilden fie diefe wihtigften Organe 
de Wirbeltbierkörpers ſpäterhin nicht weiter aus. Bielmehr geben 
fie eine rüdfchreitende Berwanblung ein, fegen ſich auf dem Meered- 
boden feit, und wachſen zu unförmlichen Klumpen aus, in denen man 
taum noch bei äußerer Betrachtung ein Thier vermuthet (Taf. XIII 
Fig. A). Allein das Rüdenmart, ald die Anlage des Centralnewen ⸗ 
foftem®, und der Rüdenftrang,, als die erſte Grundlage der Wirbel 
ſaule. find fo wichtige, den Wirbelthieren fo ausſchließlich eigenthüm- 
liche Organe, daß wir daraus ſicher auf die wirkliche Blutsverwandi · 
ſchaft der Wirbelthiere mit den Mantelthieren ſchliehen können. Ra» 
türtich wollen wir damit wicht fagen, daß die Wirbelthiere von den 
Mantelthieren abftammen, ſondern nur, daf beide Gruppen aus ge- 
meinfamer Wurzel entſproſſen find, und daß die Mantelthiere von 
atten Wirbelloſen diejenigen find, welche die naͤchſte Blutövertvandt- 
ſchaft zu den Wirbelthieren befipen. Dffenbar haben ſich mährend 
der Primordialzeit die echten Wirbelthiere (und zwar zunaͤchſt bie 
Schädellofen) aus einer Wiürmergruppe fortſchreitend entwidelt, aus 
welcher nach einer anderen, rüdfchreitenden Richtung hin die degene- 
rirten Manteltbiere bervorgingen. (Vergl. bie nähere Erklaͤrung von 
Taf. XII und KIH im Anhang.) 

Aus den Schädellofen bat fich zumächft eine zweite niebere Rlaile 
von Wirbelthieren entwidelt,, welche noch tief unter den Fiſchen ſtebt 
umd melde in der Gegenwart nur dunh die Inger (Murineiden) 
und Yaınpreten (Petrommzonten) vertreten wird. Auch diefe Mae 
konnte wegen ded Mangels aller fen Körpertheile leider eben io 
wenig als die Schädellofen verſteinerte Mefte hinterlaſſen. Aus ihrer 








Ascrtia I und Amphinwus #) Tay am 
J 








—— 


Unpaarnafen ober Rumbmänfer (Anger und Lampreten). 511 


ganzen Drganifation und Ontogenie geht aber deutlich hervor, daß 
fie eine fehr wichtige Mittelftufe zwiſchen den Schäbellofen und den 
Fifchen darftellt, und daß die wenigen noch Iebenden Glieder berfelben 
nur bie letzten überlebenden Reſte von einer gegen Ende der Primor- 
dialzeit vermuthlich reich entwidelten Thiergruppe find. Wegen bes 
freisrunden, zum Saugen verwendeten Maules, das die Inger und 
Lampreten beſitzen, wird die ganze Klaſſe gemöhnlid Rundmäuler 
(Cyelostoma) genannt. Bezeichnender noch ift der Name Unpaar⸗ 
nafen (Monorhina). Denn alle Eycloftomen befigen ein einfaches 
unpaares Nafenrohr, während bei allen übrigen Wirbelthieren (wie⸗ 
der mit Ausnahme de3 Amphiorus) die Naſe aus zwei paarigen 
E*itenhälften, einer rechten und linken Nafe, befteht. Wir konnten 
deshalb diefe Iepteren (Anamnien und Amnioten) auch als Paar: 
nafen (Amphirhina) zufammenfaften. Die Paarnafen befigen 
fämmtli ein ausgebildete Kieferffelet (Oberkiefer und Unterkiefer), 
während biefed den Unpaarnafen gänzlich fehlt. 

Auch abgeſehen von ber eigenthümlichen Naſenbildung und dem 
Mangel der Kieferbildung unterfheiden ſich die Uwaarnaſen von den 
Paarnafen noch durch viele andere Eigenthümlichteiten. So fehlt 
ihnen namentlid) ganz das wichtige ſympathiſche Nervennep und die 
Milz der fepteren. Bon der Schtoimmblafe und den beiden Beinpaa- 
ren, welche bei allen Paarnaſen wenigftend in ber Aften Anlage vor 
banden find, fehlt den Unpaarnaſen (ebenfo wie den Schäbellofen) 
nod jede Spur. Es ift daher gewiß ganz gerechtfertigt, wenn wir 
ſowohl die Monorhinen ald die Schädelloſen gänzlich von den Fiſchen 
trennen, mit denen ſie bis jebt in berfömmlicher, ber irthümlicher 
Weiſe vereinigt waren. ; 

Die erfte genauere Kenntniß der Monorhinen dder Cycloſtomen 
verdanfen wir dem großen Berliner Zoologen Johannes Müller, 
deffen klaſſiſches Werk über die „vergleichende Andtomie der Myji⸗ 
noiden“ die Grundlage unferer neueren Anfichten de den Bau der 
Wirbelthiere bildet. Er unterfhied unter den Cyelöftomen zwei ver- 
fhiedene Gruppen, welden ‚wir den Werth von Unterklaſſen geben. 


512 


Syftematifche Ueberfict 
der 4 Hauptllaffen, 9 Klaffen und 27 Unterflafien der Wirbelthiere. 
Gen. Morph. Bd. II, Taf. VII, 8. CXVI-CLX. 








1. Shädehofe (Asrania) ober Rohrherzen (Leptocardia) 
Wirbelthiere ohne Kopf, ohue Schäbel und Gehen, ne ertraifites vn 


i. ganhuoie U Roßrfergem |. gumeitiee _ Amphionida 








IL. Scielthlere (Cramiote) oder Eentralherien (Pachyoardia) 
¶Wirbelthiere mit Kopf, mit Schädel und Gehten, mit centralifirtem Herzen. 


























Genpitefen | Alfen . Muierkfen | Sekematilde 
der der der NAame der 
⸗idelthiere Sadetthier⸗ Schaͤdelthiere Anterklafen 
. Inger ober 3. Hyperotreia 
2. Unpaerunfen F game)! (Myzinoida) 
Monorhins 3. Zampreten ober 3. H; 
Briden (Petromyaoatia) 
un Bifge F 4. Belschli 
2 nie 3 Ganoiden 
I. turdfife j 7. Eimkunger 7. Monopneamone 
3. Amnionfofe Dipneusta 8. Zweilunger : Prag 


Anamnia Urdrachen 
V. Seedrachen ſud. jendra- 10. 

Sr L] R Schlangenbra- 
. diſchdrachen 11. Ichthyosauria 
v1. 2urge jı2, dn 12. Phractamphibi 
4 j. : Bengertune phibin 

14. Stammreptilien 14. Tooosauria 

15. Eidechſen 15. Lacertilia 

16. Schlangen 16. Ophidia 
vu. Sqle icher a. Erocobile 17. Crocodilia 


4. Umnionthiere den 
Amnlota 22. Fiederſchwän- 22. 82urur⸗⸗ 


VI. Vogel 128. icherſchwän- 23. Cariustae 
Are⸗ e 
2 Bhfgelfcmän- 24. Ratitse 
zige 
IX. Sängethiere 25. Kloalentiere 25. Monotrema 
Mammalia  :36. 


Stammbaum der Wirbelthiere. 513 








9 Güngeibiere | 
Zweilunger 8. Bögel 


Dipneumones ° Avos 


Einlunger 7. 
Monopneumones Reptilia 





Ruodenfifhe " - Wnınionthiere 
Tel . 
leostei 4. „other Amniota 


Schmehfifche 5, Seedrachen 6 elehe 
Ganoidei Halisauria Amphibia 


| | 
Auräffge 


Dipneuste 
| PB — PR 
.—  Petromysoni [yzinoi 
Urfifdje. Selachii 
N Pisces 


3 
PR Amphirhina "2 Rundmänfer 


Cyclostoma 


Unpasrnafen. Monorhina 
Shüdelthiere. Oraniota 





4. 


— — 
Sgadenloſt 
Wirbelthiere 
. Vertebrate 


Wantefthiere | 





Tuniosta 


| 
Chomathiere 
Chordonia 


Würmer 


Vermes 








Hacdel, Natürl. Shöpfungsgeid. 5. Aufl. 33 


514 Unpaarnafen (Monorhinen). Paarnafen (Amphirhinen). 

Die erfte Unterflaffe find die Inger oder Schleimfiſche 
(Hyperotreta oder Myxinoida). Sie leben im Meere ſchmaroßend 
auf Fiſchen, in deren Haut fie fih einbohren (Myxine, Bdellostoma). 
Im Gehörorgan befigen fie nur einen Ringcanal, und ihr unpaared 
Nafenrohr durhhohrt den Gaumen. Höher entwidelt ift die zweite 
Unterklaje, die Lampreten oder Priden (Hyperoartia oder 
Petromyzontia). Hierher gehören die allbefannten Flußpriden oder 
Neunaugen unferer Flüſſe (Petromyzon fluviatilis) ‚- deren Belannt- 
haft Sie wohl Alle im marinirten Zuftande fhon gemacht haben. 
Im Meere werden diefelben durch die mehrmals größeren Seepriden 
oder die eigentlihen Qampreten (Petromyzon marinus) vertreten. 
Bei diefen Unpaarnafen durchbohrt das Nafenrohr den Gaumen nicht, 
und im Gehörorgan finden fid) zwei Ningcanäle. 

Alle Wirbelthiere, welche jegt noch leben, mit Ausnahme der 
eben betradhteten Monorhinen und des Amphiorus, gehören zu ber- 
jenigen Hauptgruppe, welche wir als Paarnafen (Amphirhina) 
oder Kiefermünbige (Gnathostoma) bezeichnen. Alle diefe Thiere 
befigen eine aus zwei paarigen Seitenhaͤlften beſtehende Naſe, ein Kie- 
ferſtelet, ein ſympathiſches Nervennetz, drei Ringkanaͤle im Gehöror ⸗ 
gan und eine Milz. Alle Paarnaſen beſißen ferner eine blaſenförmige 
Ausõſtulpung des Schlundes, welche ſich bei den Fiſchen zur Schwimm ⸗ 
blaſe, bei den übrigen Paarnaſen zur Lunge entwidelt hat. Endlich 
ift urfprüngfich bei allen Paarnaſen die Anlage zu zwei paar Ertre- 
mitäten oder Gliedmaßen vorhanden, ein paar Borderbeine oder Bruft- 
floffen, und ein paar Hinterbeine oder Bauchfloffen. Allerdings üt 
bisweilen das eine Beinpaar (3. B. bei den Aalen und Walfifhen) oder 
beide Beinpaare (5. B. bei den Caecilien und Schlangen) verfümmert 
oder verloren gegangen; aber felbft in diefen Fällen ift wenigſtens die 
Spur ihrer urfprünglichen Anlage in früher Embryonalzeit zu finden, 
oder es bleiben unnüge Reſte derfelben ald rudimentäre Organe durch 
das ganze Xeben beftehen (vergl. oben ©. 13). 

Aus allen diefen wichtigen Anzeichen können wir mit voller 
Sicherheit fepliegen, daß fämmtliche Paamafen von einer einzigen 


Vorfiſche und Fifche. 515 


gemeinfhaftlihen Stammform abftamen , welche während der Pri- 
morbdialzeit direft oder indireft ſich aus den Monorhinen entwidelt 
hatte. Diefe Stammform muß die eben angeführten Organe, na- 
mentlich auch die Anlage zur Schwimmblafe und zu zwei Beinpaaren 
ober Floſſenpaaren befeifen haben. Bon allen jept lebenden Paar- 
nafen ftehen offenbar die nmiederften Formen der Haififche diefer 
längft auögeftorbenen, unbefannten, hypothetiſchen Stammform, 
welche wir ald Stammpaamafen oder Borfifche (Proselachii) be 
zeichnen fönnen, am nächſten (vergl. Taf. XII). Wir dürfen daher 
die Gruppe der Urfifhe oder Seladier, in deren Rahmen diefe 
Proſelachier hineingepaßt haben, als die Stammgruppe nicht allein 
für die Fifchklaffe, fondern für die ganze Hauptflaffe der Paarnafen 
betrachten. Den fiheren Beweis dafür liefern die „Unterfuchungen 
zur vergleichenden Anatomie der Wirbelthiere" von Earl Gegen- 
baur, welche fi ebenfo durch die forgfältigfte Beachtung, wie 
durch die ſcharfſinnigſte Reflexion auszeichnen. 

Die Klaſſe der Fifche (Pisces), mit welcher yoir demgemäß die 
Reihe der Paarnafen beginnen, unterfcheidet fi) von den übrigen 
ſechs Klaſſen diefer Reihe vorzüglich dadurch, dag die Schwimmblafe 
niemals zur Qunge entwidelt, vielmehr nur als hydroſtatiſcher Apparat 
thätig ift. In Nebereinftimmung damit finden wir den Umftand, daß 
die Nafe bei den Fiſchen durch zwei blinde Gruben vorm auf der 
Schnauze gebildet wird, welche niemals den Gaumen durchbohren und 
alfo nie in die Rachenhohle münden. Dagegen find die beiden Na- 
fenhöhfen bei den übrigen ſechs Klaſſen der Panrnafen zu Luftwegen 
umgebildet, welche den Gaumen durchbohren und fo den Lungen 
Luft zuführen. Die echten Fiſche (nach Ausflug der Dipneuften) 
find demnach die einzigen Paarnaſen, welche ausſchließlich durch Kies 
men und niemal® durch Lungen athmen. Sie leben dem entſprechend 
alle im Waffer, und ihre beiden Beinpaare haben die urfprüngliche 
Form von rudernden Floſſen beibehalten. 

Die echten Fiſche werden in drei verſchiedene Unterklaffen einge 
theilt, in die Urfiſche, Schmelzfifche und Knochenfiſche. Die ältefte 

33* 


516 


Syſtematiſche Ueberſicht 


der ſieben Legionen und fünfzehn Ordnungen der Fifhflaile. 





























Anterklaffen Segionen Orönungen | Beifpiele 
der der der aus den 
Afdklafe | Fiſchilaſſe xiſchilaſe _ I Orbnungen 
1. Haifiſche Stachelhei, Pe 
ilacei ſchenhai, n. ſ. w. 
k 1. Duermänter 1» Sana] ſwenhei au 
Urfiſche Rajacei terrochen, u. ſ. w. 
Belschii IL Seelagen | 8. Geelagen Chimãren, Kaler- 
Holocephali Chimaeracei chynchen, u. |. m. 
4. Sdilbteöten- Cepgalaspiben, Pla- 
1m. Gepanzerte N " obermen, uf. m. 
Schmelz fiſche phraet 
Tabuliferi Storfiſche Loffelnzr, Stör, 
Ei Haufen, u. ſ. w. 
6. Sqindelleſe ¶ Doppelſloſſer, Pfla- 
2. ww. @efguppige\,, armen —— 
. Schindelf 
Somchfihe | Samelfilge |" ya 1 > dmkehe ulm 
Ganoides er 8. Fahnenfloffige Afritaniſcher Floſ- 
Bemasopteri ſelhecht, u. ſ. w. 
9. Hohlgratenfiſche Holoptydier, Coe- 
v. Rundſchuppige Coeloscolopes lacanthiben 
Schmelzfiſche u. ſ. w. 
Oychiferi 10, Dichtgrätenfifche Eocrolepiben, Ami- 
Pycnoscolopes aben, u. f. w. 
11. Häringbartige Häringe, Lade, 
VI Rnodenfifde ae Karpfen, Belle, 
mit Luftgang ber, u. ſ. w. 
Schwimmblaſe Jia, Aalartige Ale, Schlangen · 
‚Physostomi Enchelygenes Bi Bitteraale, 
“ u. ſ. w. 
Nuochenſiſche 18, Reihentiemer Barſche, Lippfiide, 
mente m anoqhenfiſchenLuchedenenn — Fa 


Piynoeisti 15. Büfdelliemer Geenabeln, Gee- 
Lophobranchii pferdchen, u. ſ. w. 


Stammbaum ber ammionloſen Schäbelthiere. 517 








Pl on 
| Lophobranchier Peromelen 


— 15 Labyrinthodonten | 
Stichobranchier 
Physoclisten 


Enchelygenen 





Pyenoscolopen saurier 


Coeloscolopen Monopneumonen 
Efaleren 

(Cyeloganoiden) Bhombiferen 

(Rhomboganeiden) 


Protopteren — 
Placodermen tar Bimosaurier 
Starionen 





Cephalaspiden 


— — 
Pamphracten 
Tal 


buliferen 
(Placoganoiden) 
Ganoiden 











518 urfiſche oder Selachier. 


von dieſen, welche die urſprüngliche Form am getreueſten bewahrt 
bat, ift diejenige der Urfifche (Selachii). Davon leben heutzutage 
noch die Haififche (Squali) und Rochen (Rajae), welche man ald 
Quermäuler (Plagiostomi) zufammenfaßt, fowie die feltfame 
Fifhform . der abenteuerlich geftalteten Seekatzen oder Chimären 
(Holocephali der Chimaeracei). Aber diefe Urfifhe ber Gegenwart, 
welche in allen Meeren vorkommen, ſind nur ſchwache Refte von der 
geftaltenreichen und herrſchenden Thiergruppe, welche die Celadhier 
in früheren Zeiten der Erdgeſchichte, und namentlich während der pa» 
laͤolithiſchen Zeit, bildeten. Leider befigen alle Urfiſche ein norpefiges, 
niemals vollftändig verfnöchertes Stelet, welches der Berfteinerung 
nur wenig ober gar nicht fähig iſt. Die einzigen harten Körpertpeile, 
welche in foffilem Zuftande fi erhalten konnten, find die Zähne und 
die Floſſenſtacheln. Diefe finden ſich aber in folder Menge, Zormen- 
mannichfaltigkeit und Größe in den älteren Formationen vor, dag wir 
daraus mit Sicherheit auf eine höchſt beträchtliche Entwidelung der 
Urfiſche in jener altergrauen Vorzeit ſchließen können. Sie finden fih 
fogar ſchon in den filurifhen Schichten, welche von anderen Wirbel- 
thieren nur ſchwache Refte von Schmelzfiſchen (und diefe erft in den 
jüngften Schichten, im oberen Eilur) einfließen. Bon den drei 
Ordnungen der Urfifche find die bei weitem wichtigſten und interefjan- 
teften die Haififche, welche wahrſcheinlich unter allen lebenden Paar- 
nafen der urfprünglihen Stammform der ganzen Gruppe , den Profe- 
lachiern, am nächſten ftehen. Aus diefen Proſelachiern, welche von 
echten Haififchen wohl nur wenig verfchieden waren, haben fi) wahr- 
ſcheinlich nad} einer Richtung hin die Schmelzfiſche und die heutigen 
Urfifche, nach einer anderen Richtung hin die Dipneuften, Seedrachen 
und Amphibien entwidelt. 

Die Schmelzfiſche (Ganoides) ftehen in anatomifcher Be- 
ziehung vollftändig in der Mitte zwiſchen den Urfifchen einerfeit® und 
den Anochenfifchen andrerfeits. In vielen Merkmalen flimmen fie 
mit jenen, in vielen anderen mit diefen überein. Wir ziehen daraus 
ten Schluß, daß fie auch genealogiſch den Uebergang von den llr- 


Scmelfifhe oder Ganoiden. 519 


fiſchen zu den Knochenfifchen vermittelten. In noch höherem Maaße 
als die, Urfifche find auch die Ganoiden heutzutage größtentheild aus⸗ 
geftorben, wogegen fie während der ganzen paläolithifhen und mefos 
lithiſchen Zeit in großer Mannichfaltigkeit und Maſſe entwidelt waren. 
Nach der verfchiedenen Form ber äußeren Hautbededung theilt man 
die Schmelgfifche in drei Legionen: Gepanzerte, Ecſchuppige und 
Rundſchuppige. Die gepanzerten Schmelsfifche (Tabuliferi) 
find die älteften und fchließen ſich unmittelbar an die Seladier an, 
aus denen fie entfprungen find. Foſſile Refte von ihnen finden ſich, 
obwohl felten, bereit3 im oberen Silur vor (Pteraspis ludensis aus 
den Ludlowſchichten). Niefige, gegen 30 Fuß lange Arten derfelben, 
mit mächtigen Knochentafeln gepanzert, finden ſich namentlich im 
devonifchen Syftem. Heute aber lebt von diefer Region nur noch die 
Meine Ordnung der Störfifche (Sturiones), nämlich die Löffelftöre 
(Spatularides), und die Störe (Accipenserides), zu denen u. U. der 
Haufen gehört, welcher und den Fifchleim ober die Hauſenblaſe liefert, 
der Stör und Sterlett, deren Eier wir ald Caviar verzehren u. f. w. 
Aus den gepanzerten Schmelzfiſchen haben ſich wahrſcheinlich als zwei 
divergente Zweige die eckſchuppigen und die rundſchuppigen entwickelt. 
Die eckſchuppigen Schmelzfiſche (Rhombiferi), welche man 
durch ihre vierecligen oder rhombiſchen Schuppen auf den erſten Blick 
von allen anderen Fiſchen unterſcheiden kann, find heutzutage nur 
noch durch wenige Ueberbleibfel vertreten, nämlich durch den Flöffel- 
hecht (Polypterus) in afrifanifhen Flüffen (vorzüglich im Nil), und 
durch den Knochenhecht (Lepidosteus) in amerifanifhen Flüſſen. 
Aber während der paläofithifchen und der erften Hälfte der mefoli- 
thiſchen Zeit bildete diefe Legion die Hauptmaffe der Fiſche. Weniger 
formenreich war die dritte Legion, die rundfchuppigen Schmelz⸗ 
fiſche (Cyeliferi), welche vorzugsweiſe während der Devonzeit und 
Steintohlenzeit lebten. Jedoch war diefe Legion, von ber heute nur 
nod der Kahlhecht (Amis) in nordamerifanifchen Flüſſen übrig ift, 
infofern viel wichtiger, als fih aus ihr die dritte Unterklaſſe der 
Fiſche, die Knochenfiſche, entwickelte. 


520 Lnoqhenfiſche oder Teleoſtier. 


Die Knoch enfiſche (Teleostei) bilden in der Gegenwart die 
Hauptmaffe der Fiſchllaſſe. Es gehören dahin die allermeiften See 
fiſche, und alle unfere Suͤßwaſſerfiſche, mit Ausnahme der eben er- 
wähnten Schmelzfifhe. Wie zahlreiche Berfteinerungen deutlich be · 
weifen, ift dieſe Rlaffe erft um bie Mitte de mefolithifchen Zeitalters 
aus den Schmelzfiſchen, und zwar aus den rundfchuppigen oder Ch 
cliferen entftanden. Die Thriffopiden der Jurazeit (Thrissops, Lep- 
tolepis, Tharsis), welche unferen heutigen Häringen am nädhften 
ftehen, find wahrſcheinlich bie älteften von allen Knochenfiſchen, und 
unmittelbar aus den rundſchuppigen Schmelzfifchen, welche der heuti- 
gen Amia nahe fanden, hervorgegangen. Bei den älteren Knochen ⸗ 
fiihen, den Phyſoſtomen, war ebenfo wie bei den Ganoiden 
die Schwimmblafe noch zeitleben® durch einen bleibenden Luftgang 
(eine Art Zuftröhre) mit dem Schlunde in Verbindung. Das ift auch 
heute noch bei den zu diefer Gruppe gehörigen Häringen, Lachfen, 
Karpfen, Welfen, Aalen u. f. w. der Fall. Während der Rreidezeit 
trat aber bei einigen Phufoftomen eine Verwachſung, ein Verſchluß 
jenes Luftganges ein, und dadurch wurde die Schwimmblafe völlig 
von dem Schlunde abgefhnürt. So entftand die zweite Legion der 
Knochenfiſche, die der Phyſokliſten, welche erft während der Ter- 
tiärgeit ihre eigentliche Ausbildung erreichte, und bald an Mannid- 
faltigfeit bei weitem die Phyfoftomen übertraf. Es gehören hierher 
die meiften Seefiſche der Gegenwart, namenilich die umfangreichen 
Familien der Dorſche, Schollen, Thunfifhe, Lippfiſche, Umberfifche 
u. f. w., ferner die Heftkiefer (Rofferfiiche und Igelfifche) und die 
Buͤſcheltiemer (Seenadeln und Seepferdchen). Dagegen find umter 
unferen Flußfifchen nur wenige Phyſokliſten, 3. B. der Barſch und ber 
Stichling; die große Mehrzahl der Flußfiſche find Phnfoftomen. 

Zwiſchen den echten Fifhen und den Amphibien mitten inne 
ſteht die merfwürdige Klaſſe der Lurchfiſche oder Molchfiſche 
(Dipneusta oder Protopteri). Davon leben heute nur noch wenige 
Repräfentanten, naͤmlich der amerifanifche Molchfiſch (Lepidosiren 
paradoxa) im Gebiete des Amazonenftromd, und der afrifamiiche 


Lurchfiſche ober Dipneuften. 521 


Molchfiſch (Protopterus-annectens) in verfhiedenen Gegenden Afri— 
tod. Ein dritter großer Molchfiſch (Ceratodus Forsteri) ift kürzlich 
in Auftralien entdedt worden. Während der trodenen Jahreszeit, im 
Sommer, vergraben fidh diefe feltfamen Thiere in dem eintrocdnenden 
Schlamm in ein Neft von Blättern, und athmen dann Luft durch 
Lungen, wie die Amphibien. Während der naſſen Jahreszeit aber, 
im Winter, leben fie in Flüffen und Sümpfen, und athmen Waſſer 
durch Riemen, gleich den Fiſchen. Aeußerlich gleihen fie aalförmigen 
Fiſchen, und find wie diefe mit Schuppen bedeckt; auch in manchen 
Eigenthümlichfeiten ihres inneren Baues, des Skelets, der Extremi⸗ 
täten zc. gleichen fie mehr den Fifhen, al? den Amphibien. In an- 
deren, Merfmalen dagegen ftimmen fie mehr mit den legteren überein, 
vor allen in der Bildung der Qungen, der Nafe und des Herzens. 
Aus diefen Gründen herrſcht unter den Zoologen ein ewiger Streit 
darüber, ob die Lurchfifche eigentlich Fifche oder Amphibien feien. 
In der That find fie wegen ber vollftändigen Mifhung des Cha- 
rakters weder das eine noch das andere, und werden wohl am richtig⸗ 
ften als eine befondere Wirbelthierklaſſe aufgefaßt, welche den Ueber- 
gang zwifchen jenen beiden Klaſſen vermittelt. Unter den heute noch 
lebenden Dipneuften befigt Ceratodus eine einfache unpaare Qunge, 
(Monopneumones), während Protopterus und Lepidofiren ein Paar 
ungen haben (Dipneumones). Aud in anderen Beziehungen zeigt 
Ceratodus Spuren von höherem Alter, als die beiden anderen. Alle 
drei Gattungen find jedenfall® uralt, und die fepten überlebenden Refte 
einer vormals formenreichen Gruppe, welche aber wegen Mangels 
feſter Skelettheile keine verſteinerten Spuren hinterlaſſen konnte. Sie 
verhalten ſich in dieſer Beziehung ganz ähnlich den Monorhinen und 
den Leptocardiern, mit denen fie gewöhnlich zu den Fiſchen gerechnet 
werden. Jedoch finden fi) Zähne, welche denen des Ceratodus glei⸗ 
Gen, in der Trias. Wahrſcheinlich find ausgeftorbene Dipneuften 
der paläolithifhen Periode, welche fih in devoniſcher Zeit aus Ur- 
fiſchen entwidelt hatten, als die Stammformen der Amphibien, und 
fomit aud aller höheren Wirbelthiere zu betrachten. 


522 Seedraden oder Halifaurier. 


Eine ganz eigenthümliche Wirbelthierflaiie, welche ſchon längft 
ausgeftorben ift und bloß während der Sekunbärgeit gelebt zu haben 
ſcheint, bilden die merfwürdigen Seedr ach en (Halisauria oder Ena- 
liosauria, aud) wohl Schwimmfüßer oder Reripoden genannt). Diefe 
furchtbaren Raubthiere bevöfferten die meſolithiſchen Meere in großen 
Mengen und in höchft fonderbaren Formen, zum Theil von 30—40 
Fuß Länge. Sehr zahlreiche und vortrefflich erhaltene Berfteinerungen 
und Abdrüde, ſowohl von ganzen Eeedrachen als von einzelnen Thei⸗ 
len derfelden, haben und mit ihrem Körperbau jegt fehr genau be 
tannt gemacht. Gewöhnlich werden diefelben zu den Reptilien ober 
Schleichern geftellt, während einige Anatomen ihnen einen viel tiefe 
ren Rang, in unmittelbarem Anſchluß an die Fifhe, anweifen. Die 
türzlich -veröffentlichten Unterfuchungen von Gegenbaur, welche vor 
allem die maßgebende Bildung der Gliedmaßen in das rechte Licht 
ſetzen, haben dagegen zu dem überrafchenden Refultate geführt. daß 
die Seedrachen eine ganz ifolirt ftehende Gruppe bilden, weit entfemt 
ſowohl von den Reptilien und Amphibien, als von den eigentlichen 
Fiſchen. Die Efeletbildung ihrer vier Beine, welche zu kurzen, brei⸗ 
ten Ruberfloffen umgeformt find (ähnlich wie bei ben Filchen und 
Walfiſchen), liefert den klaren Beweis, daß ſich die Halifaurier früher 
als die Amphibien von dem Wirbelthierftamme abgezweigt haben. 
Denn die Amphibien ſowohl als die drei höheren Wirbelthierklaſſen 
ftammen alle von einer gemeinfamen Stammform ab, welde an je 
dem Beine nur fünf Zehen oder Finger beſaß. Die Seedrachen da» 
gegen befigen (entweder deutlich entwickelt oder doch in der Anlage 
des Fußſtelets ausgeprägt) mehr als fünf Finger, wie die Urfiſche. 
Andrerfeitd haben fie Luft durch Lungen, mie die Dipneuften, geath ⸗ 
met, tropdem fie beftändig im Meere umherſchwammen. Sie haben 
fih daher, vielleicht im Zufammenhang mit den Lurchfiſchen, von 
den Selachiern abgezweigt, aber nicht weiter in höhere Wirbeithiere 
fortgefept. Cie bilden eine auögeftorbene Seitenlinie. 

Die genauer befannten Seedrachen vertheilen ſich auf drei, ziem- 
lich ſtart von einander ſich entjernende Ordnungen, die Urdradhen, 


Simofaurier, Plefiofanrier, Ichtbyofaurier. 523 
Fiſchdrachen und Schlangendraden. Die Urdrachen (Simosauria) 
find die älteften Seedrachen und lebten bLoß während der Triasperiode. 
Beſonders häufig findet man ihre Stelete im Mufcheltalt, und zwar 
zahfreiche verfchiedene Gattungen. Eie fheinen im Ganzen den Plefios 
fauren fehr ähnlich gewefen zu fein und werben daher wohl auch mit 
diefen zu einer Ordnung (Sauropterygia) vereinigt. Die Schlan- 
gendrachen (Plesiosauria) lebten zufammen mit den Zchthyofauren 
in der Jura- und Kreidezeit. Sie zeichneten fih durch einen unge 
mein fangen und ſchlanken Hals aus, welcher oft länger als der ganze 
Körper war und einen Heinen Kopf mit kurzer Schnauze trug. Wenn 
fie den Hals gebogen aufrecht trugen, werden fie einem Schwane 
ähnlich geweſen fein; aber ftatt der Flügel und Beine hatten fie zwei 
paar furze, platte, ovale Ruderfloſſen. 

Ganz anders war die Körperform der Fiſchdrachen (Ichthyo- 
sauria), welche auch wohl als Fiſchfloſſer (Ichthyopterygia) den beis 
den vorigen Ordnungen entgegengefept werden. Sie befaßen einen 
fehr langgeſtreckten Fiſchrumpf und einen ſchweren Kopf mit verlänger- 
ter platter Schnauze, dagegen einen ſehr furzen Hald. Sie werden 
äußerlich gewiffen Delphinen fehr ähnlich gewefen fein. Der Schwanz 
iñ bei ihnen fehr lang, bei den vorigen dagegen fehr fur. Auch 
die beiden Baar Nuderfloffen find breiter und zeigen einen weſentlich 
anderen Bau. Vielleicht haben ſich die Fiſchdrachen und die Schlan- 
gendrachen ald zwei divergente Zweige aus den Urdrachen entwidelt. 
Vielleicht haben aber auch die Simofaurier bloß den Plefiofauriern 
den Urfprung gegeben, während die Zchthyofaurier ſich tiefer von 
dem gemeinfamen Stamme abgezweigt haben. ebenfalls find fie 
alle direkt ober indireft von den Selachiern abzuleiten. 

Die nun folgenden Wirbeithierffaffen, nämlich die Amphibien 
und die Amnioten (Reptilien, Bögel und Säugethiere) laſſen ſich 
alle auf Grund ihrer haratteriftifchen fünfzehigen Fußbildung 
(Pentadactylie) von einer gemeinfamen, aus den Selachiern 
entfprungenen Stammform ableiten, welche an jeder der vier Glied⸗ 
maßen fünf Zehen befaß. Wenn hier weniger ald fünf Zehen ausge 


524 Panzerlurche oder Phraktamphibien. 


bildet find, fo müſſen die fehlenden im Laufe der Zeit dur Anpaf- 
fung verloren gegangen fein. Die älteften uns befannten von diefen 
fünfgebigen Bertebraten find die Lurche (Amphibia), Wir theilen 
diefe Klaffe in zwei Unterklaffen ein, in die Panzerlurche und Radt- 
lurche, von denen die erfteren durch die Bedeckung bed Körper mit 
Knochentafeln oder Schuppen auögezeichnet find. 

Die erfte und ältere Unterklaffe der Amphibien bilden die Pan⸗ 
jerlurde (Phractamphibia), die älteften landbewohnenden Wirbel- 
thiere, von denen ung foffile Refte erhalten find. Wohlerhaltene Ber- 
fteinerungen derfelben finden ſich ſchon in der Steinkohle vor, nämlich 
die den Fifhen noch am nächften flehenden Schmelztöpfe (Gano- 
cephala), der Archegofaurus von Saarbrüden, und das Dendrerper 
ton aus Nordamerifa. Auf diefe folgen dann fpäter die riefigen 
Widelzähmer (Labyrinthodonta), fon im permifhen Syſtem 
dur Zygofaurus, fpäter aber vorzüglich in der Triad durch Mafto- 
donfauru®, Trematofaurus, Capitofaurus u. f. w. vertreten. Diefe 
furchtbaten Raubthiere fheinen in der Körperform zwifchen den Kro- 
todilen, Salamandern und Fröfchen in der Mitte geftanden zu haben, 
maren aber ben beiden fepteren mehr durch ihren inneren Bau ver- 
wandt, während fie durch die fefte Panzerbedeckung mit ftarten Rno« 
chentafeln den erfteren glihen. Schon gegen Ende der Triaszeit 
feinen diefe gepanzerten Riefenlurche ausgeftorben zu fein. Aus 
der ganzen folgenden Zeit kennen wir feine Berfteinerungen von 
Panzerlurchen. Daß diefe Unterklaffe jedoch während deſſen noch 
lebte und niemals ganz ausſtarb, beweifen die heute noch lebenden 
Blindwühlen oder Gaecilien (Peromela), kleine beſchuppte Phraft- 
ampphibien von ber Form und Lebensweiſe des Regenwurms. 

Die zweite Unterflaffe der Amphibien, die Radtlurde (Liss- 
amphibia), entftanden wahrſcheinlich ſchon während der primären 
oder fetundären Zeit, obgleich wir foffile Refte derfelben erft aus der 
Tertiärzeit fennen. Sie unterſcheiden ſich von den Panzerlurchen durch 
ihre nadte, glatte, fplüpfrige Haut, welche jeder Schuppen- oder 
Panzerbedeckung entbehrt. Sie entwidelten fih vermuthlich entwer 


Nadtlurche ober Liffamphibien. 525 


der aus einem Zeige der Phraftamphibien oder aus gemeinfamer 
Wurzel mit diefen. Die drei Ordnungen von Nacktlurchen, welche 
noch jept leben, die Kiemenlurche, Schwanzlurche und Froſchlurche, 
wiederholen una noch heutzutage in ihrer individuellen Entwidelung 
fehr deutlich den hiftorifchen Entwickelungsgang der ganzen Unterflaffe. 
Die älteften Formen find die Kiemenlurche (Sozobranchia), welche 
zeitleben® auf der urſprünglichen Stammform der Radtlurdhe ftehen 
bleiben und einen langen Schwanz nebft waſſerathmenden Kiemen 
beibehalten. Sie ftehen am nächften den Dipneuften, von denen fie 
ſich aber ſchon äͤußerlich durch den Mangel des Schuppentleides unter- 
ſcheiden. Die meiften Kiemenlurche leben in Nordamerifa,; unter an 
deren der früher erwähnte Axolotl oder Siredon (vergl. oben ©. 215). 
In Europa ift diefe Ordnung nur durch eine Form vertreten, durch 
den berühmten Olm (Proteus anguineus), welcher die Adelöberger 
Grotte und andere Höhlen Kraind bewohnt, und durch den Aufent- 
halt im Dunfeln rudimentäre Augen befommen hat, die nicht mehr 
fehen konnen (f. oben ©. 13). Aus den Kiemenlurchen hat ſich durch 
Verluſt der äußeren Kiemen die Ordnung der Shwanzlurde (So- 
zura) entroidelt, zu welcher unfer ſchwarzer, gelbgefledter Landfala- 
mander (Salamandra maculosa) und unfere flinten Waffermolche 
(Triton) gehören. Manche von ihnen (4. B. die nordamerifanifchen 
Gattungen Amphiuma und Menopoma) haben noch die Kiemen« 
fpalte beibehalten, trotzdem fie die Kiemen ſelbſt verloren haben. 
Alle aber behalten den Schwanz zeitlebens. Bisweilen konſerviren 
die Tritonen auch die Riemen und bleiben fo ganz auf der Etufe der 
Kiemenlurche ftehen, wenn man fie nämlich zwingt, beftändig im 
Waſſer zu bleiben (vergl. oben ©. 215). Die dritte Ordnung, bie 
Schwanzlofen oder Froſchlurche (Anura), verlieren bei der Meta- 
morphofe nicht nur die Kiemen, durch welche fie in früher Jugend 
(als fogenannte „Raulquappen”) Waffer athmen, fondern auch den 
Schwanz, mit dem fie herumſchwimmen. Sie durchlaufen alfo wäh- 
rend ihrer Ontogenie den Entwidelungdgang der ganzen Unterflaffe, 
indem fie zuerft Kiemenlurche, fpäter Schwanzlurdhe, und zulept 





526 Ammionthiere (Ammioten) und Amnionlofe (Anammien). 


Froſchlurche find. Offenbar ergiebt jih daraus, daß die Froſchlurche 
ſich erft fpäter aus den Schwanzlurchen, wie diefe felbft aus den ur« 
fprüngfich allein vorhandenen Kiemenlurhen entwidelt haben. 

Indem wir nun von den Amphibien zu der nächiten Wirbeltbier- 
klaſſe, den Reptilien übergehen, bemerken wir eine fehr bedeutende 
Bervolltommnung in der ftufenweife fortfchreitenden Organifation der 
Wirbelthiere. Alle bisher betrachteten Baarnafen oder Amphirhinen, 
und namentlich die beiden großen Klaffen der Fiſche und Lurche, ſtim⸗ 
men in einer Anzahl von wichtigen Charakteren überein, durch 
welche fie fih von den drei noch übrigen Wirbelthierklaſſen, den 
Reptilien, Bögeln und Säugethieren, fehr weſentlich unterfheiden. 
Bei diefen lepteren bildet fich während der embryonalen Entwide- 
lung rings um den Embryo eine von feinem Nabel auswachſende 
befondere zarte Hülle, die Fruhthaut oder das Amnion, 
welche mit dem Fruchtwafler oder Amnionwaſſer gefüllt ift, und in 
diefem das Embryon oder den Keim blafenförmig umfchliegt. Wegen 
diefer fehr wichtigen und dharakteriftifchen Bildung können wir jene drei 
höchſt entwidelten Wirbelthierklaifen ald Amnionthiere (Amniota) 
zuſammenfaſſen. Die vier foeben betrachteten Klaffen der Paarnajen 
dagegen, benen das Amnion, ebenfo wie allen niederen Wirbel- 
thieren (Unpaarnafen und Schädellofen) fehlt, fönnen wir jenen als 
Amnionlofe (Anamnia) entgegenfepen. 

Die Bildung der Fruchthaut oder ded Amnion, durch welche ſich 
die Reptilien, Vögel und Säugethiere von allen anderen Wirbeltbie- 
ven unterfcheiden,, ift offenbar ein höchſt wichtiger Vorgang in der 
Ontogenie und der ihr entfprechenden Phylogenie der Wirbelthiere. 
Er fällt zufammen mit einer Reihe von anderen Vorgängen, welche 
wefentlih die höhere Entwickelung der Amnionthiere beftunmten. 
Dahin gehört vor allen der gänzliche Verluft der Riemen, 
deffenwegen man ſchon früher die Ammnioten als Kiemenloſe 
(Ebranchiata) allen übrigen Wirbelthieren ald Riemenathmenden 
(Branchiata) entgegengefept hatte. Bei allen bisher betrachteten Wir- 
beithieren fanden ſich athmende Riemen entweder zeitlebens, oder doch 


Entfichung der Amnionthiere aus Anmionloſen. 527 


wenigften®, wie bei Fröfchen und Molchen, in früher Jugend. Bei 
den Reptifien, Vögeln und Säugethieren dagegen kommen zu feiner 
Zeit des Lebens wirklich athmende Kiemen vor, und die auch hier 
vorhandenen Kiemenbogen geftalten fih im Laufe der Ontogenie zu 
ganz anderen Gebilden, zu Theilen des Kieferapparat® und des Ges 
hörorgand (vergl. oben ©. 274). Alle Amnionthiere befigen im Ges 
bhörorgan eine fogenannte „Schnede“ und ein diefer entfprechendes 
„rundes Fenſter“. Diefe Theile fehlen dagegen den Amnionlofen. 
Bei diefen legteren liegt der Schädel des Embryon in der gradlinigen 
Fortſetzung der Wirbelfäule. Bei den Amnionthieren dagegen erfcheint 
die Schädelbafid von der Bauchfeite her eingefnidt, fo daß der Kopf 
auf die Bruft herabfinft (Taf. III, Fig. C, D, G, H). Auch ent 
wideln fi erft bei den Amnioten die Thränenorgane im Auge. 

Wann fand nun im Laufe der organifchen Erbgefchichte diefer 
wichtige Borgang ftatt? Wann entwidelte jih aus einem Zweige 
der Amnionlofen (und zwar jedenfall® aus einem Zweige der Am- 
phibien) der gemeinfame Stammvater aller Amnionthiere? 

Auf diefe Frage geben und die verfteinerten Wirbelthierrefte 
zwar feine ganz beftimmte, aber doc) eine annähernde Antwort. Mit 
Ausnahme nämlich von zwei im permifchen Syſteme gefundenen eidech« 
fenähnlichen Thieren (dem Proterofaurus und Rhopalodon) gehören 
alfe übrigen verfteinerten Refte, welche wir bi® jet von Amnion⸗ 
thieren kennen, der Secundärzeit, Tertiärgeit und Quar- 
tärzeit an. Bon jenen beiden Wirbelthieren aber ift es noch zweifel⸗ 
baft, ob fie ſchon wirkliche Reptilien und nicht vielleicht falamander« 
ähnliche Amphibien find. Wir kennen von ihnen allein das Skelet, 
und dies nicht einmal vollftändig. Da wir nun von den entſchei⸗ 
denden Merkmalen der Weichthiere gar Nichts willen, fo ift es wohl 
möglich, daß der Proterofaurus und der Rhopalodon noch amnion« 
loſe Ihiere waren, welde den Amphibien näher als den Reptilien 
ſtanden, vielleicht auch zu den Uebergangsformen zwiſchen beiden 
Klaſſen gehörten. Da aber andrerfeit3 unzmeifelhafte Amnionthiere 
bereit8 in ber Tria® verfteinert worgefunden werden, fo ift e8 wohl 


528 Wahrſcheinliche Entftehungszeit der Ammioten. 


möglich, daß die Hauptklaffe der Amnioten ji erft in der 
Triaszeit, im Beginn des mefolithifhen Zeitalters, 
entwidelte. Wie wir fehon früher fahen, ift offenbar gerade die- 
fer Zeitraum einer der wichtigften Wendepunfte in der organifchen 
Erdgefhichte. An die Stelle der paläolithifchen Kammälder traten 
damals die Nadelwälder der Trias. In vielen Abtheilungen der 
wirbellofen Thiere traten wichtige Umgeftaltungen ein: Aus den ge 
täfelten Seelilien (Phatnocrina) entwickelten ſich die gegliederten (Co- 
locrina). Die Autehiniden oder die Seeigel mit zwanzig Platten- 
teihen traten an die Stelle der paläolithifhen Palechiniden, der See- 
igel mit mehr als zwanzig Plattenreihen. Die Cyftideen, Blaftois 
deen, Trilobiten und andere charakteriſtiſche wirbellofe Thiergruppen 
der Primärzeit waren fo eben augeftorben. Kein Wunder, wenn die 
umgeftaltenden Anpaffungsverhältniffe im Beginn der Triadzeit auch 
auf den Wirbelthierftamm mächtig einwirkten, und die Entftehung 
der Amniontbiere veranlaßten. 

Wenn man dagegen die beiden eibechfen» oder falamanderähn- 
lichen Thiere der Permeit, den Proterofaurus und den Rhopalodon, 
ala echte Reptilien, mithin als die älteften Amnioten betradhtet, fo 
würde die Entftehung diefer Hauptflaffe bereitd um eine Periode 
früher, gegen das Ende der Primärzeit fallen, in die permiſche 
Periode. Alle übrigen Reptilienrefte aber, welche man früher im 
permiſchen, im Steinfohlenfyftem oder gar im devonifchen Syſteme 
gefunden zu haben glaubte, haben ſich entweber nicht ala Reptilien 
tefte, oder als viel jüngeren Alter (meiften® der Trias angehörig) 
herausgeſtellt. (Vergl. Taf. XIV.) 

Die gemeinfame bypothetifhe Stammform aller Amnionthiere, 
welche wir als Protamnion bezeichnen können, und welche mög- 
licherweiſe dem Proterofaurus nahe verwandt war, ſtand vermuthlich 
im Ganzen hinfichtlich ihrer Körperbildung in der Mitte zwifchen den 
Salamandern und Eidechſen. Ihre Nachkommenſchaft fpaltete ſich 
ſchon frühzeitig in zwei verfehiedene Linien, von denen die eine bie 


ji ) Paarnasen oder Amphirhinen 
| | mit Amnion, ohne Kiemen. 





ı undbtilia. 





| Vögel. 


Aves. 


























Pulacolithisches oder. 
Prünaeres Zeitalter 


Relative Lange der 5 
Zeitalter in. Procenten : 
W Onartär-Zeik 
N Terüdr- Zeit 
D. Secundar. Zeit 
AH. Primär: Leit 
ZT. Primordial. Leit 
Summa 100,0 








—— 


Sglleicher (Reptilien oder Sauricy. 529 


gemeinfame Stammform der Reptilien und Vögel, die andere bie 
Stammform ber Säugethiere wurde. 

Die Schleicher (Reptilia oder Pholidota, aud) Sauria im 
weiteften Sinne genannt) bleiben von allen drei Klaffen der Amnion- 
thiere auf der tiefften Bildungaftufe ftehen und entfernen ſich am we ⸗ 
nigften von ihren Stammvätern, den Amphibien. Daher wurden 
fie früher allgemein zu diefen gerechnet, obwohl fie in ihrer ganzen 
Organifation viel näher den Vögeln ald den Amphibien verwandt 
find. Gegenwärtig leben von den Reptilien nur noch vier Ordnun- 
gen, nämlich die Eidechſen, Schlangen, Krofodile und Schildkröten. 
Diefe bilden aber nur noch einen ſchwachen Reft von der ungemein 
mannichfaltig und bedeutend entwidelten Reptilienfchaar, welche wäh. 
rend der mefolitbifchen oder Sekundärzeit lebte und damals alle an⸗ 
deren Wirbelthierklaſſen beherrſchte. Die ausnehmende Entwidelung 
der Reptilien während der Sekundärgeit ift fo charakteriſtiſch, daß wir 
diefe danach eben fo gut, wie nad den Gymnofpermen, benennen 
tonnten (©. 343). Bon den 27 Unterordnungen, welche die nach⸗ 
ftebende Tabelle Ihnen vorführt, gehören 12, und von den acht Ord⸗ 
nungen gehören vier außfchlieglich der Sekundärgeit an. Diefe meſo⸗ 
lithiſchen Gruppen find durch ein + bezeichnet. Mit einziger Aus- 
nahme der Schlangen finden fih alle Ordnungen ſchon im Jura oder 
der Trias verfteinert vor. 

In der erften Ordnung, den Stammreptilien oder Sta mm⸗ 
ſchleichern (Tocosauria), faffen wir die auögeftorbenen Yadı- 
zähner (Thecodontia) der Triaszeit mit denjenigen Reptilien zufam- 
men, welche wir ald die gemeinfame Stammform der ganzen Kaffe 
betrachten önnen. Zu diefen lepteren, welche wir als Urfchleicher 
(Proreptilia) bejeihnen können, gehört möglicherweife der Protero« 
ſaurus des permiſchen Syſtems. Die fieben übrigen Ordnungen find 
als divergente Zweige aufzufaflen, welche ſich aus jener gemeinfamen 
Stammform nad) verſchiedenen Richtungen hin entwickelt haben. Die 
Thecodonten der Triad, die einzigen ficher bekannten foffilen Refte 


von Tocofauriem, waren Eidechſen, welche den heute noch lebenden 
Hecdel, Naturl. Shöpfungsneid. 5. Aufl. 34 


530 Schleicher (Reptilien oder Saurier). 


Monitoren oder Warneidechfen (Monitor, Varanus) ziemlich ähnlich 
gewefen zu fein fcheinen. 

Unter den vier Schleiherordnungen, welche gegenwärtig noch 
leben, und welche ſchon feit Beginn der Tertiärzeit allein die Klaſſe 
vertreten haben, fließen fi bie Eidechſen (Lacertilia) wahr 
ſcheinlich am nächften an die auögeftorbenen Stammreptilien an, be- 
ſonders durch die ſchon genannten Monitoren. Aus einem Zweige 
der Eibechfenorbnung hat ſich die Abtheilung der Schlangen (Ophi- 
dia) entwidelt, und zwar wahrſcheinlich erft im Beginn der Tertiär- 
zeit. Wenigſtens fennt man verfteinerte Schlangen bis jept bloß aus 
tertiären Schichten. Piel früher find die Krofodile (Crocodilia) 
entftanden, von denen die Teleofaurier und Steneofaurier maffen« 
haft verfteinert fhon im Jura gefunden werden; die jept allein noch 
febenden Alfigatoren dagegen fommen erft in den Kreide und Ter- 
tiärfgichten foffil vor. Am meiften ifolirt unter den vier lebenden 
Reptilienorbnungen fteht die merkwürdige Gruppe der Schildfrd- 
ten (Chelonia). Diefe fonberbaren Thiere kommen zuerft verfteinert 
im Jura vor. Sie nähern ſich dur einige Charaktere den Amphi- 
bien, durch andere den Krofodilen, und durch gewiſſe Eigenthüm · 
tipeiten fogar den Vögeln, fo daß ihr wahrer Plap im Stamm- 
baum der Reptilien wahrſcheinlich tief unten an der Wurzel liegt 
Hoͤchſt auffallend ift die außerordentliche Aehnlichkeit, welche ihre Gm- 
bryonen felbft noch in fpäteren Stadien der Ontogenefis mit den- 
jenigen der Bögel zeigen (vergl. Taf. II und II). 

Die vier auögeftorbenen Reptilienorbnungen zeigen unter ein- 
ander und mit den eben angeführten vier lebenden Ordnungen fo 
mannichfaltige und verwickelte Verwandtſchaftsbeziehungen, daß wir 
bei dem gegenwärtigen Zuftande unferer Kenntniß noch gänzlich auf 
die Aufftellung eines Stammbaum verzichten müflen. ine der ab- 
weichendſten und merfwürdigften Formen bilden die berühmten Flug - 
reptilien (Pterosaurie); fliegende Eidechſen, bei denen der aufer- 
ordentlich verlängerte fünfte Yinger der Hand als Stüge einer ge- 
waltigen Flughaut diente. Sie flogen in der Sefundäyeit wabr · 


531 


Syſtematiſche Ueberſicht 
der 8-Drdnungen und 27 Unterordnungen der Reptilien. 
(Die mit einem + bezeichneten Gruppen find ſchon während ber Sekundarzeit 














ausgeftorben). 
Ordnungen — ——e—— Suftematifher | Sin Gattungs- 
der ame der name als 
Reptilien Kapitien Auterorduungen Weiſpiel 
I. Siammretytillen Urſchleicher 1. Proreptilia t u 
Tooosauria + | 3. gachahner 2. Thecodontia + Palneosaurus 
3. Spoltzüngler 3. Fissilingues Monitor 
este 4. Diczüngler 4. Crassilingues Iguana 
nei 1 5, Kurzzungler 5. Brevilingues Anguis 
6. Ringeleibedifen 6. Glyptodermata Amphishsena 
7. Chamaeleonen 7. Vermilingues Chamaeleo 
8, Nattern 8. Aglyphödonte Coluber 


9. Baumfchlangen 9. Opisthoglypha Dipsas 
IL. Slangen 10. Giftnattern 10. Proteroglypha Hydrophis 


phidin 11. Ottern 11. Solenoglypha Vipera 
12. Wurmſchlangen 12. Opoterodonta Typhlops 
13. Amphicoelen 18. Teleosauria + Teleosaurus 
v. 
IV. Grocodiie bu. DOpifthocoelen 14. Steneosauria + Steneosaurus 
15. Profthocoelen 15. Alligatores Alligator 
16. Seefeilbfröten 16. Thalassita Chelone 
V. Stlökeöten Jı7. Klußfeildfröten 17. Potamita Trionyx 
Chelonia 18. Sumpfidifbfröten 18. Elodita Emys 
19, Lanbfchifbkröten 19. Chersita Testudo 
(20. Langſchwämzige 20. Rhamphorhynchi + Rhampho- 
VI. Singreptilien) Flugeiechſen rbynchus 
Pterosauria + |21. Rurzfdtwänzige 21. Pterodactyli + Pterodaetylus 


Wlugeidechſen 


VI. Drachen 22. Rieſendrachen 22. Harpagosauria + Megalosaurus 
Dinosauria + 125. Elephantendrachen 23. Therosauria + Iguanodon 


24. Humdbsgähner 24. Cynodontia + Dicynodon 
VIII. Squabel· ab. Fehlzahner 25. Cryptodontin + Udenodon 
septillen 26. Kanguruhſchleicher 26. Hypsosauria + Compsogna- 
Anomödontia + thus 
27. Wogeffchfeidier 27. Tocornithes + (Tocornis) 


34* 


532 Schleicher (Reptilien oder Saurier). 


ſcheinlich in ähnlicher Weife umher, wie jet die Flebermäufe. Die 
kleinſten Flugeidechfen hatten ungefähr die Größe eines Sperlings. 
Die größten Pterofaurier aber, mit einer Klafterweite der Flügel von 
mehr als 16 Fuß, übertrafen die größten jept lebenden fliegenden 
Vögel (Condor und Albatros) an Umfang. Ihre verfteinerten Refte, 
die langſchwaͤnzigen Rhamphorhynchen und die kurzihwänzigen Ptero- 
dactylen, finden ſich zahlreich verfteinert in allen Schichten der Yura- 
und Kreidegeit, aber nur in diefen vor. 

Nicht minder merkwürdig und für das mefolithifhe Zeitalter 
harakteriftifch war die Gruppe der Drahen oder Lindwürmer 
(Dinosauria oder Pachypoda). Diefe koloſſalen Reptilien, welche 
eine Länge von mehr als 50 Fuß erreichten, find die größten Land- 
bewohner, welche jemal® unfer Erdball getragen bat. Sie lebten 
ausſchließlich in der Sefundärzeit. Die meiften Refte derfeiben fin- 
den ſich in der unteren Kreide, namentlich in der Wälderformation 
Englands. Die Mehrzahl waren furchtbare Raubthiere (Megalo- 
ſaurus von 20—30, Pelorofaurus von 40—60 Fuß Länge). Igua- 
nodon jedoch und einige andere lebten von Pflanzennahrung und 
fpielten in den Wäldern der Kreidezeit wahrſcheinlich eine ähnliche 
Rolle, wie die ebenfo ſchwerfälligen, aber kleineren Elephanten, Fluß: 
pferde und Nashörner der Gegenwart. 

Vielleicht den Drachen nahe verwandt waren die ebenfalls Längft 
ausgeftorbenen Schnabelreptilien (Anomodontia), von denen 
ſich viele merkwürdige Nefte in der Triad und im Jura finden. Die 
Kiefer waren bei ihnen, ähnlich wie bei den meiften Flugreptilien 
und Schildkröten, zu einem Echnabel, umgebildet, der entweder nur 
verfümmerte Zahnrudimente oder gar feine Zähne mehr trug. In 
diefer Ordnung (wenn nicht in der vorhergehenden) müffen wir die 
Stammeltern den Vögelflaffe ſuchen, die wir mit dem Namen der 
VBogelreptifien (Tocornithes) bezeichnen fönnen. Diefen legteren wahr« 
ſcheinlich ſehr nahe verwandt war der fonderbare, fänguruhähnlice 
Kompfognathus aus dem Jura, der in fehr wichtigen Charakteren 
bereit8 eine Annäherung an den Bogelförperbau zeigt. 


Abſtammung ber Vögel von ben Reptilien. 533 


Die Klaſſe der Bögel (Aves) ift, wie ſchon bemerkt, durch 
ihren inneren Bau und durch ihre embryonale Entwidelung, den 
Reptilien fo nahe verwandt, daß fie ohne allen Zweifel aus einem 
Zweige diefer Klaſſe wirklich ihren Urfprung genommen hat. Wie 
Ihnen allein fon ein Blick auf Taf. II und III zeigt, find die Em- 
bryonen der Bögel zu einer Zeit, in der fie bereit fehr wefentlich von 
den Embryonen der Säugethiere verſchieden erſcheinen, von denen der 
Schildfröten und anderer Reptilien noch faum zu unterſcheiden. Die 
Dotterfurhung ift bei den Vögeln und Reptilien partiell, bei den 
Cäugethieren total. Die rothen Blutzellen der erfteren befigen einen 
Kern, die der letzteren dagegen nicht. Die Haare der Säugethiere 
entwwideln ſich in anderer Weife, ald die Federn der Bögel und bie 
Schuppen der Reptilien. Der Unterkiefer der lepteren ift viel ver⸗ 
widelter zufammengefegt, als derjenige der Säugethiere. Auch fehlt 
diefen legteren da® Quadratbein der erfteren. Während bei den 
Säugethieren (mie bei den Amphibien) die Verbindung zwifchen dem 
Schädel und dem erften Haldwirbel durch zwei Gelenthöder oder Con- 
dylen geſchieht, find diefe dagegen bei den Vögeln und Reptilien zu 
einem einzigen verfhmolgen. Man kann die beiden lepteren Klaſſen 
daher mit vollem Rechte in einer Gruppe ald Monocondylia zufam« 
menfaffen und diefer die Säugetbiere ald Dicondylia gegenüber fepen. 

Die Abzweigung der Bögel von den Reptilien fand jedenfall 
erft während der mefolithifhen Zeit, und zwar wahrfcheinlich wäh- 
rend der Triaszeit ftatt. Die älteften foffilen Bogelrefte find im obe- 
ren Jura gefunden worden (Archaeopteryx). Aber ſchon in der 
Triaszeit lebten verſchiedene Saurier (Anomodonten), die in mehr- 
facher Hinfiht den Uebergang von den Tocofauriern zu den Stamm⸗ 
vätern der Bögel, den hypothetiſchen Tocomithen, zu bilden fcheinen. 
Wahrſcheinlich waren diefe Tocornithen von anderen Schnabeleidechfen 
im Spfteme faum zu trennen, und namentlich) dem fänguruhartigen 
Compsognathus aus dem Jura von Solenhofen nächft verwandt. 
Hugley ftellt diefen lepteren zu den Dinofauriern, und glaubt, daß 
diefe die nächften Verwandten der Tocomithen feien. 


534 Biederſchwanzige Vögel (Archäoptergg). 


Die große Mehrzahl der Vögel erſcheint, trog aller Mannichfal- 
tigkeit in der Färbung des ſchönen Federkleides und in der Bildung 
des Schnabel? und der Füße, höchſt einförmig organifirt, in ähn- 
licher Weife, wie die Infektenflaffe. Den äußeren Eriftenzbedingun- 
gen hat fi die Vogelform auf das BVielfältigfte angepaßt, ohne 
dabei irgend mefentlih von dem ſtreng erblihen Typus der charakte- 
riſtiſchen inneren Bildung abzuweichen. Nur zwei leine Gruppen, 
einerfeit® die. fiederſchwaͤnzigen Bögel (Saururae), andrerfeit® die 
ftraußartigen (Ratitae), entfernen ſich erheblich von dem gemwöhn- 
lichen Vogeltypus, dem ber fielbrüftigen (Carinatae), und demnach 
tann man die ganze Klaffe in drei Unterklaſſen eintheilen. 

Die erfte Unterklaffe, die reptilienfhwänzigen oder fies 
derfhwänzigen Vögel (Saururae) find bis jept bloß durch einen 
einzigen und noch dazu unvollftändigen foſſilen Abdrud bekannt, wel- 
her aber als die ältefte und dabei fehr eigenthümliche Bogelverfteine- 
rung eine hohe Bedeutung beanfprucht. Das ift der Urgreif oder die 
Archaeopteryx lithographica, welche bi® jept erft in einem Creme 
plar in dem lithographifchen Schiefer von Solenhofen, im oberen 
Jura von Baiern, gefunden wurde. Diefer merkwürdige Bogel 
ſcheint im Ganzen Größe und Wuchs eines ftarten Raben gehabt zu 
haben, wie namentlich die wohl erhaltenen Beine zeigen, Kopf und 
Bruft fehlen leider. Die Flügelbildung weicht ſchon etwas von der- 
jenigen der anderen Vögel ab, noch viel mehr aber der Schwanz. 
Bei allen übrigen Vögeln ift der Schwanz fehr kurz, aus wenigen 
turzen Wirbeln zufammengefegt. Die legten derfelben find zu einer 
dünnen, ſenkrecht ftehenden Knochenplatte verwachſen, an welcher ſich 
die Steuerfedern des Schwanzes fächerförmig anfepen. Die Ar 
Häoptergg dagegen hat einen langen Schwanz, wie die Eidechien, 
aus zahlreichen (20) langen und dünnen Wirbeln zufammengefept; 
und an jedem Wirbel figen zweizeilig ein paar ſtarke Steuerfedern, 
fo daß der ganze Schwanz regelmäßig gefiedert erfcheint. Diefelbe 
Bildung der Schwanzwirbelfäule zeigt ſich bei den Embryonen der 
übrigen Bögel vorübergehend, fo daß offenbar der Schwanz der 


Fägerfemängige und Süfeheffcrwängige Vögel. 535 


Archäopteryg die urfprüngliche, von den Reptilien ererbte Form des 
Vogelſchwanzes darſtellt. Wahrfcheinlich lebten ähnliche Vögel mit 
Eidechſenſchwanz um die mittlere Sefundärgeit in großer Menge; der 
Zufall hat und aber erjt diefen einen Reſt bis jept enthüllt. 

Zu den fäherfhmwänzigen oder fielbrüftigen Vögeln 
(Carinatae), welche die zweite Unterflaffe bilden, gehören alle jetzt 
febenden Bögel, mit Ausnahme der fraufartigen oder Ratiten. Sie 
haben ſich wahrfcheinlich in der zweiten Hälfte der Sekundärzeit, in ber 
Zurazeit ober in der Kreidezeit, aus den ſiederſchwaͤnzigen durch Ver⸗ 
wachſung der hinteren Schwanzwirbel und Verkützung des Schwan- 
zes entwidelt. Aus der Sekundägeit fennt man von ihnen nur fehr 
wenige Refte, und zwar nur aus dem lepten Abfchnitt derfelben, aus 
der Kreide. Diefe Refte gehören einem albatrosartigen Schwimmvogel 
und einem ſchnepfenartigen Stelzvogel an. Alle übrigen bis jept be» 
tannten verfteinerten Bogelrefte find in den Tertiärfdhichten gefunden. 

Die ſtraußartigen oder büfhelfhwänzigen Bögel(Ra- 
titae), auch Laufvögel (Cursores) genannt, die dritte und lepte 
Unterflaffe, ift gegenwärtig nur noch durch wenige lebende Arten ver- 
treten, durch den zweizehigen afritanifhen Strauß, den dreigehigen 
amerifanifchen und neuholländifen Strauß, den indifchen Caſuar, 
und den vierzehigen Kiwi oder Apteryr von Neufeeland. Auch die 
auögeftorbenen Riefenvögel von Madagaskar (Aepyornis) und von 
Neuſeeland (Dinornis), welche viel größer waren als die jept lebenden 
größten Strauße, gehören zu diefer Gruppe. Wahrſcheinlich find die 
ſtraußartigen Vögel durch Abgewohnung des Fliegens, durch die da- 
mit verbundene Rüdbildung der Flugmusfeln und des denfelben zum 
Aunſatz dienenden Bruftbeintammes, und dur entſprechend ftärkere 
Ausbildung der Hinterbeine zum Laufen, aus einem Zteige der Fiel- 
brüftigen Bögel entftanden. Vielleicht find diefelben jedoch auch, 
wie Hugley meint, nächfte Verwandte der Dinofaurier, und der 
diefen naheftehenden Reptilien, namentlich des Kompſognathus. Je⸗ 
denfalls ift die gemeinfame Stammform aller Vögel unter den aud- 
geftorbenen Reptilien zu ſuchen. 


Einnndzwanzigfter Vortrag. 


Stammbaum und Geſchichte des Thierreihe. 
IV. Sängethiere. 


Syſtem der Säugethiere nad; Linns und nad Blainville. Drei Unterklaſſen der 
Säugetiere (Ornithodelphien, Didelphien, Monodelphien). Ornithedelphien aber 
Monotremen. Schnabelthiere (Ornithoflomen). Dibelphien oder Marfupialien. 
Bflanzenfrefiende und fleiſchfreſſende Beutelthiere. Monodelphien oder Placentalien 
(Blacentalthiere). Bebeutung der Placenta. Zottenplaentner. Gürtelplacentner. 
Scheibenpfacentner. Deeibualofe ober Indeeibuen. Hufthiere. Unpearhufer und 
Paarhufer. Walthiere. Zahnarme. Deribuathiere oder Deriduaten. Halbaffen. 
Nagethiere. Scheinhufer. Infeltenfrefier. Raubthiere. Flederthiere. Affen. 


Meine Herren! Es giebt nur wenige Anfihten in der Syfte 
matik der Organismen, über welche die Naturforſcher von jeber einig 
gewefen find. Zu dieſen foenigen unbeftittenen Punkten gehört die 
bevorzugte Stellung der Säugethierflaffe an der Spipe des Zpier- 
reichs. Der Grund dieſes Privilegiumd liegt theild in dem bejon- 
deren Intereffe, dem mannichfaltigen Nugen und dem vielen Ber- 
gnügen, das in der That die Säugethiere mehr als alle anderen Thiere 
dem Menfchen darbieten; theild und noch mehr aber in dem Umflande, 
dag der Menfch felbft ein Glied diefer Klaffe if. Denn wie verſchie ⸗ 
denartig auch fonft die Stellung ded Menfchen in der Ratur und 
im Syftem der Thiere beurtheilt worden ift, niemals ift je ein Ratur- 
forfher darüber in Zweifel gewefen, daß der Menſch, mindeftend 
rein morphologiſch betrachtet, zur Klaffe der Säugethiere gehöre. 


Softem der Saugethiere nad) Linns und nach Blainvil. 537 


Daraus folgt aber für und ohme Weiteres der höchſt bedeutende 
Schluß, daß der Menfch auch feiner Blutsverwandtfchaft nad ein 
Glied diefer Thierflaffe ift, und aus längft auögeftorbenen Saͤuge⸗ 
tbierformen ſich hiſtoriſch entwidelt hat. Diefer Umftand allein ſchon 
wird es rechtfertigen, daß wir hier der Gefchichte und dem Stamm- 
baum der Säugethiere unfere befondere Aufmerkfamteit zuwenden. 
Laſſen Sie und zu diefem Zwecke wieder zunächft das Syſtem biefer 
Thierklaſſe unterſuchen. 

Bon den älteren Naturforſchern wurde die Klaſſe der Säuge- 
tbiere mit vorzüglicher Rüdficht auf die Bildung des Gebiſſes und der 
Füße in eine Reihe von 8—16 Ordnungen eingetheilt. Auf der 
tiefften Stufe diefer Reihe ftanden die Walfifche, welche durch ihre 
fiſchaͤhnliche Körpergeftalt fi am meiften vom Menfchen, der hödh- 
ſten Stufe, zu entfernen fhienen. So unterſchied Tinne folgende 
acht Ordnungen: 1. Cete (Wale); 2. Belluae (Flußpferde und Pferde); 
3. Pecora (Wieberfäuer); 4. Glires (Nagethiere und Nashorn); 5. Be- 
stiae (Infektenfreffer, Beutelthiere und verfchiedene Andere); 6. Ferae 
(Raubthiere); 7. Bruta (Zahnarme und Elephanten); 8. Primates 
(Stedermäufe, Halbaffen, Affen und Menſchen). Richt viel über Diefe " 
Kaffifitation von Linn6 erhob fi) diejenige von Cuvier, welde 
für die meifterr folgenden Zoologen maßgebend wurde. Cuvier un 
terfehied folgende acht Drdnungen: 1. Cetacea (Wale); 2. Rumi- 
nantia (Wiederfäuer), 3. Pachyderma (Hufthiere nad Ausflug 
der Wiederfäuer); 4. Edentata (Zahnarme); 5. Rodentia (Rage 
thiere); 6. Carnassia (Beutelthiere, Raubthiere, Infektenfrefler und 
Flederthiere)y; 7. Quadrumana (Halbaffen und Affen); 8. Bimana 
¶ Nenſchen). 

Den bedeutendſten Fortſchritt in der Klaffifitation der Säuge- 
thiere that ſchon 1816 der auögezeichnete, bereit® vorher erwähnte 
Anatom Blainville, welcher zuerft mit tiefem Blick die drei natür« 
lichen Hauptgruppen oder Unterflafien ber Säugetiere erfannte, und 
fie nach der Bildung ihrer Fortpflanzungsorgane ald Ornithodel⸗ 
phien, Didelphien und Monodelphien unterfhied. Da diefe 


538  Schnabelthiere (Ornithoftomen). Stammfäuger (Promammalien). 
Eintheilung heutzutage mit Recht bei allen wifenfchaftlichen Zoologen 
wegen ihrer tiefen Begründung durch die Entwickelungsgeſchichte ala 
die befte gilt, fo laffen Sie un® derfelben auch bier folgen. 

Die erfte Unterflaffe bilden die Kloafenthiere oder Bruft- 
lofen, auch Gabler oder Gabelthiere genannt (Monotrema 
oder Ornithodelphia). Sie find heute nur noch durch zwei lebente 
Cäugethierarten vertreten, die beide auf Neuholland und das benad- 
barte Bandiemensland befchränft find: das wegen feines Bogelfchna- 
bels jehr befannte Wafferfchnabelthier (Ornithorhynchus para- 
doxus) und da® weniger befannte, igelähnliche Landfchnabelthier 
(Echidna hystrix). Diefe beiden feltfamen Thiere, welche man in 
der Ordnung der Schnabelthiere (Ornithostoma) zufammenfaßt, 
find offenbar die lepten überlebenden Refte einer vormals formenrei- 
chen Thiergruppe, welche in der älteren Sekundärzeit allein die Säuge- 
thierflafie vertrat, und aus der ſich erft fpäter, wahrſcheinlich in der 
ZJurazeit, die zweite Unterklaſſe, die Didelphien, entwidelte. Leider 
find und von diefer älteften Stammgruppe der Säugethiere, welde 
wir ald Stammjäuger (Promammalia) bejeihnen wollen, bis 
jept noch feine foffilen Refte mit voller Sicherheit befannt. Doch ge- 
bören dazu möglicherweife die älteften bekannten von allen verfteiner- 
ten Säugetbieren, namentlich der Microlestes antiquus, von dem 
man bis jept allerding® nur einige Meine Badzähne kennt. Diefe find 
in den oberften Schichten der Triad, im Keuper, und zwar zuerit 
(1847) in Deutfchland (bei Degerloch unweit Stuttgart), fpäter auch 
(1858) in England (bei Ftome) gefunden worden. Aehnliche Zähne 
find neuerdings auch in der nordamerifanifchen Trias gefunden umd 
als Dromatherium sylvestre beſchrieben. Diefe merfwürdigen Zähne, 
aus deren charakteriftifcher Form man auf ein infektenfreffendes Säuge- 
tbier ſchließen kann, find die einzigen Refte von Säugethieren, welde 
man bisjept in den älteren Sefundärichichten, in der Trias, gefumden 
bat. Vielleicht gehören aber außer diefen auch noch manche andere. 
im Jura und in der Kreide gefundene Sängetbierzähne, welche jekt 
gewohnlich Beutelthieren zugefhrieben werden, eigentlich Nioaken- 


Kloalenthiere (Monotremen oder Ornithobelphien). 539 


thieren an. Bei dem Mangel der harakteriftifchen Weichtheile läßt ſich 
dies nicht ſicher unterfcheiden. Jedenfalls müffen dem Auftreten der 
Beutelthiere zahlreiche, mit entwideltem Gebiß und mit einer Kloake 
verfehene Gabelthiere voraudgegangen fein. 

Die Beeihnung: „Rloatenthiere” (Monotrema) im wei 
teren Sinne haben die Drnithodelphien wegen der Kloake erhalten, 
durch deren Befig fie fih von allen übrigen Säugethieren unterfchei- 
den, und dagegen mit den Vögeln, Reptilien, Amphibien, überhaupt 
mit den niederen Wirbelthieren übereinftimmen. Die Rloafenbildung 
befteht darin, daß der lepte Abſchnitt des Darmkanals die Mündungen 
des Urogenitalapparated, d. h. der vereinigten Harn- und Gefchlechtd« 
organe, aufnimmt, während diefe bei allen übrigen Säugethieren 
(Didelppien ſowohl ald Monodelphien) getrennt vom Maftdarm aus⸗ 
münden. Jedoch ift auch bei diefen in der erften Zeit des Embryo» 
lebens die Kloakenbildung vorhanden, und erft fpäter (beim Menfchen 
gegen bie zwöffte Woche der Entwidelung) tritt die Trennung der 
beiden Mündungsdffnungen ein. „Gabelthiere” hat man die 
Kloakentbiere auch wohl genannt, weil die vorderen Schlüffelbeine 
mittelft de3 Bruſtbeines mit einander in der Mitte zu einem Knochen⸗ 
ſtuͤck verwachſen find, ähnlich dem, bekannten „Gabelbein” der Bögel. 
Bei den übrigen Säugethieren bleiben die beiden Schlüffelbeine vorm 
völlig getrennt, und verwachfen nicht mit dem Bruſtbein. Ebenfo 
find die hinteren Schlüffelbeine oder Koratoidknochen bei den Gabel⸗ 
thieren viel ftärfer als bei den übrigen Säugethieren entwidelt und 
verbinden fi) mit dem Bruftbein. 

Auch in vielen anderen Charakteren, namentlich in der- Bildung 
der inneren Geſchlechtsorgane, des Gehörlabyrinthes und des Gehirns, 
ſchließen fih die Schnabelthiere näher den übrigen Wirbelthieren als 
den Säugethieren an, fo daß man fie felbft als eine befondere Klaſſe 
von diefen hat trennen wollen. Jedoch gebären fie, gleich allen an« 
deren Säugethieren, lebendige Junge, welche eine Zeit lang von der 
Mutter mit ihrer Milch emährt werden. Während aber bei allen 
übrigen die Milch durd die Saugwarzen ober Zipen der Milchdrüfe 


540 Aloatenthiere oder Mouotremen. 


entleert wird, feblen dieſe den Schnabelthieren gänzlich, und die Milch 
tritt einfah aus einer ebenen, jiebförmig durchlöcherten Hautftelle 
hervor. Man kann fie daher auch als Bruftlofe oder Zigenlofe 
(Amasta) bezeichnen. 

Die auffallende Schnabelbildung der beiden noch lebenden Schna- 
beithiere, welche mit Bertümmerung der Zähne verbunden ift, muß 
offenbar nicht als wefentlihes Merkmal der ganzen Unterklaſſe der 
Kloakenthiere, fondern ala ein zufälliger Anpaſſungscharakter ange 
fehen werden, welcher die legten Reſte der Klaſſe von der augeitor- 
benen Hauptgruppe ebenfo unterfcheidet, wie die Bildung eines eben- 
falls zahnlofen Rüſſels manche Zahnarme (z. B. die Ameiſenfreſſer) 
vor den übrigen Placentalthieren auszeichnet. Die unbelannten aus⸗ 
geftorbenen Stammfäugetbiere oder Promammalien, die in der Trias⸗ 
zeit lebten, und von denen die beiden heutigen Echnabelthiere nur 
einen einzelnen, verfümmerten und einfeitig ausgebildeten Aft dar- 
ſtellen, befagen wahrſcheinlich ein fehr entwicleltes Gebiß, gleich den 
Beutelthieren, die ſich zunächft aus ihnen entwidelten. 

Die Beutelthiere oder Beutler (Didelphia oder Mar- 
supialia), die zweite von den drei Unterklafien der Säugethiere, 
vermittelt in jeder Hinfiht, ſowohl in anatomiſcher und embryologi- 
fer, als in genealogifcher und hiftorifcher Beziehung, den Uebergang 
zwiſchen den beiden anderen, den Kloakenthieren und Placentalthier 
ten. Zwar leben von diefer Gruppe noch jept zahlreiche Vertreter, 
namentli die allbefannten Känguruhs, Beutelratten und Beutel» 
hunde. Allein im Ganzen geht offenbar auch diefe Unterflaffe, gleich 
der vorhergehenden, ihrem völligen Ausfterben entgegen, und die 
noch lebenden Glieder derfelben find die lepten überlebenden Neite 
einer großen und formenreihen Gruppe, welche während der jüngeren 
Sekundärzeit und während der älteren Tertiärzeit vorzugsweiſe die 
Säugethierklafe vertrat. Wahrſcheinlich haben fi) die Beutelthiere 
um die Mitte der mefolithifchen Zeit (mährend der Juraperiode ©) 
aus einem Zeige der Kloakenthiere entwidelt, und im Bepinn der 
Tertiärzeit ging wiederum aus den Beutelthieren die Gruppe der 


Beutelthiere ober Marſupialien. 541 


Placentalthiere hervor, welcher die erſteren dann bald im Kampfe 
um's Daſein unterlagen. Alle foffilen Reſte von Säugethieren, welche 
wir aus der Sefunbärzeit fennen, gehören entweder ausſchließlich 
Beutelthieren oder (zum Theil vielleicht?) Kloakenthieren an. Da- 
mals ſcheinen Beutelthiere über die ganze Erde verbreitet geweſen 
zu fein. Selbft in Europa (England, Frankreich) finden wir wohl 
erhaltene Refte derfelben. Dagegen find die legten Ausläufer der Un- 
terklaffe, welche jetzt noch leben, auf ein fehr enges Verbreitungäge- 
biet beſchraͤnkt, nämlich auf Neuholland, auf den auftralifhen und 
einen Kleinen Theil des afiatifchen Archipelagus. Einige wenige Formen 
leben aud) noch in Amerifa; hingegen lebt in der Gegenwart fein ein⸗ 
ziges Beutelthier mehr auf dem Feftlande von Afien, Afrita und Europa. 

Die Beutelthiere führen ihren Namen von der bei den meiften 
wohl entwidelten beutelförmigen Tafche (Marsupium), welche fih an 
der Bauchfeite der weiblihen Thiere vorfindet, und in welcher die 
Mutter ihre Jungen noch eine geraume Zeit lang nad der Geburt 
umberträgt. Diefer Beutel wird durd ‚zwei harakteriftiihe Beutel⸗ 
knochen geftügt, welche auch den Schnabelthieren zutommen, den 
Placentalthieren dagegen fehlen. Das junge Beutelthier wird in 
viel unvolltommnerer Geftalt geboren, als das junge Placentalthier, 
und erreicht erft, nachdem es einige Zeit im Beutel fich enttwidelt 
bat, denjenigen Grad der Ausbildung, welchen das letztere ſchon 
glei bei feiner Geburt befipt. Bei dem Riefenfänguruh, weldes 
Mannshöhe erreicht, ift daB neugeborene Junge, welches nicht viel 
über fünf Wochen von der Mutter im Fruchtbehälter getragen wurde, 
nicht mehr als zolllang, und erreicht feine weſentliche Ausbildung 
erft naher in dem Beutel der Mutter, wo es gegen neun Monate, 
an der Zipe der Milchdrüſe feitgefaugt, hängen bleibt. 

Die verfhiedenen Abtheilungen , welche man gewöhnlich ald fo- 
genannte Familien in der Unterklaffe der Beutelthiere unterſcheidet, 
verdienen eigentlich den Rang von felbftftändigen Ordnungen, da fie 
fi) in der mannichfaltigen Differenzirung des Gebiſſes und der Glied» 
maßen in ähnlicher Weife, wenn auch nicht fo ſcharf, von einander 


542 Plamzenfeeffenbe Beuteltthiere. 


unterſcheiden, wie die verfchiedenen Ordnungen der Placentalthiere. 
Zum Theil entſprechen fie den legteren volltommen. Offenbar hat die 
Anpaflung an ähnliche Lebensverhältniſſe in den beiden Unterklaſſen 
der Marfupialien und Placentalien ganz entiprechende ober analoge 
Umbildungen der urfprünglichen Grundform bewirkt. Man kann in 
diefer Hinfiht ungefähr acht Ordnungen von Beutelthieren unterſchei⸗ 
den, von denen die eine Hälfte die Hauptgruppe oder Legion der 
pflanzenfrefienden, die andere Hälfte die Legion der fleifchfreffenden 
Marfupialien bildet. Bon beiden Legionen finden ſich (falld man 
nicht auch den vorher erwähnten Mikroleſtes und das Dromatherium 
der Trias hierher ziehen will) die älteften foffilen Refte im Jura vor, 
und zwar in den Schiefern von Stonesfield, bei Drford in England. 
Diefe Schiefer gehören der Bathformation oder dem unteren Dolitb 
an, derjenigen Schichtengruppe, welche unmittelbar über dem Lias, 
der älteften Jurabildung, fiegt (vergl. ©. 345). Allerdings befteben 
die Beutelthierrefte, welche in den Echiefern von Stonesfield gefun« 
den wurden, und ebenfo diejenigen, welche man fpäter in den Pur- 
bechſchichten fand, nur aus Unterkiefern (vergl. ©. 358). Allein glüd- 
licherweiſe gehört gerade der Unterkiefer zu ben am meiften charakteri⸗ 
ſtiſchen Stelettheilen der Beutelthiere. Er zeichnet fih nämlich durch 
einen hafenförmigen Fortfag des nad) unten und hinten gefehrten Un« 
terkieferwinkels aus, welcher weder den Placentalthieren, noch den 
(heute lebenden) Schnabelthieren zulömmt, und wir fönnen aus der 
Anweſenheit dieſes Fortfages an den Unterfiefem von Stonedfield 
ſchließen, daß fie Beutelthieren angehört haben. 

Bon den pflanzenfreffenden Beutelthieren (Botano- 
phaga) tennt man bis jet aus dem Jura nur zwei Verfteinerungen, 
nämlic) den Stereognathus oolithicus aus den Schiefern von Sto- 
neöfield (unterer Dolith) und den Plagiaulax Becklesii aus den mitt- 
teren Purbedfchichten (oberer Dolith). Dagegen finden fih in Reu- 
holland riefige verfteinerte Reſte von ausgeſtorbenen pflanzenfreſſenden 
Beutelthieren der Diluvialzeit (Diprotodon und Nototherium), welche 
weit größer ald die größten, jept noch lebenden Marfupialien waren. 


. 543 
Syſtematiſche Ueberſicht 
der Legionen, Ordnungen und Unterordnungen der Säugethiere. 


L. Erfe Aulerklaſe der Zäugethiere: 
Gabler oder Mloakenthiere (Monotrema oder Ornithodelphia). 
Säugetiere mit Kloake, ohne Placenta, mit Beuteltuochen. 














a de (Microlestes?) 


tbiere der Triaszeit (Dromatherium ?) 
I. Schnabel⸗ 1. Waſſer 1. Ornithorhyn- | 1. Ornithorhynchus 
thiere Schnabelthier e ehida paradoxus 
Ornithostoma 2. Land- . Echidnid A 
Gänabertpiere 7 Fohlänlän | 2. Echidna hystrix 





IL weite Unterklafe der Züngethiere: 
Beutler oder Beutelthlete (Marsupialia oder Didelphia). 
Säugetiere ohne Kloale, ohne Placenta, mit Beutelknochen. 

















Segionen Ordnungen Hußematifher Familien 
der der Aame der der 
Bentelthiere Weniellhiere Ordnungen Veutelthhiete 
1. Huf- 1. Barypoda 1. Sieroognathlda 
Beuteltbiere 2. Nototherida 


(Hufbentler) { 8. Diprotodontia 

2. Känguruß- 2. Macropoda 4. Pisgiaulacida 

II Pflanen- Beutelthiere li Halmaturida 
frefiende (Springbeutlen) 6. Dendrolsgida 
Benteltgiere ] 3. Burzelfreffende 3. Rhisophaga { 


Botanophaga Bentelthiere 7. Phascolomyida 


Ragebeutler) 
4. Fruchtefreſſende 4. Carpophaga 8. Phascolarctida 
Beutelthiere 9. Phalangistida 
(Kletterbeutler) ‚0. Petaurida. 
5. Iufelten- 5. Cantharophagafil. Thylacotherida 
freffende 118. Spalacotherida 
Bentelthiere 18. Myrmecobida 
Urbeutler) 14. Peramelid- 
w. 6. Zahnarme 6. Edentala 
ng Bentelthiere {u Tarsipedina 
Bentelthiere | (Rüffelbentler) . 
Zoophaga 7. Raub- 7. Creophaga fr Dasyurida 
Bentelthiere 17. Thylaeinida 
Raubbeutlen) 18. Thylacoleonida 
8. Affenfüßige 8. Pedimana 
Beutelthiere ba Chironeetida 
20. Didelphyida 


(Handbeutler) 








542 Pflamgenfrefſende Beutelthiere. 


unterſcheiden, wie die verſchiedenen Ordnungen der Placentalthiere. 
Zum Theil entſprechen ſie den letzteren volllommen. Offenbar hat die 
Anpaſſung an ähnliche Lebensverhältniſſe in den beiden Unterklaſſen 
der Marfupialien und Placentalien ganz entſprechende ober analoge 
Umbildungen der urfprünglihen Grundform bewirkt. Man kann in 
diefer Hinficht ungefähr acht Ordnungen von Beutelthieren unterſchei ⸗ 
den, von denen die eine Hälfte die Hauptgruppe oder Legion der 
pflanzenfreffenden, die andere Hälfte die Legion der fleifchfreflenden 
Marfupialien bildet. Bon beiden Legionen finden ſich (falls man 
nicht auch den vorher erwähnten Mitrofeftes und das Dromatberium 
der Trias hierher ziehen will) die älteften foſſilen Refte im Jura vor, 
und zwar in den Schiefern von Stonesfield, bei Oxford in England. 
Diefe Schiefer gehören der Bathformation oder dem unteren Dolith 
an, derjenigen Schichtengruppe, welche unmittelbar über dem Lind, 
der älteften Jurabildung, fiegt (vergl. ©. 345). Allerdings befteben 
die Beutelthierrefte, welche in den Schiefern von Stonesfield gefun- 
den wurden, und ebenfo diejenigen, welche man fpäter in den Pur- 
bedichichten fand, nur aus Unterkiefern (vergl. ©. 358). Allein glüd- 
licherweiſe gehört gerade der Unterkiefer zu den am meiften charakteri ⸗ 
ſtiſchen Stelettheilen der Beutelthiere. Er zeichnet ſich nämlich durch 
einen hafenförmigen Fortfag des nad} unten und hinten gekehrten Un- 
terkieferwinkels aus, welcher weder den Placentalthieren, noch den 
(heute lebenden) Schnabelthieren zulömmt, und wir können aus der 
Anweſenheit dieſes Fortfage® an den Unterfiefern von Stoneßfield 
ſchließen, daß fie Beutelthieren angehört haben. 

Bon den pflanzenfreffenden Beutelthieren (Botano- 
phaga) tennt man bi® jegt aud dem Jura nur zwei Berfteinerungen, 
nämlich den Stereognathus oolithicus aus den Schiefern von Sto- 
nesfield (unterer Dofith) und den Plagiaulax Becklesii aus den mitt- 
teren Purbedfchichten (oberer Dolith). Dagegen finden fih in Reus 
holland riefige verfteinerte Reſte von auägeftorbenen pflanzenfrefjenden 
Beutelthieren der Diluviafzeit (Diprotodon und Nototherium), welche 
weit größer als die größten, jeßt noch lebenden Marfupialien waren. 


543 
Syſtemaliſche Ueberficht 
der Legionen, Ordnungen und Unterordnungen der Säugethiere. 


1 Grfe Mnterklafe der Bängeihiere: 
Gabler oder Mloakenthiere (Monotrema oder Ornithodelphia). 
Säugethiere mit Kloake, ohne Placente, mit Beutelknochen. 

















1 Stamm · M 
fänger { Unbelannteansgeforbene Sänge- | (Microlestes?) 


tbiere der Triaszeit (Dromatherium ?) 
m. Ghnabel- 1. Baffer. 1. Ornithorhyn- | 1. Ornithorbynchus 
tbiere Sänabelthiere chida paradoxus 
Ornsthostema 2. Lanb- 2. Echldnid: . Echidı 
Sänaderigiege YTehläaie | 3. Behidnn hytri 





DL. weite Muterhlaffe der Sängethlere: 
Bentler oder Beutelthiere (Marsupialia oder Didelphia). 
Sängethiere ohne Kloake, ohne Placenta, mit Beutelknochen. 














Segionen Ordunugen Sußematifder Zawilien 
der der Aame der der 
Benielihiere Wenielthiere Ordnungen Bentelthiere 





1. Huf- 1. Barypoda, 
Beutelthiere 
Hufbentler) 
2. Kängurub- 2. Macropoda 
mu en: Beutelthiere 
ran " (Springbeutlen) 


{ . Btereognathida 
Bentelthiere | 3. Wurzelfreffende 8. Rhizophaga { 


1. 

2. Nototherida 

8. Diprotodontia 
4. Plagisulacida 
6. Halmaturide 

6. Dendrolagida 


Botanophaga Beutelthiere 7. Phascolomyida 


Ragebeutler) 
4. Srüdtefreffende 4. Carpophaga 8. Phascolarctida 
Beutelthiere 9. Phalangistida 
(Kletterbeutler) ‚0. Petaurida. 
6. Infelten- 65. Cantharophagafil. Thylacotherida 
freffenbe 18. Bpalacotherida 
Benteltbiere 18. Myrmecobida 
Urbeutler) 14. Peramelida 
mw. gt 6. Zahnarme 6. Edentala 
Pan Beutelthiere fi Tarsipedina 
Bentelthiere (Rüffelbeutlen 
Zoophage 7. Raub- 7. Creophaga 16. Dasyurida 
Bentelthiere 17. Thylaeinida 
Raubbeutler) 18. Thylacoleonida 
8. Affenfüßige 8. Pedimana u 
f 19. Chironectida 
Bentelthiere di Didelphyida 


(Handbentler) 


546 Pflanzenfrefiende Beutelthiere. 

Diprotodon australis, deifen Schädel allein drei Fuß lang ift, übertraf 
das Flußpferd oder den Hippopotamus, dem es im Ganzen an ſchwer⸗ 
fälligem und plumpem Körperbau gli), noch an Größe. Man kann 
dieſe ausgeſtorbene Gruppe, welche wahrfcheinfich den riejigen placen- 
talen Hufthieren der Gegenwart, den Flußpferden und Nhinoceros, 
entfpricht, wohl ala Hufbeutler (Barypoda) bezeichnen. Diefen 
ſehr nahe fteht die Ordnung der Känguruhs oder Springbeutler 
(Macropoda). Sie entfprehen durch die fehr verkürzten Border 
beine, die fehr verlängerten Hinterbeine und ben ſehr jtarfen Schwarg, 
der ala Springftange dient, den Springmäufen unter den Ragethieren. 
Durch ihr Gebiß erinnern fie dagegen an die Pferde, und durch ihre 
zuſammengeſetzte Magenbildung an die Wiederfäuer. Cine dritte 
Ordnung von pflanzenfreifenden Beutelthieren entipricht durch ihr Ge⸗ 
big den Nagethieren und dur ihre unterirdifche Lebendweiſe noch 
befonder® den Wühlmäufen. Wir Fönnen diefelben daher ald Nage- 
beutler oder wurzelfreilende Beutelthiere (Rhizophaga) bezeichnen. 
Sie find gegenwärtig nur noch durch das auftraliihe Wombat (Plas- 
colomys) vertreten. Cine vierte und letzte Drbnmg von pilanzenfrei- 
fenden Beutelthieren endlich bilden die Kletterbeutler oder früchte ⸗ 
freffenden Beutelthiere (Carpophaga), welche in ihrer Lebensweiſe 
und Geftalt theild den Eichhörnchen, tbeild den Affen entſprechen 
(Phalangista, Phascolarctus). 

Die zweite Legion der Marjupialien, die fleiſchfreſſenden 
Beutelthiere (Zoophaga), zerfallen ebenfalls in vier Hauptgrup ⸗ 
pen oder Drdnungen. Die ältefte von diefen ift die der Urbeutler 
oder infettenfreifenden Beutelthiere (Cantharophaga). Zu dieier ge- 
hören wahrſcheinlich die Stammformen der ganzen Legion, und viel- 
leicht auch der ganzen Unterklaſſe. Wenigitens gehören alle ftoned- 
fielder Unterkiefer (mit Ausnahme des erwähnten Stereognathus) 
änfektenfreiienden Beutelthieren an, welche in dem jept noch lebenden 
Myrmecobius ihren nächften Verwandten befigen. Doch war bei 
einem Theile jener oolithiſchen Urbeutler die Zahl der Zähne größer, 
als bei allen übrigen befannten Säugethieren, indem jede Unterkiefer 


Stammbaum ber Säugethiere. 545 














Menihen 
Homines 
Elephanten 
Alippdaſſe gen | Nycterides 
Lamnungia Sqhmalnaſe J 
| | ar 
7 Platyrhinae ederl 
—— er J n 
i Affen Carnivora 
Nagethiere Bimiae Ranbthiere 
mung: | ai | 7 
‚eptodacty] Lemma 
Barcoceta ! Brachyiarsi "Safer 
— Insectivora 
| — 
nn | | | 
Walthiere Halbaffen 
—28 —* 
Deciduathiere 
F wm 
loſe 
—* 
lgrentalthiere 
Beutelthi i jende Beut 
ae — | ae onen 
| 
Bentelthiere 
Schnabelthiere Marsupialia 
Ornithostoma 
\ j 
! . 
—— — 
Aloateuthiere 
Monotrema 








Hertel, Retürl, Schöpfungegeig. 5. Auf. 35 


548 Plocentaltgiere ober Placentafien. 


ſtändig kennen, und die jept lebenden Marfupialien offenbar nur die 
legten Refte des früheren Formenreichthums darfellen. Bielleicht 
haben fid) die Handbeutler, Raubbeutier und Rüffelbeutier ald drei 
divergente Aefte aus der gemeinjamen Stammgruppe der Urbeutier 
entwidelt. In ähnlicher Weiſe find vielleicht andrerfeits die Roger 
beutfer, Springbeutler und Hufbeutler ald drei außeinandergehende 
Zweige aus der gemeinfamen pflanzenfreilenden Stammgruppe, den 
Kletterbeutiern hervorgegangen. Kletterbeutler aber und Urbeutler 
tönnten zwei divergente Aefte der gemeinfamen Stammformen aller 
Beutelthiere fein, der Stammbeutler (Prodidelphia), welche wäh- 
tend der älteren Sefundärzeit aus den Kloakenthieren entitanden. 

Die dritte und legte Unterflaije der Säugethiere bilden die Pla- 
centalthiere oder Blacentner (Monodelphia oder Placentalia). 
Sie ift bei weitem die wichtigfte, umfangreihfte und vollfommenfte 
von den drei Unterflaffen. Denn zu ibr gehören alle bekannten 
Säugethiere nach Ausſchluß der Beutelthiere und Schnabelthiere. 
Auch der Menſch gehört diefer Unterklafie an und bat fih aus nie 
deren Etufen derfelben entwidelt. 

Die Placentalthiere unterfheiden fih, wie ihr Rame fagt, von 
den übrigen Säugethieren vor Allem durch den Befig eines fogenann- 
ten Mutterfudend oder Aderkuchens (Placents). Das ift 
ein fehr eigenthümliches und merkwürdiges Organ, welches bei der 
Emährung des im Mutterleibe ſich entwidelnden Jungen eine hödhft 
wichtige Rolle fpielt. Die Placenta oder der Mutterkuchen (auch 
Nachgeburt genannt) ift ein weicher, ſchwammiger, rother Körper von 
fehr verfchiedener Form und Größe, welcher zum größten Theile aus 
einem unentwirrbaren Gefledht von Adern oder Blutgefäpen beſteht 
Seine Bedeutung beruht auf dem Stoffaustaufch des emährenden Biu- 
te8 zwifchen dem mütterlihen Furchtbehaͤlter oder Uterus und dem 
Leibe des Keimes oder Embryon (f. oben ©. 266). Weber bei den 
Beutelthieren, noch bei den Schnabelthieren ift dieſes höchft wichtige 
Organ entwidelt. Bon diefen beiden Unterklaffen unterfdeiden ſich 
aber auch außerdem die Placentalthiere noch durch manche andere 


Bleifchfrefiende Beutelthiere. 547 


bälfte von Thylacotherium 16 Zähne enthielt (3 Schneidezähne, 
1 Edjahn, 6 falſche und 6 wahre Badzähne). Wenn in dem unbe 
tannten Dberkiefer eben fo viel Zähne fapen, fo hatte Thylacothe- 
rium nicht weniger ald 64 Zähne, gerade doppelt fo viel ald der 
Menfh. Die Urbeutler entfprecpen im Ganzen den Inſektenfreſſern 
unter den Placentalthieren, zu denen Igel, Maulwurf und Spitzmaus 
gehören. ine zweite Ordnung, die fih wahrfeinlih aus einem 
Zweige der erfteren entwickelt hat, find die Rüffelbeutler oder 
zahnarmen Beutelthiere (Edentula), welche durch die rüfjelförmig ver- 
längerte Schnauze, das verfümmerte Gebiß und die demfelben ent« 
fprechende Lebensweiſe an die Zahnarmen oder Edentaten unter den 
Placentalien, insbeſondere an die Ameifenfrejler, erinnern. Andrer⸗ 
ſeits entſprechen die Raubbeutler oder Raubbeutelthiere (Creo- 
Phaga) durch Lebensweiſe und Bildung des Gebijjes den eigentlichen 
Raubthieren oder Garnivgren unter den Placentalthieren. Es gehören 
dahin der Beutelmarder (Dasyurus) und der Beutelwolf (Thylacinus) 
von Neuholland. Obwohl lepterer die Größe des Wolfes erreicht, ift 
er doch ein Zwerg gegen die ausgeftorbenen Beutellöwen Auftraliens 
(Tbylacoleo), welche mindeſtens von der Größe des Köwen waren 
und Reißzähne von mehr ald zwei Zoll Länge befagen. Die achte 
und legte Ordnung endlich bilden die Hand beutler oder die affen- 
füßigen Beutelthiere (Pedimana), welche ſowohl in Auftrolien ala in 
Amerifa leben. Sie finden fi häufig in zoologifhen Gärten, nar 
mentlich verfepiedene Arten der Gattung Didelphys, unter dem Na- 
men der Beutelatten, Bufchratten oder Opoſſum bekannt. An ihren 
Hinterfüßen fann der Daumen unmittelbar den vier übrigen Zehen 
entgegengefegt werden, wie bei einer Hand, und jie ſchließen ſich da- 
durch unmittelbar an die Halbaffen oder Profimien unter den Pla- 
centalthieren an. Es wäre moͤglich, daß dieje lepteren wirklich den 
Handbeutlern näditverwandt find und aus längft ausgeftarbenen 
Borfahren derfelben ſich entwidelt haben. 

Die Genealogie der Beutelthiere ift fehr ſchwierig zu errathen, 
vorzüglich deshalb, weil wir die ganze Unterklaſſe nur höchſt unvoll- 

35* 


550 Placentalthiere ohne und mit Decidua. 


Theil der Placenta nicht jene eigenthümliche ſchwammige Haut, welche 
man als hinfällige Haut oder Decidua bezeichnet. Dieſe findet 
ſich ausſchließlich bei den fieben höher ftehenden Ordnungen der Pla- 
centalthiere, und wir können diefe letzteren daher nah Hurley in der 
Hauptgruppe der Deciduat hiere (Deciduata) vereinigen. Diefen 
ftehen die drei erftgenannten Legionen als Decidualofe (Indecidus) 
gegenüber. 

Die Placenta unterfdheidet fich bei den verſchiedenen Drbnungen 
der Placentalthiere aber nicht allein durch die wichtigen inneren Struc- 
turverfchiedenheiten,, weiche mit dem Mangel oder ber Abweſenheit 
einer Decidua verbunden find, fondern auch dur die äußere Yon 
des Mutterkuchens felbft. Bei den Indeciduen befteht derfelbe mei- 
ſtens aus zahlreichen einzelnen, zerftreuten Gefäßfnöpfen oder Zotten, 
und man fann daher diefe Gruppe auch als Zottenplacentner 
(Villiplacentalia) bezeichnen. Bei den Deciduaten dagegen find die 
einzelnen Gefäßzotten zu einem zufammenhängenden Kuchen vereinigt, 
und diefer erſcheint in zweierlei verfchiedener Geftalt. In den einen 
nämlich umgiebt er den Embryo in Form eines gefchloffenen Gürteld 
ober Ringes, fo daß mır die beiden Pole der längfichrunden Eiblafe 
von Zotten frei bfeiben. Das ift der Fall bei den Raubthieren (Car- 
naria) und den Scheinhufern (Chelophora), die man deshalb als 
®ürtelplacentner (Zonoplacentalia) zufammenfaffen fann. In 
den anderen Deciduathieren dagegen, zu welchen auch der Menfch ge⸗ 
hört, bildet die Placenta eine einfache runde Scheibe, und wir neunen 
fie daher Scheibenpfacentner (Discoplacentalia), Daß find die 
fünf Ordnungen der Halbaffen, Nagethiere, Infektenfreifer, Fledet ⸗ 
tbiere und Affen, von melden lepteren auch der Menſch im z00logie 
ſchen Syfteme nicht zu trennen ift. 

Daß die Placentalthiere erft aus den Beutelthieren ſich entwidelt 
haben, darf auf Grund ihrer vergleichenden Anatomie und Entwider 
lungẽgeſchichte als ganz ficher angefehen werden, und wahrſcheinlich 
fand diefe höchft wichtige Entwidelung,, die erfte Entftebung der Pla- 
centa, erft im Beginn der Tertiärzgeit, während der Gocen- Periode, 


Abflammung der Placentalthiere von den Beutelthieren. 551 


ftatt. Dagegen gehört zu den fchwierigften Kragen der thierifchen Ge⸗ 
nealogie die wichtige Unterfuhung, ob alte Placentalthiere aus einem 
oder aud mehreren getrennten Zweigen der Beutlergruppe entftanden 
find, mit anderen Worten, ob die Entftehung der Placenta einmal 
oder mehrmal ftatt hatte. Als ich in meiner generellen Morphologie 
zum erften Male den Stammbaum der Säugethiere zu begründen 
verſuchte, zog ich auch hier, wie meiften®, die monophyfetifche oder 
einwurzelige Deſcendenzhypotheſe der polyphyletiſchen oder vielwurze- 
ligen vor. Ich nahm an, daß alle Placentner von einer einzigen 
Beutelthierform abftammten, die zum erfien Mate eine Placenta zu 
bilden begann. Dann wären die Billipfacentalien, Zonoplacentalien 
und Discoplacentalien vielleicht als drei Divergente Mefte jener gemein» 
famen placentalen Stammform aufzufaſſen, oder man könnte auch 
denten, daß die beiden lepteren, die Deciduaten, ſich erſt fpäter aus 
den Indeciduen entwidelt hätten, die ihrerſeits unmittelbar aus den 
Beutlern entftanden feien. Jedoch giebt e8 andrerfeit® auch gewichtige 
Gründe für die andere Alternative, daß nämlich mehrere von Anfang 
verſchiedene Placentnergruppen aus mehreren verſchiedenen Beutler- 
gruppen entftanden feien, daß alfo die Placenta ſelbſt fich mehrmals 
unabhängig von einander gebildet habe. Dies ift unter anderen die 
Anficht des audgezeichnetften englifchen Zoologen, Huxley's. In 
diefem Falle wären zunächft als zwei ganz getrennte Gruppen die 
Indeciduen und Deciduaten aufzufaſſen. Bon, den Indeciduen wäre 
möglicherweife die Ordnung der Hufthiere, al® die Stammgruppe, 
aus den pflanzenfrefienden Hufbeutlern oder Bargpoben entſtanden. 
Unter den Decidunten dagegen würde vielleicht Die Ordnung der Halb- 
affen, ald gemeinfame Stammgruppe der übrigen Drbmungen, aus 
den Handbeutlern oder Pedimanen entftanden fein. Es wäre aber 
auch denkbar, daß die Deciduaten felbft wieder aus mehreren verſchie⸗ 
denen Beutler-Ordnungen entftanden feien, die Raubthiere z. ®. aus 
den Raubbeutlern, die Nagethiere aus den Nagebeutfern, die Halb- 
affen aus den Handbeutlern u. ſ. w. Da wir zur Zeit noch fein ges 
nügendes Erfahrungsmaterial befigen, um dieſe äußerft ſchwierige 


552 ‚Hufthiere oder Ungulaten. 


Frage zu löfen, fo laſſen wir diefelbe auf fih beruhen, und menden 
und zur Geſchichte der verſchiedenen Placentner- Ordnungen, deren 
Stammbaum fih im Einzelnen oft in großer Bollftändigkeit feſt⸗ 
ftellen läßt. 

Die wichtigfte und umfangreichfte Gruppe unter ben Decidua- 
fofen oder Zottenplacentnern bildet die Ordnung der Hufthiere (Un- 
gulata), auß welcher fih die Ordnung ber Walthiere wahrſcheinlich 
erft fpäter durch Anpaffung an fehr verfdiedene Lebensweiſe ent- 
widelt hat. Ganz dunkel ift gegenwärtig noch ber Urfprung der 
BZahnarmen oder Edentaten. 

Die Hufthiere gehören in vieler Beyiepung zu ben widhtigften 
und intereffanteften Säugethieren. Sie zeigen deutlich, wie und das 
wahre Berftänbniß der natürlichen Verwandtfchaft der Thiere niemals 
allein aus dem Studium der noch lebenden Formen, fondern fletd 
nur durch gleichmäßige Berüdfichtigung ihrer außgeftorbenen und ver- 
fteinerten Blutsverwandten und Vorfahren erſchloſſen werden Tann. 
Wenn man in herfömmlicher Weife allein die lebenden Hufthiere bes 
rüdfichtigt, fo erſcheint e8 ganz naturgemäß, biefelben in drei gänz ⸗ 
lich verfhiedene Ordnungen einzutheilen, nämlich 1. die Pferde oder 
Einhufer (Solidungula ober Equina); 2. die Wiederfäuer oder 
Zweihufer (Bisulca oder Ruminantis); und 3. die Didhäuter 
oder Bielhufer (Multungula oder Pachyderma). Sobald man 
aber bie außgeftorbenen Hufthiere der Tertiärzeit mit in Betracht zieht, 
von denen wir fehr zahlreiche und wichtige Refte befipen, fo zeigt fich 
bald, daß jene Eintheilung, namentlich aber die Begrenzung der Did- 
häuter, eine ganz künſtliche ift, und daß diefe drei Gruppen nur ab- 
geſchnittene Aeſte des Hufthierftammbaums find, welche durch außge- 
ftorbene Zwiſchenformen auf da8 engfte zufammenhängen. Die eine 
Hälfte der Didhäuter, Nashorn, Tapir und Paläotherien zeigen ſich 
auf dad nächfte mit den Pferden verwandt, und befigen gleich dieſen 
unpaarzehige Füße. Die andere Hälfte der Didhäuter Dagegen, 
Schweine, Flußpferde und Anoplotherien, find durd ihre paarzehigen 
Füße viel enger mit den Wiederfäuern, als mit jenen erfleren were 


‚Huftfiere oder Ungulaten. . 553 
bunden. Wir müffen daher zunächft als zwei natürliche Hauptgrup⸗ 
pen unter ben Hufthieren die beiden Orbnungen der Paarhufer und 
der Unpaarhufer unterſcheiden, welche fi) als zwei divergente Aefte 
aus der alttertiären Stammgruppe der Stammhufer oder Prochelen 
entwidelt haben. 

Die Ordnung der Unpaarhufer (Perissodactyla) umfaßt 
diejenigen Ungulaten, bei denen bie mittlere (oder dritte) Zehe des 
Fußes viel ftärker als die übrigen entroidelt ift, fo daß fie die eigent- 
liche Mitte des Hufes bildet. Es gehört hierher zunaͤchſt die uralte 
gemeinfame Stammgruppe aller Hufthiere, die Stammhufer 
(Prochela), welche ſchon in den äfteften eocenen Schichten verfteinert 
vorfommen (Lophiodon, Coryphoden, Pliolophus), An biefe 
ſchließt ſich ummittelbar derjenige Zweig derfelben an, welcher die 
eigentlihe Stammform der Unpaarhufer ift, die Baläotherien, 
welche foffil im oberen Eocen und unteren Miocen vorfommen. Aus 
den Paläotherien haben ſich fpäter ald zwei divergente Zweige einer 
feitd die Nashdmer (Nasicornia) und Nahompferde (Elasmothe- 
rida), andrerfeit® die Tapire, Camatapire und Urpferde entwidelt. 
Die ‚längft auögeftorbenen Urpferde oder Anditherien vermittelten 
den Mebergang von den Paläotherien und Tapiren zu den Mittel- 
pferden oder Hipparionen, die den noch lebenden echten Pferden ſchon 
‚ganz nahe ftehen. 

Die zweite Hauptgruppe der Hufthiere, die Ordnung der Paar⸗ 
bufer (Artiodactyla) enthält diejenigen Hufthiere, bei denen bie 
mittlere (dritte) und die vierte Zehe des Fußes mahezu gleich ſtark ent- 
voidelt find, fo daß die Theilungsebene zwifchen Beiden die Mitte des 
ganzen Fußes bildet. Sie zerfällt in die beiden Unterorbnungen der 
Schweineförmigen und der Wiederfäuer. Zu den Schweineförmi- 
gen (Choeromorpha) gehört zunächft der andere Zweig der Stamm- 
hufer, die Anoplotherien, melde wir als die gemeinfame Stamm- 
form aller Paarhufer oder Artiodactylen betrachten (Dichobune etc.). 
Aus den Anoplotheriden entfprangen als zwei Divergente Zweige einer- 
ſeits die Urſchweine oder Anthrafotherien, welche zu den Schweinen 


554 
Syſtematiſche Ueberficht 


der Sectionen und (Familien der Hufthiere oder Ungulaten. 


(8-B. Die ausgeftorbenen Familien find burd; ein F bezeichnet.) 





























c. Säwie- 


u 136. Lamas 26. 
Tylopoda 8 Kamele 2. 


Auchenids 
Camelida 


Oronungen Sehtionen Familien ' Faßematifger 
der der der | Jame der 
Hufthiere Huflhiere Hafihiere Famifien 
L Stammhufer +; 1. Lophisdenten 1. Lephiodontia + 
‚Prochela 2. Pliolophiden 2. Pliolophida + 
1: 3. Stammun- 3. Palaeotherida t 
Unvaarzefige | u. Tapirförmige ) 4, — 4. Macrauchenidat 
Fang Tapivomorpha 5. Tapire 5. Tapirida 
perissodaotyla 6. Nashörmer 6. Nasicornia 
: 7, Raßhornpferbe 7. Elasmotberidat 
1. Prag - 8. Urpferbe ®. Anchitherida + 
9. Pferde 9. Equina 
‚0. Stammmpaer- 10. Anoplotheridat 
hufer 
IV. Shweineförmigeſtl. Urſchweine 11. Frag + 
Choeromorpha 12. Schweine 12. Setigern 
18. Flußpferde 13. Obesa 
4. Unvieberfäner 14. Xipbodontia + 
16. Urhirſche 15. Dremotberida + 
a. fi. Scheimmo- 16. Tragalide 
fQusthiere 
m a. Sirf- N Mofdjub- 17. Moschida 
— el 6.4 hiere 
ufthiere . 
Ungulate M Sirſche 18. Gervina 
artiodastyia 19. Urgirefien 19. Sivathorida + 
Sinter- 20. Giraffen 20. Devexa 
täner e * 
21. Urgagellen 21. Antilocaprina t 
Renman B. Hoßl- jÜ- las. @ajelen 19. Antilopine 
Fi ner 28. Biegen 33. Caprina 
Cavicormia {u Schafe 24. Ovina 
ki Rinder 25. Bovina 





Stammbaum der Hufthiere oder Ungulaten. 555 





Rinder Giraffen 
Sghge Sfr | 
N | | | Moſchusthiere Herde 
u j ‚qui 
| a 
| 
— Hippariones 
| viren Er lamele 
— I ee uwede 
Hohfhörner Minphia  Tylopodn DE, 
— | \ 
— — Einhufer 
Urhi Selidungula 
Dromehan | 
! 
— — 
Wiederläuer 
Ruminantia 


| 


Tapire 
i Tapirida Lamatapire 
Sirenia Macrauchenida 








| Stußpferde | 
Obesa Gemeine — —. 
| Satigera 
| Rathornpferde 
i | Elasmotherida | 
1 
 Trfegmeine Nasicornia | 
Anthraco- j. ! . —— 
therida täuer j 1 


| Xiphodontia Bu 





— — — — 
te 
St —e Stammnnpanrhufer 


| . | 
a 


Stammhufer 
(Lophiodontia ımb Pliolophida) 
| 





ceſtericlllien Barypoda ?) 











556 Walthiere ( Cetateen). 


und Flußpferden, andrerſeits die Xiphobonten, welche zu den Wieder- 
täuern hinüberführten. Die älteften Wiederfäuer (Ruminantia) 
find die Urbirfche oder Dremotherien, aus denen vielleicht ald drei 
divergente Zweige die Hirfhförmigen (Elaphia), die Hohlhörnigen 
(Cavicornia) und die Kamele (Tylopoda) fi} entwidelt haben. Doch 
find die fepteren in mancher Beziehung mehr den Unpaarhufern als 
den echten Paarhufern verwandt. Wie fich die zahlreihen Familien 
der Hufthiere diefer genealogifchen Hypothefe entſprechend gruppiren, 
zeigt Ihnen vorftehende foftematifche Ueberficht (©. 554). 

Aus Hufthieren, welche fih an das ausfchließliche Leben im Baf- 
fer geröhnten, und dadurch fiſchähnlich umbildeten, ift wahrſchein ⸗ 
lich. die merfwürdige Legion der Walthiere (Cetacea) entfprungen. 
Obwobl diefe Thiere äußerlich manden echten Fiſchen fehr ähnlich 
eribeinen, find fie dennoch, wie ſchon Ariftoteles erfannte, echte 
Säugetbiere. Durch ihren gefammten inneren Bau, fofern berfelbe 
nicht durch Anpajlung an das Wafferleben verändert ift, ſtehen fie 
den Huftbieren von allen übrigen befannten Säugethieren am näd- 
ften, und theilen namentlich mit ihnen den Mangel der Decidua und 
die zottenförmige Placenta. Noch heute bildet das Flußpferd (Hippo- 
potamus) eine Art von Uebergangsform zu den Seerindern (Sirenia), 
und es ift demnach da® wahrſcheinlichſte, daß die audgeftorbenen 
Stammformen der Tetaceen den heutigen Seerindern am nächften 
fanden, und fi aus Paarhufern entwidelten, welche dem Flußpferd 
verwandt waren. Aus der Ordnung der pflanzenfreffenden 
Baltbiere (Phycoceta), zu welcher die Seerinder gehören, und 
welche demnach wabrfdeinlidh die Stammformen der Legion enthält, 
ſcheint ſich fpäterbin die andere Ordnung der fleifhfreffenden 
Waltbiere (Sarcoceta) entwidelt zu haben. Doch nimmt Hur- 
te an, daß diefe Iepteren garg anderen Urfprung® und aus den 
NRaubtbieren (zunächft aus den Pirmipedien) entftanden feien. Als 
Nebergangöformen zwifchen Beiden betrachtet derfelbe die außgeftorbe- 
nen riefigen Jeuglodonten (Zeugloceta), deren foffile Stelete vor 
einiger Zeit al® angebliche „Seefhlangen“ (Hydrarchus) großes Auf- 


Zahnarme (Ebentaten). 557 


fehen erregten. Aus diefen follen erft fpäter die eigentlichen Walfifche 
(Autoceta) entftanden fein, zu denen außer den coloſſen Bartenwalen 
auch die Potwale, Delphine, Narwale, Seeſchweine u. ſ. w. gehören. 

Die dritte und letzte Legion der Indeciduen oder Sparfiplacenta- 
lien bildet die feltfame Gruppe der Zahnarmen (Edentata). Sie 
ift aus den beiden, wahrſcheinlich nicht nahe verwandten Ordnungen 
der Scharrthiere und der Faulthiere zufammengefegt. Die Ordnung 
der Scharrthiere (Effodientia) befteht aus den beiden Unterord« 
nungen der Ameifenfreffer (Vermilinguia), zu denen auch die 
Schuppenthiere gehören, und der Gürtelthiere (Cingulata), bie 
früher durch die riefigen Glyptodonten vertreten waren. Die Drd- 
nung ber Faulthiere (Tardigrada) beſteht aus den beiden Untere 
ordnungen der kleinen jetzt noch lebenden Zwergfaulthiere (Bra- 
dypoda) und der außgeftorbenen ſchwerfälligen Riefenfaulthiere 
(Gravigrada). Die ungeheuren verfteinerten Reſte diefer colofjalen 
Pflanzenfreſſer deuten. darauf bin, daß die ganze Legion im Auß- 
fterben begriffen und die heutigen Zahnarmen nur ein bürftiger Reft 
von den gewaltigen Edentaten der Diluvialzeit find. Die nahen Be- 
siehungen ber noch heute lebenden Edentaten Südamerikas zu den aus⸗ 
geftorbenen Riefenformen, die fih neben jenen in demſelben Erdtheil 
finden, machten auf Darwin bei feinem erften Beſuche Suͤdamerikas 
einen ſolchen Eindrud, daß fie hen damals den Grundgebanten der 
Defcendenztheorie in ihm anregten (f. oben ©. 119). Uebrigens ift 
die Genealogie gerade diefer Legion fehr ſchwierig. Die Faulthiere find 
nad neueren Unterfuchungen Discoplacentalien, und den Halbaffen 
nächft verwandt. 

Wir verlaffen nun die erfte Hauptgruppe der Platentner, die 
Decidualofen, und wenden und zur zweiten Hauptgruppe, den De⸗ 
eiduathieren (Deciduata), welche fih von jenen fo weſentlich 
durch den Befip einer hinfälligen Haut oder Decidua während des 
Embryoleben® unterfpeiden. Hier begegnen wir zuerft einer fehr 
merfwürdigen Meinen Tpiergruppe, welche zum größten Theile aus- 
geftorben ift, und zu welcher wahrſcheinlich die alttertiären (oder 





558 Halbaffen ober Profanien. 


eocenen) Borfahren des Menfchen gehört haben Das find die 
Halbaffen oder Lemuren (Prosimiae). Dieſe fonderbaren Thiere 
find wahrfcheinlih wenig veränderte Nachlommen von der uralten 
Blacentnergruppe, die wir ald die gemeinfame Stammiorm 
aller Deciduathiere zu betradten haben. Sie wurden bisher 
mit den Affen in einer und derfelben Ordnung, die Blumenbach 
als Bierhänder (Quadrumana) bezeichnete, vereinigt. Indeſſen 
trenne ich fie von diefen gänzlich, nicht allein deshalb, weil jie von 
alten Affen viel mehr abweichen, ald die verfchiedenften Affen von ein- 
ander, fonbern auch, weil fie die interejjanteiten Uebergangsformen zu 
den übrigen Ordnungen der Deciduaten enthalten. Ich ſchließe dar- 
aus, daß bie wenigen jept noch lebenden Halbaffen, welche überdies 
unter ſich fehr verſchieden jind, die legten überlebenden Reſte von 
einer faft auögeitorbenen, einftmald formenreihen Stammgruppe dar- 
ftellen, aus welcher ſich alle übrigen Deciduaten (vielleicht mit der 
einzigen Ausnahme der Raubthiere und der Scheinhufer) ald diver- 
gente Zweige entwidelt haben. Die alte Stammgruppe der Halb« 
gen Beutelthieren (Pedimana) entwidelt, welche in der Umbildung 
ihrer Hinterfüße zu einer Greifpand ihnen auffallend gleichen. Die 
uralten (mahrfcheintich in der Eocen⸗Periode entitandenen) Stamım- 
formen felbit find natürlich lüngft ausgeitorben , ebenfo die allermei« 
ften Uebergangsformen zwiſchen denjelben und den übrigen Deci- 
duaten-Drdnungen. Aber einzelne Refte der lepteren haben ſich in 
den noch heute febenden Halbaffen erhalten. Unter diefen bildet das 
merkwürdige Fingerthier von Madagastar (Chiromys madagasca- 
riensis) den Reſt der Leptodactylen-Gruppe und den Uebergang zu 
den Nagethieren. Der feltfame Pelzflatterer der Südfee-Inieln und 
Sunda-Jnjeln (Galeopithecus), das einzige Ueberbleibfel der Pie 
nopleuren-&ruppe, ift eine volltommene Zwiſchenſtufe zwiſchen den 
Halbaffen und Flederthieren. Die Langfüßer (Tarsius, Otolicnus) 
bilden den legten Neft desjenigen Stammzweiges (Macrotarsi), auf 
dem fich die Iniektenfreiler entwidelten. Die Rurzfüper endlid (Bra- 


Nagethiere oder Rodentien. 559 


chytarsi) vermitteln den Anfchluß an die echten Affen. Zu den Kurz⸗ 
fügern gehören die langfchwänzigen Mafi (Lemur), und die kurz 
ſchwänzigen Indri (Lichanotus) und Lori (Stenops), von denen na- 
mentlich die Iepteren fih den vermuthlichen Vorfahren des Denfchen 
unter den Halbaffen jehr nahe anzufchließen feinen. Sowohl die 
Kurzfüßer als die Langfüßer feben weit zerftreut auf den Infeln des 
Tüdlichen Aſiens und Afrikas, namentlich auf Madagastar, einige auch 
auf dem afritanifhen Feftlande. Kein Halbaffe ift bisher lebend oder 
foffil im Amerika gefunden. Alle führen eine einfame, nächtliche Le 
bensweiſe und flettern auf Bäumen umher (vergl. ©. 321). 

Unter den fech® übrigen Deciduaten-Drdnungen, welche wahr- 
ſcheinlich alle von längft außgeftorbenen Halbaffen abftammen, ift auf 
der niedrigften Stufe die formenreiche Ordnung der Nagethiere 
(Rodentia) ftehen geblieben. Unter diefen ftehen die Eihhornar- 
tigen (Sciuromorpha) den Fingerthieren am nächften. Aus diefer 
Stammgruppe haben fi wahrfcheinlich als zwei divergente Zweige 
die Mäufeartigen (Myomorpha) und die Stahelfhwein- 
artigen (Hystrichomorpha) entwickelt, von denen jene durch eocene 
Myopiden, diefe durch eocene Pfammorgetiden unmittelbar mit den 
Eichhornartigen zufammenhängen. Die vierte Unterordnung, die 
Hafenartigen (Lagomorpha), haben ſich wohl erft fpäter aus 
einer von jenen drei Unterorbnungen entwidelt. 

An die Nagethiere ſchließt ſich ſehr eng die merfwürdige Ordnung 
der Scheinhufer (Chelophora) an. Bon diefen leben heutzutage 
nur noch zwei, in Aflen und Afrita einheimifche Gattungen, näm« 
lich die Elephanten (Elephas) und die Klippdaffe (Hyrax). 
Beide wurden bisher gewöhnlich zu den echten Hufthieren oder Un- 
gulaten geftellt, mit denen fie in der Hufbildung der Füße überein- 
fonmen. Allein eine gleihe Umbildung der urfprünglichen Nägel 
oder Krallen zu Hufen findet ſich auch bei echten Nagethieren, und 
gerade umter diefen Hufnagethieren (Subungulata), welche ausſchließ⸗ 
lich Sübamerita bewohnen, finden ſich neben kleineren Thieren (4. B. 
Meerſchweinchen und Goldhafen) auch die größten aller Nagethiere, 


560 Sceinhufer oder Ehelopheren. 

die gegen vier Fuß langen Waſſerſchweine (Hydrochoerus capy- 
bara). Die Klippdaffe, welche auch äußerlich den Ragethieren, na« 
mentfih den Hufnagern fehr ähnlich find, wurden bereits früher 
von einigen berühmten Zoologen als eine befondere Unterordnung 
(Lamnungia) wirflih zu den Nagethieren geftellt. Dagegen be- 
tradhtete man die Elephanten, falld man fie nicht zu den Hufthie ⸗ 
ren rechnete, gewöhnlich als Bertreter einer befonderen Ordnung, 
welche man Rüffelthiere (Proboscidea) nannte. Run flimmen aber 
die Elephanten und Klippdafle merkwürdig in der Bildung ihrer 
Placenta überein, und entfernen ſich dadurch jedenfall gänzlich von 
den Hufthieren. Diefe lepteren befigen niemals eine Decidun, wäh- 
end Elephant und Hyraz echte Decibuaten find. Allerdings ift die 
Placenta derfelben nicht fheibenförmig, fondern gürtelfönmig, wie 
bei den Raubthieren. Allein es ift leicht möglich, daß ſich die gür- 
telförmige Placenta erft fetundär aus der ſcheibenformigen entwidelt 
hat. In diefem Falle könnte man daran denfen, daß die Schein 
bufer aus einem Zweige der Nagethiere, und ähnlich vielleicht die 
Raubthiere aus einem Zweige ber Infektenfrefler ſich entwidelt ha- 
ben. Jedenfalls ftehen die Elephanten und die Klippdaffe auch in 
anderen Beziehungen, namentlich in der Bildung wichtiger Stelet- 
theile, der Gliedmaßen u. f. w., den Nagetbieren, und namentlich 
den Hufnagern, näher als den echten Hufthieren. Dazu kommt no, 
daf mehrere auögeftorbene Formen, namentlich die merfwürdigen 
füdamerifanifhen Pfeilzäbner (Toxodontia) in mancher Beziehung 
zwiſchen Elephanten und Nagethieren in der Mitte ſtehen. Das die 
noch jet lebenden Elephanten und Klippdafje nur die fepten Aus- 
läufer von einer einſtmals formenreihen Gruppe von Scheinhufern 
find, wird nicht allein durch die ſehr zahlreichen verfteinerten Arten 
von Elephant und Maftodon bewiefen (unter denen manche noch 
rößer, mande aber auch viel Fleiner, als die jept lebenden Gle- 
phanten find), fondern auch durch die merfwürbigen miocenen Di- 
notberien (Gonyognatha), zwiſchen denen und den naͤchſwer ⸗ 
wandten Elephanten noch eine lange Reihe von unbefannten ver- 


Inſeltenfreſſer und Raubthiere. 561 


bindenden Zwifhenformen liegen muß. Alles zufammengenommen 
ift Heutzutage die wahrſcheinlichſte von allen Hypotheſen, die man 
ſich über die Entftehung und die Berwandtfchaft der Elephanten, 
Dinotherien, Torodonten und Klippdaffe bilden kann, daß diefelben 
die legten Weberbleibfel einer formenreichen Gruppe von Scheinhufern 
find, die fih aus den Nagethieren, und zwar wahrſcheinlich aus 
Berwandten der Subungulaten, entwidelt hatte. 

Die Ordnung der Infettenfreffer (Insectivora) ift eine fehr 
alte Gruppe, welche der gemeinfamen ausgeftorbenen Stammform 
der Deciduaten, und alfo auch den heutigen Halbaffen, nächftverwandt 
ift. Sie hat fih wahrſcheinlich aus Halbaffen entwidelt, welche den 
heute nod lebenden Langfüßern (Macrotarsi) nahe ftanden. Sie 
ſpaltet fi) in zwei Ordnungen, Menotyphla und Lipotyphla. Bon 
diefen find die älteren wahrfcheinfih die Menotyphlen, welche ſich 
durd) den Befig eines Blinddarms oder Typhlon von den Lipotyphlen 
unterfcheiden. Zu den Menotyphlen gehören die kletternden Tupajas 
der Sunda-Jnfeln und die fpringenden Makroſcelides Afritas. Die 
Lipotyphlen find bei und durch die Spigmäufe, Maulwürfe und Igel 
vertreten. Durch Gebiß und Lebensweiſe fehliegen ſich die Infekten- 
freifer mehr den Raubthieren, durch die jpeibenförmige Placenta und 
die großen Samenblafen dagegen mehr den Nagethieren an. 

Wahrſcheinlich aus einem Tängft außgeftorbenen Zweige der In- 
feftenfreffer hat fich fehon im Beginn der Eocen « Zeit die Ordnung der 
NRanbthiere (Carnaria) entwidelt. Daß ift eine fehr formenreiche, 
aber doch fehr einheitlich organifirte und natürliche Gruppe. Die Raub- 
thiere werben wohl auch Gürtelplacentner (Zonoplacentalia) im 
engeren Sinne genannt, obwohl eigentlich gleicherweiſe die Schein- 
hufer oder Chelophoren diefe Bezeichnung verdienen. Da aber diefe 
fegteren im Uebrigen näher den Nagethieren ald den Raubthieren ver- 
wandt find, haben wir fie ſchon dort befprochen. Die Raubthiere 


zerfallen in zwei, äußerlich fehr verſchiedene, aber innerlich nächte. 


verwandte Unterordnungen, die Sandraubthiere und die Seeraub- 
thiere. Zu den Landraubthieren (Carnivora) gehören die Bä- 
Hacdel, Natürl. Schöpfungsgeih. 5. Aufl. 36 





560 Scheinhufer ober Chelophoren. 


die gegen vier Fuß langen Waſſerſchweine (Hydrochoerus capy- 
bara). Die Klippdajje, welche auch äußerlich den Nagethieren, nı- 
mentlih den Hufnagern fehr ähnlich find, wurden bereits früher 
von einigen berühmten Zoologen als eine befondere Unterordnung 
(Lamnungia) wirflih zu den Nagethieren geftellt. Dagegen be- 
trachtete man die Elephanten, fall? man fie nicht zu den Huftbie 
ren rechnete, gewöhnlich als Vertreter einer befonderen Ordnung, 
welche man Rüſſelthiere (Proboscidea) nannte. Nun ſtimmen aber 
die Elephanten und Klippdaſſe merkwürdig in der Bildung ihrer 
Placenta überein, und entfernen ſich dadurch jedenfalld gänzlich von 
den Hufthieren. Dieſe lepteren befigen niemals eine Decidua, wäb- 
vend Elephant und Hyrar echte Deciduaten find. Allerdings ift die 
Placenta derjelben nicht jcheibenförmig, fondern gürtelformig,, wie 
bei den Raubtbieren. Allein es ift leicht möglich, daß fih die gür- 
telförmige Placenta erjt ſekundär aus der ſcheibenförmigen entwidelt 
bat. In diefem Falle könnte man daran denfen, da die Scein- 
bufer aus einem Zweige der Nagethiere, und ähnlich vielleicht die 
Raubtbiere aus einem Zweige der Infektenfrefier fich entwidelt ba- 
ben. Jedenfalls ftehen die Elephanten und die Klippdaſſe auch im 
anderen Beziehungen, namentlich in der Bildung wichtiger Skelet · 
theile, der Gliedmaßen u. ſ. w., den Nagethieren, und namentlich 
den Hufnagern, näher als den echten Huftbieren. Dazu kommt mod, 
daß mehrere auägeftorbene Formen, namentlich die merfwärdigen 
füdamerifanifchen Pfeilzäbner (Toxodontia) in mander Agiebung 
zwiſchen Glephanten und Nagethieren in der Mitte ſtehen. Das vr 
noch jegt Icbenden Glephanten und Klippdaſſe nur die leptem Mıns- 
läufer von einer einftmal® formenreichen Gruppe von Scheimbarfern 
find, wird nicht allein durch die ſehr zahlreichen verfteinertem — 
von Elephant und Maftodon bewiefen (unter denen 

röfer, mande aber auch viel Meiner, als die jet 

phanten find), fondern auch durch die mei igen 

notherien (Gonyognatha), zwiſchen 
wandten Elephanten noch eine lan 













— — — — 


ern 


u 
Zu 








562 Sanbraubthiere und Sceeraubthiere. 


ven, Hunde, Kapen u. f. w., deren Stammbaum fi) mit Hüffe 
vieler ausgeftorbener Zwiſchenformen annähernd errathen läßt. Zu 
den Seeraubthieren oder Robben (Pinnipedia) gehören die See- 
bären, Seehunde, Seelöwen, und als eigenthümlich angepaßte Sei ⸗ 
tenlinie die Walrofje oder Walrobben. Obwohl die Seeraubthiere 
äußerlich den Landraubthieren fehr unähnlid erſcheinen, find fie den- 
felben dennoch dur) ihren inneren Bau, ihr Gebiß und ihre eigen- 
thuͤmliche, gürtelförmige Placenta nächft verwandt und offenbar aus 
einem Zmeige derfelben, vermuthlih den Marderartigen (Mustelina) 
hervorgegangen. Noch heute bilden unter den legteren die Fiſchottern 
(Lutra) und noch mehr die Seeottern (Enhydris) eine unmittelbare 
Uebergangäform zu den Robben, und zeigen und deutlich, wie der 
Körper der Landraubthiere durch Anpafjung an das Leben im Waſſer 
robbenãhnlich umgebildet wird, und wie aus den Gangbeinen der 
erfteren die Ruderfloſſen der Seeraubthiere entftanden find. Die letz⸗ 
teren verhalten jich demnach zu den erfteren ganz ähnlih, wie un« 
ter den Indeciduen die Walthiere zu den Hufthieren. In gleicher 
Weiſe wie das Flußpferd noch heute zwiſchen den ertremen Zweigen 
der Rinder und der Eeerinder in der Mitte fteht, bildet die Ser 
otter noch heute eine übriggebliebene Zwifchenjtufe zwiſchen den weit 
entfernten Zweigen der Hunde und der Seehunde. Hier wie dort 
hat die gängliche Umgeftaltung der äußeren Körperform, welche durch 
Anpafjung an ganz verfchiedene Lebensbedingungen bewirkt wurde, 
die tiefe Grundlage der erblihen inneren Eigenthümtichfeiten nicht zu 
verwifchen vermodht. 

Nach der vorher erwähnten Anficht von Hugley würden übri- 
gend bloß die pflanzenfrefienden Walthiere (Sirenia) von den Hufe 
thieren abftammen, die fleifchfreiienden Getaceen (Sarcoceta) Dagegen 
von den Ceeraubthieren; zwiſchen den beiden lepteren follen die Zeuglo- 
donten einen Uebergang heritellen. In diefem Falle würde aber die fehr 
nahe anatomifhe Verwandtſchaft zwiſchen den pflanzenfreſſenden und 
fleifchfreffenden Cetaceen ſchwer zu begreifen fein. Die fonderbaren 
Eigenthũmlichkeiten, durch welche jih beide Gruppen von den übri- 


liegende Saugethiere oder Flederthiere. 563 


gen Säugethieren im inneren und äußeren Bau fo auffallend unter- 
ſcheiden, würden dann bloß ald Analogien (durch gleichartige An- 
paffung bedingt), nicht ald Homologien (von einer gemeinfamen 
Stammform vererbt) aufzufaffen fein. Das Ieptere kommt mir aber 
wahrfcheinlicher vor, und daher habe id) auch alle Cetaceen als eine 
ſtammverwandte Gruppe unter den Decidualofen ftehen laffen. 

Ebenfo wie die Naubthiere, fteht den Inſektenfreſſern fehr nahe 
die merkwürdige Ordnung ber fliegenden Säugethiere oder 
Flederthiere (Chiroptera). Cie bat ſich durch Anpaſſung an flie- 
gende Lebensweiſe in ähnlicher Weife auffallend umgebildet, wie die 
Seeraubthiere durch Anpaffung an ſchwimmende Lebensweife. Wahr- 
ſcheinlich hat auch diefe Ordnung ihre Wurzel in den Halbaffen, mit 
denen fie noch heute durch die Pelzflatterer (Galeopithecus) eng ver- 
bunden iſt. Von den beiden Unterordnungen der Flederthiere haben 
ſich wahrſcheinlich die infektenfreilenden oder Kledermäufe (Nycte- 
rides) erft fpäter aus den früchtefrefienden oder Flederhunden 
(Pterocynes) entwidelt; denn die fegteren ftehen in mancher Bezie⸗ 
hung den Hafbaffen noch näher ald die erfteren. 

Als legte Säugethierordnung hätten wir nun endlich noch die 
echten Affen (Simiae) zu befprehen. Da aber im zoologifchen 
Syſteme zu diefer Ordnung auch das Menfchengefchlecht gehört, und 
da dajlelbe fih aus einem Zweige diefer Ordnung ohne allen Zweifel 
biftorifch entwidelt hat, fo wollen wir die genauere Unterfuchung 
ihres Stammbaumes und ihrer Gefchichte einem befonderen Bor- 
trage vorbehalten. 


36* 


Zweiundzwanzigſter Vortrag. 
Urfprung und Stammbaum des Menfhen. 





Die Anwendung der Defcendenztheorie auf den Menfchen. Unermeßliche Be- 
deutung und logiſche Nothwendigkeit derfelben.. Stellung des Menſchen im natir- 
lien Syſtem ber Thiere, insbeſondere unter den bißcoplacentalen Gäugethieren. 
Unberedhtigte Trennung der BVierhänder und Zweihänder. Berechtigte Tremmung 
der Hafbaffen von den Affen. Stellung bes Menfchen in ber Ordnung der Affen. 
Schmalnafen (Affen der alten Welt) und Plattnafen (amerilauiſche Affen). Unter- 
ſchiede beider Gruppen. GEntfiefung des Menſchen aus Schmelnaſen. Menfgen- 
affen ober Anthropoiben. Afritaniſche Denfhenafien (Gorilla und Schimpauſe 
Aſiatiſche Menfcenaffen (Drang und Gibbon). Vergleichung ber verſchiedenen Men- 
ſchenaffen und der verſchiedenen Menſchenraſſen. Ueberficht der Ahuenreihe det 
Menſchen. Wirbelloſe Ahnen (Prochorbdaten) und Wirbelthier - Ahnen. 


Meine Herren! Bon allen einzelnen Fragen, welche durch die 
Adftammungslehre beantwortet werden, von allen befonderen Folge 
rungen, die wir aus derfelben ziehen müſſen, ift feine einzige von 
folder Bedeutung, al8 die Anwendung diefer Lehre auf den Men- 
ſchen felbft. Wie ich fhon im Beginn diefer Vorträge (©. 6) ber 
vorgehoben habe, müffen wir au® dem allgemeinen Inductiondge- 
fege der Defcendenztheorie mit der unerbittlihen Nothiwendigkeit ſtreng · 
fter Logik den befonderen Deductionsſchluß ziehen, daß der Menfh 
ſich aus niederen Wirbelthieren, und zunächſt aus affenartigen Cäu- 
gethieren allmählich und fchrittweife entwidelt hat. Daß biefe Lehre 
ein unzertrennlicher Beſtandtheil der Abftammungslehre, und fomit 
auch der allgemeinen Entwicelungstheorie überhaupt ift, das wird 


Die Antvendung ber Defcenbenztheorie auf ben Menſchen. 565 


» ebenfo von allen denfenden Anhängern, wie von alfen folgerichtig 
fliegenden Gegnern derfelben anerkannt. 

Wenn diefe Lehre aber wahr ift, fo wird die Erkenntniß vom 
thieriſchen Urfprung und Stammbaum des Menfchengefchlechts noth ⸗ 
wendig tiefer, als jeder andere Kortfchritt des menfchlichen Geiftes, 
in die Beurtheifung aller menſchlichen Verhältniffe und zunächft in 
da3 Getriebe aller menfchlihen Wiffenfchaften eingreifen. Sie muß 
früher oder fpäter eine vollſtändige Umwälzung in der ganzen Welt 
anſchauung der Menfchheit hervorbringen. Ich bin der feften Ueber⸗ 
zeugung, daß man in Zufunft diefen unermeflichen Fortſchritt in der 
Erkenntniß ald Beginn einer neuen Entwidelungsperiode der Menfch- 
heit feiern wird. Er läßt fi) nur vergleihen mit dem Schritte des 
Eopernitus, der zum erften Male klar auszufprechen wagte, daß 
die Sonne fi nit um die Erde bewege, fondern die Erbe um 
die Sonne. Ebenſo wie dur das Weltſyſtem des Copernikus 
und feiner Nachfolger die geocentrifhe Weltanfhauung ded 
Menſchen umgeftogen wurde, die falfche Anfiht, daß die Erde der 
Mittelpunft der Welt fei, und da ſich die ganze übrige Welt um 
die Erde drehe, ebenfo wird durch die, ſchon von Lamarck ver- 
ſuchte Anwendung der Defcendenztheorie auf den Menſchen die an⸗ 
thropocentrifhe BWeltanfhauung umgeftoßen, der eitle Wahn, 
daß der Menſch der Mittelpunkt der irdifhen Ratur und das ganze 
Getriebe derfelben nur dazu da fei, um dem Menfchen zu dienen. 
In gleicher Weife, wie das Weltſyſtem ded Copernikus durch 
Newton’ Gravitationstheorie mechaniſch begründet wurde, fehen 
wir fpäter die Deſcendenztheorie des Lamarck durh Darwin's 
Selectiondtheorie ihre urfächlihe Begründung erlangen. Ich habe 
diefen in mehrfacher Hinficht lehrreichen Vergleih in meinen Vorträ- 
gen „über die Entftehung und den Stammbaum des Menfcenge- 
ſchlechts⸗ weiter ausgeführt *5). 

Um nun diefe äußerft wichtige Anwendung der Abftummungs- 
lehre auf den Menfchen mit der unentbehrlihen Unparteilihkeit und 
Objektivität durchzuführen, muß ih Sie vor Allem bitten, fih (für 


560 Scheinhufer oder Ehelophoren. 
die gegen vier Fuß langen Waſſerſchweine (Hydrochoerus capy- 
bara). Die Klippdaffe, welche auch äußerlich den Nagethieren, na- 
mentlih den Hufnagern fehr ähnlich find, wurden bereit früher 
von einigen berühmten Zoologen als eine befondere Unterordnung 
(Lamnungia) wirtlich zu den Nagethieren geftellt. Dagegen br- 
trachtete man die Elephanten, falls man fie nicht zu den Hufthie- 
ven vechnete, gewöhnlich als Vertreter einer befonderen Ordnung, 
welche man Rüffelthiere (Proboscidea) nannte. Run fiimmen aber 
die Elephanten und Klippdafle merfwürdig in der Bildung ihrer 
Placenta überein, und entfernen ſich dadurch jedenfall® gänzlich von 
den Hufthieren. Diefe lepteren befipen niemals eine Decidun, wäh- 
rend Elephant und Hyrag echte Decibuaten find. Allerdings ift die 
Placenta berfelben nicht fcheibenförmig, ſondern gürtelförmig, wie 
bei den Raubthieren. Allein es ift leicht möglich, daß ſich die gür- 
telförmige Placenta erft fetundär aus der fheibenförmigen entwidelt 
hat. In diefem Falle könnte man daran denfen, daß die Schein 
bufer aus einem Zweige der Nagethiere, und ähnlich vielleicht die 
Raubthiere aus einem Zweige ber Infeltenfrefler fi) entwidelt ha- 
ben. Jedenfalls ftehen die Elephanten und die Klippdaſſe aud in 
anderen Beziehungen, namentlich in der Bildung wichtiger Stelet- 
theile, der Gliedmaßen u. ſ. w., den Nagetbieren, und namentlich 
den Hufnagern, näher als den echten Hufthieren. Dazu fommt noch, 
daß mehrere ausgeftorbene Kormen, namentlich die merkwürdigen 
füdamerifanifhen Pfeilzäbner(Toxodontia) in mancher Beziehung 
zwifchen Elephanten und Nagethieren in der Mitte fiehen. Das die 
noch jept lebenden Elephanten und Klippdaffe nur die legten Aus- 
läufer von einer einſtmals formenteihen Gruppe von Scheinhufern 
find, wird nicht allein durch die fehr zahlreichen verfteinerten Arten 
von Clephant und Maftodon bewiefen (unter denen manche noch 
rößer, manche aber auch viel kleiner, als die jept lebenden Gier 
phanten find), fondern auch durch die merfwürdigen miocenen Di« 
notherien (Gonyognatha), zwiſchen denen und den nädflver- 
wandten Elephanten noch eine fange Reihe von unbefannten ver- 





Infektenfreffer und Raubthiere. 561 


bindenden Zwifchenformen liegen muß. Alles zufammengenommen 
ift heutzutage die wahrfcheinlichfte von allen Hypothefen, die man 
ſich über die Entſtehung und die Verwandtſchaft der Elephanten, 
Dinotherien, Torodonten und Klippdaffe bilden kann, daß biefelben 
die legten Weberbleibfel einer formenreichen Gruppe von Scheinhufern 
find, die fih aus den Nagethieren, und zwar wahrſcheinlich aus 
Berwandten der Subungulaten, entmwidelt hatte. 

Die Ordnung der Infettenfreffer (Insectivora) ift eine fehr 
alte Gruppe, welche der gemeinfamen auögeftorbenen Stammform 
der Deciduaten, und alfo auch den heutigen Halbaffen, nächitverwandt 
iſt. Sie hat ſich wahrſcheinlich aus Halbaffen entwicelt, welche den 
beute noch lebenden Langfüßern (Macrotarsi) nahe ftanden. Sie 
fpaltet ſich in zwei Ordnungen, Menotyphla und Lipotyphla. Bon 
diefen find die älteren wahrfcheinfih die Menotyphlen, welche ſich 
durch) ben Beſit eines Blinddarms oder Typhlon von den Lipotyphlen 
unterfheiden. Zu den Menotyphlen gehören die Fletternden Tupajad 
der Sunda-Jnfeln und die fpringenden Mafrofcelides Afritad. Die 
Lipotyphlen find bei uns durch die Spigmäufe, Maufwürfe und Igel 
vertreten. Durch Gebiß und Lebensweife ſchließen ſich die Inſekten⸗ 
freifer mehr den Raubthieren, durch die jheibenförmige Placenta und 
die großen Samenblafen dagegen mehr den Nagethieren an. 

Wahrſcheinlich aus einem längft audgeftorbenen Zweige der In- 
fettenfrefler hat fih ſchon im Beginn der Eocen- Zeit die Ordnung ber 
Raubthiere (Carnaria) entwickelt. Das ift eine fehr formenreiche, 
aber doch fehr einheitlich organifirte und natürliche Gruppe. Die Raub- 
thiere werden wohl auch Gürtelplacentner (Zonoplacentalia) im 
engeren Sinne genannt, obwohl eigentlich gleicherweiſe die Schein- 
hufer oder Chelophoren diefe Bezeihnung verdienen. Da aber diefe 
legteren im Webrigen näher den Nagethieren als den Raubthieren ver- 
wandt find, haben wir fie fhon dort befproden. Die Raubthiere 
zerfallen in zwei, äußerlich fehr verfchiedene, aber innerlich nächft« 
verwandte Unterordnungen, die Landraubthiere und die Seeraub- 


thiere. Zu den Randraubthieren (Carnivora) gehören die Bä- 
Bardel, Ratürl. Shöpfungsgeih. 5. Aufl. 36 


568 Stellung des Menſchen im Syſtem der Saugethiere. 
Scheinhufer) und die Discoplacentalien mit ſcheibenformiger Placenta 
(alle übrigen Deciduaten) unterſchieden. Der Menſch befipt eine 
fheibenförmige Placenta, gleih allen anderen Discoplacenta- 
lien, und wir würden nun alfo zunächft die Frage zu beanttworten 
haben, welche Stellung der Menſch in diefer Gruppe einnimmt. 
Im legten Vortrage hatten wir folgende fünf Ordnungen von 
Discoplacentalien unterfhieden: 1) die Halbaffen; 2) die Ragethiere; 
3) die Infektenfreffer, 4) die Flederthiere, 5) die Affen. Wie Jeder 
von Ihnen weiß, fteht von diefen fünf Ordnungen bie legte, dieje- 
nige der Affen, dem Menfchen in jeder körperlichen Beziehung weit 
näher, als die vier übrigen. Es fann ſich daher nur noch um bie 
Frage handeln, ob man im Syſtem der Säugethiere den Menſchen 
geradezu in bie Ordnung ber echten Affen einreihen, oder ob man 
ihn neben und über derfelben ald Vertreter einer befonberen fechiten 
Ordnung der Discoplacentalien betrachten foll. 
. Xinne vereinigte in feinem Syftem den Menſchen mit den echten 
Affen, den Halbaffen und den Fledermäufen in einer und derfelben 
Ordnung, welche er Primates nannte, d. h. Oberherrn, gleichſam 
die höchften Würdenträger des Thierreichs. Der Göttinger Anatom 
Blumenbach dagegen trennte den Menfchen als eine befondere 
Ordnung unter dem Namen Bimana oder Zweihänder, indem er 
ihm die vereinigten Affen und Halbaffen unter dem Namen Quadru- 
mana oder Bierhänder entgegenfepte. Diefe Eintheilung wurde 
aud von Cuvier und demnad von den allermeiften folgenden 300- 
logen angenommen. Erſt 1863 zeigte Hugley in feinen vortrefili- 
chen „Zeugniffen für die Stellung des Menfchen in der Ratur“ ?*), 
daß diefelbe auf falfchen Anfichten beruhe, und daß die angeblichen 
„Bierhänder“ (Affen und Halbaffen) eben fo gut „Zweihänder“ 
find, wie der Menſch felbft. Der Unterfchied des Fußes von der 
Hand beruht nicht auf der phyfiologifhen Eigenthümlichkeit. 
daß die erfte Zehe oder der Daumen den vier übrigen Fingem 
oder Zehen an der Hand entgegenftellbar ift, am Fuße dagegen 
nicht. Denn es giebt wilde Völterftämme, welche die erſte oder 


Stellung des Menſchen im Syſtem ber Affen. 569 


große Zehe den vier übrigen am Fuße ebenfo gegenüber ftelfen fön- 
nen, wie an der Hand. Gie können alfo ihren „Greiffuß“ ebenfo 
gut als eine fogenannte „Hinterhand” benupen, wie die Affen. Die 
chineſiſchen Bootsleute rudern, die bengalifchen Handwerker weben 
mit diefer Hinterhand. Die Neger, bei denen die große Zehe befon- 
der ftarf und frei beweglich ift, umfaflen damit die Zweige, wenn 
fie auf Bäume Mlettern, gerade wie die „vierhändigen” Affen. Ja 
felbft die neugeborenen Kinder der höchftentwidelten Menfchenraffen 
greifen in den erften Monaten ihres Lebens noch eben ſo geſchickt 
mit der „Hinterhand“, wie mit der „Borderhand“, und haften einen 
hingereichten Löffel ebenfo feft mit der großen Zehe, wie mit dem 
Daumen! Auf der anderen Seite differenziren ſich aber bei ben 
höheren Affen, namentlich beim Gorilla, Hand und Fuß ſchon ganz 
ähnlich wie beim Menfchen (vergl. Taf. IV, ©. 363). 

Der weſentliche Unterfchied von Hand und Fuß ift alfo nicht ein 
pbyfiologifer, fondern ein morphologifher, und ift durch den 
Harakteriftifchen Bau des nöchernen Skelets und der ſich daran an« 
fegenden Muskeln bedingt. Die Fußwurzelknochen find weſentlich 
anderd angeorbnet, ald die Handwurzelknochen, und den Fuß bewegen 
drei befondere Muskeln, welche der Hand fehlen (ein kurzer Beuge- 
mußfel, ein furger Stredmuskel und ein langer Wadenbeinmustel). 
In allen diefen Beziehungen verhalten fich die Affen und Halbaffen 
genau fo wie der Menſch, und es war daher vollkommen unrichtig, 
wenn man den Menfchen von den erfteren ala eine befondere Ord⸗ 
nung auf Grund feiner ftärkeren Differenzirung von Hand und Fuß 
trennen wollte. Ebenſo verhält es ſich aber aud mit allen übrigen 
körperlichen Merkmalen, durd) welche man etwa verſuchen wollte, 
den Menfchen von den Affen zu trennen, mit der relativen Länge 
der Gliedmaßen, dem Bau des Schädeld, des Gehirns u. |. w. In 
allen diefen Beziehungen ohne Ausnahme find die Unterfchiede zwi- 
fen dem Menfchen und den höheren Affen geringer, als die ent- 
ſprechenden Unterſchiede zwifchen den höberen und den niederen Affen. 


570 


Syſtematiſche Heberfiht 
der Samitien und Gattungen der Affen. 




















Seitionen "Familien Gattungen | Sutatiäe 
der der oder Genera ber ame der 
Affen Affen Affen | Henera 








L Affen der ne nenen Welt (Hesperopitheci) oder plattnafige Affen (Platyrhinne). 





A. Hlatyehinen, 1. Seidenaffen g 1. Pinfelaffe 1. Midas 

mit Krallen ( Hapalida { 2. Lowenaffe 2. Jacchus 

Arotopitheci B 

1 3. Eihhornaffe 3- Chrysothrix 
miteateppfgmanf * Grinste 4 Clan 
Apkyocerca 5. Nachtaffe 5. Nyctipithecus 

6. Schweifafe 6. Pitheein 

7. Rollaffe T. Cebus 

8. Klommeraffe 8. Ateles 

9. Bollaffe 9. Lagothrix 

10, Brüllaffe 10. Mycetos 


B‘. Platythiuen 
mit 


Kuppennägeln | 11. plattnaſen 
Dyamopitheci —— 


Labidocera 





TI. Afen der alten Welt (Hoopithoai) oder (Amalnafge Afın (Catarkinse). 





vw. Geigmänzte 11. Yan — 
Katarhinen mit ‚ynoce] 
(hwän Badentafgen 12. Matato 18. Innus 
* Geiamänte Ascoparea 18. Meertage 18. Corcopithocus 
Ratarhinen pa 


Katarhinen ohne), Stummelaffe 15. Colobus 


Badentafhen |je, Naſenaffe 16. Nasalis 


Menoseron —— 14. Semnopithocas 
Anasca 


17, Gibbon 17. Hylobates 
v1. aut Drang 18. Batyrus 
" Anthropoides 19. Schimpanfe 19. Engeco 
D. Schwanzloſe 20. Gorilla 20. Gorilla 
Ratarhinen 21. Affenmenf 21. Pithocanthro- 
Lipooeron vu. Menfden ober fpradjlofer pus (Alalas) 
Erecti Menſch 


(Anthropi) 29. Sprechender 22. Homo 


Stammbaum ber Affen mit Inbegrifj der Menſchen. 571 








— — 
Sprachloſe Menſchen (Alali) ol 
Affenmenſchen (Pithecanthropi). 

















Gorilla 
Gorilla Drang 
Säimpanfe | To 
u Hylobates 
Aritanifhe | 
Menſchenaffen Aſiatiſche 
| Berfgeneien 
Nafenaffe 
Menſchenaffen Nasalis 
Anthropoides Sthlantaffe 
| —— 
Aretopitheci ’ Li 
Greifſchwãnger Meertage 
Labidocerca Cercopithecns Pavian 
| Cynocephalus 
IL | 
Scälappfäwänger Sm 
‚Apbyocerca Gelhmwänzte Schmalnafen 
Blattwafen Catarhina menocerca 
Platyrhinas Schmalnafen 


| Ontarhinae 








572 Beredkigte Treunung der Halbaffen von ben Affen. 


. Auf Grund der forgfältigften und genaueften anatomifchen Ber- 
gleihungen fam demnah Hurley zu folgendem, äußerft wichtigem 
Schluſſe: „Wir mögen daher ein Syftem von Organen vornehmen, 
welches wir wollen, die Vergleichung ihrer Modifitationen in der Afen- 
veibe führt und zu einem und demfelben Refultate: daß die anato- 
miſchen Berfhiedenheiten, welde den Menfhen vom 
Gorilla und Shimpanje fheiden, niht fogroß find, ala 
die, welche den Gorilla von den niedrigeren Affen tren- 
nen“. Demgemäß vereinigt Hugley, ftreng der fyitematifchen Logil 
folgend, Menfchen, Affen und Halbaffen in einer einzigen Ordnung, 
Primates, und tbeilt diefe in folgende fieben Familien von ungefähr 
gleihem ſyſtematiſchen Werthe: 1. Anthropini (der Menſch). 2. Ca- 
tarhini (echte Affen der alten Welt). 3. Platyrhini (echte Affen 
Amerifa®). +. Arctopitheeci (Rrallenaffen Amerikas). 5. Lemurini 
dunfüßige und langfüßige Halbaffen, ©. 559). 6. Chiromyini 
(Fingerthiere, S. 558). 7. Galeopitheeini (Pelflatterer, ©. 563). 
Wenn wir aber dad natürliche Syſtem und demgemäß den 
Stammbaum der Primaten ganz naturgemäß auffafien wollen, fo 
müjfen wir noch einen Schritt weiter gehen, und die Halbaffen 
oder Profimien (die drei legten Familien Huzley’e) gänzlich 
von den echten Affen oder Simien (den vier erften Familien) 
trennen. Denn wie id) ſchon in meiner generellen Morphologie zeigte, 
und Ihnen bereit® im leßten Vortrage erläuterte, unterſcheiden fih 
die Halbaffen in vielen und wichtigen Beziehungen von den echten 
Affen und fehliegen ſich in ihren einzelnen Formen vielmehr den ver- 
febiedenen anderen Ordnungen der Dißcopfacentalien an. Die Haldaf- 
fen find daher wabrfcheinlich ald Refte der gemeinfamen Stammgrupe 
zu betrachten, aus welcher ſich die anderen Ordnungen der Dißcoplo- 
centalien, und vielleiht alle Deriduaten, als divergente Zweige entwil- 
felt baben. (Gen. Morph. I, ©. CXLVIIT und CLIIL) Ter 
Menſch aber kann nicht von der Drbnung der echten Affen oder Simien 
getrennt werben, da er den höheren echten Affen in jeder Beziehung 
näber fieht, als diefe den niederen echten Affen. 


Schmalnafige und plattnafige Affen. 573 

Die ehten Affen (Simiae) werben-allgemein in zwei ganz 
natürliche Hauptgruppen getheilt, nämlich in die Affen ber neuen Welt 
(amerifanifhe Affen) und in die Affen der alten Welt, welde in Afien 
und Afrifa einheimifch find, und früher aud in Europa vertreten wa⸗ 
ren. Diefe beiden Abtheilungen unterſcheiden fih namentlich in der 
Bildung der Nafe und man hat fie darnach benannt. Die ameri- 
tanifhen Affen haben plattgedrüdte Nafen, fo daß die Nafen- 
löcher nach außen ftehen, nicht nach unten; fie heißen deshalb Platt⸗ 
nafen (Platyrhinae). Dagegen haben die Affen der alten 
Welt eine ſchmale Nafenfcheidemand und die Naſenlöcher fehen nad 
unten, wie beim Menfchen, man nennt fie deshalb Shmalnafen 
(Catarhinae). Ferner ift das Gebiß, welches befanntfich bei der 
Kiaffifitation der Säugethiere eine hervorragende Rolle fpielt, bei bei⸗ 
den Gruppen harakteriftifh verfhieden. Alle Katarhinen oder Affen 
der alten Welt haben ganz daſſelbe Gebiß, wie der Menſch, nämlich) 
in jedem Kiefer, oben und unten, vier Schneidesähne, dann jederfeits 
einen Edzahn und fünf Badzähne, von denen zwei Rüdenzähne und 
drei Mahlzähne find, zufammen 32 Zähne. Dagegen alle Affen der 
neuen Welt, alle Platyrhinen, befigen vier Badzähne mehr, nämlich 
drei Lüclenzaͤhne und drei Mahlzähne jeberfeits oben und unten. Sie 
haben alfo zufammen 36 Zähne. Nur eine Heine Gruppe bildet da⸗ 
von eine Ausnahme, nämlich die Krallenaffen (Arctopitheci), bei 
denen der dritte Mahlzahn verfümmert, und die demnach in jeder 
Kieferhälfte drei Lückenzäͤhne und zwei Mahlzähne haben. Sie unter 
ſcheiden fi) von den übrigen Platyrhinen auch dadurch, ba fie an 
den Fingern der Hände und den Zehen der Füße Krallen tragen, und 
feine Nägel, wie der Menſch und die übrigen Affen. Diefe Heine 
Gruppe füdamerifanifcher Affen, zu welcher unter anderen die befann« 
ten mieblichen Pinfeläffhen (Midas) und Cöwenäffchen (Jacchus) ge- 
hören, ift wohl nur als ein eigenthümlich entwidelter Seitenzweig der 
Blatyrhinen aufzufaflen. 

Fragen wir nun, welde Refultate aus diefem Syſtem der Affen 
für den Stammbaum derfelben folgen, fo ergiebt fi daraus unmit- 


574 Entſtehung des Menfchen aus fejmalnafigen Affen. 


telbar, daß ſich alle Affen der neuen Welt aus einem Stamme ent- 
widelt haben, weil fie alle da8 harakteriftifche Gebiß und die Rafen- 
bildung der Platyrhinen befigen. Ebenſo folgt daraus, dag alle Affen 
der alten Welt abftanımen müffen von einer und derjelben gemein 
(haftlihen Stammform, welche die Nafenbildung und das Gebiß 
aller jest lebenden Katarhinen befaß. Ferner fann es kaum zweifel- 
haft fein, daß die Affen der neuen Welt, ald ganzer Stamm genom- 
men, entweder von denen der alten Welt abftammen, oder (unbe 
ftimmter und vorfihtiger ausgedrüdt) daß Beide Divergente Aeſte eines 
und defielben Affenftammes find. Für die Abftammung bed Menſchen 
folgt hieraus ber unendlich wichtige Schluß, welcher auch für die Ber- 
breitung des Menſchen auf der Erdoberfläche die größte Bedeutung ber 
fist, daß der Menſch fih aus den Katarhinen entwidelt 
hat. Denn wir find nicht im Stande, einen zoologiſchen Charakter 
aufjufinden, der den Menſchen von den nächftverwandten Affen ber 
alten Welt in einem höheren Grade unterſchiede, als die entfernteften 
Formen diefer Gruppe unter fi) verfchieden find. Es if dies das 
wichtigſte Refultat der fehr genauen vergleichend - anatomifchen Unter 
ſuchungen Huxley's, welches nicht genug berüdfichtigt werden kann 
In jeder Beziehung find die anatomifhen Unterſchiede zwifchen dem 
Menſchen und den menfchenähnlichften Katarhinen (Drang, Gorilla, 
Schimpanfe) germger, als die anatomifhen Unterſchiede zwiſchen 
diefen und den niedrigften , tiefft ftehenden Katarhinen, insbeſondere 
den hunbeähnlichen Pavianen. Dieſes höchſt bedeutſame Refultat er- 
giebt ſich aus einer unbefangenen anatomifchen Bergleihung der ver- 
schiedenen Formen von Katarhinen als unzweifelhaft. 

Wenn wir alfo überhaupt, der Defcendenztheorie entſprechend. 
das natürliche Syſtem der Thiere ald Leitfaden unferer Beratung 
anerfennen, und darauf unferen Stammbaum begründen, fo müflen 
wir nothwendig zu dem unabweislichen Schluffe kommen. daß das 
Menfhengefhleht ein Aefthen der Katarhinengruppe 
ift, und fih aus längft ausgeftorbenen Affen bdiefer 
Gruppe in der alten Welt entwidelt hat. Einige An- 


Menſchenaffen oder Authropoiden. 575 


bänger der Defcendenztheorie haben gemeint, daß die amerifanifchen 
Menſchen fih unabhängig von denen der alten Welt aus amerifa- 
nifhen Affen entwidelt hätten. Diefe Hypothefe halte ih für ganz 
irig. Denn die völlige Webereinftimmung aller Men- 
Then mit den Katarbinen in Bezug auf die charakteri— 
ftifhe Bildung der Nafe und des Gebiſſes beweift deutlich, 
daß fie eines Urfprung® find, und fi) aus einer gemeinfamen Wurzel 
erſt entwidelt haben, nachdem die Platyrhinen oder ameritanifhen 
Affen fich bereit? von diefer abgezweigt hatten. Die amerifanifchen 
Ureinwohner find vielmehr, wie auch zahlreiche ethnographiſche That- 
ſachen beweifen, aus Afien, und theilweife vielleicht auch aus Poly⸗ 
nefien (ober ſelbſt aus Europa) eingewandert. 

Einer genaueren Feſtſtellung des menſchlichen Stammbaums fte- 
hen gegenwärtig noch große Schwierigfeiten entgegen. Nur das läßt 
fih noch weiterhin behaupten, daß die nächſten Stammeltern des 
Menſchengeſchlechts ſchwanzloſe Katarhinen (Lipocerca) wa- 
ren, ähnlich den heute noch lebenden Menfchenaffen, die ſich offen- 
bar erft fpäter aus den gefhmwänzten Katarhinen (Meno- 
cerca), ald der urfprüngficheren Affenform, entwidelt haben. Bon 
ienen ſchwanzloſen Katarhinen, die jept auch häufig Menfhen«- 
affen ober Anthropoiden genannt werden, leben heutzutage 
noch vier verſchiedene Gattungen mit ungefähr einem Dutzend ver- 
fchiedener Arten. Der größte Menfchenaffe ift der berühmte Gorilla 
(Gorilla engena oder Pongo gorilla genannt), welcher den Menfchen 
an Größe und Stärke übertrifft, in der Tropenzone des weftlichen 
Afrika einheimiſch ift und am Fluſſe Gaboon erft 1847 von dem Mif- 
fionär Savage entdeckt wurde. Diefem ſchließt ſich als nächiter Ver⸗ 
wandter der längft befannte Schimpanfe an (Engeco troglodytes 
oder Pongo trogledytes), ebenfalls im weftlihen und centralen Afrika 
einheimiſch, aber bedeutend Feiner als der Gorilla. Der dritte von 
den brei großen menfchenähnlichen Affen ift der auf Borneo und an- 
deren Sunda -Infeln einheimifche Drang oder Drang-Utang, von 
welchem man neuerdings zwei nahe verwandte Arten unterſcheidet, 


576 Vergleichung der Menſchenaffen und der Menſchen. 


den großen Orang Gatyrus orang oder Pithecus satyrus) und 
den kleinen Drang (Satyrus morio oder Pithecus morio). End- 
lich lebt noch im füdlihen Afien die Gattung Gibbon (Hylobates), 
von welder man A—8 verſchiedene Arten unterfeidet. Sie find 
bedeutend kleiner als die drei erfigenannten Anthropoiden und ent- 
fernen fi) in den meiften Merkmalen ſchon weiter vom Menſchen 

Die ſchwanzloſen Menfchenaffen haben neuerdings, namentlich 
feit der genaueren Belanntfhaft mit dem Gorilla und feit ihrer Ber- 
tnüpfung mit der Anwendung der Defcendenztheorie auf den Men- 
ſchen ein fo allgemeines Intereffe erregt, und eine ſolche Fluth von 
Schriften hervorgerufen, daß ich Hier feine Beranlaffung finde, näher 
auf diefelben einzugehen. Was ihre Beziehungen zum Menfchen betrifft. 
fo finden Sie diefelben in den trefflihen Schriften von Hurley*®), 
Carl Bogt??), Buüchner“) und Rolle*?) ausführlich erörtert. 
Ich beſchränke mich daher auf die Mittheilung des wichtigften allge 
meinen Refultates, welches ihre allfeitige Vergleihung mit dem Men- 
ſchen ergeben hat, daß nämlich jeder von den vier Menfchenaffen dem 
Menfhen in einer oder einigen Beziehungen näher ſteht, als die 
übrigen, daß aber keiner als der abfolut in jeder Beziehung menfchen- 
ähnlicäfte bezeichnet werden Tann. Der Drang fteht dem Menſchen 
am nãchſten in Bezug auf die Gehimbildung, der Schimpanie durch 
wichtige Eigenthümlichfeiten der Schäbelbildung, der Gorilla binfiht- 
lich der Ausbildung der Füße und Hände, und der Gibbon endlich 
in der Bildung des Brufttaftene. 

Es ergiebt fih alfo aus der forgfältigen vergleichenden Anato- 
mie der Anthropoiden ein ganz ähnliches Refultat, wie e8 Weit- 
bad) aus der ftatiftifchen Zufammenftellung und denfenden Berglei- 
Hung der fehr zahfreichen und forgfältigen Körpermeffungen erhalten 
hat, die Scherzer und Schwarz während der Reife der öfterni- 
chiſchen Fregatte Novara um die Erde an Individuen verſchiedener 
Menſchenraſſen angeftellt haben. Weis bach faßt dad Endrefultat 
feiner gründlichen Unterſuchungen in folgenden Worten zufammen: . Die 
Affenähnlichkeit des Menſchen concentrirt fich Teineßwegs ber 





Abſtammung der Menſchen von Menfchenaffen. 577 


einem ober dem anderen Volle, fondern vertheilt ſich derart auf die 
einzelnen Körperabfepnitte bei den verfchiedenen Völkern, daß jedes 
mit irgend einem Erbftüde diefer Verwandtſchaft, freilich 
das eine mehr, das andere weniger, bedacht ift, und felbft wir Euro- 
päer durchaus nicht beanfpruchen dürfen, diefer Verwandtſchaft voll» 
ftändig fremd zu fein“. (Novara-Reife, Anthropholog. Theil.) 

Ausdrüdlich will ich hier noch hervorheben, was eigentlich frei- 
lich felbftverftändlich ift, daß fein einziger von allen jept le— 
benden Affen, und alfo auch feiner von den genannten 
Menfhenaffen der Stammvater des Menfhengefhlehts 
fein fann. Bon bdenfenden Anhängern ber Defcendenztheorie ift 
diefe Meinung auch) niemald behauptet, wohl aber von ihren gedan- 
tenlofen Gegnern ihnen untergefchoben worben. Die affenartigen 
Stammeltern des Menfhengefhlehts find längft aus- 
geftorben. Bielleiht werden wir ihre verfteinerten Gebeine noch 
dereinft theilweis in Tertiärgefteinen des füblichen Aſiens oder Afrikas 
auffinden. Jedenfalls werden diefelben im zoologifhen Syftem in 
der Gruppe der ſchwanzloſen Schmalnafen (Catarhina lipo- 
cerca) oder Anthropoiden untergebracht werden müflen. 

Die genealogifchen Hypothefen, zu welchen und die Anwendung 
der Defcendenztheorie auf den Menfchen in den legten Borträgen bis 
hierher geführt hat, ergeben fi) für jeden Mar und confequent denten- 
den Menfchen unmittelbar aus den Thatfachen der vergleichenden Ana- 
tomie, Ontogenie und Paläontologie. Natürlich kann unfere Phylo- 
genie nur ganz im Allgemeinen die Grundzüge des menſchlichen 
Stammbaumd andeuten, und fie läuft um fo mehr Gefahr des Irr⸗ 
thums, je ftrenger fie im Einzelnen auf die und bekannten befonderen 
Ihierformen bezogen wird. Indeſſen laſſen ſich doch ſchon jept min- 
deften® die nachftehend aufgeführten zweiundzwanzig Ahnenftufen des 
Menfchen mit annähernder Sicherheit unterfheiden. Bon diefen ge 
hören vierzehn Stufen zu den Wirbelthieren (Vertebrata), acht Stufen 
zu den wirbellofen Borfahren des Menſchen (Prochordata). 


Hacke, Ratürl. Shopiungsgeig. 5. Hufı. 37 


Thierifge Borjahrentette oder Ahmenreihe des Menden. 
Eergl. den XX. und XXI. Bortrag, fawie Taf. XIV und ©. 352.) 


Grfe Hälfte ber menfälicen Benfarenkete: 
Wirbellofe Ahnen des Aeuſchen (Prochordata). 


Grite Stufe: Meneren (Monere). 

Die älteften Borfahren des Menfchen wie aller anderen Dxrga- 
niemen waren lebendige Weſen der denkbar einfachiten Art, Orga- 
niamen ohne Organe, gleich den heute noch lebenden Monc- 
ren. Sie beftanden aus einem ganz einfachen, dur und durch 
gleihartigen. jtrufturlojen und formloſen Rlümpchen einer ſchleimarti ⸗ 
gen oder eimeihartigen Materie (Brotoplasma), wie bie heute noch 
lebende Protamoeba primitiva (vergl. ©. 167, Fig. 1). Der Form⸗ 
wertb dieſer älteren menſchlichen Urahnen war noch nicht einmal 
demjenigen einer Zelle gleich. jondern nur dem einer Gytode (vergl. 
€. 308). Denn wie bei allen Moneren war das Protopladıma- 
Stüdchen noch ohne Zellenkern. Die erften von diefen Moneren 
entitanden im Beginn der laurentiſchen Periode durh Urzeugung 
oder Archigonie aus jogenannten „anorganifcen Verbindungen”, aus 
einfachen Verbindungen von Koblenftoff, Sauerſtoff. Waſſerſtoff und 
Stidſtoff. Die Annahme einer folden Urzeugung, einer medhani- 
ſchen Entitebung der erſten Organismen aus anorganifcer Materie, 
haben wir im dreigehnten Portrage als eine nothwendige Hypotheſe 
machgeroiefen (vergl. S. 301). Den direkten, auf das biogenetiſche 
Grundgefep (5. 361) geitügten Beweis für die frühere Criſtenz die- 
fer älteften Ahnenftufe liefert möglicherweife noch heute der Umſtand, 


Thieriſche Ahnenreihe bes Menſchen. 579 
daß nad) den Angaben vieler Beobachter im Beginn der Ei-Entwides 
lung der Zellentern verſchwindet und fomit die Eizelle auf die nie- 
dere Stufe der Cytode zurüdfinft (Monerula, ©. 441; Rüdfhlag 
der ternhaltigen Plaſtide in die fernlofe). Aus den wichtigften allge- 
meinen Gründen ift die Annahme diefer erften Stufe nothwendig. 


Bmweite Stufe: Amoeben (Amoebae). 


Die zweite Ahnenftufe des Menfchen, wie aller höheren Thiere 
und Pflanzen, wird durch eine einfache Zelle gebildet, d. h. ein 
Stüdhen Protoplasma, das einen Kern umfchließt. Aehnliche „ein 
zellige Organismen“ leben noch heute in großer Menge. Unter die⸗ 
fen werden die gewöhnlichen, einfahen Amoeben (©. 169, Fig. 2) 
von jenen Urahnen nicht wefentlih verfchieden gemefen fein. Der 
Formmerth jeder Amoebe ift wefentlich glei) demjenigen, welchen 
das Ei des Menfchen, und ebenfo das Ei aller anderen Thiere, noch heute 
befigt (vergl. ©. 170, Fig. 3). Die nadten Eizellen der Schwaͤmme, 
welche ganz wie Amoeben umherkriechen, find von diefen nicht zu 
unterſcheiden. Die Eizelle des Menfchen, welche gleich der der mei- 
ften anderen Tiere von einer Membran umſchloſſen ift, gleicht einer 
eingelapfelten Amoebe. Die erften einzelligen Thiere diefer Art ent- 
fanden aus Moneren durch Differenzirung des inneren Kerns und 
des äußeren Protoplasma, und lebten ſchon in früher Primordial« 
zeit. Den unumftößlihen Beweis, das folde einzellige 
Urthiere ala direkte Borfahren des Menfhen wirklich 
egiftirten, liefert gemäß des biogenetifhen Grundge- 
ſetzes (©. 276) die Thatfahe, daß das Ei des Menfchen 
weiter nichts ald eine einfache Zelle ift. (Bergl. ©. 441.) 


Dritte Stufe: Synamoebien (Synamoebia). 


Um und von ber Drganifation derjenigen Vorfahren des Men- 
fen, die ſich zunäͤchſt aus den einzelligen Urthieren entwidelten, eine 
ungefähre Borftellung zu machen, müffen wir diejenigen Beränderun. 
gen verfolgen, welche das menſchliche Ei im Beginn der individuellen 


37* 


580 Thieriſche Ahnenreihe des Menſchen. 


Entridelung erleidet. Gerade hier leitet un® die Ontogenefe mit 
größter Sicherheit auf die Spur der Phylogenefe. Nun haben wir 
ſchon früher gejehen, daß das Ei des Menfchen (ebenfo wie das aller 
anderen Säugethiere) nach erfolgter Befruchtung durch wiederholte 
Selbfttheilung in einen Haufen von einfachen und gleichartigen, 
amoebenähnlihen Zellen zerfällt (©. 170, Fig. 4D). Alle diefe „Fur- 
Hungsfugeln“ find anfänglich einander ganz gleich, ohne Hülle, nadte, 
ternhaltige Zellen. Bei vielen Thieren führen diefelben Bewegungen 
nad Art der Amoeben aus. Diefer ontogenetifhe Entwidelungszu ⸗ 
ftand, den mir wegen feiner Maufbeerform Morula nannten (S. 442), 
führt den fiheren Beweis, daf in früher Primordiafzeit Borfah« 
ven des Menfchen eyiftirten, welche den Formwerth eines Haufens 
von gleihartigen, locker verbundenen Zellen befagen. Man kann dies 
felben als Amoeben-Gemeinden (Synamoebia) bezeihnen (vgl. 
©. 444). Sie entftanden aus den einzelligen Urthieren der zwei⸗ 
ten Stufe durch wiederholte Selbfttheilung und bfeibende Bereinigung 
diefer Theifungsprodufte. 


Bierte Stufe: Flimmerſchwärmer (Planaeade). 

Aus der Morula (Titelbild Fig. 3) entwwidelt fih im Laufe der 
Ontogenefe bei fehr vielen Thieren ein fehr merfwürdiger Reimzuftand, 
welchen zuerft Bär entdedt und mit dem Namen Keimblafe oder 
Keimhautblafe belegt hat (Blastosphaera oder Vesicula blastoder- 
mica). Das ift eine mit Klüffigfeit gefüllte Hohlkugel, deren dünne 
Wand aus einer einzigen Zellenfchicht befteht. Indem fih im Inneren 
der Morula Flüffigkeit anfammelt , werden die Zellen ſäͤmmtlich nad 
der Peripherie gedrängt. Bei den meiften niederen Thieren, aber auch 
noch bei dem niederften Wirbelthiere, dem Lanzetthiere oder Amphiogus, 
nennt man diefe Keimform $limmerlarve (Planula), weil die an 
der Oberfläche gelegenen gleichartigen Zellen haarfeine Fortfäge oder 
Flimmerhaare ausſtreden, welche ſich ſchlagend im Waffer bewegen. 
und dadurch den ganzen Körper rotirend umbertreiben. Beim Menſchen. 
wie bei allen Säugethieren, entfteht zwar auch heute noch aus der Mo- 


Thieriſche Ahnenreihe des Menſchen. 581 
rula dieſelbe Keimhautblaſe (S. 267); aber ohne Flimmerhaare; dieſe 
find durch Anpaſſung verloren gegangen. Aber die weſentlich gleiche 
Bildung. diefer Flimmerlarve, die ſich überall durch Vererbung erhalten 
hat, deutet auf eine ebenfo gebildete uralte Stammform, die wir Flim⸗ 
merfhwärmer (Planaea) nennen können. Den fiheren Beweis 
dafür liefert der Amphiorus, welcher einerfeit® dem Menfchen blutd- 
verwandt iſt, andrerfeit® aber noch das Stadium der Planula bis 
heute confervirt hat. 

Fünfte Stufe: Urdarmthiere (Gastrasade). 

Im Laufe der individuellen Entwidelung entfteht ſowohl beim 
Ampbiorus, wie bei den verfehiedenften niederen Thieren aus der Pla- 
nula zunächft die äußerft wichtige Larvenform, welche wir Darm⸗ 
larve oder Gaftrula genannt haben (©. 443; Titelbild, Fig. 5, 6). 
Nach dem biogenetifchen Grundgefepe beweift diefe Gaftrula die frühere 
Eriftenz einer ebenfo gebauten felbftftändigen Urthier- Form, welche 
wir Urdarmtbier oder Gafträa nannten (S. 444, 445). Solche 
Gaſträaden müſſen ſchon während der älteren Primordiafzeit eriftirt 
und unter ihnen müffen fih aud Vorfahren des Menfchen befunden 
haben. Den fiheren Beweis dafür liefert der Amphiorus, wel« 
her trop feiner Blutsverwandtfhaft mit dem Menfchen noch heute das 
Stadium der Gaftrula mit einfacher Darmanlage und ziweiblättriger 
Darmwand durdläuft (vergl. Taf. X, Fig. B4). 

Sechſte Stufe: Urwürmer (Archelminthes). 

Die menfglihen Vorfahren der fechften Stufe, die aus den 
Gafträaden der fünften Stufe hervorgingen, waren niedere Würmer, 
welche unter allen uns befannten Wurmformen den Strudelwür- 
mern oder Turbellarien am nächſten ftanden, ober doch wenig- 
ſtens im Ganzen deren Formmerth befagen. Sie waren gleich den 
heutigen Strubelwürmern auf der ganzen Körperoberfläche mit Wim- 
pern überzogen und beſaßen einen einfachen Körper von länglichrun« 
der Geftalt, ohne alle Anhänge. Eine wahre Leibeshöhle (Coelom) 
und Blut war bei diefen acoelomen Würmern noch nicht vorhanden. 


582 Thieriſche Ahnenreihe des Menſchen. 


Sie entftanden ſchon in früher Primordialzeit aus den Gafträaden 
durd Bildung eined mittleren Keimblattes oder Muskelblattes, ſo⸗ 
wie durch weitere Differenzirung der inneren Körpertheile zu ver» 
ſchiedenen Organen; insbefondere die erfte Bildung eines Rervenfy- 
ftem®, der einfachften Sinnesorgane, der einfachften Organe für 
Ausfheidung (Nieren) und Fortpflanzung (Gefchlehtsorgane). Der 
Beweis dafür, da auch menfchliche Vorfahren von ähnlicher Bil- 
dung eriftirten, ift in dem Umftande zu fuchen, daß uns die ver- 
gleichende Anatomie und Ontogenie auf niedere acoelome Würmer, 
als auf die gemeinfame Stammform nicht nur aller höheren Wür- 
mer, fondern aud) der vier höheren Thierftämme, hinweiſt. Diefen 
uralten acoelomen Urmwürmern ftehen aber von allen und befannten 
Thieren die Turbellarien am nächften. 


Siebente Stufe: Weichwürmer (Soolecida). 


Zwiſchen den Urwürmern der vorigen Stufe und den Chorda- 
thieren der nächften Stufe müſſen wir mindeſtens nod eine verbin ⸗ 
dende Zwiſchenſtufe nothwendig annehmen. Denn die Tunicaten, 
welche unter allen uns befannten Thieren der achten Stufe am 
naͤchſten ftehen, und die Turbellarien, welche der fechften Stufe zu- 
naͤchſt gleichen, find zwar beide der niederen Abtheilung der unge 
gliederten Würmer angehörig, aber dennoch entfernen ſich dieſe beir 
den Abtheifungen in ihrer Drganifation fo weit von einander, daß wir 
nothwendig bie frühere Exiſtenz von audgeftorbenen Zwiſchenformen 
woifchen beiden annehmen müffen. Wir können biefe Verbindungs · 
glieder, von denen und wegen ihrer weichen Körperbeſchaffenheit feine 
foffilen Refte übrig blieben, als Weichwürmer oder Scoleciden zu- 
fammenfaffen. Sie entwidelten fih aus den Strudelwürmem der 
fechften Stufe dadurch, daß fid) eine wahre Leibeshöhle (ein Goe- 
tom) und Blut im Inneren audbildete. Welche von den heutigen 
Coelomaten diefen ausgeftorbenen Scoleciden am nädften ſtehen 
iſt ſchwer zu fagen, vielleiht die Eichelwürmer (Balanoglossus). 
Den Beweis, daß auch direkte Vorfahren des Menfchen zu diefen 


Thieriſche Ahnenrtihe bes Menſchen. 583 
Scoleciden gehörten, liefert die vergleichende Anatomie und Ontos 
genie der Würmer und des Amphiogus. Der Kormmerth diefer 
Stufe wird übrigend in der weiten Lücke zwifchen Strudelwürmern 
und Mantelthieren durch mehrere fehr verſchiedene Zwiſchenſtufen 
vertreten geweſen fein. 


Achte Stufe: Chordathiere (Chordonie). 

Als Chordathiere oder Chorbonier führen wir hier an achter 
Stelle diejenigen Coelomaten auf, aus denen fih unmittelbar die 
älteften fhädellofen Wirbefthiere entwidelten. Unter den Coeloma⸗ 
ten der Gegenwart find die AScidien die nächften Verwandten 
diefer höchft merkwürdigen Würmer, welche die tiefe Kluft zwiſchen 
Wirbelloſen und Wirbeithieren überbrüdten. Daß ſolche Chordonier⸗ 
Borfahren des Menſchen während der Primordialzeit wirklich eriftir- 
ten, dafür liefert den ficheren Beweis die höchft merfwürdige und 
wichtige Webereinftimmung, welche die Ontogenie des Amphiorus 
und der Ascidien darbietet. (Bergl. Taf. XII und XIII, ferner 
€. 466, 510 20) Aus diefer Thatfache läßt ſich die frühere Eriftenz 
von Chordathieren erſchließen, welche von allen heute und bekann⸗ 
ten Würmern den Mantelthieren (Tunicata) und beſonders den 
einfachen Eeefcheiden (Ascidia, Phallusia) am nädjften ftanden. Sie 
entwidelten fi aus den Würmern der fiebenten Etufe durch Ausbil- 
dung eined Rückenmarks (Medullarrohrs) und durd Bildung eines 
darunter gelegenen Rüdenftranges (Chorda dorſalis). Gerade die 
Lagerung dieſes centralen Rüdenftranged oder Axen⸗Skelets, zwifchen 
dem NRüdenmark auf der Rückenfeite und dem Darmrohr auf ber 
Bauchfeite,, ift für ſämmtliche Wirbelthiere mit Inbegriff des Menfchen 
hoͤchſt harakteriftifch, ebenfo aber auch für die Ascidien «Larven. 
Der Formmerth diefer Stufe entfpricht ungefähr demjenigen, wel 
hen die genannten Larven ber einfachen Eeefcheiden zu der Zeit be 
figen, wo fie die Anlage des Nüdenmarts und des Rüdenftranges 
zeigen. (Taf. XII, Fig. A5; vergl. die Erklärung diefer Figuren 
unten im Anhang.) 


584 Thieriſche Ahnenreihe des Menfchen. 


Zweite Hälfte der menſchlichen Ahnenreihe: 
Wirbelthier-Ahnen des Aenſchen (Vertebrata). 


Neunte Stufe: Schädellsſe (Aorania). 

Die Reihe der menſchlichen Vorfahren, welche wir ihrer ganzen 
» Organifation nach bereit als Wirbelthiere betrachten müflen, be 
ginnt mit Schädellofen oder Acranien, von deren Beſchaffenheit und 
das heute noch lebende Lanzetthierchen (Amphioxus lanceolatus, 
Taf. XILB, XIII B) eine entfernte Vorftellung giebt. Indem dieſes 
Thierhen durch feine früheften Embryon-Zuftände ganz mit den 
Ascidien übereinftimmt, durd) feine weitere Entwidelung ſich aber 
als echtes MWirbelthier zeigt, vermittelt e8 von Geiten der Wirbel- 
tbiere den unmittelbaren Uebergang zu den Wirbellofen. Wenn auch 
die menfhlihen Vorfahren der neunten Stufe in vielen Beziehungen 
von dem Amphiorus, als dem lepten überlebenden Refte der Schädel» 
tofen, fehr verfhieden waren, fo müfjen fie ihm doch in den wefent- 
lichſten Eigenthümlichkeiten, in dem Mangel von Kopf, Schädel und 
Gehim geglihen haben. Schädelloſe von folher Bildung, aus denen 
die Schädelthiere erft fpäter ſich entwidelten, lebten während der 
Primordiafeit und entftanden aus den ungegliederten Chordoniem 
der achten Stufe durch Gliederung de Rumpfes (Bildung von Me 
tameren oder Rumpffegmenten), fowie durch weitere Differenzirung 
aller Organe. Wahrſcheinlich begann mit diefer Stufe auch die Tren- 
nung der beiden Geſchlechter (Gonochorismus), während alle vorber 
genannten wirbellofen Ahnen (abgefehen von den 3—4 erften ge 
ſchlechtsloſen Stufen) noch Zwitterbildung (Hermaphroditismus) be 
feffen haben werden (vergl. ©. 176). Den ſicheren Beweis für 
die frühere Exiſtenz folder ſchädelloſen und gehirnlofen Ahnen des 
Menfchen liefert die vergleichende Anatomie und Ontogenie des Am- 
phiogus und der Granioten. 


Behnte Stufe: Unpaarnafen (Monorhina). 
Aus den fhäbellofen Vorfahren des Menfchen gingen zunähtt 
Schädelthiere oder Granioten von der unvollfommenften Beſchaffen ·⸗ 


Thieriſche Ahnenreihe des Menfchen. 585 
beit hervor. Unter allen heute noch lebenden Schäbelthieren nimmt 
die tieffte Stufe die laffe der Rundmäuler oder Cycloftomen 
ein, die Inger (Myrinoiden) und Lampreten (Petromyzonten). Aus 
der inneren Organifation diefer Unpaamafen oder Monorhinen fün- 
nen wir un ein ungefähres Bild von der Beſchaffenheit der menfch- 
lichen Ahnen der zehnten Stufe machen. Wie bei jenen erfteren, fo 
wird auch bei diefen letzteren Schädel und Gehirn noch von der ein- 
fachften Form geweſen fein, und viele wichtige Organe, wie 5. B. 
Schwimmblafe, ſympathiſcher Nero, Milz, Kieferffelet und beide 
Beinpaare, noch völlig gefehlt haben. Jedoch find die Beutelfiemen 
und das runde Saugmaul der Cycloftomen wohl als reine Anpafs 
ſungscharaktere zu betrachten, welche bei der entfprechenden Ahnen» 
ftufe nicht vorhanden waren. Die Unpaarnafen entftanden wäh- 
rend der Primordialzeit aus den Cchädellofen dadurch, daß das vor- 
dere Ende des Rückenmarks fih zum Gehirn und dasjenige des 
Rückenſtrangs zum Schädel entwidelte. Der fihere Beweis, daß 
ſolche unpaarnafige und kieferlofe Borfahren des Menſchen eriftirten, 
liegt in der „vergleichenden Anatomie der Myrinoiden“. 


Elfte Stufe: Urfiſche (Belachii). 


Die Urfiſch⸗Ahnen zeigten unter allen und befannten Wirbel- 
thieren wahrſcheinlich die meifte Aehnlichkeit mit den heute noch leben⸗ 
den Haififhen (Squalacei) (©. 518). Sie entftanden aus 
Unpaarnafen durch Theilung der unpaaren Naſe in zwei paarige Sei⸗ 
tenhäfften, durch Bildung eines ſympathiſchen Nervennepes, eines 
Kieferftelets, einer Schwimmblafe und zweier Beinpanre (Bruftfloffen 
ober Vorberbeine, und Bauchfloſſen oder Hinterbeine). Die innere 
Organifation dieſer Stufe wird im Ganzen derjenigen der niederften 
und befannten Haififche entfprohen haben; doc) war die Schwimm⸗ 
blaſe, die bei diefen nur als Rubiment noch exiſtirt, ſtärker entwidelt. 
Sie lebten bereits in der Silurzeit, wie ſich aus den foffilen filurifchen 
Haifiſch⸗Reſten (Zähnen und Floſſenſtacheln) ergiebt. Den fiheren 
Beweis, daß bie filurifchen Ahnen des Menfchen und aller anderen 


586 Thieriſche Ahnenreihe des Meuſchen. 

Paarnaſen den Selachiern naͤchſt verwandt waren, liefert die ver⸗ 
gleichende Anatomie der letzteren. Sie zeigt, daß die Organiſations- 
Berhältniffe aller Amphirhinen fi) aus denjenigen der Seladjier ab- 
leiten laſſen. 


Zwölfte Stufe: Lurchfiſche (Dipneusta). 

Unfere zwölfte Ahnenftufe wird durch Wirbeithiere gebildet, 
welche wahrfcheinlih eine entfernte Aehnlichkeit mit den heute noch 
lebenden Molchfiſchen (Ceratodus, Protopterus, Lepidosiren, 
©. 521) befagen. Sie entftanden aus den Urfiſchen (wahrſchein ⸗ 
lich in der Devonzeit, im Beginn der Primärgeit) durch Anpaſſung 
an das Landleben und Umbildung der Schwimmblaſe zu einer Iuft- 
athmenden Lunge, fowie der Nafengruben (welche nunmehr in die 
Mundhöhle mündeten) zu Luftwegen. Mit diefer Stufe begann die 
Reihe der durch Lungen fuftathmenden Vorfahren des Menſchen. 
Ihre Organifation wird in mancher Hinficht derjenigen des heutigen 
Cetatodus und Protopterud entfprochen haben, jedoch auch mannic- 
fach verfchieden gewefen fein. Sie lebten wohl ſchon im Beginn 
der devonifchen Zeit. Den Beweis für ihre Eriftenz führt die ver- 
gleihende Anatomie, indem fie in den Dipneuften ein Mittelglied 
zwiſchen den Seladiern und Amphibien nachweift. 

Dreizehnte Stufe: Kiemenlurche (Sogobranchie). 

Aus denjenigen Lurchſiſchen, welche wir als die Stammformen 
aller fungenathmenden Wirbelthiere betrachten, entwidelte fih als 
wichtigfte Hauptlinie die Klaffe der Lurche oder Amphibien (©. 513, 
523). Mit ihnen begann die fünfzehige Fußbildung (die Pentadat ⸗ 
tylie), die fi) von da auf die höheren Wirbeithiere und zuletzt auch 
auf den Menfchen vererbte. Als unfere Alteften Vorfahren aus der 
Amphibien- Kaffe find die Kiemenlurche zu betrachten. Sie bebiel- 
ten neben den Lungen noch zeitlebens bleibende Kiemen, ähnlich 
dem heute noch lebenden Proteus und Axolotl (S. 525). Eie ent- 
ftanden aus den Dipneuften durch Umbildung der rudernden Fiſch · 
floffen zu fünfzehigen Beinen, und durch höhere Differenzinung ver- 


Thieriſche Ahuenreihe des Menfchen. 587 


ſchiedener Organe, namentlich der Wirbelfäule. Jedenfalls exiſtirten 
fie um die Mitte der paläofithifchen oder Primärzeit, vielleicht ſchon 
vor der Steinfohlenzeit. Denn foffile Amphibien finden fi ſchon 
in der Steintohle. Den Beweis’ dafür, daß derartige Kiemen- 
lurche zu unfern direkten Vorfahren gehörten, liefert die vergleichende 
Anatomie und Ontogenie der Amphibien und Säugethiere. 


Bierzehnte Stufe: Schwanzlurche (Bozura). 

Auf unfere amphibifhen Vorfahren, die zeitlebens ihre Kiemen 
bebielten, folgten fpäterhin andere Amphibien, welde durch Meta- 
morphofe im fpäteren Alter die in der Jugend noch vorhandenen 
Kiemen verloren, aber den Schwanz behielten, ähnlich den heutigen 
Salamandem und Molchen (Tritonen, vergl. ©. 525). Sie ent- 
fanden aus den Kiemenlurchen dadurch, daß fie ſich daran ges 
wöhnten, mur noch in der Jugend durch Kiemen, im fpäteren Alter 
aber bloß dur Lungen zu athmen. Wahrſcheinlich lebten fie ſchon 
in’ der zweiten Hälfte der Primärzeit, während der permifchen Pe- 
riode, vielleicht fehon während der Steinfohlenzeit. Der Beweis 
für ihre Exiſtenz liegt darin, daß die Schwanzlurche ein nothwendi- 
ges Mittelglied zwiſchen der vorigen und der folgenden Stufe bilden. 

Fünfzehnte Stufe: Hramnioten (Protamnia). 

Als Protamnion haben wir früher die gemeinfame Stammform 
der drei höheren Wirbelthierflaien bezeichnet, aus welcher als zwei 
divergente Zweige die Proreptilien einerfeitd, die Promammalien 
andrerſeits ſich entwidelten (©. 528). Sie entftand aus unbe 
fannten Schwanzlurhen dur gänzlichen Verluft der Kiemen, Bil 
bung des Amnion, der Schnede und ded runden Fenfterd im Ge⸗ 
hörorgan, und der Thränenorgane. Ihre Entftehung fällt wahr- 
ſcheinlich in den Beginn der mefolithifhen oder Sefundärzeit, viel- 
leicht fehon gegen das Ende der Primärzeit, in die permifche Periode. 
Der fihere Beweis für ihre einftmalige Exiſtenz liegt in der ver- 
gleichenden Anatomie und Ontogenie der Amnionthiere. Denn alle 
Reptilien, Vögel und Säugethiere mit Inbegriff des Menfchen ſtim ⸗ 


588 Thieriſche Ahnenreihe des Menſchen. 
men in fo zahlreichen wichtigen Eigenthümlichkeiten überein, daß fie 
mit voller Sicherheit als Defcendenten einer einzigen gemeinfamen 
Stammform, des Protamnion, zu erfennen find. 


Schözehnte Stufe: Stammſäuger (Promammalis). 

Unter unferen Vorfahren von der ſechszehnten bis zur zweiund ⸗ 
zwanzigſten Stufe wird un bereits heimifcher zu Muthe. Sie ge 
hören alle der großen und wohlbefannten Klaſſe der Säugetiere an, 
deren Grenzen auch wir felbft bis jept noch nicht überfchritten haben. 
Die gemeinfame, längft ausgeftorbene und unbekannte Stammform 
aller Säugethiere, die wir als Promammale bezeichneten, fand 
jedenfall® unter allen jept noch lebenden Thieren dieſer Klaſſe den 
Schnabelthieren oder Drnithoftomen am nächſten (Ornitho- 
rhynchus, Echidna, ©. 538). Jedoch war fie von letzteren durch 
vollftändige Bezahnung des Gebiſſes verſchieden. Die Schnabelbil- 
dung der heutigen Schnabelthiere ift jedenfalls als ein fpäter ent- 
ftandener Anpaflungscharatter zu betrachten. Die Promammalien 
entftanden aus den Protamnien (mahrfcheinlich erft im Beginn der 
Sekundäygeit, in der Trias « Periode) durch mandherlei Fortſchritte in 
der inneren Drganifation, fowie dur Umbildung der Epidermid- 
ſchuppen zu Haaren und Bildung einer Milhdrüfe, welche Mid 
zur Emährung der Jungen lieferte. Der fibere Beweis dafür, 
daß die Promammalien, als die gemeinfamen Etammformen aller 
Säugetiere, au zu unferen Ahnen gehörten, liegt in der verglei- 
enden Anatomie und Ontogenie der Säugethiere und des Menſchen. 

Siebzehnte Stufe: Bentelthiere (Marsupialie), 

Die drei Unterflaffen der Säugethiere ftehen, wie woir früber 
fahen, der Art im Zufammenhang, daß die Beutelthiere ſowohl in 
anatomiſcher, als auch in ontogenetifher und phylogenetiſcher Be- 
ziehung den unmittelbaren Uebergang zwifchen den Pionotremen und 
Placentalthieren vermitteln (©. 549). Daher müffen ſich auch Bor 
fahren des Menſchen unter den Beutelthieren befunden haben. <it 
entftanden aus den Monotremen, zu denen auch die Stammjän- 


Thieriſche Ahnenreihe des Menfchen. 589 


ger oder Promammalien gehörten, durch Trennung der Kloake in 
Maftdarm und Urogenitalfinus, durd Bildung einer Bruftwarze an 
der Milhdrüfe, und durch theilweife Ruckbildung der Schlüffelbeine. 
Die älteften Beutelthiere lebten jedenfall® bereits in der Jura-Periode 
(vielleicht ſchon in der Trind-Zeit) und durchliefen während der Kreide: " 
zeit eine Reihe von Stufen, welche die Entftehung der Placentalien 
vorbereiteten. Den ficheren Beweis für unfere Abftammung von 
Beutelthieren, welche den heute noch lebenden Opofjum und Kän- 
guruh im wmefentlichen inneren Bau nahe ftanden, Tiefert die ver- 
gleichende Anatomie und Ontogenie der Säugethiere. 
Achtzehnte Stufe: Halbaffen (Prosimise). 

Eine der wichtigſten und intereffanteften Orbnungen unter den 
Säugethieren bildet, wie wir ſchon früher fahen, die fleine Gruppe 
der Halbaffen. Sie enthält die unmittelbaren Stammformen der 
echten Affen, und fomit auch des Menſchen. Unfere Halbaffen-Ahnen 
befagen vermuthlich nur ziemlich entfernte äußere Aehnlichkeit mit den 
heute noch lebenden kurzfüßigen Halbaffen (Brachytarsi), namentlich 
den Mati, Indri und Lori (S. 558). Sie entftanden (mahrfchein- 
lich im Beginn der caenolithifchen oder Tertiärzeit) aus unbekannten, 
den Beutelratten verwandten Beutelthieren durch Bildung einer Pla- 
centa, Berluft des Beuteld und der Beutelnochen, und ftärfere Ent« 
widelung des Schwielenkörperd im Gehim. Der fihere Beweis, 
daß die echten Affen, und fomit auch unfer eigenes Gefchlecht, direkt 
von den Halbaffen herfommen, ift in der vergleihenden Anatomie 
und Ontogenie der Placentalthiere zu fuchen. 

Reunzehnte Stufe: Ehwanzaffen (Menooeroa). 

Unter den beiden Abtheilungen der echten Affen, die ſich aus den 
Halbaffen entwidelten, beſitzt nur diejenige der Echmalnafen oder 
Katarhinen nähere Blutsverwandtſchaft mit dem Menfchen. Unfere 
älteren Vorfahren aus diefer Gruppe waren vielleicht ähnlich den 
beute noch lebenden Rafenaffen und Schlankaffen (Semnopithecus), 
mit demfelben Gebiß und derfelben Schmalnafe wie der Menſch; 


590 Thieriſche Apnenveihe des Menſchen. 
aber noch mit dichtbehaartem Körper und einem langen Schwanze 
(S. 571). Diefe gefhwänzten fhmalnafigen Affen (Catar- 
hina menocerca) entftanden aus den Halbaffen durch Umbildung 
des Gebiſſes und Verwandlung der Krallen an den Zehen in Rägel, 
wahrſcheinlich ſchon in der älteren Tertiärgeit. Der fihere Beweis 
für unfere Abftammung von gefhmwänzten Katarhinen liegt in ber 
vergleichenden Anatomie und Ontogenie der Affen und Menfchen. 


Zwanzigfle Stufe: Menfgenaffen (Anthropoides). 

Unter allen heute noch lebenden Affen ftehen dem Menfchen am 
nächften die großen ſchwanzloſen Schmalnafen, der Drang und 
Gibbon in Aſien, der Gorilla und Schimpanfe in Afrika. Diele 
Menfdenaffen oder Anthropoiden entftanden wahrſcheinlich während 
der mittleren Tertiärzeit, in der miocaenen Periode. Sie entwidel- 
ten fi aus den geichwänzten Katarhinen der vorigen Stufe, mit 
denen fie im Wefentlihen übereinftimmen, dur Verluſt des Schwan- 
zes, theilweifen Berluft der Behaarung und überwiegende Entwide- 
lung bes Gehirntheiles über den Gefihtötheil des Schäbeld. Direkte 
Vorfahren des Menfchen find unter ben heutigen Anthropoiden nicht 
mehr zu fuchen, wohl aber unter den unbefannten auögeftorbenen 
Menſchenaffen der Miocaenzeit. Den fiheren Beweis für die frü- 
here Exiſtenz derfelben liefert die vergleichende Anatomie der Men- 
ſchenaffen und der Menfchen. 

Einundzwanzigfte Stufe: Affenmenfden (Pithecanthropi). 

Obwohl die vorhergehende Ahnenftufe den echten Menfchen ber 
reits fo nahe fteht, daß man faum noch eine vermittelnde Zwiſchen · 
ftufe anzunehmen braucht, können wir als eine folde dennoch die 
ſprachloſen Urmenſchen (Alali) betrachten. Diefe Affenmenfchen 
oder Pithetanthropen lebten wahrſcheinlich erft gegen Ende der Ter- 
tiägeit. Sie entftanden aus den Menfchenaffen oder Anthropoiden 
durch die volfftändige Angemöhnung an den aufrechten Gang und 
die dem entſprechende ftärkere Differengirung der beiden Beinpaar. 
Die „Borberhand” der Anthropoiden wurde bei ihnen zur Menfchen- 


Thieriſche Ahnenreihe des Menſchen. 591 


band, die „Hinterhand” dagegen zum Gangfuß. Obgleich dieſe Affen⸗ 
menſchen fo nicht bloß durch ihre äußere Körperbildung, fondern 
auch durch ihre innere Geiftedentwidelung dem eigentlichen Menfchen 
fhon viel näher als die Menfchenaffen geftanden haben werben, 
fehlte ihmen dennoch das eigentlihe Hauptmertmal des Menſchen, 
die artieulirte menſchliche Wortfprahe und die damit verbundene 
Entwidelung des höheren Selbftbewußtfeins und der Begriffebil- 
dung. Der fihere Beweis, daß ſolche ſprachloſe Urmenfchen ober 
Affenmenſchen dem fprechenden Menſchen vorausgegangen fein müfs 
fen, ergiebt fi für den denfenden Menfchen aus der vergleichenden 
Sprachforſchung (aus der „vergleichenden Anatomie” der Sprache), 
und namentlich aus der Entwicelungsgefchichte der Sprache, ſowohl 
bei jedem Kinde („glottifhe Ontogenefe”), als bei jedem Volke 
(„glottifhe Phylogenefe‘). 


Smweiundzwanzigfte Stufe: Menfhen (Homines). 

Die echten Menſchen entwidelten fi) aus den Affenmen- 
fen der vorhergehenden Stufe durch die allmählige Ausbildung 
der thieriſchen Lautſprache zur gegliederten oder articulirten Wort- 
ſprache. Mit der Entroidelung dieſer Funktion ging natürlich die- 
jenige ihrer Organe, die höhere Differenzirung des Kehltopfs und 
des Gehimd, Hand in Hand. Der Uebergang von den fprachlofen 
Affenmenſchen zu den echten oder fprechenden Menfchen erfolgte wahr⸗ 
ſcheinlich erft im Beginn der Quartärzeit oder der Diluvial- Periode, 
vielleicht aber auch ſchon früher, in der jüngeren Tertiärzeit. Da 
nach der übereinftimmenden Anſicht der meiften bedeutenden Sprach⸗ 
forſcher nicht alle menfhlihen Sprachen von einer gemeinfamen Ur- 
ſprache abzuleiten find, fo muͤſſen wir einen mehrfachen Urfprung 
der Sprache und dem entfprechend auch einen mehrfachen Uebergang 
von den fprahlofen Affenmenfchen zu den echten, fprechenden Dien- 
{hen annehmen. 


592 


Ahnenreihe des menfhlihen Stammbauns. 
MN — Örenge zwiſchen ben wirbellofen Ahnen und den Wirbelthier- Ahnen. 








— der beoleiſq· Derioden | hieri fie, es! bene 
et ı Abnen| : Venen 
erile | organifden Srdgeſchichte | en ei Atueukufen 
1. Moneren — 
—*8— — 
—— 
8. Biehelige Ur | Amgehengemender 
iere G J 
#. [fwär- . 
mer (Planaeada) Larven 
5, Urbarmthiere — 
1. arte- 1. gaurentiſche Be-| e 
lithiſche oder riode (Archelminthes) (Torbellariaı 
Primordial:} * gembrifge Ber 7. Weichwurmer ? zwifdjen ben 


Zeit 8. rweifgegerione ——— und Geefcheiben 


. Unpaat 
(Monorhina) | (Petromyaontes, 
(Bergl. S. 852 unb 11. Urffche | N! 
Sof. XIV nebß Erflärung!| (Selachii) ee 
12, Lurı EX: 
II. Bafaco: | 4 Devon-Beriode ee) FIcH 
tithifhe oder] Stsintoblen-Pe- 13, Kiemenlurde om (Posten, 


’ (Sozobranchiu tl (Siredon 
FrimärsBeit 6. Bermifgeeriode 1 Samen Swan 0 a ” 








—— 
FREE — ix: — 
II. Meſo⸗ 15. Uramnioten 
tithifhe oder] 7. Erias- Periode | (Protamala) | und ıı 
Gefundär- | 9 Jura-Beriode $ 18. Urfäuger Prim 


9, Kreibe-Periode | (Promammalia) (Monotrema) 





Zeit 17. Beutelthiere j Beutelratten 
DENE (Marsupialia) (Didelphyes) 
18. Hafbaffen — J Lori, — 

(Prosimiae) 


19. Geirwänzte 
TV. Caeno- 10. Eocaen- Periode 10 En gen nen | SE 


lithiſche oder J11. Miocaen-Beriod: 
TertiärBeit ſie vdlibeaen Periode Er 5 —— 
m & Een" 


finen und 
— — 
V. Quattat⸗ j13. Difuvial- Periode} 28, Spredende | Wußrafier und 
‚Zeit iatnviateherionel "onehfäen Bapuas 





Dreinndzwanzigfter Vortrag. 


Wanderung uud Verbreitung des Meuſchengeſchlechts. 
Menfhenarten und Menjhenrafien. 


Alter des Menſchengeſchlechts. Urſachen ber Eutſtehung deſſelben. Der Ur- 
ſprung ber meuſchlichen Sprache. Einſtämmiger (monophyletiſcher) und vielſtämmi · 
ger (polyphyletiſcher) Urſprung des Menſchengeſchlechts. Abſtammung der Menſchen 
von vielen Paaren. Maffifitation der Menſchenraſſen. Syſtem ber zwölf Men- 
ſchenarten. Wollhaarige Menfchen ober Ulotrichen. Büfchelhaarige (Papuas, Hot» 
tentotten). Bließhaarige (Kaffern, Neger). Schlichthaarige Menfchen ober Liffotri- 
den. Straffhaarige (Auftralier, Malayen, Mongolen, Arktiler, Amerifaner). 
Lodenhaarige (Dravidas, Nubier, Mittelländer). Bevölterungsjahlen. Urheimath 
des Menſchen (Sübafien oder Lemurien). Beſchaffenheit des Urmenſchen. Zahl 
der Urſprachen (Donoglottonen und Polyglottonen). Divergenz und Wanderung 
des Menſchengeſchlechts. Geographiſche Verbreitung der Menſcheuarten. 


Meine Herren! Der reiche Schap von Kenntniffen, welchen wir 
in der vergleichenden Anatomie und Entwidelungsgefjichte der Wir- 
beithiere befigen, geftattet und ſchon jegt, die wichtigften Grundzüge 
des menſchlichen Stammbaums in der Weife feftzuftellen, wie es in 
den legten Vorträgen gefchehen ift. Deffen ungeachtet dürfen Sie 
aber nicht erwarten, die menfchliche Stammesgefhichte oder Phylo- 
genie, die fortan die Grundlage der Anthropologie und fomit auch 
alter anderen Wiflenfchaften bilden wird, in allen Einzelnheiten jept 
ſchon befriedigend überfehen zu können. Vielmehr muß der Ausbau 
diefer wichtigften Wiffenfchaft, zu der wir nun ben erften Grund le⸗ 

Hertel, Raturl. Shäpfungegeid. 5. Hufl. 38 


594 Zeitraum ber Entſtehung des Menſchengeſchlechts. 


gen tönnen, den genaueren und eingehenderen Forſchungen der Zu- 
tunft vorbehalten bleiben. Das gilt‘ auch von denjenigen fpecielle- 
ven Verhältniffen der menſchlichen Phulogenie, auf welche wir jept 
ſchließlich noch einen flüchtigen Blid werfen wollen, nämlih von 
den Fragen nad Zeit und Ort der Entftehung des Menfhenge- 
ſchlechts, fowie der verſchiedenen Arten und Raſſen, in welche fih 
daſſelbe differenzirt hat. 

Was zunähft den Zeitraum der Erdgeſchichte betrifft. inner⸗ 
bald deifen langfam und allmählih die Umbildung der menfchen- 
ähnlichften Affen zu den affenähnlichften Menfchen ftatt fand, fo 
läßt ſich diefer natürlich nicht nah Jahren, auch nicht nah Jahı- 
hunderten beftimmen. Nur da8 können wir aus den, in den legten 
Vorträgen angeführten Gründen mit voller Sicherheit behaupten, 
daß der Menſch jedenfalld von placentalen Säugethieren abftammt. 
Da aber von diefen Placentalthieren verfteinerte Refte nur in den 
tertiären Gefteinen gefunden werden, fo kann au das Menſchen ⸗ 
gefchlecht früheften® innerhalb der Tertiärzeit aus den vervollfomm- 
neten Menfchenaffen ſich entwidelt haben. Das Wahrſcheinlichſte 
ift, daß diefer wichtigſte Vorgang in der irdifchen Schoͤpfungsgeſchichte 
gegen Ende der Tertiärzeit ſtattfand, alfo in der pliocenen, vielleicht 
ſchon in der miocenen Periode, vielleicht aber auch erft im Beginn 
der Diluvialzeit. Jedenfalls lebte der Menſch ala folder in Mittel- 
europa fhon während der Diluvialgeit, gleichzeitig mit vielen gro- 
ben, längft auögeftorbenen Säugethieren, namentlich dem diluvialen 
Elephanten oder Mammuth (Elephas primigenius), dern wollhaari- 
gen Nashorn (Rhinoceros tichorhinus), dem Rieſenhirſch (Cervus 
euryceros), dem Höhlenbär (Ursus spelaeus), der Höhlenhyäne 
(Hyaena spelaca), dem Höhlentiger (Felis spelaea) x. Die Re 
fultate, welche die neuere Geologie und Archäologie über diefen foi- 
filen Menſchen der Diluvialzeit und feine thieriſchen Zeitgenoiien an 
das Licht gefördert hat, find vom höchſten Intereſſe. Da aber eine 
eingehende Betrachtung derfelben den und geftedten Raum bei wei 
tem überfchreiten würde, fo begnüge ich mich bier damit, ihre bobe 


Zeitraum der Entſtehung des Menſchengeſchlechts. 595 


Bedeutung im Allgemeinen hervorzuheben, und verweife Sie bezüg⸗ 
lich des Befonderen auf die zahlreichen Schriften, welche in neuefter 
Zeit über die Urgefchichte des Menfchen erfhienen find, namentlich auf 
die vortrefflichen Werke von Charles Lyell®°), Carl Bogt??), 
Friedrich Rolle?s), John Lubbock““), 2. Bühner*®)u.f.w. 

Die zahlreichen intereffanten Entdeddungen, mit denen uns diefe 
ausgedehnten Unterſuchungen ber letzten Jahre über die Urgeſchichte 
des Menſchengeſchlechts beſchenkt haben, ftellen die wichtige (auch aus 
vielen anderen Gründen ſchon längft wahrfcheinliche) Thatſache außer 
Zweifel, dag die Eriftenz des Menſchengeſchlechts als folhen jeden- 
fall® auf mehr als ziwangigtaufend Jahre zurüdgeht. Wahrſcheinlich 
find aber feitdem mehr ala hunderttaufend Jahre, vielleicht viele Hun- 
derte von Sahrtaufenden verfloſſen, und e8 muß im Gegenfap dazu 
fehr komiſch erſcheinen, wenn noch heute unfere Kalender die „Erfhaf- 
fung der Welt nach Calviſius“ vor 5821 Jahren gefchehen laffen. 

Mögen Sie nun den Zeitraum, während deſſen das Menfchen- 
geſchlecht bereits als ſolches eriftirte und ſich über die Erbe verbrei⸗ 
tete, auf zwanzigtaufend, oder auf hunderttaufend, ober auf viele 
bunderttaufend Jahre anſchlagen, jedenfalls ift derſelbe verſchwin⸗ 
dend gering gegen die unfaßbare Länge der Zeiträume, welche für 
die flufenweife Entwidelung der langen Ahnenfette des Menſchen 
erforderlih waren. Das geht ſchon hervor aus der fehr geringen 
Dide, welche alle diluvialen Ablagerungen im Verhältniß zu den 
tertiären, und diefe wiederum im Verhältniß zu den vorhergegange- 
nen befigen (vergl. ©. 352). Aber auch die unendlich lange Reihe 
der ſchrittweiſe fih langſam entwidelnden Thiergeftalten, von dem 
einfachften Moner bis zum Amphioxus, von diefem bis zum Urfifch, 
vom Urfifch bis zum erften Säugethiere und von biefem wiederum 
bis zum Menfchen, erheifcht zu ihrer hifterifhen Entwidelung eine 
Reihenfolge von Zeiträumen, die wahrſcheinlich viele Millionen von 
Jahrtaufenden umfaffen (vergl. ©. 115). 

Diejenigen Entwidelungsvorgänge, welche zunaͤchſt die Entfte- 
bung der affenähnlichften Menfchen aus den menfchenähnlichften Affen 

38* 


596 Entwiclelung des Menſchen aus dem Affen. 


veranlaßten, find in zwei Anpaflungsthätigteiten der lepteren zu 
ſuchen, welche vor allen anderen die Hebel zur Menſchwerdung 
waren: der aufrechte Gang und die gegliederte Sprade. 
Tiefe beiden phyſiol ogiſchen Funktionen entſtanden nothwendig 
zugleich mit zwei entſprechenden morphologifchen Umbildungen, 
mit denen fie in der engften Wechſelwirkung ftehen, nämlih Diffe- 
renzirung derbeiden Gliedmaßenpaare und Differenzi» 
rung des Kehlkopfs. Die wichtige Vervolltommnung diefer Dr- 
gane und ihrer Functionen mußte aber dritten® nothivendig auf die 
Differenzirung des Gehirnd und der davon abhängi- 
gen Eeelentbätigfeiten mächtig zurüdhoirten, und damit war 
der Weg für die unendliche Laufbahn eröffnet, in welcher ſich ſeitdem 
der Menfch fortfchreitend entwidelt, und feine thierifchen Borfahren 
fo weit überflügelt bat. (Gen. Morph. II, 430.) 

Als den erften und älteften Fortſchritt von diefen drei mächtigen 
Entridelung&bewegungen des menfchlihen Organismus haben wir 
wobl die böbere Differenzirung und Bervollfommnung 
der Ertremitäten bervorzubeben, welche durch die Gemwöh- 
nung an den aufrebten Gang herbeigeführt wurde. Indem 
die Vorderfühe immer ausſchließlicher die Funktion des Greifend und 
Vetaftens, die Ginterfüße dagegen immer ausſchließlicher die Funktion 
ded Auftretend und Gebend übernahmen und beibehielten, bildete ji 
jener Gegenſaß zwiſchen Sand und Fuß aus, welcher zwar dem 
Menschen nicht audſchließlich eigenthũmlich, aber doch viel flärker bei 
ibm entwidelt it, ala bei den menfchenähnlichften Affen. Diefe 
Tifferengirung der vorderen und hinteren Grtremität war aber nicht 
allein für ibre eigene Ausbildung und Bervollfommnung höchft vor- 
tbeilbaft, fondern fie batte zugleich eine ganze Reihe von fehr wid- 
tigen Veränderungen in der übrigen Körperkilbung im Gefolge. Tie 
gange Wirbelfäufe. namentlich aber Bedengürtel und Schultergürtel. 
ſowie die Dazu gebörige Muskulatur, erlitten dadurch diejenigen Um- 
dildungen. durch welche ſich der menfchlihe Körper von demjenigen 
der menſchenaͤhnlichſten Affen unterſcheidet. Wahrſcheinlich vollzogen 


Entwidelung des Menſchen aus dem Affen. 597 


ſich diefe Umbildungen ſchon lange vor Entftehung der gegliederten 
Sprache, und es egiftirte das Menſchengeſchlecht ſchon geraume Zeit 
mit feinem aufrechten Gange und der dadurch herbeigeführten cha⸗ 
vafteriftifchen menſchlichen Kötperform, ehe ſich die eigentliche Aus- 
bildung der menſchlichen Sprache und damit der zweite und wichtie 
gere Theil der Menfchwerdung vollzog. Wir fönnen daher wohl mit 
Necht ala eine befondere (21fte) Stufe unferer menſchlichen Ahnen« 
reihe den ſprachloſen Menfchen (Alalus) oder Affenmenfchen (Pithec- 
anthropus) unterf&eiden, welcher ziwar körperlich dem Menfchen in 
allen wefentlihen Merkmalen ſchon gleichgebildet, aber noch ohne 
den Beſiß der gegliederten Wortſprache war. 

Die Entftehung der gegliederten Wortſprache, und die 
damit verbundene höhere Differenzirung und Vervoll— 
tommnung des Kehltopfs haben wir erft als die fpätere, zweite 
und wichtigfte Stufe in dem Entwidelungvorgang der Menſchwer⸗ 
dung zu betrachten. Sie war e8 ohne Zweifel, welche vor allem 
die tiefe Kluft zwiſchen Menſch und Thier ſchaffen half, und welche 
zunaͤchſt auch die bedeutendften Fortfehritte in der Seelenthätigkeit und 
der damit verbundenen Beroolltommnung des Gehirns veranlafte. 
Allerding3 eriftirt eine Sprache als Mittheilung von Empfindungen, 
Beſtrebungen und Gedanken auch bei fehr vielen Thieren, theils ala 
Gebärdenfprache oder Zeichenfprache, theils ala Taſtſprache oder Be⸗ 
rührungsfprache, theils als Lautfprache ober Tonfprache. Allein eine 
wirkliche Wortſprache oder Begrifföfprache, eine fogenannte „geglie⸗ 
derte ober artikulirte” Sprache, welche die Laute durch Abftraction 
zu Worten umbildet und die Worte zu Sägen verbindet, ift, fo viel 
wir wiffen, ausſchließliches Eigentum des Menfchen. 

Mehr als alles Andere mußte die Entftehung der menſchlichen 
Sprache veredelnd und umbildend auf das menſchliche Seelenleben 
und fomit auf da® Gehim einwirten. Die höhere Differenzi- 
rung und Bervolltommnung des Gehirns, und des Geis» 
ſteslebens als der höchften Funktion des Gehirns, entwidelte 
fih in unmittelbarer Wechfelwirtung mit feiner Aeußerung durch die 


598 Vielheitlicher Urfprung der menſchlichen Spradie. 

Sprache. Daher konnten die bedeutendften Vertreter der vergleichen- 
den Sprachforfhung in der Entwickelung der menſchlichen Sprache 
mit Recht den wichtigften Scheidungsprozeß des Menfchen von fei- 
nen thierifchen Vorfahren erbliden. Dies hat namentlih Auguft 
Schleier in feinem Schriftchen „Ueber die Bedeutung der Sprache 
für die Naturgeſchichte de Menſchen“ hervorgehoben °*). In diefem 
Verhaͤltniß ift einer der engften Berührungspunfte zwifhen der ver- 
gleihenden Zoologie und der vergleichenden Sprachtunde gegeben, 
und hier ftelit die Entwickelungstheorie für die leptere die Aufgabe, 
den Urfprung der Sprache Schritt für Schritt zu verfolgen. Diele 
eben fo intereffante ald wichtige Aufgabe ift in neuefter Zeit von 
mehreren Seiten mit Glüd in Angriff genommen worden, fo ind« 
befondere von Lazarus Geiger und Wilhelm Bleet, welcher 
feit vielen Jahren in Südafrifa mit dem Studium ber Sprachen der 
niederften Menſchenraſſen befehäftigt und dadurch befonder® zur Ld⸗ 
fung diefer Frage befähigt ift. Wie ſich die verfchiedenen Eprad- 
formen, glei allen anderen organifhen Formen und Funktionen, 
durch den Prozeß der natürlichen Züchtung enttwidelt, und in viele 
Arten und Abarten zerfplittert haben, hat namentlih Auguf 
Schleicher der Selectiondtheorie entfprechend erörtert *). 

Den Prozeß der Sprachbildung felbft hier weiter zu verfolgen, 
haben wir feinen Raum, und id) verweife Sie in diefer Beziehung 
namentlich auf die wichtige, eben erwähnte Schrift von Wilbelm 
Bleet „über den Urfprung der Sprache“ *5). Dagegen müffen wir 
noch eine® der wichtigften hierauf begüglichen Reſultate der verglei- 
chenden Sprachforfhung hervorheben, welches für den Stammbaum 
der Menſchenarten von hödhfter Bedeutung ift, dag nämlich die 
menfhlide Sprade wahrſcheinlich einen vielheitlihen 
oderpolyphyletifhen Urfprung bat. Die menſchliche Sprache 
als ſolche enttwidelte ſich wahrſcheinlich erft, nachdem die Gattung 
des fprachlofen Urmenſchen oder Affenmenfchen in mehrere Arten oder 
Species augeinander gegangen war. Bei jeder von dieſen Menſchen ⸗ 
arten, und vielleicht felbit bei verſchiedenen Unterarten und Abarten 


Einpeitlicher ober vielheitlicher Urſprung des Menſchengeſchlechts. 599 


dieſer Species, entwickelte ſich die Sprache ſelbſtſtaͤndig und unab⸗ 
haͤngig von den andern. Wenigſtens giebt Schleicher, eine der 
erften Autoritäten auf dieſem Gebiete, an, daß „ſchon die erften An- 
fänge der Sprache, im Laute ſowohl ald nad den Begriffen und 
Anfchauungen, welche lautlich reflektirt wurden, und ferner nad) ihrer 
Entridelungsfähigteit, verſchieden gewelen fein müffen. Denn es 
iſt pofitiv unmöglich, alte Spraden auf eine und diefelbe Urfprache 
zurüczuführen. Vielmehr ergeben ſich der vorurtheilöfreien Forſchung 
fo viele Urſprachen, als ſich Sprachftämme unterfdeiden lajfen“ °*). 
Ebenfo nehmen aud Friedrich Müller?) und andere bedeutende 
Linguiften eine felbftftändige und unabhängige Entftehung der Sprach⸗ 
ftämme und ihrer Urſprachen an. Bekanntlich entiprechen aber bie 
Grenzen diefer Sprahftämme und ihrer Verzweigungen keineswegs 
immer den Grenzen der verfchiedenen Menfchenarten oder fogenann- 
ten „Raffen“, welde wir auf Grund förperliher Charaktere im 
Menſchengeſchlecht unterfheiden. Hierin, fowie in den verwidelten 
Berhälmiffen der Raſſenmiſchung und der vielfältigen Baftardbildung, 
liegt die große Schwierigkeit, welche die weitere Berfolgung des menſch⸗ 
lichen Stamınbaums in feine einzelnen Zweige, die Arten, Raffen, 
Abarten u. f. w., darbietet. 

Trog diefer großen und bedenklihen Schwierigkeiten können wir 
nicht umhin, hier noch einen flüchtigen Blid auf diefe weitere Ber- 
zweigung des menfchlihen Stammbaumd zu werfen und dabei die 
viel beſprochene Frage vom einheitlihen ober vielheitlihen Urfprung 
des Menſchengeſchlechts, feinen Arten oder Raffen, vom Standpuntte 
der Defcendenztheorie aus zu beleuchten. Bekanntlich ftehen ſich in 
diefer Frage feit langer Zeit zwei große Parteien gegenüber, die 
Monophyleten und Polyphyleten. Die Monophyleten (oder Mo- 
nogeniften) behaupten den einheitlichen Urjprung und die Blutsver⸗ 
wandiſchaft aller Menfchenarten. Die Polyphyleten (oder Bo- 
Iggeniften) dagegen find der Anficht, daß die verſchiedenen Menſchen⸗ 
arten oder Raſſen jelbfiftändigen Urfprungs find. Nach den vorher- 
gehenden genealogiſchen Unterfuhungen kann es Ihnen nicht zweifel- 


600 Abflammung ber Menſchen von einem Paar. 


haft fein, daß im weiteren Sinne jedenfalld die monophu- 
letiſche Anficht die richtige ift. Dem vorausgefept auch, daß die 
Umbildung menfhenähnlicher Affen zu Menfchen mehrmals ftattge- 
funden hätte, fo würden doch jene Affen felbft durd den einheit- 
lichen Stammbaum der ganzen Affenordnung wiederum zufammen- 
hängen. Es könnte fih daher immer nur um einen näheren oder 
entfernteren Grad der eigentlichen Blutsverwandtſchaft handeln. Im 
engeren Sinne dagegen wird wahrfcheinlih die polyphyle- 
tiſche Anfhauung infofern Recht behalten, als die verſchiedenen Ur» 
ſprachen fi) gang unabhängig von einander entwidelt haben. Wenn 
man alfo die Entftehung der gegliederten Wortfprache ala den eigent- 
lichen Hauptaft der Menſchwerdung anfieht, und die Arten des Men- 
ſchengeſchlechts nach ihrem Sprachſtamme unterfheiden will, fo könnte 
man fagen, daß die verfdhiedenen Menfchenarten unabhängig von 
einander entftanden feien, indem verſchiedene Zroeige der aus den 
Affen unmittelbar entftandenen fprachlofen Urmenfchen fich felbftftändig 
ihre Urfpradjen bildeten. Immerhin würden natürlich auch diefe an 
ihrer Wurzel entweder weiter oben oder tiefer unten wieder zuſam ⸗ 
menbhängen und alfo doch ſchließlich alle von einem gemeinfamen 
Urftamme abzuleiten fein. 

Wenn wir nun an diefer lepteren Ueberzeugung allerdings feft- 
halten, und wenn wir aus vielen Gründen der Anficht find, da die 
verfhiedenen Specied ber fprachlofen Urmenfhen alle von einer ger 
meinfamen Affenmenfchen- Form abftammen, fo wollen wir damit na⸗ 
türlih nicht fagen, daf „alle Menfhen von einem Paare 
abftammen.” Diefe leptere Annahme, welche unfere moderne indo ⸗ 
germanifche Bildung aus dem femitifchen Mythus der mofaifchen Schd- 
pfungsgeſchichte herübergenommen hat, ift auf feinen Fall haltbar. 
Der ganze berühmte Streit, ob das Menfchengefhleht von einem 
Paar abftammt oder nicht, beruht auf einer volltommen falfhen Frage · 
ftellung. Er ift ebenfo ſinnlos, wie der Streit, ob alle Jagbhunde 
oder alle Rennpferde von einem Paare abftammen. Bit demfelben 
Rechte könnte man fragen, ob alle Deutſchen oder alle Engländer 


Abftanmung der Menſchen von vielen Paaren. 601 


„von einem Paare abflammen” u. ſ. w. Ein „erfte® Menſchenpaar“ 
oder ein „erfter Menſch“ hat überhaupt niemals egiftirt, fo wenig es 
jemals ein erfted Paar oder ein erfted Individuum von Engländern, 
Deutſchen, Rennpferden oder Jagdhunden gegeben hat. Immer ers 
folgt natürlich die Entftehung einer neuen Art auß einer beftehenden 
Art in der Weife, da eine lange Kette von vielen verfchiebenen In- 
dividuen an dem langfamen Umbildungsprozeß betheiligt ift. Ange 
nommen, daß wir alle die verfchiedenen Paare von Menfchenaffen und 
Affenmenfchen neben einander vor und hätten, die zu den wahren 
Vorfahren des Menſchengeſchlechts gehören, fo würde es doch ganz 
unmöglich fein, ohne die größte Willkür eines von diefen Affen 
menfchen-Paaren als „das erfte Paar“ zu bezeichnen. Ebenfowenig 
ann man auch jede der zwölf Menſchenraſſen oder Species, die wir 
ſogleich betrachten wollen, von einem „erften Paare” ableiten. 

Die Schwierigkeiten, denen wir bei der Klafjififation der ver- 
ſchiedenen Menſchenraſſen oder Menfchenarten begegnen, find ganz 
diefelben , welche uns die Syſtematik der Thier- und Pflanzenarten 
bereitet. Hier wie dort find die fheinbar ganz verfhiedenen Formen 
doch meiften® durch eine Kette von vermittelnden Uebergangsformen mit 
einander verfmüpft. Hier wie dort fann der Streit, was Art oder 
Species, und was Raſſe oder Varietät ift, niemals entfchieden wer⸗ 
den. Belanntlih nahm man feit Blumenbac an, daß das Men- 
ſchengeſchlecht in fünf Raſſen oder Varietäten zerfalle, nämlich: 
1) die äthiopiſche oder ſchwarze Raſſe (afritanifhe Neger); 2) die 
malayiſche oder braune Raffe (Malayen, Polynefier und Auftralier); 
3) die mongoliſche oder gelbe Raffe (die Hauptbevölferung Aſiens und 
die Edtimos Nordameritas); 4) die amerifanifhe oder rothe Raffe (die 
Ureinwohner Amerikas); und 5) die kaukaſiſche oder weiße Raſſe (Euros 
päer, Rordafritaner und Südweft-Afiaten). Diefe fünf Menſchen⸗ 
raſſen ſollten alle, der jüdifhen Schöpfungsfage entſprechend, „von 
einem Paare”, Adam und Eva, abftammen, und demgemäß nur 
Barietäten einer Art oder Species fein. Indeſſen fann bei unbefange- 
ner Vergleichung fein Zweifel darüber eriftiren, daß die Unterfhiede 


602 Langlöpfige und furzlöpfige Menfchen. 


diefer fünf Raſſen eben fo groß und noch größer find, als die „fpe- 
cifiſchen Unterjhiede” , auf deren Grund die Zoologen und Bota- 
nifer anerfannt gute Thier- und Pflanzenarten („bonae species“) 
unterſcheiden. Mit Recht behauptet daher der treffliche Paläontologe 
Quenftedt: „Wenn Neger und Kaufafier Schneden wären, fo 
würden die Zoologen mit allgemeiner Webereinftimmung fie für zwei 
ganz vortrefffihe Specied ausgeben, die nimmermehr durch allınäh- 
liche Abweichung von einem Paare entftanden fein könnten.“ 

Die Merkmale, durch welche man gewöhnlich die Menfchenraffen 
unterſcheidet, find theild der Haarbildung, theil® der Hautfarbe, theil® 
der Schädelbildung entnommen. In lepterer Beziehung unterſcheidet 
man als zwei ertreme Formen Langföpfe und Kurzföpfe. Bei den 
Langköpfen (Dolichocephali), deren ftärkfte Ausbildung fi) bei 
den Negern und Auftraliern findet, ift der Echädel langgeftredt , ſchmal. 
von rechts nach link? zufammengedrüdt. Bei den Kurztöpfen 
(Brachycephali) dagegen ift der Schädel umgekehrt von vom nach 
hinten zufammengedrüdt, kurz und breit, wie es namentlid bei den 
Mongolen in die Augen fpringt. Die zwifchen beiden Ertremen in 
der Mitte ftehenden Mitteltöpfe (Mesocephali) find namentlich bei 
den Amerifanern vorherrichend. In jeder diefer drei Gruppen kom ⸗ 
men Schiefzähnige (Prognathi) vor, bei denen die Kiefer, wie 
bei der thierifhen Schnauze, ſtark vorfpringen und die Borderzähne 
daher ſchief nach vorn gerichtet find, und Gradzähnige (Orthogna- 
thi), bei denen die Kiefer wenig vorjpringen und die Vorderzähne 
ſenkrecht ftehen. Man hat in den legten zehn Jahren fehr viel Mühe 
und Zeit am die genauefte Unterfuchung und Meffung der Schädel 
formen gewendet, ohne daß diefe durch entſprechende Refultate be» 
lohnt worden wären. Denn innerhalb einer einzigen Species, wie 
3 B. der mittelländifchen, kann die Schäbelform fo variiren. dag 
man in derfelben extreme Gegenfäge findet. Biel beilere Anhalt- 
punkte für die Klaffififation der menſchlichen Species liefert die Ber 
ſchaffenheit der Behaarung und der Sprache, weil biefe ſich wel 
ftrenger als die Schädelform vererben. 


Wollhaarige und ſchlichthaarige Menfchen. 603 


Insbeſondere ſcheint die vergleihende Sprachforſchung hier maß» 
gebend zu werden. In der neueften vortrefflihen Bearbeitung der 
Menfchenraffen, welche der Wiener Sprachforfber Friedrich Mül- 
ter in feiner ausgezeichneten Ethnographie **) gegeben hat, ift die 
Sprache mit Recht in den Vordergrund geftellt. Demnaͤchſt ift die 
Beſchaffenheit ded Kopfhaared von großer Bedeutung. An ſich aller- 
dings ein untergeordneter morphologiſcher Charakter, fheint ſich die- 
felbe dennoch ftreng innerhalb der Raſſe zu vererben. Bon den zwölf 
Menfhen- Specied, die wir im Folgenden unterfheiden (©. 604), 
zeichnen ſich die vier niederen Arten durch die wollige Beſchaffenheit 
der Kopfhaare aus; jedes Haar ift bandartig abgeplattet und er» 
ſcheint daher auf dem Querſchnitt länglich rund. Wir können diefe 
vier Arten von Wollhaarigen (Ulotriches) in zwei Gruppen 
bringen, in Büſchelhaarige und Vließhaarige. Bei den Büfchel- 
baarigen (Lophocomi), den Papuas und Hottentotten, wachſen 
die Kopfhaare, ungleihmäßig vertheilt, in kleinen Büfcheln. Bei 
den Bließhaarigen(Eriocomi) dagegen, den Kaffern und Negern, 
find die Wollhaare gleihinäßig über die ganze Kopfhaut vertpeilt. 
Alle Wotrichen oder Wollhaarigen find ſchiefzaͤhnig und langköpfig. 
Die Farbe der Haut, des Haare? und der Augen ift ſtets fehr dunkel. 
Alle find Bewohner der füdlihen Erdhälfte, nur in Afrika über« 
ſchreiten fie den Aequator. Im Allgemeinen ftehen fie auf einer viel 
tieferen Entwidelungäftufe und den Affen viel näher, als die meiften 
Liſſotrichen oder Schlichthaarigen. Einer wahren inneren Kultur und 
einer höheren geiftigen Durchbildung find die Ulotrichen unfähig, auch 
unter fo günftigen Anpajjungsbedingungen, wie fie ihnen jept in 
den vereinigten Staaten Rordamerifa® geboten werden. Kein fraud- 
haariges Volk hat jemals eine bedeutende „Geſchichte gehabt. 

Bei den acht höheren Denfchenraffen, die wir als Schlicht- 
baarige (Lissotriches) zufammenfajlen, ift da® Kopfhaar niemals 
eigentlich wollig, auch wenn e3 bei einzelnen Individuen ſich ſtark 
fräufelt. Jedes einzelne Haar tft nämlich cylindriſch (nicht bandförs 
mig) und daher auf dem Querſchnitt kreistrund (nicht laͤnglich rund). 


604 


Sufematifche Heberficht 
der 12 Menfchen-Arten und ihrer 36 Raſſen. (Bergl. Taf. XV.) 








sun | au sent [Femme 
1. Bayıe 1. Regritos Malacta, Päilippinen een 
Homo 2. Neoguineer Neuguinea Beten 
3. Melanefier Melanefien Nordweſten 
4. Tosmanier Bandiamensland Rocboßen 
2. Hottentotte } 5. Capland Nordoſten 
L. hottentettus ) 6, vuſcmanner Capland Norboften 
3. Ruffer 7. Zufutaffern Deftfiches Sudafrita ¶ Norden 
— I« — 
onfer 9. Congofaffern Weſtliches Südafrika 
4 Neger fit Tuner  Liburdend Sübofen 
Home 11. Sudan-Neger Sudan Dfien 
niger * 
Rewen 
Norden 
Weſten 
Wehen 
Dien 
Einen 
Südween 
Saden 
Sudeſten 
Sureene⸗ 
Wenen 
Nortuochen 
Norden 
Norden 
Rochen 
Den? 
Rocden? 
Ofen 





Stammbaum ber zwolf Menfchen-Arten. 605 





9. Ameritaner R 
Estimos 
8 
8. Arttiler Tataren — 
Samojeben ai Mitteländer 
Singalejen 
fi Bulater 


Delaner 
10, Dranibas | — 





Altajer Nralier 


Chineſen Ural-Altajer Enplocamen 
a ve 


| 








| 6. Malayen — 
— — 
7. Mongolen 


| 





zu ¶Sundaneſier .. Ps 
1 





Bromalayen 
2. Hottentstten 
1. Papuad 


5. Auftealier 


— 
Euthyoomen 


Schlichthaar ige 
Lissotrichen 


Lophooomen 


Botpearige 
— 











606 Schlickhaarige und wellfaarige Menſchen. 

Auch die acht Finotrihen Species fönnen wir auf zwei Gruppen 
verteilen: Straffhaarige und Todenhaarige. Zu den Straffhaa- 
rigen (Euthycomi), bei denen das Kopfhaar ganz glatt und ſtraff. 
nicht gefräufelt ift, gehören die Auftralier, Malayen, Mongolen, 
Arktiter und Ameritaner. Zu den Rodenhaarigen (Euplocami) 
dagegen, bei denen das Kopfhaar mehr oder weniger lodig und aud 
der Bart mehr als bei allen anderen Arten entwidelt ift, gehören die 
Dravidas, Nubier und Mittelländer. (Vergl. Taf. XV am Ende.) 

Bevor wir nun den Verſuch wagen, die phyletiſche Divergenz 
des Menſchengeſchlechts und den genealogifchen Zufammenhang feiner 
verfhiedenen Arten hypothetiſch zu beleuchten, wollen wir eine furze 
Schilderung der zwölf genannten Species und ihrer Verbreitung vor- 
ausſchiden. Um die geographifche Verbreitung derfelben klar zu über- 
fehen, müſſen wir und um drei oder vier Jahrhunderte zurüdverfepen, 
in die Zeit, wo die indifche Infelwelt und Amerifa eben erft entdedt 
war, und wo die gegenwärtige vielfache Mifchung der Species, ind» 
befondere die Ueberfluthung durch die indogermanifche Rafle, noch 
nicht fo vorgefhritten war. Wir beginnen, von den niederften Stufen 
auffteigend, mit den wollhaarigen Menfchen (Ulotriches), 
welche fämmtlih prognathe Dolichocephalen find. 

Unter den jegt noch lebenden Menfchenarten fteht der urfprüng- 
lichen Stammform der wollhaarigen Menfchen am nächſten vielleicht 
der Papua (Homo papua). Diefe Species bewohnt gegenwärtig 
nur nod die große Inſel Neuguinea und den öftlih davon gelege- 
nen Archipel von Melanefien (die Salomon? -Infeln, Neu» Kaledo- 
nien, die neuen Hebriden u. ſ. w.). Jerſtreute Refte derfelben finden 
ſich aber auch noch im Innern der Halbinfel Malacca, fowie auf vie- 
len anderen Infeln des großen pacifilhen Archipels; meiften® in den 
unzugänglichen gebirgigen Theilen des Innen, fo namentlib auf 
den Philippinen. Auch die kürzlich auögeftorbenen Tasmanier oder 
die Bevölkerung von Vandiemsland gehörte zu diefer Art. Aus 
diefen und anderen Umftänden geht hervor, daß die Papuas früher 
einen viel weiteren Berbreitung®bezirt im Südoften Aſiens befaßen. 


Papuas umb Hottentotten. 607 


Sie wurden aus diefem durch die Malayen verdrängt, und nad 
Dften fortgefhoben. Alle Papuas find von ſchwarzer Hautfarbe, 
die bald mehr in das Bräunliche, bald mehr in das Bläuliche 
fpielt. Die fraufen Haare wachfen in Büfcheln, find fpiralig geroun- 
den, und oft über einen Fuß lang, fo daß fie eine mächtige, weit 
abftehende wollige Perüde bilden. Das Geficht zeigt unter einer 
ſchmalen, eingebrüdten Stirn eine große aufgeftülpte Nafe und dide, 
aufgeworfene Lippen. Durch ihre eigenthümlihe Haarbildung und 
Sprache unterfheiden ſich die Papuas von ihren ſchlichthaarigen Nach⸗ 
bam, fowohl von den Malayen, als von den Auftraliern fo weſent ⸗ 
lich, dag man fie als eine ganz befondere Species betrachten muß. 

Den Papuas durch den büfcheligen Haarwuchs nahe verwandt, 
obwohl räumlich weit von ihnen gefchieden, find die Hottentotten 
(Homo hottentottus). Sie bewohnen ausſchließlich das ſuͤdlichſte 
Afrita, das Kapland und die nächftangrenzenden Theile, und find 
bier von Nordoften ber eingemandert. Gleich ihren Stammeöge- 
noffen, den Papuas, nahmen auch die Hottentotten früher viel grö- 
Beren Raum (wahrſcheinlich das ganze Öftlihe Afrika) ein und gehen 
jegt ihrem Außfterben entgegen. Außer den eigentlichen Hottentotten, 
von denen jept nur noch die beiden Stämme der Koraka (im öft« 
lichen Kapland) und der Namaka (im weftlihen Kapland) egiftiren, 
gehören hierher auch die Bufchmänner (im gebirgigen Inneren des 
Kaplandes). Bei allen diefen Hottentotten wächft das fraufe Haar 
ebenfo in Büfcheln, wie bei den Papuas, ähnlich einer Bürfte. 
Beide Species ftimmen auch darin überein, daß fih im Gefäß des 
weiblichen Geſchlechts eine befondere Neigung zur Anhäufung gro- 
Her Fettmaffen zeigt (Steatopygie). Die Hautfarbe der Hottentotten 
ift aber viel heller, gelblich braun. Das fehr platte Geficht zeich- 
net fi durch kleine Stimm und Nafe, aber große Nafenlöcher aus. 
Der Mund ift fehr breit, mit großen Lippen, das Kinn ſchmal 
und fpig. Die Sprache ift durch viele ganz eigenthümliche Schnalz- 
laute ausgezeichnet. 

Die naͤchſten Nachbarn und Verwandten der Hottentotten find 


608 Kaffern und Neger. 


die Kaffern (Homo cafer). Diefe kraushaarige Menſchenart unter- 
ſcheidet ſich jedoch, ebenfo wie die folgende (die echten Neger) von 
den Hottentotten und Papuas dadurch, daß das wollige Haar nicht 
büfchelweife vertheilt ift, fondern als dichtes Vließ den Kopf bedect. 
Die Farbe der Haut durdläuft alle Abftufungen von dem gelbli« 
hen Braun der Hottentotten bis zu dem Braunſchwarz oder reinen 
Schwarz des echten Negerd. Während man früher der Kaffernraffe 
einen fehr engen Verbreitungsbezirk anwies und fie meift nur ala 
eine Barietät des echten Negers betrachtete, zählt man dagegen jetzt 
zu diefer Specie® faft die gefammte Bevölterung des äquatorialen 
Afrifa von 20 Grad füdlicher bis 4 Grad nördlicher Breite, mithin alle 
Südafritaner mit Ausſchluß der Hottentotten. Insbeſondere gehören 
dahin an der Oftfüfte die Zulu-, Zambefi- und Mofambit-Bölter, 
im Inneren die große Bölferfamilie der Befchuanen oder Setfchuanen, 
und an ber Weftküfte die Herrero- und Congo- Stämme. Aud fie 
find, wie die Hottentotten, von Nordoſten her eingewandert. Bon 
den Regern, mit denen man die Kaffern gewöhnlich vereinigte, unter- 
ſcheiden fie ſich ſehr weſentlich durch die Schädelbildung und die 
Sprade. Das Gefiht ift lang und fhmal, die Stim hoch und ge- 
mölbt, die Nafe vorfpringend, oft gebogen, die Tippen nicht fo ſtark 
aufgeworfen und das Kinn fpig. Die mannichfaltigen Sprachen der 
verſchiedenen Kaffern- Stämme laffen fi) alle von einer audgeftorbe- 
nen Urfprache, der Bantu- Sprache, ableiten. 

Der echte Neger (Homo niger) bildet gegenwärtig, nachdem 
man Kaffern, Hottentotten und Nubier von ihm abgetrennt hat, eine 
viel weniger umfangreihe Menfchen-Art, ala man früher annahm. 
Es gehören dahin jegt nur noch die Tibus im öftlihen Theile der Sa- 
hara, die Sudan⸗Völker oder Sudaner, welche zunächft im Süden 
diefer großen Wüfte wohnen, und die Bevölkerung der weſtafrikani ⸗ 
ſchen Küftenländer, von der Mündung de3 Senegal im Norden, bi 
unterhalb der Niger- Mündung im Süden (Senegambier und Nigri- 
tier). Die echten Neger find demnach zwifchen den Aequator und den 
nördlichen Wendekreis eingefhloffen, und haben diefen fepteren nur 


Sqlichthaarige Menſchen. Auftralueger. 609 


mit einem Meinen Theile der Tibu-Raffe im Often überſchritten. In« 
nerhalb diefer Zone hat die Neger-Art fi) von Often her ausgebreitet. 
Die Hautfarbe der echten Neger ift ſtets ein mehr oder minder veined 
Schwarz. Die Haut ift fammetartig anzufühlen, und durch eine 
eigenthümliche übelriechende Ausbünftung ausgezeichnet. Während 
die Neger in der wolligen Behaarung des Kopfes mit den Kaffem 
übereinftimmen, unterſcheiden fie fi von ihnen nicht unweſentlich 
durch die Gefihtsbildung. Die Stim ift flacher und niedriger, die 
Naſe breit und dick, nicht vorfpringend, die Lippen ſtark wulftig auf 
getrieben, und das Kinn fehr kurz. Ausgezeichnet find ferner die ech⸗ 
ten Neger durch fehr dünne Waden und fehr fange Arme. "Schon 
ſehr frühzeitig muß fih diefe Menfchen-Specied in viele einzelne 
Stämme zerfplittert haben, da ihre zahlreihen und gamy verfchie- 
denen Sprachen ſich durchaus nicht auf eine Urfprache zurüdführen 
laflen. 

Den vier eben betrachteten wollhaarigen Menfchen-Arten ftehen 
nun als anderer Hauptzweig der Gattung die ſchlichthaarigen 
Menſchen (Homines lissotriches) gegenüber. Bon den acht Arten 
diefer letzteren laffen fi, wie wir fahen, fünf Specied ald Straff- 
baarige (Euthycomi) und drei Specied ald Lodenhaarige (Eu- 
plocami) zufammenfaflen. Wir betrachten zunächft die erfteren, zu 
denen die Urbevöfferung von dem größten Theile Afiend und von ganz 
Amerika gehört. 

Auf der tiefften Stufe unter allen ſchlichthaarigen Menſchen, und 
im Ganzen vielleicht unter allen noch lebenden Menfchen-Arten ftehen 
die Auftralier oder Auftralneger (Homo australis). :Diefe - 
Species ſcheint ausſchließlich auf die große Infel Auftralien befhränti 
zu fein. Sie gleicht dem echten afritanifchen Neger durch die ſchwarze 
ober ſchwarzbtaune und übelriechende Haut, durch die ſtark ſchiefzaͤh⸗ 
nige und langköpfige Schädelform, die zurüdtretende Stim, breite 
Naſe und did aufgeworfene Lippen, ſowie durch den faft gänzlichen 
Mangel der Waden. Dagegen untericheiden fi die Auftralneger 
fowopt von den echten Regern, als von ihren nächften Nachbarn, den 

Herdel, Returl Shöpfungegeid. 5. Huf. 39 


610 Mafayen (Sundanefier und Polynefier). 


Papuas, durch viel ſchwächeren, feineren Knochenbau. und namentlich 
durch die Bildung des Kopfhaares, welches nicht wollig-fraus, fondern 
entweder ganz ſchlicht oder nur ſchwach gelodt iſt. Die fehr tiefe für- 
perliche und geiftige Ausbildungsftufe der Auſtralier ift zum Theil 
vielleicht nicht urſprünglich, fondern durch Rüdbildung, durch An- 
paflung an die ſehr ungünftigen Epriftengbedingungen Auftraliene ent- 
fanden. Wadhrſcheinlich find die Auftralneger, ald ein fehr früh ab- 
gezweigter Aft der Cuthykomen, von Norden oder Rordiveften ber 
in ihre gegenwärtige Heimath eingewandert. Vielleicht find fie den 
Dravida®, und mithin den Euplofamen, näher verwandt als den 
übrigen Euthyfomen. Die ganz eigenthümlihe Sprache der Auftra- 
fier zerfplittert ſich in fehr zahlreiche Mleine Zweige, die in eine nörd- 
liche und eine ſũdliche Abtheilung fih gruppiren. 

Eine genealogiſch wichtige, obwohl nicht umfangreiche Menſchen⸗ 
Species bilden die Malayen (Homo malayus), die braune Men- 
ſchenraſſe der früheren Ethnographie. ine ausgeſtorbene, fübajiati- 
ſche Menfchen-Art, welche den heutigen Malayen fehr nahe fland. 
ift wahrſcheinlich ald die gemeinfame Stammform diefer und der 
folgenden, höheren Menfchen- Arten anzuſehen. Wir wollen diefe 
bypothetifche Stammart als Urmalayen oder Promalayen bezeichnen. 
Die heutigen Malayen zerfallen in zwei weit zerfireute Raffen, in 
die Sundanefier, welde Malafla und die Sunda- Infein (Su- 
matra, Java, Borneo x.) fowie die Philippinen bevölfen, und die 
Polyneſier, melde über den größten Theil de3 parifiichen Ardhi- 
pels audgebreitet jind. Die nördliche Grenze ihred weiten Berbrei- 
tung3bezivt® wird öftlid von den Sandwich Inſeln (Hawai), weſt ⸗ 
li von den MWarianen- Inſeln (Ladronen) gebildet; die ſüdliche 
Grenze dagegen öftlih von dem Mangareva - Archipel, weſtlich von 
Neufeeland. Gin weit nach Weiten verſchlagener einzelner Zweig der 
Sundanefier find die Bewohner von Madagadar. Diefe weite pe · 
lagiſche Verbreitung der Malayen erklärt fi aus ihrer befonderen 
Neigung für das Schifferleben. Als ihre Urheimath ift der füböRlide 
Theil des afiatifchen Feſtlandes zu betrachten, von wo aus jie ib 


Molayen. Mongolen. 611 


nad Oſten und Süden verbreiteten und die Papund vor fi) her 
drängten. In der Lörperlihen Bildung ftehen die Malayen unter 
den übrigen Arten den Mongolen am nächften, ziemlich nahe aber auch 
den lodigen Mittelländern. Der Schädel ift meift furzköpfig, felte- 
ner mitteltöpfig, und fehr felten langköpfig. Das Haar ift fchlicht 
und ftraff, oft jedoch etwas gelodt. Die Hautfarbe ift braun, bald 
mehr gelblich oder zimmtbraun, bald mehr röthlich ober kupferbraun, 
feltener duntelbraun. In der Gefihtebildung ftehen die Malayen 
zum großen Theil in der Mitte zwifchen den Mongolen und Mittel» 
ländern. Oft find fie von lepteren faum zu unterſcheiden. Das 
Geſicht ift meift breit, mit vorfpringender Naſe und diden Lippen, 
die Augen nicht fo enggefchligt und ſchief, wie bei den Mongolen. 
Alle Malayen und Polgnefier bezeugen ihre nahe Stammesver- 
wandtſchaft -durd ihre Sprache, welche fih zwar ſchon frühzeitig in 
viele feine Zweige zerfplitterte, aber doch immer von einer gemein⸗ 
famen, ganz eigenthümlichen Urfprache ableitbar ift. 

Die individuenreichfte von allen Menfchen-Arten bildet neben 
dem mittelländifchen der mongoliſche Menſch (Homo mongoli- 
cus). Dahin gehören alle Bewohner des afiatifhen Feſtlandes, 
mit Ausnahme der Hyperboräer im Norden, der wenigen Malayen 
im Sübdoften (Malakka), der Dravidad in Vorderindien, und der 
Mittelländer im Südweften. In Curopa iſt diefe Menfhen- Art 
durch die Finnen und Lappen im Norden, die Magyaren in Ungam 
und vielleiht einen Theil der Türken vertreten. Die Hautfarbe der 
Mongolen ift ftet8 durch den gelben Grundton ausgezeichnet, bald heller 
erbfengelb oder felbft weißlih, bald dunkler braungelb. Das Haar 
ift immer ftraff und ſchwarz. Die Schädelform ift bei der großen 
„Mehrzahl entfchieden kurztöpfig (namentlich bei den Kalmücken, Baſch⸗ 
tiren u. ſ. w.), häufig auch mitteltöpfig (Tataren, Ehinefen u. f. w.). 
Dagegen kommen echte Langköpfe unter ihnen gar nicht vor. In 
der runden Gefihtöbildung find die enggefchligten, oft fchief geneig- 
ten Augen auffallend, die ſtark vorftehenden Backenknochen, breite 
Nofe und dien Lippen. Die Sprache aller Mongolen läßt ſich 

39* 


612 Mongolen. Arktiter. Amerilaner. 


wahrſcheinlich auf eine gemeinfame Urfprache zurüdführen. Doch 
ftehen ſich als zwei früh getrennte Hauptzweige die einfilbigen Spra- 
hen der indoschinefifhen Raffe und die mehrfilbigen Sprachen der 
übrigen mongofifchen Raffen gegenüber. Zu dem einfilbigen oder 
monofyllaben Stamme der Indochinefen gehören die Tibetaner, Bir- 
manen, Siamefen und Ehinefen. Die übrigen, die vielfilbigen oder 
polyſyllaben Mongolen zerfallen in drei Raffen, nämlich 1) die Ro- 
1e0- Japaner (KRoreaner und Japanefen); 2) die Altajer (Tataren, 
Türken, Kirgifen, Kalmüden, Burjäten, Tungufen); und 3) die 
Uralier (Samojeden, Finnen). Bon den Finnen ftammt aud die 
magyarifche Bevölferung Ungarns ab. 

Als eine Abzweigung der mongofifchen Menfchen- Art ift der 
Polarmenſch (Homo arcticus) zu betrachten. Wir faflen unter 
diefer Bezeichnung die Bewohner der arktifhen Polarländer in bei- 
den Hemifphären zufammen, die Estimos (und Grönländer) in Rorb- 
amerifa, und die Hyperboräer im nordöftlichen Afien (Zufagiren, 
Tſchuktſchen, Kurjäten und Kamtſchadalen). Durch Anpaffung an 
das Polarklima ift diefe Menfchenform fo eigenthümlich umgebilbet, 
daß man fie wohl ald Vertreter einer befonderen Species betrachten 
ann. Ihre Statur ift niedrig und unterfeßt, die Schädelform mit« 
tefföpfig oder fogar Iangföpfig, die Augen eng und ſchief gefchligt, 
wie bei den Mongolen, auch die Backenknochen vorftehend und der 
Mund breit. Das Haar ift ſtraff und ſchwarz. Die Hautfarbe ift 
heller oder dunffer bräunlih, bald faft weißfih oder mehr gelb, 
wie bei den Mongolen, bald mehr röthlich, wie bei den Amerifanern. 
Die Sprachen der Polarmenfchen find noch wenig befannt, jedoch 
ſowohl von den mongolifhen, als von den amerikaniſchen verſchie · 
den. Wahrſcheinlich find die Arktiter als zurüdgebliebene und eigen» 
thũmlich angepaßte Zroeige jened Mongolen» Stammes zu betrachten, 
der aus dem norböftfichen Afien nach Nordamerita hinüberianderte 
und diefen Erbtheil bevöfferte. 

Zur Zeit der Entdefung Amerikas war diefer Erdtheil (von 
den Eskimos abgefehen) nur von einer einzigen Menfchenart bevöl- 


Amerilaner. 613 


tert, den Rothhäuten oder Ameritanern (Homo americanus). 
Unter allen übrigen Menfchenarten find ihr die beiden vorigen am 
nädhjften verwandt. Insbeſondere ift die Schädelform meiſtens der 
Mitteltopf, felten Kurztopf oder Langkopf. Die Stim ift breit und 
fehr niedrig, die Naſe groß, vortretend und oft gebogen, die Bak⸗ 
tenfnochen vortretend, die Tippen eher dünn, als did. Das Haar 
ift ſchwarz und ſtraff. Die Hautfarbe it durch rothen Grundton 
ausgezeichnet, welcher jedoch bald rein fupferroth ober heller röthlich, 
bald mehr dunkler rothbraun, gelbbraun oder olivenbraun wird. 
Die zahlreihen Sprachen der verfchiedenen amerifanifhen Raſſen 
und Stämme find außerordentlich verſchieden, aber doch in der ur⸗ 
fprünglihen Anlage wefentlih übereinftimmend. Wahrſcheinlich ift 
Amerita zuerft vom nordöftlihen Aſien her bevöltert worden, von 
demfelben Mongolen» Stamme, von dem auch die Arktiker (Hyper 
boräer und Eskimos) fih abgezweigt haben. Zuerſt breitete ſich 
diefer Stamm in Nordamerifa aus und wanderte erft von da aus 
über die Landenge von Gentral- Amerika hinunter nah Südamerika, 
in deſſen füdlichfter Spipe die Species durch Anpaffung an fehr un⸗ 
günftige Exiſtenz ⸗ Bedingungen eine ſtarke Rücbildung erfuhr. Mög- 
licher Weife find aber von Weften her außer Mongolen auch Poly- 
nefier in Amerifa eingewandert und haben ſich mit dieſen vermifcht, 
Jedenfalls find die Ureinwohner Amerikas aus der alten Welt her- 
übergefommen, und keineswegs, wie Einige meinten, aus amerifa- 
niſchen Affen entftanden. Katarhinen oder ſchmalnaſige Affen haben 
zu feiner Zeit in Amerifa eriftirt. 

Die drei Menfchen-Specied, welche wir nun noch unterfheiden, 
die Dravidas, Nubier und Mittelländer, ftimmen in mancherlei Eigen« 
thümlichkeiten überein, welche eine nähere Berwandtfchaft derfelben 
zu begründen feinen und fie von den vorhergehenden unterſcheiden. 
Dahin gehört vor Allen die Entwidelung eines ftarten Barthaares, 
welches allen übrigen Species entweber ganz fehlt oder nur fehr fpär« 
lich auftritt. Das Haupthaar ift gewöhnlich nicht fo ſtraff und glatt, 
wie bei den fünf vorhergehenden Arten, fondern meiften® mehr oder 


614 Dravidas. Nubier. 


weniger gelodt. Auch andere Charaktere fcheinen dafür zu fprechen, 
daß mir biefelben in einer Hauptgruppe, ben Lodenbaarigen 
(Euplocami), vereinigen fönnen. 

Der gemeinfamen Stammform der Euplofamen, und vielleicht 
aller Liffotrichen,, fehr nahe feheint der Dravida-Menich zu ftehen 
(Homo dravida). Gegenwärtig ift dieſe uralte Species nur noch 
durch die Defhan-Bölter im füdlichen Theile Vorder⸗Indiens und duch 
die benachbarten Bewohner der Gebirge des norböftlichen Geylon ver- 
treten. Frũher aber ſcheint dieſelbe ganz Vorderindien eingenommen 
und auch noch weiter ſich ausgedehnt zu haben. Sie zeigt einerſeits 
Verwandiſchafts · Beziehungen zu den Auſtraliern und Malayen, ander 
ſeits zu den Mongolen und Mittelländern. Die Hautfarbe ift ein lich- 
teres ober dunflere® Braun, bei einigen Stämmen mehr gelbbraun, 
bei anderen faft ſchwarzbraun. Das Haupthaar ift, wie bei den 
Mittelländern, mehr oder weniger gelodt, weber ganz glatt, wie bei 
den Euthytomen, noch eigentlich wollig, wie bei ben Ulotrichen. Auch 
durch den ausgezeichnet ftarfen Bartwuchs gleichen fie den Mittellän- 
dern. Ihre ovale Geſichtsbildung feheint theil® derjenigen der Ma- 
layen, theil® derjenigen der Mittelländer am nächften verwandt zu 
fein. Gewoͤhnlich ift die Stimm ho, die Naſe vorfpringend, ſchmal. 
die Lippen wenig aufgeworfen. Ihre Sprache ift gegenwärtig ſtark 
mit indogermanifchen Elementen vermiſcht, ſcheint aber urfprünglic 
von einer ganz eigenthümfichen Urfprache abzuftammen. 

Nicht weniger Schwoierigfeiten, als bie Dravida-Speried, hat den 
Ethnographen der Nubier (Homo nuba) verurfacht, unter welchem 
Namen wir nicht nur die eigentlichen Nubier (Schangallas oder Don- 
gofefen), fondern auch die ganz nahe verwandten Fulas oder Fellatas 
begreifen. Die eigentlichen Rubier bewohnen die oberen Ril- Länder 
(Dongola, Schangalla, Barabra, Rordofan); die Fulas oder Fella- 
ta8 dagegen find von da aus weit nach Weſten gewandert und be 
wohnen jept einen breiten Strid im Süden der weſtlichen Sahara, 
eingefeilt zwiſchen die Sudaner im Norden und die Rigritier im 
Süden. Gewöhnlich werden die Nuba- und Yula + Völfer entweder 


Mittellander ober Kanlafier. 615 


zu ben Neger oder zu den hamitifhen Böltern (affo Mittelländern) 
gerechnet, unterfcheiden ſich aber von Beiden fo weſentlich, daß man 
fie als eine befondere Art betrachten muß. Wahrfheinlih nahm 
diefelbe früher einen großen Theil des nordöftlichen Afrika ein. Die 
Hautfarbe der Nuba- und Fula-Bölter ift gelbbraun oder rothbraun, 
feltener dunkelbraun bis ſchwarz. Das Haar ift nicht wollig, fon- 
dern nur lodig, oft fogar faſt ganz ſchlicht; die Haarfarbe ift dun⸗ 
telbraun oder ſchwarz. Der Bartwuchs ift viel ftärker ald bei den 
Negern entwidelt. Die ovale Gefihtsbildung nähert fi mehr dem 
mittelländifchen als dem Reger- Typus. Die Stimm iſt hoch und 
breit, die Nafe vorfpringend und nicht platt gebrüdt, die Lippen 
nicht fo ſtark aufgeworfen wie beim Neger. Die Sprachen der Nur 
bifhen Völter feinen mit denjenigen der echten Neger gar feine 
Verwandtſchaft zu befigen. 

An die Spige aller Menfchenarten hat man von jeher ala die 
böchft entmwidelte und volltommenfte den kaukaſiſchen oder mittel- 
ländifhen Menſchen (Homo mediterraneus) geftellt. Gewöhn⸗ 
lich wird diefe Form als „taufafifche Raſſe“ bezeichnet. Da jedoch 
grade der Taufafifche Zweig unter allen Raflen diefer Species die 
wenigft bedeutende ift, fo ziehen wir die von Friedrich Müller 
vorgefchlagene, viel paffendere Bezeichnung des Mediterran-Menfchen 

oder Mittelländerd vor. Denn die wichtigften Raflen diefer Spe- 
cies, welche zugleich bie bedeutendften Faktoren der fogenannten 
Weltgeſchichte“ find, haben fih an den Geftaden des Mirtelmeeres zu 
ihrer erſten Blüthe entroidelt. Der frühere Verbreitungsbegitk biefer 
Art wird durch die Bezeichnung der „indo-atlantifchen” Specied aud- 
gedrüdt, während diefelbe gegenwärtig ſich über die ganze Erde ver« 
breitet und die meiften übrigen Menfchen-Specie® im Kampfe ums Da- 
fein überwindet. In körperlicher, wie in geiftiger Beziehung, kann ſich 
feine andere Menfchenart mit der mittelländifchen meffen. Sie allein 
bat (abgefehen von der mongolifhen Specie®) eigentlich „Gefchichte” 
gemacht. Sie allein hat jene Blüthe der Kultur entwidelt, welche 
den Menſchen über die ganze übrige Ratur zu erheben ſcheint. 


616 Basten und Kanfafler. 


Die Charaktere, durch welche ſich der mittelländifche Menſch von 
den anderen Arten des Geſchlechts unterfcheidet, find alibefannt. 
Unter den äußeren Kennzeichen tritt die helle Hautfarbe in den Vor⸗ 
dergrund; jedoch zeigt dieſe alle Abftufungen von reinem Weiß ober 
Rothlich⸗ weiß, durch Gelb und Gelbbraun, 6i8 zum Dunfelbraunen 
oder felbft Schwarzbraunen. Der Haawuchs ift meiftend ftart, 
das Haupthanr mehr oder weniger lodig, das Barthaar ftärfer, als 
bei allen übrigen Arten. Die Schädelform zeigt einen großen Brei- 
tengrad der Entwidelung , überwiegend find im Ganzen wohl bie 
Mitteltöpfe; aber auch Langköpfe und Kurzlöpfe find weit verbreitet. 
Der Körperbau im Ganzen erreicht nur bei dieſer einzigen Menfchen- 
art jenes Ebenmaß aller Theile und jene gleihmäßige Entwidelung, 
welche wir ald den Typus volfendeter menſchlicher Schönheit bezeich⸗ 
nen. Die Sprachen aller Raſſen diefer Species laſſen ſich feined- 
wegs auf eine einzige gemeinfame Urſprache zurüdführen; vielmehr 
find mindeften® vier folhe, von Grund aus verfchiedene Urfpra« 
Gen anzunehmen. Dem entſprechend muß man auch vier verfchie- 
dene, nur unten an der Wurzel zufammenhängende Raflen inner- 
halb diefer einen Specie® annehmen. Zmei von diefen Rafien, bie 
Basken und Kaufafier, eriftiren nur noch in geringen Weberbleibfein. 
Die Basken, welche früher ganz Spanien und Südfrankreich bevdl⸗ 
terten, leben jept nur noch in einem ſchmalen Striche an der nörd- 
fihen Küfte Spaniens, im Grunde der Bucht von Biscaya. Die 
Refte der kaukaſiſchen Raſſe (die Dagheftaner , Tſcherkeſſen, Mingre- 
tier und Georgier) find jept auf das Gebirgsland ded Kaukaſus zu 
rüdgebrängt. Sowohl die Sprache der Kaufafier ald die der Basten 
ift durchaus eigenthümlih und läßt ſich weder auf die femitifhe 
noch auf die indogermanifche Urfprache zurüdführen. 

Auch die Sprachen der beiden Hauptraflen der mediterranen Spe- 
cies, die ſemitiſche und indogermanifche, laſſen ſich nicht auf einen 
gemeinfamen Stamm zurüdführen, und es müffen daher dieſe beiden 
Raffen ſchon fehr frühzeitig ſich von einander getrennt haben. Semi- 
ten und Indogermanen ftammen von verfchiedenen Affenmenfchen ab. 


Semiten und Imbogermanen. 617 
Die femitifche Raffe fpaltete ſich ebenfalls ſchon fehr früh in zwei 
Divergivende Zweige, den egyptiſchen und den arabifchen Zweig. Der 
eguptifche oder afrifanifähe Zweig, die Dyffemiten, welche 
wohl aud als Hamiten gänzlich von den Semiten getrennt wer« 
den, umfaßt die alte Bevölkerung Egyptens, ferner die große Gruppe 
der Berber, welche ganz Nordafrifa inne haben und früher auch die 
eanarifchen Infeln bewohnten, und endlich die Gruppe der Aethio- 
pier (Bedſcha, Galle, Danatil, Somali und andere Bölfer, welche 
das ganze norböftlihe Küftenland von Afrita bis zum Aequator herab 
bevölfern). Der ara biſche oder afintifche Zweig dagegen, die 
Eufemiten, au wohl Semiten im engeren Sinne genannt, umfaßt 
die Bewohner der großen arabifchen Hafbinfel, die uralte Familie der 
eigentlichen Araber („Urtypus des Semiten“), und fodann die höchft 
entwidelte Semiten-©ruppe, die Juden oder Hebräer und die Ara- 
mäer (Syrier und Chaldäer). Eine Colonie der fühlichen Araber 
@er Himjariten), welche über die Bab-el-Mandeb- Enge fepte, bat 
Abeffinien bevöffert (vergl. ©. 624). 

Die indogermanifche Raſſe endlich, welche alle übrigen Men- 
ſchenraſſen in der geiftigen Entwidelung weit überflügelt hat, fpaltete 
fich gleich der femitifchen fehr früh ſchon in zwei Divergente Zeige, 
den ario-romanifchen und flavosgermanifchen Zweig. Aus 
dem erfteren gingen einerſeits die Arier (Inder und Iraner), andrer- 
feit8 die Graäc oromanen (Griedhen und Albanefen, Italer und Kel- 
ten) hervor. Aus dem flavo«germanifchen Zmeige entmwidelten ſich 
einerſeits die Slaven (ruffifhe und bulgariſche, cechiſche und baltiſche 
Stämme), andrerſeits die Germanen (Scandinavier und Deutſche, 
Niederländer und Angelfachfen). Wie fi) die weitere Verzweigung der 
indogermanifchen Raſſe auf Grund der vergleichenden Sprachforſchung 
im Einzelnen genau verfolgen läßt, hat Auguft Schleicher in fehr 
anſchaulicher Form genealogifch entmwidelt ®) (vergl. ©. 625). 

Die Geſammtjzahl der menſchlichen Individuen, welche gegenwär- 
tig leben, beträgt zwiſchen 1300 und 1400 Millionen. Auf unferer 
tabellarifchen Weberfiht (S. 626) ind 1350 Millionen ala Mittel an- 


618 Die Menfeenarten im Kampf ume Dafein. 


genommen. Davon fommen nad; ungefährer Schäpung, foiveit foldhe 
fiberhaupt möglich ift, nur etwa 150 Millionen auf die wollhaarigen, 
dagegen 1200 Millionen auf die ſchlichthaarigen Menfchen. Die bei- 
den höchft entwidelten Species, Mongolen und Mittelländer , über 
treffen an Individuenmaſſe bei weiten alle übrigen Menfchenarten, 
indem auf jede derfelben allein ungefähr 550 Millionen tommen (vgl. 
Friedrih Müller Ethnographie ©. XXX). Natürlich wechfelt das 
Zahlenverhaͤltniß der zwölf Speties mit jedem Jahre, und zwar nach 
dem von Darwin entwidelten Gefepe, daß im Kampfe ums Dafein 
die höher entwidelten, begünftigteren und größeren Formengruppen 
die beftimmte Neigung und die fichere Ausficht haben, ſich immer mehr 
auf Koften der niederen, zurüdgebliebenen und fleineren Gruppen aus- 
zubreiten. So hat die mittelländifhe Species, und innerhalb berfel- 
ben die indogermanifche Raffe, vermöge ihrer höheren Gehimentwide- 
tung alle übrigen Raflen und Arten im Kampf ums Dafein überflü- 
gelt, und fpannt ſchon jept das Nep ihrer Herrſchaft über Die gange 
Erdfugel aus. Erfolgreich concurriren fann mit den Mittelländern, 
wenigſtens in gewiſſer Beziehung, nur die mongoliſche Specied. In- 
nerhalb der Tropengegenden find die Neger, Raffem und Rubier, die 
Malayen und Dravida® durch ihre beffere Anpaffungsfähigkeit an daB 
heiße Klima, ebenfo in den Polargegenden bie Arktiter durch ihr kaltes 
Klima, vor dem Andringen der Indogermanen einigermaßen gefchägt. 
Dagegen werben die übrigen Raffen, die ohnehin ſehr zuſammenge ⸗ 
ſchmolzen find, den übermächtigen Mittelländern im Kampf ums Da- 
fein früher oder fpäter gänzlich erliegen. Schon jept geben die Ameri« 
faner und Auftralier mit raſchen Schritten ihrer völligen Yusrottung 
entgegen, und daffelbe gilt auch von den Papuas und Hottentotten. 

Indem wir und nun zu der eben fo intereflanten als ſchwierigen 
Frage von dem verwandtiaftlihen Zufammenbang, den Ban- 
derungen und der Urheimath der 12 Menſchenarten wenden, will 
ich im Voraus bemerken, daß bei dem gegenwärtigen Zuftande umfe- 
ver anthropologifägen Kenntniffe jede Antwort auf dieſe Frage 
nur als eine proviforifhe Hypothefe gelten fann. &# ver 


Urheimath des Menfchen (Baradieß). 619 


hätt fi damit nicht anders, als mit jeder genenlogifhen Hypotheſe, 
die wir und auf Grund des „natürlichen Syſtems“ von dem Ur«- 
fprung verwandter Thier- und Pflanzenarten machen können. Durch 
die nothwenbige Unficherheit diefer fpeciellen DeſcendenzHnpot he⸗ 
fen wird aber die abfolute Sicherheit der generellen Defcendenz- 
Theorie in keinem falle erfhütter. Der Menſch ſtammt jeden- 
falls von Katarhinen oder fhmalnafigen Affen ab, mag man nun 
mit den Bolyphyleten jede Menfchenart in ihrer Urheimath aus 
einer befonderen Affenart entftanden fein faffen, oder mag man mit 
den Monophyleten annehmen, bafı alle Menſchenarten erft durch 
Differenzirung aus einer einzigen Specied von Urmenfcd (Homo 
primigenius) entftanben find. 

Aus vielen und wichtigen Gründen halten wir biefe Ieptere, 
monophyletiſche Hypotheſe für die richtigere, und nehmen demnach 
für das Menſchengeſchlecht eine einzige Urheimath an, in ber 
daffelbe fih aus einer längft ausgeſtorbenen anthropoiden Affenart 
entwidelt hat. Bon den jept eriftirenden fünf Welttheilen kann me 
der Auftralien, noch Amerifa, noch Europa diefe Urheimath oder das 
ſogenannte, Paradies“, die „Wiege des Menſchengeſchlechts“, fein. Viel⸗ 
mehr deuten die meiſten Anzeichen auf das ſüdliche Aſien. Außer 
dem ſũdlichen Aſien könnte von den gegenwaͤrtigen Feſtlaͤndern nur noch 
Afrita in Frage kommen. Es giebt aber eine Menge von Anzeichen 
(befonders chorologiſche Thatſachen), welche darauf hindeuten, daß 
die Urheimath des Menfchen ein jept unter den Spiegel des indi- 
ſchen Oceans - verfunfener Kontinent war, welcher fih im Süden des 
jepigen Afien® (und wahrſcheinlich mit ihm in direktem Zufammen- 
hang) einerfeit® dſtlich bis nad Hinterindien und den Sunda-In- 
fen, andrerſeits weſtlich bis nach Madagascar und dem füdöftlichen 
Afrika erſtredte. Wir haben ſchon früher erwähnt, da viele That« 
ſachen der Thier- und Pflanzengeographie die frühere Eriftenz eines 
ſolchen füdindifchen Kontinents fehr wahrſcheinlich machen (vergl. 
©. 321). Derfelbe ift von dem Engländer Sclater wegen der für 
ihn harakteriftifchen Halbaffen Lemuria genannt worden. Wenn 


620 Der Urmenſch von Sübafien oder Lemurien. 


wir diefed Lemurien als Urheimath annehmen, fo läßt fi daraus 
am leihteften die geographifche Verbreitung der divergirenden Men- 
ſchenarten durd Wanderung erflären. (Vergl. die Migrationd- Ta- 
fel XV, am Ende, und deren Erklärung.) 

Bon dem bypothetifhen Urmenfchen (Flomo primigenius), 
welcher ſich entweder in Lemurien oder in Südaſien (vielleicht auch im 
Öftfichen Afrifa) während der Tertiärgeit au8 anthropoiden Affen ent- 
widelte, kennen wir nod feine foffilen Refte. Aber bei der aufer- 
ordentlichen Aehnlichteit , welche ſich zwiſchen den niederften wollhaa- 
rigen Menfchen und den höchſten Menſchenaffen felbft jept noch er- 
halten hat, bedarf e8 nur geringer Einbildungdtraft, um fih zwi 
ſchen Beiden eine vermittelnde Zwiſchenform und in diefer ein une 
gefähres Bild von dem muthmaßlichen Urmenfchen oder Affenmen« 
ſchen vorzuftellen. Die Schädelform deffelben wird fehr langköpfig 
und fchiefgähnig gewefen fein, das Haar wollig, die Hautfarbe dun- 
tel, braͤunlich. Die Behaarung des ganzen Körpers wird dichter 
als bei allen jept lebenden Menfchenarten geweſen fein, die Arme im 
Verhältniß länger und ftärker, die Beine dagegen fürger und dünner, 
mit ganz unentwidelten Waden; der Gang nur halb aufredt, mit 
ſtark eingebogenen Knieen. 

Eine eigentlich menſchliche Sprache, d. h. eine artitulirte Begriffe- 
ſprache, wird diefer Affenmenfch noch nicht befeffen haben. Vielmehr 
entftand die menſchliche Sprache, wie fhon vorher bemerkt, erft nach ⸗ 
dem die Divergenz der Urmenfchenart in verfchiedene Spetied erfolgt 
war. Die Zahl der Urſprachen ift aber noch beträchtlich größer, als 
die Zahl der ‘vorher betrachteten Menfchenarten. Denn e8 ift noch 
nicht gelungen , die vier Urfprachen der mittelländifhen Species, das 
Bastifhe, Kaufafifhe, Semitifche und Indogermanifhe, auf eine 
einzige Urfprache zurüdguführen. Ebenſowenig laffen fi die ver 
ſchiedenen Negerfprahen von einer gemeinfamen Urſprache ableiten. 
Diefe beiden Species, Mittelländer und Neger, find daber jedenfall 
polyglottoniſch, d. h. ihre zahlreichen menſchlichen Sprachen find 
erſt entftanden, nachdem bereits die Divergenz ber Iprachlofen Stamm 


Bolyglottone und monoglottone Menfchenarten. 621 


art in mehrere Raffen erfolgt war. Vielleicht find auch die Mongo- 
len, Arktifer und Amerifaner polyglottoniſch Monoglgttonifch 
Dagegen ift die malayifche Menſchenart. Alle ihre polynefifhen und 
fundanefifhen Dialekte und Sprachen laſſen fi) von einer gemein⸗ 
famen, längft untergegangenen Urfprache ableiten, die mit feiner an- 
dern Sprache der Erde verwandt ifl. Ebenfo monoglottonifh find 
die übrigen Menfchenarten: Nubier, Dravidas, Auftralier, Papuas, 
Hottentotten und Kaffern (vergl. ©. 626). 

Aus dem fprachlofen Urmenfchen, den wir ald bie gemeinfame 
Ctammart aller übrigen Specie® anfehen, entwidelten ſich zunächſt 
wahrſcheinlich durch natürliche Züchtung verfehiedene und unbekannte, 
jegt Tängft auögeftorbene Menfchenarten, die noch auf der Stufe des. 
ſprachloſen Affenmenſchen (Alalus oder Pithecanthropus) ftehen bfie- 
ben. Zwei von diefen Specied, eine wollhaarige und eine fhlicht- 
baarige Art, welche am ftärfften divergirten und daher im Kampfe 
ums Dafein über die andern den Sieg davon trugen, wurden die 
Stammformen die übrigen Menſchenarten. . 

Der Hauptzweig der wollhaarigen Menfchen (Ulotri- 
ches) breitete fih zunächft bloß auf der ſüdlichen Erdhaͤlfte aus, 
und wanderte hier theil® nad Oſten, theild nach Weften. Weber- 
vefte des öftlihen Zweiges find die Papuas in Neuguinen und Mes 
laneſien, welche früher viel weiter weftfich (in Hinterindien und Sun« 
danefien) verbreitet waren, und erſt fpäter dur die Malayen nach 
Oſten gedrängt wurden. Wenig veränderte Ueberrefte des weſtlichen 
Zweiges find die Hottentotten, welche in ihre jepige Heimath von 
Nordoften aus eingewandert find. Vielleicht während diefer Wande- 
tung zweigten fih von ihnen die beiden nahe verwandten Speties 
der Kaffern und Neger ab, die aber möglicherweife auch befonderen 
Zweigen von Affenmenfhen ihren Urfprung verdanken. 

Der zweite und entwidelungsfähigere Hauptzweig der Urmen- 
ſchen⸗ Art, die ſchlichthaarigen Menfchen (Lissotriches), ha- 
ben und vielleicht einen wenig veränderten, nach Südoften geflüch- 
teten Reft ihrer gemeinfamen Stammform in den affenartigen Auftra« 


622 Wanderung und Ausbreitung der Meuſchenarten. 
liern binterlaffen. Diefen lepteren fehr nahe flanden vielleicht die 
ſũdaſiatiſchen Urmalayen oder Promalayen, mit welchem Ra- 
men wir vorher die ausgeſtorbene, hypothetiſche Stammform der 
übrigen ſechs Menſchenarten bezeichnet haben. Aus dieſer unbe 
tannten gemeinfamen Stammform feinen ſich als drei divergirende 
Zweige die eigentlichen Malayen, die Mongolen und die Cuplota⸗ 
men entridelt zu haben. Die erften breiteten ſich nach Oſten, die 
zweiten nach Norben, die dritten nach Welten hin aus. 

Die Urheimath oder der „Schöpfungsmittelpuntt“ der Ma—⸗ 
layen ift im füböftlichen Theile des afiatifchen Feſtlandes zu ſuchen 
oder vielleicht in dem ausgedehnteren Kontinent, der früher beitand, 
als noch Hinterindien mit dem Sunda-Ardipel und dem öftlihen 
Lemurien unmittelbar zuſammenhing. Bon da aus breiteten fid die 
Malayen nach Südoften über den Sunda-Ardipel bis Buro hin aus, 
freiften dann, die Papuas vor ſich hertreibend, nach Oſten zu den 
Samoa» und Tonga-Jnfeln hin, und zerftreuten ſich endlich von 
bier aus nad) und nad) über bie gange Inſelwelt des füblichen pa- 
cifiſchen Oceans, bis nach den Sandwich -Infeln im Rorden, den 
Mangareven im Often und Neufeeland im Süden. Gin eingeiner 
Zweig ded malayifhen Stammes wurde weit nad) Weiten verfhla- 
gen und bevölferte Madagastar. 

Der zweite Hauptzweig der Urmalayen, die Mongolen, brei- 
tete ſich zunächſt ebenfalld in Sübdafien aus und bevölkerte all- 
maͤhlich, von da aus nad) Oſten, Norden und Nordweſten audftrah- 
lend, den größten Theil des aſiatiſchen Feſtlandes. Bon den vier 
Hauptraffen der mongoliſchen Species find wahrſcheinlich die Jude 
chineſen als die Stammgruppe zu betrachten, aus der ſich erft ald 
divergirende Zweige die übrigen Raſſen, Eoreo- Japaner und Ural- 
Altajer fpäter enttwidelten. Aus dem Weiten Ajiend wanderten die 
Mongolen vielfach nach Europa hinüber, wo noch jept die Finnen 
und Lappen im nördlichen Rußland und Skandinavien, die nabe 
verwandten Magyaren in Ungarn und ein Theil der Dümanen in 
der Türkei die mongoliſche Species vertreten. 


Geographifche Verbreitung der Meuſchenarten. 623 


Andrerfeit® wanderte aus dem nordöftlihen Aſien, welches vor⸗ 
mals vermuthlich durch eine breite Landbrüde mit Nordamerika zu 
fammenhing, ein Zweig der Mongolen in diefen Erbtheil hinüber. 
Als ein Aft dieſes Zweiges, welher durch Anpaffung an die un 
günftigen Exiſtenzbedingungen des Polarklimas eigenthümlih rüdge- 
bildet wurde, find die Arktiter oder Polarmenfchen zu betrachten, 
die Hyperboräer im nordöftlihen Afien, die Eslimos im nörblichften 
Amerifa. Die Hauptmaffe der mongolifchen Einwanderer aber wan⸗ 
derte nah Süden, und breitete fi) allmählich über ganz Amerika 
aus, zunächft über das nördliche, fpäter über das ſüdliche Amerika. 

Der dritte und wichtigfte Hauptzweig der Urmalayen, die Loden- 
völter oder Euplofamen, haben uns vielleiht in den heutigen 
Dravidas (in Vorberindien und Ceylon) diejenige Menfchenart hin- 
terlaffen, die fi am menigften von der gemeinfamen Stammform 
der Guplofamen entfernt hat. Die Hauptmaffe der lepteren, die 
mittelländifche Specied, wanderte von ihrer Urheimath (Hindoftan ?) 
aus nad Weften und bevöfterte die Küftenländer des Mittelmeeres, 
das fübweftliche Afien, Nordafrika und Europa. Als eine Abzwei- 
gung der femitifchen Urvölter im norböftlihen Afrifa find möglicher» 
weife die Nubier zu betrachten, welche weit durch Mittelafrika hin 
durch bis faſt zu defien Weftküfte hinüberwanderten. Die divergi- 
enden Zweige der indogermanifchen Raſſe haben ſich am weiteften 
von der gemeinfamen Stammform des Affenmenfchen entfemt. Bon 
den beiden Hauptzweigen diefer Raffe hat im klaſſiſchen Alterthum 
und im Mittelalter der romanifche Zweig (die graeco⸗ italo⸗ keltiſche 
Gruppe), in der Gegenwart aber der germaniſche Zweig im Wettlaufe 
der Kulturentridelung die anderen Zweige überflügelt. Obenan fte- 
ben die Engländer und die Deutfchen, welche vorzugsweiſe gegeumwär- 
tig in der Erfenntniß und dem Ausbau ber Entwickelungsgeſchichte dad 
Fundament für eine neue Periode der höheren geiftigen Entwidelung 
legen. Die Empfaͤnglichteit für die Entwidelungstheorie und für die 
darauf gegründete moniftifche Philofophie bildet den beften Maßſtab 
für den geiftigen Entwickelungsgrad des Menſchen. 


Zmmmeuhenen zer \emitiichen Kaffe. 


Hr 








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|} 
ht, 
} J. HH 
I I 
I) 


Stammbaum ber indogermaniſchen Raffe. 


625 





Sitaner Witpreufen 
Letten 


Standinavier 








nn | 
Weſtſlaven [ 
Urgermanen 





— 
Slavoletten 


Elencuernenen 





| Albanefen 


Inder Iraner 


Arier 





Indogermanen 


Augelſachſen 


Goten 


Gochdentſche 
lattden 
m | —E 
— 
Atnaten 
Sachſen Briefen 
— 
Nieder deutſche 


Denitür 


Altbritten 
Altſchotten 
u Gallier 
Lateiner 
Kelten 


Stalotelten 


Grienen 


Urthracier 


— 


Gräcoromanen 





"Hardel, Rettet. Shspfungtgeid. 5. Huf. 


40 








626 


Syſtematiſche Weberficht der 12 Menfchen-Zpecies. 





N.B. Die Eolumne A giebt die ungefähre Bevölterungszahl in Millionen an. 
Die Eolumne B deutet das phyletifche —— der Species an, und 


zwar bedeutet: Pr — Fortſchreitende Ausbreitung; Ce 


= Ungefähte® Gleichblei . 


ben; Re — Rüdbildung und Ausſterben. Die Columne C giebt das Verhältniß 
der Urſprache an; Mn (Monoglottoniſch) bebeutet eine einfache Urſprache: PL (Bo- 
Togfottonifch) eine mehrfache Urſprache der Species. 





























Tribus | Menfgen-Species a |» | o | gSeimati 
| Neuguinea und Mela- 
ae 1. Yayın 2| me Im —S 
fe ilie-| 2. Gettentotte Re | Mn jemnuape Mrita 
nen) a —F (Pure den 
eh E) in 
Vließ haarige 3. Raffer ' vr 
(ea. 150 Mil- Mittelafrila (wilden 
lionen) 4. Neger 180 | Pr | Pl dem sy und 
5. Auftrafier | zu | Re | Mn | Aufrafien 
‚ ‚Sunbane- 
6. Malaye 8 | Co ‘Mn (han u. 
j 
Straffhanrige fen zum größten 
Euthyı P fe i göhten 
en 600 Ronge! 201 00 Ir 
lonen) Norwoaucee Afen 
8. Arttiler % | © m? und norböffiche® 
I Amerita 
Ganz Amerita mit 
9. Amerifaner 182 | Re ‚auf Ausnahme des nörb- 
I Tidfen Toeileh 
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Kudenbanripe 11. Nubier 10 | Co Mn? | titfite Rabien 
jen 600 B In allen Welttheilen. 
“ ionen) | 18. Mittehänder 680 | Pr Pi — neh wor 
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Ad a Pr | "[ —— 


Sumuna , 1350 


Vierundzwanzigſter Vortrag. 


Einwände gegen und Beweife für die Wahrheit der 
Defcendenztheorie. 


Einwänbe gegen die Abftammungslehre. Eimvände bes Glaubens und ber Ber- 
munft. Unermeßliche Länge der geologifchen Zeiträume. Uebergangsformen zwiſchen 
den verwandten Species. Abhängigteit ber Formbeſtändigleit von der Bererbung, 
und bes Formwechſels von der Anpaffung. Entſtehung fehr zuſammengeſetzter 
DOrganifationseinrichtungen. Stufenweiſe Entwidelung der Inftinkte und Seclen- 
thätigfeiten. Entſtehung ber apriorifchen Erkenntniſſe aus apofteriorifchen. Erfor⸗ 
derniffe für das richtige Verſtändniß ber Woflammungsfehre. Nothwendige Werhfel- 
wirfaug der Empirie und Philofophie. Beweiſe für die Defeendenztheorie. Innerer 
urfächlier Zuſammenhang aller biofogifchen Erſcheinungsreihen. Der direlte Be- 
weiß ber Selectionstheorie. Verhältniß der Defcenbenztheorie zur Anthropologie. 
Beweife für den thierifhen Urfprung des Menſchen. Die Pitheloibentheorie als 
untrennbarer Beſtandtheil der Defeenbenztheorie. Induction und Deduction. Stu- [ 
fenweife Entwidelung des menſchlichen Geiſtes. Körper ımb Geil. Menſchenſeele 
und Thierſeele. Blick in die Zukunft, 


Meine Herren! Wenn ih einerſeits vielleicht hoffen darf, Ihnen 
durch diefe Vorträge die Abftammungslehre mehr oder weniger wahre 
ſcheinlich gemacht, und Einige von Ihnen felbft von ihrer unerfchütter- 
lichen Wahrheit überzeugt zu haben, fo verhehle ich mir andrerfeits 
keineswegs, daß die Meiften von Ihnen im Laufe meiner Erörterun- 
gen eine Maſſe von mehr oder weniger begründeten Einwürfen gegen 
diefelbe erhoben haben werden. Es erſcheint mir daher jept, am 
Schluffe unferer Betrachtungen, durhaus nothwendig, wenigſtens 

40* 


628 Wiſſen und Glauben. 


die wichtigften derfelben zu widerlegen, und zugleich auf der anderen 
Seite die überzeugenden Bemweißgründe nochmals hervorzuheben, welche 
für die Wahrheit der Entwickelungslehre Zeugniß ablegen. 

Die Einwürfe, welhe man gegen die Abftammungslehre über- 
haupt erhebt, zerfallen in zwei große Gruppen, Einwände des Glau- 
bens und Einwände der Vernunft. Mit den Einwendungen der erften 
Gruppe, die in den unendlich mannichfaltigen Glaubendvorftellungen 
der menfchlihen Individuen ihren Urfprung haben, brauche ich mid 
hier durchaus nicht zu befaſſen. Denn, wie ich bereit? im Anfang 
diefer Vorträge bemerkte, hat die Wiſſenſchaft, ald da8 objektive Er- 
gebniß der finnlichen Erfahrung und des Erfenntnißftreben® der menfch- 
lichen Vernunft, gar Nichts mit den fubjeftiven Vorftellungen des 
Glaubens zu thun, welche von einzelnen Menfchen al® unmittelbare 
Eingebungen oder Dffenbarungen des Schöpfer® gepredigt, und dann 
von der unfelbftftändigen Menge geglaubt werden. Diefer bei den 
verſchiedenen Bölfern höchft verfchiedenartige Glaube, der vom „Aber 
glauben” nicht verfhieden ift, fängt bekanntlich erft da an, wo die 
Wiſſenſchaft aufhört. Die Naturwiffenfchaft betrachtet denfelben nach 
dem Grundfage Friedrich's des Großen, „daß jeder auf feine Facon 
felig werden kann“, und nur da tritt fie nothwendig in Konflift 
mit befonderen Glaubensvorftellungen, wo dieſelben der freien For⸗ 
hung eine Grenze, und der menfchlichen Erkenntniß ein Ziel fegen 
wollen, über welches diefelbe: nicht hinaus dürfe. Das ift nun al 
lerdings gewiß bier im ftärfften Maße der Fall, da die Entwide- 
lungslehre ſich zur Aufgabe das höchfte wiſſenſchaftliche Problem ge- 
feßt hat, das wir und fegen können: das Problem der Schöpfung, 
des Werdend der Dinge, und insbefondere des Werdend der orga- 
nifchen Formen, an ihrer Spipe des Menſchen. Hier ift es nun 
jedenfall® eben fo das gute Recht, wie die heilige Pflicht der freien 
Forſchung, feinerlei menſchliche Autorität zu ſcheuen, und muthig 
den Schleier vom Bilde des Schöpfer zu lüften, unbefümmert, 
welche natürliche Wahrheit darunter verborgen fein mag. Die götte 
liche Offenbarung, welche wir ald die einzig wahre anerkennen, ſteht 


Unermeßlich Tange Zeiträume ber organiſchen Erdgeſchichte. 629 


überall in der Natur geſchrieben, und jedem Menfchen mit gefunden 
Sinnen und gefunder Vernunft ſteht es frei, in dieſem heiligen 
Tempel der Natur durch eigenes Forſchen und felbftftändiges Er- 
tennen der untrüglihen Offenbarung theilhaftig zu werben. ö 
Wenn wir demgemäß bier alle Einwürfe gegen die Abftammungs- 
fehre unberüdfichtigt laſſen können, die etwa von den Prieftern der 
verfehiedenen Glaubensreligionen erhoben werden Tönnten, fo werben 
wir dagegen nicht umhin Tonnen, die wichtigften von denjenigen Ein- 
mwänden zu widerlegen, welche mehr oder weniger wiſſenſchaftlich be⸗ 
gründet erſcheinen, und von denen man zugeftehen muß, dag man 
durch fie auf den erften Blick in gewiſſem Grade eingenommen und 
von der Annahme der Abftammungslehre zurückgeſchreckt werden kann. 
Unter diefen Einwänden erfheint Vielen als der wichtigfte derjenige, 
welcher die Zeitlänge betrifft. Wir find nicht gewohnt, mit fo 
ungeheuren Zeitmaßen umzugehen, wie fie für die Schöpfungäge- 
ſchichte erforderlich find. Es wurde früher bereitd erwähnt, daß wir 
die Zeiträume, in welchen die Arten durch allmählihe Umbildung 
entftanden find, nicht nach einzelnen Jahrtauſenden berechnen müffen, 
fondern nad Hunderten und nach Millionen von Jahrtaufenden. Al- 
lein {don die Dide der gefchichteten Erdrinde, die Erwägung ber 
wmgeheuern Zeiträume, welche zu ihrer Ablagerung aus dem Waller 
erforderlich waren, und der zwifchen diefen Senfungsgeiträumen ver- 
floffenen Hebungszeiträume beweifen und eine Zeitdauer der organi- 
ſchen Erdgeſchichte, welche unfer menſchliches Faflungdvermögen gänzlich 
überfteigt. Wir find hier in derfelben Lage, wie in der Aftronomie 
betreffs de3 unendlichen Raumes. Wie wir die Entfernungen der ver⸗ 
fhiedenen Planetenfyfteme nicht nad) Meilen, fondern nach Sirius« 
weiten berechnen, von denen jede wieder Millionen Meilen einfchließt, 
fo müffen wir in der organifhen Erdgeſchichte nicht nach Jahrtau- 
fenden, fondern nad paläontologifhen oder geologifchen Perioden 
rechnen, von denen jebe viele Zahrtaufende, und manche vielleicht 
Milionen oder felbft Milliarden von Yahrtaufenden umfaßt. Es 
ift fehr gleichgültig, wie hoch man annähernd die unermeßliche Länge 


630 Unermeffid; Tange Zeitrãume der organiſchen Erdgeſchichte. 


diefer Zeiträume fhägen mag, weil wir in der That nicht im Stande 
find, mittefft unferer beſchränkten Ginbildungäfraft und eine wirkliche 
Anfhauung von diefen Zeiträumen zu bilden, und weil wir aud) feine 
fichere mathematifhe Baſis wie in der Aftronomie befigen, um nur 
die ungefähre Länge des Maßſtabes irgendwie in Zahlen feftzuftellen. 
Nur dagegen müſſen wir una auf das Beftimmtefte verwahren, daß 
wir in diefer außerorbentlihen, unfere Borftellungsfraft vollftändig 
überfteigenden Länge ber Zeiträume irgend einen Grund gegen die 
Entwickelungslehre fehen könnten. Wie ih Ihnen bereits in einem 
früheren Vortrage auseinanderſetzte, ift es im Gegentheil vom Stand» 
puntte der firengften Philofophie das Gerathenfte, dieſe Schöpfungs- 
perioden möglichft lang vorauszufepen, und wir laufen um fo weniger 
Gefahr, uns in diefer Beziehung in unwahrſcheinliche Hypotheſen zu 
verlieren, je größer wir die Zeiträume für die organifhen Entwide- 
lungsvorgaͤnge annehmen. Je länger wir z. B. die Permifche Periode 
annehmen, defto eher fönnen wir begreifen, wie innerhalb derfelben 
die wichtigen Umbildungen erfolgten, welche die Fauna und Flora 
der Steinkohlenzeit fo ſcharf von derjenigen der Triaszeit trennen. 
Die große Abneigung, welche die meiften Menfchen gegen die An- 
nahme fo unermeßlicher Zeiträume haben, rührt größtentheild davon 
ber, daß wir in der Jugend mit der Vorſtellung groß gegogen werben, 
die ganze Erde fei nur einige taufend Jahre alt. Außerdem ift das 
Menfhenleben , welches hoͤchſtens den Werth eined Jahrhunderts er- 
reicht, eine außerordentlich kurze Zeitfpanne, welche fi am wenigften 
eignet, als Maßeinheit für jene geologifchen Perioden zu gelten. 
Unfer Leben ift ein einzelner Tropfen im Meere der Ewigkeit. Den- 
ten Sie nur im Vergleiche damit an die fünfgig mal längere Lebend- 
dauer mander Bäume, z. ®. der Dradenbäume (Dracaena) und 
Affenbrobbäume (Adansonia), deren individuelles Leben einen Zeit- 
raum von fünftaufend Jahren überfteigt, und denken Sie andrer- 
ſeits an die Kürze des individuellen Lebens bei manchen niederen 
Thieren, z. B. bei den Infuforien, wo da8 Individuum als ſolches 
nur wenige Tage, ober felbft nur wenige Stunden lebt. Dieſe Bere 


Uebergangsformen ber organifden Arten. 631 


gleichung ftellt und die Relativität alles Zeitmaßes auf dad Un- 
mittelbarfte vor Augen. Ganz gewiß müffen ungeheure, und gar 
nicht vorftellbare Zeiträume verfloffen fein, während die flufen- 
weiſe hiftorifche Entwidelung des Thier- und Pflanzenreichs durch 
allmahliche Umbildung der Arten vor ſich ging. Es liegt aber auch 
nicht ein einziger Grund vor, irgend eine beftimmte Grenze für die 
Länge jener phyletiſchen Entwidelungsperioden anzunehmen. 

Ein zweiter Haupteinwand, der von vielen, namentlich ſyſtema⸗ 
tiſchen Zoologen und Botanifern, gegen die Abftammungslehre erho- 
ben wird, ift der, daß man feine Uebergangsformen zwiſchen 
den verfchiedenen Arten finden könne, während man diefe doch nad 
der Abftammungslehre in Menge finden müßte. Diefer Einwurf ift 
zum Theil begründet, zum Theil aber auch nicht. Denn e3 exiſtiren 
Uebergangäformen ſowohl zwifchen lebenden, als auch zwifchen aus- 
geftorbenen Arten in außerordentlicher Menge, überall nämlich da, wo 
wir Gelegenheit haben, fehr zahlreiche Individuen von verwandten 
Arten vergleichend ins Auge zu fallen. Grade diejenigen forgfältig- 
ften Unterfucher der einzelnen Species, von denen man jenen Einwurf 
häufig hört, grade diefe finden wir in ihren fpeciellen Unterfuhungs« 
reihen beftändig durch die in der That unlösbare Schwierigkeit aufge 
halten, die einzelnen Arten ſcharf zu unterfcheiden. In allen ſyſtema⸗ 
tifchen Werten, melde einigermaßen gründlich find, begegnen Sie 
endlofen Klagen darüber, daß man hier und dort die Arten nicht un⸗ 
terſcheiden fönne, weil zu viele Uebergangsformen vorhanden ſeien. 
Daher beftimmt auch jeder Raturforfcher den Umfang und die Zahl 
der einzelnen Arten anders, als die übrigen. Wie ich ſchon früher 
erwähnte (5. 246), nehmen in einer und derfelben Organismengruppe 
die einen Zoologen und Botanifer 10 Arten an, andere 20, andere 
hundert oder mehr, während noch andere Syſtematiker alle dieſe ver⸗ 
ſchiedenen Formen nur als Spielarten oder Varietäten einer einzigen 
„guten Species betrachten. Man findet in der That bei den mei« 
ften Formengruppen Uebergangsformen und Zwiſchenſtufen zwiſchen 
den einzelnen Species in Hülle und Fülle. 


632 Uebergangsformen zwiſchen ben organiſchen Arten. 

Bei vielen Arten fehlen freilich die Uebergangsformen wirklich. 
Dies erklärt ſich indeſſen ganz einfach dur das Prinzip der Diver- 
genz oder Sonderung, deſſen Bedeutung ih Ihnen früher erläutert 
habe. Der Umftand, daß der Kampf um das Dafein um fo heftiger 
zwiſchen zwei verwandten Formen ift, je näher fie ſich ſtehen, muß 
nothwendig das baldige Erlöfchen der verbindenden Zwiſchenformen 
zwiſchen zwei divergenten Arten begünftigen. Wenn eine und dies 
felbe Species nad verfchiedenen Richtungen auseinanbergehende Ba- 
vietäten hervorbringt, die fih zu neuen Arten geftalten, fo muß der 
Kampf zwiſchen biefen neuen Formen und der gemeinfamen Stamm 
form um fo lebhafter fein, je weniger fie ſich von einander entfer- 
nen, dagegen um fo weniger gefährlich, je ftärfer die Divergen; ift. 
Naturgemäß werden alfo die verbindenden Zwiſchenformen vorzuge- 
weiſe und meiften® fehr ſchnell außfterben, während die am meiften 
divergenten Formen als getrennte „neue Arten übrig bleiben und fi 
fortpflanzgen. Dem entfprehend finden wir aud feine Webergangd- 
formen mehr in ſolchen Gruppen, welche ganz im Ausfterben ber 
griffen find, wie 3. ®. unter den Vögeln die Strauße, umter den 
Säugethieren die Elephanten, Giraffen, Camele, Zahnarmen und 
Schnabelthiere. Diefe im Erlöfhen begriffenen Formgruppen ergeu« 
gen feine neuen Barietäten mehr, und naturgemäß find hier die Arten 
fogenannte „gute“, d. h. ſcharf von einander gefdyiedene Specied. In 
denjenigen Thiergruppen dagegen, wo noch bie Entfaltung und der 
Fortſchritt fih geltend macht, wo die eriftirenden Arten durch Bildung 
neuer Varietäten in viele neue Arten auseinandergehen, finden wir 
überall maffenhaft Nebergangsformen vor, welche der Syftematif die 
größten Schwierigkeiten bereiten. Daß ift z. ®. unter den Vögeln bei 
den Finken der Fall, unter den Säugethieren bei den meiften Rage 
thieren (befonder® den mäufe- und rattenartigen), bei einer Anzabl 
von Wiederfäuern und von echten Affen, insbefondere bei den füd- 
ameritanifchen Rollaffen (Cebus) und vielen Anderen. Die fortwäh- 
rende Entfaltung der Species durch Bildung neuer Varietäten erzeugt 
bier eine Maffe von Zroifhenformen, welche die fogenannten guten 


Beſtandigteit und Veranderlichteit der organiſchen Gperied. 633 


Arten verbinden, ihre Grenzen verwifchen und ihre fharfe fpecififhe 
Unterfeidung ganz illuſoriſch machen. 

Daß dennoch keine vollftändige Verwirrung der Formen, fein 
allgemeines Chaos in der Bildung der Thier- und Pflangengeftalten 
entfteht, hat einfach feinen Grund in dem Gegengewicht, welches ge 
gemüber der Entftehung neuer Formen durch fortfähreitende An paſ⸗ 
fung, die erhaltende Macht der Bererbung ausübt. Der Grad 
von Beharrlichteit und Beränderlichkeit, den jede organifhe Form 
zeigt, ift lediglich bedingt durch den jeweiligen Zuftand des Gleichge⸗ 
wicht zwiſchen diefen beiden fich entgegenftehenden Funktionen. Die 
Vererbung ift die Urfahe der Beftändigkeit der Spe- 
cies; die Anpaffung ift Die Urfache ber Abänderung der 
Art. Wenn alfo einige Naturforfher fagen, offenbar müßte nach 
der Abftammungslehre eine noch viel größere Mannichfaltigkeit der 
Formen ftattfinden, und andere umgekehrt, es müßte eine viel ſtren⸗ 
gere Gleichheit der Formen ſich zeigen, fo unterfchägen die erfteren 
das Gewicht der Vererbung und die letzteren da® Gewicht der Anpafr 
fung. Der Grad der Wechſelwirkung zwifhen der Ber- 
erbung und Anpaffung beftimmt ben Grad ber Beftän- 
digteit und Beränderlicgkeit der organifhen Species, 
den biefelbe in jedem gegebenen Zeitabſchnitt befikt. 

Ein weiterer Einwand gegen die Defeendenztheorie, welcher in 
den Augen vieler Raturforfcher und Philofophen ein großes Gericht 
befigt, befteht darin, daß diefelbe die Entftehung zweckmäßig 
wirfender Organe durch zwedlos oder mehanifh wir- 
tende Urſachen behauptet. Diefer Einwurf erfcheint namentlich 
von Bedeutung bei Betrachtung derjenigen Organe , welche offenbar 
für einen ganz beftinmten Zweck fo vortrefflih angepaßt erfheinen, 
daß die fharffinnigften Mechaniker nicht im Stande fein würden, ein 
volltommneres Organ für diefen Zwed zu erfinden. Solche Organe 
find vor allen die höheren Sinnedorgane der Thiere, Auge und Ohr. 
Wenn man bloß die Augen und Gehörwerkeuge der höheren Thiere 
kennte, fo würben biefelben un® in der That große und vielleicht un« 


634 Mechaniſche Entftejung poechnäßiger Organifationschrridtungen. 
überiteiglihe Schwierigkeiten verurſachen. Wie fönnte man fi er- 
Hlären, daß allein durch die natürliche Züchtung jener außerordentlich 
hohe und höchft bewundernswürdige Grad der Bolltommenheit und 
der Zweckmaͤßigkeit in jeder Beziehung erreicht wird, welchen wir bei 
den Augen und Ohren der höheren Thiere wahrnehmen? Zum Glüd 
hilft un® aber hier die vergleihende Anatomie und Ent- 
wickelungsgeſchichte über alle Hinderniffe hinweg. Denm wenn 
wir die ftufenmweife Bervolltommnung der Augen und Ohren Schrin 
für Schritt im Thierreich verfolgen, fo finden wir eine ſolche allmäh- 
liche Stufenfeiter der Ausbildung vor, daß mir auf das fchönfte bie 
Entwidelung der höchft vertidelfen Organe durch alle Grade der 
Vollkommenheit hindurch verfolgen fönnen. So erſcheint 3. B. das 
Auge bei den niederften Thieren als ein einfacher Farbſtoffflec, der 
noch fein Bild von äußeren Gegenftänden entwerfen, ſondern höchſtens 
den Unterfchied der verfchiedenen Lichtftrahlen wahrnehmen fann. Denn 
tritt zu diefem ein empfindender Nero hinzu. Später entwidelt fi all» 
maͤhlich innerhalb jenes Pigmentfleds die erfte Anlage der Linfe, ein 
lichtbrechender Körper, der ſchon im Stande ift, die Lichtſtrahlen zu 
concentriren und ein beftimmtes Bild zu entwerfen. Aber es fehlen 
noch alle die zufammengefepten Apparate für Akkommodation und Be- 
wegung bed Auges; die verfchieden fichtbrechenden Medien, die hoch 
differengirte Sehnervenhaut u. f. w., welche bei den höheren Thieren 
diefed Werkzeug fo volllommen geftalten. Bon jenem einfachten Dr» 
gan bis zu diefem höchft volltommenen Apparat zeigt un® die ver- 
gleichende Anatomie in ununterbrochener Stufenleiter alle mögligen 
Uebergänge, fo daß wir und die ſtufenweiſe, allmähliche Bildung auch 
eines ſolchen höchſt complicirten Organes wohl anſchaulich machen fün- 
nen. Ebenfo wie wir im Laufe der individuellen Entwidelung einen 
gleichen ftufenweifen Fortſchritt in der Ausbildung ded Organe unmit- 
telbar verfolgen fönnen, ebenfo muß derſelbe auch in der geichiht- 
lichen (phyletiſchen) Entftehung des Organs ftattgefunden haben. 
Bei Betrachtung ſolcher höchſt volltommenen Organe, die ſchein · 
bar von einem kuͤnſtleriſchen Schöpfer für ihre beſtimmte Thaͤtigkeit 


Mechaniſche Entfiegung zwedmãßiger Organifationdeinrichtungen. 635 
zwedmaͤßig erfunden und conftruirt, in der That aber durch die zwed⸗ 
loſe Ihätigkeit der natürlichen Züchtung mechaniſch entftanden find, 
empfinden viele Menfchen ähnliche Schwierigkeiten des naturgemäßen 
Verſtändnifſes, wie die rohen Raturvölfer gegenüber den vermidelten 
Erzeugniffen unferer neueften Mafchinentunft. Die Wilden, welche 
zum erftenmal ein Zinienfchiff oder eine Locomotive fehen, halten diefe 
Gegenftände für die Erzeugniſſe übernatürliher Weſen, und können 
nicht begreifen, daß der Menſch, ein Organismus ihres Gleichen, 
eine ſolche Mafchine hervorgebracht habe. Aud die umgebildeten 
Menſchen unferer eigenen Raffe find nicht im Stande, einen fo ver» 
widelten Apparat in feiner eigentlichen Wirkſamkeit zu begreifen und 
die vein mechanifche Natur deffelben zu verfiehen. Die meiften Ra- 
turforſcher verhalten ſich aber, wie Darwin fehr richtig bemerkt, 
gegenüber den Formen der Organismen nicht anders, als jene Wil- 
den dem Linienfchiff oder der Locomotive gegenüber. Das naturges 
mäße Berftändnig von der rein mechanifchen Entftehung der orgas 
nifchen Formen kann bier nur durch eine gründliche allgemeine bio- 
logiſche Bildung umd durch die fpecielle Bekanntſchaft mit der ver- 
gleichenden Anatomie und Entwidelungsgefcjichte gewonnen werden. 

Unter den übrigen gegen die Abftammungslehre erhobenen Ein- 
würfen will ich hier endlich noch einen hervorheben und widerlegen, 
der namentlich in den Augen vieler Laien ein großes Gewicht befipt: 
Wie foll man fi aus der Defcendenztheorie bie Geiftesthätig- 
teiten der Thiere und namentlich die fpecifiichen Aeuferungen 
derfelben, die fogenannten In ſtinkte entftanden denten? Diefen 
ſchwierigen Gegenftand hat Darwin in einem befonderen Kapitel 
feined Hauptmwerte® (im fiebenten) fo ausführlich behandelt, daß ich 
Sie bier darauf verweifen kann. Wir müffen die Inftinkte 
wesentlich ald Gewohnheiten der Seeleauffaffen, melde 
dur Anpaffung erworben und durch Bererbung auf 
viele Generationen übertragen, und befeftigt worden 
find. Die Inſtinkte verhalten fi demgemäß ganz wie andere Ge- 
wohnheiten, welche nad den Gefegen der gehäuften Anpaflung 


636 Entſtchung der Inftinkte durch Vererbung von Anpefjungen. 


(©. 209) und der befeftigten Vererbung (©. 194) zur Entitehung 
neuer Funktionen und fomit auch neuer Kormen ihrer Organe füh- 
ren. Hier wie überall geht die Wechſelwirkung zwiſchen Funktion 
und Organ Hand in Hand. Ebenfo wie die Geiftesfähigkeiten des 
Menſchen ſtufenweiſe durch fortfchreitende Anpaffung des Gehirns er- 
worben und durch dauernde Vererbung befeftigt wurden, fo find auch 
die Inftinfte der Thiere, welche nur quantitativ, nicht qualitativ 
don jenen verſchieden find, durch fiufenweife Vervolllommnung ihres 
Seelenorgand, des Centralnervenſyſtems, durch Wechſelwirkung ber 
Anpaſſung und Vererbung, entſtanden. Die Inſtinkte werden be⸗ 
tanntermaßen vererbt; allein auch die Erfahrungen, alſo neue An- 
paflungen der Thierfeele, werden vererbt; und die Abrichtung der 
Haudthiere zu verfchiedenen Seelenthätigkeiten, welche die wilden 
Thiere nicht im Stande find auszuführen, beruht auf der Möglich- 
keit der Seelenanpaffung. Wir fennen jept ſchon eine Reihe von 
Beiſpielen, in denen folche Anpaffungen, nachdem fie erblich durch 
eine Reihe von Generationen ſich übertragen hatten, ſchließlich ala 
angeborene Inftinkte erfchienen, und doch waren fie von den Bor- 
eltern der Thiere erft erworben. Hier ift die Drefiur duch Berer- 
bung in Inſtinkt übergegangen. Die harakteriftifhen Inftinkte der 
Jagdhunde, Schäferhunde und anderer Hausthiere, welche fie mit 
auf die Welt bringen, find ebenfo wie die Raturinfinkte der wilden 
Thiere von ihren Voreltern erft dur Anpaffung erworben worden. 
Sie find in diefer Beziehung den angeblichen „Erkenntniffen a priori* 
des Menfchen zu vergleichen, die urfprüngfid von unferen uralten 
Vorfahren (gleich allen anderen Exkenntniffen) „a posteriori“, durch 
ſinnliche Erfahrung, erworben wurden. Wie ich ſchon früher bemerkte, 
find offenbar die „Erfenntniffe a priori“ erft dur fange 
andauernde Vererbung von erworbenen Gehirnanpaf- 
fungen aus urfprünglih empirifhen „Erkenntniffen a 
posteriori* entftanden (©. 29). 

Die fo eben befprocdhenen und widerlegten Einwände gegen die 
Defeendenztheorie dürften wohl die wichtigften fein, welche ihr ent- 


Erforderniffe für’ das Berftändniß ber Abſtammungklehre. 637 


gegengehalten worden find. Ich glaube Ihnen deren Grundlofigfeit 
genügend dargethan zu haben. Die zahlreichen übrigen Einwürfe, 
welche außerdem noch gegen bie Entroidelungsfehre im Allgemeinen 
"oder gegen den biologifhen Theil derfelben, die Abſtammungslehre, 
im Befonderen erhoben worden find, beruhen entweder auf einer fol- 
hen Unfenntniß der empirifch feftgeftelften Thatſachen, oder auf einem 
ſolchen Mangel an rihtigem Berftändniß derfelben, und an Fähigkeit, 
die daraus nothwendig ſich ergebenden Folgefchlüffe zu ziehen, daß es 
wirklich nicht der Mühe fohnen würde, hier näher auf ihre Widerle- 
gung einzugehen. Nur einige allgemeine Geſichtspunkte möchte ich 
Ihnen in diefer Beziehung noch mit einigen Worten nahe legen. 
Zunaͤchſt ift hinſichtlich des erfterwähnten Punktes zu bemerken, 
daß, um die Abftamnungäfehre vollftändig zu verftehen, und um fich 
ganz von ihrer unerfchütterlihen Wahrheit zu überzeugen, ein allge- 
meiner Ueberblick über die Gefammtheit des biologifchen Erſcheinungs⸗ 
gebieted unerläßlih ift. Die Defcendenztheorie ift eine bio- 
logiſche Theorie, und man darf daher mit Fug und Recht vere 
fangen, daß diejenigen Leute, welches darüber ein gültiges Urtheil 
fällen wollen, den erforderlichen Grad biologifher Bildung befigen. 
Dazu genügt es nicht, daß fie in diefem oder jenem Gebiete der 
Zoologie, Botanik und Protiftit fpecielle Erfahrungstenntniffe befipen. 
Vielmehr müffen fie nothwendig eine allgemeine Ueberſicht der 
gefammten Erfheinungsreihen wenigſtens in einem der drei 
organifchen Reiche bejigen. Sie müffen willen, welche allgemeinen 
Gefepe aus der vergleichenden Morphologie und Phyfiologie der Dr- 
ganismen, in®befondere aus der vergleichenden Anatomie, aus der 
individuellen und paläontologifhen Entwidelungsgefchichte u. ſ. w. ſich 
ergeben, und fie müffen eine Borftellung von dem tiefen mechani⸗ 
ſchen, urfählihen Zufammenhang haben, in dem alle jene 
Erſcheinungsreihen ftehen. Selbftverftändlih ift dazu ein gewiſſer 
Grad allgemeiner Bildung und namentlich philofophifcher Erziehung 
erforderlich, den leider heutzutage nicht viele Leute für nöthig halten. 
Ohne die nothwendige Berbindung von empirifhen 


638 Wechfelwirtkung zwiſchen Exmpirie und Philofopgie. 
Kenntniffen und von philofophifhem Berftändniß der 
biofogifhen Erfheinungen kann die unerſchütterliche 
Ueberzeugung von der Wahrheit der Defcendenztheorie 
nit gewonnen werden. " 
Nun bitte ih Sie, gegenüber diefer erften Vorbedingung für 
das wahre Berftändniß der Defcendenztheorie, die bunte Menge von 
Leuten zu betrachten, die fi herausgenommen haben, über diefelbe 
mündlich oder ſchriftlich ein vernichtende® Urtheil zu fällen! Die 
meiften berfelben find Laien, welche die wichtigften biologiſchen Er⸗ 
ſcheinungen entweder gar nicht fennen, oder doch feine Borftellung 
von ihrer tieferen Bedeutung befipen. Was würden Sie von einem 
Laien fagen, der über die Zellentheorie urtheilen wollte, ohne je- 
mals Zellen gefehen zu haben, oder über die Wirbeltheorie, ohne 
jemals vergleichende Anatomie getrieben zu haben? Und doch begeg« 
nen Sie ſolchen läherlihen Anmaßungen in der Geſchichte der bio- 
logiſchen Defeendenztheorie alle Tage! Sie hören Taufende von Laien 
und von Halbgebildeten Darüber ein entfcheidendes Urtheil fällen, die 
weder von Botanit, noch von Zoologie, weder von vergleihender 
Anatomie, noch von Gewebelehre, weder von Paläontologie, noch von 
Embryologie Etwas wiſſen. Daher kömmt e8, daß, wie Hurley 
treffend fagt, die allermeiften gegen Darmin veröffentlichten Schrif- 
ten das Papier nicht werth find, auf dem fie gefchrieben wurden. 
Sie könnten mir einwenden, daß ja unter den Gegnem der 
Defcendenztheorie doch auch viele Naturforſcher, und felbft mande 
berühmte Zoologen und Botaniker find. Die lepteren find jedoch 
meift ältere Gelehrte, die in ganz entgegengefepten Anſchauungen alt 
geworden find, und denen man nicht zumuthen fann, noch am Abend 
ihres Lebens fich einer Reform ihrer, zur feften Gewohnheit gewor · 
denen, Weltanſchauung zu unterziehen. Sodann muß aber auch aus · 
drücklich hervorgehoben werden, daß nicht nur eine allgemeine Ueber 
fiht des ganzen biologifhen Erſcheinungsgebiets, fondern auch ein 
pbilofophifhes Verſtändniß deffelben nothwendige Borbedin- 
gungen für die überzeugte Annahme der Defcendenztheorie find. Run 


Wechſelwirkung zwiſchen Empirie und Philofophie. 639 


finden Sie aber gerade diefe unerläßlichen Borbedingungen bei dem 
größten Theile der heutigen Naturforfcher leider keineswegs erfüllt. 
Die Unmaffe von neuen empirischen Thatfachen, mit denen und die 
riefigen Fortſchritte der neueren Naturwiſſenſchaft befannt gemacht 
baben, bat eine vorberrfchende Neigung für das fpecielle Studium 
einzelner Erſcheinungen und kleiner engbegrenzter Erfahrungägebiete 
herbeigeführt. Darüber wird die Erkenntniß der übrigen Theile und 
namentlich de3 großen umfaffenden Naturganzen meift völlig vernach⸗ 
läfigt. Jeder, der gefunde Augen und ein Mikroſtop zum Beob- 
achten, Fleiß und Geduld zum Sigen hat, kann heutzutage durch 
mifroftopifche „Entdestungen” eine gewiſſe Berühmtheit erlangen, 
ohne doch den Namen eine Naturforfcherd zu verdienen. Diefer ge- 
bührt nur dem, der nicht bloß die einzelnen Erfcheinungen zu ken⸗ 
nen, fondern auch deren urfächlihen Zufammenhang zu erfennen 
firebt. Noch heute unterfuchen und befchreiben die meiften Paläon- 
tologen die Verfteinerungen, ohne die wichtigften Thatfachen der Em- 
bryotogie zu fennen. Andrerſeits verfolgen die Embryologen die Ent- 
widelungägefchichte des einzelnen organifchen Individuums, ohne eine 
Ahnung von ber paläontologifchen Entwidelungsgelchichte des ganzen 
zugehörigen Stammes zu haben, von welcher die Veriteinerungen be⸗ 
richten. Und doch ftehen diefe beiden Zweige der organifchen Ent« 
wicelungsgeſchichte, die Ontogenie oder die Gefchichte des Indivi- 
duumd, und die Phylogenie oder die Geſchichte des Stammes, im ' 
engften urfächlihen Zufammenhang, und die eine ift ohne die an« 
dere gar nicht zu verftehen. Aehnlich ſteht e8 mit dem fyitemati« 
fen und dem anatomifhen Theile der Biologie. Noch heute giebt 
es in der Zoologie und Botanik zahlreiche Syſtematiker, welde in 
dem Irrthum arbeiten, durch bloße forgfältige Unterfuchung der äufe- 
en und leicht zugänglichen Körperformen, ohne die tiefere Kenntniß 
ihres inneren Baues, das natürliche Syftem der Thiere und Pilan- 
zen conftruiren zu fönnen. Andrerſeits giebt ed Anatomen und Hi⸗ 
ftologen, welche das eigentliche Verftändniß des Thier- und Pflanzen 
törperö bloß durch die genauefte Erforſchung des inneren Körperbaues 


640 Wechſelwirtung zwiſchen Empirie und Philoſophie. 
einer einzelnen Species, ohne die vergleichende Betrachtung der ge⸗ 
ſammten Körperform bei allen verwandten Organismen, gewinnen 
zu fönnen weinen. Und doch fteht auch hier, wie überall, Inneres 
und Aeußeres, Vererbung und Anpaffung in der engften Wechſelbe ⸗ 
ziehung, und dad Einzelne fann nie one Bergleihung mit dem zu- 
gehörigen Ganzen wirklich verftanden werben. Jenen einfeitigen 
Facharbeiter möchten wir daher mit Goethe zurufen: 

„Müffet im Naturbetrachten 

„Immer Eins wie Alles adten. 

„Nichts ift drinnen, Nichts ift draußen, 

„Denn was innen, das ift außen.“ 
und weiterhin: 

„Ratur bat weber Kern noch Schale, 

„Alles ift fie mit einem Male.“ 

Noch viel nachtheiliger aber, als jene einfeitige Richtung, ift für 
das allgemeine Berftändnig des Naturganzen der Mangel an phi- 
lofophifher Bildung, dur welchen ſich die meiften Ratınfor- 
fher der Gegenwart auszeichnen. Die vielfachen Berirrungen der 
früheren fpefulativen Naturphilofophie, aus dem erften Drittel un- 
ſeres Jahrhunderts, haben bei den exakten empirifhen Raturforfchern 
die ganze Philofophie in einen ſolchen Mißkredit gebracht, daß die _ 
felben in dem fonderbaren Wahne leben, da® Gebäude der Ratur- 
wiſſenſchaft aus bloßen Thatfachen, ohne philofophifche Berfnüpfung 
derfelben, aus bloßen Kenntniflen, ohne Berftändnig derfelben, auf ⸗ 
bauen zu fönnen. Während aber ein rein fpeculatives, abſolut phie 
loſophiſches Lehrgebäude, welches fich nicht um die unerläßlihe Grund- 
Tage der empirifchen Thatfachen fünmert, ein Luftſchloß wird, das 
die erfte befte Erfahrung über den Haufen wirft, fo bleibt andrer- 
ſeits ein rein empiriſches, abfolut aus Thatfachen zufammengejeptee 
Lehrgebäude ein wüfter Steinhaufen, der nimmermehr den Ramen 
eines Gebäudes verdienen wird. Die nadten, durch die Grfahrung 
fergeftellten Ihatfachen find immer nur die rohen Baufteine, und 
ohne die denfende Berwerthung, ohne die philofophifhe Berfnüpfung 


Wechſelwirkung zwiſchen Empirie und Philoſophie. 641 


derfelben kann eine Wiſſenſchaft fih aufbauen. Wie ih Ihnen ſchon 
früher eindringlich vorzuftellen.verfuchte, entfteht nur durch die 
innigfte Wechſelwirkung und gegenfeitige Durchdrin— 
gung von Philofophie und Empirie das unerfchütter- 
fihe Gebäude der wahren, moniftifhen Wiſſenſchaft, 
oder was dafielbe ift, der Naturwiſſenſchaft. 

Aus diefer beflagendwerthen Entfremdung der Raturforfhung 
von der Philofophie, und aus dem rohen Empirismus, der heut- 
zutage leider von den meiften Raturforfchern als „eracte Wiſſenſchaft 
gepriefen wird, entfpringen jene feltfamen Querfprünge ded Berftan- 
des, jene groben Berftöße gegen die elementare Logik, jened Unver⸗ 
mögen zu den einfachſten Schlußfolgerungen, denen Sie heutzutage 
auf allen Wegen der Naturwiffenfchaft, ganz befonderd aber in der 
Zoologie und Botanif begegnen können. Hier rächt ſich die Ver⸗ 
nachlaͤſſigung der philofophifchen Bildung und Schulung de Geiftes 
unmittelbar auf dad Empfindlichſte. Es ift daher nicht zu verwun⸗ 
dern, wenn jenen rohen Empirifern auch die tiefe innere Wahrheit 
der Defcendenztheorie gänzlich verſchloſſen bleibt. Wie daß triviale 
Sprichwort fehr treffend fagt, „fehen fie den Wald vor lauter Bäu- 
men nicht.” Nur durch allgemeinere philofophifhe Studien und na» 
mentlich durch ftrengere logiſche Erziehung des Geiſtes kann diefem 
fehlimmen Uebelftande auf die Dauer abgeholfen werden (vergl. Gen. 
Morph. I, 63; II, 447). 

Benn Sie dieſes Verhältniß recht erwägen, und mit Bezug auf 
die empirifhe Begründung der philofophifchen Entwickelungstheorie 
weiter darüber nachdenken, fo wird ed Ihnen auch alabald klar wer- 
den, wie es ſich mit den vielfach geforderten Beweifen für die 
Defeendenztheorie verhält. Je mehr fi die Abftammungs- 
lehre in den legten Jahren allgemein Bahn gebrochen hat, je mehr 
ſich alle wirklich denkenden jüngeren Naturforfcher und alle wirklich 
biologifh gebildeten Philofophen von ihrer inneren Wahrheit und 
Unentbehrlichteit überzeugt haben, defto lauter haben die Gegner der» 
felben nad thatfächlihen Beweiſen dafür gerufen. Diefelben Leute, 

Hardel, Natürl. Schöpfungsgeig. 5. Aufl. 4 


642 Beweiſe für die Wahrheit der Deſcendenztheorie. 


welche kurz nach dem Erfheinen von Darmwin's Werke daſſelbe für 
ein „bodenlofes Phantafiegebäude”,.für eine „willkürliche Specu- 
lation“, für einen „geiftreihen Traum“ erklärten, diefelben laſſen 
fich jept gütig zu der Erflärung herab, daß die Defcendenztheorie 
allerding3 eine wiſſenſchaftliche „Hypotheſe“ fei, daß diefelbe aber 
erit noch „bewiefen” werden mülle. Wenn diefe Aeußerungen von 
Leuten gefhehen, die nicht die erforderliche empirifch - philofophifche 
Bildung, die nicht die nöthigen Kenntniſſe in der vergleichenden Ana⸗ 
tomie, Embryofogie und Paläontologie befipen, fo läpt man ſich 
das gefallen, und vermeift fie auf die in jenen Wiſſenſchaften nieder- 
gelegten Argumente. Wenn aber bie gleichen Aeußerungen von an 
erfannten Fachmännern gefchehen, von Lehrern ber Zoologie und Bor 
tanit, die doch von Rechtswegen einen Ueberblid über da8 Geſammt ⸗ 
gebiet ihrer Wiſſenſchaft befigen follten, oder die wirklich mit den 
Thatfachen jener genannten Wiſſenſchaftsgebiete vertraut find, dann 
weiß man in der That nicht, was man dazu fagen fol. Diejeni ⸗ 
gen, benen felbft der jetzt bereit® gewonnene Schap an empirifcher 
Naturkenntnig nicht genügt, um darauf die Defcendenztheorie ſicher 
zu begründen die werden aud) durch feine andere, etwa noch fpäter 
zu entdedende Thatfache von ihrer Wahrheit überzeugt werden. Denn 
man fann fich feine Berhältniffe vorftellen, welche ftärkere und voll« 
gültigered Zeugniß für die Wahrheit der Abftammungslehre ablegen 
tönnten, als es z. B. die befannten Thatſachen der vergleichenden 
Anatomie und Ontogenie ſchon jept thun. Ich muß Sie hier wie- 
derholt darauf hinweifen, daß alle großen, allgemeinen Ge» 
fepe und alle umfaffenden Erfheinungsreihen der ver- 
ſchiedenſten biologifchen Gebiete einzig und allein durch 
die Entwidelungstheorie (und fpeciell durch den biologiſchen 
Theil derfelben, die Deftendenztheorie) erklärt und verſtanden 
werben önnen, und daß fie ohne diefelbe gänzlich unerflärt und 
unbegriffen bfeiben. Sie alle begründen in ihrem inneren ur« 
fählihen Zufammenhang die Defcendenztheorie ald das größte 
biologifhe Inductiondgefep. Erlauben Sie mir, Ihnen ſchließlich 


Beweife für die Wahrheit der Defcendenztheorie. 643 


nochmals alle jene Inductionsreihen, alle jene allgemeinen bio- 
logiſchen Gefepe, auf welchen diefed umfaflende Entwidelungägefeß 
unumftößli feft ruht, im Zufammenhange zu nennen: 

1) Die paläontologifhe Entwidelungsgefhichte 
der Organismen, das ftufenweife Auftreten und die hiftorifche 
Reihenfolge der verfchiedenen Arten und Artengruppen, die empiri« 
ſchen Geſetze des paläontologifchen Artenwechſels, wie fie und durch 
die Verſteinerungskunde geliefert werden, insbeſondere die fort- 
fhreitende Differenzirung und Bervolltommnung der 
Thier⸗ und Pflangengruppen in den auf einander folgenden Perioden 
der Erdgefchichte. 

2) Die individuelle Entwidelungsgefhinhte der Dr» 
ganidmen, die Embroologie und Metamorphologie, die flufen- 
weifen Veränderungen in der almählichen Ausbildung des Körpers 
und feiner einzelnen Organe, namentlich die fortfhreitende Dif- 
ferenzirung und Bervolltommnung der Organe und Kör- 
pextheile in den auf einander folgenden Perioden der individuellen 
Entridelung. 

3) Der innere urfählihe Zufammenhang zwifhen 
der Ontogenie und Phylogenie, der Paralleliamus zwifchen 
ber individuellen Entwidelungsgefchichte der Organismen und der pa⸗ 
laͤontologiſchen Entwitelungsgefchichte ihrer Borfapren, ein Caufal- 
neguß, der durch die Gefepe der Vererbung und Anpaffung 
thatfäghlich begründet wird, und der fih in den Worten zufammen- 
faſſen läßt: Die Ontogenie wiederholt in großen Zügen nad) den Ge- 
fegen der Vererbung und Anpaflung das Gefammtbild der Phylogenie. 

4) Die vergleihende Anatomie der Organidmen, der 
Nachweis von der wefentlichen Uebereinftimmung des inneren Baues 
der verwandten Organismen, trop der größten Berfchiedenheit der 
äußeren Form bei den verſchiedenen Arten, die Erklärung derfelben 
durch die urſächliche Abhängigkeit der inneren Uebereinftimmung des 
Baues von der Bererbung, der äußeren Ungleihheit der Körper- 
form von der Anpaffung. 

N 41* 





644 Beweiſe filr bie Wahrheit der Defeenbenztheorie. 

5) Der innere urfählihe Zufammenhang zwiſchen 
der vergleihenden Anatomie und Entwidelungsge- 
ſchichte, die harmonifche Uebereinftimmung zwifhen den Gefegen 
der ftufenmweifen Ausbildung, der fortfhreitenden Differenzi- 
rung und Bervollfommnung, wie fie und durch die verglei« 
ende Anatomie auf der einen Seite, durch die Ontogenie und Palä- 
ontologie auf der anderen Seite Mar vor Augen gelegt werben. 

6) Die Unzwedmäßigfeitslehre oder Dysteleologie, 
wie ich früher die Wiffenfehaft von den rudimentären Or— 
ganen, von den verfümmerten und entarteten, ziedllofen und un« 
thätigen Körpertheilen genannt habe; einer der wichtigften und in« 
tereffanteften Theile der vergleichenden Anatomie, weldher, richtig ger 
würdigt, für ſich allein ſchon im Stande ift, den Grundirrthum der 
teleologiſchen und dualiftifhen Naturbetrachtung zu widerlegen, und 
die alleinige Begründung der mechaniſchen und moniftifchen Welt ⸗ 
anſchauung zu bemeifen. 

7) Das natürlihe Syſtem der Organismen, die na« 
türfihe Gruppirung aller verfchiedenen Formen von Thieren, Pflan- 
zen und Protiften in zahlreiche, Meinere und größere, neben und über 
einander geordnete Gruppen; der verwandtſchaftliche Zufammenhang 
der Arten, Gattungen, Familien, Ordnungen, Klaffen, Stämme 
u. ſ. w.; ganz befonder® aber die baumförmig verzweigte 
Geftalt des natürlihen Syſtems, welche aus einer naturge ⸗ 
mäßen Anordnung und Zufammenftellung aller diefer Gruppenftufen 
oder Kategorien fih von felbft ergiebt. Die ſtufenweis verſchiedene 
Formverwandtfchaft derfelben ift nur dann erflärlih, wern man 
fie als Ausdrud der wirklichen Blutsverwandtfchaft betrachtet; 
die Baumform des natürlihen Syſtems fann nur ald wirt 
licher Stammbaum der Organismen verftanden werden. 

8) Die Chorologie der Organismen, die Wiſſenſchaft 
von der räumlichen Verbreitung der organifhen Species, von ihrer 
geographifhen und topographifhen Vertheilung über 
die Erdoberfläche, über die Höhen der Gebirge und die Tiefen 


Beweiſe für die Wahrheit der Defcendenzthesrie. 645 
des Meeres, indbefondere die wichtige Erfheinung, daß jede Drga- 
nismenart von einem fogenannten „Schöpfungsmittelpunfte” 
(riätiger „Urheimath“ oder „Ausbreitungscentrum“ genannt) 
ausgeht, d. h. von einem einzigen Orte, an welchem diefelbe einmal 
entftand, und von dem auß fie fich verbreitete. 

9) Die Decologie der Organismen, die Wiffenfhaft von 
den gefammten Beziehungen der Organismen zur um— 
gebenden Außenwelt, zu den organiſchen und anorganiſchen 
Exiſtenzbedingungen; die fogenannte „Defonomie der Natur“, 
die Wechfelbeziehungen aller Organismen, welche an einem und dem ⸗ 
felben Orte mit einander leben, ihre Anpaffung an die Umgebung, 
ihre Umbildung durd den Kampf um's Dafein, indbefondere die 
Berhältniffe ded Parafitismus u. ſ. w. Gerade diefe Erfheinungen 
der „Naturdkonomie“, welche der Laie bei oberflächlicher Betrachtung 
als die weifen Einrihtungen eine® planmäßig wirkenden Schöpferd 
anzufehen pflegt, zeigen fich bei tieferem Eingehen als die nothwen⸗ 
digen (Folgen mechaniſcher Urfachen. 

10) Die Einheit dergefammten Biologie, der tiefe in⸗ 
nere Zufammenhang, welcher zwiſchen allen genannten und allen übri« 
gen Erfheinungsreihen in der Zoologie, Protiftit uud Botanik befteht, 
und welcher fi) einfach und natürlich aus einem einzigen gemein» 
famen runde derfelben erflärt. Diefer Grund fann fein anderer 
fein, als die gemeinfame Abftammung aller verfhiedenartigen Drga- 
nismen bon einer einzigen, oder mehreren, abfolut einfachen Stamm- 
formen, gleich den organlofen Moneren. Indem die Defeendenztheorie 
diefe gemeinfame Abftammung annimmt, wirft fie fomohl auf jene 
einzelnen Erſcheinungsreihen, als auf die Gefammtheit derfelben ein 
erllaͤrendes Licht, ohme welches fie und in ihrem inneren urfächlichen 
Zufammenhang ganz unverftändfich bleiben. Die Gegner der Defcen- 
denztheorie vermögen und weder eine einzige von jenen Erſcheinungs⸗ 
reihen, noch ihren inneren Zufammenhang unter einander irgendivie 
zu erflären. So lange fie dies nidht vermögen, bleibt die Abftam-» 
mungslehre die unentbehrlichfte biologifche Theorie. 


646 Begründung ber Defeenbenztheorie durch bie Selectionttheorie. 

Auf Grund der angeführten großartigen Zeugniffe würben wir 
Lamarck's Deſcendenztheorie zur Erklärung der biologifchen Phäno- 
mene feldft dann annehmen müflen, wenn wir nicht Darwin's Ce- 
lectionätheorie befägen. Run kommt aber dazu, daß die erftere durch 
die feptere fo vollftändig direkt bewiefen und durch mechaniſche 
Urſachen begründet wird, wie wir ed nur verlangen können. Die Ge- 
fepe der Bererbung und der Anpaffung find allgemein anerkannte 
phyſiologiſche Thatfachen; jene find auf die Fortpflanzung, 
diefe auf die Ernährung der Zellen zurüdführbar. Andrerfeit if 
der Kampf um's Dafein eine biologifhe Thatſache, welche mit 
mathematifcher Nothwendigkeit aus dem allgemeinen Mifverhältnig 
zbiſchen der Durchſchnittszahl der organiſchen Individuen und der 
Ueberzahl ihrer Keime folgt. Indem aber Anpaſſung und Vererbung 
im Kampf um's Dafein fih in beftändiger Wechſelwirkung befinden, 
folgt daraus unvermeidlich dienatürliche Züchtung, welche überall 
und beftändig umbildend auf die organifchen Arten einwirkt, und neue 
Arten durh Divergenz des Charakters erzeugt. Beſonders ber 
günftigt wird ihre Wirkfamfeit noch durch die überall ftattfindenden 
aktiven und paffiven Wanderungen der Organismen. Wenn wir 
diefe Umftände recht in Erwägung ziehen, fo erfheint un® die beftän- 
dige und allmähliche Umbilbung oder Tranamutation der organiſchen 
Species als ein biologifher Prozeß, welcher nach dem Caufalgefep mit 
Nothwendigkeit aus der eigenen Natur der Organismen und 
ihren gegenfeitigen Wechfelbeziehungen folgen muß. 

Daß auch der Urfprung des Menſchen auß diefem allge- 
meinen organifchen Umbildungsvorgang erklärt werden muß, und daß 
ex fih aus diefem ebenfo einfach ald natürlich erflärt, glaube ich Ihnen 
im vorlegten Bortrage hinreichend bewiefen zu haben. Ich kann aber 
hier nicht umhin, Sie nochmals auf den ganz unzertrennlichen Zufam- 
menbang diefer fogenannten „Aftenlehre“ oder „Pithekoidentheorie” 
mit der gefammten Defcenbenztheorie hinzuweiſen. Wenn die feptere 
das größte Inductiondgefeg der Biologie ift, fo folgt daraus bie 
erftere mit Nothiwendigteit, als das wichtigfte Deductiondgefeg 


Imbuctionsfchläffe und Deductionsſchluſſe. 647 


derfelben. Beide ftehen und fallen mit einander. Da auf das richtige 
Verſtãndniß dieſes Sapes, den ich für höchſt wichtig halte und deshalb 
ſchon mehrmals hervorgehoben habe, hier Alles anfommt, fo erlauben 
Sie mir, denfelben jept noch an einem Beiſpiele zu erläutern. 

Bei allen Säugethieren, die wir kennen, ift der Gentraltheil des 
Nervenſyſtems dad Rüdenmark und das Gehim, und der Gentraltheil 
des Blutkreislaufs ein vierfächeriged, aus zwei Kammern unb zwei 
Borkammern zufammengefepte® Herz. Wir ziehen daraus den allge- 
meinen Inductionsfhluß, daß alle Säugetiere ohne Ausnahme, 
die audgeftorbenen und die und noch unbefannten lebenden Arten, eben 
fo gut wie die von und unterfuchten Specieß, die gleiche Organifation, 
ein gleiches Herz, Gehirn und Rückenmark befigen. Wenn nun in 
irgend einem Erdtheile, wie es noch jept alljährlich vortömmt, irgend 
eine neue Säugethierart entdedt wird, 3. B. eine neue Beutelthierart, 
oder eine neue Hirfhart, oder eine neue Affenart, fo weiß jeder Zoolog 
von vornherein, ohne den inneren Bau berfelben unterfucht zu haben, 
ganz beftimmt, daß diefe Species, eben fo wie alle übrigen Säuge- 
thiere, ein vierfächeriged Herz, ein Gehim und ein Rüdenmark be« 
figen muß. Keinem einzigen Naturforſcher fällt e8 ein, daran zu zwei⸗ 
fein, und etwa zu denfen, daf das Eentralnerenfyftem bei diefer neuen 
Säugethierart möglicherweife aus einem Bauchmark mit Schlundring, 
wie bei den Bliederthieren, oder aus zerftreuten Anotenpaaren, wie bei 
den Weichthieren beftehen könnte, oder daß dad Herz viellammerig, 
wie bei den Infekten, oder einfammerig, wie bei den Mantelthieren 
fein fönnte. Jener ganz beftimmte und fihere Schluß, welcher doc 
auf gar feiner unmittelbaren Erfahrung beruht, ift ein Deductiond- 
ſchluß. Ebenſo begründete Goethe, wie ich in einem früheren Bor- 
trage zeigte, aus der vergleichenden Anatomie der Säugethiere den 
altgemeinen Inductionsſchluß, daß diefelben fämmtlich einen Zwifchen- 
tiefer befigen, und zog daraus fpäter den befonderen Deductionsfchluß, 
daß aud) der Menfch, der in allen übrigen Beziehungen nicht wefent- 
lid) von den anderen Säugethieren verfchieden fei, einen ſolchen Zwi⸗ 
ſchenkiefer befigen müffe. Er behauptete diefen Schluß, ohne den Zwi ⸗ 


648 Induction und Deductien. 


ſchenkiefer des Menſchen wirklich geſehen zu haben, und bewies deſſen 
Exiſtenz erſt nachträglich durch die wirkliche Beobachtung (S. 76). 
Die Ind uetion if alfo ein logiſches Schlußverfahren aus dem 
Befonderen auf dad Allgemeine, aus vielen einzelnen Erfah- 
rungen auf ein allgemeine® Geſetz; die Deduction dagegen fchließt 
aus dem Allgemeinen auf das Befondere, aus einem allge 
meinen NRaturgefege auf einen einzelnen Fall. So ift nun auch ohne 
allen Zweifel die Defcendenztheorie ein durch alle genannten 
biologifhen Erfahrungen empirifch begründete® großes Inbuctiond« 
sefep; die Pithetoidentheorie dagegen, die Behauptung, da 
der Menfch fih aus niederen, und junächft aus affenartigen Säuge ⸗ 
thieren, entroidelt habe, ein einzelne® Deductiondgefep, welches 
mit jenem allgemeinen Inductionsgeſehe ungertrennfich verbunden ift. 
Der Stammbaum des Menſchengeſchlechts, deſſen ungefähre Um- 
tiffe ich Ihnen im vorlegten Vortrage gegeben habe, bleibt natürlich 
(gleich allen vorher erörterten Stammbäumen der Thiere und Pflanzen) 
in allen feinen Einzelheiten nur eine mehr oder weniger annähernde 
genealogifche Hypothefe. Dies thut aber der Anwendung der Defcen- 
denztheorie auf den Menfchen im Ganzen feinen Eintrag. Hier, wie 
bei allen Unterſuchungen über die Abftammungsverhältniffe der Orga- 
nismen, müfjen Sie wohl unterfcheiden zwifchen der allgemeinen ober 
generellen Defcendenz-Theorie, und der befonderen oder fpeciellen 
Deſcendenz⸗Hypot heſe. Die allgemeine Abftammungs- Theorie 
beanfprucht volle und bleibende Geltung, weil fie durch alle vorher ge- 
nannten allgemeinen biofogifchen Erfcheinungsreihen und durch deren 
inneren urfächlihen Zufammenhang inductiv begründet wird. Jede 
befondere Abftammungd-Hypothefe dagegen ift in ihrer fpeciellen 
Geltung durch den jeweiligen Zuftand unferer biologiſchen Erkenntniß 
bedingt, und durch die Ausdehnung der objektiven empirifchen Grund · 
lage, auf welche wir durch fubjektive Schfüffe diefe Hypotheſe debuctiv 
gründen. Daher befigen alle einzelnen Verſuche zur Erfenntniß des 
Stammbaums irgend einer Drganiömengruppe immer nur eineh zeit ⸗ 
weiligen und bedingten Werth, und unfere ſpecielle Hypotheſe darüber 


Defcendenztgeorie und Deſtendenzhypotheſe. 649 


wird immer mehr vervollfommnet werben, je weiter wir in der ver⸗ 
gleihenden Anatomie, Ontogenie und Paläontologie der betreffenden 
Gruppe fortfhreiten. Je mehr wir un® dabei aber in genealogifche 
Einzelheiten verlieren, je weiter wir die einzelnen Aeſte und Zweige 
ded Stammbaumes verfolgen, defto unficherer und fubjektiver wird, 
wegen der Unvoliftänbigkeit der empirifchen Grundlagen, unfere fpecielle 
Abſtammungs⸗Hypot heſe. Died thut jedoch der Sicherheit der, 
generellen Abftammungs- Theorie, welche das unentbehrlihe Fun- 
dament für jedes tiefere Verſtaͤndniß der biologifchen Erfcheinungen ift, 
feinen Abbruch. So erleidet es denn auch feinen Zweifel, daß wir die 
Abftammung des Menfchen zunaͤchſt aus affenartigen, weiterhin aus 
niederen Säugethieren, und fo immer weiter aus immer tieferen Stu- 
fen des Wirbelthierftammes, bis zu deſſen tiefften wirbellofen Wurzeln, 
ja bis zu einer einfachen Plaſtide herunter, als allgemeine Theorie 
mit voller Sicherheit behaupten können und müflen. Dagegen wird 
die fpecielle Verfolgung des menfchlihen Stammbaumd , die nähere 
Beftimmung der und befannten Thierformen, welche entweder wirklich 
zu den Borfahren des Menfchen gehörten oder diefen wenigſtens nächft- 
ftehende Blutöverwandte waren, ſtets eine mehr oder minder an« 
nähernde Deſcendenz ⸗ Hyp ot heſe bleiben, welche um fo mehr Gefahr 
läuft, fi von dem wirklichen Stammbaum zu entfernen, je näher fie 
demfelben durch Auffuhung der einzelnen Ahnenformen zu kommen 
fucht. Dies ift mit Nothwendigkeit durch die ungeheure Lüdenhaftig- 
feit unferer paläontologifchen Kenntniſſe bedingt, welche unter feinen 
Umftänden jemals eine annähernde Voliftändigfeit erreichen werden. 

Aus der denkenden Erwägung diefed wichtigen Berhältniffes er- 
giebt fich auch bereits die Antwort auf eine Frage, welche gewöhnfich 
zunächft bei Beſprechung dieſes Gegenftandes aufgeworfen wird, näm« 
lich die Frage nach den wiffenfhaftlichen Beweifen für den thie- 
riſchen Urfprung des Menfhengefhlehts. Nicht allein die 
Gegner der Defcendenztheorie, fondern auch viele Anhänger derfelben, 
denen bie gehörige philofophifche Bildung mangelt, pflegen dabei vor⸗ 
zugsweiſe an einzelne Erfahrungen, an fpecielle empirische Fortſchritte 


650 Beweiſe für den thieriſchen Urſprung des Meuſchen. 


der Naturwiſſenſchaft zu denken. Man erwartet, dag plöplich die Ent⸗ 
dedtung einer gefchroängten Menſchenraſſe ober einer ſprechenden Affen ⸗ 
art, oder einer anderen lebenden oder foffilen Uebergangsform zwiſchen 
Menfhen und Affen, die zwiſchen beiden beftehende enge Kluft noch 
mehr ausfüllen und fomit die Abftammung des Menfchen vom Affen 
empirifch „beweifen“ foll. Derartige einzelne Erfahrungen, und wären 

‚fie anſcheinend noch fo überzeugend und beweiöfräftig, fönmen aber 
niemals den gewünfchten Beweis liefern. Gedankenloſe oder mit den 
biologifchen Erſcheinungsreihen unbekannte Leute werden jenen einzel» 
nen Zeugniffen immer diefelben Einwände entgegen halten fönnen, 
die fie umferer Theorie auch jept entgegen halten. 

Die unumftößliche Sicherheit der Defcendenz- Theorie, auch in 
ihrer Anwendung auf den Menſchen, liegt vielmehr viel tiefer, und 
tann niemal® bloß durch einzelne empirifche Erfahrungen, fondern nur 
dur philofophiiche Vergleichung und Berwerthung unſeres gefammten 
biologiſchen Erfahrungsfhages in ihrem wahren inneren Werthe er- 
tannt werden. Sie liegt eben darin, daß die Defcendenztheorie ald 
ein allgemeine® Inductionagefep aus der vergleichenden Syntheſe aller 
organifchen Naturerſcheinungen, und in®befondere aus der dreifachen 
Parallele der vergleichenden Anatomie, Ontogenie und Phylogenie mit 

Nothwendigkeit folgt; und die Pitheloidentheorie bleibt unter allen 
Umpftänden (ganz abgefehen von allen Einzelbeweifen) ein fperieller 
Deductionsſchluß, welcher wieder aus dem generellen Inductiondgefeg 
der Defcendenztheorie mit Nothwendigkeit gefolgert werden muß. 

Auf das richtige Berftändniß diefer philofophifchen Begrün- 
dung der Defcendenztheorie und ber mit ihr ungertrennlich 
verbundenen Pithekoidentheorie kommt meiner Anſicht nad) Alles 
an. Viele von Ihnen werden mir dies vielleicht zugeben, aber mir 
zugleich entgegen halten, daß das Alles nur von der förperlichen, 
nicht von der geiftigen Entwidelung des Menfchen gelte. Da wir 
nun bisher und bloß mit der erfteren befchäftigt haben, fo ift e& wohl 
nothwendig, hier auch noch auf die leptere einen Dlid zu werfen, und 
zu zeigen, daß auch fie jenem großen allgemeinen Entwidelungägefepe 


Stufenweiſe Entroidelung des menſchlichen Seelenlebens. 651 


unterworfen iſt. Dabei ift es vor Allem nothwendig, fih in's Ge- 
dãchtniß zurüdgurufen, wie überhaupt das Geiftige vom Körperlichen 
nie völlig geſchieden werden kann, beide Seiten der Natur vielmehr 
ungertrennlich verbunden find, und in ber innigften Wechſelwirkung 
mit einander fteben. Wie fhon Goethe Mar ausſprach, „kann die 
Materie mie ohne Geift, der Geift nie ohne Materie exiſtiren und wirk⸗ 
fam fein“. Der künftlihe Zwiefpalt, welchen die falfche dualiftifche 
und teleologifche Philofophie der Bergangenheit zwifchen Geift und 
Körper, zwiſchen Kraft und Stoff aufrecht erhielt, ift Durch die Fort» 
ſchritte der Naturerfenntniß und namentlich der Entwidelungslehre auf ⸗ 
gelöft, und kann gegenüber der fiegreichen mechanifchen und monifti« 
ſchen Philoſophie unferer Zeit nicht mehr beftehen. Wie demgemäß 
die Menſchennatur in ihrer Stellung zur übrigen Welt aufgefaßt wer- 
den muß, hat in neuerer Zeit befonderd Radenhaufen in feiner 
vortrefflichen „Ifis“ 3°) und Hartmann in feiner berühmten „Phi« 
loſophie des Unbewußten” ausführlich erörtert. 

Was nun fpeciell den Urfprung des menfchlichen Geiſtes oder der 
Seele des Menfchen betrifft, fo nehmen wir zunächft an jedem menfch« 
lichen Individuum wahr, daß ſich diefelbe von Anfang an ſchrittweiſe 
und allmählich entwidelt, ebenfo wie der Körper. Wir ſehen am neu» 
geborenen Kinde, daß daſſelbe weder felbftftändiges Bewußtfein, noch 
überhaupt Mare Borftellungen befigt. Diefe entftehen erft allmählich, 
wenn mittelft der ſinnlichen Erfahrung die Erfheinungen der Außen- 
welt auf das Eentralnervenfyftem einwirfen. Aber noch entbehrt das 
Meine Kind aller jener differenzirten Seelenbewegungen, welche ber er⸗ 
wachſene Menſch erft durch langjährige Erfahrung erwirbt. Aus diefer 
flufenweifen Entwidelung der Menfchenfeele in jedem einzelnen Indivie 
duum konnen wir nun, gemäß dem innigen urſächlichen Zufammen« 
bang zwiſchen Ontogenie und Phylogenie, unmittelbar auf die ſtufen⸗ 
weife Entwidelung der Menfchenfeele in der ganzen Menfchheit und 
weiterhin in dem ganzen Wirbelthierftamme zurüchſchließen. In um 
zertrennlicher Berbindung mit dem Körper hat auch der Geift des Men⸗ 
ſchen alle jene langſamen Stufen der Entwidelung, alle jene einzelnen 


652 Vergleichung de& thierifchen und menſchlichen Seelenfebens. 


Schritte ber Differenzirung und Vervollkommnung durchmeſſen müffen, 
von welchen Ihnen die hypothetiſche Ahnenreihe des Menſchen im 
vorlegten Bortrage ein ungefähres Bild gegeben hat. 

Allerdings pflegt gerade diefe Vorftellung bei den meiften Men- 
ſchen, wenn fie zuerft mit der Entwidelungslehre befannt werden, den 
größten Anftoß zu erregen, weil fie am meiften den bergebrachten my ⸗ 
thologifchen Anfhauungen und den durch ein Alter von Jahrtaufenden 
geheiligten Vorurtheilen widerfpricht. Allein eben fo gut wie alle an- 
deren Funktionen der Organigmen muß nothwendig auch die Menfchen- 
ſeele ſich hiſtoriſch entwickelt haben, und die vergleichende Seelenlehre 
oder die empirifche Pſychologie der Thiere zeigt und Mar, daß diefe 
Entwidelung nur gedacht werden fann als eine ſtufenweiſe Hervorbil- 
dung aus der Wirbelthierfeele, als eine allmähliche Differenzirung und 
Bervolltommnung , welche erft im Laufe vieler Jahrtaufende zu dem 
herrlihen Triumph des Menfchengeiftes über feine niederen thieriſchen 
Ahnenftufen geführt hat. Hier, wie überall, ift die Unterfuhung der 
Entwidelung und die Bergleihung der verwandten Erfcheinungen der 
einzige Weg, um zur Erkenntniß der natürlichen Wahrbeit zu gelangen. 
Wir müfen alfo vor Allem, wie wir es auch bei Unterfuchung der 
törperlichen Enttvidelung thaten, die höchften thieriſchen Erfcheinungen 
einerfeit3 mit den niederften thierifhen, andrerfeit® mit den nieberften 
menſchlichen Erſcheinungen vergleihen. Das Endrefultat diefer Ber- 
gleihung ift, daß zwifhen den hödftentwidelten Thier- 
feelen und den tiefftentwidelten Menfchenfeelen nurein 
geringer quantitativer, aber fein qualitativer Unter: 
ſchied eriftirt, und daß diefer Unterfchied viel geringer ift, al® der 
Unterſchied zwiſchen den nieberften und hödhften Menfchenfeelen, oder 
als der Unterfchied zwiſchen den höchſten und nieberften Thierfeelen. 

Um ſich von der Begründung diefes wichtigen Reſultates zu über- 
zeugen. muß man vor Allem das Geiftesleben der wilden Raturvöffer 
und der Rinder vergleichend ftudiren 5!). Auf der tiefften Etufe menfch- 
licher Geiftesbildung ftehen die Auftralier, einige Stämme der poly · 
nefifhen Papuas. und in Afrifa die Bufchmänner, die Hottentotten 


Thierifcher Zuftand der niederſten Völker. 653 


und einige Stämme der Neger. Die Sprache, der wihtigfte Charakter 
des echten Menfchen, ift bei ihnen auf der tiefften Stufe der Ausbil- 
dung ftehen geblieben, und damit natürlich auch die Begriffsbildung. 
Manche diefer wilden Stämme haben nicht einmal eine Bezeichnung 
für Thier, Pflanze, Ton, Farbe und dergleichen einfachfte Begriffe, 
wogegen fie für jede einzelne auffallende Thier- oder Pflanzenform, 
für jeden einzelnen Ton oder Farbe ein Wort befigen. Es fehlen alfo 
felbft die mächftliegenden Abftractionen. In vielen folher Sprachen 
giebt es bloß Zahlwörter für Eins, Zwei und Drei; feine auftralifche 
Sprache zählt über Bier. Sehr viele wilde Völter können nur bie 
zehn oder zwanzig zählen, während man einzelne fehr gefcheidte Hunde 
dazu gebracht hat, bis vierzig und felbft über fechzig zu zählen. Und 
doch ift die Zahl der Anfang der Mathematik! Einzelne von den wil⸗ 
deften Stämmen im ſüdlichen Afien und öftlichen Afrika haben von der 
erften Grundlage aller menfchlichen Gefittung, vom Familienleben und 
der Ehe, noch gar feinen Begriff. Sie feben in umbherfchmeifenden 
Heerden beilammen, welche in ihrer ganzen Lebensweiſe mehr Aehn⸗ 
lichkeit mit wilden Affenheerden, als mit civilifirten Menfchen-Staaten 
befigen. Alle Verfuche, diefe und viele andere Stämme der niederen 
Menſchenarten der Kultur zugänglich zu machen, find bisher gefcheitert; 
es ift unmögfih, da menſchliche Bildung pflanzen zu wollen, wo der 
nötige Boden dazu, die menſchliche Gehirnvervolltommnung, noch 
fehlt. Noch feiner von jenen Stämmen ift durch die Kultur veredelt 
worden; fie gehen nur raſcher dadurch zu Grunde. Sie haben ſich 

kaum über jene tieffte Stufe des Uebergangs vom Menſchenaffen zum 
Affenmenfchen erhoben, welche die Stammeltern def höheren Menſchen ⸗ 
arten ſchon feit Jahrtaufenden überfehritten haben **). 

Betrachten Sie nun auf der anderen Seite die höchften Entwicke⸗ 
lungsſtufen des Seelenlebens bei den höheren Wirbelthieren, nament- 
lich Vögeln und Säugethieren. Wenn Sie in herfömmlicher Weife 
als die drei Hauptgruppen der verſchiedenen Seelenbewegungen das 
Empfinden, Wollen und Denfen unterſcheiden, fo finden Sie, dag in 
jeder diefer Beziehungen die höchft entroicelten Vögel und Säugethiere 


654 Seelenleben der Höheren Wirbelthiere. 


jenen nieberften Menſchenformen ſich an die Seite ftellen, oder fie ſelbſt 
entſchieden überflägeln. Der Wille ift bei den höheren Thieren ebenio 
entſchieden und ftart, wie bei charaktervollen Menſchen enttwidelt. Hier 
wie dort ift er eigentlich niemals frei, fondern ſtets durch eine Kette 
von urfählihen Vorftellungen bedingt (vergl. S. 212). Auch ftufen 
ſich die verfhiedenen Grade des Willens, der Energie und der Leiden- 
ſchaft bei den höheren Thieren ebenfo mannichfaltig, als bei den Men- 
ſchen ab. Die Empfindungen der höheren Thiere find nicht weni⸗ 
ger zart und warn, ald die der Menfchen. Die Treue und Anhäng- 
lichkeit des Hundes, die Mutterliebe der Löwin, die Gattenliebe und 
eheliche Treue der Tauben und der Inſeparables ift fprihmörtli, und 
wie vielen Menfchen konnte fie zum Mufter dienen! Wenn man bier 
die Tugenden als „Inftinkte” zu bezeichnen pflegt, fo verdienen fie 
beim Menſchen ganz diefelbe Bezeichnung. Was endlich dad Denten 
betrifft, deſſen vergleichende Betrachtung zweifeldohne die meiften 
Schwierigkeiten bietet, fo läßt ſich doch ſchon aus ber vergleihenden 
pſychologiſchen Unterfuhung, namentlich der kultivirten Hausthiere. 
fo viel mit Sicherheit entnehmen, daß die Vorgänge des Dentens bier 
nad) denfelben Gefegen, wie bei uns, erfolgen. Ueberall liegen Er⸗ 
fahrungen den Vorftellungen zu Grunde und vermitteln die Ertermtnig 
des Zufammenhangs zwifchen Urfache und Wirkung. Ueberall ift es, 
wie beim Menfchen, der Weg der Induction und Debuction, welcher 
die Thiere zur Bildung der Schlüffe führt. Offenbar ſtehen in allen 
diefen Beziehungen die höchſt entwidelten Thiere dem Menſchen viel 
näher ald den niederen Thieren, obgleich fie durch eine lange Kette 
von allmählichen Ztoifchenftufen auch mit den letzteren verbunden find. 
In Wundts trefflichen Borlefimgen über die Menſchen - und Thier- 
feele +*) finden ſich dafür eine Menge von Belegen. 

Wenn Cie nun, nad) beiden Richtungen hin vergleihend, die 
niederften affenähnlichften Menſchen, die Auftralneger, Bufhmänner, 
Andamanen u. f. w. einerfeit® mit diefen höchitentwidelten Thieren. 
3. B. Affen, Hunden, Elephanten, andrerfeits mit den höchftentwidelten 
Menſchen, einem Ariftoteles, Newton, Spinoza, Kant, La ; 


Seelenleben der nieberfien Thiere. - 655 


mard, Goethe zufammenftellen, fo wird Ihnen die Behauptung 
nicht mehr übertrieben erſcheinen, daß das Seelenleben der höheren 
Säugetbiere ſich flufenweife zu demjenigen des Menfchen entmwidelt 
bat. Wenn Sie hier eine ſcharfe Grenze ziehen wollten, fo müßten 
Sie diefelbe geradezu zwiſchen den höchitentwidelten Rulturmenfchen 
einerfeit8 und den roheften Naturmenfchen andrerfeit® ziehen, und 
fegtere mit den Thieren vereinigen. Das ift in der That die Anficht 
vieler Reifender, welche jene niederften Menſchenraſſen in ihrem Ba- 
terlande andauernd beobachtet haben. So fagt z. B. ein vielgereifter 
Engländer, welcher längere Zeit an der afritanifchen Wefttüfte lebte : 
„den Neger halte ich für eine niebere Menfchenart (Species) und 
tannı mich nicht entſchließen, als, Menſch und Bruder“ auf ihn herab- 
zuſchauen, man müßte denn auch den Gorilla in die Familie auf« 
nehmen“. Selbſt viele chriſtliche Miffionäre, welche nady jahrelanger 
vergeblicher Arbeit von ihren fruchtlofen Eivilifationabeftrebungen bei 
den niederftien Böltern abftanden, fällen daſſelbe harte Urtheil, und 
behaupten, daß man eher die bildungsfähigen Haustiere, ald dieſe 
unvernünftigen viehiſchen Menfchen zu einem gefitteten Kulturleben 
erziehen könne. Der tühtige öfterreihifche Miffionär Morlang z. B. 
welcher ohne allen Erfolg viele Jahre hindurch die affenartigen Neger⸗ 
ftämme am oberen Ril zu civilifiren fuchte, fagt ausbrüdlih, „daß 
unter ſolchen Wilden jede Miffion durchaus nuplos fei. Sie ftänden 
weit unter den unvernünftigen Thieren ; diefe lepteren legten Doch we⸗ 
nigften® Zeichen der Zuneigung gegen Diejenigen an den Tag, bie 
freundlich gegen fie find; während jene viebifchen Eingeborenen allen 
Gefühlen der Dankbarkeit völlig unzugänglich feten.” 

Wenn nun aus diefen und vielen anderen Zeugniffen zuverlaͤſſig 
hervorgeht, daß die geiftigen Unterfchiede zwiſchen den niederften Men ⸗ 
fen und den höchſten Thieren geringer find, als diejenigen zwiſchen 
den nieberften und den höchften Menfchen,, und wenn Sie damit die 
Thatſache zufammenhalten, daß bei jedem einzelnen Menfchenkinde ſich 
das Geiftesleben aus dem tiefften Zuftande thierifher Bewußtloſigleit 
heraus langſam. ftufenmweife und allmäplich entwickelt, follen wir dann 


656 Fortſchreitende Enttoidelung des Menſchengeſchlechts. 


noch daran Anftop nehmen, daß auch der Geift des ganzen Menfchen- 
geſchlechts ſich in gleicher Art langfam und ftufenweife hiſtoriſch ent- 
widelt hat? Und follen wir in diefer Thatfache, daß die Menfchenfeele 
durch einen langen und langfamen Prozeß der Differenzirung und Ber- 
volltommnung fih ganz allmählich aus der Wirbelthierfeele hervorge · 
bildet hat, eine „Entwürdigung” des menſchlichen Geiftes finden? Ich 
geftehe Ihnen offen, daß diefe letztere Anfchauung, welche gegenwärtig 
von vielen Menfchen der Pithekoidentheorie entgegengehaften wird, 
mir ganz unbegreiflih ift. Sehr richtig fagt darüber Bernhard 
Cotta in feiner trefflihen Geologie der Gegenwart: „Unfere Bor- 
fahren können ung fehr zur Ehre gereichen; viel beifer noch aber ift e®, 
wenn wir ihnen zur Ehre gereichen“ 31). 

Unfere Entwidelungslehre erflärt den Urfprung des Menfchen 
und den Lauf feiner Hiftorifchen Entwickelung in der einzig natürlichen 
Weife. Bir erbliden in feiner ftufenmweife auffteigenden Entwidelung 
aus den niederen Wirbelthieren den höchften Triumph der Menſchen ⸗ 
natur über die gefammte übrige Natur. Wir find ftolz darauf, unfere 
niederen thierifchen Vorfahren fo unendlich weit überflügelt zu haben, 
und entnehmen daraus die tröftliche Gewißheit, daß aud in Zukunft 
das Menſchengeſchlecht im Großen und Ganzen die ruhmvolle Vahn 
fortfchreitender Entwidelung verfolgen, und eine immer höhere Stufe 
geiftiger Bolltommenheit erflimmen wird. In diefem Sinne betrachtet, 
eröffnet und die Defeendenztheorie in ihrer Anwendung auf den Men- 
ſchen die ermuthigendfte Ausſicht in die Zukunft, und entkräftet alle 
Befürchtungen, welche man ihrer Berbieitung entgegen gehalten hat. 

Schon jept läßt ſich mit Beftimmtheit vorausfehen, daß der voll- 
fändige Sieg unferer Entroidelungslehre unermeßlich reihe Früchte 
tragen wird, Früchte, die in der ganzen Kulturgefchichte der Menfch- 
heit ohne Gleichen find. Die nächte und unmittelbarfte Folge def- 
felben, die gänzliche Reform der Biologie, wird nothwendig die 
noch wichtigere und folgenreichere Reform der Anthropologie nach 
ſich ziehen. Aus diefer neuen Menfchenlehre wird fich eine neue Phi- 
lofophie entwideln, nicht gleich den meiften der biöherigen luftigen 





Dt in die Zukuuft. 657 
Syſteme auf metaphyfifche Spekulationen, ſondern auf ben realen 
Boden der vergleichenden Zoologie gegründet. Schon jept hat der 
geiſwolle engliſche Philofoph Herbert Spencer«5) dazu einen An- 
fang gemadt. Wie aber diefe neue moniftifche Philofophie und einer- 
ſeits erft das wahre Verftändniß der wirklichen Welt erichließt, fo 
wird fie andrerfeit® in ihrer fegenreichen Anwendung auf das prat- 
tifhe Menfchenleben und einen neuen Weg der moralifhen Bervoll- 
tommmnung eröffnen. Mit ihrer Hüffe werden wir endlich anfangen, 
und aus dem traurigen Zuftande focialer Barbarei emporzuarbeiten, 
in welchen wir, troß der vielgerühmten Givififation unſeres Zahr- 
hunderts, immer noch verfunfen find. Denn leider ift nur zu wahr, 
was der berühmte Alfred Wallace in diefer Beziehung am Schluſſe 
feines Reifewerta 3°) bemerkt: „Verglichen mit unferen erftaunlichen 
Fortſchritten in den phyfitaliſchen Wiſſenſchaften und in ihrer praf- 
tiſchen Anwendung bleibt unfer Syftem der Regierung, der abmiri- 
firativen Juſtiz. der Nationalerziehung, und umfere ganze fociale und 
moralifde Organifation in einem Zuftande der Barbarei.” 

Diefe fociale und moralifche Barbarei werden wir nimmermehr 
durch die gefünftelte und gefchraubte Erziehung, durch den einfeitigen 
und mangelhaften Unterricht, durch die imere Ummahrheit und den 
äußeren Aufpug unferer heutigen Civilifation überwinden. Bielmehr 
iſt dazu vor allem eine vollftändige und aufrichtige Umkehr zur Natur 
und zu natürlichen Verhaͤltniſſen nothwendig. Diefe Umkehr wird 
aber erft möglich, wenn der Menfch feine wahre „Stellung in der 
NRatur“ erkennt und begreift. Dann wird ſich der Menfh, wie Fritz 
Rapel treffend bemerkt, „micht länger als eine Ausnahme von ben 
NRaturgefepen betrachten, fondern wird enbiuh anfangen, dad Ge⸗ 
fesmäßige in feinen eigenen Handlungen und Gedanken aufzufuchen, 
und ftreben, fein Leben den Naturgefegen gemäß zu führen. Er wird 
dahin fommen, das Zufammenfeben mit Seineögleichen, d.h. die Fa- 
mifie und den Staat, nicht nad) den Sapungen ferner Jahrhunderte, 
fondern nach den vernünftigen Prinzipien einer naturgemäßen Erfennt- 
niß einzurichten. Politik, Moral, Rechtögrundfäge, welche jept noch 

Hurdel, Raturl. Shäpfungsgeid. 5. Huf. 42 





658 Zhid in die Zukunft. 

aus allen möglichen Quellen geipeift werden, werden nur den Ratur- 
gefepen entfprehend zu geftalten fein. Das menfhenmwürdige 
Dafein, von welchem feit Jahrtaufenden gefabelt wird, wird endlich 
zur Wahrheit werden.” 

Die höchfte Leiſtung des menſchlichen Geiſtes ift die vollfom- 
mene Erfenntniß, das entwickelte Menfchenbewußtfein, und die daraus 
entfpringende ſittliche Thatkraft. „Erkenne Dich felbft"! So riefen 
ſchon die Philofophen des Alterthums dem nad) Veredelung ſtreben ⸗ 
den Menfchen zu. „Erkenne Dich felbft"! So ruft die Entwide- 
lungolehre nicht allein dem einzelnen menfchlichen Individuum, ſon ⸗ 
dern der ganzen Menfchheit zu. Und wie die fortfchreitende Selbſt ⸗ 
erkenntniß für jeden einzelnen Menfchen der mächtigfte Hebel zur fitt- 
lichen Bervolitommnung wird, fo wird auch die Menfchheit ald Gan⸗ 
zes durch die Etkenntniß ihres wahren Urſprungs und ihrer wirklichen 
Stellung in der Ratur auf eine höhere Bahn der moralifchen Voll⸗ 
endung geleitet werden. Die einfahe Naturreligion, welche fih auf 
das Mare Wiffen von der Natur und ihren unerjhöpflichen Offen- 
barungafchag gründet, wird zufünftig in weit höherem Maße ver- 
edelnd und vervollfommmend auf den Entwidelungegang der Menfch- 
heit einwirken, als die mannichfaltigen Kirchenreligionen der verſchie ⸗ 
denen Bölter, welche auf dem blinden Glauben an die dunkeln Eher 
bheimniffe einer Priefterfafte und ihre mythologiſchen Dffenbarungen 
beruhen. Kommende Jahrhunderte werden unfere Zeit, welcher mit 
der willenfehaftlihen Begründung der Abftammungalehre der höchſte 
Preis menſchlicher Erkenntniß beſchieden war, ald den Zeitpunft feiern, 
mit welchem ein neues fegendreiches Zeitalter der menſchlichen Emt- 
widehmg beginnt, charakteriſirt durch den Sieg des freien erfennen- 
den Geifted über die Gewaltherrſchaft der Autorität, und durch den 
mächtig veredeinden Einfluß der moniftifchen Philofophie. 


Verzeihniß 
der im Terte mit Ziffern angeführten Schriften, 
deren Studium dem Lefer zu empfehlen ift. 


1. Charles Darwin, On the Origin of Species by means of 
‚natural selection (or the preservation of favoured races in the struggle for life). 
London 1859. (VI Edition: 1872.) Ins Deutfche überfegt von H. G. Bronun 
unter dem Titel: Charles Darwin, über die Entfichung ber Arten 
im Thier- und Pflanzen - Reich durch natürliche Züchtung, oder Erhaltung ber 
vervolltommneten Raffen im Kampfe um's Dafein. Stuttgart 1860 (V. Auflage 
durcgefehen und berichtigt von Bictor Carus: 1872). 

2. Jean Lamarck, Philosophie zoologique, ou exposition des 
considörations relatives A ['histoire naturelle des animaux; A la diversit? de 
leur organisation et des facultes, qu’ils en obtiennent; anz causes physiques, 
qui maintiennent en eux la vie et donnent lieu aux monvemens, qu'ils exdcutent ; 
enfin, & celles qui prodnisent, les unes le sentiment, et les autres l'intelligence 
de ceux qui en sont doués. 2 Tomes. Paris 1809. Nouvelle edition, revue et 
pröc&dee d’une introduction biographique par Charles Martins. Paris 1873. 

3. Wolfgang Goethe, Zur Morphologie: Bildung und Um- 
bildung organifher Naturen. Die Metamorphofe der Pflanzen (1790). 
Dfteologie (1786). Borträge über die drei erſten Kapitel des Entwurfs einer 
allgemeinen Einleitung in die vergleichende Anatomie, ausgehend von ber Ofteo- 
logie (1786). Zur Naturwiſſenſchaft im Allgemeinen (1780—1882). 

4. Ernſt Haedel, Generelle Morphologie der Organismen: 
Allgemeine Grundzüge der organiſchen Formenwiſſenſchaft, mechaniſch begründet 
durch die von Charles Darwin reformirte Deſcendenztheorie. 1 Band: All- 
gemeine Anatomie der Organismen ober Wiſſenſchaft von den entiwidelten orga- 
nifgen Formen. U. Band: Allgemeine Entwidelungsgefchichte der Organismen 
oder Wiſſenſchaft von den entftehenden organifchen Formen. Berlin 1866. 

6. Louis Agassiz, An essay on classification. Contributions to the 
natural history of the united states. Boston. Vol. I. 1867. 

6. Auguſt Schleicher, Die Darwin'ſche Theorie und die Sprachwiſſen - 


haft. Weimar 1868. II. Aufl. 1873. 
42* 


660 Berzeiäniß der im Terxte mit Ziffern angeführten Schriften. 


7. M. I. Schleiden, Die Pflanze und ihr Leben. VI. Aufl. Leipzig 
1864. 

8. Franz Unger, Berfud) einer Geſchichte der Pflanzenwelt. Wien 1862. 

9. Bictor Carus, Sem ber thieriſchen Morphologie. Leipgig 1858. 

10. Louis Büchner, Kraft und Stoff. Empiriſch- uaturphiloſophiſche 
Studien in allgemein verfländliher Darftellung. Frankfurt 1855 (II. Auflage). 
1867 (IX. Auflage). 

11. Charles Lyell, Principles of Geology. London 1830. (X. Bäit. 
1868.) 

12. Albert Lange, Geſchichte des Materialismus und Kritik feiner Be- 
deutung in der Gegenwart. Iſerlohn 1866. II. Aufl. 1873. 

13. Charles Darwin, Naturwiſſenſchaftliche Reifen. Deuti von Ernft 
Dieffenbad. 2 Thle. Braunſchweig 1844. 

14. Charles Darwin, the variation of animals and plants under do- 
mestication. 2 Voll. London 1868. Ins Deutfche überfetst von Bictor Carus 
unter bem Titel: Das Bariiren der Thiere und Pflanzen im Zuſtande der Do- 
meftifation. 2 Bde. Stuttgart 1868. 

15. Ernft Haedel, Stubien über Moneren und andere Protiften, neb 
einer Rede über Entwidelungsgang und Aufgabe der Zoologie. Mit 6 Kupfer- 
tafeln. Leipzig 1870. 

16. Frig Müller, Kür Darwin. Leipzig 1864. 

17. Thomas Hurley, Ueber unfere Kenntniß von den Urſachen der 
Erſcheinungen in der organifhen Natur. Sechs Borlefungen für Laien. Ueber- 
fegt von Carl Bogt. Braunſchweig 1865. 

18. 9.6. Bronn, Morphologifce Studien über bie Geftaltungegefehe ber 
Naturtörper überhaupt, und der organiſchen in&befondere. Leipg. n. Heidelb. 1858. 

19. 9.6. Bronn, Unterfuhungen über bie Entroidelungsgefege der orga- 
niſchen Welt während der Bildungsgeit unferer Erdoberflähe. Stuttgart 1858. 

20. Earl Ernft Bär, Ueber Entridelungsgefhicdte der Thiere. Beob- 
achtung und Reflerion. 2 Bbe. 18281837. 

21. Earl Gegenbaur, Grunbriß ber vergleichenden Anatomie. Preip- 
ig 1869 (HIT. umgearbeitete Auflage 1874). 

22. Immanuel Kant, Allgemeine Naturgeſchichte und Theorie des Him · 
mels, oder Verſuch von der Berfaflung und dem mechaniſchen Urfprunge des gan- 
gen Weltgebäudes nad) Newton'ſchen Grunbfägen abgehandelt. Königsberg 1755. 

23. Ernft Haedel, Die Rabiolarien. Cine Monographie. Bit einem 
Atlas von 35 Kupfertafeln. Berlin 1862. 

2. Auguſt Weismann, Ueber ben Einfluß ber Jſoltrung auf die 
Artbildung. Leipzig 1872. 


verzeichniß 
der im Terte mit Ziffern angeführten Schriften, 
deren Studium dem Lefer zu empfehlen ift. 


1. Charles Darwin, On the Origin of Species by means of 
natural selection (or the preservation of favoured races in the straggle for life). 
London 1859. (VI Edition: 1872.) Ins Deutfche überfegt von H. G.Bronn 
unter dem Titel: Charles Darwin, über die Entſtehung der Arten 
im Thier- und Pflanzen - Reich durch natürliche Züchtung, oder Erhaltung der 
vervolltommneten Rajjen im Kampfe um's Dafein. Stuttgart 1860 (V. Auflage 
durchgeſehen und berichtigt von Bictor Carus: 1872). 

2. Jean Lamarck, Philosopbie zoologique, on exposition des 
consid6rations relatives A l'histoire naturelle des animaux; & la diversit€ de 
leur organisation et des facultös, qu'ils en obtiennent; anx causes physiques, 
qui maintiennent en eux la vie et donnent lien aux monvemens, qu'ils ex&cutent ; 
enfin, & celles qui produisent, les unes le santiment, et les autres lintelligence 
de ceux qui en sont douös. 2 Tomes. Paris 1809. Nouvelle edition, revue et. 
‚pröctdee d’une introduction biographique par Charles Martins. Paris 1873. 

3. Wolfgang Goethe, Zur Morphologie: Bildung und Um- 
bildung organifher Naturen. Die Metamorphofe der Pflanzen (1790). 
Dfteologie (1786). Vorträge über bie drei erſten Kapitel des Entwurfs einer 
allgemeinen Einleitung in die vergleichende Anatomie, ausgehend von der Ofleo- 
logie (1786). Zur Naturwiſſenſchaft im Allgemeinen (1780—1832). 

4. Ernſt Haedel, Generelle Morphologie ber Organismen: 
Agemeine Grundzüge der organiſchen Formenwiſſenſchaft, mechaniſch begründet 
durch die von Charles Darwin reformirte Defcenbenztheorie. L Band: All- 
gemeine Anatomie der Organismen oder Wiſſenſchaft von den entwidelten orga- 
nifchen Formen. U. Band: Allgemeine Entridelungsgefdicte der Organismen 
oder Wiſſenſchaft von dem entſtehenden organifchen Formen. Berlin 1866. 

5. Louis Agassiz, An essay on classification. Contributions to the 
natural history of the united states. Boston. Vol. I. 18857. 

6. Anguf Schleicher, Die Darwin'ſche Theorie und die Spracwiffen- 


f Weimar 1868. II. Yufl. 1873. 
ſqhaft. * 


662 Bergeihniß der im Terte mit Ziffern angeführten Schriften. 

48. Friedrich Müller, Allgemeine Ethnographie. Wien 1873. 

43. Ludwig Bühmer, Der Menſch und feine Stellung in ber Ratur, 
in Vergangenheit, Gegenwart und Zufunft. IT. Aufl. Leipzig 1872. 

44. John Lubbock, Prehistorie Times. London 1867. Dentfd) von 
A. Paſſow unter dem Litel: Die vorgefchictliche Zeit. Iena 1874. 

45. Herbert Spencer, A System of Philosophy (1. First Principles. 
2. Prineiples of Biology. 3. Prineiples of Psychology etc.). London 1867. 

4. Wilhelm Wundt, Borlefungen über die Menfcden- und Thierſeele. 
Leipzig 1863. 

47. Wallace Wood, Chronos. Mother Earth's Biography. London 1873. 

48. Charles Darwin, The descent of man, and selection in relation 
to sex. 2 Voll. London 1871. Ins Deutſche überfest von Bieter Garne 
unter dem Titel: „Die Abſtannnung des Menſchen und die geſchlecheliche Zucht- 
wahl”. 2 Bde. Stuttgart 1871. - 

49. Charles Darwin, The expression of the emotions in man and ani- 
mals. London 1872. Ins Dentſche überfegt von Bictor Garn. unter bem 
Titel: Der Ausbrud der Gemäthebewegungen bei den Menſchen und den Thie 
ven. Gtuttgart 1872. 

50. Ernf Hädel, Die Kaltſchwämme (Golcifpongien oder Grantien). 
Eine Monographie in zwei Bänden Tert und einem Atlas mit 60 Tafeln Ab- 
bildungen. 1. Band (Genereller Theil). Biologie der Kallſchwänune. II. Band 
(Specieller Theil). Syſtem der Kaltſchwämme. ILL Band (Illuſtrativer Theil). 
Atlas der Kaltſchwãamme. Berlin 1872. . 

51. Hermann Müller, Die Befrudtung der Blumen durch Zuſekten. 
Leipgig 1873. 

52. Ernf Hädel, Das Leben in ben größten Meerettiefen; Gemmnhmg 
von Birhomw und Holyenborff. V. Serie. 1870. 

53. Friedrich Zöllner, Ueber die Natur der Kometen. Beiträge pur 
Geſchichte und Theorie der Ertenntuiß. Leipig 1872. 

54. Ernſt Haeckel, Die Gafträn-Lheorie, Die phylogenetiſche Lleffficatien 
des Thierreichs und die Homologie ber Keimblätter. Jeneiſche Zeitjchrift für Ra- 
turwiſſenſchaft. 1874. 8b. VIII. 

55. David Friedrich Strauß, Der alte und ber neue Glaube. Ein 
Betenntniß. Leipzig 1878. Sechſte Auflage 1874. 

56. Eruſt Haedel, Anthropogenie oder Entwidelungsgefchichte des Dien- 
fen. Gemeinverftänbliche wiſſeuſchaftliche Vorträge über bie Grundzüge ber 
menfdjlichen Keimes- und Stammes-Gefdichte. Mit 12 Tafeln, 210 Holzſchnitten 
und 36 genetiſchen Tabellen. Leipzig 1874. 


Bergeigniß der im Texte mit Ziffern angeführten Schriften. 661 


35. Ernf Hacdel, Ueber bie Eutſtehung und den Stammbaum des 
Menſchengeſchlechts. Zwei Borträge in der Sammlung gemeinberftänblicher wif- 
ſenſchaftlicher Vorträge, herausgegeben von Birhom und Holgenborff. 
Berlin 1868. (IIL Auflage, 1872.) 

236. Thomas Hurley, Zeugniſſe für die Stellung bes Menſchen in der 
Natur. Drei Abhandlungen: Ueber bie. Naturgefdichte ber menfchenäßnlichen 
Affen. Ueber die Beziehungen des Menfchen zu den nächfinieberen Thieren. 
Ueber einige foſſile menſchliche Ueberreſte. Ueberfegt von Bictor Carus. 
Braunſchweig 1868. 

27. Earl Bogt, Borlefungen über den Menſchen, feine Stellung in ber 
Schöpfung und in der Geſchichte der Erbe. 2 Bde. Giehen 1868. 

88, Friedrich Rolle, Der Menſch, feine Abflammung und Gefitturg 
im Lichte der Darwin’fhen Lehre von der Art-Entfiehung und auf Grund der 
neueren geologiſchen Euthedungen bargeftellt. Frankfurt a. M. 1866.. 

39. Eduarb Reich, Die allgemeine Naturlehre des Menfchen. Giehen 1865. 

30. Charles Lyell, Das Alter des Menſchengeſchlechts auf der Erbe und 
der Urfprung der Arten durch Abänderung, nebft einer Befdjreibung ber Eiezeit. 
Ueberfegt mit Zufägen von Louis Büchner. Leipjig 1864. 

31. Bernhard Cotta, Die Geologie der Gegenwart. Leipzig 1866. 
(AV. umgearbeitete Auflage. 1874). 

38. Karl Zittel, Aus der Uneit. Bilder aus der Schopfungdgeſchichte. 
Münden 1872. 

33. C. Radenpaufen, Zi. Der Menſch und bie Welt. 4 Be. Ham- 
burg 1868. (II. Auflage 1871.) 

3. Wuguft Schleicher, Ueber die Bedeutung ber Sprache für die Ra- 
turgefchichte bes Meuſchen. Weimar 1865. 

85. Wilhelm Bleet, Ueber ben Urfprung der Sprache. Herausgegeben 
mit einem Borwort von Gruft Hacdel. Weimar 1868. 

36. Alfred Ruffel Wallace, Der malayifde Archipel. Deutſch ven 
AB. Meyer. 2 Bde. Braunſchweig 1869. 

87. Ernf Haedel, Ueber Arbeitsteilung in Ratur- und Menſchenleben. 
Sanunlung gemeinverſtandlicher wiſſenſchaftlicher Vorträge, Heraukgegeben von 
Bir chow und Holgenborff. IV. &erie. 1869. Heft 78. U. Kuflage. 

38. Hermann Helmholg, Populäre wiſſenſchaftliche Vorträge. Braun- 
fdpweig 1871. 

89. Alexander Humboldt, Anſichten der Natur. Stuttgart 1826. 

40. Moritz Wagner, Die Darwinſche Tpeorie und des Migrationsgefeg 
der Organismen. Leipzig 1868. 

41. RudolfBirhom, Bier Reden über Leben und Krankfein. Berlin 1862. 


664 Anhang. Erflärung der Tafeln. 


sieht fich kugefig zufammmen (fig. 16 und Fig. 1). Im diefem Subezuftande ſchviet 
bie Kugel eine gaflertige ſtructurloſe Hülle aus (Fig. 2) und zerfällt nad einiger 
Zeit in eine große Anzahl Meiner Schleimtügeldjen (Fig. 3). Diele fangen beib 
an, fi} zu bewegen, nehmen Birnform an (Fig. 4), durchbrechen die gemeinfame 
Hülle (Fig. 5) und ſchwimmen nun mittelft eines haarfeinen, geibelförmigen Fort · 
ſatzes frei im Meere umher, wie Geißelſchavãrmer aber Flagellaten (5.383, Fig. 11). 
Benn fie mın eine Spirula -Schale oder einen anderen paſſenden Gegenſtand an- 
treffen, laſſen fie ſich auf dieſem nieder, ziehen ihre Geißel ein und Frieden mit- 
teift forumvechſelnder Fortfäße Tangfam auf demfelben umher (Fig. 6, 7, 8), wie 
Protamoeben (5. 167, 378). Diefe Heinen Schleimlörperchen uchmen Nahrung 
anf (Fig. 9, 10) und gehen entweder durch einfaches Wochethum oder, indem meh- 
tere zu einem größeren Schleimförper (Plasmodium) verfdnmelzen (Fig. 18, 14), 
im bie evadjfene Form über (Fig. 11, 12). 


®af. I und IH (mifhen ©.272 und 273). 

Keime oder Embryen von vier verſchiedenen Wirbeithieren, nämfıh 
Schildtrote (A und E), Huhn (B und F), Hund (C und ©), Menſch (D und M. 
Fig. A—D ſtellt ein früheres, fig. E—H ein fpätereß Stadimm ber Cutwidelung 
dar. Alle art Embryen find vom ber redyten Seite gefehen, ben gewölbten Riten 
nad) lints gewendet. fig. A und B find fiebemmal, Fig. C und D fänfmel, Fig. 
E—H viermal vergrößert. Taf. II erfäntert bie ganz nahe Wut6verwanbeicheft. 
der Reptilien und Bögel, Taf. III dagegen biejenige des Menſchen nad der übri- 
gen Eäugethiere (vergl. and) ©. 513, 530 u. f. w.). 


Vaf. IV (wilden ©. 362 und 365). 

Hand oder Borberfuß von nenn verſchiedenen Gängethieren. Diefe Te- 
fel foll die Bedeutung der vergleihenden Anatomie für bie Phylogenie 
erläutern, indem fie nachweiſt, wie fi bie innere Steletform der Blichnahen 
dur Vererbung befländig erhält, trotzdem die äußere Form dur Anpaf- 
fung auferorbentlich verändert wird. Die Knochen des Hanb-Efteletß find weik 
in das braune Fleiſch und bie Haut eingezeichnet, von denen fie umſchlofſen wer- 
den. Alle neun Hände find genan im derſelben Lage bargeftelit, nämlich die Hand 
tmurgel (am welche fich oben der Arm anfepen wurde) mach oben gericftet, die in- 
geripigen ober Zehenfpigen nad) unten. Der Daumen ober bie erſte (große) Bor- 
dergehe iR in jeber Figur lints, der Meine Finger oder bie fünfte Zehe Dagegen 
rechts am Rande ber Hand fichtbar. Jede Hand beftcht ans drei Teilen, näm- 
Ti I. der Handwurzel (Carpas), melde aus zwei Querreihen von kurzen Kus · 
hen zuſammengeſetzt iſt (am oberen Rande der Hand); II. der Mittelhand 
(Metacarpas), vwelde ans fünf langen ımb Rarfen Knochen zufanmengefegt iR 


Anhang. 
Erklärung der Tafeln. 





Taf. I (wwiſchen ©. 168 und 169). 

Lebensgeſchichte eines einfachſten Organismus, eined Monered (Proto- 
myza aurantiaca). Bergl. ©. 165 und S. 379. Das Titelbild ift eine verflei- 
nerte Copie der Abbilbungen, welche ich in meiner „Monographie ber Moneren“ 
Giologiſche Studien, I. Heft, 1870; Taf. D) von der Entwidelungegeſchichte der 
Protomyza aurantiaca gegeben habe. Dort findet fich auch bie ausführliche Be- 
ſchreibung dieſes merhvürbigen Moneres (S. 11 — 30). Ich habe dieſen einfach- 
fen Organismus im Januar 1867 während meines Aufenthaltes auf ber cana- 
riſchen Infel Lauzarote entdect; und zwar fand ich ihn feftfigend oder umher» 
triechend auf den weißen Koltjhalen eines Heinen Cephalopoden (©. 478), ber 
Spirula Peronii, weldje dafelbft maſſenhaft auf der MeereSoberfläche ſchwimmen 
und an den Strand geworfen werben. Protomyaa aurantiaca zeichnet ſich vor 
den übrigen Moneren durch die fchöne und lebhafte orangerothe Farbe ihres ganz 
einfachen Körpers aus, der lediglich aus Urſchleim ober Brotoplasına befteht. Das 
volltommen entioidelte Moner ift in Fig. 11 und 12 flart vergrößert dargeſtellt. 
Wenn daſſelbe hungert (fig. 11), firahlen von ber Oberfläche des tugeligen Schleim- 
törperdiens ringsum Maſſen von baumförmig veräfelten beweglichen Schleim- 
faden (Scheinfüßchen oder Pfeubopobien) aus, welche fi nicht nepförmig verbin- 
den. Wenn aber das Moner frißt (Gig. 12), treten diefe Schleimfäben vielfach 
mit einander in Verbindung, bilden veränderliche Nee und umfpinnen die zur 
Nahrung dienenden feeinden Körperchen, weldhe fie nachher in bie Mitte bes Pro» 
tomyza-Körperd Bineinziehen. So wirb eben in Fig. 12 (oben rechts) ein Kiefel- 
ſchaliger bewimperter Geißelſchwärmer (Peridinium, ©. 377, 888) von den aus- 
geſtredten Schleimfäden gefangen und nad) der Mitte des Schleimkügelchens hin- 
gezogen, in welchem bereits mehrere Hafbverbaute kieſelſchalige Infuforien (Tintin- 
noiden) und Diatomeen (Ifhmien) Fiegen. Wenn nun bie Protomyra genug ge- 
freſſen Hat und gewachſen ift, aicht fie ihre Schleimfäben alle ein (Fig. 16) und 


666 Anhang. Ettlarung der Tafeln. 


Linien gb, ik, Im und no find die führf großen Zeitalter der angamifdien Erb- 
geſchichte von einander getrennt. Das Feld ga bh umfaßt den archefitäiicden, 
das Felb Igh’k ben paläofitfifchen, das Feld 15km ben meſelüthiſchen und bes 
Feb n Im o den cenofithifchen Zeitramm. Der fune anthropelithiſche Jeitraum 
iſt durch bie Sinie m o angebeutet (vergl. ©. 344). Die Höhe der eimelnen fel- 
der entfpridht ber relativen Länge ber dadurch bezeichneten Zeiträume, wit fie ſich 
ungefahr aus bem Didenverhäftnig ber inzwiſchen abgelagerten neptumifdhen 
Schichten abfchäten Täßt (vergl. S. 352). Der archolithiſche und prumerbiele Zeit- 
raum, während befien bie laurentiſchen, cambriſchen und ſiluriſchen Schichten abge» 
lagert wurden, war vermathlich allein für ſich bedeutend langer, als bie vier fol- 
genden Zeiträume zuſammengenommen (vergl. ©. 341, 350). Aller Wahrfdein- 
lichteit nad; erreichten bie beiden Stämme der Würmer und Pflanzenthiere ihre 
Blütezeit ſchon während ber mittleren Primorbiafgeit (in ber cambriſchen Ber 
riode?), bie Sternthiere und Weichthiere vielleicht etwas fpäter, während bie Glie- 
derthiere und Wirbelthiere bis zur Gegenwart an Mannichfaltigkeit und Bolllom- 
menpeit zunehmen, 


Daf. VII (gwilden ©. 456 und 457). 


Gruppe von Pflauzenthieren (Zoophyten oder Coelenteraten) im Mittels 
meere. In ber oberen Hälfte zeigt fidh ein Schwarm von fetwinmenben Bebur- 
fen und Etenophoren, in der unteren Hälfte einige Bitſche von Korallen und Hp 
droidpolypen, auf dem Boden des Meeres fegewadjfen (vergl. des Syttemn ber 
Pflanzenthiere, S. 452, und gegenüber den Stammbaum derſelben, ©. 468). 
Unter den feftfigenben Pflanzenthieren auf dem Meeresboden tritt rechts uuten 
ein großer Koralienftod hervor (1), welcher der rothen Ebeltoralfe (Eucoral- 
um) nahe verwandt ift und gleich biefer zur Gruppe ber adjtzähfigen Rinben- 
torallen (Octocoralla Gorgonida) gehört; die einzelnen Indivibuen (aber Berfonen) 
des verzweigten Stocles haben bie Form eines achtſtrahligen Sterns, gebildet aus 
acht Fangermen, bie den Mund umgeben (Octocoralla, S. 455). Unmittelbar 
darunter und davor figt (ganz rechts unten) ein Meiner Buſch von Hybroibpo- 
Typen (2) aus der Gruppe der Glodenpolypen oder Campannlarien(&. 4561 
Ein größerer Stod der Hybroidpolypen (8), aus ber Gruppe ber Röhrenpofgpen 
ober Tubnlarien, erhebt ſich mit feinen langen dunnen Zweigen Imf6 gegen- 
über. An feiner Baſis breitet ſich ein Stod von Kiefelfgwänmen (Hal- 
chondria) aus (4), mit Rumpfen fingerförmigen Aeften (©. 454). Dahürter fügt, 
lints unten (5), eine fehr große Seerofe (Actinia), eine einzelne Perfom ans 
der Abtheilung der fedjszähfigen Korallen (Hexacoralla, S. 455). Ir miebriger 
cylindriſcher Nörper trägt eine Krone von fehr zahlreichen und großen, blattfärmi- 
gen Fangarmen. Unten in ber Mitte des Moben® (6) fit eine Gecanemene 


Anhang. Er larungꝰ der Tafeln. 665 


(in ber Mitte ber Hand, durch bie Ziffern 1—5 bezeichnet); und IL. den fünf 
Fingern oder Borderzehen (Digiti), vom denen jebe wieber aus mehreren 
(mei 3—8) Zehengliedern (Phalanges) beficht. Die Hand des Menfden 
(Big. 1) ſteht ihrer ganzen Bildung nad) in ber Mitte zwiſchen derjenigen ber bei« 
ben näcfverwandten großen Menſchenaffen, nämlich des Gorilla (Fig. 2) und 
des Drang (Fig. 3). Weiter entfernt fih davon ſchon die Borberpfote des Hun- 
des (ig. 4) und noch viel mehr die Hand ober die Brufifloffe bes Sechundes 
(Big. 5). Noch vollftänbiger als bei letzterem wird bie Anpaffung der Hand an 
bie Schwimm · Bewegung und ihre Umbilbung zur Ruberflofie beim Delphin 
(Ziphius, Fig. 6). Wahrend hier bie in ber Cehweinnfaut ganz verfiedten Fin - 
ger und Mittelhandknochen kurz und ſtark bleiben, werben fie bagegen außeror⸗ 
dentlich Yang und din bei der Fledermaus (Fig. 7), wo fih bie Hand zum 
Flügel ausbildet. Den äuferften Gegenfag dazu bildet bie Hand des Maul- 
wurfs ($ig. 8), welche ſich in eine Fräftige Grabfchaufel umgewandelt Hat, mit 
außerordentlich verkürzten und verbidten Fingern. Biel ähnlicher als diefe letz- 
teren Formen (fig. 5—8) ift der menfchlichen Hand die Vorderpfote des niedrig - 
ften und unvolltommenften aller Säugethiere, des auſtraliſchen Schnabelthiers 
«(Ornithorhynchus, Fig. 9), welches in feinem ganzen Bau unter allen betannten 
Süängethieren ber gemeinfamen ausgeſtorbenen Stammform dieſer Klafie am näch- 
fien flieht. Es Hat fich alfo der Menſch im der Umbildung feiner Hand durch An⸗ 
paffung weniger von biefer gemeinfamen Stammform entfernt, als die Fleder · 
maus, der Maulwurf, der Delphin, der Sechunb und viele andere Saugethiere. 


Waf. V (milden ©. 432 und 433). 

Cinfämniger oder mansphyletiiher Stammbaum des Pflauzenreichs, 
darftellend bie Hypothefe von ber gemeinfamen Abflammung aller Pflanzen, und 
die geſchichtliche Entwwidelung der Blangengruppen während ber paläontologtichen 
Perioden der Erdgeſchichte. Durch die horizontalen Linien find die verſchiedenen 
(auf S. 844 angeführten) Meineren und größeren Perioden der organifchen Erd - 
geſchichte angedeutet, während deren fi bie verfeinerungsführenden Erdſchichten 
ablogerten. Durch bie vertifalen Linien find die veridiebenen Hauptflafien und 
ieffen des Pflamzenreich® von einander getrennt. Die baumförmig verzweigten 
Linien geben ungefähr ben Grab der Entwidelung an, ben jede Klaſſe in jeder 
geologiſchen Periode bermuthlich erreicht hatte (vergl. ©. 404 und 406). 


Vaf. VI (wilden ©. 440 und 441). 
Einftämmiger oder monephyletiiger Etammbaum des Thierrtichs, dar · 
ſtellend das gefhichtlihe Wahsthum der ſechs Thierfämme in ben 
pelaontologiſchen Perioden der organiſchen Erbgefhichte. Durch bie Borizontalen 


668 Anhang. Erklärung der Tafeln. 


Aus ber Mitte ihres glodenförmigen Schirm® hängt (wie ber Klöppel ber lade) 
ein langer Rüffel frei Herab, an defien Ende fi) Magen und Munböffuung be- 
findet. Im ber Mogenhöhle fügt ein langer, zungenförmiger Rnoßpenzapfen (ber 
anf Zafel VII, 11, wie eine Zunge nad) links ans dem Bunde vergefireit iR). 
Auf diefer Zunge knospen an ber geſchlechtsreifen Geryonis eine Menge von Bei- 
nen Mebufen hervor. Diefe find aber feine Gergonien, fonberu gehören einer 
‚ganz anderen und fehr verſchiedenen Medufenform an, nämlich der Gattung Ca- 
nina, aus der Familie der Aeginiden. Diefe Eunina (12) if ganz anders 
gebaut; fie Hat einen flach Halbkugeligen Schirm ohne Rüffel, iR in der Jugend 
ahtjählig, fpäter fedgehnzäßlig, Hat 16 taſchenförmige Geſchlecheorgane und 16 
kurze, florre, fleif gefrümmte Randſaden. Das Nähere über dieſe wunderbare 
Aloeogenefiß iſt in meinen „Beiträgen zur Naturgeſchichte der Gubronmebufen“ 
(Leipzig, Engelmann, 1865) nadhzufehen, deren erſtes Heft eine Monographie der 
Rüffelquallen oder Geryoniden mit fech® Kupfertafeln enthält. 

Noch intereffanter und lehrrricher, als diefe merhwürdigen Verhältwifie, ſind 
bie Lebenderfcheinungen der Siphonophoren, deren wunderbaren Polyınorphit- 
mus ich fhon mehrmals erwähnt und in meinem Vortrage über „Arbeitstgei- 
Tung in Natur und Menfdenleben“ °7) gemeinverflänblich dargeftellt babe (vergl. 
©. 241 und 456). Als em Beifpiel derfelben ift auf Tafel VII bie ſchöne Pby- 
sophora (18) abgebilbet. Dieſer ſchwimmende Hydromebufenftod twird am ber 
Dberflähe des Meeres ſchwebend erhalten durch eine Heine, mit Luft gefühte 
Scroimmblafe, welche in der Abbilbung über den Waſſerſpiegel vorragt. Unter- 
halb derfefben if eine Säule von vier Paar Schwinnngloden ſichtbar, welche Weſ 
fer ausſtoßen und dadurch die ganze Kolonie fortbewegen. Am unteren Ende bie- 
fer Schwinmnglodenſaule figt ein krouenförmiger Kranz von gefrimmten fpinbel- 
förmigen Taftpolypen, welche zugleich die Decſtüde bilden, unter deren Sup 
die übrigen Imbivibuen des Stoces (frefiende, fangende und zeugenbe Perfenen) 
verſtedt find. Die Ontogenie ber Siphonophoren (und namentlich and; dieſer 
Physophora) habe ich juerft 1866 auf der canariſchen Inſel Banzerote beshadtet 
und in meiner „Entwidelungsgefcichte der Siphonophoren‘ beſchrieben und darch 
14 Tafeln Abbildungen erläutert (Utrecht 1869). Sie iſt reich an intereffanten 
Thatfachen, die fich nur durch die Deſcendenztheorie erklären laffen. 

Ebenfalls nur durch die Abſtanunungslehre zu verſtehen ift der merwiirbige 
Generationswechſel ber höheren Medufen, ber Scheibengquallen (Discomedu- 
sae, ©. 452), als deren Repräjentant oben in der Mitte der Tafel VII (cmeb 
Aurüdttretend) eine Pelagia abgebilbet if} (14). Aus bem Grunde des Rert ge 
mölbten glockenformigen Schirmes, befien Rand zierlich gegadt ift, hängen vier 
ſehr Tange und ſtarle Arme herab. Die ungefchlechtlichen Polypen, von denen 
diefe Scheibenquallen abftauunen, find hochn einfadje Urpolnpen, von dem gemäe- 


Auhang. Erklärung der Tafeln. 667 


(Cereautbus) , aus ber Gruppe ber viergähligen Korallen (Tetracoralis). Eudlich 
erhebt fi auf einem Tleinen Hügel des Meeresbodens, rechts oberhalb der Ko- 
alle (1) ein Kelchpolyp (Lucernaria), als Repräfentant ber Haftquallen (Bo- 
bactinarien oder Calyeozoen, &. 452). Sein bedjerförmiger geftielter Körper (7) 
trägt am Rande acht kugelige Bitfchel von Heinen, gefnöpften Fangarmen. 

Unter den ſchwimmenden Pflanzenthieren, welche bie obere Hälfte 
der Tafel VII einnehmen, ſind vorzüglich die Hybromebufen wegen ihres Ge- 
nerationdwechſels bemerteucwerth (vergl. ©. 185). Unmittelbar über der Lucer⸗ 
maria (7) ſchwimmt eine Meine Tiara -Dualle (Oceania), deren glodenförmiger 
KXörper einen kuppelartigen Aufſah von ber Form einer päpffichen Tiara trägt (8). 
Bon der Glodenmünbung hängt unten ein Kranz von fehr feinen und langen 
Fangfaden herab. Diefe Dreamie eutwidelt fic ans Rohrenpolypen, welche ber links 
unten figenden Tubularia (3) gleichen. Links neben biefer letzteren ſchwimmt eine 
große, aber fehr zarte Haarqualle (Aequoren). Ihr fcheibenförmiger, flach ge» 
mölbter Körper zieht fih eben zufammen und preßt Wafler aus der unten befind- 
lichen Schirmhohle aus (9). Die fehr zahlreichen, langen und feinen, haarähn- 
Tichen Sangfäben, welche vom Rande des Schirms herabhängen, werben durch das 
ausgeſtoßene Wafler in einen tegelförmigen Buſch zufannmengebrängt, der ſich 
ungefähr in der Ditte kragenartig nach oben umblegt und faltet. Oben in der 
Witte der Cchirmböhle hängt der Drogen herab, deſſen Munböffnung von vier 
Munblappen umgeben iR. Dieje Aequorea ſtanunt von einem Heinen Gloden- 
polypen ab, welcher der Gampanularia (2) gleicht. Bon einem ähnlichen loden- 
polypen flammt aud) die Meine, flach gewolbte Miyenqualle (Euoope) ab, 
welche oben in ber Mitte ſchwinunt (10). Im biefen drei Fällen (B, 9, 10), wie 
bei dex Mehrzahl der Oydromeduſen, befieht der Generationsiwechfel berin, daß 
die frei fehtoimmenden Meduſen (8, 9, 10) durch Knospenbildung (alfo durch un- 
geſchlecheliche Zeugung, ©. 172), aus feffigenben Spbroibpolgpen (2, 3) entſtehen. 
Diefe Tegteren aber entfiehen aus den befruchteten Eiern der Medufen (alfo durch 
geſchlechtliche Zeugung, ©. 175). Es wechſelt mithin regelmäßig bie ungeſchleqht · 
fie, feffigenbe Polypen - Generation (I, IH, V u. |. w.) mit ber geſchlechtlichen, 
frei fdoimmmenden Medufen- Generation ab (U, IV, VI u. ſ. w.). Auch diefer 
Generationswechfel ift nur burd die Defeendenztheorie erllarbar. 

Daffelbe gt aud) von einer nahe verwandten, aber noch auffallenberen Form 
ber Fortpflanzung, welche ich 1864 bei Riga an den Rüffelquallen (Geryo- 
nida) entdedt und Alloeogomie ober Alloeogenefis genannt habe. Hier 
ſtammen nämlich zwei ganz verſchiedene Mebufenformen von einander ab, melde 
auf Tafel VIL in Fig. 11 und 12 abgebildet find. Die größere und Höher ent- 
widelte Generation (11), Geryonia ober Carmarina, ift ſechezahlig, mit 6 blatt - 
förmigen Geſchlechtsorganen und 6 Tangen, ſehr beweglichen Wanbfäben verſehen. 


668 Anhang. Erklärung der Tafel. 


Aus der Mitte ihres glodenförmigen Scirm® hängt (wie der Mäppel der Blade) 
ein langer Rüffel frei herab, an defien Ende ſich Magen und Munböffung kr 
findet. Im ber Mogenhöhle fit ein Langer, zungenförmiger Snoßpenzepfen (er 
anf Tafel VIL, 11, wie eine Zunge nad) lints aus dem Munde wergefredt if. 
Auf diefer Zunge fno&pen an der geſchlechtoreifen Gerhonia eine Menge von Hei- 
nen Mebufen hervor. Dieſe find aber feine Geryouien, fonbern gehören einer 
ganz anderen und fehr verſchiedenen Medufenform an, nämlich der Gattung Ce 
nina, aus ber Familie der Aeginiden. Diefe Eumina (12) if ganz ander 
gebaut; fie Hat einen find; Halbtugeligen Schirm ohne Rüffel, iR im ber Jugend 
ochtzahlig, fpäter fedhgehnzählig, hat 16 tafdhenfürmige Gefchlechtäorgene un 16 
kurze, ſtarre, ſteif gefrünmte Ranbfäden. Das Nähere über biefe wunberhen 
Wloeogenefig ift in meinen „Beiträgen zur Naturgefdjicte der Gybromebufee" 
(Reipsig, Engelmann, 1865) nadgufehen, deren erſtes Heft eine Zemographie der 
Nüffelquallen ober Geryoniden mit ſechs Kupfertafeln enthält. 

Roc intereffonter und lehrreicher, als dieſe merkwürdigen Verhältriſe, ka 
die Lebenberſcheinungen der Siphonophoren, deren wunderbaren Pelgunerph- 
mus ich ſchon mehrmal® erwähnt und in meinem Bortrage über „Wrbeittthi- 
lung in Natur und Menfcenfeben‘‘ #7) gemeinverfländlich dargeſtellt habe (vergl. 
©. 241 unb 456). Als ein Beifpiel derfelben ift auf Tafel VII die fchöme Pay- 
sophora (13) abgebildet. Dieſer ſchwimmende Hubromebufenftod wird an det 
Dberfläche des Meeres ſchwebend erhalten durch eine Heime, mit Luft gefklie 
Scroimmblafe, welche in der Abbilbung über den Waſſerſpicgel verregt. Usser- 
halb derſelben if eine Säule von vier Baar Schtuinumgloden ſichtbar, melde Bal- 
fer ausfoßen und dadurch die ganze Kolonie fortbetvegen. Am unteren Ende die 
fer Schwimmglocenſaule figt ein franenförmiger Kranz von gefciimumten fpinb- 
formigen Taftpolypen, welde zugleich bie Dedftüde bilden, unter deren Cdup 
bie übrigen Judividuen des Stoces (frefiende, fangende und zeugenbe Perfenen) 
verſtect find. Die Ontogenie der Siphonophoren (und namentlich and; vieler 
Physophora) habe id; zuerft 1866 auf der canariſchen Juſel Lanzerote beabahtrt 
und in meiner „Entwidelungögefdjichte der Stphonophoren‘ beſchrieben umb burh 
14 Tafeln Abbildungen erläutert (litredit 1869). Sie if reich an imtereflenten 
Thatfachen, die ſich nur durch die Defeendenztheorie erflären laſſen. 

Ebenfalls nur durch bie Abfammrungeichre zu verfichen ift der mertwärbige 
Generationewechfel der höheren Mebufen, der Scheibenquallen (Dieremedr 
sae, ©. 452), als deren Repräfentant oben in ber Mitte der Tafel VII (cmeb 
yurkeftretenb) eine Pelagie abgebülbet if (14). Aus Dem Grunde des Aurt ge 
wölbten glodenförmigen Sqhirmes, deſſen Raub zierlich gegadt if, hängen vier 
fehr Tange und ſtarke Arme herab. Die ungefehlechtfichen Polgpen, won denen 
diefe Scheibenquallen abſtannnen, find hoͤcht einfache Urpelypen, vom dem gemöhe- 


Anhang. Erklarung der Tafeln. 669 


lichen Süftwafferpolypen (Hydra) nur wenig verſchieden. Auch den Generationg- 
wechſel diefer Discomebufen Babe ic; in meinem Bortrage über Arbeitetheilung *") 
beicjrieben und durch das Beifpiel der Aurelia erläutert. 

Endlich iR auch die letzte Klafje der Pflanzenthiere, die Gruppe ber Kamm- 
qualfen (Ctenophora, S. 456) auf Tafel VIL durch zwei Repräfentanten ver- 
treten. Lins in ber Mitte, zwiſchen ber Acquorea (9), der Päyfophera (18) und 
der Cunina (12) winbet fid) ſchlangenartig ein breites, langes und dumnes Band, 
wie ein Gürtel (15). Das ift der herrliche große Benusgürtel bes Mittel- 
meered (Cestam), der im allen Regenbogenfarben ſchillert. Der eigentliche, in der 
Mitte bes Tangen Bandes gelegene Körper des Thiers if mur ſehr Mein, und 
ebenfo gebant, wie die Melonenqualle (Cydippe), welche links oben ſchwebt 
(16). An biejer finb die adıt qharatteriſtiſchen Zimperrippen aber (glimmerlänme 
der Cienopheren fidhtbar, ſowie zwei lange Fangfäben. 


af. VII und IX (milden ©. 482 und 483). 

Entwidelungögefdihte der Gtezuthiere (Behinnderma ober Katrella). 
Die beiden Tafeln erläutern den Generationswechjel berfelben (S. 482) an einem 
Beifpiele aus jeder der vier Klafien von Sternthieren. Die Seefterne (Aste- 
rids) find durch Uraster (A), bie Seelilien (Crinoida) durch Comatala (B), 
die Seeigel (Eehinida) durch Echinus (C) und endlid die Seeg nrken (Ho- 
lothurise) durch Bynapta (D) vertreten (vergl. ©. 480 umd 481). Die auf ein- 
anber folgenden Stadien ber Entwidelung finb durch bie Ziffern 16 bezeichnet. 

Taf. VIII Refit bie inbieibnelle Cutwidelung ber erken, umgefdhleditiichen Ge ⸗ 
neratien ber Gternthiere dar ober ber Ammen (gewöhnlich unvichtig Larven ge» 
nannt). Diefe Amen haben den Forzuiwerth einer einfachen, ungeglieberten Wurm ⸗ 
perfon. fig. 1 zeigt daS Ei der vier Gternthiere, daS in allen weſentlichen Be» 
zichuugen mit dem Ci des Menſchen und ber anderen Tiere übereinfiimmt (vergl. 
©. 265, Pig. 5). Wie beim Menſchen iR das Protoplasma ber Eizelle (der Detter) 
von eimer diden, firuchrefojen Membran (Zona pellucida) mnfcloflen, und ent 
halt einen glaßhelen, kugeligen Zellenkern (Nucleus), ber einen Nucleolus um. 
flieht. Aus dem befruqᷣteten Ci ber Gternthiere (Fig. 1) entwidelt fich zuuact 
durch wieberhelte Zellentheilung ein bageliger Haufen von gleichartigen Zellen (Big. 6, 
©.266), und biefer verwandelt fich in eine feht einfache Am me, welche ungefähr 
die @efait eines einfadhen Helzpantefiel® hat (Fig. AR — D2). Der Rand der 
Benteffeläffnung ift von einer finmernden Wimperſchnur umfänmt, durch deren 
Bimnperbeiwegung bie mitroſtopiſch Meine, durchſichtige Anıme im Meere frei um- 
Serfdpoiment. Diefe Wimperſchuur if in Big. 4 anf Zaf. VI durch den ſchma - 
len, abiwechſelnd hell unb duntel gefreiften Saum angedeutet. Die Amme bildet 
Ad num zunächft einen ganz einfachen Darmlanal zur Gmährung, mit Mund (0), 


70 Anhang. Erklärung der Tafeln. 


Magen (m) und After (a). Späterhin werben bie Windungen ber Wimperſchenr 
eomplieirter und es entfiehen armartige Fortſähe (fig. AB— DB). Bei ben Een 
fernen (A4) und den Geeigeln (C4) werben biefe armartigen, ven ber Winwer⸗ 
ſchnur umfäumten Fortſatze fpäterhin fehr laug. Bei den Gedlifien bagegen (BS) 
und den Seewalzen (DA) verwandelt fid) ſiatt deſſen bie gefihloffene, anfangs in 
ſich ſelbſt ringförmig zurüdlaufende Wimperſchnur in eine Reihe vom (45) hin - 
ter einander gelegenen, getrennten Wimpergürteln. 

Im Inneren diefer fonderbaren Amme nun entwidelt ſich durch einen ım=- 
geſchlechtlichen Zeugungsprozeß, nämlid buch innere Sueßpenbilbung ober Reim- 
Inospenbilbung (rings um ben Magen herum), die zweite Generation der Stern · 
thiere, welche fpäterhin gefehlechtsreif wird. Diefe zweite Generation, welche im 
entwideltem Zuftande auf Taf. IX abgebilbet ift, emtficht urfpränglich als ein 
Stod (Cormus) von fünf, ſternförmig mit einem Ende verbundenen Würmern, 
wie am Marften bei den Seeſternen, ber älteften und urfprünglichften Form ber 
Sternthiere, zu erkennen ift. Die zweite Generation eignet ſich von ber erſten, 
auf deren Koſten fie wädft, nur ben Magen umb einen einen Theil ber übrigen 
Organe an, währen Mund. und After meu fi bilben. Die Wimperſchaut und 
ber Reh des Ammenkörpers gehen fpäterhim verloren. Anfänglich iR’ die zweite 
Generation (A5—DB) Hleiner, darauf nicht viel größer al® die Amme, während fie 
fpäterhin durch Wachethum mehr als hundertmal ober ſelbſt taufenbınal größer 
wird. Wenn man bie Ontogenie der tipiſchen Repräfentanten ber bier Sternthier · 
Elaſſen mit einander vergleicht, fo wird man leicht gavahr, daß fidh bie urfpräng- 
liche Art der Entwidelung bei den Serſternen (4) and Seeigeln (C) amı beflen 
durd; Vererbung confervirt Hat, während fie bagegen bei ben Seclilica (B) ums 
Sergurten (D) nad) dem Geſetze der abgelärzten Bererbung (©. 190) art zufam- 
mengegogen worden ift. 

Taf. IX zeigt die entwidelten und gejchledhtöreifen Thiere der zweiten Gene- 
ration von ber Mundſeitt, welche in natirlicrer Stellung ber Steruthiere (em 
fie auf dem Meeresboden kriechen) bei den Seeſternen (AB) unb Secigeln (C6) 
nach unten, bei den Sediilien (B6) nach oben, und bei den Gergunfen (De) mach 
vorn gerichtet if. Im ber Mitte gewahrt man bei allen vier Sternthieren bie 
fternförmige, fünffteaflige Mundöffuung. Bei den Geeßernen (46) geht won 
deren Ecen eine mehrfache Reihe von Saugfüßden in der Mitte der Unterfeite 
jebed Armes bis zur Spitze hin. Bei ben Seclilien (B6) if jeder Arm von der 
Bafis an gefpalten und geflebert. Bei den Gerigelu (Ce) find bie fünf Strike 
der Saugfüßchen durch breitere Felder vom Stacheln getrennt. Bei ben Geegur- 
ten endlich (D6) find anßerlich an dem ſcheiubar unznäänlicen Körper beld die 
fünf Füßchenveihen, bald nur die den Mund wngebenden 5—15 (hier 30) gefe · 
derten Mundarme ſichtbar. 


Anhang. Erklärung der Tafeln. 671 


Daf. X und XI (wilden ©. 486 und 487). 


Entwidelungẽgeſchichte der Kreböthiere (Crustacen). Die beiden Tafeln 
erläutern bie Entwidelung der verfchiedenen Cruſtaceen aus ber gemeinfamen 
Stammform des Nauplins. Auf Taf. XI find ſechs Krebsthiere aus ſechs ver- 
ſchiedenen Orbmungen in volltommen entwideltem Zuſtande bargeftellt, während 
auf Taf. X die naupfiusartigen Jugendformen bderjelben abgebildet find. Aus 
der weſentlichen Uebereinftimmung biefer letzteren Täßt fi mit voller Sicherheit 
auf Grund des biogenetifhen Grundgeſetzes (S. 361) die Abſtammung aller ver- 
ſchiedenen Cruſtacern von einer einzigen gemeinfamen Stammform, einem Tängft 
ansgeftorbenen Naupfin® behaupten, wie zuerft Fritz Müller '®) in feiner vor» 
zuglichen Scheift „Air Darwin“ dargethan Hat. 

Taf. X zeigt die Nauplius-Jugendformen von ber Bauchſeite, fo 
daß bie drei Beinpaare deutlich hervortreten, welche an dem kurzen breigliederigen 
Rumpfe anfiten. Das erfte von biefen Beinpaaren ift einfach und ungefpalten, 
während das zweite und dritte Beinpaar gabeffpaltig find. Alle drei Paare find 
mit fteifen Borften befetst, weldje bei ber Ruberbewegung ber Beine als Schwimm- 
wertzeuge dienen. In ber Mitte des Körpers ift der ganz einfache, gerade Darım- 
anal ſichtbar, welcher vorn einen Mund, hinten eine Afteröffnung beflgt. Born 
über dem Munde figt ein einfaches unpaares Auge. Im allen diefen wefentlichen 
Eigenſchaften der Organifation ftimmen die ſechs Nauplins-Formen ganz überein, 
während bie ſechs zugehörigen ausgebildeten Krebeformen (Taf. IX) äußerft ver- 
ſchiedenartig organifirt find. Die Unterſchiede ber ſechs Nauplius · Formen befchrän- 
ten ſich anf ganz untergeordnete und unweſentliche Verhältniſſe in ber Körpergröße 
und ber Bildung der Hautdecke. Wenn man biefelben im geſchlechtsreifem Zuftande 
in dieſer Form im Meere antreffen twitrde, fo wilrbe jeder Zoologe ſie als ſechs 
verſchiedene Speties eines Genuß betrachten (vergl. S. 487). 

Taf. XI ſtellt die ausgebildeten umb gefchlehtsreifen Krebeformen, die ſich aus 
jenen ſechs Nauplius- Arten ontogenetifh — und alſo auch phylogenetiſch! — 
entwickelt haben, von ber rechten Seite geſehen dar. Fig. Ac zeigt einen frei 
ſchwimmenden SäftoafierteebS (Limuetis brachyara) aus der Ordnung der Batt- 
füßer (Phyliopoda) ſchwach vergrößert. Unter allen jet noch lebenden Erufta- 
ceen fteht biefe Ordnung, welche zur Legion der Kiemenfitfjer (Branchiopoda) 
gehört, ber urfpränglichen gemeinfamen Stammform bes Nanplius am nachſten. 
Die Limnetis ift in eine zweitlappige Schale (mie eine Muſchel) eingefhloffen. In 
unferer Figur (melde nad; Grube copirt ifl), ficht man ben Körper eine® weib- 
lichen Thieres in der Tinten Schale Tiegend ; bie rechte Schalenhälfte iſt wegge - 
nommen. Born Hinter bem Ange fieht man die zwei Flhlhörner (Antennen) und 
dahinter die zwölf blattartigen Füße ber rechten Rörperfeite, Hinten auf dem Riten 
(unter der Sthale) die Gier. Vorn oben if das Thier mit der Schafe verwadifer. 


672 Anhang. Erklärung der Tafeln. 


Fig. Be feilt einen gemeinen, frei ſchwinnnenden Süßtmofferfeebs (Cyclop- 
quadricornis) auß der Ordnung der Ruberkrebfe (Eucopepoda) flarf wergrö 
Bert dar. Born unter dem Auge ſieht man die beiden Fühlhörner der rechten 
Seite, von denen das vordere viel Tänger als das Hintere if. Dahinter folgen die 
Kiefer, und danır die vier Ruderbeine der rechten Seite, welche gabelſpaltig find. 
Hinter biefen find die beiden großen Gierfäde am Grunde des Hinterfeibes fidhtbar. 

Big. Ce if ein ſchmarohender Rudertrebs (Lernasocers esocina) aus der 
Ordnung der Fifhläufe (Siphonostoma). Diefe ſonderbaren Krebfe, welche man 
früher für Würmer hielt, find durch Anpaſſung an das Schmarogerleben aus den 
frei ſchwimmenden Rubderkrebfen (Eucopepoda) entflanden und gehören mit ihnen 
zu berfelben Legion (Copepoda, ©. 488). Indem fie fih an den Kiemen oder der 
Haut von Fiſchen, oder an andern Krebſen feitjegten uud von deren Körperfaft 
ernährten, büßten fie ihre Augen, Beine und andere Organe ein, und wuchſen 
zu unförmlichen ungegliederten Säden aus, in denen man bei äußerer Betrad- 
tung faum noch ein Thier vermuthet. Nur die legten Ueberbleibfel der fait gan; 
verloren gangenen Beine erhalten ſich nod auf der Bauchſeite im Ferm von 
kurzen fpigen Borften. Zwei von biefen vier rubimentären Beinpaaren (das britte 
und vierte) find in unferer Figur (rechts) ſichtbar. Oben am Kopf fickt man 
dide, unförmliche Anhänge, von denen die unteren gefpalten find. Ju der Mitte 
des Körpers fieht man ben Darmlanal durchſchimmern, der von einer dunfen 
Betthülle umgeben ift. Neben feinem hinteren Ende ficht man den Gileiter und 
die Kittbrüfen des weiblichen Geſchlechtsapparats. Aeußerlich hängen bie beiben 
großen Cierfäce (wie bei Cyclops, fig. B). Unfere Lernaexera ift halb vom Kü 
den, Halb von ber rechten Seite gefehen und ſchwach vergrößert. 

Fig. De zeigt eine fehfigende fogenannte „Entenmufchel” (Lepas anatifera), 
aus ber Ordnung der Ranlentrebfe (Cirripedia). Diefe Krebfe, über welche 
Darwin eine höchſt forgfältige Monographie geliefert hat, find in eine zweiflap 
pige Loltjchale, gleich den Muſcheln, eingefchlofien, und wurden daher früher al 
gemein (fogar noch von Euvier) für muſchelartige Weichthiere oder Mollusken ge 
halten. Erſt durch die Kenntniß ihrer Ontogenie und ihrer Rauplins- Jugendform 
(Dn, Taf. VII) wurde ihre Eruflaceen-Ratur feſtgeſtellt. Unſere Figur zeigt eine 
Eutenmuſchel“ in natürlicher Größe, von ber reiten Seite. Die rechte Hälfee 
der zweillappigen Schale ift entfernt, fo daß man ben Körper in der linken Scha 
Ienhälfte liegen fieht. Bon dem rubimentären Kopfe ber Lepes geht ein langer 
fleifdjiger Stiel aus (in unferer Figur nach oben gefrümumt), mittelft deſſen der 
Rantenkrebs an Felfen, Schiffen u. |. w. feſtgewachſen if. Auf der Baudzfeite 
figen ſechs Fußpaare. Jeder Fuß ift gabelig in zwei lange, mit Borſten bejegtr, 
getrümnte ober aufgerollte „Raufen” gejpalten. Oberhalb des Ichten Guipuart 
tagt nad) hinten ber diluue, cylindriſche Schwanz vor. 





Anhang. Erflärung der Tafeln. 673 


Big. Ee fellt einen ſchinarotzenden Sacktrebs (Sacculina purpurea) aus der 
Ordnung der Wurzelfrebfe (Rhizocephala) dar. Diefe Parafiten haben ſich 
durch Anpaſſung an das Schmarogerleben in ähnlicher Weiſe aus ben Ranten- 
trebfen (Fig. De) entiwidelt, wie bie Fiſchläuſe (Ce) aus den frei ſchwinnnenden 
Ruderkrebſen (Be). Jedoch ift die Berkimmerung durch die ſchmarotzende Lehens- 
weife und die dadurch bedingte Rüdbildung aller Organe Bier noch viel weiter ge- 
gangen, als bei den meiften Fiſchlauſen. Aus dem geglieberten, mit Beinen, Darm 
und Auge verfehenen Krebfe, ber in feiner Jugend als Naupfius (En, Taf. VII) 
munter umherſchwanm, ift ein unförmlic;er ungegliederter Sad, eine rothe Wurft 
geworden, welche nur noch Geſchlechtsorgane (Eier und Sperma) und ein Darm- 
zubiment enthält. Die Beine und das Auge find völlig verloren gegangen. Am 
Binteren Ende iſt bie Gefdlehtsöffnung (die Mündung ber Bruthöhle). Aus 
dem Munde aber iſt ein dichtes Buſchel von zahlreichen, baumförmig verzweigten 
Burzelfafern hervorgewachſen. Dieſe breiten ſich (tie bie Wurzeln einer Pflanze 
im Exbboden) in dem weichen Hinterleibe des Einſiedlerkrebſes (Pagurus) aus, an 
dem ber Wurzeltrebs ſchmarotzend feffigt, und aus weldem er fühe Nahrung 
faugt. Unfere Figur (Ec), eine Eopie nach Fri Mülter, it ſcwach vergrößert 
und zeigt ben ganzen twurftförmigen Sackrebs mit allen Wurzelfafern, bie aus 
dem Leibe des Wohnthiered herausgezogen find. 

Fig. Fe ift eine Garneele (Peneus Mülleri), aus der Ordnung der Zehn“ 
füß er (Decapoda), zu welcher auch unfer Flußkrebs und fein nächſter Verwandter, 
der Hummer, ſowie die kurzſchwwänzigen Krabben gehören. Diefe Ordnung enthält 
bie größten und gaſtronomiſch wichtigſten Krebfe, und gehört ſanmnt den Mauf- 
füßern und Spaltfüßern zur Legion ber flieläugigen Panzertrebfe (Podophthalma). 
Unfere Garneele zeigt, ebenfo wie unfer Flußkrebs, auf jeber Seite unterhalb bes 
Auges vorn zwei lange Fuhlhörner (da$ erfle viel fürzer wie das zweite), dann 
drei Kiefer und drei Kieferfüße, bann fünf fehr Tange Beine (von denen bei Pe- 
neus bie drei vorderen mit Scheeren verfehen und daB dritte das Tängfte if). 
Endlich figen an den 5 erſten Gliebern des Kinterleibes nod 5 Baar Afterfüfe. 
Auch dieſe Garneele, welche zu den höchſt entwickelten und volllommenſten Krebfen 
gehört, entſteht nach Erik Müller’s wichtiger Entdedung aus einem Nauplius 
(En, Taf. VEIT), und beweiſt fomit, baß auch bie Höheren Eruflaceen ſich aus 
derfelben Nauplius-Form, wie die niederen entwidelt haben (vergl. ©. 487). 


Taf. XII umd XII (zwiſchen ©. 510 und 511). 

Die Blutsverwandtſchaft der Wirbelthiere und der Wirbellofen (vergl. 
©. 486 und 510). Diefe wird befinitiv begründet durch Kowalevsky's wichtige, 
von Kupffer beflätigte Entdedung, daß die Ontogenie be niederften Wirbelthieres, 
des Lanzetthieres oder Amphiorus, in ihren weientlichen Grundzügen völlig über- 

Hackel, Ratäzl. Shöpfungageiä. 5. Aufl, 43 


674 Anhang. Erflärung der Tafeln. 


einftimmt mit derjenigen der wirbellofen Seefcheiden oder Aseidien, aus der Klafie 
der Mantelthiere oder Tumicaten. Auf unfern beiden Tafeln ift die Ascidie mit A. 
der Amphiorus mit B bezeichnet. Zaf. XIII ſtellt diefe beiden fehr verſchiedenen 
Thierformen völlig entwidelt dar, und zwar von der linken Seite ge 
ſehen, das Mundende nach oben, das entgegengefegte Ende nach unten gerichtet. 
Daher if in beiden Figuren die Riüdenfeite nad; rechts, die Bauchſeite nach lints 
gewendet. Beide Figuren find ſchwach vergrößert, und die innere Organijation der 
Tiere iſt durch die durchſichtige Haut hindurch deutlich fichtbar. Die erwachſene 
Seeſcheide (fig. A6) fügt unbeweglich auf dem Meeresboden feſtgewachſen auf, und 
Hammert fih an Steinen und dergl. mittelft befonderer Wurzeln ıw) an, we 
eine Pflanze. Der erwachſene Amphiorus dagegen (Fig. B6) ſchwimmu frei nın- 
ber, wie ein Fiſchchen. Die Buchflaben bedeuten in beiden Figuren bafielbe, und 
gar: a Mundöffnung. bLeibesöffnung oder Porus abbominalis. c Rüdenftrang 
oder Chorda borfalis. dDarın. eGierfiod. fGileiter (vereinigt mit dem Se 
menleiter). g Rüdenmart. h Herz. iBlinddarn. k Kiementorb (Athemhöhle). 
1 Leibeshöhle. m Muskeln. nXeflitel (bei ber Seeſcheide mit dem Eierſtec zu 
einer Zwitterbrüfe vereinigt). o After. pGeidlehtsöffnung. «Reife entwidelte 
Embryen in der Leibeshöhle der Ascidie. rflofienftraplen der Rüdenfiofie won 
Amphiorus. ⸗ Schtwanzfloffe des Langetthieres. wWurgeln der Ascidie. 

Taf. XII ſtellt die Ont ogeneſis oder bie individuelle Entwidelung der Asci- 
die (A) und des Amphiorus (B) in fünf verfdiebenen Stabien bar (1-5). 
Fig. 1 iR das Ei, eine einfache Zelle wie das Ci bes Menfchen und aller anderen 
Thiere (Fig. A 1 das Ei der Seeſcheide, Fig. B 1 das Gi des Lanzetthiereß). Die 
eigentliche Zellfubftang oder das Protoplasına der Eizelle (=), der ſogenaunte Gi- 
dotter, ift von einer Hülle (Zellmembran oder Dotterhaut) umgeben, und flieht 
einen kugeligen Zelltern oder Nucleus (y), biefer wiederum ein Kernlörperchen 
oder Nucleoluß (x) ein. Wenn ſich das Ei zu entwideln beginnt, zerfällt die Ei- 
zelle zunãchſt in zwei Zellen. Indem ſich biefe wieberum theilen, eutftchen zu · 
näcjR vier Zellen (Fig. A 9, B 2), und aus diefen durch wiederholte Teilung act 
Zellen (Fig. A 8, B 8). Zuletzt entficht fo aus dem einfachen Gi ein kugeliger 
Haufe von Zellen (&. 170, Fig. 40, D). Indem fid) im Inneren deſſelben 
Flüffigfeit anfammelt, eutſteht eine kugelige, von einer Zellenfdicht umjdloffene 
Blafe. An einer Stelle ihrer Oberfläche füllpt ſich dieſe Blaſe tafchenförmig ein 
(Fig. A4, B4). Diefe Einſtulpung iſt bie Anlage bes Darme, deifen Höhle 14 1) 
fich durch den probiforifchen Larvenmund (d4) nad} aufen öffnet. Die Darınwand, 
welche zugleich Körperwanb if, beſteht jetzt aus zwei Zellenſchichten („Reimbläs- 
teen‘). Rum wächft die kugelige Larbe (,Gaftrula“, ©. 449) in bie Länge. fig. AS 
zeigt die Larve ber Mecidie, Fig. B5 biejenige des Amphiorus, von der Hinten 
Seite gefehen, in etiwas weiterer Gutwwidelung. Die Darmhöhle (41) Sat fi ge- 





Anhang. Erllarung ber Tafeln. 675 


föloflen. Die Rückenwand des Darms (d2) iſt concan, die Bauchwand (d3) 
conver gefrümmt. Oberhalb des Darmrohrs, auf befien Rüdenfeite, hat ſich das 
Medullarrohr (81), bie Anlage des Rückenmarks, gebildet, defien Hohlraum jet 

“ mod) vorn nad außen miudet (82). Zwiſchen Rüdenmart und Darm ift ber 
Rüdenftrang oder bie Chorda dorſalis (c) entftanden, die Age des inneren Ste» 
lets. Bei der Farbe der Ascidie ſetzt fich diefe Chorda (c) in den Tangen Ruber- 
ſchwanz fort, ein Larvenorgan, welches fpäter bei ber Verwandlung abgervorfen wird. 
Jedoch giebt es auch jet noch; einige fehr Heine Aseibien (Appendicularia), welche 
ſich nicht verwandeln und feftfegen, ſondern zeitlebens mittelft ihres Ruderſchwanzes 
frei im Meere umherſchwimmen. 

Die ontogenetiſchen Thatſachen, welche auf Taf. XL ſchematiſch bargeftellt find, 
und welche erft 1867 bekannt wurden, beanfprudien bie allergröfte Bedeutung und 
tönnen in der That nicht Hoch genug gefchägt werden. Sie füllen die tiefe Kluft 
aus, welche in der Anſchauung der bisherigen Zoologie zwiſchen den Wirbelthieren 
unb ben fogenannten „Wirbellofen“ beftand. Diefe Muft wurde allgemein für jo 
bebeutend und für fo unausfüllbar gehalten, daß fogar angefehene und der Ent- 
widelungstheorie nicht abgeneigte Zoologen darin eines der größten Hinderniſſe für 
dieſelbe erblidten. Indem nun die Ontogenie des Amphiorus und der Ascidie 
dieſes Hinderniß gänzlich aus dem Wege räumt, macht fie es uns zum erſten 
Male möglich, den Stammbaum des Menſchen unter den Amphioxus hinab in 
den vielvergweigten Stamm ber „wirbellofen” Würmer zu verfolgen, aus welchem 
auch die übrigen Höheren Thierflämme entfprungen find. - 


Taf. XIV (wiſchen ©. 528 und 529). 


Eiuſtämmiger oder monophyletifher Stammbaum des Wirbelthierkams 
med, darftellend bie Hypotheſe von der gemeinfamen Abftammung aller Wirbel- 
thiere und die gefchichtliche Enttvidelung ihrer verfchiedenen Klafien während ber 
palãontologiſchen Perioden der Erdgeſchichte (vergl. den XX. Vortrag, S. 502). 
Durch die horizontalen Linien find die (auf S. 844 angeführten) Perioden der or- 
ganiſchen Erdgeſchichte angedeutet, während deren ſich die verfteinerungsführenben 
Erdſchichten ablagerten. Durch die vertitalen Linien find bie Klaſſen und Unter- 
Hoffen der Wirbelthiere von einander getrennt. Die baumförmig verzweigten Li⸗ 
nien geben durch ihre größere ober geringere Zahl und Dichtigfeit ungefähr den 
größeren oder geringeren Grab der Euntwidelung, ber Mannicdfaltigfeit und Boll- 
lommenheit an, ben jede Klafie im jeder geologiſchen Periode vermuthlich erreicht 
Batte, Bei benjenigen Klaſſen, welche wegen der weichen Beſchaffenheit ihres Kör- 
pers feine verfleinerten Refte hinterlaſſen tonnten (namentlich bei den Prochordaten, 
Arranien, Monorhinen und Dipneuſteu) ift der Yauf der Cutwidelung Bypothe- 
tiſch angedeutet auf Grund derjenigen Beziehungen, welde zwiſchen den brei Schö- 

43* 


676 Anhang. Erflärung ber Tafeln. 


PfungSurfunben ber vergleichenden Anatomie, Ontegenie umb Paläontologie eri- 
firen. Die wichtigſten Anhaltspunkte zur hypothetiſchen Ergänzung der paläonto- 
logiſchen Lüden Liefert Bier, wie überall, das biogenetifhe Grundgefeg, 
welches fi auf den innigen Caufalnerus zwifhen der Ontogenie und 
Phylogenie fügt (vergl. ©. 276 und 361, ſowie Zaf. VIIL—XII). Ucherall 
müffen wir die individuelle Entwidelung als eine kurze und ſchuelle (durch die 
Gefege der Vererbung verurſachte, durch bie Geſete der Anpafiung aber abgeän- 
derte) Wiederholung ber paläontologifchen Stammegentwidelung betrachten. Dieferr 
Sat iR das „Ceterum censeo“ unferer Entwidelungelchre. 

Die Angaben über das erfle Erſcheinen oder den Eutſtezungtzeitraum der ein- 
zelnen Klafſen und Unterklafien der Wirbelthiere find auf Taf. NIV (adgefchen 
von ben angeführten hypothetiſchen Ergänzungen) möglihft ſtreng den paläontelo- 
giſchen Thatſachen entnommen. Jedoch ift zu bemerfen, daß im Wirklichleit die 
Entftefung der meiften Gruppen wahrſcheinlich um eine oder einige Perioden früher 
fält, als un® heute bie Verſteinerungen anzeigen. Ich ftimme hierin mit dem 
Anfihten Hugley’s überein, Habe jedoch auf Taf. Vund XIV hiervon abgefe- 
hen, um mich nicht zu ſehr von den paläontologifchen Thatſachen zu entfernen. 

Die Zahlen Haben folgende Bedeutung (vergl. bazu den XX. Vortrag und 
©. 512, 513). 1. Thieriſche Moneren. 2. Thieriſche Amoeben. 3. Amseben- 
gemeinden (Synamoebae). 4. Ylimmerfdtwärmer (Planes). 5. Uxdarmthiere 
(Gastraea). 6. Strubelivürmer (Tubellaria). 7. Manteltfiere (Tunicata). 8. Lan- 
zetthier (Amphiozus). 9. Inger (Myxinoida). 10. Lampreten (Petromyzontia). 
11. Unbetonnte Uebergangsformen von ben Unparnafen zn den Urfiſchen. 12. Si 
luriſche Urfifche (Onchus ete.). 18. Lebende Urfiſche (Haifiſche, Kochen, Chimären). 
14. Aelteſte (filurifche) Schmelzfifche (Pieraspis). 16. Schildtrötenfiſche (Pamphraeti) 
16. Störfifde (Sturiones). 17. Edfuppige Schmelzfiſche (Rhombiferi). 18. Kuno 
chenhecht (Lepidosteus). 19, Ylöfielhecht (Polypterus). 20. Hoblgrätenfihche (Cos- 
loscolopes). 21. Dichtgrãtenfiſche (Pyenoscolopes). 22. Kahlhecht (Amia). 23. Ur- 
Imodjenfiiche (Thrissopide). 24. Knochenfiſche mit Luftgang der Schavinmnbleſe 
(Physostomi). 25. Anochenfiſche ohne Luftgang der Schwinmblafe (Physoelisti). 
26. Unbelannte Zwiſchenformen zwiſchen Urfiſchen und Qurdfifgen. 27. Cerato- 
dus. 27a. Außgeftorbener Ceratodus ber Trias. 27b. Lebender auftralifcher Ge- 
ratodus. 28. afrilaniſcher Lurchfiſch (Protopteras) und Ameritaniſcher Lurchfiſch 
(Lepidosiren). 29. Unbelannte Zwiſchenformen zwiſchen Urfiſchen und Amhi 
bien. 80. Schunelzköpfe (Ganocephals). 31. Wicdelzähner (Labyrinthodontar 
32. Blindivühlen (Caeeiliae). 33. Kiemenlurche (Sozobranchia). 34. Scan. 
lurche (Sozura). 85. Froſchlurche (Anura). 36. Gabelberner oder Dichthalanthen 
(Proterosaurus). 37. Unbefannte Zwiſchenformen zwiſchen Amphibien und Protam- 
nien. 38. Protamnien (gemeinfame Stammform aller Yınmionthiere). 39. Stamm- 


Anhang. Grklärung den Tafeln. 677 


fänger (Promammalia). 40. Urſchleicher (Proreptilie). 41. Fadgähner (Thecodon- 
tia). 42, Urbrachen (Simosauris). 43. Schlangendradjen (Plesiosauria). 44. Fiſch- 
bradjen (Ichthyosauria). 45. Teleofaurier (Amphicoels). 46. Steneofaurier (Opi- 
sthocoela). 47. Alligatoren (Prosthocoels). 48. Fleifchfreffende Dinofaurier (Har- 
pagosaurie). 49. Bflangenfreffenbe Dinofaurier (Therosauria). 50, Moſeleidechſen 
(Mosassuria). 51. Gemeinfame Stammform ber Schlangen (Ophidia). 52. Hunds- 
zahnige Schnabeleidechſen (Cynodontia). 58. Zahnlofe Schnabeleidechſen (Crypto- 
dontia). 54. Langſchwänzige Flugeidechſen (Rhamphorbyuchi). 55. Kurzgſchwän - 
ige Slugeibechfen (Pterodactyli). 56. Lanbfchilbfröten (Chersita). 57. Vogelſchlei- 
her (Tocornithes): Zwiſchenformen zwiſchen Reptilien und Vögeln, 58. Urgreif 
(Archaeopteryz). 59, Waſſerſchnabelthier (Ornithorhynchus). 60. Landſchnabel · 
thier (Echidna). 61. Unbefannte Zroifchenformen zwiſchen Gabelthieren und Beu- 
telthieren. 62. Unbelannte Zwiſchenformen zwiſchen Beutelthieren und Placental- 
tieren. 63. Bottenplacentner (Villiplacentalis). 64. Gürtelplacentner (Zonopla- 
eentalia). 65. Gcheibenplacentner (Discoplacentalia). 66. Der. Menſch (Homo 
pithecogenes, von Linne irrthiumlich Homo sapiens genannt). 


Daf. XV (am Ende des Bude). 

Hypothetifhe Slizze des monophyletiſchen Urſpruugs und der Verbrei⸗ 
tung der zwölf Menſchen-Species von Lemurien aus über bie Erde. Selbſt- 
verſtãndlich beanfprucht bie hier graphiſch fligzirte Hypothefe nur einen ganz 
proviforifgen Werth und hat lediglich den Zweck, zu zeigen, wie man ſich 
bei dem gegenwärtigen unvolltommenen Zuftande unſerer antbropologifchen Kennt- 
niffe die Ausſtrahlung der Menſchenarten von einer einzigen Urheimath aus un⸗ 
gefähr benfen kann. Als wahrſcheinliche Urheimath ober „Paradies“ ift Hier 
Lemurien angenommen, ein gegenwärtig unter ben Spiegel des inbifchen Oceans 
verfunfener tropifcher Eontinent, deſſen frühere Eriftenz in ber Tertiärzeit durch 
zahlreiche Thatſachen der Thier- und Pflanzengeograpfie ſehr wahrſcheinlich gemacht 
wird (vergl. ©. 821 und 619). Indeſſen iſt es auch ſehr möglich, daß die hypo · 
thetiſche „Wiege des Menſchengeſchlechts weiter öffich (im Himter- ober Vorder⸗ 
Imdien) oder weiter weſtlich (im öftlichen Afrika) lag. Künftige, namentlich ver- 
gleichend · anthropologiſche und pafäontofogifdje Forſchungen werben uns hoffentlich 
in den Stand ſetzen, die vermuthliche Lage der menſchlichen Urheimath genauer zu 
beftimmen, als es gegenwärtig möglich iſt. 

Wenn man unſerer monophyletiſchen Hypotheſe bie polyphyletiſche vorzieht 
und anninunt, daß die verſchiedenen Menſchenarten aus mehreren verſchiedenen 
anthropoiden Affenarten durch allmahliche Vervolllonnnnung entflanden find, fo 
ſcheint unter den vielen, hier möglichen Ohpotheſen am meiſten Vertrauen bieje- 
nige zu verdienen, welche eine zweifache pithekoide Wurzel des Men- 


678 Anhang. Erklarung ber Tafeln. 


ſchengeſchlechts annimmt, eine afiatiſche und eine afrikaniſche Wurzel. Es 
iſt nämlich eine ſehr bemerlenswerthe Thatſache, daß die afrik aniſchen Men- 
ſchenaffen (Gorilla und Schimpanſe) ſich durch eine entſchieden langlöpfige oder 
dolichoeephale Schädelform auszeichnen, ebenſo wie bie Afrika eigen- 
thumlichen Menſchen arten (Hottentotten, Kaffern, Neger, Nubier). Auf der 
anderen Seite ſtimmen die aſiatiſchen Menſchenaffen (usbeſondere der 
Heine und große Drang) durch ihre deutlich kurztopfige oder brachyeephale 
Schädelform mit den vorzugsweiſe für Afien bezeichnenden Menfden- 
arten (Mongolen und Malayen) überein. Man könnte daher wohl verſucht fein, 
diefe Tegteren (afiatifche Menſchenaffen und Urmenfchen) von einer gemeinfamen 
brachycephalen Affenform, die erfteren dagegen (afrikaniſche Menſchenaffen und Ur- 
menfchen) von einer gemeinfamen dolichorephalen Affenforin abzuleiten. 

Auf jeden Fall bleiben das tropifche Afrita und das fübliche Afien (und zwi- 
fchen beiden möglicherweife daß fie früher verbindende Lemurien ?) diejenigen Theile 
der Erde, welche bei der Frage von der Urheimath des Menſcheugeſchlechts ver 
allen anderen in Betracht fommen. Entſchieden ausgefchloffen find bei diefer Frage 
dagegen Amerika und Auftralien. Auch Europa (welches übrigens nur eine be 
günftigte weſtliche Halbinfel von Afien ift) befigt ſchwerlich für die „Parabiet- 
Frage” Bebeutung. 

Daß die Wanderungen der verſchiedenen Menfchenarten von ihrer Uchermath 
aus und ihre geographifche Berbreitung auf unferer Taf. XV nur ganz im Allge 
meinen nnd in den gröbften Zügen angedeutet werden konnten, verftcht ſich von 
ſelbſt. Die zahlreichen Kreuz und Querwanderungen der vielen Zweige nnd 
Stämme, ſowie ihre oft fehr einflufgreichen Rücdtwanderungen mußten dabei gänzlich 
unberüdfichtigt bleiben. Um dieſe einigermaßen Mar darzuftellen, müßten erſtens 
unfere Kenntniffe viel volltändiger fein und zweitens ein ganzer Atlas mit vielen 
verſchiedenen Migrations-Ta’eln angewendet werben. Unfere Taf. XV beanfpruck 
weiter Nichts, als ganz im Allgemeinen die ungefähre geographiſche Berbreitung 
der 12 Menſchenarten fo anzudeuten, wie fie im fünfehnten Jahrhundert ver 
der allgemeinen Ausbreitung ber inbogermanifchen Raſſe) beftand, und wie fie ſich 
ungefähr mit unferer Defeendenzhypothefe in Einklang bringen läßt. Auf die gen 
graphiſchen Berbreitungsfchranten (Gebirge, Wüften, Fluſſe, Meerengen u. ſ. m.) 
brauchte bei diefer allgemeinen Digrationgffigge im Einzelnen um fo weniger ängR- 
liche Rüdfiht genommen zu werden, al® dieſe in früheren Perioden der Erdee · 
ſchichte ganz andere Gröfien und Formen hatten. Wenn die allmähliche Umbil- 
dung von katarhinen Affen in pithetoide Denfchen während der Tertiärgeit wirt- 
lid, in dem hypothetiſchen Lemurien ftattfand, fo muſſen auch zu jener Zeit die 
Grenzen und Formen der heutigen Gontinente und Meere ganz andere gemein 
fein. Auch der ſehr mädjtige Einfluß der Eiszeit wird file die chorologiſchen Frs · 


Anhang. Erklärung der Tafeln. 679 


‚gen von der Wanderung und Verbreitung ber Menfchenarten große Bedeutung bean- 
ſpruchen, obwohl er fi im Einzelnen noch nicht näher beftimmen läßt. Ich ver- 
wahre mic) alfo hier, wie bei meinen anderen Entwidelungshhpothefen, ausdrüd- 
Tich gegen jebe dogmatiſche Deutung; fie find weiter nichts als er ſte Berfucde. 


Daf. XVI (wilden S. 456 und 457). 
Eutwidelungdgefichte eined Kaltſchwammes (Olyathus). Bergl. ©. 456. 
Das Ei des Olynthus (Fig. 9), welder die gemeinfame Stammform aller Kalt- 
ſchwamme barftellt, ift eime einfadje Zelle (fig. 1). Aus biefer entfleßt durch 
wiederholte Theilung (Fig. 2) ein kugeliger, maulbeerförmiger Haufen yon lauter 
gleihartigen Zellen (Morula, Fig. 3; ©. 442). Indem ſich die Iegteren in äu- 
here, belle flimmernde Zellen (Eroderm) und innere, dunkle flimmerlofe Zellen 
(Entoderm) fondern, entfleht die Ylimmerlarve oder Planula (Big. 4). Diefe 
wird eiförmig und im Inneren bildet fih eine Höhle (Magenhöhle oder Urdarm, 
Big. 68), mit einer Öffnung (Mundöffnung oder Unmund, Fig. 60); die Wand 
der Mogenhöhle beftcht aus zwei Zellenſchichten oder Keimblättern, dem äußeren 
flimmernden Eroderm (e) und dem inneren flimmerfofen Entoderm (i). So ent» 
ſteht die äußerft wichtige Darmlarve oder Gaftrula, welche bei den verfchieden- 
ſten Thierſtammen als gemeinfame Jugendform wieberfehrt (Fig. 5 von aufen, 
Big. 6 im Längsfchnitt gefehen; vergl. ©. 443 und 581). Nachdem die Gaſtrula 
eine Zeitlang im Deere umher geſchwommen ift, fegt fie fih auf dem Meeres- 
boden feft, verliert die äußeren Flimmerhaare und verwandelt fi in die Ascula 
(Gig. 7 von aufen, Fig. 8 im Längsfnitt gefehen; Buchſtaben wie in Fig. 6). 
- Diefe Ascula wiederholt nad; dem biogenetifhen Gruudgeſetze bie gemeinfame 
Stammform aller Pflanzenthiere, den Protaſcus (©. 446, 449). Indem in 
ihrer Mageuwand Hauptporen (p) und breifttahlige Kaltnadeln entſtehen, ver« 
wanbelt fie fi in den Olyntgu8 (fig. 9. Aus ber vorderen Magenwand 
des Olynthus ift in Fig. 9 ein Stüd herausgeſchnitten, um die innere Magen- 
höhle und bie in der Mageufläche ſich bildenden Gier (8) zu zeigen. Aus dem 
Olynthus fönnen fi) die verfchiedenften Formen von Kaltſchwämmen entwickeln. 
Eine der merhvärdigften ift die ABcometra (Fig. 10), ein Stod, aus welchem 
verſchiedene Specied und fogar verſchiedene Gattungsformen hervorwachſen (links 
Olynthus, in der Mitte Narborus, rechts Soleniscus u. |. w.). Das Nähere über 
biefe höchſt interefjanten Formen und ihre hohe Bedeutung für bie Defcendenz- 
Theorie vergl. in meiner Monographie der Kallſchwaänune (1872), beſonders im 
erſten Bande, ©. 474, 481. 


Regifer. 


Abänderung 197. Anpaffung, correlatine 216. 
Abeſſinier 617, 624. — amulative 209. 

Acoelomen 468, 465. — birelte 202, 207. 

Atranien 506, 512, 584. — bivergente 221. 

Acyttarien 877, 887. — gehäufte 209. 

Adaptation 197. — gefdjlechtliche 205. 
Xethiopier 617, 624. — inbirefte 201, 204. 

Affen 545, 570. — inbivibuelle 204. 
Affenmenfchen 590, 597. — mittelbare 201, 204. 
Agaſſiz (Louis) 56, 62, 64. — monftröfe 205. 

Ahnenreihe des Menſchen 578, 592. — potentielle 201, 204. 
Aialephen 457, 460. — feguelle 205. b 

Algen 404, 406, — ſprungweiſe 205. 
Mluvial-Syftem 845. — unbefdjränfte 928. 

Altajer 605, 612. — unendliche 328. 

Amerifaner 604, 618. — umiverfelle 207. 

Ammnionlofe 512, 517. — unmittelbare 202, 207. 
Amnionthiere 512, 526. — wechfelbezügliche 316. 
Amnioten 512, 526. Anpaffungegefege 203. 
Amoeben 379, 579, Anthogoen 458, 

Amoeboiden 879. Anthropocentrifche Weltauſchanung 35. 
Amphibien 517, 523. Anthropoiden 571, 575, 590. 
Amphiorus 508, 684. Anthropolithiſches Zeitalter 844, 34T. 
Amphirhinen 511, 518. Anthropologie 7. 

Anamnien 512, 517. Anthropomorphiemus 17, 60, 
Angiofpernen 404, 430. Araber 617, 624. 

Anneliden 465, 466. Arachniden 492, 494. 
Anorgane 5, 291. Arbeitötheilung 241, 251, 456. 
Anorganologie 5. Archezoen 448, 450. 

Anpaflung 81, 189, 197. Ardjigonie 164, 801. 

— abweichende 231. Archolithiſches Zeitalter 240, 244. 
— actuelle 202, 207. Arier 617, 626. 





— allgemeine 207. Ariſtoteles 50, 69, 


Art 37, 244, 801. 
Arthropoben 448, 484. 
Articnlaten 487. 
ascidien 486, 510. 
Asconen 457. 
Aferiden 478, 480. 
Atavismus 186. 
Auſtralier 604, 609. 
Autogenie 808. 


Bär (Earl Ernft) 86. 

Bar's Abſtannnungslehre 97. 
Entwigelungegeſchichte 262. 
— Thiertypen 48, 486. 
Basten 616. 

Baſiarde 180, 180, 245. 
Baſtardzeugung 41, 189, 245. 
Vathybius 165, 806, 879. 
Berber 617, 684. 
Beutelergen 509. 
Bentelthiere 640, 548, 588. 
Beutler 540, 
Bevölterungszahlen 626. 
Bildnerinnen 308. 
Bilbungstriebe 80, 226, 800. 


Biogenetiſches Grundgefeg 276, 361. 
Ni [} 


Blumenlofe 402, 404. 
Blumenpflanzen 404, 497. 
Blumenthiere 458. 
Brachiopoden 471. 

Bruno (Giordano) 21, 64. 
Bruftlofe 538, 640. 
Bryogen 464, 486. 

Buch (Leopold) 95. 
Büchner (Louis) 98, 
Vaſchelhaorige Menſchen 603, 626. 


Cafeifpongien 456, 460. 
Cambriſches Suftem 840, 845. 
Carboniſches Syftem 342, 345. 
Carus (Bictor) 97. 

Cauſale Weltanſchauung 16, 67. 
hamiſſo (Abalbert) 185. 
Chineſen 606, 611. 

Chorologie 313. 

GenofitSifäjeß Zeitalter 344, 346. 


Regiſter. 


Cephalopoden 473, 474. 
Cochliden 478, 474. 
Coelenteraten 462, 460. 
Coelomaten 468, 466. 
Coniferen 404, 429. 
Cormophyten 408. 
Correlation der Theile 196. 
Crinoiden 480, 488. 
Eruflaceen 486, 488. 
Ctenophoren 452, 456. 
Cuvier (George) 46. 
Cuvier's Katallysmentheorie 53. 
— Boläontologie 49. 

— Revolutiongiehre 58. 

— Schopfungsgeſchichte 54. 
— Speriedbegrifi 46. 
— Streit mit Geofftoy 78. 
Thierſyſtem 48. 

— Thiertypen 48, 486. 
Cyeadeen 404, 429. 
Eycloftomen Bil, 512. 
Cytoden 808, 


681 


Darin (Charles) 117. 
Darwiniemus 183. 
Darwin's Korallentheorie 118. 
— Leben 117. 

— Reife 117. 

— Gelectiondtheorie 183. 
— Zaubenftubium 125. 
— Zaghtungelehre 188. 
Darwin (Erasmus) 108. 
Deriduathiere 544, 557. 
Decibualofe 544, 550. 
Dedfamige 404, 430. 
Debuction 77, 647. 
Demokritus 21. 

Denten 654. 

Devoniſches Syſtem 342, 345. 
Diatomeen 377, 885. 
Dide der Erdrinde 349. 
Dicotylen 404, 481. 
Differengirung 241, 253. 
Diluvial-Shftem 345. 





682 


Dravida 604, 614. 
Dualiſtiſche Weltanſchauung 19, 67. 
Dysteleologie 14, 644. 


Echiniden 480, 484. 
Schinodermen 476, 480, 

Egypter 617, 624. 

Ci des Menſchen 170, 265, 579. 
Eidechſen 580. 

Eier 170, 178, 

Eifurdung (Eitheilung) 170, 266, 580. 
Einheit der Natur 20, 301. 
Einheitliche Abſtammungshypotheſe 371. 
Einteimblättrige 404, 481. 
Gißzeit 324, 848. 

Eithiere 448, 450. 

Eimeisförper 294. 

Elephant 559. 

Empirie 71, 640. 

Endurſache 20, 31. 
Eocen · Syſtem 345, 346. 
Erbadel 161. 

Erblichkeit 168. 

Erbſunde 161. 

Erbweisheit 161. 

Erfenntniffe apofteriori 20, 636. 
— apriori 29, 6386. 

Erklärung der Erfdeinungen 28. 
Ernährung 199. 

Eftrellen 476. 


Üpdenpflangen 404, 414. 
Farne 420, 464. 
Filicinen 404, 421. 
Finnen 605, 612. 

File 515, 516. 
Flogellaten 877, 882. 
Flechten 404, 416. 
Blederthiere 544, 568. 
Flimmerkugeln 388. 
Flimmerſchwarmer 443, 444. 
Flugeidedjfen 530, 581. 
Fortpflanzung 164. 

— amphigone 175. 

— geſchlechtliche 175. 
— jungfräulihe 177. 
— monogone 164, 


Regiſter. 


Fortpflanzung, feruelle 175. 
‚— ungefäjleditlide 164. 
Fortſchritt 247, 262. 

Frele 106. 
dulater 604, 616. 


Softrän 444, 445. 

Gaſtrãaden 453, 581. 

Gaſtrula 448, 444. 

Gattung 37. 

Gegenbaur 278, 491, 508. 
Gehirnentwidelung 270. 

Geiſt 20, 650. 

Geiftige Entwidelung 685, 650. 
Geißeljhwärmer 377, 382. 
Gemmation 172. “ 
Generationswechſel 187, 483. 
Genuß 37. 

Geocentriſche Weltanſchanung 35. 
Geoffroh ©. Hilaire 77, 108. 
Germanen 617, 625. 
Geſchlechtstrennung 176. 
Gefaltungsträfte 80, 300. 
Gibbon 570, 576. 
Glauben 8, 628. 
Gliederthiere 448, 484. 
Gliebfüßer 485. 

Goethe (Wolfgang) 78. 
Goethes 

— Bildungstriebe 82, 226. 
— Biologie 80. 

— Entroiselungslchte 88. 
— Gottebidee 64. 

— WMaterialiomus 20, 651. 
— Metamorphofe 81. 

— Noaturanſchauung 20. 
— Naturforfdung 73. 

— Naturphilofophie 78. 
— BPflanzenmetamorphefe 74. 
— Specifitationetries 81. 
— Birbeitheorie 76. 

— Zwifdentieferfund 16. 
Oonocheriemus 178, 
Gonocheriſten 176. 

Gorilla 570, 675. 
Gottesvorſtellung 64. 

Grant 106. 


8. 





Gregarinen 448, 451. 
Griechen 617, 625. 
Gymnoſpermen 404, 428. 


Halbaffen 544, 558, 589. 
‚Halifaurier 512, 591. 
Hafenfaninden 181, 245. 
Hausthiere 122. 
Heliozoen 389. 

‚Herbert 105. 

‚Herebität 158. 
Hermaphrobitismuß 176. 
Hermaphroditen 176. 
Herſchel's Kosmogenie 285. 
Himategen 583, 592. 
Hirnblafen des Menſchen 271. 
Holothurien 480, 484. 
Hoofer 106, 

‚Hottentotten 607, 626. 
Hüllcptoden 308. 
Hüllzellen 308. 

Hufthiere 552, 554. 
Surxley 106, 130, 568. 
Hybridismus 189, 245. 
Hydromeduſen 458, 460. 


Japaneſen 605, 612, 
Imdividuelle Entwidelung 261. 
Indochineſen 605, 612, 
Indogermanen 617, 625. 
Iubuction 77, 647, 
Infufionsthiere 448, 451. 
Infuforien 448, 451. 
Mophyten 404, 414, 
Inſelten 494, 496. 
Inſettenfreſſer 545, 561. 
Inſtinkt 636. 

Jraner 617, 624. 

Juden 617, 624. 
Jura⸗Syſtem 348, 345. 


Kaffern 607, 626. 
Kaltidtwänune 456, 460. 
Kammerweien 887. 
Kammquallen 459, 460. 
Kampf um's Dafein 143, 225. 
Kant (Immanuel) 89. 





Regiſter. 683 


Kant's Abſtammungslehre 98. 
— Erdbildungstheorie 92. 

— Entwidelungotheorie 285. 
— Kritik der Urtheilstraft 91. 
— Mechanismus 34, 91. 

— Naturphilofophie 90, 
Katallatten 377, 884. 
Katarhinen 570, 573, 
Kaufafler 615, 616. ” 
Keimknospenbildung 173. 
Keimgellenbildung 174. 
Kiemenbogen des Menſchen 274. 
Kiementerfe 486, 488. 
Riefelgellen 377, 885. 
Kima-Wechfel 323. 
loalenthiere 539, 548. 
Knochenfiſche 516, 519. 
Knospenbilbung 772. 
Kohlenſtoff 293, 299. 
Kohlenſtofftheorie 298. 
Koreo-Japaner 605, 612. 
Kosmogenie 285. 
Kosmologifche Gastheorie 387. 
Kopernitus 35. 

Korallen 458, 460. 

Kraden 473, 474. 

Krebſe 486, 488. 
Kreide-Syftem 348, 345. 
Krocodile 530. . 
Kruftentiere 486, 488. 
Kryptogamen 402, 404. 
Kulturpflanzen 122. 


Sabyrinthläufer 877, 384. 
Labyrintguleen 877, 384. 
Lamard (Jean) 98. 

Lamard'g Abftammungslehre 100. 
— Anthropologie 102, 565. 

— Naturphilofophie 99. 
Lamarclismus 134. 
Lamellibrandjien 478, 474. 
Lanzetthiere 508, 513. 
Laplace'8 Kosmogenie 285. 
Laurentiſches Syſtem 340, 345. 
Lebensfraft 20, 297. 

Lemurien 321, 619. 

Leonardo da Vinci 51. 


684 


Leptocardier 506, 512. 

Leuconen 457. 

Linne (Carl) 36. 

Sinne’ Xrtenbenenmung 87. 
— Pflanzenflafien 401. 

— Schöpfungsgefdjicite do. 

— Speciesbegriff 37. 

— Syſtem 36. 

— Thierkiaffen 436. 
Lodenhaarige Menſchen 606, 626. 
Lurche 512, 528, 

Lurchfiſche 512, 520. 

Lyell (Charles) 112. 

Wells Schöpfungsgeihicte 114. 


Magyaren 605, 612. 

Malayen 604, 610, 

Malthus’ Bevölterungstheorie 143. 
Marnmalien 586, 545. 
Mantelthiere 466, 510. 
Marfupiafien 540, 643, 588. 
Materialismus 32. 

Materie 20, 651. 

Mechaniſche Urſachen 81, 67. 
Mechaniſche Weltauſchauung 16, 67. 
Medanismus 34, 91. u 
Mebufen 458, 460. 

Menfcenaffen 571, 575. 
Menfcdenarten 593, 604. B 
Menfchenraffen 598, 601, 604. 
Menfchenfeele 651. 
Menſchenſpecies 593, 604. 
Mefolithifches Zeitalter 344, 850. 
Metogenefls 185. 


Metamorphismus der Erdſchichten 354. 


Metamorphofe 81. 
Migrationggefeg 831. 
Migrationstheorie 826. 
Miocen · Syſtem 845, 346. 
Mittellander 604, 616. 
Mollusten 469, 474. 
Moneren 165, 805, 878, 578. 
Monerula 441, 444. 
Mongolen 604, 611. 
Monismus 32. 

Moniftifche Weltanſchauung 19, 67. 
Monocotylen 404, 481. 


Regifer, 


Monsglottonen 621, 626. 
Monogonie 164. 

Monophyleten 871, 599. 
Monophyletifche Deſcendenghnpotheſe 371. 
Monorhinen 511, 512. 
Monofporogonie 174. 
Monotremen 589, 548. 
Morphologie 20. 

Morula 443, 444. 

Mofe 404, 419. 

Moſe s Schöpfungegefchichte 34. 
Mobthiere 464, 466. 

Mufceln 472, 474. 

Müller (Frig) 46, 66, 486. 
Müller (Johannes) 278, 511. 
Mubeinen 404, 419. 
Myriapoden 498, 494. 
Myromyceten 377, 385. 


Nadtſamige 404, 428. 
Nabelhölzer 404, 429. 
Nogethiere 545, 559. 
Naturphiloſophie 70. 
Neger 608, 626. 
Nematelminthen 464, 466. 
Neffelthiere 457, 460. 
Newton 28, 9. 

itter 176. 
Nubier 604, 614. 


Decologie 645. 

Oten (Loreny) 86. 

Dten’8 Entwidelungsgefdjichte 262. 
— Imfuforientheorie 87. 

— Raturphilofopgie 86. 

— Urfcleimtheorie 86. 

Olynthus abe. 

Ontogenefis 261. 

| Ontogenie 9, 861. 

Drang 571, 576. 


| Paarnafen 511, 513, 
Palaolithiſches Zeitalter 342, 344. 
Paläontologie 49. 





Kegifer. 


Palifiy 52. 

Balmfarne 404, 429. 
Pander (Ehriftian) 262. 
Papua 606, 626, 

Paradies 619. 
Parallelismus der Entwidelung 279. 
Barthenogenefiß 177. 
Permiſches Syftem 842, 345. 
Petrefacten 50. 
Bflanzenthiere 480. 
Phanerogamen 404, 427. 
Philoſophie 71, 640. 
Phylogenie 10, 861. 
Phylogeneſis 261. 

Fhylum 870. 

Phyſiologie 20. 

Bilge 404, 415. 
Vitheloidentheorie 646. 
Placentalien 544, 548. 
Placentalthiere 544, 548. 
Blacentner 544, 548, 
Planda 442, 444. 
Plandaden 452, 580. 
Planula 448, 462, 580. 
Plasma 166, 294. 
Plasmogonie 802. 
Plaſtiden 308. 
Plaſtidentheorie 294, 309. 
Plattnaſige Affen 670, 578. 
Platrwũrmer 463, 464, 
Blatyelminthen 468, 464, 
Platyrhinen 570, 578. 
Pleiſtocen · Syſtem 345, 346. 
Pliocen·Syſtem 345, 346. 
Polarmenſchen 604, 612. 
Polyglottonen 620, 626. 
Polypenquallen 458, 460. 
Bolyfporogomie 173. 
Polyphyleten 371, 599. 
Volyphnletiſche Deſcendenzhypotheſe 872. 
Polypen 459. 

Polyneſier 604, 610. 
Poriferen 454, 460. 
Brimärgeit 842, 344. 
Primordialzeit 340, 844. 
Prochordaten 578, 
Promanmalien 548, 588, 


685 


Protamnien 587, 592, 
Protamoeben 878. 
Brothallophyten 408, 417. 
Prothalluspflanzen 403, 417. 
Protiften 375. 

| Protophyten 404, 407. 
Protoplasma 166, 294. 

ı Brotoplaften 877, 879. 
Protogoen 438, 448, 450. 


Radiaten 487, 438. 

| Rabiofarien 296, 829, 389. 
Raderthiere 464, 466. 
Raſſen 247. 

! Raubthiere 544, 561. 
Recent · Syſtem 345. 
Reptilien 529, 531. 
Rhigopoden 377, 885, 
Ringelwirmer 464, 466. 
Rohrherzen 506, 512. 
Romanen 617, 625, 
Rotatorien 464, 466. 
Audimentäre Augen 13, 255. 
— Beine 18. 

— Flügel 208. 

— Griffel 14. 

— Lungen 367. 

— Milchdruſen 258. 

— Nusteln 12. 


— Schwänze 258. 

— GStaubfäden 14. 

— Zähne 11. 

Ruchchlag 186, 441, 579. 
Rundmäuler 511, 612. 
Aundwürmer 464, 466. 


Sacwurmer 588, 692. 
Säugethiere 636, 546. 
Saurier 529. 
Schaaffhauſen 98. 
Schäbellofe 606, 512, 584. 
Schäbelthiere 507, 512. 
Sqheinhufthiere 544. 559. 
Schildkröten 530. 
Schimpanfe 570, 575. 





686 


Schirmquallen 458, 460. 
Schlangen 530. 

Schleicher 529, 581. 
Schleicher (Auguft) 96, 598. 
Säleiden (3. M.) 97. 
Schleimpilze 377, 385. 
Schlichthaarige Menſchen 605, 609. 
Schmalnafige Affen 570, 573, 
Scmehfilhe 516, 518. 
Schjnabelreptilien 531, 532. 
Schnabelthiere 538, 543. 
Schneden 478, 474. 
Schöpfer 58, 64. 

Schöpfung 7. 
Schöpfungsmittelpunft 318. 
Schwärnme 454, 460. 
Schwanz des Menſchen 258, 274. 
Seoleciden 582, 592. 
Serundärgeit 344, 350. 
Seedrachen 512, 521. 
Seeigel 480, 494. 

Seele 64, 635, 652, 
Seelilien 480, 488. 
Seefterne 478, 480. 
Seewalzen 480, 484, 
Serbfttheilung 171. 

Semiten 617, 624. 
Serualdjaraltere 188, 287. 
Siluriſches Syſtem 340, 845. 
Slaven 617, 625. 
Sonnenweſen 389. 

Species 37, 244, 601. 
Specififche Entwietelung 377. 
Spencer (Herbert) 106, 687. 
Sperma 176. 

Spielarten 247. 
Spirobrandien 471, 474. 
Spinnen 492, 494. 
Spongien 454, 460. 
Sporenbildung 174. 
Sporogonie 174. 

Stamm 370. 
Stammbaum ber 

— Affen 571. 

— Amphibien 517. 

— Anamnien 517. 

— Araber 624. 


Regiftet: B 
Stammbaum ber 

— Arachniden 495. 

— Arier 625, 

— Arthropoben 489, 495. 
— Eoelenteraten 461. 

— Eruftaceen 489. 

— Echinodermen 481. 

— Egypter 624. 

— Fiſche 517. 

— Germanen 625. 

— Glieberthiere 489, 495. 
— Gräcoromanen 625. 

— Hamiten 624. 

— Hufthiere 555. 

— Imdogermanen 625. 
— Juſelten 495. 

— Juben 624. 

— Katarhinen 571. 

— Krebſe 489. 

— Mammalien 545. 

— Menſcheuarten 605, 626. 
— Menfhengefhlehts 571, 578. 
— Menfchenrafien 605. 
— Mollusten 475. 

— Organismus 398, 399. 
— Bilanzen 406. 

— Bflanzenthiere 461. 


— Spinnen 495. 

— Sternthiere 481. 

— Thiere 449. 

— Tradeaten 495. 

— Ungulaten 555. 

— Bertebraten 513.. 

— Weichthiere 475. 

— Wirbelthiere 513. 

— Warmer 465. 

— Zoophyten 461. 
Stammfänger 588, 543. 
Steintohlen-Syftem 842, 345. 
Sternthiere 476, 480. 
Sternwurmer 464, 466. 
Stodpflanzen 408. 
Straffhaarige Menſchen 606, 626, 





Strahlthiere 437, 488, 
Strahlweſen 889. 
Strudelwürmer 463, 581. 
Syeonen 457. 
Synamoeben 442, 579. 
Spyfiem der 

— Affen 570. 

— Arachniden 494. 

— Arthropoden 488, 494. 
— Bentelthiere 543. 

— Eoelenteraten 460. 

— Eruftaceen 448, 

— Dibelphien 543. 

— CEchinodermen 480. 

— Erdfgjichten 345. 

— diſche 516. 

— Formationen 345. 

— Geſchichtsperioden 344. 


— Gliederthiere 488, 494. 


— Hufthiere 554. 

— Infelten 494, 601. 
— Katarhinen 570. 

— Arebſe 488. 

— Mammalien 548, 544. 
— Maorfupiafien 543. 

— Menfhenarten 604. 
— Menfhenrafien 604. 


— Menfdenvorfahren 592. 


— Monodelpfien 544. 
— Mollusten 474, 

— Bilanzen 404. 

— Pflanzenthiere 460. 
— Blocentalthiere 544. 
— Blacentner 544. . 

— Platyrhinen 570, 

— Vrotiſten 877. 

— Reptilien 531. 

— Gäugethiere 543, 544, 
-— Schleier 531. 

— Spinnen 494. 

— GSternthiere 480. 

— Tiere 448, 

— Tracheaten 494. 

— Ungulaten 6b4. 

— Bertebraten 512. 

— Beichthiere 474. 

— Birbelthiere 612. 


Regiſter. 687 








Syftem ber 

— Würmer 464. 

— Zeiträume 344. 

— Zoophyten 460. 
Syſtematiſche Enttoidelung 277. 


Taſcheln 471, 474. 
Tange, 404, 406. 
Tataren 605, 613, 
Zaufenbfüßer 498, 494. 
Teleologie 89, 259. 
Teleologifche Weltanſchauung 19, 67. 
Tertiärgeit 344, 346. 
Thallophyten 408, 404. 
Thalluspflanzen 408, 404, 
Thierfeele 635, 658. 
Tologonie 164. 
Tracheaten 490, 494. 
Transmutationstheorie 4. 
Treviranus 83. 
Trias-Syftem 348, 345. 
Zurbellarien 463, 581. 
Tarten 606, 612. 
Zunicaten 466. 510. 


Uebergangsformen 681. 
Umbildungslehre 4. 

Unger (Fran) 97. 

Ungulaten 553, 554. 
Unpaarnafen 511, 519, 584. 
Unzwedmäßigteit der Natur 18. 
Unzwedmaßigkeitslehre 14, 644. 
Uralier 605, 612. 

Uramnioten 687, 592. 
Urcytoden 808. 

Urfiſche 515, 585. 

Urgefcjichte des Menſchen 595. 
Urmenſchen 620. 

Urpflanzen 404, 407. 

Urfprung der Sprache 598, 620. 
Urtange 404, 407. 

Urthiere 488, 448, 460. 


!ünwefen 875. 


Urgellen 808. 
Uneugung 301, 869, 


| Bariabifität 197. 


688 


Variation 197. 

Varietäten 247. 

Beränderlihleit 197. 

Vererbung 157, 182. 

— abgefürzte 190. 

— amphigone 188, 

— angepaßte 191. 

— befeftigte 194. 

— beiberfeitige 18. 

— confervative 1883. 

— conftituirte 194. 

— tontinuirlice 184. 

— erhaltende 188. 

— erworbene 191. 

— fortfchreitende 191. 

— gemifdjte 188. 

— geſchlechtliche 187. 

— gleijörtlie 195. 

— gleichzeitliche 194. 

— homochrone 194. 

— homotope 195. 

— Iatente 184. 

— progreffive 191. 

— feruelle 187. 

— unterbrodene 184. 

— umunterbrodhene 184. 

— vereinfachte 190. 
Bererbungsgefege 182. 
Bermenſchlichung 17, 60. 
Verfleinerungen 50. 

Bertebraten 505, 512. 
Vervolllommnung 247, 258. 
Bielheitliche Abftammungehypothefe 372. 
Bitaliſtiſche Weltanfhauung 16, 67. 
Bließhaarige Menſchen 608, 626. 
Vögel 512, 532. 

Borfahren de Menſchen 578, 598. 


Wagner (Morik) 328. 

Wagner (Andreas) 123. 
Wallace (Alfred) 121. 
Wallace s Chorologie 321, 338. 
Wallace's Selectionstheorie 121. 
Walthiere 544, 596. 





Regiſter. 


Wanderungen ber Menſchenarten 618. 
Wanderungen der Organismen 314. 
Wechſelbeziehung der Theile 216, 290. 
Weichthiere 469, 474. 

Weichwurmer 682, 698. 

Well's Selectionstheorie 134. 
Willendfreiheit 100, 212, 654. 
Bimperinfuforien 451. 

Wirbelloſe 436, 505. 

Wirbelthiere 500, 512. 

Wiſſen 8, 628. 

Woiffs Entioidelungstheorie 262. 
Wollhaarige Meuſchen 608, 605. 
Wunder 20. 

Wunelfüher 877, 885. 

Würmer 462, 464. 


Zahl ber Bevölterung 626. 
Zahnarme 544, 557. 

Zellen 168. 

Zellenbilbung 807. 
Zellentern 168. 
Bellenteilung 169. 
Bellentheorie 807. 

Zellhaut 168. 

Zellſtoff 168. 

Zeugung 164, 301. 
Zoophyten 452, 460. 
Zaghtung, äfthetifche 240. 

— geiähleditliche 286. 

— gleichfarbige 236. 

— kunſtliche 186, 152, 227. 
— mebieinifde 156, 

— militãriſche 153. 

— mufitalife 238. 

— natürliche 151, 225. 

— pſychiſche 240. 

— feruelle 236. 

— fpatanifce 168. 
Zwedmãßigleit der Natur 17. 
Zwedthatige Urſachen S1, 67. 
Biweiteimblättrige 404, 431. 
Zwitter 176, 

Zwitterbildung 176. 


Drud von Fr. Frommann in Iene. 





>29 2 


| Bar 
acifischer Ocean. 


tischen Ursprungs und der 
72 Menschen -‚Species von 
: aus über die Erde .: